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Full text of "Naturwissenschaftliche Wochenschrift"

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Naturwissenschaftliche 
wochenschriet 


BEGRÜNDET  VON    H.  POTONlE 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Prof  Dr.  H.  MIEHE 

IN  BERLIN 


NEUE  FOLGE.    21.  BAND 

(DER  GANZEN  REIHE  37.  BAND) 

JANUAR  —  DEZEMBER  1922 

MIT  119  ABBILDUNGEN  IM  TEXT 


JENA 
VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER 

1922 


Alle   Rechte  vorbehalten. 


Register. 


I.  Originalartikel. 

Angersbach,   A.,  Joseph  Petzoldt.  640. 

Armbruster,  L.,  Über  das  Farbenseheo 
bei  Wespen.  419. 

Bayer,  J.,  Die  Ausbreitung  des  Men- 
schengeschlechts. 693. 

Becker,  H.  K.,  Reste  eines  alten  Höhlen- 
flusses. 105. 

Becker,  H.  K.,  Beiträge  zur  Höhlenkunde. 
205. 

Bertsch,  K. ,  Zuwachs  und  Alter  der 
oberschwäbischen  Hochmoore.  708. 

Brückner,  G.,  Alfonso  Corti.  322. 

Buttel-Reepen,  Das  Vogelleben  auf 
dem  Koralleneiland  Laysan  im  Stillen 
Ozean.  301. 

Car,  L.,  Velella  spirans.   5S5. 

Collier,  W.  A.,  Idiosynkrasie  und  Ana- 
phylaxie. 17. 

Dahl,  Fr.,  Kritische  Betrachtungen  über 
die  Grundlagen  der  Relativitätstheorie 
Einsteins.  41. 

Dahms,  F.,  Danzig  als  Heimat  des  Bern- 
steins. 89. 

Eckardt,  W.  R.,  Alfred  Wegeners  Theo- 
rie der  Kontinentalverschiebungen  und 
die  Tiergeographie.  326. 

Eckardt,  W.  K.,  Die  Beziehungen  der 
afrikanischen  Tierwelt  zur  südasiatischen. 
689. 

Feuerborn,  H.  J. ,  Das  Problem  der 
geschlechtlichen  Zuchtwahl  im  Lichte 
neuer  Beobachtungen,   i. 

Fischer,  E.,  Stoff  und  Eigenschaft.   129 

Fischer,  H.,  Bemerkungen  über  Stand- 
orte und  Verbreitung  der  deutschen 
Farnkräuter.  337. 

Fr  icke,  H.,  Das  Wesen  der  Schwer 
kraft.   513. 

Fricke,  H. ,  Zur  Klärung  des  Äther- 
problems.   169. 

Frölich,  W. ,  Segelflug  und  fliegende 
Fische.  64. 

Garns,  H.,  Kulturpflanzen  und  Unkräuter 
der  Wikinger.  81. 

Goebel,  K.,  Helmut  Bruchmann.   I08. 

Goetsch,  W.,  Beiträge  zur  Relativitäl 
der  Individuen.  I,   11,  III,  IV.  201,  481, 

529.  553- 
Günther,  H.,  über  Generationsrhythmen 

beim  Menschen.  407. 
Heikertinger,    Fr.,    Die    Stinkdrüsen 

der    Wanzen     in    ihrer    Bedeutung    als 

Schutzmittel.  558. 


Henkel,  L.,  Über  den  Einfluß  der  Erd- 
umdrehung auf  den  Bau  von  Flußbetten. 
485. 

Hennig,  Edw.,  Geologie  und  Wünschel- 
rute. 49. 

Ken  de,  O..  Das  Donautal  in  Österreich. 
185. 

Kendc,  O.,  Der  österreichische  Anteil 
am  Böhmischen  Massiv.  353. 

Kobbe,  S.  V.,  Die  .-Vblenkung  des  Fix- 
sternlichtes im  Schwerefeld  der  Sonne. 
3<7- 

Kobbe,  S.  V.,  Über  Lichtablenkung  nahe 
der  Sonne    und  Perihelbewegung.    652 

K  o  p  [1  li  n  y  i ,  T  h.,  Theoretische  Erwägun- 
gen über  die  Entstehung  der  Alters- 
erscheinungen und  des  Todes.   5^9- 

Kranichfeld,  H.,  Das  Verhältnis  der 
Relativitätstheorie  Einsteins  zur  Kanl- 
schen   Erkenntnistheorie.   593. 

K  r  e  n  k  e  1 ,  Vom  diluvialen  Menschen  und 
seiner    lagd.   241. 

Krenkel,  E. ,  Zum  fünl'zigjährigen  Be- 
stehen der  Sächsischen  Geologischen 
Landesuntersuchung.   321. 

Krieg,  H.,  Probleme  der  Artveränderung. 
217. 

Kuhn,  K. ,  Das  Spektrum  der  elektro- 
magnetischen  Wellen.  449. 

Latz  in,  H.,  Zur  Grundlegung  der  Ganz- 
heitsforschung der  Biologie.   50. 

Lech  1er,  H.,  Der  Köderwurm.  263. 

Lindinger,  L. ,  Ein  Vorschlag  zur  ge- 
nauen Festlegung  des  Fundorts.   132. 

Meyer,  A. ,  Die  logische  Stellung  der 
Biologie  im  System  der  Wissenschaften. 
57- 

M  e  y  e  r ,  F  r.  J.,  Die  Vitülhypothese  .\rthur 
Meyers.  633. 

Miehe,  H.,  Der  Rhythmus  im  Leben 
der  Pflanze.  385. 

Mohor  o  vicic,  St.,  Eine  elementare 
Theorie  der  Gravitation.   145. 

Nachtsheim,  H. ,  Gregor  Mendel  und 
sein  Werk.  425. 

Nickel,  E. ,  Neue  Grundlagen  für  den 
einheitlichen  Aufbau  des  GrundstotT- 
systems  in  mathematischer  Ableitung. 
433- 

Nieschulz,  O.,  Über  das  Vorkommen 
von  Trypanosomen  bei  unseren  heimi- 
schen Wirbeltieren  und  etwas  über 
ihre  Kultur  auf  künstlichen  Nährböden. 
164. 
.  Nölke,Fr.,  Zur  Kimtraktionstheoric.   73. 


Olbricht,  K. ,  Die  Eiszeit  in  Deutsch- 
land und  der  vorgeschichtliche  Mensch. 
369- 

Radovanovitch,  A.,  Mathematik  und 
Wirklichkeit.  625. 

Reck,  H.,  Der  neue  zentralafrikanische 
fossile  Menschenfund.   125. 

Reiche,  K.,  Zur  Kenntnis  des  Dicken- 
wachstums der  ( >puntien.    33. 

Rudder,  B.  de,  Axiom  und  Erfahrung. 
194. 

Rust,  H,  Mathematisches  Neuland:  Ar- 
nold   Kowalewskis    Buntordnungslebre. 

324- 

Schalow,  E.,  Pflanzenverbreitung  und 
vorgeschichtliche  Besiedlung.   173. 

.Schalow,  F..,  Vom  Einfluß  des  Krieges 
auf  die   Pflanzenverteilung.    499. 

S  c  h  e  m  i  n  s  k  y  ,  P". ,  Das  Problem  der 
Wünschelrute.   161. 

Scheminsky,  F.,  Moderne  Probleme 
der  Elektrobiolügie.   541. 

S  c  h  m  i  d  ,  E.,  Biozönologie  und  Soziologie. 
518. 

Schweizer,  Chr.,  Der  Darmkanal  des 
Maikäfers.   78. 

Schwickerath,  M.,  Exaktwissenschaft- 
liches, philosophisches  und  künstleri- 
sches Welterkennen  und  Wellbegreifen. 
409. 

Sieberg,  A. ,  Bemerkungen  zum  Erd- 
beben auf  Jan  Mayen  am  8.  April 
1922  usw.  443. 

Stadler,  H.,  Wandernde  Fledermäuse. 
649. 

S  t  i  c  k  e  r ,  G.,  Nährpflanzen  und  Heilpflan- 
zen in  der  Geschichte.  609. 

S t  i  e  1  e  r ,  C,  Rekonstruklionsversuch  eines 
liassischen  Flugsauriers.   273. 

Stolte,  H.  A.,  Mechanistische  und  vita- 
listische  Strömungen  in  der  Geschichte 
der  biologischen  Theorien.    281. 

Taube,  E.,    Tierische  Chimären.  457. 

Vogtherr,  K.,  Über  Fragen  der  Aber- 
ration und  Lichtausbreitung.  20. 

Vügthcrr,  K. ,  Ein  neues  Uhrenpara- 
doxon. 497. 

Voigt,  J. ,  Euklidische  Geometrie,  Phy- 
sik und  Vierdimensionalität  der  Materie. 
401. 

Vollrath,  P.,  Das  Meer  zur  Wellen- 
gebirgszeit  zwischen  Schwarzwald  und 
Thüringerwald.  257. 

Waaser,  Fr.,  Grundsätzliches  zu  Goethes 
Metamorphosenlehre.  473. 


3S847 


Register. 


Wächter,  W.,  August  Schulz  f.  297. 

Weber,  Fr.,  Die  Viskosität  des  Proto- 
plasmas.  113. 

Wiegers,  Fr.,  Entstehung  der  dilu- 
vialen Kalktuffe  des  Ilmtales  bei  Wei- 
mar. 574. 

Wiegers,  Fr.,  Zur  Wünschelrutenfrage. 
705. 

Wilser,  I.  L. ,  Sollen  wir  die  Gold- 
wäscherei am  Oberrhein  wieder  auf- 
nehmen?  393. 

Wolff,  M.,  Über  die  neuen  Zeifischen 
Mikroskop-Objektive  und  Okulare.  346. 

Vakowleff,  N.  N. ,  Die  Wandlungen 
der  AnheftuDg  bei  verschiedenen  Grup- 
pen der  Meerestiere.  603. 

Yakowlev,  N.  N. ,  Der  Klimawechsel 
als  Hauptfaktor  der  Veränderung  der 
Organismenwell.  681. 

Zache,  Ed.,  Die  Lager  aus  tierischen 
und  pflanzlichen  Resten  im  Diluvium 
des   Eibstromgebietes.  665. 

Zeuner,  G.,  Das  Biddersche  Organ.  233. 

Ziegler,  H.  E.,  Über  die  Homomerie. 
537- 


II.   Einzelberichte. 

A.  Allgemeines,  Biologie, 

Zoologie,  Anatomie, 

Vererbungslehre. 

Bluhm,  A.,  Wirkung  des  Alkohols  auf 
das  Verhältnis  von  Weibchen  und  Männ- 
chen. 267. 

Bormann,  F.  s.  Lipschütz. 

Bridges,  C.  B.,  Chromosomen  der  Obst- 
fliege. 548. 

Cohen-Kysper,  Kontinuität  des  Keim • 
plasmas  oder  Wiederherstellung  der 
Keimzelle?  658. 

Davenport  und  Hurst,  Teilweis  ge- 
schlechtsgebundene Vererbung  der 
Augenfarbe  beim  Menschen.   525. 

Ding  1er,  H.,  Ökonomieprinzip.  654. 

Farbensinn  der  Biene.  349. 

G  e  r  o  u  1  d  ,  Veränderung  der  Hämolymphe 
durch   Mutation.  210. 

Goette,  K.,  Hodenatrophie.  697. 

Gregory,  A.,    Verjüngungsversuch.  697 

Heymons,  R.,  Rapsrüßler.  467. 

Jacobshagen,  Homologie  der  Wirbel- 
tiere. 52. 

Lichtenstein,  Nahrungsgewinnung 

einer  Schlupfwespe.   1 10. 

Lindner,  Kr.,  Brutvorkoramen  der  Bart- 
meise. 68. 

Lipschütz,  A.,  Bormann,  F.  und 
Wagner,  K. ,  Bedeutung  der  Keim- 
drüsenzwischenzellcn.  350. 

Oye,  P.  van,  Biologie  der  Pfeilwürmer. 
tg. 

Robertson,  W.  R.  B. ,  Maultier  und 
Pferd  als  Zwillinge.    292. 

Schneider,  K.  M.,  Lichterscheinungen 
an  fliegenden  Vögeln.  85. 

Schröder,  R.,  Ovarialcyclus  und  Uterus, 
269. 

Sitowski,  Kiefernspanner  und  seine 
Schmarotzer.    362. 

T baden,  Cl.  v.,  Künstliche  Beleuchtung 
zur  Förderung  der  Kükenaufzucht.    27. 

Wagner,  K.,  s.  Lipschütz. 


B.   Botanik,   Bakteriologie, 
Landwirtschaft. 

Bornmüller,  s.  Schuster. 
Brockmannn-Jerosch,   Die    ältesten 

Nutz-  und  Kulturpflanzen.  564. 
Correns,  C,  Versuche,  bei  Pflanzen  das 

Geschlecht  zu  verschieben.    12. 
Guttenberg,    H.    v. ,     Phototropismus. 

659. 
Haberlandt,   G.,    Embryobildung  nach 

Verletzung  der  Fruchtknoten.  86. 
Haberlandt,  G. ,    Parthenogenesis  und 

Nekrohormone.   289. 
Hallier,    Bedeutung    der    Linaceen    für 

die  Systematik.  227. 
Heinricher,     E.,      Neue     Mistelunter- 
suchungen.  591. 
Hertwig,    G.    und    P.,    Vererbung    des 

Hermaphroditismus  bei  Melandrium.  672 
Klebahn,  H. ,  Blühendes  Wasser.  671 
Kniep,  Geschlechtsbestimmung  und   Re 

duktionsteilung  bei  Basidiomyzeten.  523 
Kochs,  J.,  Giltwirkung  des  Meerrettichs 

.525- 
Lindau,     G. ,    Pflanzenresle    aus    Pfahl 

bauten.    363. 
Lippmanu,  E.  O.  v.,  s.  Sabalitschka, 
Melin,  E.,  Boletus- At\.en  als  Mykorrhizen 

pilze  der  Waldbäume.    488. 
Melin,    E.,    Mykorrhizapilze  der  Nadel 

hölzer.  69S. 
Mühldorf,     A.,     Xeromorpher     Spalt 

öffoungsapparat  bei  Dikotyledonen.  564 
N  o  a  k ,  K.,  Physiologische  Untersuchungen 

an  Flavonolen  und  Anlhoiyanen.  546 
Pop  off,  M.,    Stimulierung  der  Zellfunk 

tionen.  645. 
Regel,  s    Vavilow. 
Rikli,  M.,  Die  den  80."  n.  Br.  erreichen- 
den   oder  überschreitenden    Gefäßpflan- 
zen. 66 1. 
Ruoff,    S. ,    Verbreitung    der  Vegetation 

im  Europäischen  Rußland.  577. 
Sabalitschka     und     v.     Lippmann, 

Rohrzucker  im  Schilfrohr.   197. 
Schalow,  E.,    Einwanderungsgeschichte 

von  Matricur ia  disroidea.    179. 
Schuster,    P.    und    Bornmüller,    J., 

Genossenschaft  mazedonischer  Pflanzen 

bei  Aken  an  der  Elbe.  268. 
Vavil  ow,  N.  und  R  egel ,  R.,  Ursprung 

der  Gelreidearten.  32S. 
VVettstein,  F.  v.,    Entomophile  Moose. 

327- 
Wettstein,    R. ,    Die    Verwertung    der 

Mendelschen  Spaltungsgesetze    auf    die 

Deutung  von  Artbastarden.    487. 


C.    Physiologie,  Medizin, 
Psychologie,  Hygiene. 

Abderhalden,  Innervation  und  Inkret- 
bildung.   III. 

R  o  m  e  i  s ,  B. ,  Thymusdrüse  und  Wachs- 
tum. 26. 

Borchers,  E.,  Epithelkörperverpflanzung 
bei  postoperativer  Tetanie.    157. 

Bresina,  Treffsicherheit.    153. 

d  11  ereile,  F.,  Parasiten  in  Bakterien? 
225. 

Üstwald,  B.  C.   Pauli 

Paul  C.  und  Ostwald,  W.,  Farben- 
psychologische Studien  an  Kindern.  508. 

Pfeiffer,  E.,  Homosexualität  und  innere 
Sekretion.  468.  1 


S u  d  e  c  k ,  P.,  Basedowsche  Krankheit  und 
innere  Sekretion.  25. 

Tiedje,  H.,  Gegen  die  „Pubertätsdrüse". 
629. 

Weil,  A. ,  Psycho  -  inkretorischer  Paral- 
lelismus. 227. 


D.    Geologie,  Paläontologie, 
Hydrographie,    Geographie. 

Behr,  J.,  Mächtigkeit  des  nordischen 
Inlandeises  in  Schlesien.   157. 

Bindemann,  H.,  Verdunstungsmessun- 
gen an  Binnenseen.  488. 

Cloos,  H.,  Tektonik  und  Vulkanismus 
290. 

Friedländer,  I.,    Tätigkeit    des   Pop 
catepetl.    181. 

Friedländer,  I.,  Pico  de  Orizaba.  466 

GeologenkongreS  in  Brüsseler.   178. 

Koßinna,  E.,  Tiefen  des  Weltmeeres 
177. 

Kranz,  W.,  Torfmoore  und  deren  Aus 
nützung.  700. 

Kranz,   W.,  Nördlinger  Ries.  710. 

Kranz,  W.,  Wünschelrutenfrage.  712. 

Memelland.  381. 

Nölke,  Ursache  der  Eiszeit.  68. 

Nordhagen,  R. ,  Kulktuffstudien  aus 
dem  zentralen  Norwegen.   133. 

Padtberg,  A.,  Die  Wahrheit  über  Beh- 
ringers Lithographia  Wirceburgensis. 
628. 

Sieberg,  A.,  Verbreitung  der  Erdbeben. 
547. 

Soergel,  W.,   Elephas  Columbi.  loo. 

Soergel,  W.,  Diluviale  Aufscholterung. 
99- 

Wüst,  Verdunstung  und  Niederschlag  auf 
dem  Meere.  64Ö. 


E.  Völkerkunde,  Anthropologie, 
Vorgeschichte. 

Kade,  K.,  Vorgeschichtliche  Getreide- 
funde. 675. 

Koch,  W.,  Kastration  bei  den  Skopzen. 
465. 

Martin,  R.,  Körperkultur.  699. 

Rivers,  .'\ussterben  der  Naturvölker.  630. 

Wiegers,  Neue  Funde  aus  der  älteren 
Steinzeit.  207. 

Virchow,  H.,  Menschliche  Skelettrestc 
aus  dem   Weimarer  Kalktuff.  398. 


F.    Physik,  Meteorologie, 
Astronomie. 

Ahlborn,   Fr.,   Der  Segeltlug.  644. 

AUiata,   Zur  Relativitätstheorie.   13. 

Kraufl,  Zur  Relativitätstheorie.    13. 

Boccardi,  s.  Schnauder. 

Brockmüller,  J.,  Messung  der  Schall- 
geschwindigkeit.  100. 

Courvoisier,  s.  Schnauder. 

Einthoven,  W.,  Der  dünnste  Faden 
sichtbar  gemacht.  330. 

Eötvös,  R.,  Der  Eötvöseffekt.  525. 

Fischer,  M.  H.,  Theorie  der  Liesegang- 
schen  Ringe.   196. 

Freundlich,  Der  sogenannte  Einstein- 
turm der  Potsdamer  Sternwarte.  25. 


Register. 


Gluud,     W.,     Neue     Normaltemperatur 

+20»  C.    581. 
Grofimann,     Bewegung     des     Merkur- 

perihels.  28. 
John,  St.,  Rotverschiebung.   717. 
Hartmann,    Lichterscheinungen.  718. 
Lenard,  Zur  Relativitätstheorie.   13. 
Riem,    Neuere    astronomische    Arbeiten. 

503- 
Rutherford,  Künstliche  Zerlegung  von 

Elenjenten.  562. 
Sanford,    Beziehungen    der    Spiralnebel 

zu  der  Milchstraße.  332. 
Schnauder,        Courvisier,        Boc- 

cardi.    Sprunghafte  Vergrößerung  der 

geographischen  Breite.  156. 
Sola,    Zur  Relativitätstheorie.   13. 
Strehl,  Zur  Relativitätstheorie.  226. 
Volkmann,  W.,  Prüftafel  für  Fernrohre. 

332- 
Wilsing,    Neue  Forschungen    über    die 
Fixsterne.   l8o. 


G.    Chemie,    Mineralogie, 
Kristallographie. 

Alles,  s.  Wieland. 

Aston,  F.  W.,  Neue  Atomgewichtsfor- 
schungen. 673. 

Ballauf,  s.  Schlubach. 

Chandra  Ghosh,  Theorie  der  Elektro- 
lytlösungen. 224. 

Friedrich,  s.  Schwarz. 

Freudenberg,  K.  und  Volbrecht, 
E.,  Gerbstoff  der  Eichen.  716. 

Glasstone,  S. ,  Physikalische  Chemie 
der   Bleioxyde.  506. 

Gutbier,  A.,  Analyse  kolloider  Systeme. 
267. 

Heller,  H. ,  Neue  Beiträge  zur  Theorie 
und  Praxis  katalytischer  Hydrierungen.  II. 
588. 

Hofmann,  A.  und  Will,  E.,  Produkte 
der  unvollständigen  Verbrennung.    717. 

Hopff,    s.  Meyer,  K.  H. 

HuUet,  G.  A.  und  Nelson,  O.,  Che- 
mische Natur  der  Graphitsäure.  27. 

Jatrides,  s.  Winterstein. 

Keller,  R..  Azidität    und  Basizität.  287. 

Krause,  E,  Di-  und  Triphenylblei.  363. 

Kuhn,  K.,  Einheit  und  Isotopie  der  Ele- 
mente (Sammelbericht).  46. 

Li  pp  mann,  E.  O.  v.,  Rohrzucker  in 
Fingerhuiblüten.  717- 

Lüppo-Cramer,  Desensibilisierung  des 
Bromsilbers.    361. 

M  a  n  c  h  o  t ,  W..  Lösliche  Modifikation  des 
Siliciums.  266. 

Meyer,  K.  H.  und  Hopff,  H.,  Cyan- 
wasserstoff. 69. 

Meyer,  K.  H.  und  Hopff,  H.,  Substi- 
tutionsvorgänge. 360. 

Nelson,  O.,  s.  Hüllet,  G.  A. 

Ott,  E.  und  Zimmermann,  K.,  Pfeffer- 
geschmack und  chemische  Konstitution. 
507. 

Plotnikow,  J. ,  Photochemisches  Äqui- 
valentgesetz  von  Einstein.  422. 

Rast,  K.,  Mikromethode  der  Bestimmung 
des  Molekulargewichtes.  422. 

Riesenfeld,  E.  und  Schwab,  G., 
Reindarstellung  des  Ozons.    698. 

Seh  lenk,  W. ,  Freies  Pentaphenyläthyl. 
714. 

Schlubach,  H.  H.  und  Ballauf,  F., 
Freie  Ammoniumradikale  II.   !;4. 


Schwab,  s.  Riesenfeld. 

Schwarz,    R.     und     Friedrich,     W., 

Röntgenstrahlen    als    Katalysatorengift. 

381. 
Seidell,     A. ,     Silbervitaminverbindung. 

715- 
Teleczky,  s.   Winterstein. 
Volbrecht,  s.   Freudenberg. 
Weitz,  E.,    Freie    Ammoniumradikale   1. 

14. 
Wen  dt,    G.,     Dreiatomiger    Wasserstoff. 

423- 
Wieland,  H.  und   Alles,  R.,   Giftstoff 

der  Kröte.  490. 
Will ,  s.  Hof  mann. 
Winterstein,  E.    und    Jatrides,    D., 

Taxin.  359. 
Winterstein,  E.    und    Teleczky,  J., 

Glukosid  des  Safrans.   716. 
Zimmermann,  K.  s.  Ott,  E. 


III.  Bücherbesprechungen. 

.Abraham,  M.,  Theorie  der  Elektrizität. 
48. 

.Abel,  O.,  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt 
der  Vorzeit.  228. 

Arrhenius,  Sv.,  Lebenslauf  der  Plane- 
ten.  128. 

Auerbach,  F.,  Moderne  Magnetik.   16. 

Auerbach,  F.,  Raum,  Zeit,  Materie  und 
Energie.  352. 

Bauer,  E. ,  Grundprinzipien  der  rein 
naturwissenschaftlichen  Biologie.  320. 

Bauer,  H.,  Chemie-Büchlein.  452. 

Bavink,  B.,  Atom'stik.  333. 

Bavink,  B.,  Ergebnisse  und  Probleme 
der  Naturwissenschaft.  446. 

Behrmann,  W.,  Im  Stromgebiet  des 
Sepik.   567. 

Berg,  A.,  .Vtherströmungs-  und  Äther- 
strahlungshypothese. 620. 

Böhm,  Jos.,  Seelisches  Erfühlen.  231. 

Böhmig,  L.,  Die  Zelle.    183. 

Bölsche,  W.,  Vom  Bazillus  zum  Affen- 
menschen.  126. 

Bölsche,   W.,  Weltblick.  480. 

Braun,  M.  und  Seifert,  O.,  Die  tieri- 
schen  Parasiten  des  Menschen.  231. 

Brehm,  A.,  Kleine  Schriften.  367. 

Brehm,  A.   E,   Leben  der  Vögel.  454. 

Bretscher,  K.,  Vogelzug  in  Mitteleuropa. 
271. 

Brion,  G.,  Luftsalpeter.  44S. 

Bruns,  F.,  Zeichenkuust  im  Dienst  der 
beschreibenden  Naturwissenschaften.  509. 

Buchner,  P.,  Tier  und  Pflanze  in  intra- 
zellulärer Symbiose.  143. 

Burckhardt-Erhard,  Geschichte  der 
Zoologie.    648. 

Bürger,  C>.,  Venezuela.   184. 

Chowrin,  A.  N.,  Experimentelle  Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiete  des  räum- 
lichen  Hellsehcns.  238, 

Citron,  J.,  Immunodiagnostik  und  Im- 
munotherapie.  104. 

C  1  o  o  s ,  H.  und  Meister,  E.,  Bau  und 
Bodenschätze  Osteuropas.    159. 

Collier,  W.  A.,  Variationsstatistik.  320. 

Cornin  g,  H.  K.,  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen.  319. 

Coulter,  J.  H.,  Evolution  of  sex  in 
plants.   566. 


Czapek,  Fr.,  Biochemie  der  Pflanzen.  55. 

Dahl,  Fr.,  Vergleichende  Psychologie. 
591. 

Dahl,  Fr.,  Ökologische  Tiergeographie. 
366. 

Dannemann,  Vr.,  Plinius.   112. 

Dannemann,  Fr.,  Aus  der  Werkstatt 
großer  Forscher.  493. 

Deegener,  H.,  Chemisch  -  technische 
Rechnungen.  454. 

Di  eis,  L.,  Methoden  der  Phytographie 
und  der  Systematik    der  Pflanzen.    534. 

Diener,  K.,  Paläontologie  und  Abstam- 
mungslehre.  143. 

Driesch,  H. ,  Philosophie  des  Organi- 
schen.   88. 

Driesch,  H.,  Das  Ganze  und  die  Summe. 
269. 

Dungern,  E.  v. ,  Prinzipien  der  Be- 
wegung. 452. 

Dürken,  B.  und  Salfeld,  H.,  Phylo- 
genese. 311. 

Einführungsliteratur  in  den  wissenschaft- 
lichen Okkultismus.  211. 

Farbe.    528. 

Fehringer,  O.,  Singvögel  Mitteleuropas. 
471. 

Fischer,   E.,  Aus  meinem  Leben.  470. 

Fischer  Fr.  und  Schrader,  H.,  Ent- 
stehung und  chemische  Struktur  der 
Kohle.  621. 

France,  R.  H.,  Süd- Bayern.  29. 

Freudenberg,  W.,  Geologie  von  Mexi- 
ko. 663. 

Frobenius,L.  und  RittervonWilm, 
Atlas  africanus.  662. 

Fuchs,   Fr.,  Kunkentelegraphie.  592. 

Gehrcke,  E.,  Physik  und  Erkenntnis- 
theorie. 28. 

Geiger,  M. ,  Philosophische  Bedeutung 
der  Relativitätstheorie.  309. 

Geitler,  J.,  Elektromagnetische  Schwin- 
gungen und   Wellen.  "I. 

Geley,  G.,  Materialisations-Experimente. 
215. 

G I  a  f  e  y ,  H.,  Rohstoffe  der  Textilindustrie. 
480. 

Goldschmidt,  R.,  Ascaris.  333. 

Gramberg,  E.,  Pilze  der  Heimat.    334. 

Großmann,  H.  und  Wreschner,  M., 
Anomale  Rotationsdispersion.  48. 

Grüner,  P. ,  Elemente  der  Relativitäts- 
theorie.  232. 

1 1  a  e  c  k  e  1 ,   F.,  llalienfahrt.   703. 

Haecker,  V.,  Vererbungslehre.    30. 

Haecker,  V.,  Umkehrbare  Prozesse  in 
der  organischen  Welt.  678. 

Llagen,  W.,    Deutsche  Vogel  weit.  447. 

Hagen,  W.,  Unsere  Vögel.   703. 

Hahn,  Fr.  V.,  Kolloidale  Lösungen 
anorganischer  Stoffe.  451. 

Handbuch  der  biologischen  Arbeitsmetho' 
den.  480. 

Handbuch  der  Entomologie.   15. 

Hansen,    A.,    Pflanzendecke    der    Erde 

159- 
Hauser,     G.,      Damaster  -  Coptolabrus 

Gruppe  der  Gattung  Carabus.  632. 
Ilelmholtz,    H.  v.,    Schriften    zur    Er 

kenntnistheorie.  70. 
Hertwig,  O.,  Werden  der  Organismen 

S5°- 
Hertwig,    R.,    Lehrbuch    der  Zoologie 

565- 
Hof  mann,  A.,   Rätsel  der  Handstrahlen 

238. 
H  ö  r  n  e  s ,  M.,  Gräberfeld  von  Hallstatt.  197 


Register. 


HoTvatb,  Cl.  V.,   Kaum  und  Zeit.  470. 

Jäger,  G.,  Theoretische  Physik  IV.  320. 

Jungklaus,  Fr.,  Münsterländer  Vorsteh- 
hund.    lOl. 

Kahler,  K.,  Luftelektrizität.  87. 

Kaiser,  A.,  Die  Sinaiwüste.  647. 

Karsten,  G.,  Methoden  der  Pflanzen- 
geographie. 552. 

Kaufmann,  H.  P.,  Chemie  für  Mediziner 
und  Biologen.  367, 

Kay s er,  E.,  Lehrbuch  der  Geologie.  158. 

Kays  er,  E.,  Abriß  der  Geologie.  7 18. 

Kayser,  H.,  Lehrbuch   der  Physik.  352. 

Kerners  Pflanzenleben.  231. 

Kirchner,  O.  v..  Obstbaumfeinde.   III. 

Klautke,  P.,  Nutzpflanzen  und  Nutz- 
tiere Chinas.  491. 

Klaus,  A.,  Atome,  Elektronen,  Quanten. 

333- 

Kleinschmidt,  O.,  Singvögel  der  Hei- 
mat. 663. 

K 1  u  t ,  H.,  Untersuchung  des  Wassers.  647. 

Koch,  A.  und  Lowartz,  C,  Zoologi- 
sche Bestimmungsübungen.   703. 

K  o  1  b  e  ,  L.,  Flüssige  Luft ,  Sauerstoff, 
Stickstoff,  Wasserstoff.  624. 

Kolkwitz,  R.,  Pflanzenphysiologie.  623. 

Kolkwitz,  R.,  Pflanzenforschung.    623. 

Kossei,  W.,  Valenzkräfte  und  Röntgen- 
spektren.  112. 

Krause,  R.,  Mikroskopische  Anatomie 
der  Wirbeltiere.  399. 

Kretschmer,  E.,  Medizinische  Psycho- 
logie.   365. 

Kühn,  A.,  Morphologie  der  Tiere.   127. 

Kukuk,  P.,  Unsere  Kohlen.    214. 

Langenbeck,  B.,  Physische  Erdkunde. 
664. 

Lassar-Cohn,  Einführung  in  die  Che- 
mie.  184. 

Laue,  M.  v.,  Relativitätstheorie.   166. 

Lehmann,  E. ,  Experimentelle  Abstam- 
mungs-    und  Vererbungslehre.   167. 

Lehmann,  H.,  Obslmade.   5S3. 

Lehmann,  H.,  Baumweißlingskalamität. 
607. 

Lehner,  A.,  Tafeln  zum  Bestimmen  der 
Mineralien.  31. 

L  e  n  a  r  d  ,  P.,  Über  Äther  und  Uräther.  230. 

Liesegang,  R.  Ed.,  Kolloidchemie  des 
Lebens.  408. 

Lietzmann,  H.,  Anleitung  zur  Him- 
melsbeobachtung. 294. 

Linne,  Föreläsningar  öfer  Dyrriket.   351. 

Lippmann,  E.  O.  v. ,  Zeittafeln  zur 
Geschichte  der  organischen  Chemie.  295. 

L  i  p  p  s ,  G.  F.,  Grundriß  der  Psychophysik. 
70. 

Lorentz,  H.  A.,  Einstein,  A.,  Min- 
kowski, H. ,  Das  Relativitiitsprinzip. 
510. 

Lud  ewig,  P.,  Radioaktivität.  31. 

Lundborg,  H.,  Rassenbiologische  Über- 
sichten.  271. 

Lüscher,  H.,  Photogrammetrie.   16. 

Maag,  E.  und  Reihling,K.,  Vom  Re- 
lativen zum  Absoluten.  620. 

Mahr,  A. ,  Prähistorische  Sammlungen 
des  Museums  zu  Hallstatt.  197. 

M  a n  n h e  i  m ,  E.,  Pharmazeutische  Chemie. 
368. 

Marzell,  IL,  Einheimische  Pflanzenwelt 
im  Volksgebrauch  und  Volksglauben. 
584. 

Mayer,  A.,  Agrikulturchemic.   127. 

Meirowsky,E.  und  Lcvcn,  L.,  Tier- 
zeicbnuDg,  Menschcnscbeckung.  293. 


Meisenhe  imer ,  J.,  Geschlecht  und 
Geschlechter.  103. 

Metallurgie,  Beiträge  zur.  87. 

Meth,  P.,  Planetenbewegung.  334. 

Mie,  G.,  Einsteinsche  Gravitationstheorie. 
239-  i 

Miehe,  H.,  Zellenlehre  und  Anatomie  | 
der  Pflanzen.  719. 

Molisch,  H.,  Mikrochemie  der  Pflanze. 
198. 

Molisch,  H. ,  Pflanzenphysiologie  als 
Theorie  der  Gärtnerei.  664. 

Mönnig,  O.  H.,  Leucochloridium  macro- 
stomura.   702. 

Montgelas,  E.  v.,  Tiergeschichten.  47 1 .  [ 

Muckermann,  H.,  Um  das  Leben  der 
Ungeborenen.  294. 

Müller,  F.  W.,  Bau  und  Entwicklung 
des  menschlichen  Körpers.    719. 

Müller,  L.  R. ,  Altersschätzung  beim  | 
Menschen.  384.  ' 

Müller,  M.,  Anfangsgründe  der  Chemie. 
112.  ! 

Neeff,  F.,  Prolegomena  zu  einer  Kos- 
mologie. 453. 

Nernst,  W.,  Theoretische  Chemie.  103. 

Neu  burger,  M.  C,  Radioaktivität  des 
Kaliums  und  Rubidiums.  48. 

Neumayr,  M.,  Erdgeschichte.    199. 

Newcomb,  S. ,  Astronomie  für  jeder- 
mann. 294. 

Newcomb  -  Engelmanns  populäre  Astro- 
nomie. 592. 

New  man,  H.  H.,   Biology  of  twins.  565. 

Nippoldt,  A.,   Erdmagnetismus.  158. 

Paehler,  Fr.,  Die  Auskunft.    352. 

P  a  r  e  t ,  O. ,  Urgeschichte  Württembergs. 
229. 

Pauli,   W.  jun.,    Relativitätstheorie.  239. 

Petersen,  H.,  Histologie.  383  (Druck- 
fehlerberichtigung 528). 

Petzold,  J.,  Weltproblem  vom  Stand- 
punkte des  relativistischen  Positivismus. 
454- 

Pfaff,  A.,  Für  und  gegen  das  Einstein-, 
sehe  Prinzip.  549. 

Pfeffer,  W.,  Osmotische  Untersuchungen. 
702. 

Pfeiffer,  P. ,  Organische  Molekülver- 
bindungen. 471. 

Pflanzenreich.   19S. 

Pietzsch,  K.,  Geologische  Literatur 
über  Sachsen   1870  — 1920.    566. 

Planck,  M.,  Vorlesungen  über  Thermo- 
dynamik. 31. 

Planck,  M. ,  Entstehung  und  bisherige 
Entwicklung  der  Quantentheorie.   72. 

Planck,  M. ,  Physikalische  Rundblicke. 
320. 

Plate,  S.,  Fauna  et  anatomia  ceylanica. 
364-  i 

Podestä,  H, ,  Physiologische  Farben-' 
lehre.  448. 

P  r  i  e  t  z  e  ,  H.A.,  Natur  und  Volkstum. 
679. 

P  u  m  m  e  r  e  r ,  K.,  Organische  Chemie.  183. 

Rauther,  M.,  Das  Tierreich.   71. 

Reinhardt,  K.,  Poseidonios.  252. 

Reling,  H.  und  Brohmer,  B.,  Unsere 
Pflanzen  und  Sage,  Geschichte  und 
Dichtung.  04S. 

Richter,  H.,  Begriffe  Kraft,  Stoff,  Kaum, 
Zeit.   549. 

Rom  eis,  B. ,  Taschenbuch  der  mikro- 
skopischen Technik.  384. 

Roth,  W.  A. ,  Physikalisch  -  chemische 
Übungen.   103. 


Rubel,  Ed.,  Geobotanische  Unter- 
suchungsmethoden. 552. 

Rusch,  F.,  Himmelsbeobachlungen.   l68. 

Rüther,  R.,  Systematik  und  Synthese 
der  Elemente.  620. 

Schaffer,  J.,  Lehrbuch  der  Histologie. 
551- 

Schall,  H.,  Fortpflanzung.    703. 

Schau,  A.,  Statik.  87. 

Scheiner-Graff,  Astrophysik.  294. 

Scherzer,  H. ,  Erd-  und  pflanzenge 
schichtliche  Wanderungen  durchs  Fran 
kenland.   15g,  632. 

Schilder,  P.,  Wesen  der  Hypnose.  368 

Schips,  M.,  Mathematik  und  Biologie 
Sil- 

Schmidt,  C.  W. ,  Herstellung  mikro 
skopischer  Präparate.  718. 

Schmidt,  H. ,  Philosophisches  Wörter 
buch.  310. 

Schoenichen,  W.,  Praktikum  der  In 
sektenkunde.   128. 

Schröter,  C,  Aufgaben  der  wissen 
scbaftlichen  Erforschung  in  National 
parken.  567. 

Scbwassmann,  A.,  Relativitätstheorie 
und  Astronomie.   160. 

Seh  weinfurth,  G.,  Auf  unbetretenen 
Wegen  in  Ägypten.   182. 

Schworetzky,  G.,  Weltäther  und  Welt- 
all. 620. 

Seelin  g,  O.,  Hypnose,  Suggestion  und 
Erziehung.  232. 

Sirks,  M.  J.,  Algemeene  Erfelijkheidsleer. 
526. 

Soergel,  W.,  Jagd  der  Vorzeit.  280. 

Stark,  J.,  Natur  der  chemischen  Valenz- 
kräfte.  383. 

Stern,  E.,  Krankhafte  Erscheinungen  des 
Seelenlebens.  366. 

Stiny,  J.,  Technische  Geologie.  512. 

Stoklasa,  J.,  Verbreitung  des  Alumi- 
niums in  der  Natur  usw.  492. 

Straßburger,  E. ,  Kleines  botanisches 
Praktikum.   199. 

Straßburger,  E. ,  Botanisches  Prakti- 
kum.  144. 

Strasser,  H. ,  Einsteinsche  Relativitäts- 
theorie.   549. 

Strömgren,  E. ,  Astronomische  Minia- 
turen. 568. 

Study,  E.,  Denken  und  Darstellung.  71. 

T  h  e  i  m  e  r  ,  V.,  Praktische  Astronomie.  3 1 . 

Thirring,  H.,  Idee  der  Relativitäts- 
theorie. 23S. 

Till,  A. ,  Petrographisches  Praktikum. 
664. 

Timer  ding,  H.  E.,   Fallgesetze.  334. 

Tischner,  R. ,  Monismus  und  Okkul- 
tismus.  215. 

Titschak,  E.,    Kleidermotte.  582. 

Troll,  W.,  Goethes  Naturanschauung  in 
seinen  Gedichten.  313. 

Trömmer,  E. ,  Hypnotismus  und  Sug- 
gestion. 408. 

Tschirch,  A.,  Erlebtes  und  Erstrebtes. 
607. 

Ucxküll,  J.  v.,  Umwelt  und  Innenwelt 
der  Tiere.  55. 

Vageier,  P.,    Bodenkunde.  567. 

Vanino,  L.,  Handbuch  der  präparativen 
Chemie.  319. 

Verworn,  M.,  Aphorismen.   399. 

Volk,  K.  G.,  Geologisches  Wanderbuch. 
30- 

Wahnschaffe,  F.,  Geologie  des  nord- 
deutschen  Flachlandes.    102. 


kcgislelr. 


Vll 


Walte,  W.,  Relativitätstheorie.  159. 

Walte,  W.,  Einstein,  Michelson,  Newton. 
213. 

Warburg,   O.,  Die  Pflanzenwelt.    168. 

Weckmann,  Ornithologisch  -  photogra- 
phische Naturstudien.    677. 

Wehrhahn,  W.,  Laub-  und  Lebermoose 
Hannovers.   455. 

Weil,  A.,  Innere  Sekretion.  471. 

Weiser,  M.,  Das  Atom.   365. 

Wellmann,  Fr.,  Vogelleben  in  Nieder- 
sachsen. 455. 

\V  e  n  z  ,  W.,  Geologischer  Exkursionsführer 
durch   das  Mainzer  Becken.  30. 

Werner,  Fr.,  Das  Tierreich.   71S. 

Wiegers,  Fr.,  Geologisches  Wander- 
buch. 455. 

Wien,  W.,  Relativitätstheorie  vom  Stand- 
punkte der  Physik  und  Erkenntnislehre. 
168. 

Wien,  W. ,  Aus  der  Welt  der  Wissen- 
schaft.  312. 

Wiesners  Rohstoffe  des  Pflanzenreichs.  215. 

Willner,  R.  und  Kyrie,  G.,  Berichte 
der  staatlichen  Höhlenkommission.  678. 

Wissler,  Cl.,  The  American  Indian. 
632. 

Witt  ig,  H.,  Geltung  der  Relativitäts- 
theorie. 549. 

Wolff,  H.,  Harze.    144. 

Woiterstorff,  W. ,  Molche  Deutsch- 
lands. 448. 

Zander,  E.,  Handbuch  der  Bienenkunde. 
295. 

Zander,  E. ,  Obstbau  und  Bienenzucht. 
295. 

Ziegler,  H.  E.,  Tierpsychologie.  408. 

Zoologischer  Anzeiger,  Register.  368. 


IV.  Anregungen  und  Antworten. 

Ameisenhöcker  auf  den  Grettstadter  Wie- 
sen. 32. 

Anthropo-ökologische  Forschung,  Arbeits- 
gemeinscliaft.   624 


Aufruf.  704. 

Bewegungen  von  Insekten  zur  Nahrungs- 
suche. 688. 

Botanisch-anatomische  Terminologie.   536. 

Farnkräuter,  Verbreitung.  679. 

Flugsaurier.  456. 

Geologenkongreß  in   Brüssel.  68S. 

Getreidearten,  Ursprung.  494. 

Graubündner,  Trunksucht.    72. 

Gravitationstheorie.    456. 

Gyromitra  esculenta,  weifie.  400. 

Handstrahlen.    334. 

Helgoland,   Biologische   Anstalt.   335. 

Höhlentiere,  Bedeutung  für  Mutationstheo- 
rie und  Lamarekismus.   199,    239,    335, 

535.   719. 

Homöopathie.    160,  400. 

Kontraktionstheorie.  216,  336. 

Krebs,  Lauterzeugung.   72. 

Lichtwellen.  400. 

Michelsonversuch.  680. 

Mikroskop,    Leitzsches    200  000stes.     335. 

Mond,  Strahlensysteme  auf  demselben.  704. 

Monistenbund.   296. 

Museen,  Lage  der  deutschen  naturwissen- 
schaftlichen. 688. 

Richtigstellung  (Ulbricht).    592. 

Wegeners  Hypothese,  durch  die  südameri- 
kanischen Equiden  nicht  gestützt.    608. 

Wespen  und  Bienen,  Ähnlichkeit.  32. 

Wisente  in  Pleß.  272. 


V.  Abbildungen. 

Allium  Cepa,  AlUnante  und  Leukoplasten. 

h35- 

Arenicola  piscatorum.  264,  265. 

Campanula  trachelium ,  Zellkerne  mit  Ei- 
weißkristallen. 635. 

Cereus  marginatus,  Holzkörper.  40. 

Chlorella.   554. 

Chlorohydra  viridissima.  557. 

Drosophila,  Chromosomen.   548. 

Flugsuuiier.   275,   276,   277. 


Galtonia    candfcans ,     Zellkerne    aus    der 

Wurzel. 
Goldlaufkäfer,  Darmkanal.  78. 
Hochmoore,  Skizze  der  oberschwäbischen. 

709. 
Hydra,  Regeneration.  481—484. 
Kröte,  Hand.  235. 

Kröte,  Schnitt  durch   den  Finger.  236. 
Maikäfer,  Darmkanal.  78,  80. 
Mendel,  Bildnis.  425. 
Mesembryanthemum  linguiforme,  AUinantc. 

635- 
Opuntia,  Qucrschnittsbilder,  sowie  Stamni- 

und  Wurzelskelette.     35 — 37,  39. 
Patella  spec,  Eikern.  637. 
Phyllocactus    phyllanthoides,    Epidermis- 

zellen  mit  Eiweißkristallen.    635. 
Planarien,  Regenerationen,   529 — 533. 
Polytrichum     commune ,     Protonemazelle. 

635- 

Psychodiden ,  Schmuck- ,  Duft-  und  Be- 
rührungsorgane.  7. 

Rattenkreuzungen.   539. 

Ricinus  communis,  Aleuronkörner.  636. 

Schlupfwespe.   Iio. 

Seesterne.  213. 

Serumalbumin,  Kristalle.  635. 

Stentor,  Regeneration.    639. 

Triton,  taeniatus,  Chimären.  461 — 464. 

Tropaeolum  majus.  Kern  und  Chloro- 
plasten.  638. 

Trypanosomen,  Kulturbilder.  166. 

Wünschelrute  aus  Metall.  161. 

Wünschelrutengänge,  drei  Kartenskizzen, 
706,   707. 

Wünschelrutenreaktion,  Schema.   163. 

Zytoplasma,  schematische  amikroskopische 
Struktur.   639. 


VI.   Literaturlisten. 

56,    72,   88,    104,  112,    128,  144,  232, 

240,  25Ö,  272,  296,  408,   424,   448,  456, 

472,  480,  512,  528,  552,  568,   584,   608, 
024,  64S,  6SS. 


G.  Päti'sche  Bucbdr.   Lippert  S  Co.  G.  m.  b.  H.,  N« 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


B.ln<l : 

37-   l'--> 


Sonntag,  den  i.  Januar  1922. 


Nummer  1. 


Das  Problem  der  geschlechtlichen  Zuchtwahl  im  Lichte  neuer 

Beobachtungen. 

Von  Dr.  H.  J.  Feuerborn  (Kiel,  Zool.   Institut). 
Mit   1   Abbildung  im  Text. 


[Nachdruck  verboten.] 

Bei  getrenntgeschlechtlichen  Tieren  lassen  sich 
die  Geschlechter  in  vielen  Fällen  nicht  nur  durch 
die  Geschlechtsorgane  und  ihre  Anhänge,  die 
sog.  „primären  Geschlechtsmerkmale", 
unterscheiden,  sondern  auch  durch  weitere  Merk- 
male, welche  nur  dem  einen  Geschlecht  zukom- 
men und  sehr  oft  keine  unmittelbare  Beziehung 
zu  den  Genitalorganen  zeigen.  Derartige  Merk- 
male werden  als  sekundäre  Geschlechts- 
merkmale bezeichnet.  Allerdings  ist  es  nicht 
immer  leicht,  hier  eine  scharfe  Grenze  zu  ziehen. 
Vielfach  sind  Organe,  welche  ursprünglich  nichts 
mit  der  Fortpflanzung  zu  tun  hatten,  mehr  oder 
weniger  völlig  in  den  Dienst  der  geschlechtlichen 
Funktion  getreten,  wie  z.  B.  die  Pterygopodien 
an  den  Bauchflossen  der  männlichen  Haifische, 
die  zu  Hilfsorganen  umgewandelten  vorderen 
Abdominalbeine  der  männlichen  Krebse,  wie  auch 
Teile  des  Kopulationsapparates  der  Insekten,  die 
auf  abdominale  Gliedmaßen  zurückgeführt  werden. 
Derartige  Bildungen  rechnet  man  mit  Plate,') 
auf  dessen  Zusammenstellung  und  Einteilung  die 
nachfolgende  Übersicht  im  wesentlichen  fußt, 
am  besten  zu  den  primären  Geschlechtsmerk- 
malen. Sehr  viele  differente  Merkmale  der  Ge- 
schlechter stehen  jedoch  in  keinem  unmittelbar 
notwendigen  oder  kaum  nachweisbarem  Zusam- 
menhange mit  der  Fortpflanzung.  Nur  diejenigen 
seien  hier  ins  Auge  gefaßt,  bei  denen  eine  Be- 
ziehung zum  Fortpflanzungsakt  mehr  oder  weniger 
deutlich  erkennbar  ist. 

In  der  Regel,  wenn  auch  nicht  ausschließlich, 
ist  es  das  männliche  Geschlecht,  das  solche 
sekundären  Merkmale  aufweist.  Aus  der  großen 
Fülle  der  Organe  und  Einrichtungen,  die  hier  in 
Betracht  kommen,  lassen  sich  verschiedene  Gruppen 
hervorheben. 

I.  Meist  ist  das  männliche  Geschlecht  hin- 
sichtlich der  Fortpflanzung  der  aktive  Teil,  das 
Weibchen  verhält  sich  mehr  oder  weniger  passiv, 
es  muß  zum  Zwecke  der  Fortpflanzung  aufgesucht 
werden.  Dementsprechend  ist  vielfach  das  Männ- 
chen mit  besonderen  Eigenschaften  ausgestattet, 
die  das  Aufsuchen  erleichtern,  mit  schärferen 
Sinnesorganen  und  größerer  Beweglich- 
keit versehen.  So  sind  bei  vielen  Insekten  im 
männlichen  Geschlecht   die  Geruchsorgane  höher 

')Plate,  Ludwig,  Selektionsprinzip  und  Probleme 
der  Artbildung.  Ein  Handbuch  des  Darwinismus.  Leipzig 
und  Berlin  1913,  S.  275  fr. 


ausgebildet  als  im  weiblichen  Geschlecht,  wie 
sich  dies  z.  B.  bei  dem  Maikäfer  und  anderen 
Coleopteren  durch  die  stärkere  Ausbildung  der 
Fühler  kennzeichnet.  Oder  es  sind  die  Augen, 
z.  B.  bei  den  Bienen  und  manchen  Fliegen,  im 
männlichen  Geschlecht  größer  als  im  weiblichen. 
Ein  Unterschied  in  der  Beweglichkeit  der  beiden 
Geschlechter  liegt  bei  den  Frostspannern  vor, 
deren  Weibchen  verkümmerte  oder  gar  keine 
Flügel  besitzen,  während  die  Männchen  geflügelt 
sind.  Bei  manchen  Parasiten  ist  nur  das  Männchen 
beweglich.  Bei  dem  Molch  Triton  palmatus  treten 
zur  Brunstzeit  breitgelappte  Schwimmhäute  an 
den  Hinterbeinen  auf,  bei  unserem  großen  Kamm- 
molch dient  der  breite  Rückenkamm,  außer  viel- 
leicht als  Mittel  zur  Erregung  des  Weibchens,  vor- 
nehmlich zur  Erhöhung  der  Beweglichkeit. 

2.  Sehr  oft  ist  das  Männchen  in  besonderer 
Weise  für  den  Kampf  um  das  Weibchen  ausge- 
rüstet, mit  „Kam  pforganen"  versehen,  die  ihm 
einen  Vorteil  gegenüber  Geschlechtsgenossen  ge- 
währen. Man  denke  an  das  Geweih  der  Hirsche, 
die  Hauer  des  Ebers,  den  Sporn  des  Haushahnes 
oder  die  vergrößerten  Oberkiefer  des  männlichen 
Hirschkäfers.  Es  ist  anzunehmen,  daß  derartige 
Gebilde  sehr  oft  zugleich  eine  besondere  Wirkung 
auf  das  Weibchen  ausüben.  In  manchen  Fällen 
sind  sogar  Organe,  welche  ursprünglich  als  Wafi'en 
dienten,  ihrem  primären  Zweck  mehr  und  mehr 
entfremdet  und  zu  Erregungsorganen  geworden, 
wie  z.  B.  die  Hauer  des  Hirschebers. 

3.  Nicht  selten  sind  besondere  Vorrichtungen 
vorhanden,  die  zum  Fangen,  Überwältigen  und 
Festhalten  des  Weibchens  dienen.  Vor  allem  bei 
den  niederen  Formen  der  Wirbellosen  sind  solche 
„Greif-  und  Klammerorgane"  verbrehet, 
zumal  bei  den  Krebsen  und  Insekten.  Es  sei  an 
die  umgebildeten  Ruderantennen  des  männlichen 
Cyclops  und  die  Saugscheiben  an  den  Vorder- 
beinen des  Dytiscits  Männchens  erinnert.  Von  den 
Wirbeltieren  können  die  Daumenschwielen  der 
männlichen  Frösche  als  Beispiel  dienen. 

4.  In  großer  Mannigfaltigkeit  treten  schließlich 
Organe  auf,  deren  Zweck  darin  besteht,  die  Gunst 
des  Weibchens  zu  erwerben,  es  zu  erregen  und 
für  die  Begattung  bereit  zu  machen.  Derartige 
Organe  und  Vorrichtungen  bezeichnen  wir  als 
„Erregungs-  oder  Reizorgane".  Sie  neh- 
men ohne  Zweifel  die  hervorragendste  Stelle 
unter  den  sekundären  Geschlechtsmerkmalen   ein. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  I 


Schon  die  Tatsache,  daß  manche  dieser  Merkmale 
erst  zur  Zeit  der  Geschlechtsreife  oder  zur  Brunst- 
zeit auftreten,  und  bei  den  höheren  Wirbeltieren 
Merkmale,  die  der  Erregung  des  Weibchens  dienen, 
fast  den  einzigen  sekundären  Unterschied  zwischen 
den  Geschlechtern  ausmachen,  darf  als  Beweis 
dafür  gelten,  daß  die  Reizorgane  für  die  Fort- 
pflanzung und  Erhaltung  der  Art  eine  bedeutsame 
Rolle  spielen.  Allerdings  muß  gesagt  werden, 
daß  wir  über  diese  Rolle  im  einzelnen  vielfach 
noch  sehr  wenig  Klarheit  besitzen.  Es  hat  sogar 
—  um  das  gleich  zu  betonen  —  nicht  an  Stim- 
men gefehlt,  die  den  sog.  Reizorganen  jede  Be- 
deutung für  die  Erregung  des  VVeibchens  ab- 
sprechen. 

Wir  können  die  Reizorgane  nach  den  Sinnes- 
organen gliedern,    auf  die    sie  einwirken. 

a)  Am  auffallendsten  und  weitesten  verbreitet 
sind  jene  Merkmale,  die  das  Auge  des  Weibchens 
erregen.  Die  prunkvolle  Färbung,  die  auffallend  ge- 
formten und  vielfach  beweglichen  Anhänge  vieler 
Männchen  legen  es  von  vornherein  nahe,  diese  Ein- 
richtungen als  „S  c  h  m  u  c  k  o  r  g  a  n  e"  anzusprechen. 
Sehr  oft  zeigt  das  Männchen  außerdem  besondere 
Instinkte,  a  u  f  f  a  llende  Bewegungen  und  G  e  - 
stalts  veränd  eru  ngen,  mit  denen  es  vor  der 
Begattung  das  $  reizt. 

Aus  der  großen  Fülle  der  Schmuckorgane,  die 
vor  allem  die  höheren  Wirbeltiere,  in  erster  Linie 
die  Vögel  aufweisen,  die  wir  aber  auch  bei  den 
Insekten  verbreitet  finden,  seien  nur  einige  wenige 
hervorgehoben.  Gerade  manche  dieser  schmücken 
den  Merkmale  treten  nur  zur  Brunstzeit  auf,  als 
„Hochzeitskleid".  Die  bunten  Farben  vieler  männ- 
lichen Vögel  im  Gegensatz  zu  den  unscheinbaren 
P'ärbungen  der  Weibchen  sind  allgemein  bekannt. 
Es  braucht  nur  auf  die  Hühnervögel,  Paradies- 
vögel und  Kolibris  hingewiesen  zu  werden.  Von 
den  Amphibien  zeichnen  sich  unsere  Molche  durch 
zum  Teil  recht  lebhafte  Schmuckfärbung  aus. 
Von  den  Fischen  sei  der  dreistachelige  Stichling 
genannt,  dessen  Männchen  zur  Laichzeit  eine  rote 
Bauchfärbung  annimmt.  Unter  den  Säugetieren 
sind  manche  Affen  durch  Schmuckfärbung  aus- 
gezeichnet. 

Auffallende  Formen  sind  sehr  oft  mit  Schmuck- 
färbung vereinigt,  man  denke  an  die  bisweilen 
geradezu  absonderlichen  Federbildungen  bei  Para- 
diesvögeln und  Kolibris.  Hörner  und  andere 
Fortsätze  finden  sich  bei  vielen  Käfern. 

Bewegliche,  oft  intensiv  gefärbte  Anhänge 
scheinen  von  besonderer  Wirkung  zu  sein.  Manche 
Vögel,  besonders  Hühnervögel,  tragen  am  Kopfe 
oder  Halse  allerlei  gefärbte  lappige  Anhänge, 
andere  sind  mit  aufrichtbaren  Schöpfen  oder  Hals- 
kragen ausgestattet.  Vielfach  sind  die  Schwanz- 
federn oder  Schwanzdeckfedern  besonders  beweg- 
lich, z.  B.  beim  Pfau,  beim  Birkhahn  und  bei  der 
Trappe. 

Auffallende  Bewegungen  und  Gestaltsverände- 
rungen haben  wir  in  den  Balzspielen  und  Balz- 
flügen der  Vögel  vor  uns.    Als  bekannte  Beispiele 


seien  die  Balzbewegungen  des  Birkhahns  und  das 
eigenartige  Gebahren  des  Kampfläufers,  Maclicfcs 
piigiiax,  erwähnt.  Wie  schon  der  Name  des 
letzteren  andeutet,  haben  diese  Balzspiele  häufig 
den  Charakter  des  Kampfes  mit  anderen  Männ- 
chen. Doch  kann  angenommen  werden,  daß 
hierbei  zugleich  eine  Reizwirkung  auf  das  Weib- 
chen stattfindet.  Auch  der  Haushahn  vollführt 
einige  charakteristische  Bewegungen,  wenn  er  um 
die  Henne  wirbt.  Die  männliche  Trappe  bläst 
beim  Balzen  den  Mundhöhlensack  auf  und  treibt 
den  Hals  halbkugelartig  vor.  Interessant  sind  die 
absonderlichen  Bewegungen  und  Stellungen  man- 
cher Spinnen  bei  Annäherung  an  das  Weibchen, 
besonders  der  Attiden.  Bei  diesen  führen  die 
Männchen  die  merkwürdigsten  Prozeduren  aus, 
„sie  schaukeln  sich  von  einer  Seite  zur  anderen, 
heben  das  erste  Beinpaar  in  die  Höhe  oder  breiten 
es  weit  aus,  strecken  das  Abdomen  rechtwinkelig 
zum  Cephalothorax  nach  oben  oder  suchen  durch 
andere  absonderliche  Stellungen  die  Aufmerksam- 
keit des  Weibchens  zu  fesseln,  was  ihnen  auch 
ersichtlich  gelingt.  Sie  bekommen  ferner  zur 
Brunstzeit  lebhafte  Farben  (rot,  schwarz,  weiß, 
regenbogenfarbig),  bei  den  verschiedenen  Arten  in 
den  verschiedensten  Mustern  und  verlängerte 
Haarbüschel  am  Kopf  und  an  den  Beinen.  —  Da- 
bei ist  es  unverkennbar,  daß  die  Männchen  sich 
stets  so  vor  den  Weibchen  bewegen  und  solche 
Stellungen  einnehmen ,  daß  ihre  Schmuckfarben 
möglichst  sichtbar  sind"  (Plate). 

Ein  besonderes  Interesse  dürfen  noch  die 
„Laubenvögel"  des  australischen  Urwaldes  bean- 
spruchen, deren  Männchen  keinen  nennenswerten 
eigenen  Schmuck  aufweisen  und  ihn  dadurch  er- 
setzen, daß  sie  auf  ihren  Balzplätzen  kunstvolle 
Lauben  bauen  und  deren  Umgebung  durch  aller- 
lei hellgefärbte  Laubblätter,  Früchte,  Schnecken- 
schalen und  bunte  Federn  verzieren. 

b)  Neben  dem  Auge  spielt  der  Geruchs- 
sinn im  Geschlechtsleben  der  Tiere  eine  überaus 
wichtige  Rolle.  Zahlreiche  Tiere  finden  sich  zum 
Zwecke  der  Fortpflanzung  in  erster  Linie  mit  Hilfe 
des  Geruchssinnes  zusammen.  Es  ist  daher  nicht 
verwunderlich,  daß  auch  die  Wirkung  auf  den 
Geruchssinn  zur  Steigerung  der  geschlechtlichen 
Erregung  herangezogen  wird.  Viele  männliche 
Tiere  besitzen  besondere  Duftdrüsen,  die 
lediglich  zur  Brunstzeit  in  Funktion  treten.  Von 
den  Säugetieren  mögen  als  Beispiele  Ziegenbock, 
Gemse,  Moschustier  und  Fuchs  genannt  werden. 
Vielfach  ist  der  „Duft"  dieser  Tiere  außerordent- 
lich penetrant  und  für  unseren  Geruchssinn 
alles  andere  eher  als  angenehm.  Doch  gibt  es 
auch  für  unsere  Begriffe  angenehme  Düfte,  vor 
allem  bei  den  Schmetterlingen.  Der  männ- 
liche Rübenweißling  {Picris  iiapi  L.)  duftet  nach 
Melissengeist,  Didoitis  bihlis  Fabr.  nach  Helio- 
trop, Callidryas  argaiita  Fabr.  nach  Moschus, 
Dirccinia  xaiifho  nach  Vanille,  „andere  Lepidop- 
teren  strömen  Düfte  aus,  welche  denen  ver- 
schiedener   Blüten    oder  Früchte    nahe    kommen" 


N.  F.  XXI.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


(Deegener).  FritzMüller  war  es,  der  zuerst 
auf  die  Organe,  welche  diese  Düfte  hervorbringen, 
hingewiesen  hat.  Seitdem  sind  die  Duftorgane 
der  Schmetterhnge  von  zahlreichen  Forschern 
untersucht  worden.  Bald  sind  es  zerstreute 
Schuppen  ,  sog.  Duftschuppen,  auf  den  Flügeln, 
bald  zu  Duftflecken  vereinigte  Gruppen  von 
Schuppen.  In  anderen  Fällen  sind  die  Duft- 
schuppen in  besonderen  Falten  untergebracht, 
durch  die  ein  unnötiges  Verdunsten  des  Sekretes 
verhindert  wird.  Bei  dem  Männchen  von  Hcpi- 
aliis  Iiccfa  L.  sind  die  Hinterbeine  zu  einem  Duft- 
apparat umgebildet,  indem  die  Tibien  stark  ver- 
dickt und  mit  langen  Dufthaaren  versehen,  die 
Tarsen  verkümmert  sind.  Bei  Nichtgebrauch 
können  die  Tibien  in  je  einer  taschenartigen  Falte 
des  Abdomens  untergebracht  werden. 

Sehr  verbreitet  sind  nun  gerade  bei  den 
Schmetterlingen  auch  Duftorgane  des  $  Ge- 
schlechts. Sie  sind  erst  neuerdings  durch  F  r  e  i  - 
ling  genauer  bekannt  geworden  und  befinden 
sich  meist  am  Hinterende  des  Abdomens  als  Duft- 
büschel, Duftfalten  oder  auch  ausstülpbare  An- 
hänge. Der  Duft  der  $$  ist  als  Lockmittel  an- 
zusehen. 

Von  welch  weitreichender  Wirkung  dieser 
Lockduft  einerseits  und  wie  scharf  und  fein  diffe- 
renziert andererseits  die  Geruchsorgane  der  Männ- 
chen sind,  lehren  Versuche  von  Standfuß,  der 
mit  einem  unbefruchteten  Weibchen  des  kleinen 
Nachtpfauenauges  [Satunna  carpini),  das  er  im 
Freien  aussetzte,  im  Laufe  von  7  Stunden  127  Männ- 
chen herbeilockte. 

c)  Um  die  Erregungsmittel,  die  auf  das  Ge- 
hör des  $  einwirken,  zu  kennzeichnen,  sei  an  das 
Röhren  des  Brunsthirsches,  an  den  Gesang,  be- 
sonders den  Balzgesang  der  Vögel  und  an  das 
Konzert  der  Wasserfrösche  erinnert.  Bei  letzteren 
sind  die  Männchen  mit  besonderen  Schallblasen 
versehen.  Auch  die  zirpenden  und  singenden 
Töne  mancher  Insekten,  z.  B.  der  Heuschrecken 
und  Grillen,  deren  $^  besondere  Lautinstrumente 
besitzen,  gehören  hierher. 

d)  Auch  der  Geschmackssinn  des  $  wird 
in  einigen  Fällen  durch  besondere  Ausscheidungen 
des  (J  erregt.  Erst  kürzlich  wurde  von  Wille 
bei  der  deutschen  Schabe  festgestellt,  daß  bei  den 
oft  über  eine  Stunde  lang  währenden  Liebesspielen 
das  $  auf  den  Rücken  des  Männchens  klettert 
und  hier  an  besonderen  Saftdrüsen  leckt.  Von 
einer  nordamerikanischen  Gryllodee  wird  nach 
Plate  ähnliches  berichtet. 

e)  Schließlich  sind  noch  die  Mittel  anzuführen, 
die  auf  den  Gefühlssinn  des  $  einwirken.  So 
dienen  z.  B.  die  Drüsenschwielen  der  männlichen 
Frösche  dazu,  bei  der  Umarmung  den  Druckreiz 
zu  erhöhen.  Die  männliche  Chimäre,  ein  Knorpel- 
flosser,  preßt  ihren  mit  Stacheln  besetzten  Stirn- 
anhang in  die  Haut  des  Weibchens.  Andere 
Fische  versetzen  ihren  Weibchen  Stöße  und  Püffe, 
um  die  geschlechtliche  Erregung  zu  steigern. 

Diese  kurze  Übersicht  mag  genügen,  um  einen 


Einblick  in  die  große  und  mannigfaltige  Fülle  von 
Merkmalen,  Organen  und  Einrichtungen  zu  ge- 
währen, denen  eine  sexuelle  Reizwirkung  auf  das 
Weibchen  zugesprochen  wird.  Wer  sich  ein- 
gehender mit  ihnen  beschäftigt,  ist  erstaunt  über 
das  Raffinement  der  Mittel,  die  die  Natur  hier  an 
wendet,  um  den  Erfolg  sicher  zu  stellen. 

Aber,  so  müssen  wir  uns  jetzt  fragen,  be- 
steht tatsächlich  die  Auffassung,  daß 
es  sich  hier  um  Reiz-  oder  Erregungs- 
organe handelt,  zu  Recht.'  Und  ferner, 
wie  ist  die  Entstehung  und  Ausbildung 
dieser  auffallenden  Merkmale,  die  nur 
das  eine  Geschlecht  aufweist,  zu  er- 
klären? 

Der  erste,  der  diesen  Fragen  größere  Aufmerk- 
samkeit zuwandte  und  sie  zu  lösen  versuchte, 
war  Charles  Darwin.  In  seinem  1871  er- 
schienenen Werke  über  „Die  Abstammung  des 
Menschen  und  die  geschlechtliche  Zuchtwahl" 
wird  die  Bedeutung  der  sekundären  Geschlechts- 
merkmale eingehend  erörtert  und  auf  ihr  die 
Theorie  der  geschlechtlichen  Zucht- 
wahl aufgebaut.  Wie  bei  der  natürlichen 
Zuchtwahl  der  „Kampf  ums  Dasein"  die- 
jenigen Merkmale  und  Einrichtungen  zur  Entwick- 
lung gelangen  läßt,  welche  dem  Organismus  in 
irgendeiner  Weise  für  seinen  Bestand  nützlich 
sind,  und  so  die  verschiedenen  Arten  durch 
„Überleben  des  Passendsten"  sich  herausgebildet 
haben,  so  sind  bei  der  geschlechtlichen 
Zuchtwahl  einmal  durch  den  Kampfder  Männ- 
chen um  das  Weibchen  alle  jene  Organe  ent- 
standen, welche  dem  Männchen  besondere  Vor- 
teile gegenüber  Geschlechtsgenossen  gewährten, 
wie  größere  Beweglichkeit,  schärfere  Sinnesorgane, 
Kampfwerkzeuge  und  Greiforgane ,  das  andere 
Mal  durch  die  Wahl  der  Weibchen  jene  Or- 
gane und  Einrichtungen,  die  in  besonderer  Weise 
auf  das  $  einwirkten,  es  erregten  und  für  die  Be- 
gattung bereit  machten.  Was  insbesondere  den 
letzteren  Teil  der  Darwin  sehen  Theorie  betrifft, 
so  besagt  er  kurz  folgendes : 

Bei  der  Fortpflanzung  ist  in  der  Regel  das  $ 
der  aktive  Teil,  es  sucht  das  $  auf  und  wirbt  um 
dasselbe. 

Das  $  verhält  sich  demgegenüber  meist  passiv, 
es  zeigt  eine  gewisse  Sprödigkeit  und  läßt  nicht 
ohne  weiteres  jedes  $  zu.  Diejenigen  Männchen 
nun,  welche  in  irgendeiner  Weise  Vorzüge  be- 
saßen, das  5  stärker  erregten,  hatten  größere  Aus- 
sicht, zur  Fortpflanzung  zu  gelangen,  da  sie  vom 
$  vorgezogen,  gewählt  wurden.  Durch  diese  Wahl 
der  $$  mußten  sich  die  Erregungsmittel  der 
Männchen,  die  schmückenden  Farben  und  An- 
hänge, die  Duftorgane,  der  Gesang  usw.  bei  den 
betreffenden  Arten  zu  immer  größerer  Vollkom- 
menheit steigern.  Auch  die  Entwicklung  des 
Menschengeschlechts  ist  nach  Darwin  vornehm- 
lich beherrscht  durch  die  geschlechtliche  Zuclit- 
wahl.  Die  Tatsache,  daß  heute  der  männliche 
Mensch    in    der  Regel    der  Wählende  ist  und  das 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 


weibHche  Geschlecht  sich  schmückt  und  zu  ge- 
fallen sucht,  ist  eine  Abkehr  vom  ursprünglichen 
Verhalten,  erklärt  aber  auch  zugleich,  weshalb 
beim  iVIenschen  das  weibliche  Geschlecht  das 
„schönere"  ist,  wie  ähnliches  übrigens  auch  bei 
einigen  Tierarten  vorkommt. 

In  der  Tat,  die  Darwin  sehe  Theorie  hat  zu- 
nächst etwas  durchaus  Bestechendes  an  sich.  Doch 
mußte  schon  Darwin  selbst  zugeben,  daß  der 
Theorie  allerlei  Schwierigkeiten  im  Wege  stehen. 
Gerade  dieser  Teil  seiner  Selektionslehre  hat  zu 
sehr  vielen  Kontroversen  Anlaß  gegeben  und  ge- 
hört noch  heute  zu  den  am  wenigsten  geklärten 
Gebieten  der  Abstammungslehre. 

Um  die  Richtigkeit  der  Darwinschen  Theorie 
zu  prüfen,  unterscheiden  wir  3  Hauptfragen. 

1.  Haben  tatsächlich  die  sog.  Schmuck-, 
Duft-,  Stimmorgane  usw.  die  Bedeutung 
von  Erregungsorganen,  d.  h.  wirken  sie 
in  besonderer  Weise  auf  das  $  ein? 

2.  Wählt  das  $  das  am  besten  ausge- 
stattete Männchen  aus:  Es  mag  hierzu  be- 
merkt werden,  daß  von  einer  ,W'ahl"  des  Weib- 
chens natürlich  nur  im  bildlichen  Sinne  gesprochen 
werden  kann. 

3.  Wenn  diese  Wahl  bejaht  wird,  läßt 
sich  durch  sie  die  Entstehung  und  Aus- 
bildung der  betr.  Organe  erklären? 

Betrachten  wir  zunächst,  was  die  Beobachtungen 
lehren. 

Von  den  Vögeln,  die  doch  durch  so  auffallende 
Erregungsmittel,  durch  prächtigen  Schmuck  und 
vollendeten  Gesang  sich  auszeichnen,  mußte  Dar- 
win erklären;  „Was  Vögel  im  Naturzustande  be- 
trifft, so  ist  die  erste  sich  jedem  aufdrängende 
und  am  meisten  in  die  Augen  springende  Ver- 
mutung die,  daß  das  $  zur  gehörigen  Zeit  das 
erste  Männchen,  dem  es  zufällig  begegnet,  an- 
nimmt." Allerdings  liegen  einige  Beobachtungen 
vor,  die  auf  eine  Wahl  schließen  lassen  könnten. 
Ihnen  stehen  aber  zahlreiche  andere  gegenüber, 
wo  die  Weibchen  sich  völlig  gleichgültig  der 
Schönheit  des  ^  gegenüber  verhielten.  Es  ist 
bekannt,  daß  nicht  selten  die  Birkhenne  sich  mit 
einem  jungen  Hahn,  der  sich  nicht  auf  den  Kampf- 
oder Balzplatz  wagt,  hinwegstielt,  daß,  während 
der  Brunsthirsch  ein  Schmaltier  treibt,  die  Alttiere 
sich  von  jungen  Hirschen  begatten  lassen  (Hesse). 
Mayer  und  Soul  e  haben  Versuche  mit  Schmetter- 
lingen gemacht,  um  experimentell  eine  etwaige 
Wahl  der  Weibchen  festzustellen.  Sie  beobachteten 
600  (^(3*  von  Odlosainia  pvoinethca,  von  denen 
etwa  die  Hälfte  mit  grüner  oder  roter  Tinte 
künstlich  gefärbt  war.  Diese  gefärbten  Tiere  ge- 
langten ebenso  erfolgreich  zur  Kopulation  wie  die 
normalen.  Einem  Männchen  wurden  die  Flügel 
eines  Weibchens  aufgeklebt,  trotzdem  wurde  es 
von  einem  Weibchen  angenommen.  Immerhin 
zeigten  andere  Versuche,  daß  das  Auge  des 
Weibchens  eine  gewisse  Rolle  bei  der  Zulassung 
des  Männchens  spielt.  Doch  glaubt  Plate  von 
den    Schmetterlingen    zugeben    zu    müssen,     daß 


,,eine  Wahl  der  Weibchen  bis  jetzt  nicht  erwiesen 
ist,  sondern  sehr  häufig  das  erste  Männchen  zu- 
gelassen wird,  auch  wenn  es  sich  in  sehr  defektem 
oder    künstlich  gefärbtem  Zustande  repräsentiert". 

Anhänger  der  Wahltheorie  helfen  sich  mit  der 
Annahme,  daß  vielleicht  die  Arten  sich  früher 
anders  verhalten  hätten,  oder  daß,  wenn  nicht  in 
jedem  Einzelfall,  so  doch  im  allgemeinen  die  ge- 
schmückteren  Männchen  vorgezogen  würden,  oder 
auch,  daß  die  Wahl  des  Weibchens  nicht  aktiv, 
sondern  passiv  sei,  indem  dasjenige  $  zugelassen 
werde,  welches  dem  $  am  wenigsten  zuwider  sei. 
Oder  sie  machen,  wie  Weismann,  den  umge- 
kehrten Schluß :  Weil  die  Erregungsorgane  da 
sind,  so  muß  auch  eine  Wirkung  auf  das  Weib- 
chen und  eine  Wahl  des  $  stattfinden.  Weis- 
m  a  n  n  sagt  in  seinen  Vorträgen  über  Deszendenz- 
theorie :  „Es  scheint  mir  geboten,  den  Prozeß  der 
sexuellen  Selektion  als  wirklich  wirksam  anzu- 
nehmen, und  anstatt  ihn  in  Zweifel  zu  ziehen, 
weil  man  das  Wählen  der  Weibchen  nur  selten 
direkt  feststellen  kann ,  vielmehr  umgekehrt  aus 
den  zahlreichen  sekundären  Sexualcharakteren  der 
Männchen,  welche  nur  Liebeswerbung  bedeuten 
können,  zu  schließen,  daß  die  Weibchen  solcher 
Arten  für  deraitige  Auszeichnungen  empfänglich 
sind  und  wirklich  imstande  zu  wählen."  Natür- 
lich ist  mit  einer  solchen  Schlußfolgerung,  wenn 
ihr  auch  eine  gewisse  Berechtigung  innezuwohnen 
scheint,  das  Problem  nicht  gelöst. 

Der  Mangel  an  Beobachtungen  über  tatsäch- 
lich stattfindende  Wahl  der  Weibchen,  der 
Kramer  zu  dem  Ausspruche  veranlaßte,  daß  die 
Beispiele  nur  dem  genügen  könnten ,  der  aus 
anderen  Gründen  von  der  Existenz  der  geschlecht- 
lichen Zuchtwahl  überzeugt  sei ,  hat  denn  auch 
schon  bald  Bedenken  gegen  die  Richtigkeit  der 
Darwinschen  Theorie  aufkommen  lassen.  Es 
seien  hier  nur  die  wesentlichen  Einwände  gegen 
dieselbe  und  anderweitigen  Versuche 
einer  Erklärung  kurz  besprochen. 

'1889  hat  Wallace,  der  im  übrigen  der 
Theorie  Darwins  von  der  natürlichen  Zucht- 
wahl zuneigte,  den  Einwand  gemacht,  daß  das 
ästhetische  Gefülil  der  Weibchen  nicht  so  weit 
gehen  könne,  um  kleine  Differenzen  in  den  Farben- 
mustern bzw.  im  Gesang  zu  unterscheiden.  Eine 
allmähliche  Züchtung  komplizierter  Färbungen 
sei  deshalb  durch  Auslese  geringfügiger  Unter- 
schiede nicht  möglich.  Weiterhin  sei  es  unwahr- 
scheinlich, daß  alle  Weibchen  einer  Art  denselben 
Geschmack  hätten,  das  eine  würde  dies,  das  andere 
jenes  Merkmal  vorziehen.  Letzteren  Einwand 
äußern  in  ähnlicher  Weise  auch  Claparede, 
Günther,  Morgan  u.a.  Beide  Einwände,  die 
auch  Plate  aus  verschiedenen  Gründen  nicht 
anerkennt,  verlieren  wolil  ihre  Berechtigung,  wenn 
wir  annehmen ,  daß  die  Empfindungsqualitäten 
des  Weibchens  sehr  fein  abgestimmt  sind  und  auf 
erblich  fixierter,  instinktiv,  d.  h.  reflektorisch  wir- 
kender Veranlagung  beruhen,  also  sich  stets  in 
**"  derselben  Richtung  äußern  müssen. 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


s 


Wallace  versucht  nun  die  Entstehung  der 
sekundären  Geschlechtsmerkmale  dadurch  zu  er- 
klären, daß  er  annimmt,  sie  beruhen  auf  einer 
Präponderanz  des  männlichen  Geschlechtes,  auf 
einem  „Überschuß  an  Lebenskraft".  Auch 
nach  Eimer  und  Kicker t  sind  die  „Pracht- 
farben" einfach  „Kraftfarben",  während  die  un- 
scheinbare Färbung  der  Weibchen  eine  Schutz- 
färbung darstellt.  Für  Wallace  ist  die  natür- 
liche Auslese  die  Ursache  der  Weiterentwick- 
lung, da  nur  stets  die  kräftigsten  IVlännchen  und 
die  geschützten  Weibchen  überleben. 

Diese  Wallace  sehe  Theorie  vom  männlichen 
Kraftüberschuß  ist  in  modifizierter  F^orm  von  ver- 
schiedenen Forschern  übernommen  worden.  So 
Iiat  man  vielfach  die  Ansicht  ausgesprochen,  daß 
das  Weibchen  für  die  Bildung  der  Eier,  Brut- 
pflege usw.  mehr  materielle  Kraft  verbrauche  als 
das  Männchen  zur  Bildung  des  Samens,  daß 
also  im  Männchen  ein  Überschuß  an  Energie  vor- 
handen sei ,  der  sich  in  größerer  Beweglichkeit 
und  in  der  Bildung  der  sekundären  Geschlechts- 
merkmale äußere.  Auch  Hesse  vertritt  neuerdings 
diese  Ansicht  und  versucht  sie  durch  zahlreiche  Bei- 
spiele einer  männlichen  Präponderanz  zu  stützen. 
Aber  es  ist  hier  Verschiedenes  einzuwenden.  Zu- 
nächst ist  es  nicht  recht  verständlich,  weshalb 
dann  nicht  allgemein  die  Männchen  vor  den 
Weibchen  ausgezeichnet  sind.  Von  nahe  ver- 
wandten Arten  ist  oft  das  cj  der  einen  Art  vor- 
züglich ausgestattet,  das  der  anderen  nicht.  Der 
Kraftüberschuß  müßte  doch  unter  sonst  gleichen 
Bedingungen  annähernd  bei  allen  Männchen  in 
gleicher  Weise  vorhanden  sein.  Weshalb  sollte 
ferner  der  Kraflüberschuß  sich  stets  nur  an  be- 
stimmten Körperstellen  äußern  und  in  so  merk- 
würdigen Organen  und  Merkmalen,  die  augen- 
scheinlich auf  die  weiblichen  Sinne  wirken  sollen. 
Manche  Farben  beruhen  zudem  nur  auf  Struktur 
(physikalische  Farben),  es  kommt  in  ihnen  offen- 
bar gar  kein  Kraftüberschuß  zur  Geltung.  Weiter- 
hin ist  bisweilen  auch  das  $  der  bevorzugte,  d.  h. 
mit  besonderen  Färbungen  oder  anderen  Merk- 
malen ausgestattete  Teil.  So  sind  z.  B.  bei  den 
Schetterlingen  —  wie  ich  schon  erwähnte  —  viel- 
fach gerade  die  Weibchen  mit  Duftorganen  ver- 
sehen. Und  endlich  ist  zu  bedenken ,  daß  die 
Erbfaktoren,  auf  denen  die  sekundären  Geschlechts- 
merkmale beruhen,  vermutlich  allgemein  in  beiden 
Geschlechtern  vorhanden  sind,  aber  in  bestimmter 
Abhängigkeit  stehen  von  Faktoren ,  die  mit  den 
Keimdrüsen  zusammenhängen.  Diese  Faktoren, 
über  die  noch  keine  völlige  Klarheit  herrscht, 
lassen  beim  Männchen  die  sekundären  männlichen 
Merkmale  hervortreten ,  hemmen  die  weiblichen 
Merkmale.  Umgekehrt  beim  Weibchen.  Ausfall 
dieser  F"aktoren,  etwa  infolgeKastration,  mangelnder 
Entwicklung  der  Keimdrüsen  oder  Alterssterilität 
läßt  in  vielen  Fällen  Merkmale  des  anderen  Ge- 
schlechte« zur  Entwicklung  kommen.  Es  kaim 
also  offenbar  nicht  ein  etwaiger  Kraftüberschuß 
des   einen   Geschlechtes   der  maßgebende  Faktor 


für  die  Ausbildung  gerade  dieser  sekundären 
Merkmale  sein,  wobei  nicht  in  Abrede  gestellt 
werden  soll,  daß  vielfach  das  Männchen  in  der 
Weiterentwicklung  dem  Weibchen  voranzugehen 
scheint. 

Es  mag  hier  anschließend  bemerkt  werden, 
daß  man  versucht  hat,  die  fraglichen  Organe  und 
Einrichtungen  überhaupt  durch  korrelative 
Wirkung  seitens  der  Geschlechtsdrüsen 
zu  erklären.  Zweifellos  stehen,  wie  gesagt,  die 
sekundären  Geschlechtsmerkmale  in  gewisser  Be- 
ziehung zu  den  Gonaden.  Aber  damit  ist  ihre 
Entstehung  offenbar  nicht  erklärt! 

Doflein,  um  noch  eine  letzte  Ansicht  anzu- 
führen, weist  darauf  hin,  daß  vielfach  der  Fort- 
pflanzungsakt bei  den  Tieren  mit  Gewaltanwen- 
dung verknüpft  ist.  Er  kommt  zu  dem  Schluß, 
„daf3  die  Künste,  Kämpfe  und  sonstigen  Proze- 
duren der  Männchen  nur  einen  Ersatz  für  die 
Gewaltanwendung  bei  der  Werbung  um  die 
Weibchen  darstellen.  Sie  sind  andere  Mittel,  um 
den  Selbsterhaltungsinstinkt  des  Weibchens  zu 
überwinden."  So  könne  es  vollkommen  unter 
dem  Einfluß  der  natürlichen  Zuchtwahl  geschehen 
sein,  daß  diese  Gewohnheiten  sich  herausgebildet 
haben,  da  durch  sie  eine  Menge  von  Verletzungen 
und  Todesfällen  den  betreffenden  Tierarten  er- 
spart werden.  Doch  muß  auch  Doflein  zu- 
geben, daß  es  nicht  sehr  wahrscheinlich  sei,  daß 
durch  natürliche  Zuchtwahl  allein  die  sekundären 
Merkmale  erklärt  werden  können.  Der  geschlecht- 
lichen Zuchtwahl,  d.  h.  einer  Wahl  der  Weibchen, 
sei  aber  jedenfalls  keine  allzugroße  Bedeutung  bei- 
zumessen. 

Plate  kommt  schließlich,  nachdem  er  die 
verschiedenen  Theorien  besprochen  hat,  zu  der 
Schlußfolgerung,  daß  manche  sekundären  Ge- 
schlechtsmerkmale auf  natürliche  Zuchtwahl  zu- 
rückgeführt, andere  durch  vermehrten  Gebrauch 
oder  Nichtgebrauch  und  verschiedene  Lebensweise 
gedeutet  werden  können,  daß  für  die  W'atTen  und 
Erregungsorgane  der  Männchen  die  sexuelle 
Zuchtwahl ,  also  die  Wahl  der  Weibchen,  ge- 
nügende Erklärung  biete,  also  in  der  Hauptsache 
die  Darwinsche  Theorie  zu  Recht  bestehe. 
Immerhin  muß  er  gestehen,  „daß  die  Entstehung 
der  sekimdären  Geschlechtsmerkmale  ein  in  vieler 
Hinsicht  dunkles  Gebiet  ist." 

Das  Eine  kann  jedenfalls  gesagt  werden,  schon 
die  Vorfrage,  nach  der  es  festzustejlen  gilt,  ob 
tatsächlich  eine  besondere  Erregung 
der  Weibchen  durch  die  Reizorgane 
stattfindet,  ist  so  wenig  geklärt,  daß  von  Be- 
weisen für  die  Richtigkeit  der  Zuchtwahltheorie 
bis  jetzt  wohl  kaum  die  Rede  sein  kann. 

Versuchen  wir  nun,  dieser  Frage  an  der  Hand 
eines  Beispiels,  das  Verf.  selbst  zu  untersuchen  Ge- 
legenheit hatte,')  näher  zu  treten. 


')  Fe  uer  b  or  n,  H.  I.,  Der  se.\uelle  Keizapparut (Schmuck-, 
Duft-  und  Berührungsorgane)  der  Psychodidcn  nach  biolo- 
jisclien  und  physiologischen  Gosichtspuiiktini  untersucht, 
/.upieich  ein  Jlcitrag    zur  Kenntnis    der  Sinnesorgane    und   der 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   I 


Bei  den  Dipteren,  den  Zweiflüglern,  sind  bis- 
her —  wenn  wir  von  einigen  unerheblichen 
sekundären  Merkmalen,  deren  Bedeutung  teilweise 
noch  unsicher  ist,  absehen  —  sexuelle  Erregungs- 
organe nicht  bekannt  geworden.  Die  beiden  Ge- 
schlechter sind  meist  ziemlich  gleich  gefärbt  und 
zeichnen  sich  auch  sonst  voreinander  nicht  wesent- 
lich aus.  Und  doch  besitzt  eine  Dipterenfamilie 
sexuelle  Erregungsmittel  in  einer  Vollkommenheit, 
daß  es  verwunderlich  ist,  wie  dieselben  so  lange 
unbeachtet  bleiben  konnten.  Es  handelt  sich  um 
die  Schmetterlingsmücken  {Psycltodidae), 
die  ihren  Namen  dem  Umstände  verdanken,  daß 
sie  infolge  ihrer  dichten  schuppigen  Behaarung 
und  breiten  Flügel  fast  wie  kleine  Schmetterlinge 
aussehen.  Es  sind  Mücken  von  nur  2  —4  mm 
Größe,  von  denen  Arten  der  einen  Gattung, 
Psychoda,  wohl  allgemein  bekannt  sein  dürften, 
da  die  weißlichen  oder  grauen  Mückchen,  deren 
Flügel  wie  ein  Dach  stehen,  zum  Teil  sehr  häufig 
sind,  besonders  an  Stallfenstern,  in  der  Nähe  von 
Dung,  Abfällen  und  Küchenabwässern.  In  unge- 
heuren Massen  bevölkern  sie  die  biologischen  Klär- 
anlagen der  Großstädte.  Die  Arten  der  beiden 
anderen  Gattungen  Pcricovia  und  Uloniyia  sind 
meist  etwas  größer,  dunkler  gefärbt,  tragen  die 
Flügel  wagerecht  ausgebreitet  und  halten  sich  an 
Uferpflanzen  in  der  Nähe  von  Mühlenwehren, 
Quellen  und  Sümpfen  auf.  Unter  den  letzteren 
finden  sich  die  Arten,  die  im  männlichen  Ge- 
schlecht mit  allerlei  besonderen  Merkmalen  aus- 
gestattet sind. 

Schon  Eaton,  bisher  der  bqgte  Kenner  der 
Psychodiden ,  bemerkte ,  daß  manche  Arten  im 
männlichen  Geschlecht  auffallend  geschmückt  seien. 
Neuerdings  hat  der  Belgier  T  o  n  n  o  i  r  auf  die 
merkwürdigen  Anhänge  vieler  Arten  aufmerksam 
gemacht,  ohne  deren  Bedeutung  zu  erkennen.  Er 
hält  sie  zum  Teil  für  Sinnesorgane.  In  der  Tat 
handelt  es  sich  um  einen  geradezu  raffiniert 
ausgebildeten  Apparat,  der  im  Dienste 
sexueller  Erregung  steht.  Dieser  Reiz- 
apparat zeigt  verschiedene  Grade  der  Vervoll- 
kommnung. Von  den  etwa  60  Arten,  die  bisher 
untersucht  werden  konnten,  sind  etwa  35  sekundär- 
geschlechtlich modifiziert,  bei  etwa  einem  Dutzend 
Arten  kann  die  Ausbildung  der  Reizorgane  als 
hochdifferenziert  bezeichnet  werden. 

Was  zunächst  am  meisten  in  die  Augen  fällt, 
sind  die  Schmuckorgane  dieser  Arten.  Wäh- 
rend die  Weibchen  durchweg  unscheinbar  gefärbt 
sind,  finden  sich  bei  den  Männchen  ganz  auf- 
fallende Schmuckfärbungen,  besonders  lebhafte 
Kontrastfarben.  Gewöhnlich  sind  Kopf  und 
Vorderbrust  ausgezeichnet,  vielfach  ganz  schnee- 
weiß oder  sammetschwarz  behaart.  Bisweilen 
ist  der  Vorderrücken  mit  breitem  Längs-  oder 
Querband  versehen.    Auch  Fühler,  Taster,  Vorder- 


Organe  des  Geschlechts-  und  Bereitschaftsduftes.  Archiv  f. 
Naturgeschichte  (im  Druck).  —  Hier,  wie  auch  bei  Plate, 
).  c,  tindel  sich   die  weitere   l^iteratur  verzeichnet. 


beine  und  Vorderrand  der  Flügel  nehmen  an  der 
Schmuckfärbung  teil.  Oft  sind  verlängerte  Haare 
oder  Schuppen  zu  abstehenden  Pinseln,  Hörnern 
oder  Locken  vereinigt.  Aber  damit  nicht  genug. 
Bei  vielen  Arten  sind  besondere  Körperanhänge 
ausgebildet,  um  den  Schmuck  zu  erhöhen.  P.  inibila 
hat  einen  dehnbaren  Stirnanhang,  der  fast  so 
groß  wie  der  ganze  Kopf  ist,  aufgerichtet  werden 
kann  und  mit  einem  schneeweißen,  schwarz  unter- 
legtön Haarbusch  besetzt  ist.  Andere  Arten  haben 
am  Hinterkopf  keulen-  oder  kolbenförmige  An- 
hänge. An  der  Vorderbrust,  dem  Pronotum, 
weisen  einige  Arten  mit  langen  Haarlocken  ver- 
sehene Anhänge  auf,  die  in  der  Ruhe  beutelartig 
herabhängen,  in  der  Erregung  zu  großen  aufge- 
richteten Ballons  aufgebläht  werden  können.  Sehr 
verbreitet  sind  schließlich  Anhänge  der  Mittel- 
brust in  Gestalt  von  epaulettenförmigen  Schulter- 
wülsten. Diese  Wülste  treten  in  der  Ruhelage 
kaum  hervor,  erst  wenn  sie  wie  ein  Handschuh- 
finger ausgestülpt  werden,  wirken  sie  als  auffallen- 
des Schmuckorgan.  Bei  fitsca  und  auriculafa  er- 
reichen diese  mit  sperrig  abstehenden  Schuppen- 
haaren besetzten  Anhänge  in  gedehntem  Zustande 
etwa  die  halbe  Flügellänge. 

Zu  dieser  mannigfaltigen  Schmuckausstattung, 
die  auf  den  Gesichtssinn  des  Weibchens  wirkt, 
treten  nun  bei  den  meisten  Arten  noch  besondere 
Duftapparate  zur  Erregung  des  Geruchssinnes. 
Bei  Uloviyia,  Pcriconia  mibila  und  anderen  Arten 
sitzt  jederseits  unter  der  Schulterepaulette  ein 
zartes,  gestieltes  Bläschen,  das  an  der  Spitze  eine 
mit  kleinen  Papillen  besetzte  Platte  trägt,  die  für 
gewöhnlich  ganz  in  das  Bläschen  eingesenkt  ist. 
Querschnitte  zeigen,  daß  die  Bläschen  hohl  und 
nur  im  distalen  Teil ,  dort  wo  sich  die  Papillen 
finden,  mit  großen  Drüsenzellen  versehen  sind, 
die  in  die  Papillen  einmünden.  Diese  Duftbläschen 
oder  Duftorgane  sind  in  der  Ruhelage  stark  zu- 
sammengefaltet und  unter  den  Schuppen  der 
Epaulettes  wie  in  einem  schützenden  Versteck  ge- 
borgen. Sobald  die  Schmuckanhänge  ausgespreizt 
werden ,  werden  auch  diese  Duftbläschen  mit 
Körperflüssigkeit  vollgepreßt  und  die  Sekrete  der 
Drüsenzellen  zur  Absonderung  gebracht.  Bei 
anderen  Arten  fehlt  das  Bläschen  und  sitzen  die 
Drüsenpapillen  auf  einer  Platte  vereinigt  direkt 
dem  Körper  an,  bei  einer  Art  in  einer  Falte  der 
Körperwand,  bei  P.  alispinosa  so  angeordnet,  daß 
die  Papillenplatte  von  dem  hier  unbehaarten 
Schulteranhang  zugedeckt  wird.  Bei  Verwandten 
dieser  Art  stehen  die  Duftpapillen  auf  der  Spitze 
der  Schulteranhänge  und  werden  in  der  Ruhelage 
in  diese  eingezogen.  Bei  fusca  und  auriciilata 
bilden  das  Duftorgan  2  lange  Keulen,  die  an  der 
Vorderbrust  zu  beiden  Seiten  des  Kopfes  herab- 
hängen. Andere  Arten  tragen  die  Duftorgane 
am  Hinterkopf  als  2  einfaltbare,  zarthäutige, 
schlauchförmige  Fortsätze,  deren  Enden  mit  den 
Duftpapillen  besetzt  sind.  Statt  der  Duftpapillen 
finden  sich  bei  einigen  Arten  auch  besonders 
geformte    Duftschuppen.       Schließlich     sind    bei 


N.  F.  XXI.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Cbersichtsbild  von  Schmuck-,   Duft-   und   Berührungso;rganen  dei 


Psychodiden. 

1 .  Thorax  von  Fericotim  fiis- 
t\!  Macq.  (/' ,  von  vorn. 
Die  Schmuckanhänge  (Te- 
gulae)  ausgestreckt. 

2.  Rechte  Tegula  und  Duft- 
organ von  Vlomyia  fiui- 
i^inosa  Afeig. ,  er',  von 
vorn   oben. 

3.  Längsschnitt  durch  das 
Duftorgan  von  U.  fitli- 
giiiosa  Meig. 

4.  Thorax  von  Perkoma 
alispbwsn  sp.  n.,  c/'t  ^on 
vorn.  Rechte  Tegula  in 
Ruhelage,  linke  ausge- 
streckt. 

5.  Thorax  von  Pciicoma pa- 
iagiata  sp.  n. ,  o'^j  von 
vorn.  Rechtes  Patagium  in 
Ruhe  mit  um  den  Kopf 
gelegter  „Haarlocke", 
linkes  ballonförmig  auf- 
gebläht. 

6.  Kopf  von  Perkoina  (C/y- 
tocerus)  ocellaris  Meig.,  er", 
von  oben.  Nur  eine 
Antenne  gezeichnet,  mit 
S-förniig  gebogenem  Bor- 
stenbüschel am  3.  Knoten. 

7.  Antennenglied  von  Psy- 
clioila  sp.,  mit  dreizinkigen 
.\skoiden  (Organen  des 
Geschlechtsduftes). 

8.  Viertes  und  fünftes  An- 
tennenglied von  Periiovia 
deminuciis  sp.  n.,  o'^i  mit 
Stacheln  und  einfachen 
Askoiden ,  letztere  beim 
(/'  durch  akzessorische 
Schläuche  vermehrt. 

9.  u.  10.  Je  ein  Antennen- 
glied von  I'eruoina  deci- 
pkns  Katon,  c'"'  u.  9i  in 
etwa  gleicher  Vergröße- 
rung. Beim  c/'  sind  die 
Askoide  durch  starke 
Vermehrung  zu  einem 
Reizorgan  ausgebildet. 

11.  Antenne  von  Perkoma 
niibila  Meig. ,  ^ ,  mit 
Stacheln  und  Schmuck- 
schuppen. 

12.  Bereitschaftsdrüse  („Epi- 
pterygalorgan")  einer 
Psyc/uh/a,  von  oben,  bei 
abgespreiztem  Flügel.  Die 
gestrichelte  Linie  deutet 
den  Bereich  der  Ver- 
schlußfalte an. 

13.  Männchen  und   Weibchen  von   CUvnyia  fidl^inosa  .Meig.  in  der  ,, Umarmung;",   von  oben  gesehen. 

Abkürzungen. 

AI  =  Alula.       Ask  =  „Askoide"  (Organ  des  Gcschlechtsduftes).      BD  =  Bereilschaftsdrüse  („Epipterygalorgan"). 

Co,  =  Vordere  Coxa.       DO  =  Duftorgan.     DW  =  Deckwulst,  legt  sich  auf  die  Bereitschaftsdrüse  (BD).     DZ  ^  Drüsenzellen. 

KA  =  Flügeladern.      FV  =  Flügelvorderrand.      K  =  .^nsatzslelle  des  Kopfes.     Msn  =  Mesonotum. 

Pat  =  Patagium  (Schmuckanhang  des  Prothorax).       Pn  =  Pronotum.       Sp  =  Chitinspangen  der  Verschlußfalte.      St  =  Stacheln. 

Sti  =  Vorderes  (mesothor.)  Stigma.        Tcg  :=  Tegula  (Schmuckanhang  des  Mesothorax). 

Hinsichtlich  der  Einzelheiten,  die  hier  nicht  genau  wiedergegeben  sind,  vergleiche  man  die  zitierte   Arbeit. 


einer  Reihe  von  Arten  die  Organe  des  Gcschlechts- 
duftes, auf  die  ich  noch  zu  sprechen  komme,  in 
männlichen  Geschlecht  zu  Erregungsorganen  aus- 
gebildet. 

Zu    den    Schmuck-    und    Duftorganen    treten 


nun  bei  manchen  Arten  noch  Organe  des  Be- 
rührungsreizes, besondere  Stacheln,  die  den 
Hautsinn  des  Weibchens  erregen.  Solche  Stacheln 
finden  sich  einzeln  oder  zu  Gruppen  vereinigt 
besonders  an  den  Fühlern,  so  bei  dem  Männchen 


8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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von  P.  nubila,  das  mehrere  untere  Antennen- 
glieder dicht  mit  starren  Stacheln  besetzt  zeigt. 
Auch  an  den  Vorderbeinen  und  an  der  unteren 
Flügelfläche  finden  sich  bei  anderen  Arten  Stacheln 
oder  Stachelreihen. 

Schließlich  sind,  im  Einklang  mit  der  Ausbil- 
dung der  genannten  Reizorgane,  die  Instinkte 
der  Männchen  in  verschiedener  Weise  modifiziert. 
Bei  seiner  Werbung  führt  das  Männchen  allerlei 
Bewegungen  aus,  um  das  Weibchen  zu  erregen. 
Diese  Bewegungen  enden  bei  manchen  Arten  in 
einem  eigenartigen  Vorgang,  der  dazu  dient,  die 
Schmuck-,  Duft-  und  Berührungsorgane  zu  aus- 
giebiger Wirkung  zu  bringen. 

Bevor  wir  nun  versuchen,  die  physiologische 
Bedeutung  dieser  Einrichtungen,  die  in  der  Tat 
sowohl  hinsichtlich  ihrer  Ausbildung  im  einzelnen 
als  auch  ihres  Zusammenwirkens  als  überaus 
vollendet  bezeichnet  werden  können,  näher  zu 
prüfen,  muß  noch  einiges  vorausgeschickt  werden. 

Wie  ich  bereits  erwähnte,  finden  viele  Tiere 
sich  vorwiegend  durch  den  Geruchssinn  zusammen, 
vor  allem  ist  das  bei  den  meisten  Insekten  der 
P"all.  Es  muß  also  den  Individuen  einer  Art  ein 
besonderer  Geruch  anhaften,  den  man  als  Spezies- 
duft, besser  wohl  —  da  er  nach  dem  Geschlecht 
unterschieden  sein  muß  —  als  Geschlechts- 
duft bezeichnet.  Im  allgemeinen  wird  ange- 
nommen, daß  es  diffus  verteilte  Hautdrüsen  oder 
Drüsenhaare  sind,  die  diesen  Duft  erzeugen.  Bei  i 
den  Psychodiden,  und  zwar  sämtlichen  Arten,  sindf 
es  besondere  Organe  an  den  Antennen,  zarte 
Schläuche  in  mannigfaltiger  Form,  die  an  den 
Geißelknoten  paarig  angeordnet  sind.  Die  An- 
ordnung an  den  Antennen  ist  insofern  auffallend, 
als  sich  bekanntlich  auch  die  Organe  des  Geruchs- 
sinnes an  den  Antennen  finden.  Es  ist  das  ein 
Beweis  dafür,  daß  diese  Geruchszapfen  ganz  ge- 
nau auf  bestimmte  Duftqualitäten  eingestellt  sein 
müssen,  der  eigene  Duft  wird  offenbar  gar  nicht 
wahrgenommen. 

Dann  aber  besitzen  beide  Geschlechter  aller 
Arten  noch  eine  weitere  sehr  interessante  Duft- 
drüse. Sie  findet  sich  an  jeder  Seite  des  Brust- 
abschnittes dicht  oberhalb  der  hinteren  Flügel- 
wurzel in  Form  eines  Zäpfchens,  das  an  der  Spitze 
ein  Büschel  von  Haaren  trägt.  Das  merkwürdigste 
an  diesem  Organ  ist  die  Einrichtung,  durch  die 
es  gewissermaßen  bei  Nichtgebrauch  unter  Ver- 
schluß gehalten  wird.  Die  hintere  P'lügelmem- 
bran  bildet  eine  Falte,  die  durch  2  chitinöse 
Spangen  gehalten  und  durch  besondere  Muskeln 
bewegt  wird,  so  daß  der  Apparat  auf-  und  zuge- 
klappt werden  kann.  Ich  habe  dieses  Organ 
„Rereitschaftsdrüse"  genannt.  Es  tritt  erst 
dann  in  Funktion,  wenn  die  Reifung  der  Ge- 
schlechtsprodukte beendet,  also  die  Bereitschaft 
zur  Kopulation  eingetreten  ist.  Daß  gerade  dieses 
Bereitschaftsorgan  für  die  Beobachtungen  von  wert- 
voller Bedeutung  ist,  wird  einleuchten. 

Die  Bereitschaft  der  Imagines  tritt  bei  den 
hüherdiffcrcnzicrten  Arten  in  der  Regel  erst   i  bis 


2  Tage  nach  dem  Ausschlüpfen,  bei  den  Männ- 
chen etwas  früher  als  beim  Weibchen  ein.  Die 
gesamte  Lebensdauer  umfaßt  nur  kurze  Zeit,  in 
der  Gefangenschaft  selten  mehr  als  5 — 8  Tage. 

Setzt  man  in  eine  Glaskammer  zu  einem  reifen 
unbefruchteten  Weibchen  ein  reifes  Männchen,  so 
„erkennen"  sich  vermöge  ihres  Geschlechtsduftes 
die  beiden  Geschlechter  sofort,  auch  wenn  sie 
sich  nicht  sehen.  Das  äußert  sich  darin,  daß  in 
der  Regel  ohne  Verzug  das  i^  oder  $  seine  Be- 
reitschaft äußert.  Diese  „Bereitschaftsäuße- 
rung" besteht  in  einem  ruckartigen,  i  — 2  maligen 
Flügelschlagen,  bei  dem  zweifellos  der  Verschluß- 
apparat des  Bereitschaftsorganes  geöffnet  wird,  so 
daß  etwas  Duft  entweicht,  dessen  Verbreitung 
durch  das  Schlagen  mit  den  Flügeln  beschleunigt 
wird.  Bei  einzelnen  Arten  sind  Modifikationen 
dieser  Bereitschaftsäußerung  vorhanden.  Bei  den 
Weibchen  scheint  ziemlich  allgemein  das  i — 2- 
malige  Schlagen  vorzuherrschen,  die  Männchen 
einiger  Arten  spreizen  flatternd  die  Flügel  oder 
zittern  und  rütteln  mit  dem  ganzen  Körper. 
Letzteres  ist  z.  B.  bei  dem  $  von  Uloinyia  fitli- 
ginosa  Meig.  der  Fall,  auf  das  ich  hier  im  wesent- 
lichen mich  beziehe.  Der  erste  „Anruf"  kann, 
wie  gesagt,  sowohl  vom  ^  als  vom  $  ausgehen, 
meist  ist  es  das  Männchen,  das  Weibchen  nur 
dann,  wenn  es  etwa  hochgradig  bereit  ist.  „An- 
ruf" und  „Antwort"  folgen  sich  bei  bereiten  Tieren 
,  außerordentlich  schnell,  ein  Beweis  für  die  Wirkung 
ides  „Bereitschaftsduftes".  Verhält  sich  das  ? 
zögernd,  so  beginnt  das  Männchen  zu  „werben". 
Es  wiederholt  immer  von  neuem  seine  Bereit- 
schaftserklärung, dabei  häufig  den  Platz  wechselnd, 
während  das  Weibchen  gewöhnlich  ruhig  sitzen 
bleibt.  Vollführt  das  Weibchen  aber  einen  kurzen 
Flügelschlag,  so  ist  in  der  Regel  das  Männchen 
in  aller  Kürze  in  seiner  Nähe.  Hier  wird  es  immer 
aufgeregter,  wiederholt  das  Zittern  und  Rütteln 
lebhafter  und  häufiger  und  läuft  unruhig  um  das 
Weibchen  herum.  Schließlich  bleibt  es  dicht  vor 
dem  Weibchen,  ihm  zugewandt,  stehen.  Das 
Rütteln  geht  in  einen  erregten  Dauerzustand  über, 
der  einige  Sekunden  lang  anhält.  Dann  wird  — 
wenn  das  Weibchen  aushält  —  plötzlich  der 
eigentliche,  bis  jetzt  in  Reserve  gehaltene  Reiz- 
apparat in  Funktion  gesetzt.  Das  Männchen 
schnellt  seine  Schmuckanhänge  hervor,  so  daß  sie 
weit  vom  Körper  abstehen,  hebt  den  einen  Flügel 
hoch,  legt  ihn  nach  vorn  herüber  an  die  Seite 
des  Weibchens  und  preßt  seinen  Vorderkörper 
dicht  an  den  des  Weibchens  heran.  In  dieser 
Stellung,  die  gewisse  Ähnlichkeit  mit  einer  „Um- 
armung" hat,  verharren  die  beiden  Tiere  4  bis 
6  Sekunden  lang  regungslos.  Ohne  Zweifel  treten 
währenddessen  die  Duftblasen  des  Männchens  in 
Tätigkeit.  Hat  der  Duft  genügend  gewirkt,  so 
nimmt  das  Männchen  den  nach  vorn  geschlagenen 
Hügel  zurück,  wendet  sich  zur  Seite,  ergreift  mit 
seinen  Greifzangen  das  Hinterende  des  weiblichen 
Abdomens  und  tritt  in  Kopula. 

So    glatt    N^erläuft    aber    der    Vorgang     nichl 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


immer.  Es  kommt  vor,  daß  das  Weibchen,  auch 
wenn  es  bereits  seine  Bereitschaft  geäußert  hat, 
im  letzten  Moment  vor  der  Umarmung  abspringt. 
Dann  muß  das  Männchen  von  neuem  seine  Wer- 
bung beginnen,  bisweilen  wirbt  es  bis  zu  ^U  Stunde 
lang  ohne  Erfolg. 

Nun  ist  es  recht  interessant,  diese  Vorgänge 
bei  verschiedenen  Arten  zu  beobachten.  Es  zeigt 
sich ,  daß  die  Werbebewegungen  des 
Männchens  völlig  im  Einklang  stehen 
mit  der  Ausbildung  des  Reizapparates. 
So  fehlt  z.  B.  bei  Arten,  die  keine  Berührungs- 
organe  aufweisen,  auch  die  „Umarmung". 

Um  diese  Beobachtungen  theoretisch 
zu  würdigen,  müssen  wir  uns  zunächst  eins 
vergegenwärtigen.  Es  handelt  sich  bei  den  Äuße- 
rungen, die  hier  vorliegen,  zweifellos  um  Instinkt- 
bewegungen, d.h.  um  erblich  festliegende, 
selbstverständlich  in  gewisser  Hin- 
sicht plastische,  aber  im  Prinzip  gesetz- 
mäßige Reflexe.  Den  Ablauf  dieser 
Reflexe  verstehen  wir  am  besten,  wenn  wir 
alle  psychologischen  Erwägungen  beiseite  lassen 
und  die  Vorgänge  nach  rein  physiologischen 
Gesichtspunkten  betrachten. 

Jeder  Reflex  setzt  einen  Reiz  voraus,  der  ihn 
auslöst.  Betrachten  wir  unter  diesem  Gesichts- 
punkt einmal  das  Weibchen. 

Seine  Äußerungen  sind  abhängig  von  im 
wesentlichen  zwei  Reizen.  Zunächst  dem  inner- 
sekretorischen Reiz ,  der  von  den  reifenden  Ge- 
schlechtsprodukten (oder  irgendwie  mit  der  Rei- 
fung im  Zusammenhang  stehenden  Faktoren)  aus- 
geht. Solange  die  Reife  nicht  vorhanden  ist, 
bleibt  der  Reflex  aus.  In  zweiter  Linie  von  dem 
Reiz,  den  das  Männchen  ausübt.  Es  ist  nun 
klar,  daß,  wenn  der  erste  Reiz  —  sagen  wir 
der  innere  Trieb  zur  Begattung  —  bereits  sehr 
stark  geworden  ist,  der  zweite  Reiz,  der  vom 
Männchen  ausgehende,  nur  schwach  zu  sein  braucht, 
um  den  Endeffekt,  d.  h.  den  Begattungsreflex  aus- 
zulösen. In  der  Tat  läßt  sich  deutlich  erkennen, 
daß  die  Bereitschaft  des  Weibchens,  seine  „Re- 
aktionsstimmung", steigende  Grade  aufweist. 
Steht  das  Weibchen  im  Beginne  der  Bereitschaft, 
so  muß  das  Männchen  sehr  lange  werben,  häufig 
wirbt  es  dann  vergebens.  Nun  wird  das  Weib- 
chen nur  ein  einziges  Mal  begattet.  Die  Männ- 
chen aber  sind  imstande,  die  Kopulation  wieder- 
holt vorzunehmen,  sie  sind  immer  von  neuem 
bereit  und  meist  außerordentlich  begierig.  Es 
muß  sich  also,  da  die  Tiere  in  der  Regel  wohl 
in  größerer  Anzahl  nahe  beieinander  leben ,  ein 
gewisser  Wettbewerb  der  Männchen  um  die  Weib- 
chen ergeben.  Wirbt  ein  Männchen  vergebens 
um  ein  Weibchen,  so  kann  inzwischen  ein  zweites 
Männchen  aufmerksam  werden  und  seinerseits 
Werbungsversuche  anstellen.  Verfügt  es  über 
bessere  Reizmittel,  so  liegt  die  Möglichkeit  vor, 
daß  es  ihm  eher  gelingt  als  dem  anderen,  weniger 
gut  ausgestatteten,  das  Weibchen  zu  erringen. 

Sicherlich   spielen  auch    die  „Selbsterhaltungs- 


instinkte" des  Weibchens,  die  Doflein  im  Auge 
hat,  eine  Rolle.  Sie  verzögern  die  Reaktions- 
stimmung. Selbst  wenn  wir  nicht  annehmen,  daß 
der  Fortpflanzungsakt  durchweg  mit  Gewalt- 
anwendung verbunden  ist,  schon  der  bloßen  Be- 
rührung gegenüber  verhalten  sich  die  meisten 
Tiere  ablehnend. 

Die  Reize,  über  die  das  Männchen  bei 
seiner  Werbung  verfügt,  sind  folgende:  Zunächst 
der  Geschlechtsduft.  Schon  dieser  kann  genügen, 
um  bei  einem  sehr  reifen  Weibchen  die  Bereit- 
schaft auszulösen.  Dann  der  Bereitschaftsduft; 
beides  Reize,  die  auf  den  Geruchssinn  wirken. 
Weiterhin  Reize,  die  den  Gesichtssinn  erregen, 
die  Bewegungen  des  Männchens,  schließlich  die 
plötzliche  Entfaltung  des  Schmuckapparates.  Zur 
letzten  Steigerung  werden  die  eigentlichen  Duft- 
organe in  Tätigkeit  gesetzt,  zugleich  mit  dem 
Reiz,  der  durch  die  Berührung  bei  der  Umarmung 
ausgeübt  wird.  Gerade  diese  Berührung  scheint 
mir  nicht  unwesentlich  zur  Überwindung  etwa 
noch  im  Wege  stehender  Selbsterhaltungsinstinkte 
zu  sein.  Jedenfalls  finden  wir  in  Korrelation  zu 
den  Graden  der  „Sprödigkeit"  des  Weibchens, 
wenn  wir  als  solche  die  mangelnde  Bereitschaft 
bezeichnen  wollen,  graduell  gesteigerte  Reize  bei 
dem  Männchen. 

Kurz  zusammengefaßt  ergibt  sich  also  folgen- 
des: 

1.  Da  die  Mäimchen  den  Fortpflanzungsakt 
sehr  häufig  vornehmen  können,  die  Weibchen  nur 
ein  einziges  Mal  begattet  werden,  muß  sich  ein 
Wettbewerb  der  Männchen  um  die 
Weibchen  ergeben.  Die  Männchen,  zumal  sie 
früher  reif  sind,  „lauern"  gewissermaßen  auf  den 
Eintritt  der  Bereitschaft  des  Weibchens. 

2.  Da  die  Bereitschaft  der  Weibchen  steigende 
Grade  aufweist,  ist  die  größere  oder  ge- 
ringere Intensität  der  Werbung  des 
Männchens,  die  mehr  oder  weniger 
vollkommene  Ausbildung  der  Reiz- 
organe von  ausschlaggebender  Bedeu- 
tung. 

3.  Es  findet  also  eine  gewisse  Wahl  der 
Weibchen  statt ,  nicht  in  dem  Sinne,  daß  be- 
wußt ein  Männchen  ausgewählt  wird,  sondern  in 
dem  Sinne,  daß  im  allgemeinen  ein  Männchen, 
das  über  stärkere  Reize  verfügt,  bei 
seiner  Werbung  größere  Aussicht  auf 
Erfolg  hat. 

Ohne  Zweifel  enthalten  diese  Beobachtungen 
und  Schlußfolgerungen  eine  Antwort  auf  die  bei- 
den ersten  Fragen,  die  ich  oben  aufstellte.  Die 
Reizorgane  haben  offensichtlich  den  Zweck,  die 
Weibchen  zu  erregen  und  für  die  Begattung  ge- 
fügig zu  machen ,  das  ergibt  sich  aus  den  Vor- 
gängen mit  aller  nur  wünschenswerten  Deutlich- 
keit. Ein  „Wahl"  der  Weibchen  kann  daraus 
meines  Erachtens  schon  rein  logisch  gefolgert 
werden,  sobald,  wie  es  hier  der  Fall  ist,  ein  Wett- 
bewerb der  Männchen  vorliegt. 

Ich  zweifle  nicht,  daß  auch  bei  anderen  Tier- 


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arten,  welche  Erregungsorgane  aufweisen,  ähnliche 
Verhältnisse  sich  nachweisen  lassen,  falls  man  nur 
die  Beobachtungen  sorgfältig  genug  anstellt.  Man 
kann  über  die  Lebensäußerungen  der 
Tiere  —  das  gilt  besonders  für  die  In- 
sekten —  nur  dann  zu  richtigen  An- 
schauungen gelangen,  wenn  man  so- 
wohl die  morphologischen  Eigentüm- 
lichkeiten der  betreffenden  Art  genau 
untersucht,  als  auch  sich  frei  hält  von 
anthropomorphen  Deutungen,  d.  h.  rein 
physiologisch  die  Erscheinungen  wer- 
tet. Wenn  Möbius  den  Einwand  macht,  daß 
Tiere  keine  Schönheit  wahrzunehmen  vermöchten, 
,,weil  sie  nicht  imstande  sind,  das  Gesetzmäßige 
in  den  auf  sie  einwirkenden  Naturerscheinungen 
zu  erkennen";  oder  wenn  Schneider  die  ge- 
schlechtliche Zuchtwahl  bekämpft,  weil  sie  bei 
den  Weibchen  eine  „hohe  geistige  Veranlagung, 
direkt  eine  ästhetische  Begabung"  voraussetze,  so 
zeigt  das  nur,  daß  die  Vorgänge,  um  die  es  sich 
hier  handelt,  völlig  falsch  aufgefaßt  werden.  Es 
braucht  nur  darauf  hingewiesen  zu  werden,  daß 
selbst  der  intelligente  Mensch  in  vielen  seiner 
Handlungen  völlig  unter  dem  Einfluß  rein  physio- 
logischer, teils  innersekretorischer,  teils  sinnlicher 
Reizwirkungen  steht.  Bei  den  erwähnten  Ver- 
suchen mit  Schmetterlingen,  denen  die  Flügel 
übermalt  oder  abgeschnitten  wurden,  hat  man 
festzustellen  versäumt,  ob  nicht  die  Männchen 
noch  über  weitere  Reizmittel  verfügen  (wie  es  in 
der  Tat  der  Fall  ist),  und  in  welchem  Zustande 
der  Bereitschaft  sich  die  Weibchen  befanden. 

Nun  aber  kommt  die  weitere  Frage:  Ist  die 
Entstehung  und  Ausbildung  der  Reiz- 
organeaufdieWirkungdiesersexuellen 
Zuchtwahl  zurückzuführen,  kann  sie 
durch  diese  erkärt  werden? 

Einer  Bejahung  dieser  Frage  stehen  von  vorn- 
herein prinzipielle  Bedenken  entgegen. 

Die  F'orschungen  über  die  Variabilität  der 
Arten  haben  ergeben,  daß  die  Eigenschaften 
nicht  über  eine  gewisse  Breite  hinaus  schwanken 
und  diese  Schwankungen  nicht  erblich  sind,  also 
durch  Auswahl  auch  der  extremsten  Abweichungen 
nichts  neues  gezüchtet  werden  kann.  Diese  F"est- 
stellung,  auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen 
werden  soll,  läßt  es  als  unmöglich  erscheinen,  daß 
die  sexuelle  Zuchtwahl  als  solche  die  fraglichen 
Organe  hervorgerufen  und  vervollkommnet  hat, 
da  nicht  anzunehmen  ist,  daß  die  Variationsge- 
setze etwa  in  früheren  Zeitperioden  wesentlich 
andere  waren. 

Ein  Beispiel,  das  die  Psychodiden  bieten,  scheint 
in  der  Tat  einen  deutlichen  Beweis  zu  liefern,  daß 
die  .sexuelle  Zuchtwahl  nicht  der  maßgebende 
I'aktor  für  die  Ausbildung  der  Reizorgane  ist.  Es 
gibt  zwei  Psychodidenarten,  Pcruoiiiii  iiithiLi  Mcig. 
und  tnvialis  Eat. ,  die  so  nahe  verwandt  sind, 
daß  die  Larven  und  Puppen  und  auch  die  weib- 
lichen Imagines  einander  völlig  gleichen,  vielleicht 
nur    etwas    durch    ihre    Größe    differieren.       Die 


Männchen  dieser  Arten  zeigen  in  der  Ausbildung 
ihrer  Reizorgane  ganz  auffallende  Unterschiede. 
Bei  frivialis  ist  der  Reizapparat  in  jeder  Hinsicht 
primitiv,  bei  iiubüa  auf  das  höchste  vervoll- 
kommnet. Zweifellos  hängen  die  beiden  Arten 
genetisch  eng  zusammen,  die  Organe  der  einen 
Art  lassen  sich  von  denen  der  anderen  ableiten. 
Ich  vermute  daher,  daß  die  eine,  frivialis,  die 
Stammart  der  anderen  ist,  falls  es  sich  nicht  über- 
haupt um  eine  einzige  Art  mit  zwei  Männchen- 
formen handelt.  In  jedem  Falle  müßte  aber, 
wenn  man  die  Entwicklung  der  sekundären  Merk- 
male aus  der  Wirkung  der  Zuchtwahl  erklären 
will,  das  nur  kümmerlich  ausgestattete  irivialis- 
Männchen  ausgestorben  sein.  Es  ist  aber  eher 
das  Gegenteil  der  Fall,  frivialis  ist  die  häufigere, 
überall  verbreitete  Art,  iiubila  ziemlich  selten. 

Wir  müssen  also  nach  anderen  Fak- 
toren suchen,  um  die  Entstehung  und  Weiter- 
entwicklung der  Reizorgane  zu  erklären. 

Die  vergleichende  Morphologie  der  Psycho- 
diden legt  zunächst  die  Annahme  nahe,  daß  bei 
den  Imagines  eine  ererbte  oder  erworbene 
Neigung  zur  Ausbildung  dieser  Organe 
vorliegt,  z.  B.  eine  erworbene  Neigung  zur  Bildung 
von  Sekreten  oder  DuftstofTen  vielleicht  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Nahrung  der  Larven,  eine 
ererbte  Neigung  zur  Bildung  von  Anhängen  an 
bestimmten  Körperstellen  auf  phylogenetisch  über- 
lieferten Grundlagen.  Eine  solche  Neigung  oder 
Prädisposition  kann  vielleicht  als  Vorbedingung 
für  das  Entstehen  der  Reizorgane  betrachtet  wer- 
den, bildet  aber  natürlich  keine  Erklärung  für 
dieses. 

Weiterhin  drängt  sich  die  Vermutung  auf,  daß 
manche  dieser  Bildungen  durch  funktionelle  Be- 
wirkung  hervorgerufen  sind,  z.  B.  die  ausstülp- 
baren Anhänge  durch  erhöhten  Druck  der  Körper- 
flüssigkeit infolge  der  sexuellen  Erregung  oder 
die  Stacheln  an  den  Antennen  durch  den  Reiz 
bei  der  Berührung,  mit  anderen  Worten:  durch 
den  Gebrauch  der  betreffenden  Organe 
nach  der  Auffassung  Lamarcks,  eine  Erklärung, 
die  auch  Plate  für  manche  Organe  gelten  läßt. 
Doch  stehen  hier  einige  Bedenken  entgegen.  Ein- 
mal können  wir  unmöglich  wissen,  was  eher  da 
war,  der  Gebrauch  oder  das  Organ,  z.  B.  der  In- 
stinkt, das  Weibchen  zu  berühren  oder  die 
Stacheln  an  den  Antennen.  Allerdings,  die  Über- 
einstimmung, die  zwischen  den  Besonderheiten 
des  männlichen  Instinktes  und  den  verschiedenen 
Modifikationen  des  Reizapparates  herrscht,  spricht 
für  eine  engere  Beziehung  zwischen  beiden.  Aber 
wir  brauchen  uns  nur  zu  fragen,  wieso  etwa  am 
4.  oder  5.  Glied  jeder  Anteime  durch  den  Reiz 
bei  der  Berührung  von  den  dort  vorhandenen 
Wirtelhaaren  je  3  zu  starren  Stacheln  geworden 
sein  sollten,  um  die  Unmöglichkeit  einer  solchen 
Annahme  zu  erkennen.  Sollen  vielleicht  sämtliche 
Männchen  der  betreffenden  Art  die  Weibchen 
stets  mit  denselben  Antennengliedern  berührt 
haben  ?     Eine   andere   Form   funktioneller   Bewir- 


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kung  ist  aber  meines  Erachtens  undenkbar.  Selbst 
wenn  wir  aber  mit  dieser  Schwierigkeit  uns  ab- 
finden würden,  so  stoßen  wir  auf  eine  weitere. 
Es  ist  zu  beachten,  daß  zu  der  Zeit,  wo  das 
Männchen  die  Reizorgane,  etwa  die  Stacheln,  ge- 
braucht, also  durch  den  Gebrauch  die  Bildung  der 
Organe  gefördert  werden  könnte,  die  Geschlechts- 
produkte ausgereift  sind.  Es  ist  also  nicht  er- 
sichtlich, wie  etwa  durch  den  Gebrauch  ent- 
standene oder  weiterentwickelte  Menkmale  auf 
die  folgende  Generation  vererbt  werden  können. 
Daher  ist  diese  Deutung,  wenigstens  für  unseren 
Fall,  meines  Erachtens  zu  verwerfen.^) 

Eine  andere  Auffassung  geht  dahin,  daß,  wenn 
ein  „Bedürfnis"  vorliege,  ein  „inneres  Gefühl" 
oder  eine  „innere  Reizempfindung"  die 
Bildung  von  Organen  zur  Befriedigung  des  Be- 
dürfnisses verursache.  Auf  unseren  F"all  ange- 
wandt ,  würde  man  etwa  sagen  können :  es  hat 
eine  größere  Sprödigkeit  der  Weibchen  die  Ent- 
wicklung der  Reizorgane  notwendig  gemacht  und 
sie  auf  Grund  innerer  Bedürfnisempfindung  her- 
vorgerufen. Mir  scheint  aber  diese  Auffassung 
doch  zu  viel  des  Hypothetischen  an  sich  zu  haben. 
Zunächst  wissen  wir  von  einer  solchen  „Bedürfnis- 
empfindung" de  facto  nichts.  Weiterhin  vermag 
man  sich  schwer  eine  Vorstellung  davon  zu 
machen,  wie  ein  Bedürfnis  nach  einem  Organ,  das 
nicht  vorhanden  ist,  dieses  oder  auch  nur  die 
Tendenz  zur  Hervorbringung  eines  solchen  ins 
Leben  rufen  soll.  Alle  Anzeichen  deuten  darauf 
hin,  daß  das  Verhalten  der  beiden  Geschlechter 
in  strengster  Korrelation  zueinander  steht,  aber 
es  ist  anzunehmen ,  daß  nicht  etwa  zuerst  die 
Sprödigkeit  sich  herausgebildet  hat  und  dann  der 
Reizapparat  zur  Überwindung  derselben,  also  nicht 
das  eine  als  die  Ursache  des  anderen  gelten 
kann,  sondern  beides  zu  gleicher  Zeit  aufgetreten  ist. 

')  Es  mag  von  Interesse  sein,  hier  das  merkwürdige 
„Hypopygiura  inversum"  der  Psychodiden  zum  Vergleich 
heranzuziehen.  Wie  ich  an  anderer  Stelle  (Zoolog.  Jahrb., 
Anat.  Bd.  42.  S.  543)  bereits  kurz  ausgeführt  habe,  ist  die 
Muskulatur  des  aus  dem  9.  und  10.  Abdominalsegment  auf- 
gebauten Kopulationsapparates  der  Männchen  bis  auf  einen 
dorsalen  und  einen  ventralen  Muskel,  die  die  Verbindung  mit 
dem  8.  Segment  herstellen,  völlig  selbständig.  Nach  dem 
Ausschlüpfen  der  Imago  dreht  sich  der  Apparat  um  180^  und 
bleibt  in  dieser  inversen  Lage  dauernd  erhalten.  Es  handelt 
sich  um  eine  vollendete  Anpassung  an  die  Lage  der  weib- 
lichen Genitalöffnung.  Was  liegt  näher  als  die  Annahme,  daß 
diese  Drehung  durch  den  Gebrauch,  d.  h.  funktionelle  An- 
passung hervorgerufen  ist!  Das  durch  den  weiblichen  Lege- 
apparat behinderte  Männchen  mußte  versuchen,  durch  Drehung 
des  Hypopygiums  das  Begattungsglied  von  unten  her  einzu- 
führen. Wiederholter  Versuch  beseitigte  nach  und  nach  ent- 
gegenstehende Hindernisse  (intersegmentale  Muskeln  usw.1,  der 
Apparat  wurde  immer  selbständiger  und  die  Drehung  zu  einer 
obligatorischen  !  Aber  auch  hier  steht  einer  solchen  Deutung 
die  oben  angeführte  Tatsache  durchaus  entgegen.  Soweit  ich 
feststellen  konnte ,  sind  sämtliche  Geschlechtsprodukte  vor 
dem  ersten  Begaltungsakt  ausgereift.  Wie  soll  hier  eine  durch 
funktionelle  Anpassung  bei  der  Kopulation  selbst  erst  er- 
worbene neue  Eigenschaft  erblich  übertragen  werden.^  Wie 
mir  scheint,  eine  überaus  schwierige  Frage,  falls  wir  nicht  an- 
nehmen, daß  etwa  Vorfahren,  die  dieses  Merkmal  erwarben, 
hinsichtlich  der  Reifung  ihrer  Geschlechlsprodukte  sich 
wesentlich  anders  verhielten. 


Des  Eindruckes  kann  man  sich  nicht  erwehren, 
daß  in  den  Erregungsorganen,  dem  prächtigen 
Schmuck ,  den  Anhängen  und  Duftdrüsen ,  ein 
gewisser  Kraft  Überschuß  zutage  tritt.  Aber, 
wie  ich  schon  betonte,  dieser  Kraftüberschuß  kann 
nicht  dem  einen  Geschlecht  eigen  sein,  er  muß 
meiner  Ansicht  nach  in  der  Art  liegen.  Und 
gerade  in  dieser  Hinsicht  scheinen  die  Psycho- 
diden einigen  Anhalt  zu  geben.  Wir  müssen  dazu 
natürlich  die  Larven  untersuchen,  da  diese  allein 
etwaigen  Kraftüberschuß  erwerben  können.  Es 
unterscheidet  sich  nun  die  Lebensweise  der  Arten, 
die  keine  besonderen  Erregungsorgane  aufweisen, 
sehr  wesentlich  von  derjenigen  ausgestatteter 
Arten.  Die  ersteren  leben  vorzugsweise  an  schnell 
faulenden  Substanzen,  sind  lebhaft  und  beweg- 
lich, ihre  Entwicklung  dauert  nur  kurze  Zeit,  in 
manchen  Fällen  nur  einige  Tage.  Die  Larven  der 
anderen  Gruppe  leben  auf  moderndem  Laub,  sind 
außerordentlich  träge,  zeigen  z.  T.  hochgradige 
Anpassungen  an  ihren  Wohnort,  ihre  Entwicklung 
dauert  bis  zu  einem  Jahre.  Inwiefern  etwa  die 
Nahrung  dabei  von  Bedeutung  ist,  kann  nicht  ge- 
sagt werden.  Jedenfalls  liegt  die  Annahme  nahe, 
daß  die  verschiedene  Lebensweise  eine  verschie- 
dene Konstitution  bedingt,  und  daß  die  trägen, 
langlebigen,  geschützten  Arten  gewissermaßen 
Energien  speichern,  die  in  den  Imagi- 
nes  zur  Geltung  kommen.  Aber  wohl- 
gemerkt, es  kann  die  Annahme  eines  Energie- 
überschusses gewisser  Arten  uns  allenfalls  als  Er- 
klärung für  die  materielle  Grundlage,  auf 
der  die  Reizorgane  entstehen  konnten,  dienen, 
nicht  die  Entstehung  gerade  der  Reiz- 
organe  erklären. 

Die  Zuchtwahltheorie  im  Sinne  Darwins 
glaubte  ich  ablehnen  zu  mi'ssen.  Hat  nun  aber 
die  „Wahl  der  Weibchen",  die  ich  als  solche  in 
gewissem  Sinne  bejahte,  gar  keine  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  der  Reizorgane?  Ich  halte  es 
für  nicht  richtig,  ganz  eine  Bedeutung  dieser 
Wahl  zu  leugnen.  Sollte  sie  nicht  den  Erfolg 
haben,  daß,  wenigstens  im  allgemeinen,  nur  die 
besten  Männchen  zur  Fortpflanzung  gelangen,  und 
damit  die  Konstitution  der  Art  auf  der 
vollen  Höhe  ihrer  Potenz  erhalten 
bleibt?  Und  weiter;  sollte  nicht  gerade  durch 
die  Wahl  die  Potenz  derjenigen  Merk- 
male, die  bei  dieser  Wahl  ausschlag- 
gebend sind,  im  besonderen  gefestigt 
werden?  Mir  scheint  dieser  Gesichtspunkt  eine 
gewisse  Erklärung  für  das  Bestehen  der  Wahl  und 
für  die  Möglichkeit  der  Weiterentwicklung  des 
Reizapparates  zu  enthalten.  Doch  dürfen  wir  auch 
hier  nur  die  „Grundlage",  nicht  die  „Ursache" 
suchen. 

Diese  Ursache  muß  in  inneren  Kräften 
des  Organismus  liegen,  in  einem  Vervollkomm- 
nungsprinzip oder  besser  einer  Tendenz  fort- 
schreitender Differenzierung  etwa  im 
Sinne  Nägelis.  Der  Nägelische  Gedanken- 
gang, der  neuerdings  vor  allem  von  Oskar  Hert- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   I 


wig  aufgegriffen  und  weiter  ausgebaut  ist,  geht 
von  der  Auffassung  aus,  daß  als  Träger  der  erb- 
lichen Eigenschaften  eine  besondere  materielle 
Substanz  angenommen  werden  muß,  das  „Idio- 
plasma".  Dem  Idioplasma  kommt  die  Fähigkeit 
zu,  zu  wachsen  und  sich  zu  differenzieren,  d.  h. 
vorhandene  Erbanlagen  bzw.  Merkmale  umzu- 
bilden und  neue  hinzu  zu  gewinnnen.  Es  ge- 
schieht dies  unter  dem  Einfluß  äußerer  Bewir- 
kungen,  wie  Nahrung,  Feuchtigkeit,  Temperatur 
usw.,  deren  Einfluß  auf  die  Ausbildung  oder  Ver- 
änderung von  Merkmalen  des  Organismus  ja  ex- 
perimentell festzustellen  ist. 

Es  läßt  sich  diese  Auffassung  unter  mehr 
positiver  Berücksichtigung  der  Zuchtwahl, 
die  Hertwig  nur  als  rein  negativen  Faktor 
gelten  läßt,  und  unter  Vernachlässigung  der  An- 
nahme, daß  die  Veränderungen  des  Idioplasmas 
a  priori  bestimmt  gericlitet  sind,  vielleicht  in 
folgender  Weise  kurz  formulieren: 

Treffen  den  Organismus  irgendwelche  neuen 
Einflüsse,  so  kann  er  durch  Umformung  seines 
Idioplasmas  neue  Eigenschaften  bilden.  Diese 
mögen  schädlich,  gleichgültig  oder  nützlich  sein. 
Die  natürliche  Zuchtwahl,  d.  h.  der  Kampf  ums 
Dasein,  sorgt  dafür,  daß  im  wesentlichen  die 
Eigenschaften  erhalten  bleiben,  die  dem  Organis- 
mus Vorteile  bieten,  bewirkt  aber  dadurch  zu- 
gleich, daß  die  Potenz  gerade  dieser  Merkmale 
auf  gewisser  Höhe  gehalten  und  die  Möglichkeit 
ihrer  Weiterentwicklung  gewährleistet  ist.  In 
gleicher  Weise  wirkt  die  sexuelle  Zuchtwahl.  Um 
auf  unser  Beispiel  zurückzugreifen:  Neue,  sagen 
wir:    günstige  Lebensbedingungen    haben    bei    ge- 


wissen Arten  neue  Differenzierungen  des  Idio- 
plasmas hervorgerufen.  Sie  äußerten  sich  darin, 
daß  bei  dem  Weibchen  die  Reifung  der  Ge- 
schlechtsprodukte verzögert,  seine  „Sprödigkeit" 
vergrößert  wurde,  während  bei  dem  Männchen 
Eigenschaften  zur  Geltung  kamen,  durch  die  es 
befähigt  war,  diese  Sprödigkeit  zu  überwinden. 
Die  geschlechtliche  Zuchtwahl  ließ  gerade  jene 
Männchen  zur  Fortpflanzung  kommen,  bei  denen 
diese  Eigenschaften  höhere  Qualitäten  besaßen. 
So  konnte  die  prospektive  Potenz  ge- 
rade dieser  Merkmale  durch  die  Wahl 
der  Weibchen  sich  festigen  und  auf  ihr, 
bei  Fortbestehen  der  günstigen  Ein- 
flüsse und  der  aus  ihnen  resultierenden 
Differenzierungstendenz,  eine  immer 
we  iterge  he  nde  Vervollkommnung  fuße n,^) 
deren  Resultat  sich  uns  heute  in  den  uns  so 
wunderbar  erscheinenden  Einrichtungen  des  sexu- 
ellen Reizapparates  offenbart. 

Daß  mit  dieser  Auffassung  alle  Schwierigkeiten 
hinweggeräumt  seien,  die  gerade  die  Frage  der 
Entstehung  der  sekundären  Geschlechtsmerkmale 
bietet,  wage  ich  nicht  zu  behaupten.  Vielleicht 
aber  mögen  die  mitgeteilten  Tatsachen  uns  einer 
Lösung  des  Problems  der  geschlechtlichen  Zucht- 
wahl näher  führen. 


')  Die  ,,Hypenelie"  gerade  bei  sekuudaren  Gesclilcchls- 
merkmalen  dürfte  als  Stütze  dieser  Auffassung  angesclu-u 
werden  können.  —  Ob  die  ,, Vervollkommnung"  als  allnuih- 
liche  oder  sprunghafte  anzunehmen  ist,  mag  hier  unerörtert 
bleiben.  Das  Beispiel  trivialh-nubila  deutet  auf  sprungweise 
erfolgte  Mutation  hin. 


Einzelberichte. 


A'ersuche,  l)ei  PHauzeii  das  (Geschlecht  zu 
verschieben. 

In  einem  früheren  Jahrgang  dieser  Zeitschrift 
(N.  F.  17,  S.  458)  wurde  über  Versuche  von  Cor- 
rens,  die  sich  mit  der  Frage  der  experimentellen 
Verschiebung  der  Geschlechtsverhältnisse  bei 
Pflanzen  beschäftigen,  berichtet.  Inzwischen  sind 
zwei  weitere  Arbeiten  desselben  Forschers  und 
neuerdings  eine  zusammenfassende  Darstellung 
der  bisherigen  Ergebnisse  erschienen  (Uereditas, 
2.  1921).  Bei  dem  Versuchsobjekt  von  Correns, 
der  Lichtnelke  (Melandrium)  liegen  die  Verhält- 
nisse folgendermaßen :  es  werden  nur  einerlei  Ei- 
zellen gebildet,  aber  zweierlei  Pollenkörner,  „Männ- 
chenbestimmer"  und  „Weibchenbestimmer"  zu 
gleichen  Teilen.  Es  ist  das  der  sog.  Drosophila- 
typus  im  Gegensatz  zu  dem  selteneren  Abraxas- 
typus  (Schmetterlinge,  Vögel),  bei  dem  gleich- 
artige männliche  und  zweierlei  weibliche  Gameten 
produziert  werden.  Danach  müßte  man  erwar- 
ten, daß  bei  der  Lichtnelke  männliche  und  weib- 
liche Pflanzen  in  gleicher  .-Anzahl  gebildet  werden. 


Die  Erfahrung  zeigt  aber,  daß  in  der  Natur  die 
Weibchen  sehr  stark  dominieren.  Solche  Unstim- 
migkeiten im  Sexualverhältnis  sind  ja  im  Pflanzen- 
und  Tierreiche  häufig  beobachtet.  Bei  Melandri- 
um beruhen  sie  nun  in  erster  Linie  darauf,  daß 
die  weibchenbestimmenden  Pollenschläuche  den 
männchenbestimmenden  in  der  Konkurrenz  durch 
ihr  rascheres  Wachstum  überlegen  sind ;  sie  über- 
holen ihre  Partner  auf  dem  Wege  nach  der  Ei- 
zelle. Sorgt  man  nun  dafür,  daß  jedes  keimende 
Pollenkorn  zur  Befruchtung  gelangen  kann,  indem 
man  nur  soviel  Pollenkörner  auf  die  Narbe  auf- 
trägt, als  Eizellen  im  Fruchtknoten  vorhanden 
sind,  dann  zeigt  sich,  daß  das  Geschlechtsverhält- 
nis  unter  Umständen  bis  zum  Gleichgewicht  von 
Männchen  und  Weibchen  verschoben  werden  kann. 
Das  Voraneilen  der  weibchenbestimmenden  Pollen- 
schläuche kann  nun  in  folgender  Weise  sehr  schön 
demonstriert  werden  :  man  erntet  die  Samen  der 
oberen  und  der  unteren  Kapselhälfte  getrennt  und 
sät  sie  auch  gesondert  aus.  Dabei  offenbart  sich, 
daß  die  Nachkommenschaft  der  oberen  Kapsel- 
hälftc  prozentual  viel  mehr  Weibchen  enthält  als  die 


N.  F.  XXI.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


der  unteren.  Das  ist  sehr  einfach  so  zu  deuten, 
daß  die  zuerst  ankommenden  Pollenschläuche  die 
zunächstliegenden  Samenanlagen  der  oberen  Re- 
gion befruchten ,  so  daß  die  Nachzügler  auf  die 
entfernter  liegenden  Eizellen  der  unteren  Region 
angewiesen  sind.  Ganz  so  schematisch  erfolgt 
der  Prozeß  nicht,  so  daß  wir  auch  Männchen  in 
der  oberen  und  Weibchen  in  der  unteren  Hälfte 
antreffen.  Einmal  spielen  zufällige  Verhältnisse 
bei  dem  Erreichen  der  Samenanlage  eine  Rolle, 
dann  aber  ist  die  Wachstumsgeschwindigkeit  der 
männchenbestimmenden  Pollenschläuche  bloß 
durchschnittlich  geringer  als  die  der  weibchen- 
bestimmenden, während  im  einzelnen  Ausnahmen 
vorkommen.  Daß  die  Weibchenbestimmer  die 
Männchenbestimmer  auf  dem  Weg  zur  Narbe  tat- 
sächlich überholen,  kann  in  folgender  Weise  ver- 
anschaulicht werden.  Man  schneidet  den  Griffel 
einige  Zeit,  nachdem  die  Narbe  mit  Pollen  belegt 
wurde,  an  der  Basis  ab  und  stellt  nun  das  Ver- 
hältnis der  Geschlechter  bei  derart  behandelten 
Fruchtknoten  fest.  Es  zeigt  sich,  daß  hier  die 
Weibchen  viel  stärker  dominieren  als  in  Parallel- 
serien ohne  solchen  Eingriff.  Diese  Erscheinung 
ist  darauf  zurückzuführen,  daß  durch  das  Ab- 
schneiden des  Griffels  alle  nachhinkenden  Pollen- 
schläuche —  also  in  erster  Linie  die  Männchen- 
bestimmer —  von  der  Konkurrenz  ausgeschlossen 
sind.  Umgekehrt  kann  man  das  Minus  an  Wachs- 
tumsgeschwindigkeit bei  den  Männchenbestimmern 
einigermaßen  dadurch  ausgleichen,  daß  man  den 
Weg  zur  Narbe  verkleinert.  Es  ist  dies  dadurch 
zu  erreichen,  daß  man  den  Pollen  nicht  wie  ge- 
wöhnlich auf  die  Narbe  aufträgt,  sondern  an  die 
Basis  des  Griffels.  Nun  werden  weniger  Männchen- 
bestimmer von  den  Weibchenbestimmern  überholt 
werden,  und  der  Erfolg  zeigt  tatsächlich,  daß  sich 
nunmehr  das  Gleichgewicht  zugunsten  der  Männ- 
chen verschiebt.  Bei  Melandrium  liegen  die  Ver- 
hältnisse also  ganz  klar.  Es  ist  von  Bedeutung, 
daß  Heribert  Nilsson  und  Renner  bei  der 
Nachtkerze  (Oenothera)  ganz  ähnliche  Verhältnisse 
antrafen,  und  daß  es  Renner  geglückt  ist,  die 
beiden  Sorten  von  Pollenkörnern  an  ihren  Stärke- 
körnern morphologisch  -  anatomisch  zu  unter- 
scheiden. Weiterhin  fand  C  o  r  r  e  n  s  dann, 
daß  eine  Verschiebung  des  Geschlechtsverhält- 
nisses in  der  Richtung  der  Männchenproduktion 
durch  Alternlassen  des  Pollens  erzielt  werden 
kann.  Das  beruht  darauf,  daß  beim  Altern  mehr 
Weibchenbestimmer  als  Männchenbestimmer  zu- 
grunde gehen,  so  daß  um  so  mehr  Männchen  er- 
zeugt werden,  mit  je  älterem  Pollen  man  arbeitet. 
Es  sei  hier  an  die  entsprechenden  Versuche 
R.  Hertwigs  mit  F"röschen  erinnert.  Hier  ging 
die  Verschiebung  so  weit,  daß  schließlich  bloß 
Männchen  resultierten.  Endlich  mag  noch  er- 
wähnt werden ,  daß  es  in  jüngster  Zeit  Seiler 
bei  seinen  Versuchen  mit  der  Psychide  Talaeporia 
geglückt  ist,  für  die  Verschiebung  der  Geschlechts- 
verhältnisse eine  zytologische  Grundlage  zu  finden. 
Talaeporia  ist  heterogametisch  im  weiblichen  Ge- 


schlecht; sie  entwickelt  2  Sorten  von  Eiern 
(AbraxastypusI).  Die  weibchenbestimmenden 
haben  29,  die  männchenbestimmenden  30  Chro- 
mosomen, zeichnen  sich  also  durch  den  Besitz 
eines  Geschlechtschromosoms  aus.  Bleibt  dies  im 
Ei,  dann  entsteht  ein  Männchen,  wandert  es  in 
den  Richtungskörper,  so  resultiert  ein  Weibchen. 
Durch  Altern  der  Eier  sowie  durch  erhöhte  Tem- 
peratur wird  der  Übertritt  des  Geschlechtschromo- 
soms in  den  Richtungskörper  begünstigt.  „Es 
wird  also  durch  Alter  und  durch  Wärme  irgend- 
wie ein  orientierender  Einfluß  auf  das  Geschlechts- 
chromosom ausgeübt  und  dadurch  das  Zahlen- 
verhältnis der  beiderlei  Eier  und  der  beiden  Ge- 
schlechter verschoben."  Durch  all  diese  Versuche, 
denen  sich  noch  die  bekannten  Arbeiten  Gold- 
schmidts  über  Intersexualität  anreihen,  ist  also 
das  Problem  der  Geschlechtsbestimmung  in  eine 
verheißungsvolle  Phase  eingetreten. 

Stark. 

Neues  zur  Kelativitälstheorie. 

Wohl  das  Überraschendste  auf  diesem  Gebiet 
ist  die  Ausgrabung  einer  Arbeit  aus  dem  Jahre 
1801  im  Astronomischen  Jahrbuch  für  1804,  durch 
Lenard,  in  den  Annalen  der  Physik  1921, 
S.  593,  wo  er  zeigt,  wie  der  damalige  Münchener 
Astronom  und  Physiker  S  o  1  d  n  e  r  auf  Grund  einer 
ganz  modernen  Auffassung  vom  Wesen  des  Lichtes, 
das  er  der  Gravitation  unterwirft,  und  dem  er 
Eigenschaften  der  Materie  zuschreibt,  die  Ab- 
lenkung der  Lichtstrahlen  am  Rande  eines  F'ix- 
sternes,  wie  der  Sonne  ableitet,  ohne  irgendwelche 
relativistischen  Gedanken.  Hier  ist  Einstein 
also  um  ein  Jahrhundert  zu  spät  gekommen. 
Krauß  befaßt  sich  in  der  Umschau  Nr.  46  mit 
der  „Unmöglichkeit  der E  i  n  s  t  e i  n  sehen  Bewegungs- 
lehre". Der  sehr  wertvolle  Aufsatz  spricht  der 
Theorie  Einsteins  den  Charakter  einer  physi- 
kalischen Theorie  schlechthin  ab.  Seine  Kunst- 
griffe sind  keine  Physik  mehr,  sondern  eine  rein 
spielerische  fiktive  Rechenaufgabe,  die  in  der 
Minko wskischen  Einkleidung  einen  besonderen 
Reiz  auf  mathematische  Köpfe  ausübt,  für  die 
Laienwelt  aber  mit  dem  Ehrfurcht  einflößenden 
Schimmer  höherer  und  höchster  Mathematik  um- 
geben wird,  vor  der  man  sich  schweigend  und 
staunend  zu  beugen  habe".  Über  die  Uhren- 
verzögerung beim  M  i  c  h  e  1  s  o  n  -  Versuch  sagt 
Krauß:  „Imaginäre  Zeitkoordinaten  mit  reellen 
Uhren  und  Uhren  mit  Zeit  selbst  zu  verwechseln, 
und  von  dem  einen  auszusagen,  was  von  dem 
andern  gilt  oder  auch  nicht  gilt],  ist  doch  nur 
möglich,  weil  den  Betreffenden  jede  Zucht  rein- 
lichen Denkens  und  Sprechens  abhanden  ge- 
kommen ist. 

Giulio  Alliata  schreibt  ein  Werk  über 
„Verstand  contra  Relativität",  in  dem  er  auf  die 
zahlreichen  Widersprüche  der  Theorie  in  sich  und 
mit  der  Wirklichkeit  hinweist.  Sehr  lehrreich  ist 
eine  Zeichnung,  in  der  man  ersehen  kann,  wie  die 


14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  1'.  XXI.  Nr.   1 


Fachwelt  die  berühmte  Ablenkung  des  Lichtstrahles 
an  der  Sonne  gänzlich  verschieden  darstellt,  teils 
konvex  teils  konkav  zur  Sonne,  die  Sache  ist 
also  offenbar  un verstehbar,  und  zwar  nach  Gehrcke 
deswegen,  weil  sie  falsch  ist. 

Comas  Sola  gibt  in  den  Veröffentlichungen 
der  Sternwarte  Fabra  in  Barzelona  1920  Heft  3 
in  einem  längeren  Aufsatz  den  Nachweis,  daß  die 
absurden  Konsequenzen  der  Relativitätstheorie 
sie  sehr  angreifbar  machen,  mit  der  nicht  vor- 
handenen Rotverschiebung  fällt  sie,  nach  Einsteins 
Wort  selbst.  Dagegen  ist  die  moderne  Emissions- 
Undulations  -  Theorie  des  Lichtes,  die  sich  auf 
unsern  Anschauungen  vom  Äther  aufbaut,  im- 
stande, alle  Erscheinungen  zu  erklären,  für  die 
die  Relativitäts  theorie  angeblich  notwendig  ist. 
Comas  Sola  zeigt  wie  diese  Anschauung  alle 
astronomischen  und  physikalischen  Widersprüche 
aufklärt,  die  zur  speziellen  Relativitätstheorie 
führten.  Sie  läßt  die  Formeln  der  Physik  unbe- 
rührt. Sie  erklärt  die  Sonnenfinsternislichtab- 
lenkungen. Sie  ergibt  keine  Rotverschiebung.  Sie 
erklärt  die  Abberration  besser,  als  die  Undulations- 
theorie  allein.  Sie  ergibt  keinen  Ätherwiderstand. 
Sie  führt  zur  Identität  der  Formeln  von  Fresnel 
und  Descartes.  Sie  beseitigt  den  Einwand,  daß 
der  Äther  keine  Longitudinalschwingungen  be- 
sitze. Sie  läßt  das  Newton  sehe  Gesetz  unbe- 
rührt. Sie  erfordert  nicht  die  von  A.  Hall, 
Weber  und  anderen  eingeführten  Korrektions- 
faktoren. Leider  ist  der  Aufsatz  spanisch  ge- 
schrieben und  schwer  zugänglich.  Riem. 

Freie  Amnioniuinradikale  I. 

Das  freie  Rhodan,  d.  h.  das  Radikal  SNC — , 
ist  vor  kurzem  erst  dargestellt ')  und  damit  er- 
neut der  Nachweis  erbracht  worden,  daß  freie 
Radikale  einigermaßen  beständig  nur  in  Lösung 
auftreten,  außerhalb  dieser  sich  jedoch  rasch  zu 
einem  gesättigten  Polymeren  zusammenschließen 
oder  aber  zu  stabilen  Bruchstücken  zerfallen.  Das 
Radikal  Ammonium  NH,  — ,  aus  zahlreichen 
wichtigen  Verbindungen  wohlbekannt,  in  seinem 
Charakter  den  Alkalimetallen  äußerst  ähnlich, 
konnte  bisher  nicht  isoliert  werden.  Man  erhält 
in  jedem  Fall  nur  gasförmigen  Ammoniak  NH^. 
Immerhin  ist  an  der  Existenzmöglichkeit  des 
Ammoniums  nie  gezweifelt  worden;  das  Am- 
moniumamalgam bewies  den  autonomen,  metall- 
ähnlichen Charakter  des  Radikals  deutlich  genug. 
Durch  einen  Kunstgriff  versuchte  man  in  neuerer 
Zeit  die  Isolierung.  Auch  das  Radikal  Methyl 
CH^  —  ist  auf  keine  Weise  frei  darzustellen  ge- 
wesen, wohl  aber  ist  es  gelungen,  einen  Ab- 
kömmling davon  in  Lösung  zu  stabilisieren 
und  den  verschiedensten  Umsetzungen  zu  unter- 
werfen. Gomberg  ersetzte  die  3  Wasserstoffe 
durch  Phenylreste  und  erreichte  durch  diese  Be- 
lastung des  Kohlenstoffatoms  die  Gewinnung  des 


Triphenylmethyls  C(C|jH5)3 — ,  d.  h.  des  substi- 
tuierten Melhylradikals.  Ganz  analog  verfuhr 
W  i  e  1  a  n  d  ,  der  im  Tetraphenylhydrazin  (C^Hj), 
N  —  N(C,iH-).,  einen  Stoff  fand,  welcher  unter  ge- 
eigneten Bedingungen  einen  substituierten  Radi- 
kaltypus liefert.  Der  Weg  zur  Gewinnung  des 
freien  Ammoniumradikals  war  damit  gegeben : 
nicht  das  Ammonium  selbst,  sondern  das  substi- 
tuierte Radikal  mußte  zu  isolieren  versucht  werden. 
Ansätze  in  dieser  Richtung  finden  sich  in  zwei 
Arbeiten  von  P^  m  m  ert ')  und  von  Sc  h  1  u  b  ac  h.'-') 
Es  geht  daraus  hervor,  daß  das  substituierte  Am- 
moniumradikal und  damit  auch  dieses  selbst  in 
Lösung  eine  blaue  Farbe  aufweist.  Nunmehr 
glauben  E.  Weitz-')  und  seine  Mitarbeiter  einige 
freie  Ammoniumradikale  dargestellt  zu  haben. 
Wenn  sie  das  Benzoylpyridiniumchlorid  (Formel  I) 
in  Lösung  mit  Zink  behandelten,  so  trat  das  Chlor, 
wie  zu  erwarten,  an  das  Metall,  und  ein  dunkel- 
brauner, bronzeglänzender  Stoff  von  der  Formel 
CijHjyON  ließ  sich  abscheiden,  dem  die  Struktur 
eines  Benzoylpyridiniums  zugeschrieben 
wird  (Formel  II). 


\ 


')  Vgl.  Naturw.   Wochenschr.  XIX,  S.   138,   1920. 


N  JN 

/\  /'•■■ 

CaHjCo         Cl       C„H,iCo 

Man  kann  die  Reaktion  im  Reagenzglas  leicht 
wiederholen,  wenn  man  zu  einer  Lösung  von 
Pyridin  und  Benzoylchlorid  in  Xylol  etwas  Zink- 
staub gibt.  Es  tritt  sofort  stürmische  Reaktion 
ein.  Für  die  angegebene  Struktur  des  entstehen- 
den Stoffes  spricht  zunächst  seine  starke 
Farbigkeit.  Wie  immer,  so  muß  auch  sie 
auf  eine  „ungesättigte"  Bindung  in  Molekül  zurück- 
geführt werden.  Es  spricht  sodann  dafür,  daß 
die  Farbe  der  Lösung  des  Stoffes  blau  ist,  den 
oben  erwähnten  Befunden  entsprechend.  An  der 
Luft  werden  die  Lösungen  infolge  Oxydation  mehr 
oder  weniger  rasch  entfärbt.  Auch  dies  beweist 
den  ungesättigten  Charakter,  ebenso  die  äußerst 
rasche,  quantitative  Umsetzung  des  Stoffes  mit 
Chlor  und  Brom,  wobei  i  Mol  Substanz  genau 
I  Mol  des  Halogens  verbraucht.  Säuren  dagegen 
sind  ohne  jede  Einwirkung.  Dies  alles  beweist, 
daß  man  es  nicht  mit  einem  basischen  Stoff  zu 
tun  hat,  der  als  substituiertes  Ammoniak  NH3 
aufzufassen  wäre,  sondern  daß  in  der  Tat  ein 
substituiertes  Ammonium  NHj  —  mit  einer  sog. 
„freien",  d.  h.  leicht  reagierenden,  Valenz  vorliegt. 
Die  Bestimmung  des  Molargewichtes  bestätigt  das. 
In  Äthylenbromid  und  in  Chlorbenzol  erwies  sich 
der  Stoff  als  monomolekular.  In  Phenol  da- 
gegen zunächst  als  dimolekular;  der  Wert  des 
Molargewichtes    sinkt   jedoch   allmählich   auf  den 

')  Berichte   d.  d.   Chem.  Gesellsch.   53,  S.  370,   1920. 

•■')  Ebendas.  S.   1689. 

']  Annalen  d.  Chemie  425,  S.    161,   1921. 


N.  F.  XXI.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'5 


einfachen  Betrag.  Man  hat  also,  vor  allem  im 
freien  Zustande,  assoziierte  Dopp  el  molekiile  an- 
zunehmen, die  sich  leicht  in  Einzelmoleküle 
spalten.  (Da  auch  die  Doppelmoleküle  stark 
farbig  sind,  so  ist  eine  Formulierung  der  Sub- 
stanz mit  3  wertigem  Kohlenstoff,  die  an  sich 
möglich  wäre,  abzulehnen.)  Im  Benzoylpyridinium 
würde  demnach  ein  substituiertes  Ammonium- 
radikal vorliegen. 

Ganz  analog  glaubt  Weitz")  nun  auch  den 
Radikalcharakter  desBenzylpyridiniums  nach- 
weisen zu  können.  Als  solches  sieht  Weitz 
einen  Stoff  an,  den  schon  A.  W.  Hof  mann  1881 
in  den  Händen  hatte,  als  er  Benzylpyridinium- 
halogenide  reduzierte.  Das  Reduktioiisprodukt 
entsprach  der  Formel  nach  dem  Benzylpyridinium, 
ohne  daß  freilich  Hofmann  dieser  Auffassung 
beitritt.  Er  erwähnt  lediglich,  daß  die  alkoho- 
lischen Lösungen  des  Stoffes  tiefbraun  gefärbt 
sind,  der  Stoüf  selbst  aber  sich  farblos  daraus  ab- 
scheidet. Emmert  sowohl  wie  Schlubach 
lehnen  noch  den  absoluten  Ammoncharakter  des 
H  o  f  m  a  n  n  sehen  Stoffes  ab.  Weitz  jedoch  findet 
ihn  bestätigt.  In  Methylalkohol  nämlich  löst 
sich  das  Reduktionsprodukt  mit  tief  indigo- 
blauer  Farbe,  also  ganz  wie  das  Benzoylpyridi- 
nium. Beim  Schütteln  an  der  Luft  verschwindet 
die  Farbe,  um  nachher  wieder  zu  erscheinen.  Es 
findet  also  langsame  Dissoziation  eines  Polymeren 
zum  Radikal  statt,  das  infolge  seiner  Reaktions- 
fähigkeit leicht  oxydiert  wird,  was  auch  Emmert 
schon  diskutierte.  Weitz  glückte  es  jedoch  auch, 
daß  freie  kristallisierte  Benzylpyridinium  in  Form 
tiefroter  zackiger  Kristalle  zu  isolieren,  die  in  Al- 
kohol sofort  mit  blauer  Farbe  löslich  sind.  Wie- 
der ließ  sich  der  Wahrscheinlichkeitsbeweis  führen, 
daß  es  sich  wirklich  um  das  freie  monomoleku- 
lare Radikal  (F"ormel  I)  handelt.  Das  farblose, 
von  Hofmann  gefundene  Produkt  wird  dann 
als  das  Dimere  davon  aufzufassen  sein  (Formel  IV). 

Beide  Stoffe  würden  sich  also  zueinander  ver- 
halten wie  N.,0,  (farblose  Dimeres)  zu  N0.>  (stark 
farbig).  Auch  die  monomolekularen  Nitrosover- 
bindungen   sind   ja    farbig,    ihre  Dimeren    farblos. 


/\      /\ 


N 


N 


-N 


CßHß'CHa     C^(H_^.CHo 


Wiederum  beruht  natürlich  die  Farbe  auf  dem 
ungesättigten  Charakter  des  Radikals.  Mit  unseren 
heutigen  Vorstellungen  über  das  Wesen  der  che- 
mischen Valenz  ist  es  nun  aber  unvereinbar,  eine 
„freie",  ungebundene  Valenzeinheit  anzunehmen, 
wie  das  in  den  oben  stehenden  Formeln  der  beiden 
neuen  Radikale  zum  Ausdruck  kommt.  Weitz 
muß  sich  also  entschließen,  die  fünfte  „freie"  Va- 
lenz irgendwie  abgesättigt  zu  denken.  Er  gibt 
dem  in  den  beiden  Formelbildern 


/\ 


/■• 


Ausdruck.  Es  handelt  sich  also  um  einen  Behelf, 
der  zweifellos  bestehenden  Valenzzersplitterung 
graphisch  Rechnung  zu  tragen.  Wahrscheinlich 
kommt  aber  das  Benzylpyridinium  wegen  seiner 
sehr  großen  Ähnlichkeit  zum  Ammonium  der 
Formel  III  noch  am  nächsten.  Die  Unzulänglich- 
keit unserer  Strukturformeln  wird  erneut  offenbar. 

Man  darf,  wenn  im  einzelnen  auch  Widerspruch 
gegen  die  Auffassungen  von  Weitz  erhoben 
werden  wird,  doch  festhalten,  daß  die  Existenz 
freier  substituierter  Ammoniumradikale  nunmehr 
Tatsache  ist. 

In  einer  soeben  erschienenen  Arbeit  von  H. 
H.  Schlubach')  sind  Reaktionen  des  Tetra- 
äthylammoniumradikals sowie  des  Ammoniums 
selbst  beschrieben.  F.s  wird  demnächst  darüber 
berichtet  werden.  H.  Heller. 


')  Annalcn  d.   Chemie  425,  S.   187,   1921. 


')  Berichte  d.  d.  Chem.   Gesellsch.   54.  S.  2S11  und  2S25, 


Bücherbesprechungen. 


Handbuch  der  Entomologie  herausgegeben  von 
Prof.  Dr.  Schröder.  Fünfte  Lieferung  ent- 
haltend: Band  III,  Bogen  8 — 13  mit  143  Abb. 
im  Text.  Inhalt:  Bd.  III,  Kapitel  6  (Schluß); 
Terminologie  der  für  die  Systematik  wichtigsten 
Teile  des  Hautskelettes.  Von  Dr.  A.  Hand- 
lirsch,  Wien  (S.  113 — 116,  Abb.  44 — 51). 
Kapitel  7 ;  Paläontologie.  Von  Dr.  A.  H  a  n  d  - 
lirsch,  Wien  (S.  117 — 208,  Abb.  52 — 186). 
Jena  1920,  G.  Fischer.     20  M. 

Sechste    Lieferung:    Band    III,    Bogen 


14 — 19  mit  51  Abb.  im  Text.  Inhalt:  Band III, 
Kapitel  7;  Paläontologie.  Von  Dr.  A.  Hand- 
lirsch,  Wien  (S.  209 — 304,  Abb.  187 — 237). 
Jena   192 1.     15  M. 

Siebente  Lieferung:  Band  I,  Kapitel  8 
(Schluß);  Geschlechtsorgane.  Von  Prof.  Dr. 
Deegener,  Berlin  (S.  529 — 533).  Kapitel  9 
(i.  Teil);  Mechanik  des  Insektenfluges.  Von 
Dr.  O.  Prochnow,  Berlin  -  Großlichterfelde 
(S.  534—560,  Abb.  1—25).  Band  III,  Kapitel  7 
(Schluß);   Paläontologie.     Von   Dr.  A.   Hand- 


i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  I 


lirsch,  Wien  (S.  305— 306).  Kapitel  8;  Phylo- 
genie  oder  Stammesgeschichte.  Von  Dr.  A. 
Handlirsch,  Wien  (S.  307 — 368,  Abb.  238 
bis  289  und  2  Stammbaumfig).  Jena  1921. 
15  M. 

Die  nach  langer  durch  den  Krieg  bedingter 
Pause  erschienene  Fortsetzung  des  Schröder- 
schen  Handbuchs  behandelt  in  der  5.  und  6.  Liefe- 
rung hauptsächlich  die  Paläontologie  der  Insekten, 
ein  Gebiet,  auf  dem  der  Verf.,  A.  Handlirsch, 
eine  allseitig  anerkannte  Autorität  ist.  Ihm  ist  es 
namentlich  zu  verdanken,  wenn  in  das  Chaos 
der  fossilen  F'ormen  Ordnung  gekommen  ist,  und 
wir  uns  ein  Bild  von  der  Insektenwelt  vergangener 
Erdperioden  machen  können.  Die  Ergebnisse  der 
Han  dlirs  chschen  Forschungen,  die  in  einem 
umfangreichen  Spezialwerk  niedergelegt  sind, 
dürften  allerdings  bis  jetzt  wohl  nur  wenigen  ge- 
nauer bekannt  geworden  sein;  sie  werden  nun- 
mehr durch  das  Sc  hröd  ersehe  Handbuch  zum 
ersten  Male  auch  weiteren  Kreisen  zugänglich  ge- 
macht. Auch  wer  sich  selbst  mit  Fossilien  nicht 
abgegeben  hat  und  nur  die  gegenwärtigen  In- 
sektenformen kennt,  wird  sicherlich  das  Kapitel 
Paläontologie  mit  Interesse  lesen  und  die  historische 
Entwicklung  der  Insektenwelt  verstehen  lernen. 
Zum  Verständnis  tragen  sehr  wesentlich  die  vielen 
Abbildungen  ausgestorbener  Arten  bei,  die  der 
Verf.  auf  Grund  von  Rekonstruktionen  nach  Flügel- 
abdrücken  oder  sonstigen  Überresten  gegeben  hat, 
und  dem  Leser  eine  Vorstellung  davon  geben,  wie 
die  Insekten  der  Vorwelt  ausgesehen  haben  mögen. 
Mitteilungen,  die  dem  speziellen  Teil  vorausge- 
schickt sind  und  das  Vorkommen,  den  Erhaltungs- 
zustand sowie  die  zweckmäßigste  Behandlung 
fossiler  Insekten  betreffen,  werden  besonders  allen 
denen  willkommen  sein,  die  sich  eingehender  mit 
derartigen  Funden  beschäftigen  oder  selbst  forschend 
auf  diesem  Gebiete  tätig  sein  wollen.  Die  siebente 
Lieferung  bringt  uns  aus  der  Feder  von  Proch- 
now  eine  Darstellung  von  der  Mechanik  des  In- 
sektenflugs, in  der  Bau  und  Verrichtungen  der 
Flugorgane  eingehend  besprochen  werden.  Die 
in  der  gleichen  Lieferung  von  Handlirsch  be- 
handelte Stammesgeschichte  der  Insekten  gibt 
einen  guten  Überblick,  läßt  aber  leider  vielfach 
die  höhere  Warte  vermissen  und  bringt  allzu  ein- 
seitig die  Ansichten  des  Autors  zur  Geltung,  ohne 
den  abweichenden  Meinungen  anderer  Autoren 
gerecht  zu  werden.  Überflüssig  ist  der  Abschnitt  IV: 
„Die  Stellung  der  Insekten  im  Systeme  der  re- 
zenten Organismen"  mit  spaltenlangen  Aufzählungen 
von  Pflanzen-  und  Tiergruppen.  Ebenso  gehört 
auch  der  folgende  Abschnitt  „Schlußbemerkungen", 
in    dem    sich    H  a  n  d  1  i  r  s  c  h    darüber    beschwert, 


daß  seine  Ansichten  über  die  Stammesgeschichte 
der  Insekten  „von  manchen  Seiten  eine  geradezu 
schroffe  Ablehnung  erfahren  haben"  nicht  in  ein 
Handbuch  der  Entomologie  hinein. 

R.  Heymons. 


Lüscher,  H. ,  Photogramm  et  rie.  Band  612 
von  „Aus  Natur  und  Geisteswelt".  128  S.  mit 
78  Fig.  im  Text  und  auf  2  Tafeln.  Leipzig 
und  Berlin  1920,  B.  G.  Teubner.  —  Kart.  2,80  M. 
und  100  "/u  Teuerungszuschlag. 
Die  Methoden  der  Bildmessung,  d.  h.  jenes 
Zweigs  des  Vermessungswesens,  der  sich  mit  der 
Auswertung  photographisch  gewonnener  Zentral- 
projektionen zur  P'estlegung  von  Lage  und  Aus- 
maß eines  Gegenstandes  beschäftigt,  haben  in 
neuerer  Zeit  derart  an  Umfang  und  Bedeutung 
gewonnen,  daß  die  gegenwärtige  höchst  anschau- 
liche und  klare  Darstellung  der  Photogrammelrie 
allgemeinem  Interesse  begegnen  wird.  Besondere 
Beachtung  werden  ihr  naturgemäß  die  Geodäten, 
Geographen,  Architekten  und  alle  anderen  Prak- 
tiker entgegenbringen,  die  sich  mit  Objektausmes- 
sungen zu  beschäftigen  haben;  dem  Lehrer  und 
Studierenden  mathematisch-naturwissenschaftlicher 
Disziplinen  zeigt  sie  ein  wichtiges  Anwendungs- 
gebiet der  Lehren  der  geometrischen  Optik  und 
der  projektiven  Geometrie.  In  3  Abschnitten 
werden  zunächst  die  grundlegenden  Verfahren  der 
einfachsten  Photogrammelrie,  dann  mit  größerer 
Ausführlichkeit  die  von  Pulfrich  begründete 
Stereophotogrammetrie  oder  Raumbildmessung 
und  schließlich  die  namentlich  durch  den  Welt- 
krieg geförderte  Luftphotogrammetrie  besprochen. 
Den  durchweg  elementaren  geometrischen  Be- 
trachtungen liegen  zahlreiche  schematische  Zeich- 
nungen zugrunde.  A.  Becker. 


Auerbach,  Felix,  Moderne  Magnetik.     VIII 
und    304  S.     167    Abb.     Leipzig    1921,    Johann 
Ambrosius  Barth.     Geb.  55  M. 
Das  Buch  ist  aus  der  Mitarbeit  an  dem  großen, 
von    Graetz    herausgegebenen    Handbuche    der 
Elektrizität  und  des  Magnetismus  hervorgegangen. 
Es    wendet    sich    in    erster  Linie    an  Lehrer    und 
Techniker,  in  zweiter  an  alle  wißbegierigen  Laien 
und  stellt,    in  knappem  Rahmen,    ein    in    sich  ge- 
schlossenes Abbild  des  gegenwärtigen  Standes  der 
Lehre    vom  Magnetismus    dar.      Unterstützt    wird 
die    Darstellung    durch    zahlreiche    P'iguren,    teils 
graphische  Darstellungen,    teils    Abbildungen    von 
Apparaten  und  experimentellen  Anordnungen. 

Fricke. 


lllllRlt:  H.  J.  leuerborn,  Das  l'roblera  der  geschlechtlichen  Zuchtwahl  im  Lichte  neuer  Beobachtungen.  (l  Abb.)  S.  I. 
—  Einzelberlcbte:  Correns,  Versuche,  bei  l'Hanzen  das  Geschlecht  zu  verschieben.  S.  12.  Lenard,  Krauß, 
G.  .'\lliata,  C.  Sola,  Neues  zur  Relativitätstheorie.  S.  13.  E.  Weit/. ,  Freie  Ammoniumradikale  I.  S.  14.  —  Bücher- 
besprechungen: Handbuch  der  Entomologie.  S.  15.  H.  Lüs  eher ,  Photogrammetrie.  S.  16.  F.Auerbach,  Moderne 
Magnetik.  S.   16. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidcnstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  bischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &   Co.   G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folgte  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  ,57.   ba 


Sonntag,  den  8.  Januar  1922. 


Nummer  3. 


Idiosynkrasie  und  Anaphylaxie. 


(Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.   W. 

Bei  bestimmten  Personen  verursacht  die  Auf- 
nahme einer  Reihe  von  Nahrungsstoffen  oder  Ge- 
nußmitteln besondere  Erscheinungen,  die  man 
früher  unter  dem  Namen  der  Idiosynkrasie  zu- 
sammenzufassen versuchte.  Diese  Erscheinungen 
können  in  der  verschiedensten  Intensität  auftreten, 
mitunter  findet  sich  nur  ein  leichtes  Unwohlsein, 
oft  aber  auch  Zeichen  einer  mehr  oder  weniger 
heftigen  Erkrankung,  die  sich  unter  Umständen 
längere  Zeit  hinziehen  kann  und  in  ein  chronisches 
Stadium  übergeht.  So  beobachtet  man  nach  dem 
Genuß,  von  Eiern,  Milch,  Krebsen,  Krabben,  Erd- 
beeren und  anderen  Nahrungsmitteln  Ausschlag, 
Hautjucken,  Geruch  aus  dem  Munde,  starke  Ver- 
dauungsstörungen, Ekzeme,  Erbrechen  und  ver- 
schieden starkes  Fieber.  Sogar  Todesfälle  sind 
beschrieben  worden.  Auch  gegen  bestimmte  Heil- 
mittel finden  sich  derartige  Idio.'-ynkrasien. 

Eine  Erklärung  dieser  sonderbaren  Vorgänge 
fand  sich  erst,  als  die  Lehre  von  der  Anaphylaxie 
immer  weiter  ausgebaut  wurde. 

Die  Anaphylaxie  oder  Überempfindlichkeit 
wurde  von  Behr in  g  entdeckt.  Dieser  aber  maß 
ihr  keinen  allzugroßen  Wert  bei,  und  erst  nach 
fast  zehn  Jahren  beschäftigte  sich  Richet  ein- 
gehender mit  ihr.  Von  ihm  stammt  auch  der 
Name. 

Behring  hatte  beobachtet,  daß  Tiere,  denen 
Diphtheriegift  einverleibt  worden  war,  auf  den 
1000  sten  bis  lOOOOOOsten  Teil  einer  Giftmenge 
stark  antworteten,  die  für  ein  normales  Tier  voll- 
kommen unschädlich  war.  Die  vorbehandelten 
Tiere  also  erkrankten  heftig  und  starben  sogar, 
während  unvorbehandelte  Tiere  durch  die  gleiche 
Dosis  überhaupt  nicht  berührt  wurden.  Durch  die 
vorangegangene  Behandlung  mit  Gift  ist  der 
tierische  Körper  gegen  das  betreffende  Gift  über- 
empfindlich, anaphylaktisch  geworden.  Diese 
Gittüberempfindlichkeit  unterscheidet  sich  nur 
scheinbar  von  der  eigentlichen  Anaphylaxie,  die 
wir  unten  besprechen  werden. 

Eine  Grundtatsache  der  „pathologischen  Bio- 
logie", wie  Much  die  Gesamtheit  dieser  Ge- 
biete bezeichnet,  ist  die  Beobachtung,  daß  im 
Organismus  nach  dem  Überstehen  von  Infektions- 
krankheiten eine  derartige  Umstimmung  eintritt, 
daß  eine  neue  Infektion  überhaupt  nicht  oder 
doch  nur  in  geringerem  Grade  erfolgen  kann. 
Es  ist  in  dem  Körper  eine  Veränderung  aufgetreten, 
die  man  weder  chemisch  noch  histologisch  nach- 
weisen kann,  und  die  man  als  Immunität  bezeichnet. 
Parallel  zur  Entstehung  der  Immunität  findet  sich 
das  Auftreten   von   Antikörpern  oder  Antistoffen, 


die  die  verschiedenste  Bedeutung  haben  können, 
die  man  aber  auf  keinen  Fall  mit  der  Immunität 
identifizieren  darf,  wenngleich  es  in  der  Literatur 
häufig  genug  geschehen  ist. 

Die  Anaphylaxie  oder  Überempfindlichkeit 
stellt  den  Gegensatz  der  Immunität  (=Prophylaxie) 
dar.  Sie  ist  keineswegs  eine  Ausnahme,  sondern 
vielmehr  etwas  durchaus  Gesetzmäßiges  und 
Regelmäßiges.  Die  engsten  Beziehungen  ver- 
knüpfen sie  mit  der  Immunität. 

Das  Wesen  der  Anaphylaxie  läßt  sich  am  besten 
bei  der  Eiweißanaphylaxie  und  hier  besonders  an 
der  Serumüberempfindlichkeit  beobachten.  Wenn 
man  einem  Meerschweinchen  ein  artfremdes  Serum, 
beispielsweise  Katzenserum,  einspritzt,  so  verträgt 
es  dieses  ohne  jede  Reaktion.  Wird  jedoch  nach 
einiger  Zeit  die  Einspritzung  mit  dem  gleichen 
Serum  wiederholt,  so  treten  die  heftigsten  Reiz- 
erscheinungen auf,  die  vor  allen  Dingen  außer- 
ordentlich plötzlich  einsetzen.  Es  genügt  in  diesem 
Falle,  die  allergeringste  Menge  des  Serums  zur 
Einspritzung  zu  verwenden,  so  wirkt  schon  0,001  g 
Pferdeeiweiß  unbedingt  tödlich  (von  Eiereiweiß 
genügt  bereits  0,0001  g). 

Die  Reizerscheinungen  bestehen  in  der  Regel 
aus  Krämpfen  und  Atemnot  und  können  zu  einem 
schockartigen  Ende  führen,  das  man  den  anaphy- 
laktischen  Schock  nennt.  Während  dieses  treten 
die  heftigsten  Veränderungen  des  Blutes  ein:  Das 
Fibrinferment,  Fibrinogen  und  die  Gerinnbarkeit 
des  Blutes  nimmt  stark  ab,  und  eine  Leukozyten^ 
armut  setzt  ein. 

Die  Tiere  gehen  nach  wenigen  Augenblicken 
an  Erstickung  ein  und  zeigen  bei  der  nachfolgenden 
Sektion  aufgeblähte  und  starre  Lungen,  die  durch 
Krämpfe  der  Bronchialmuskulatur  hervorgerufen 
sind.  Mitunter  jedoch  gehl  die  Atemnot  vorüber 
und  schon  nach  ganz  kurzer  Zeit  sind  die  Ver- 
suchstiere genau  ebenso  munter  und  frisch  wie 
vorher.  Wird  nach  der  Genesung  die  Injektion 
wiederholt,  so  tritt  keinerlei  Schädigung  ein,  die 
Tiere  sind  gegen  die  Überempfindlichkeit  geschützt, 
sie  sind  antianaphylaktisch  geworden. 

Zum  Eintritt  der  Anaphylaxie  sind  die  ver- 
schiedensten Faktoren  notwendig.  So  die  vor- 
bereitende Injektion  oder  die  Sensibilisierung,  die 
Dosis,  die  Dauer  der  Inkubationszeit  oder  das 
präanaphylaktische  Stadium,  die  Art  und  Größe  der 
zweiten  Dosis,  die  Tierart  usw. 

Die  Sensibilisierung  erfolgt  in  der  Regel  paren» 
teral,  also  unter  Ausschaltung  des  Verdauungskanals, 
am  meisten  wählt  man  die  subkutane  Injektion. 
Aber    auch    durch    Verfütterung    läßt    sich    unter 


18 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


Umständen  leicht  Anaphylaxie  erzeugen,  wenn 
auch  hier  die  Ergebnisse  nicht  so  regelmäßig  und 
prägnant  sind  wie  bei  der  parenteralen  Einver- 
leibung. Immerhin  gelingt  es  leicht  durch  Ver- 
füttern tierischen  Eiweißes  in  größeren  Mengen 
an  Pflanzenfresser,  bei  diesen  die  Symptome  der 
Überempfindlichkeit  hervorzurufen.  Unter  Um- 
ständen können  also  die  Schleimhäute  in  unver- 
letztem Zustande  bei  bestimmten  Versuchsbe- 
dingungen Stoffe  passieren  lassen,  die  Anaphylaxie 
hervorrufen.  Aus  diesem  Grunde  muß  sie  also 
auch  durch  Einatmung  zu  erzeugen  sein,  und  in 
der  Tat  kann  man  beobachten,  daß  Meerschwein- 
chen, die  längere  Zeit  in  Pferdeställen  gehalten 
werden,  gegen  Pferdeeiweis  anaphylaktisch  ge- 
worden sind.  Bekannt  ist  auch  die  Tatsache,  daß 
bei  Asthmatikern  starke  Anfälle  ausgelöst  werden 
können,  wenn  sie  Pferdeställe  betreten  haben.  Es 
müssen  also  in  den  Ställen  kolloide  Pferdeeiweiß- 
substanzen  in  der  Luft  schweben,  die  durch  die 
Schleimhäute  der  Atmungsorgane  ins  Blut  ge- 
langen und  dort  die  Anaphylaxie  hervorrufen 
können.  Auch  das  Heufieber  ist  eine  Krankheit, 
die  auf  Überempfindlichkeit  beruht  und  auf  ähn- 
liche Weise  entsteht. 

Wie  schon  oben  bereits  erwähnt,  ist  die  Größe 
der  Dosis  von  Wichtigkeit.  Zur  Sensibilisierung 
genügen  bereits  die  allergeringsten  Mengen,  bei- 
spielsweise 

0,0 1  mg  Rinderserum 
0,00 1  mg  Pferdeserum 
0,00005  mg  Eiereiweiß  im  kristallisierten  Zustand. 

Für  gewöhnlich  verwendet  man  jedoch  nicht 
diese  kleinen  Dosen,  sondern  wählt  meistens  0,01  ccm 
Serum.  Auch  die  wiederholte  Verabfolgung  ge- 
ringerer Menge  hat  stets  eine  sehr  gute  Wirkung 
(Summierung). 

Zum  Zustandekommen  einer  regulären  Anaphy- 
laxie ist  stets  eine  gewisse  Inkubationszeit  not- 
wendig. Diese  zeigt,  daß  auch  hier  die  engsten 
Beziehungen  zwischen  Immunität  und  Anaphylaxie 
bestehen,  wenn  sich  auch  die  gesamten  Zusammen- 
hänge zur  Zeit  nicht  klar  überblicken  lassen.  In 
diesem  Punkte  finden  sich  aber  auch  Verschieden- 
heiten. Denn  während  die  Immunität  um  so 
später  eintritt,  je  geringer  die  injizierte  Menge  ist, 
tritt  beispielsweise  beim  Meerschweinchen  die 
Überempfindlichkeit  später  ein,  wenn  man  zu  viel 
Pferdeserum  zur  Sensibilisierung  benutzt. 

Mit  den  Immunitätsreaktionen  jedoch  hat  die 
Anaphylaxie  einen  sehr  wichtigen  Punkt  gemein- 
sam, nämlich  den,  daß  sie  sich  auch  auf  andere 
Tiere  leicht  übertragen  läßt.  Wird  beispielsweise 
ein  Hund  gegen  Rinderserum  anaphylaktisch  ge- 
macht, diesem  Tiere  Blut  entzogen,  und  das 
daraus  gewonnene  Serum  einem  anderen  Hunde 
eingespritzt,  so  wird  auch  dieses  neue  Tier  über- 
empfindlich gegen  Rinderserum,  trotzdem  es 
niemals  früher  auch  nur  eine  Spur  Rinderserum 
eingespritzt  bekommen  hat,  es  wird  passiv  ana- 
phylaktisch.    In  Analogie  mit  den  Erscheinungen 


der  Immunität  redet  man  hier  also  von  einer 
aktiven  und  passiven  Anaphylaktisierung. 

Aus  allem  geht  also  mit  Klarheit  hervor,  daß 
körperfremdes  Serum,  das  bei  einer  einmaligen 
Injektion  ohne  jede  Reaktion  ertragen  wurde,  bei 
einer  nochmaligen  Einverleibung  in  denselben 
Organismus  als  Gift  wirken  kann.  Fragen  wir 
uns  aber  nun,  was  denn  eigentlich  der  Haupt- 
bestandteil des  Serums  ist,  so  müssen  wir  uns 
antworten,  daß  es  sich  zum  größten  Teil  um 
Eiweißbestandteile  handelt,  und  diese  werden  es 
jedenfalls  sein,  die  die  besonderen  Symptome  der 
Überempfindlichkeit  hervorrufen.  Und  in  der 
Tat  lehrt  die  weitere  Untersuchung,  daß  jedes 
körperfremde  Eiweiß,  daß  unter  Umgehung  des 
Verdauungsweges  einem  Individuum  einverleibt 
wird,  in  der  Lage  ist  unter  gegebenen  Bedingungen 
Anaphylaxie  hervorzurufen.  Allerdings  müssen 
wir  betonen,  daß  auch  durch  körperfremde  oder 
besser  gesagt  durch  blutfremde  Neutralfette  und 
Lipoide  eine  starke  Überempfindlichkeit  eintreten 
kann,  daß  also  jeder  hochmolekulare  Stoff,  der 
normalerweise  nicht  im  Blute  vorhanden  ist,  fähig 
ist,  Anaphylaxie  eintreten  zu  lassen. 

In  fast  allen  Fällen  aber  handelt  es  sich  um 
Eiweiße,  wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  das  Eiweiß 
wie  im  Serum  ungeformt  ist.  Auch  artfremde 
Zellen  von  Tieren  oder  Pflanzen,  die  als  solche 
gar  nicht  giftig  wirken,  können  die  Überempfind- 
lichkeit eintreten  lassen.  So  auch  die  Bakterien. 
Auf  diese  Weise  läßt  es  sich  verstehen,  daß 
Bakterien,  die  an  und  für  sich  dem  Körper  gegen- 
über völlig  indifferent  sind  und  keinerlei  Krank- 
heitserscheinungen auftreten  lassen,  doch  unter 
nicht  klar  erkennbaren  Voraussetzungen  plötzlich 
stark  giftig  wirken  und  vielleicht  gar  den  Tod  des 
Tieres  hervorrufen  können.  Hier  wirken  die 
Bakterien  als  solche  gar  nicht  giftig,  sondern  das 
Individuum  ist  nur  gegen  die  fremden  Zellen  wie 
gegen  jede  beliebige  andere  überempfindlich  ge- 
worden und  erliegt  nun  dem  anaphylaktischen 
Schock.  Nach  neueren  Untersuchungen,  vor  allem 
durch  Pfeiffer  und  Wolff-Eisner,  hat  sich 
ferner  die  interessante  Tatsache  gezeigt,  daß  sogar 
Zellen  des  eigenen  Körpers,  so  Zellen  der  Leber, 
Niere,  Hoden,  Gehirn  und  Linse,  eine  starke  Über- 
empfindlichkeit eintreten  lassen  können,  wenn  sie 
in  die  Blutbahn  gelangen.  Aus  diesem  Grunde 
ist  auch  das  oben  Erwähnte  leichter  anzunehmen, 
daß  zur  Anaphylaktisierung  alle  normalerweise 
nicht  im  Blute  vorhandenen  Stoffe  wirksam 
sein  können,  denn  die  erwähnten  Zellen  bedeuten 
ja  nichts  Artfremdes,  wohl  aber  Blutfremdes,  denn 
für  gewöhnlich  kommen  derartige  Zellen  nicht  in 
den  Blutkreislauf  hinein. 

Eine  vollkommen  befriedigende  Erklärung  für 
die  gesamten  Phänomene  der  Anaphylaxie  hat  sich 
bisher  noch  nicht  finden  lassen,  nur  das  eine  ist 
bisher  sicher,  daß  die  allerengsten  Zusammenhänge 
zwischen  Immunität  und  Überempfindlichkeit  be- 
stehen. Da  nun  die  Anaphylaxie  meist  etwas 
Schädliches  und  Ungünstiges  darstellt,  die  Immu- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


ly 


nität  aber  gerade  das  Gegenteil,  so  nennt 
V.  Pirquet  jede  Änderung  der  Reaktionsart  eines 
Organismus,  die  durch  Einverleibung  eines  Antigens 
bewirkt  wird,  Allergie.  Unter  Algergie  würde 
man  also  anders  geartete  Reaktionen  verstehen, 
und  diese  könnte  man  einteilen  in  prophylaktische 
und  -anaphylaktische.  Welcher  Art  aber  diese 
Zusammenhänge  zwischen  Immunität  und  Ana- 
phylaxie sind,  ist  noch  nicht  geklärt. 

Wenngleich  auch  diese  Fragen  zurzeit  noch 
als  ungelöst  angesehen  werden  müssen,  so  ist 
dennoch  die  Lehre  von  der  Anaphylaxie  bereits 
von  großer  Wichtigkeit  in  der  gesamten  Biologie 
der  Krankheiten  geworden.  Eine  große  Rolle 
scheint  die  Überempfindlichkeit  bei  den  Pocken, 
den  Masern,  dem  Scharlach,  bei  Tuberkulose, 
Syphilis  und  anderen  Infektionskrankheiten  zu 
spielen.  Die  Serumkrankheit,  die  ausschließlich 
durch  Behandlung  mit  Seren  entsteht,  ist  die  ty- 
pischste Anaphylaxie,  auch  die  gesamten  Idio- 
synkrasien und  das  oben  erwähnte  Heufieber.  Bei 
allen  hier  erwähnten  Krankheitsbildern  handelt  es 
sich  um  solche,  die  durch  artfremde  Stoffe  erzeugt 
werden.  Wie  wir  aber  sahen,  ist  es  auch  mög- 
lich, daß  körpereigene  Zellen,  die  dem  Blute 
fremd  sind ,  Überempfindlichkeit  erzeugen  kön- 
nen. Dies  tritt  stets  dann  ein,  wenn  irgendwo 
im  Körper  eigene  Zellen  abgebaut  werden,  so 
unter  anderm  bei  der  Eklampsie.  Hierbei  dringen 
Zotten  der  Plazenta,  die  an  sich  ungiftig,  dem 
Blute  aber  fremd  sind,  in  den  Kreislauf  ein,  und 
es  kommt  zu  einer  Immunkörperbildung.  Bei 
einem  erneuten  Eindringen  kommt  es  sodann  zu 
einem  plötzlichen,  schnell  einsetzenden  Abbau, 
und  die  hierbei  freiwerdenden  Eiweißbausteine 
rufen  die  Erscheinungen  der  Eklampsie  hervor. 
Auch  die  Urämie  gehört  hierher. 

Die  größte  praktische  Bedeutung  jedoch  ge- 
wann die  Lehre  von  der  Anaphylaxie  durch  die 
Tuberkulindiagnostik,  die  immer  mehr  an  Aus- 
dehnung gewinnt.  Je  nach  der  Anwendungsart 
und  den  Erscheinungen  kann  man  folgende  Ein- 
teilung vornehmen: 

1.  Allgemeinreaktion. 

2.  Herdreaktion. 

3.  Örtliche  Reaktion. 

a)  Hautprobe. 

b)  Unterhautprobe. 

c)  Quaddelprobe. 

d)  Einreibungsprobe. 

e)  Augenprobe. 

f)  Ohrenprobe. 

Es  gibt  zurzeit  eine  Anzahl  der  verschieden- 
sten Tuberkuline,  die  aber  im  wesentlichen  alle 
auf  das  von  Robert  Koch  entdeckte  Alttuber- 
kulin  zurückgehen.  Dieses  wird  derart  hergestellt, 
daß  4 — 6  Wochen  alte  Reinkulturen  von  Tuberkel- 
bazillen, die  auf  5  "/(,  Glyzerinbouillon  gewachsen 
sind,  filtriert  werden,  und  daß  das  Filtrat  durch 
Kochen  auf  ^|^^,  des  ursprünglichen  Volumens 
eingedickt  wird.  Es  ergibt  sich  eine  sirupartige 
dunkelbraune  Flüssigkeit,  die  unbegrenzt  haltbar  ist. 


Wir  wenden  uns  nun  zu  den  einzelnen  Reak- 
tionen. Die  Allgemeinreaktion  besteht  aus  Un- 
wohlsein, Kopfschmerzen,  Schlaflosigkeit,  Übel- 
keit, Hustenreiz,  Herzklopfen  und  vor  allem  aus 
Fieber.  Dieses  ist  das  konstanteste  Symptom 
und  gibt  den  Ausschlag  bei  der  Auswertung  der 
Probe.  Sie  ist  selbstverständlich  nicht  anwend- 
bar, wenn  bereits  Fieber  besteht.  Ist  solches 
nicht  vorhanden,  so  gibt  man  ^j.,  mg  Tuberkulin 
unter  die  Haut.  Tritt  kein  Fieber  ein,  so  steigt 
man  nach  einiger  Zeit  anf  i  mg  und  weiter  auf 
5  und  10  mg.  Eine  Temperatursteigerung  von 
0,5"  gilt  bereits  als  positiver  Ausfall. 

Parallel  zu  dieser  Allgemeinreaktion  geht  die 
Herdreaktion,  die  sich  darin  äußert,  daß  bei  sicht- 
baren Herden,  so  bei  Lupus,  bei  Iris-  und  Larynx- 
tuberkulose  entzündungsähnliche  Vorgänge  nach- 
zuweisen sind.  Auch  in  der  tuberkulösen  Lunge 
zeigen  sich  Herdreaktionen,  die  sich  durch  Auf- 
treten von  Rasseln,  durch  Steigerung  pathologi- 
scher Auskultationsphänomene  u.  a.  kundgeben. 
Häufig    treten    auch    stärkere  Brustschmerzen  auf. 

Viel  wichtiger  jedoch  sind  die  örtlichen  Reak- 
tionen, da  sie  stets  ein  viel  klareres  Bild  ergeben. 

Die  Hautprobe,  die  von  v.  P  i  r  q  u  e  t  entdeckt 
wurde ,  besteht  in  folgendem :  Im  Abstände  von 
etwa  10  cm  bringt  man  auf  die  gereinigte  Haut 
des  Unterarms  2  Tropfen  konzentriertes  Alttuber- 
kulin  und  ruft  mittels  eines  Impfbohrers  zuerst 
zwischen  den  beiden  Tropfen  und  dann  unter 
jedem  derselben  eine  schwache  Verletzung  der 
Haut  hervor.  An  allen  diesen  drei  Stellen  ent- 
steht eine  kleine  Quaddel,  die  von  einem  rosa 
gefärbten  Hof  umgeben  ist,  bis  nach  einigen 
Stunden  nur  noch  ein  kleiner  Schorf  zurückbleibt, 
der  rötlich  umrandet  ist.  Von  dieser  „traumati- 
schen Reaktion",  die  bei  Nichttuberkulösen  ein- 
tritt, unterscheidet  sich  die  „spezifische"  Reaktion 
dadurch,  daß  sie  nur  bei  den  mit  Tuberkulin  in 
Berührung  gekommenen  Stellen  auftritt  und  daß 
eine  rote  Papel  entsteht,  die  schnell  größer  wird 
und  einen  Durchmesser  von  10 — 30  mm  gewinnen 
kann.  Nach  48  Stunden  ist  ein  Maximum  erreicht, 
und  die  Reaktion  klingt  allmählich  ab,  doch  kann 
leicht  eine  Pigmentierung  der  Impfstelle  zurück- 
bleiben. Die  Stichprobe  wird  in  ähnlicher  Weise 
ausgeführt,  nur  wird  mit  einem  Impfbohrer  bis  in 
tiefere  Hautschichten  eingegangen. 

Mendel  und  Mantoux  haben  zuerst  die 
Quaddelprobe  oder  Intrakutanreaktion  angewandt. 
Bei  tuberkulös  infizierten  Individuen  entstehen 
hierbei  schon  bei  geringfügigen  Verdünnungen 
stark  entzündliche  Infiltrate.  Das  Tuberkulin  wird 
in  0,1  ccm  Flüssigkeit  in  die  straff  gespannte 
Haut  gespritzt,  worauf  sich  eine  Quaddel  bildet, 
deren  Größe  man  messen  kann. 

Dies  Verfahren  ist  von  Deyke  und  Much 
derart  modifiziert  worden,  daß  sie  den  Tuberkel- 
bazillus in  vier  Partialantigene  zerlegt  haben. 
Diese  Partialantigene  sind  aus  dem  Tuberkel- 
bazillus durch  Einwirkung  von  Milchsäure  ge- 
wonnene Präparate,  die  getrennt   benutzt  werden 


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Die  vier  Partialantigene  sind  folgende: 

1.  Wasserlösliches  Partigen  (L.)  =  Reintuber- 
kuiin. 

2.  Rückstandspartigene  (R.). 
a)  Eiweiß  (A.). 

bj  Fettsäure  -j-  Lipoide  (F.). 
c)  Neutralfett -|- Fett-  oder  Wachsalkohol  (N.). 
Das  wasserlösliche  Partigen  (L.)  wird  von 
Much  und  Deyke  fortgelassen,  da  es  nach 
ihrer  Annahme  die  Immunisierung  ungünstig  be- 
einflußt, vielmehr  wird  muteis  der  Hauireaktion 
die  lokale  Immunität  gegen  die  Rücksiandsparti- 
gene  einzeln  geprüft,  da  sich  wesentliche  Unter- 
schiede gegen  die  einzelnen  Pariigene  erkennen 
lassen.  Die  tiweißgruppe  (A.)  pflegt  die  stärkste 
Reaktion  hervorzurufen,  am  schwächsten  ist  die 
Reaktionsfähigkeit  gegen  das  Ncutralfett.  So 
pflegen  zu  reagieren 

Eiweiß  in  Verdünnungen  von  i :  i  Mill. —  I :  lOOOO  Mill. 
Fettsäuiein        „  „     i :  loco  — i :  lo  MiU. 

Neutralfett  in     „  „     i:iOJO — i:i  Mill. 

Die  Reaktionen  bleiben  verschieden  lange  Zeit 
sichtbar,  so  die  der  Neuiralfette  3 — 4  Tage,  der 
Fettsäuren  3 — 7  Tage  und  der  Eiweiße  3 — 4  Tage. 
Abgelesen  wird  die  Reaktion  meistens  am  3.  Tage. 

Eine  andere  Reaktion  fanden  JMoro  und  Do- 
ganoff,  die  Salbenreaktion,  bei  der  eine  50proz. 
Tuberkulin-Lanolinsalbe  auf  einer  kleinen  Stelle 
der  Bduchhaut  verrieben  wird.  Im  positiven  Falle 
kommt  es  zum  Aultreten  knötchenförmiger  Ef- 
floreszenzen,  bei  denen  man  je  nach  Zahl  und 
Größe  verschiedene  Grade  des  Ausfalls  unter- 
scheidet. Eine  ähnliche  Beobachtung  machten 
Berger  und  Lignieres,  die  bei  peilsüchtigen 
Rindern  konzentriertes  Alttuberkulin  auf  die 
rasierte  Bauchhaut    brachten    und    dort    verrieben. 

Eine  der  wichtigsten  IVlethoden  zur  Erkennung 
der  Tuberkulose  ist  zweifellos  die  Ophthalmo- 
reaktion oder  die  Augenprobe  geworden.  Diese 
Wolff  -  Eisner  sehe  Augenprobe  wird  jetzt 
meistens  folgendermaßen  veranstaltet.  Der  Patient 
erhält  zunächst  einen  Tropfen  2  proz.  Tuberkulins 
in  das  eine  Auge  geträufelt.  Stets  wird  das  Alt- 
tubetkulin  der  Höchster  Farbwerke  verwendet,  da 
nur  dieses  einwandsfreie  Resultate  ergibt.  Der 
Tropfen  darf  nicht  sofort  wieder  ausgepreßt  werden 
sondern  muß  direkt  in  den  Bindehautsack  ge- 
langen. Schon  nach  etwa  12 — 24  Stunden  tritt 
bei  Tuberkulösen  eine  deutliche  Reaktion  auf,  die 
von    einer    leichten    Rötung    der    Innenseite    des 


unteren  Lides  zu  einer  sehr  starken  Bindehaut- 
entzündung und  anderen  stärkeren  Erscheinungen 
anwachsen  kann.  Fieber  tritt  nie  auf,  und  die 
Reaktionen  klingen  sehr  schnell  wieder  ab.  Zur 
Kontrolle  wird  stets  das  andere  Auge  herange- 
zogen, und  man  muß  sich  daher  vorher  verge- 
wissern, daß  in  bezug  auf  Färbung  keine  Diffe- 
renzen bei  beiden  Augen  zu  beobachten  sind. 
Auch  bei  allen  Augenkrankheiten  darf  diese  Me- 
thode nicht  Anwendung  finden. 

Gibt  nun  der  Patient  eine  positive  Reaktion, 
so  handelt  es  sich  in  fast  allen  Fällen  sicher  um 
eine  aktive  Tuberkulose,  will  man  jedoch  ganz 
sicher  gehen,  so  erhalt  der  Kranke  nach  dem 
Verschwinden  der  ersten  Symptome  in  das  andere 
Auge  zur  Kontrolle  noch  einen  Tropfen  i  proz. 
Alttuberkulin.  Ist  die  erste  Reaktion  aber  nega- 
tiv, so  gibt  man  meist  in  das  andere  Auge  einen 
Tiopfen  4  proz.  Alttuberkulin,  und  wenn  auch  hier 
die  Probe  negativ  war,  so  ist  Tuberkulose  mit 
der  größten  Sicherheit  auszuschließen.  An  Stelle 
der  Tuberkulinverdünnungen  kann  man  sich  vorteil- 
haft auch  einer  Tuberkulinsalbe  bedienen. 

Über  die  Ohrenprobe  Tedeschis  sind  die 
Ansichten  zur  Zeit  noch  sehr  geteilt. 

In  Analogie  zu  dem  Alttuberkulin  sind  aus 
den  Bazillen  des  Rotzes  das  Mallein  und  aus  den 
Kulturen  von  Trichophyton  (Erreger  der  Bart- 
flechte) das  Trichophytin  hergestellt  worden.  Be- 
sonders das  Maliern  hat  in  der  veterinärärztlichen 
Praxis  eine  große  Bedeutung  gewonnen.  Auch 
die  Luetinreaktion,  die  zur  Erkennung  der  Spät- 
formen der  Syphilis  Verwendung  findet,  beruht 
auf  ähnlichem  Prinzip.  In  allen  P allen  handelt  es 
sich  um  die  Überempfindlichkeitsreaktion  des 
Körpers,  der  gleichsam  durch  seine  Krankheit  mit 
dem  spezifischen  Gifte  sensibilisiert  worden  ist. 

Dadurch  nun,  daß  man  biologische  Vorgänge, 
die  dem  Körper  eigentlich  schädlich  und  gefähr- 
lich sind,  dazu  verwendet,  um  Krankheiten  zu  er- 
kennen, zeigt  sich  wieder  einmal,  wie  der  forschende 
Geist  immer  tiefer  in  die  Natur  einzudringen  sucht 
und  sich  auch  die  gefährlichsten  Mächte  dienstbar 
macht,  selbst  wenn  er  sie  und  ihre  Natur  noch 
nicht  genau  kennt. 

Wichtigste  Literatur: 

Friedberger,  Die  Anaphylaxie  in:  Kraus  und  Brugscli 
Handbuch  der  speziellen  Palh.  und  Therapie  Bd.  I.  Berlin- 
Wien   1919. 

Much,  Pathologische  Biologie.     Leipzig   1920. 

Riebet,   Die  Anaphylaxie.     Leipzig   1920. 


Über  Fragen  der  Aberration  und  Lichtausbreitung.') 

[Nachdruck  verboten.  1  Von  K.  Vogtherr,  München. 

Der  für  die  Physik   des  Äthers  scheinbar   un-       

lösbare   Widerspruch    zwischen    der    Tatsache    der  ')  Nachstehende  Betrachtungen    dienen   als  Ergänzung  zL 

Aberration      und     dem     experimentell     ermittelten  de.«  von  iiiir  in  Nr.  27,   1921,  dieser  Zeitschrift  veröffemhchten 

\r^,    ,,j          lu           .                             r,          r-         I  Aufsatze;    ,,Uber  die  Kosmischen  BcwepuBPen  des  Aihcrs".    Die 

Vorgang    der    Lichtausbreitung    auf    der    Erdober-  dort  gegebene  Darstellung    ist    dahin    zu  berichtigen,    daß  au. 

Hache  hat  bekanntlich  eine  revolutionäre  Bewegung  die  angenommene  Rotationsbewegung  des  Äthers  ein  Sonnen- 


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hervorgerufen ,  die  ohne  Scheu  auch  die  bisher 
regierenden  Häupter  der  physikalischen  Begriffe 
für  abgesetzt  erklärt  und  immer  mehr  die  Herr- 
schaft über  alle  Gebiete  der  Physik  an  sich  zu 
reißen  sucht.  Da  jedoch  die  Relativitätstheorie, 
wie  uns  dünkt,  trotz  ihres  glänzenden  mathemati- 
schen Gewandes  nicht  frei  von  logischen  oder 
erkenntnistheoretischen  Mängeln  ist,  so  kann  der 
Gedanke  nicht  zur  Ruhe  kommen,  daß  auch  auf 
Grundlage  der  bisherigen,  Raum  und  Zeit  betreffen- 
den Prinzipien  eine  Lösung  irgendwie  möglich 
sein  muß.  Freilich  wird  sich  die  alles  umwälzende 
Revolution  wohl  nur  dann  vermeiden  und  die 
Bewegung  in  geordnete  Bahnen  lenken  lassen, 
wenn  man  sich  rechtzeitig  zu  Konzessionen  an 
die  Erfordernisse  einer  neuen  Zeit  verstehen  will, 
d.  h.  in  den  grundlegenden  Anschauungen  über 
das  Wesen  des  Lichts  den  neuen  Beobachtungen 
entsprechende  Änderungen  vornimmt. 

Wir  wollen  im  folgenden  versuchen,  aus  den 
bis  jetzt  vorliegenden  Beobachtungen  und  daraus 
gewonnenen  Anschauungen  einige  einfache  Folge- 
rungen hinsichtlich  der  Lichtausbreiiung  im  be- 
wegten Medium  zu  ziehen.  Welche  mathemati- 
schen Konsequenzen  diese,  wie  uns  scheint,  nahe- 
liegenden und  der  Gesamtheit  der  Beobachtungen 
am  ungezwungendsten  Rechnung  tragenden 
Schlüsse  ergeben  würden,  muß  allerdings  zunächst 
unentschieden  bleiben.  Dabei  wollen  wir  an  der  Vor- 
stellung festhalten,  daß  das  Licht  auf  wellenartiger 
Fortpflanzung  von  Schwingungen  beruht,^)  und  dies 
erfordert  mit  logischer  Notwendigkeit  ein  Medium, 
den  Äther,  da  der  leere  Raum  nicht  in  Schwin- 
gungen geraten  kann.  Daß  der  Äther  existiert, 
geht  aus  dem  bekannten  Versuch  von  Sagnac 
hervor,  dessen  Ergebnis  in  zwei  Abhandlungen 
veröffentlicht  wurde,  die  die  bezeichnenden  Titel: 
„L'ether  lumineux,  demontre  par  l'effet  du  vent 
relatif  d'ether"  und  „Sur  la  preuve  de  la  realite 
de  l'ether  lumineux"  tragen  (Compt.  rend.  157, 
708  u.  1410,  1913). 

In  diesem  Versuch  zeigt  sich  nämlich  ein 
Agens  wirksam,  das  die  Lichtgeschwindigkeit  von 
der  Bewegung  der  Lichtquelle  unabhängig  macht. 
Da  andererseits  der  Mich elson versuch  ergab, 
daß    die    Lichtgeschwindigkeit    relativ    zur    Erde 


System  die  Stokessche  Aberrationstheorie  nicht  ange- 
wandt werden  l^ann,  denn  diese  erfordert  eine  Drehung  der 
Wellenfront  um  den  Aberrationswinkel,  während  eine  solche 
Drehung  für  einen  beispielsweise  vom  Pole  der  Ekliptik  kommen- 
den Licbt'itrahl  nicht  erfolgen  kann.  Dieser  würde  vielmehr 
nahezu  senkrecht  durch  parallel  zueinander  bewegte  Äther- 
schichten dringen,  welche  in  der  Richtung  des  Lichtstrahls 
keine  Drehung  aufweisen.  Die  zitierien  Äußerungen  von 
Lodge  beziehen  sich  entgegen  dem  Wortsinn,  wie  aus  dem 
Zusammenhang  seiner  Darstellung  hervorgeht,  auf  den  als 
Ganzes  gleichmäßig  bewegten  Äther,  wa^  bedauerlicherweise 
übersehen  wurde.  In  folgendem  soll  versucht  werden ,  die 
dort  fehlende  Aberrationsetklärung  zu  geben. 

■)  Wir  lassen  hier  die  Lichtquantenhypothese  zunächst 
unbeiücksichtigt,  welche  ja  nicht  notwendig  der  Wellentheorie 
widerspricht  (vgl.  P.  Lenard:  „Über  Relativitätsprinzip, 
Äther  usw."  1920,  S.  27),  jedoch  zurzeit  noch  wenig  geklärt 
erscheint. 


unabhängig  von  deren  Bewegung  im  Räume  ist, 
so  folgt  aus  beiden  Versuchen  als  die  unge- 
zwungenste Annahme  die,  daß  Erde  und  Erdäther 
zusammen  den  gleichen  oder  nahezu  gleichen  Be- 
wegungszustand haben,  d.  h.  daß  der  Äther  rela- 
tiv zur  Erde  und  Erdatmosphäre  nahezu  oder 
völlig  ruht. 

Dem  scheint  jedoch  bekanntlich  die  Aberration 
zu  widersprechen.  Nun  hat  F.  Hasenöhrl  schon 
1904  gezeigt,  daß  ein  gewisser  Kraftaufwand  nötig 
ist,  um  die  in  einem  Hohlraum  eingeschlossene 
strahlende  Energie  in  Bewegung  zu  setzen  oder 
ihren  Bewegungszustand  zu  ändern.*)  Man  hat 
daraus  bekanntlich  auf  eine  „scheinbare  Masse" 
oder  „scheinbare  Trägheit"  der  strahlenden  Energie 

E 
geschlossen,  wobei  die  Beziehung  M=-y  besteht. 

Sind  diese  Folgerungen  richtig,  so  muß  auch  dem 
Lichtstrahl  infolge  der  ihm  innewohnenden  Energie 
scheinbare  Masse  und  Trägheit  zukommen  und  er 
würde  dadurch  in  mancher  Beziehung 
ähnliche  Eigenschaften  erhalten,  wie  sie 
ihm  die  Emissionstheorie  seinerzeit 
beilegte.  Die  Tatsache  der  Interferenz,  der 
Unabhängigkeit  der  Lichtgeschwindigkeit  von  der 
Bewegung  der  Lichtquelle  und  die  ohne  Störung 
erfolgende  gegenseitige  Durchdringung  der  von 
den  verschiedensten  Punkten  des  Raums  aus- 
gehenden Lichtstrahlen  nötigt  jedoch  unter  allen 
Umständen,  an  der  Wellennatur  des  Lichts  fest- 
zuhalten. Die  daraus  sich  ergebende  Schwierig- 
keit erscheint  jedoch  nicht  unüberwindbar,  wenn 
man  bedenkt,  daß  ja  nur  an  den  Stellen  des 
Raums  Masse  sein  kann,  wo  elektromagnetische 
Energie  ist.  Legt  man  die  den  elektromagnetischen 
Kräften  innewohnende  Polarität  und  Richtung 
auch  der  Masse  im  Äther  bei,  so  daß  „negative" 
und  „poshive"  Lichtmasse,  welche  getrennt  jede 
für  sich  träge  Masse  ist,  wo  sie  in  gleichem  Be- 
trage und  in  gleicher  Richtung  zusammentreffen,  sich 
ebenso  aufheben,  wie  die  entgegengesetzt  ge- 
richteten dielektrischen  und  magnetischen  Polari- 
sationen im  Äther,  so  lassen  sich  Emissions-  und 
Undulationstheorie  offenbar  einander  näher  bringen. 
Wie  Licht  zu  Licht  gefügt  unter  Umständen 
Dunkelheit  ergibt,  so  kann  dann  auch  Masse  zu 
Masse  gefügt  die  Masse  Null  ergeben,  wobei  je- 
doch ebenso  wie  der  Satz  von  der  Erhaltung  der 
Energie  auch  der  von  der  Erhaltung  der  Masse 
gewahrt  bleibt.  Man  darf  daher  erwarten,  daß 
das  Licht  ungeachtet  seiner  Wellennatur  sich  in 
mancher  Beziehung  wie  ein  fortge- 
schleuderter Stoff  verhält. 

Stellen  wir  unter  diesem  Gesichtspunkt  die 
Frage:  wie  verläuft  ein  Wellenzug,  der  aus  ruhen- 

')  Wien.  Akad.  113,  1039,  1904  und  Starks  Jahrb.  6, 
485,  190g.  Die  Vorstellung  von  einer  Art  Tiiigheit  der  Energie 
kann  also  auch  unabhängig  von  den  Gedankengangen  der 
Relativitätstheorie  gewonnen  werden.  Auch  G.  N.  Lewis 
kommt  zu  einer  Ableitung  obiger  Formel  aus  dem  Strahlungs- 
druck, ohne  auf  die  Relaiiviiätstheotie  Bezug  zu  nehmen  (siehe 
Phil.  Mag.  16,  705,   1908). 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


dem  in  bewegten  Äther  eintritt,  so  ergibt  sich 
eine  doppelte  Möglichkeit:  der  Wellenzug  kann 
vom  Äther  sofort  im  vollen  Betrage  seiner  Be- 
wegung mitgenommen  werden,  wie  es  die  Wellen- 
theorie bisher  annahm,  er  kann  aber  auch  seiner 
Korpuskularnatur  und  derihminnewohnendenTräg- 
heit  entsprechend  seine  geradlinige  Fort- 
pflanzung in  Richtung  und  Geschwindig- 
keit wenn  überhaupt,  so  erst  allmä  hlich 
dem  Bewegungszustand  des  Äthers  an- 
passen, wie  es  der  Emissionstheorie  entsprechen 
würde.  Er  verhält  sich  dann  ähnlich  wie  ein  sich  aus 
eigener  Kraft  im  Wasser  bewegendes  Torpedo, 
das  in  eine  Strömung  von  geänderter  Geschwindig- 
keit oder  Richtung  eintritt.  Welche  von  beiden 
Möglichkeiten  tatsächlich  vorliegt,  kann  nur  die 
Erfahrung  lehren  und  die  Beobachtung  der 
Aberration  lehrt,  daß  das  letztere  Ver- 
halten stattfindet.  Nehmen  wir  nämlich 
entsprechend  den  Experimenten  an,  daß  der  Äther 
in  der  Erdatmosphäre  mitbewegt  ist,  und  ferner, 
daß  die  Mitführung  des  Lichtstrahls  durch  den 
Zither  in  der  kurzen  zur  Durchdringung  der  Erd- 
atmosphäre benötigten  Zeit  (ca.  Vinoo  Sek.),  zu 
geringfügig  ist,  um  sich  in  einer  Verkleinerung  des 
Äberrationswinkels  bemerkbar  zu  machen,  so 
ergibt  sich  aus  der  Trägheit  der  strah- 
lenden Energie  die  Aberration  im  be- 
wegten Äther. 

Im  Lichtstrahl  ist  also  mit  Lichtgeschwindig- 
keit bewegte  Masse  vorhanden,  aber  Masse  von 
anderer  vielseitigerer  Art,  als  sie  uns  von  der 
gewöhnlichen  Materie  her  bekannt  ist,  in  welcher 
sie  nach  allen  Richtungen  die  gleiche  Eigenschaft 
hat.  Denn  die  elektromagnetische  und  Lichtmasse 
im  freien  Äther  besitzt  ebenso  wie  die  elektrischen 
und  magnetischen  Kräfte  in  ihm  die  Eigenschaft 
der  Polarität  und  Richtung;  nur  dadurch  verträgt 
sie  sich  ja  mit  der  Undulationstheorie,  indem  sie 
die  Ausbildung  und  den  Verlauf  der  Wellen  in 
keiner  Weise  stört  und  indem  je  nach  der  Energie- 
verteilung im  Räume  entsprechend  Masse  vor- 
handen ist.  Wegen  der  Wellennatur  des  Lichts 
kann  also  der  bewegte  Lichtstoff  keine  gewöhn- 
liche Masse  sein,  welche  sich  stets  in  einfacher 
Weise  addiert  und  dadurch  eine  ungestörte 
wechselseitige  Durchdringung  der  Lichtstrahlen, 
Interferenz,  Beugung  und  Polarisation  unmöglich 
machen  würde.  Wenn  nun  der  Lichtmasse  Vor- 
zeichen und  Richtung  zugesprochen  werden 
müssen,  ebenso  wie  den  elektrischen  und  ma- 
gnetischen Kräften,  denen  sie  ihr  Dasein  verdankt, 
so  bezieht  sich  dies  zunächst  nur  darauf,  daß  die 
Lichtmasse  als  Masse  im  Äther  sich  nicht  in  ein- 
facher Weise,  sondern  entsprechend  ihren  Vor- 
zeichen und  Richtungen  in  geometrischer 
Weise  addiert;  aber  es  ist  eine  naheliegende 
Annahme,  daß  sie  dann  überhaupt  nur  in 
bestimmten  Richtungen  vorhanden, 
d.  h.  als  Widerstand  gegen  Bewegungs- 
änderung wirksam  ist.  Nun  zeigt  sich  in 
der  Tat,   daß   wir   gerade   auf  Grund  dieser  Vor- 


stellungen    einer    Erklärung     der    Erscheinungen 
näher  kommen  können. 

Wir  machen  zu  diesem  Zwecke,  indem  wir 
die  Möglichkeit  kosmischer  Bewegungen  des 
Äthers  voraussetzen,  folgende  Annahme:  Im 
Äther  hat  das  Licht  wohl  in  den  Richtungen 
der  Wellenebene  Masse,  also  transversale 
Masse,  wie  die  Aberration  zeigt,  in  der  Längs- 
richtung, d.  h.  in  der  Richtung  der  Wellennor- 
male jedoch  keine,  oder  nur  dann  Masse,  wenn 
die  Geschwindigkeit  des  Lichts  relativ  zum  Äther, 
in  dem  es  läuft,  größer  oder  kleiner  wird,  als  die 
gewöhnliche  konstante  Lichtgeschwindigkeit  c, 
welche  Licht  in  „ruhendem"  Äther  zeigt.  In 
diesem  Falle  wird  der  Widerstand  des  Äthers 
gegen  die  Bewegung  der  Lichtmasse  die  Diffe- 
renz allmählich  ausgleichen  und  wieder  konstantes 
c  herstellen,  wobei  die  longitudinale  Masse 
zum  Verschwinden  gebracht  wird.  Diese  An- 
nahme einer  fehlenden  oder  nur  temporär  vor- 
handenen longitudinalen  Lichtmasse  ist  deshalb 
notwendig,  weil  ohne  sie  die  Geschwindigkeit  des 
Lichts  bei  seiner  Bewegung  durch  den  Äther  ent- 
weder durch  dessen  Widerstand  eine  allmähliche 
Abnahme  bis  auf  Null  erführe,  oder,  wenn  man 
keinen  solchen  Widerstand  annimmt,  dauernd  un- 
veränderlich bliebe,  d.  h.  dauernd  konstantes  c 
relativ  zu  dem  die  Lichtquelle  umgebenden 
Äther  beibehielte,  auch  wenn  das  Licht  in  Äther 
von  in  der  Fortpflanzungsrichtung  verändertem 
Bewegungszustand  übertritt.  Letzterem  wider- 
spricht aber  die  Beobachtung  an  Doppelsternen, 
wenn  man,  wie  wir  es  tun,  als  Folgerung  aus 
dem  Michelson-  und  dem  S a g n a  c  versuch 
annimmt,  daß  wie  mit  der  Erde,  so  auch  mit  den 
Fixsternen  der  Äther  der  Umgebung  oder  der 
Atmosphäre  mitbewegt  sei.  Es  ergibt  sich  also 
die  Möglichkeit,  entweder  überhaupt  keine  longi- 
tudinale, d.  h.  in  der  Fortpflanzungsrichtung  vor- 
handene Lichtmasse  anzunehmen,  wobei  dann  in 
dieser  Richtung  die  Lichtgeschwindigkeit  relativ 
zum  umgebenden  Äther,  auch  bei  Änderung  der 
Bewegung  desselben  stets  konstant  bleibt,  also 
mit  der  Bewegung  des  Äthers  unmittelbar  Schritt 
hält,  oder  eine  nur  zeitweilig  auftretende  longi- 
tudinale Lichtmasse,  welche,  sobald  der  Wider- 
stand des  Äthers  die  ihm  gegenüber  in  der  Fort- 
pflanzungsrichtung vorhandene  Relativbewegung 
der  Polarisationen  aufgehoben  hat,  mit  dieser  zu- 
gleich verschwindet. 

>;_  Diese  Eigenschaft  der  Lichtmasse,  nur  Masse 
in  den  Richtungen  der  Wellenebene  zu  sein  (und 
nur  unter  bestimmten  Umständen  vielleicht  auch 
in  der  Richtung  der  Wellennormale)  gilt  jedoch 
nur  gegenüber  dem  Äther.  Denn  bei 
Spiegelung  und  Absorption  erzeugt  ja  die  Licht- 
masse den  Strahlungsdruck  und  wir  müssen  daher 
annehmen,  daß  sie  sich  beim  Auftreffen  auf 
gewöhnliche  Materie  wie  gewöhnliche 
Masse  verhält,  d.  h.  nach  allen  Richtungen 
gleichen  Widerstand  gegen  Bewegungsänderungen 
äußert. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zu  einer  analogen  Erklärung  gelangt  man, 
wenn  man  nicht  die  Eigenschaft  der  Lichtenergie, 
Masse  zu  sein  als  je  nach  der  Orientierung  zur 
Wellenebene  verschieden  ansieht,  sondern  dem 
Widerstand  des  Äthers  gegen  die  Bewegung  der 
Lichtmasse  eine  den  Umständen  entsprechende 
Verschiedenheit  beilegt.  Man  kann  dann  etwa 
folgendermaßen  argumentieren ; 

Auf  die  Erage:  hat  ein  ruhender  oder  gleich- 
förmig-geradlinig ohne  Aufwand  von  Kräften  oder 
Energieverbrauch  bewegter  Körper,  Masse,  solange 
er  in  dieser  Bewegung  beharrt?  —  können  wir  ant- 
worten: wir  wissen  es  nicht,  denn  als  Wider- 
stand gegen  Bewegungsänderung  kann  die  Masse 
in  diesem  Falle  nicht  in  Erscheinung  treten.  So 
wird  auch  die  Masse  des  Lichts  nur  manifest  als 
ein  Widerstand  gegen  Bewegungsänderung  des- 
selben, welche  von  selten  des  Äthers  oder  von 
festen  Körpern  beim  Auftreffen  auf  diese  verur- 
sacht wird.  Dagegen  tritt  sie  nicht  in  Erschei- 
nung bei  dem  gleichmäßigen  Fortschreiten  der 
Lichtausbreitung  in  ruhendem  oder  gleichförmig 
bewegtem  Äther  (so  wenig  als  die  Masse  eines 
ohne  Einwirkung  von  Kräften  gleichförmig- gerad- 
linig bewegten  Körpers),  weil  dies  eine  Aus- 
breitung ohne  Widerstand,  ohne  Energieverbrauch, 
ohne  innere  Reibung  ist. 

Der  Äther  leistet  also  nur  Widerstand  gegen 
eine  Bewegung  des  Lichts,  welche  als  Folge  von 
dessen  Masse  in  Erscheinung  tritt,  d.  h.  gegen 
eine  Bewegung,  bei  welcher  Äther  und  Licht- 
wellen eine  Relativbewegung  gegeneinander  be- 
kommen; nicht  aber  gegen  die  gleichmäßige  Aus- 
breitung des  Lichts  in  ruhendem  Äther,  für  welche 
kein  Energieaufwand  erforderlich  ist.  Anstatt 
also  anzunehmen,  daß  in  der  Richtung  der  Wellen- 
normale keine  Lichtmasse  vorhanden  ist,  kann  man 
auch  annehmen,  daß  kein  Widerstand  des  Äthers 
gegen  die  Bewegung  der  Lichtmasse  existiert. 
Sobald  jedoch  die  Lichtmasse  außer  ihrer  ge- 
wöhnlichen Geschwindigkeit  c  noch  eine  Relativ- 
geschwindigkeit in  beliebiger  Richtung  zum  Äther 
bekommt,  setzt  mit  dem  Effektivwerden  der 
Masse  des  Lichts  auch  der  Widerstand  des  Äthers 
gegen  diese  (sit  venia  verbo!)  abnorme  Lichtbe- 
wegung ein,  mit  dem  Erfolg  sie  nach  Ablauf 
einer  gewissen  Zeit  wieder  zum  Verschwinden  zu 
bringen  und  wieder  „normale"  Verhältnisse  her- 
zustellen. 

Endlich  gibt  es  noch  eine  dritte  Möglichkeit 
der  Auffassung:  Die  beirn  „normalen"  Vorgang 
der  Lichtausbreitung  im  Äther  ruhenden  Polari- 
sationen sind  dasjenige,  was  im  Äther  Masse  hat, 
also  Widerstand  gegen  Bewegung  besitzt,  und  sie 
sind  es  auch,  deren  Bewegung  relativ  zum  Äther 
der  Äther  einen  nach  jeder  Richtung  vorhan- 
denen ,  wenn  auch  sehr  geringen  Widerstand 
entgegensetzt.  Für  gewöhnlich  ruht  dann  gegen- 
über dem  Äther  die  Lichtmasse  im  Äther.  Die 
Schwierigkeit  liegt  dann  darin,  wie  diese  Licht- 
masse,  die   also   für  gewöhnlich   gegenüber  dem 


Äther  gar  nicht  bewegte  Masse  ist,  den  Strahlungs- 
druck hervorrufen  kann.  Es  bleibt  dann  zunächst 
die  Paradoxie  bestehen,  daß  sich  die  dem  Äther 
gegenüber  ruhende  Lichtmasse  der  ponderablen 
Materie  gegenüber  als  mit  Lichtgeschwindigkeit 
bewegt  verhält.  —  Die  einfachste  Annahme  ist 
offenbar  die :  nur  transversale  Lichtmasse,  welche 
sich  bei  Absorption  und  Spiegelung  wie  gewöhn- 
liche verhält,  und  dabei  kein  Widerstand  des 
Äthers  gegen  die  Bewegung  der  Lichtmasse. 

In  der  ersten  und  dritten  der  angeführten 
Auffassungsmöglichkeiten  zeigt  also  die  Lichtmasse 
gegenüber  dem  Äther  andere  Eigenschaften  als 
gegenüber  gewöhnlicher  Materie.  Im  Falle  zwei 
dagegen  zeigt  der  Widerstand  des  Äthers  gegen 
die  Bewegung  der  Lichtmasse  (welcher  wegen  der 
Doppelsternbeobachtungen  angenommen  werden 
muß)  ein  anderes  Verhalten  als  der  Widerstand 
gewönlicher  Materie,  z.  B.  eines  Gases  gegenüber 
der  Bewegung  gewöhnlicher  Masse,  z.  B.  starrer 
Körper;  denn  hat  die  Lichtmasse  geringere  Ge- 
schwindigkeit relativ  zum  Äther  als  c,  so  erfährt 
sie  durch  dessen  Einfluß  eine  Beschleunigung, 
hat  sie  größere,  eine  Verzögerung,  bis  c  herge- 
stellt ist. 

Wie  es  nun  zugeht,  daß  die  Lichtmasse  sich 
gegenüber  dem  Äther  ganz  anders  verhält  als 
gegenüber  gewöhnlicher  Materie,  oder  auch  der 
Äther  gegenüber  der  Lichtmasse  ganz  anders  als 
gewöhnlicheMaterie  gegenüber  gewöhnlicher  Masse, 
bleibt  freilich  zunächst  unerklärt;  in  der  Annahme 
eines  abweichenden  Verhaltens  liegt  aber  keinWider- 
spruch,  sie  hat  im  Gegenteil  die  Wahrscheinlich- 
keit auf  ihrer  Seite.  Wir  können  sagen,  ein 
gleiches  Verhalten  wäre  höchst  verwunderlich,  ist 
doch  Lichtmasse,  wie  wir  sahen,  etwas  differen- 
zierteres  als  gewöhnliche  Masse  und  ebenso  der 
Äther  etwas  von  Grund  aus  anderes  als  gewöhn- 
liche Materie. 

Als  Fazit  aus  diesen  Erörterungen  und  als  die 
nächstliegende  Folgerung  aus  den  vorliegenden 
Tatsachen  ergibt  sich  folgendes :  Ein  auf  gewöhn- 
liche Weise  im  „ruhenden"  Äther  mit  konstanter 
Geschwindigkeit  laufendes  Bündel  paralleler  Licht- 
strahlen zeigt  keine  effektive,  d.  h.  in  Erscheinung 
tretende  Masse,  vulgo  Trägheit.  Diese  tritt  je- 
doch zutage,  sobald  das  Strahlenbündel 
gezwungen  werden  soll  die  Richtung, 
evtl.  auch  die  Fortpflanzungsgesch  win- 
digkeit der  Lichtbewegung  zu  ändern, 
sobald  es  also  entweder  auf  gewöhnliche  Materie 
auftrifft  (Strahlungsdruck),  oder  der  Äther  sich 
ihm  gegenüber  zu  bewegen  beginnt,  bzw.  die 
Lichtstrahlen  in  Äther  von  abweichendem  Be- 
wegungszustand eintreten.  In  letzterem  Falle  tritt 
zum  mindesten  in  transversaler,  vielleicht  auch  in 
longitudinaler  Richtung  Masse  und  Trägheit  in 
Erscheinung  und  dementsprechend  wird  Richtung 
und  evtl.  Geschwindigkeit  erst  allmählich  dem 
geänderten  Bewegungszustand  des  Mediums  ange- 
glichen, nicht  momentan,  wie  es  die  reine  Wellen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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theorie  fordert.^)  Die  Masse  der  Lichtstrahlen  wird 
solange  effektiv  bleiben,  bis  durch  den  Widerstand 
des  bewegten  Äthers  die  Geschwindigkeit  relativ 
zu  ihm  wieder  konstant  und  die  Richtung  der 
Strahlen  relativ  zu  ihm  wieder  die  gleiche  gewor- 
den ist,  wie  vordem  gegenüber  dem  ruhenden 
Äther. 

Nun  gibt  es  neben  der  Aberration  noch  eine 
zweite  Beobachtung,  die,  vorausgesetzt  daß  sie 
richtig  ist,  zugunsten  der  Ansicht  gedeutet  wer- 
den kann,  daß  unter  Umständen  das  Licht  außer 
der  Wellengeschwindigkeit  noch  eine  seiner  Träg- 
heit zuzuschreibende  Eigengeschwindigkeit  relativ 
zum  Äther  haben  kann.  Es  ist  dies  die  A.  Ein- 
stein zu  verdankende  Entdeckung  der  Lichtstrahl- 
krümmung im  Gravitationsfeld  der  Sonne.  Wir 
haben  dazu  nichts  weiter  als  die  Annahme  nötig, 
daß  die  träge  Masse  des  Lichtstrahls  auch  schwere 
Masse  involviert.  Unter  dieser  Annahme  nämlich 
würde  sich  die  Ablenkung  des  Lichtstrahls  als 
eine  Schwerewirkung  erklären  und  sich  ergeben, 
daß  die  sich  der  Sonne  genügend  nähernden 
Lichtwellen  der  Fixsterne  in  derem  Gravitations- 
feld eine  quer  zur  Fortpflanzungsrich- 
tung gerichtete  Bewegung  relativ  zum 
Äther  annehmen.^)  Da  die  Annahme,  daß 
der  Äther  selbst  unter  dem  Einfluß  der  Gravita- 
tion in  die  Sonne  stürze,  unzulässig  ist  und  ebenso 
für  die  Annahme,  daß  unter  dem  Einfluß  der 
Gravitation  eine  dem  Winkel  der  Ablenkung  ent- 
sprechende Drehung  der  Wellenfront  eintrete, 
kein  Grund  vorliegt,  so  bleibt  tatsächlich  nur  die 
Vorstellung  übrig,  daß  der  Lichtstrahl,  also  die 
Lichtwellen  gegen  die  Sonne  fallen,  während  der 
Äther  ruht  (immer  vorausgesetzt,  daß  die  Beobach- 
tungen richtig  sind  und  die  Ablenkung  des  Licht- 
strahls tatsächlich  mit  der  Gravitation  in  Beziehung 
steht).  Gerät  aber  ein  Lichtstrahl  unter 
dem  Einfluß  der  Schwerkraft  relativ 
zumÄther  inBewegung,  vermögen  sich 
in  diesem  Falle  die  Lichtwellen  trans- 
versal durch  den  Äther  zu  bewegen,  so 
vermögen  sie  es  offenbar  auch  unter 
dem  Einfluß  der  Trägheit.  Letzteres  muß 
dann  in  Erscheinung  treten,  wenn  der  Lichtstrahl 
aus  relativ  zu  ihm  ruhenden  in  relativ  zu  ihm  quer 
bewegten  Äther  eintritt.  In  beiden  Fällen,  sowohl 
bei  der  Aberration  als  bei  der  Schwereablenkung 
des  Lichtstrahls,  würde  die  Fortpflanzungsrichtung 
desselben  relativ  zum  umgebenden  Äther  nicht 
mehr  genau  senkrecht  zur  Schwingungsebene 
stehen,  sondern  um  die  kleinen  in  Betracht  kom- 
menden Winkel  davon  abweichen. 

Die  Beobachtungen  und  Experimente,  welche 


zur  Aufstellung  der  Relativitätstheorie  geführt 
haben ,  erklären  sich  in  dieser  Weise  auch  auf 
Grund  der  Vorstellung  des  mit  der  Erde 
bewegten  Äthers.  Der  F  i  z  e  a  u  versuch  wider- 
spricht dem  nun  nicht  mehr,  denn  unter  der 
Annahme  auch  longitudinaler  Lichtmasse ,  wo- 
bei die  Trägheit  der  Lichtenergie  sich  nicht  nur 
quer  zur  Fortpflanzungsrichtung,  sondern  auch  in 
dieser  selbst  bemerkbar  machen  wird,  läßt  sich 
vorstellen,  daß  im  Fizeauversuch  zwar 
Wasser  und  Luft  wohl  den  Äther,  je- 
doch dieser  nicht  in  merkbarem  Betrage 
das  Licht  mit  sich  führt.')  Mit  Rücksicht 
auf  den  Versuch  von  Sagnac,  bei  dem  die  in 
der  Umgebung  der  Lampe  wenigstens  zum  Teil 
in  Mitbewegung  versetzte  Luft  keinen  Einfluß  auf 
die  Interferenz  zeigte ,  ^)  müßte  man  allerdings 
wohl  die  Einschränkung  machen,  daß  zwar  die 
große  Masse  der  Erde  den  Äther  in  ihrer  Be- 
wegung vollständig  mit  sich  führt,  kleinere  Massen 
an  der  Erdoberfläche  jedoch  nur  in  einem  ge- 
ringeren Betrage,  der  vielleicht  sogar  noch  unter 
der  Grenze  der  Wahrnehmung  durch  Interferenz- 
versuche liegt.  Es  ist  dies  um  so  eher  möglich, 
als  ja  nun  der  Äther  eine  Art  Viskosität  besitzen 
kann,  ohne  daß  dem  die  Versuche  von  O.  Lodge 
widersprechen,  weil  hier  die  Lichtquelle  nicht  mit- 
bewegt war.  Es  ist  aber  auch  zu  erwägen,  daß 
der  Äther  genau  wie  die  Erde  selbst  eine  kos- 
mische Eigenbewegung  besitzen  kann  und  mög- 
licherweise bis  über  die  Neptunsbahn  hinaus  um 
die  Sonne  rotiert,  mit  der  Geschwindigkeit,  welche 
dem  Newton  sehen  Gesetze  entspricht.")  In 
diesem  Falle  müsste  die  Mitführung  des  Licht- 
strahls durch  den  Äther  außerordentlich  gering 
sein  oder  gänzlich  fehlen,  um  eine  Erklärung  der 
Aberration  möglich  zu  machen.  Verzichten  wir 
auf  longitudinale  Lichtmasse,  so  kann  auch  bei 
einer  derartigen  Ätherbewegung  eine  Überein- 
stimmung mit  den  Doppelsternbeobachtungen 
leicht  gefunden  werden.  *)  Das  Licht  läuft  dann 
bei  der  Emission  zunächst  relativ  zum  Stern, 
d.  h.  zum  Sternäther,  um  nach  einem  relativ 
kurzen  Intervall  des  Wechsels  die  konstante  Ge- 
schwindigkeit relativ  zum  interstellaren  Äther  des 
Raums   zu    erlangen.     Die   relativ   kurze  Strecke, 


')  Nimmt  man  nur  transversale  Masse  an,  so  ist  diese 
Angleichung,  diese  seilliche  Mitführung  des  Lichts  durch  den 
bewegten  Äther  zur  Erklärung  nicht  unbedingt  notwendig. 

*)  Allerdings  müfite  dann  für  die  Dauer  der  völligen  Mit- 
führung des  Lichts  durch  den  Äther  ein  größerer  Wert  ange- 
nommen werden,  als  wenn  man  die  Aberration  in  der  be- 
wegten Erdatmosphäre  allein  berücksichtigt,  da  ja  sonst  die 
Erscheinung  auf  Erden   nicht  mehr  beobachtbar  wäre. 


')  Dabei  erfolgt  eine  dem  Fr esnel sehen  Mitführungs- 
koeffizienten entsprechende  Mitführung  des  Lichtes  durch  die 
an  der  Materie  haftende  elektromagnetische  Energie  (wie  dies 
der  herrschenden  Theorie  entspricht),  nicht  aber  durch  den 
mit  der  Materie  bewegten  Äther. 

'')  Es  wäre  wohl  der  Muhe  wert  zu  untersuchen,  ob  der 
Äther  in  der  Umgebung  der  Lichtquelle  nicht  durch  geeignete 
Vorrichtungen  (z.  B.  Bleimantel  um  die  Lampe)  in  Mitbe- 
wegung versetzt  werden  könnte,  und  ob  dann  die  Streifen- 
verschiebung bei  der  Drehung  des  Apparates  ausbleibt  oder 
geringer  wird. 

')  Die  Vorstellung  eines  mit  den  Planeten  um  die  Sonne 
kreisenden  Äthers  findet  sich  übrigens  schon  bei  Descartes 
(siehe  Drude,  Optik,  111    Aufl.  S.  473. 

*)  Es  ist  auch  die  Möglichkeit  in  Betracht  zu  ziehen, 
daß  die  Milführung  des  Lichts  durch  den  Äther  in  der  Fort- 
pflanzungsrichtung  und  senkrecht  dazu  nicht  von  gleichem 
Betrag  ist,  z.  B,  in  ersterer  stärker  in  Erscheinung  tritt. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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in  der  das  Licht  mit  Lichtgeschwindigkeit  relativ 
zum  Stern  lief,  kann  bei  dessen  ungeheurer  Ent- 
fernung sich  in  Beobachtung  und  Rechnung  natür- 
lich nicht  bemerkbar  machen. ') 

Erhebliche  Schwierigkeiten  scheint  allerdings 
die  Vorstellung  zu  bereiten,  daß  die  Geschwindig- 
keit des  Mediums  sich  nicht  stets  zu  der  der 
Wellen  nach  dem  Unabhängigkeitsprinzip  addieren 
soll.  Jedoch  ist  zu  berücksichtigen,  daß  im  Falle 
des  Lichts  es  sich  nicht  um  mechanische  Schwin- 
gungen des  Mediums  selbst,  analog  den  Schall- 
schwingungen in  der  Luft,  sondern  um  die  Schwin- 
gungen einesZustandesim  Medium  handelt. 
Man  muß  sich  also  denken,  daß  dieser  Zustand 
der  magnetischen  und  dielektrischen  Polarisationen 
im  Äther  neben  der  Wellengeschwindig- 
keit   seiner    Fortpflanzung     noch     eine 


')  Die  hier  vorgetragene  Auffassung  zeigt  zwar  nicht  im 
Ausgangspunkt  und  der  theoretischen  Grundlage,  wohl  aber 
im  Ergebnis  eine  bemerkenswerte  Übereinstimmung  mit  den 
neuen  Anschauungen  P.  Lenards,  welche  in  den  Aufsätzen 
„Über  Äther  und  üräther"  (Starks  Jahtb.  XVII,  H.  4,  S.  307) 
und  „Fiageu  der  Lichtgeschwindigkeit"  (Astr.  Nachr.  213, 
Nr.  5107)  veröffentlicht  wurden.  Die  Verwandtschaft  zeigt 
sich  darin,  daß  ein  Lichtstrahl  nach  beiden  Auffassungen  mit 
annähernd  gleicher  aber  an  sich  wechselnder  Geschwindigkeit 
den  Raum  durcheilen  würde.  —  Eine  experimentelle  Prüfung 
dieser  Vorstellungen  würde  sich  durch  Anstellung  des 
Mich  elson  Versuchs  mit  dem  Lichte  der  Himmelskörper, 
also  Sonnen-,  Mond-,  Planeten-  und  Fixsternlicht  (letztere 
evtl.  unter  Anwendung  photographiscber  Methoden)  ermög- 
lichen lassen,  wie  dies  für  Fixsternlicht  auch  P.  Lenard 
(1,  c.)  vorschlägt.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  mit  Licht, 
welches  die  Aberration  zeigt,  also  senkrecht 
zur  Bewegungsrichtung  der  Erde  verlaufend  von 
außerird  isch  en  Lieh  t  q  ueUen  kommt,  der  Michel- 
sonversuch  positiv  ausfällt  und,  wenn  man  auch 
longitudinale  Masse  annimmt,  ebenso  mit  Licht  von  Himmels- 
körpern, welches  in  der  Bewegungsricbtung  der  Erde  läuft. 
Nach  Einstein  und  Lorentz  wäre  in  beiden  Fällen  ein 
negatives  Resultat  zu  erwarten,  nach  Lenard  möglicherweise 
ein  positives,  jedoch  nur  mit  Licht  der  Fixsterne,  welches  in 
der  Bewegungsrichtung  der  Erde  läuft. 


Eigengeschwindigkeit  relativ  zum 
Äther  besitzen  kann,  daß  sich  also  unter 
Umständen,  nämlich  während  der  Übergangs- 
stadien die  Lichtgeschwindigkeit  relativ 
zum  Äther  aus  zwei  Komponenten  zu- 
sammensetzt. Die  elektromagnetische  Licht- 
theorie birgt  in  dieser  Hinsicht  jedenfalls  Möglich- 
keiten in  sich,  die  der  früheren  mechanischen 
nicht  zukamen. 

Auch  die  hier  vorgetragene  Auffassung  ver- 
trägt sich  mit  dem  Prinzip  der  Relativität  der 
Bewegung.  Man  ist  ja  keineswegs  gezwungen, 
sich  den  interstellaren  Äther  des  Raumes  als 
ruhend  vorzustellen,  er  kann  ebensogut  in  Strö- 
mungen begriffen  sein,  wie  es  sogar  wahrschein- 
lich ist.  denn  in  der  Natur  gilt  der  Satz:  ndv%a 
Qti.  Für  ein  absolut  ruhendes  Bezugssystem  und 
Absolutgeschwindigkeiten  findet  sich  also  in  un- 
serer Auffassung,  wenigstens  soweit  es  sich  um 
Translationen  handelt,  kein  Platz.  Auch  wenn 
der  Mich  elson  versuch  mit  Sternenlicht  positiv 
ausfallen  sollte,  so  läge  kein  Anlaß  vor,  daraus 
auf  eine  Absolutgeschwindigkeit  der  Erde  zu 
schließen;  es  ginge  daraus  nur  hervor,  daß  zwi- 
schen Stern  und  Erde  weite  Gebiete  des  Äthers 
sein  müssen,  welche  an  der  Erdbewegung  nicht 
teilnehmen,  wie  dies  ja  auch  selbstverständlich  ist. 

Unseren  Ausführungen  liegt  also  die  Vorstellung 
zugrunde,  daß  Lichtmasse  und  Lichtäther  sich 
nicht  notwendig  ausschließen,  sondern  daß  beide 
(indem  die  Lichtmasse  auf  einem  gewissen  physi- 
kalischen Zustand  des  Äthers  beruht)  zugleich 
vorhanden  sind  und  sich  unter  Umständen  gegen- 
einander bewegen  können.  Eine  Synthese  der 
Undulations-  und  Emissionstheorie,  für  die  die 
neue  Auffassung  der  Masse  den  Weg  gebahnt  hat, 
wird,  wie  man  hoffen  darf,  den  in  der  Optik 
bewegter  Körper  und  bewegten  Äthers  bisher 
vorhandenen  Widerspruch  beseitigen. 


Einzelberichte. 


Der  sogenannte  Eiiisteiiitiirm  der  Potsdamer 
Sternwarte. 

Der  Neubau  ist,  wie  Freundlich  auf  der 
Potsdamer  Astronomenversamrhlung  mitteilte,  ein 
Turmteleskop,  dessen  Errichtung  durch  schwe- 
dische Unterstützung  möglich  wurde,  und  dessen 
Zweck  möglichst  genaue  Wellenlängenmessungen 
sowohl  im  Sonnenspektrum  als  auch  in  dem  der 
Fixsterne  sind.  Durch  diese  Wellenlängenmes- 
sungen soll  beigetragen  werden  zur  Entscheidung 
der  Frage,  ob  die  Relativitätstheorie  berufen  ist 
an  die  Stelle  der  Newtonschen  Mechanik  zu 
treten.  Mit  der  Herstellung  des  Beobachtungs- 
instruments, in  erster  Linie  eines  gewaltigen 
Cölostaten  von  14V2  rn  Brennweite,  ist  die  Firma 
Zeiß  beauftragt,  auf  deren  Rat  man  sich  für  ein 
von  einem  Steinbau  umschlossenes  Holzgerüst 
entschieden    hat,    das    größere    Sicherheit    gegen 


Schwingungen  zu  gewähren  verspricht  wie  ein 
eisernes  Gerüst.  Die  vom  Cölostaten  in  eine 
unveränderlich  bleibende  Richtung  geleiteten 
Lichtstrahlen  werden  durch  einen  Spiegel  recht- 
winklig in  einen  unterirdischen  Arbeitsraum  mit 
unveränderlicher  Temperatur  geführt  und  sollen 
dort  sowohl  mit  Hilfe  eines  Gitters,  als  auch  durch 
einen  Prismenspektrographen  zerlegt  werden.  Vor- 
läufig ist  der  Bau  erst  im  Rohen  fertig.  Es  steht 
zu  erwarten,  daß  dieses  neue  Hilfsmittel  der  For- 
schung nicht  nur  dem  oben  angegebenen  Haupt- 
zweck dienen,  sondern  auch  manche  weitere  Pro- 
bleme der  Spektralanalyse  erheblich  zu  fördern 
gestatten  wird.  Kbr. 

Basedowsche  Krankheit  und  innere  Sekretion. 

Die   von   Möbius   aufgestellte  Theorie   einer 
engen  Beziehung  zwischen  Schilddrüse   und  Mor- 


26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


bus  Basedowii  („Die  Basedowsche  Krank- 
heit ist  eine  Vergiftung  des  Körpers  durch  krank- 
hafte Tätigkeit  der  Schilddrüse")  bildet  gegen- 
wärtig die  Grundlage  für  die  operative  Therapie, 
die  in  den  meisten  Fällen  von  Basedow  scher 
Krankheit  als  erfolgreich  bezeichnet  werden  kann. 
Seitdem  man  die  Beziehungen  der  endokrinen 
Drüsen  untereinander  zu  erforschen  versucht,  wer- 
den immer  neue  Argumente  dafür  erbracht,  daß 
auch  unter  pathologischen  Verhältnissen  ein  Zu- 
sammenarbeiten der  Blutdrüsen  stattfindet.  So 
ist  nach  den  Feststellungen  verschiedener  Forscher 
die  Ursache  der  Basedowschen  Krankheit  nicht 
allein  in  einer  Erkrankung  oder  Degeneration  der 
Schilddrüse  zu  suchen,  sondern  es  sind  auch  andere 
Drüsen  mit  innerer  Sekretion  mehr  oder  weniger 
an  der  Pathogenese  beteiligt.  An  erster  Stelle 
steht  in  dieser  Beziehung  der  Thymus,  aber  auch 
Hypophysis,  Nebenniere,  Keimdrüsen,  Epithel- 
körperchen  und  Bauchspeicheldrüse  kommen  in 
Betracht. 

Auf  Grund  dieser  erweiterten  Theorie  wirft 
P.  Sudeck  in  einem  Aufsatz  über  „die  chirurgi- 
sche Behandlung  des  IVIorbus  Basedowii"  (nach 
einem  Vortrage  im  Ärztlichen  Verein  in  Ham- 
burg am  17.  V.  1921)')  die  Frage  auf,  „ob  und 
inwieweit  die  bisher  übliche  operative  Therapie 
(die  Schilddrüsenverkleinerung)  dnrch  Einbeziehung 
der  Thymusdrüse  erweitert  werden  muß".  S  u  - 
deck  teilt  zunächst  die  Ergebnisse  seiner  Schild- 
drüsenoperationen mit.  Die  operativen  Eingriffe 
waren  graduell  verschieden  und  gipfelten  in  der 
totalen  Exstirpation  der  Schilddrüse  (bei  Anwen- 
dung der  Substitutionstherapie).  Die  Ergebnisse 
bestätigten  das  K  o  c  h  e  r  sehe  Gesetz,  wonach  die 
Heilung  der  Basedowschen  Krankheit  propor- 
tional der  entfernten  Schilddrüsenmasse  verläuft. 
Von  den  nicht  radikal  operierten  Patienten  waren 
nämlich  nur  53  "/q,  von  den  radikal  operierten 
dagegen  90  "'(,  und  von  den  Totalexstirpierten 
sogar  100  "/„  geheilt.  Diese  Resultate  zeigen  also 
offensichtlich,  von  welcher  Bedeutung  die  Schild- 
drüse für  die  Entstehung  des  Morbus  Basedowii 
ist.  Damit  steht  auch  die  Bedeutung 
der  Schilddrüsenoperation  fest.  So 
sagt  Sud  eck:  „Es  liegt  deswegen  keine  Veran- 
lassung vor,  sich  in  der  Indikationsstellung  durch 
theoretische  Erwägungen  des  pluriglandulären 
Charakters  der  Erkrankung  nach  der  negativen 
Seite  hin  beeinflussen  zu  lassen."  Um  feststellen 
zu  können,  ob  auch  die  Entfernung  des  Thymus 
zur  Besserung  der  Basedow  sehen  Krankheit 
beiträgt,  exstirpierte  Sudeck  neben  der  Schild- 
drüsenoperation in  einigen  Fällen  die  Thymus- 
drüse. Er  hat  aber  weder  unmittelbar  nach  der 
Operation  noch  bei  der  Nachuntersuchung  einen 
entscheidenden  Unterschied  von  den  Erfolgen  der 
üblichen  IVlethode  nachweisen  können.  Aus  die- 
sem Grunde    spricht    er   sich    gegen    eine    grund- 


•)    Deutsche    Medizinische    Wochenschrift,    47.   lahrgang, 
Nr.  41,  1921. 


sätzliche  Änderung  der  Operationsmethode  aus 
und  hält  die  Thymektomie  nur  in  Fällen, 
„bei  denen  die  wesentlich  mitbestim- 
mende Einwirkung  des  Thymus  dia- 
gnostisch erkannt  und  das  Bedürfnis  der 
Thymusentfernung  festgestellt  ist",  für  nötig.  Ehe 
also  die  neuen  Theorien,  die  neben  der  Schild- 
drüse den  komplementären  Drüsen  eine  Mitwir- 
kung in  bezug  auf  Morbus  Basedowii  zu- 
schreiben, die  Praxis  irgendwie  beeinflussen  kön- 
nen, müssen  sie  durch  vermehrte  Kenntnis  des 
Verhaltens  einzelner  Blutdrüsen  wie  des  gesamten 
inkretorischen  Drüsenkomplexes  unter  den  Ver- 
hältnissen der  Basedowkrankheit  ergänzt  und 
vertieft  werden.  Daß  in  vereinzelten  Fällen  die 
Thymektomie  (auch  ohne  Schilddrüsenbehandlung) 
von  Erfolg  sein  kann,  ist  von  Garre  schon  vor 
längerer  Zeit  erwiesen  worden.  Ferner  kennen 
andere  Forscher  Fälle  von  Morbus  Basedowii, 
die  als  rein  thymogen  zu  bezeichnen  sind  (Hart, 
Klose).  Sie  fordern  in  der  Praxis  neben  der 
Schilddrüsenbehandlung  die  Thymektomie,  um 
vor  allem  die  Fälle  auszuschalten,  bei  denen  nach 
der  Schilddrüsenoperation  plötzlich  der  Tod  ein- 
tritt, den  sie  auf  Thymusvergiftung  zurückführen. 
Daß  der  Thymus  von  nicht  geringer  Bedeutung 
ist,  wird  durch  die  Tatsache  bewiesen,  daß  „man 
in  über  ^/^  der  Fälle  eine  deutliche  Ver- 
größerung desThymus  findet"  (Leschke). 
Im  Hinblick  auf  die  Mitwirkung  anderer  Blut- 
drüsen kann  man  die  Basedowsche  Krankheit 
überhaupt  als  pluriglanduläre  Erkrankung 
bezeichnen.  Treffend  ist  die  folgende  Definition 
Leschkes:  „Wir  müssen  die  Basedowsche 
Krankheit  als  ein  pluriglanduläres  Syndrom  an- 
sehen, bei  dem  außerdem  Zustandsänderungen 
des  sympathischen  Nervensystems  eine  wesent- 
liche Rolle  spielen"  (Die  Wechselwirkungen  der 
Blutdrüsen  bei  der  Basedowschen  Krankheit, 
dem  Diabetes  mellitus  und  dem  Verjüngungs- 
problem). ') 

Dresden.  Gustav  Zeuner. 


ThyiiiHsdrüse  und  Wachstum. 

Einen  interessanten  Beitrag  zur  Kenntnis  der 
Beziehungen  zwischen  Thymusdrüse  und  Wachs- 
tum liefert  B.  Romeis  in  einer  Abhandlung  über 
die  „Beeinflussung  minder  veranlagter,  schwäch- 
licher Tiere  durch  Thymusfütterung"  (i.  Teil  der 
Experimentellen  Studien  zur  Konstitutionslehre).-) 
Die  darin  veröffentlichten  Versuche  sollen  im 
folgenden  kurz  geschildert  werden.  Als  Versuchs- 
tiere verwendete  Rom  eis  Rana-temporaria  Lar- 
ven. Aus  einer  Aufzucht  wählte  er  je  30  kräftige, 
schwächliche  und  stark  zurückgebliebene  Tiere 
aus  und  fütterte  einen  Teil   der  Larven  aus  jeder 

')  Wiener  Medizinische  Wochenschrift,  71.  Jahrgang, 
Nr.  I,  1921.  (S.  auch  mein  Referat  über  „Pluriglanduläre 
Verjüngung"  in  der  Naturw.  Wochenschr.  Nr.  42,   1921.) 

')  Münchener  Medizinische  Wochenschrift,  68.  Jahrgang, 
Nr.   14.   1921. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


27 


Gruppe  von  Zeit  zu  Zeit  neben  der  gewöhnlichen 
Nahrung  mit  einem  Präparat  von  Thymussubstanz. 
Der  Einfachheit  halber  sei  die  Gruppeneinteilung 
im  folgenden  angeführt: 

Gruppe  la:    kräftige,    normale  Tiere;    gewöhn- 
liche Nahrung, 
Gruppe  Ib:  desgleichen;  Thymussubstanz, 
Gruppe  IIa:  schwächliche  Tiere ;  normale  Nah- 
rung, 
Gruppe  IIb:  desgleichen;  Thymussubstanz, 
Gruppe  III  a:  sehr  schwächliche  Tiere ;  normale 

Nahrung, 
Gruppe  III b:  desgleichen;  Thymussubstanz. 
Die  Tiere  unter  la  und  b  hatten  zu  Beginn 
der  Versuche  eine  durchschnittliche  Länge  von 
18  mm,  diejenigen  unter  IIa  und  b  eine  solche 
von  etwa  14  mm  und  diejenigen  unter  III  a  und  b 
von  etwa  12  mm.  Nach  dreimaliger  Fütterung 
mit  Thymusextrakten  innerhalb  von  12  Tagen 
ergaben  sich  folgende  Wachstumswerte  (aus  jeder 
Gruppe  wurden  die  drei  kleinsten  und  die  drei 
größten  Larven  gemessen  und  aus  deren  IVIaßen 
der  Durchschnittswert  berechnet).  Die  Kontroll- 
tiere unter  la  waren  ca.  4,7  mm,  diejenigen  unter 
IIa  3,1  mm  und  diejenigen  unter  III a  2,3  mm 
gewachsen.  Die  mit  Thymus  behandelten  Tiere 
der  entsprechenden  Gruppen  waren  dagegen 
6,5  mm,  6,8  mm  und  6,6  mm  gewachsen.  Re- 
lativ war  also  das  Wachstum  der 
schwächlichsten  Larven  am  stärksten. 
Nach  10  Extraktfütterungen  stellte  Rom  eis  fest, 
daß  die  mit  Thymus  gefütterten  Tiere  der  Gruppe 
nib  größer  waren,  als  die  normal  kräftigen  Larven 
unter  la.  Der  günstige  Einfluß  des  Thymus- 
extraktes  ist  also  deutlich  zu  erkennen.  Inter- 
essant wäre  es  auch,  einen  gewissen  Zusammen- 
hang zwischen  der  inneren  Sekretion  des  Thymus 
(auch  anderer  Blutdrüsen,  vor  allem  der  Keim- 
drüsen 1)  und  der  Neotenie  der  Larven  zu  er- 
forschen.') Rom  eis  hat  diese  Frage  in  seiner 
Veröffentlichung  nur  kurz  gestreift.  Hoffentlich 
findet  sie  bei  ähnlichen  Gelegenheiten  einmal  ein- 
gehendere Berücksichtigung.  Meiner  Meinung 
nach  kommen  für  die  Neotenie  der  Amphibien- 
larven nicht  nur  äußere  Lebensverhältnisse  als 
Ursache  in  Betracht;  in  manchen  Fällen  wird  die 
Konstitution  eine  nicht  geringe  Rolle  spielen. 
Gustav  Zeuner. 

Die  chemische  Natur  der  Graphitsiiure. 

Wenn  Graphit  durch  Erhitzen  mit  Kalium- 
chlorat  und  Salpetersäure  kräftig  oxydiert  wird, 
so  entsteht  ein  unter  dem  Namen  „Graphitsäure" 
bekannter  Stoff  mit  sauern  Eigenschaften.  Die 
Konstitution  dieses  Stoffes  war  ungewiß,  immer- 
hin nahm  man  an,  daß  die  für  organische  Säuren 
kennzeichnende  Karboxylgruppe  — COOH  auch 
in  der  Graphitsäure  vorhanden  sei.  Diese  Auf- 
fassung der   Säure  als  einer  Substanz   mit  wohl- 

')  Ich  erinnere  an  die  Versuche  von  Hart  (Berliner 
Klinische  Wochenschrift   191 7,  Nr.  45). 


gekennzeichneter  Struktur  wird  durch  Unter- 
suchungen von  Geo.  A.  Hulett  und  O.  Nel- 
son') erschüttert. 

Läge  nämlich  in  der  Graphitsäure  eine  wahre 
Karbonsäure  vor,  so  müßte  beim  Entwässern  der 
(stets  feucht  erhaltenen)  Säure  ein  Punkt  erreicht 
werden,  wo  alles  adsorbierte  Wasser  oder  auch 
das  Kristallwasser  verdampft  ist  und  nur  der  in 
dem  Säuremolekül  selbst  vorhandene  Wasserstoff 
noch  vorliegt.  Auch  diesen  würde  man  entfernen 
und  dann  das  Anhydrid  der  Säure  gewinnen 
können;  aber  es  bedürfte  diese  Maßnahme  höchst- 
wahrscheinlich einer  anderen  Energiemenge.  In 
einem  Knick  in  der  Entwässerungskurve  würde 
sich  dieser  Sachverhalt  zu  erkennen  geben.  Die 
Verff.  fanden  jedoch,  daß  bei  der  Entwässerung 
die  Dampfdruckkurve  ohne  jeden  Knickpunkt 
völlig  stetig  dem  Nullpunkt  zustrebt.  Die 
Substanz  verhält  sich  ganz  so  wie  ein  Kolloid, 
das  an  der  Oberfläche  \X'asser  adsorbiert  hat  und 
dieses  naturgemäß  stetig  verdampfen  läßt.  In 
der  Tat  zeigt  die  Graphitsäure  eine  Oberflächen- 
struktur, die  für  Adsorptionen  vorzüglich  geeignet 
ist.  Ihre  durchsichtigen  Tafeln  bestehen  aus  einer 
großen  Zahl  äußerst  dünner  Täfelchen,  besitzen 
also  eine  beträchtliche  Oberfläche.  Die  Verff. 
erklären  das  Verhalten  der  Säure  beim  Entwässern 
auf  Grund  dieses  Befundes  nun  mit  einer  neuen 
Auffassung  der  chemischen  Natur  der  Graphit- 
säure. 

Die  Graphitsäure  soll  ein  festes  niedri- 
ges Oxyd  des  Kohlenstoffs,  etwa  C3O 
oder  Cj^O^,  sein,  das  infolge  seiner  ungewöhnlich 
großen  Oberfläche  mit  viel  Adsorptionswasser 
bedeckt  ist.  Eine  Anzahl  von  Literaturangaben 
soll  diese  Auffassung  stützen.  — 

Berichterstatter  möchte  demgegenüber  bemer- 
ken, daß  das  Oxyd  als  solches  natürlich  keiner 
sauern  Betätigung  fähig  ist,  sondern  immer  ein 
Anhydrid  darstellt.  Die  Graphitsäure  muß  also 
zum  mindesten  zu  einem  kleinen,  vielleicht  völlig 
dissoziierten  Betrage  in  der  Adsorptionsverbindung 
vorliegen.  Die  Verhältnisse  lägen  alsdann  so  wie 
in  wässerigen  Lösungen  des  Kohlendioxyds  ,  die 
ja  auch  die  (hypothetische)  Kohlensäure  ent- 
halten müssen.  Man  wird  die  Graphitsäure  als 
ein  festes  Analogon  hierzu  betrachten  dürfen.  Es 
muß  aber  daraufhingewiesen  werden,  daß  Selvig 
und  Ratliff,-)  die  die  Entwässerungsschwierig- 
keiten der  Graphitsäure  bestätigen ,  an  deren 
Charakter  als  Karbonsäure  festhalten,  deren 
Kohlen-  und  Wasserstoff  durch  Verbrennung  be- 
stimmbar sei.  H.  Heller. 

Künstliche  Beleuchtung  zur  Förderung  der 
Kükenaufzucht. 

In  Nr.  9  der  „Deutsch,  landw.  Geflügelzeitg." 
von  1921  teilt  Cl.  v.  Thaden  seine  Erfahrungen 


')  Transactions  of  the  Americ.   Klectr,   Soc.  37,   S.   103, 
[. 
-)  Ebenda  37,  S.   121. 


28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


mit  über  den  günstigen  Einfluß  der  künstlichen 
Beleuchtung  auf  die  Küken,  indem  möglichst 
intensive  Beleuchtung  der  Kükenstallungen  wäh- 
rend der  Nacht  in  Verbindung  mit  mehrmaligem 
Füttern  sich  als  außerordentlich  vorteilhaft  er- 
wiesen hat,  die  Küken  schnell  wachsen  und  kör- 
perlich gedeihen  zu  lassen.  Der  Verf.  ist  geneigt, 
den  Strahlen  der  elektrischen  Lichtquelle  eine 
mithelfende  Wirkung  zuzuschreiben.  Über  nach- 
teilige Nebenwirkung,  wie  Ausbildung  eines  ner- 
vösen Zustandes,  mit  dem  bei  der  Jugend  der 
Tiere  durch  die  nächtliche  Beleuchtung  zu  rechnen 
wäre,  wird  nichts  erwähnt.  Reuter. 

Die  Bewegung  des  Merburpevihels 

nach  den  Arbeiten  Newcombs  betitelt  Groß- 
mann  in  Astr.  Nachr.  Nr.  5115  einen  Aufsatz, 
in  dem  er  zeigt,  wie  Newcomb  zu  seinem  be- 
kannten Wert  gekommen  ist.  Er  gibt  für  den 
Unterschied  von  Theorie  und  Beobachtung  für 
die  Bewegung  des  Perihels  im  Jahrhundert  43" 
an,  mit  einer  Unsicherheit  von  2".  Da  nun  Ein- 
stein aus  der  Relativitätstheorie  fast  genau  den- 
selben Wert  ableitet,  42,89",  eine  Übereinstim- 
mung, die  so  auffallend  ist,  daß  man  geneigt  ist, 
das  Spiel  des  Zufalls  für  ausgeschlossen  zu  halten, 
und  da  Einstein  hierin  einen  Beweis  für  die 
Richtigkeit  seiner  Theorie  sieht,  so  ist  es  wert- 
voll zu  sehen,  wie  Newcomb  zu  diesem  Wert 
gekommen   ist.     Merkur   ist   sehr   schwer   zu  be- 


obachten, nur  bei  Tage,  in  stets  wechselnder 
Phase,  und  vor  allem  bei  den  Merkurdurchgängen 
spielen  soviel  Faktoren  mit,  daß  die  hieraus  ab- 
geleiteten Merkurörter  mit  starken  Fehlern  be- 
haftet sind.  Abweichungen,  größer  als  27  Sek., 
treten  häufig  auf  Schon  Leverrier  ist  sehr 
mißtrauisch  gegen  die  Beobachtungen  gewesen. 
Ferner  gibt  die  Art  und  Weise,  wie  Newcomb 
das  Problem  aufgefaßt  hat,  zu  vielen  Bedenken 
Anlaß.  Druck-  und  Rechenfehler  lassen  sich  nach- 
weisen, die  das  Ergebnis  beeinflußt  haben.  Meh- 
rere Korrektionen  von  Elementen  sind  von  vorn- 
herein =  o  gesetzt  worden,  ohne  einen  zureichen- 
den Grund  anzugeben.  Die  Ausgleichung  der 
Bewegungen  der  4  inneren  Planeten  ist  nicht  ge- 
nügend gelungen,  und  Newcombs  Mitteilungen 
darüber  sind  recht  unklar  und  unbefriedigend. 
Gerade  die  hier  wichtige  Bestimmung  der  den 
Merkur  störenden  Venus  ist  in  wenig  zweck- 
mäßiger und  daher  ungenügender  Weise  durch- 
geführt worden.  Und  Großmann  kommt  zu 
dem  Schluß,  daß  in  unserer  Kenntnis  der  Merkur- 
bewegung noch  mancherlei  Widersprüche  vor- 
handen sind,  die  der  Aufklärung  bedürfen.  Jeden- 
falls aber  ist  das  eine  sicher,  daß  der  gesuchte 
Wert  der  Bewegung  des  Merkurperihels  im  Jahr- 
hundert zwischen  28"  und  38"  liegt,  das  er  also 
den  von  Einstein  geforderten  Wert  von  43"  unter 
keinen  Umständen  erreicht.  Es  geht  also  nicht 
an,  hier  eine  Stütze  der  Relativitätstheorie  finden 
zu  wollen.  Riem. 


Bücherbesprechungen. 


Gehrcke.E., Physik  und  Erkenntnistheorie. 
119  S.  Leipzig  und  Berlin  1921,  B.  G.  Teubner. 
Der  Verf  ist  nicht  nur  durch  seine  physi- 
kalischen Forschungen,  sondern  auch  durch  die 
energische  und  systematische  Art,  mit  der  er  in 
den  Kampf  um  die  Grundprobleme  der  Physik 
eingegriffen  hat,  bereits  in  weiten  Kreisen  rühm- 
lichst bekannt  geworden.  Hier  betrachtet  er  nun 
vom  Standpunkt  des  gesunden  Menschenverstandes 
aus  das  Grenzgebiet  zwischen  Physik  und  Er- 
kenntnistheorie. Das  vortreffliche  Büchlein  will 
in  erster  Linie  anregen;  es  stellt  aber  m.  E  den 
höchst  bedeutsamen  Versuch  dar,  in  dem  Chaos 
der  modernen  Physik  wieder  eine  feste  Ordnung 
hineinzubringen,  und  die  vielen  Grundbegriffe, 
Prinzipien  und  „Weltpostulate",  die  sich  jetzt  meist 
hinter  einem  mathematischen  Schleier  verbergen, 
einer  gründlichen  Kritik  zugänglich  zu  machen. 
Im  ersten  Teile  werden  allgemeinere  Begriffe,  wie 
Wahrheit,  Wahrnehmung,  Naturgesetze,  Kontinuum 
und  Diskretum,  konditionale  und  kausale  Natur- 
beschreibung behandelt,  im  zweiten  Teile  wird 
Besonderes!,  wie  Raum,  Zeit,  Bewegung,  Energie, 
Kraft,  Masse,  Atome  und  Äiher  näher  besprochen. 
Als  Beispiel  sei  hier  das  Kapitel  über  Entropie 
kurz  erwähnt.     Unter   der  Herrschaft  des  Forma- 


lismus in  der  Physik  hat  man  die  Bedeutung  des 
sog.  zweiten  Hauptsatzes  der  Wärmetheorie,  der 
eine  erhebliche  Einschränkung  des  Energieprinzips 
darstellt,  bedeutend  übertrieben,  so  daß  man  ihn 
in  populären  Darstellungen  bereits  als  ein  neues 
Weltprinzip  ausgibt,  das  allerdings  nur  für  mathe- 
matisch geschulte  Köpfe  erfaßbar  sein  soll. 
Gehrcke  weist  auf  den  Streit  (1876)  zwischen 
Loschmidt  und  Boltzmann  über  den  Gel- 
tungsbereich des  Prinzips  hin;  der  erstere  be- 
hauptete, es  sei  möglich,  mittels  einzelner  oder 
weniger  Gasmoleküle  Wärme  von  einem  Körper 
mit  niederer  zu  einem  solchen  mit  höherer  Tempe- 
ratur überzuführen,  der  letztere  wies  durch  Rech- 
nung nach,  daß  bei  sehr  vielen,  quasi  unendlich 
vielen,  Gasmolekülen  ein  solcher  Übergang  nicht 
möglich  sei.  „Für  geringe  Molekülzahlen  gilt  der 
zweite  Hauptsatz  so  ungenau,  daß  er  als  praktisch 
ungültig  anzusehen  ist."  Der  zweite  Hauptsatz 
sei  also  eigentlich  gar  kein  Hauptsatz,  sondern  ein 
Nebensatz;  er  erstreckt  sich  überhaupt  nur  auf 
spezielle  Erscheinungen  der  Wärme.  Die  neueren 
Arbeiten  von  Zermelo  und  von  v.  Smolu- 
chowski  (Naturforscherversammlung  in  Münster, 
191 2)  werden  nicht  erwähnt,  wohl  weil  sie  be- 
sonders neue  Gesichtspunkte  nicht  ergeben  haben 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Da  der  Entropiesatz  sich  nur  auf  die  Wärmebe- 
wegung bezieht,  bleibt  natürlich  auch  die  Frage 
offen,  ob  nicht  noch  unbekannte  Energiebe- 
wegungen vorhanden  sind,  die  dem  bedrohlichen 
Wachsen  der  Entropie  entgegenwirken.  (Ich  ver- 
mute, daß  z.  B.  in  der  bisher  wenig  beachteten 
Schwerkraft  eine  solche  Energiebewegung  ent- 
halten ist.)  Man  erkennt  hier  an  einem  Beispiele, 
wie  umstritten  noch  vielfach  die  Geltung  physi- 
kalischer Prinzipien  ist,  und  wie  gefährlich  es  ist, 
aus  ihnen  allzu  weitgehende  Schlüsse  über  das 
Schicksal  der  Welt  zu  ziehen;  wie  notwendig  es 
aber  auch  ist,  die  beschränkte  Bedeutung  dieser 
Grundbegriffe  sich  möglichst  klarzumachen  und 
nicht  nur  gedankenlos  mit  ihnen  zu  rechnen. 

Bemerkenswert  sind  auch  Gehrckes  Aus- 
führungen über  den  Äther.  „Auch  der  Äther  ist 
für  den  Physiker  kein  denkökonomischer  oder  aus 
anderen  formalen  Gründen  zu  behandelnder  Ein- 
fall, sondern  entweder  eine  Tatsache  oder  nichts: 
gibt  es  wirklich  einen  Welläther  oder  nicht? 
Welches  sind  seine  wirklichen  Eigenschaften?  Das 
sind  die  wesentlichen  Fragen,  die  zu  beantworten 
Aufgabe  der  physikalischen  Forschung  ist."  Weiter 
wird  erwähnt  „daß  neuerdings  der  Äther  wieder 
in  Aufnahme  gekommen  ist,  daß  also  der  Triumph 
über  diesen  „phantastischen"  und  „übei  flüssigen" 
Rest  aus  der  „alten"  Physik  offenbar  verfrüht  war." 
—  Die  Abwesenheit  jedes  komplizierteren  mathe- 
matischen Rüstzeugs  ist  durch  die  Natur  des  be- 
handelten Gegenstandes  gegeben,  der  es  mit 
Prinzipien,  also  mit  etwas  Einfachem  zu  tun  hat. 
Mit  Recht  sagt  der  Verf.:  „Komplizierte  Prinzipien 
gibt  es  nicht."  Allen,  die  sich  mit  physikalischen 
und  erkenntnistheoretischen  Fragen  beschäftigen, 
sei  das  Büchlein  dringend  empfohlen. 

Fricke. 

Francs,  R.  H. ,  Süd -Bayern.  Junks  Natur- 
lührer.  Berhn  (W.  Junk)  1922.  423  S.  Geb. 
32  M. 

Die  „Naturführer",  von  denen  in  früheren  Jah- 
ren bereits  die  Bändchen  Tirol  (1913),  Riviera 
(1914),  Schweiz  (1921)  erschienen  sind,  wollen  als 
sehr  dankenswerte  Ergänzung  zu  den  herkömm- 
lichen Reiseführern  in  allgemeinverständlicher 
Form  vor  allem  über  die  botanischen,  zoologi- 
schen und  geologischen  Verhältnisse  des  betreffen- 
den Landes  unterrichten.  Leider  muß  gesagt 
werden,  daß  das  eben  erschienene  Bändchen 
„Süd- Bayern",  das  den  vielschreibenden  France 
zum  Verfasser  hat,  sich  wenig  vorteilhaft  von  den 
bereits  erschienenen  unterscheidet.  So  groß  die 
Verdienste  sein  mögen,  die  sich  France  durch 
sein  „Leben  der  Pflanzen"  und  andere  botanische 
Werke  um  die  Popularisierung  der  Naturwissen- 
schaften erworben  hat  und  so  sehr  die  Lebendig- 
keit seiner  Darstellung  zu  loben  ist,  um  einen 
„Naturführer"  zu  schreiben,  dazu  bedarf  es  ge- 
diegener Kenntnisse  im  systematischen 
Teil  der  Naturwissenschaften  und  solche  besitzt 
m.   E.   Francs   nicht,    wie    mir    das    angezeigte 


Buch  deutlich  beweist.  Was  er  bringt,  sind  zum 
großen  Teil  Auszüge  besonders  aus  den  Werken 
von  Sendtner  (1854)  und  Gümbel  (1894)  und 
wenn  der  Verf.  in  der  Einleitung  behauptet,  er 
habe  „mehr  als  tausend  Arbeiten  über  die  Natur 
des  voralpinen  Bayerns  durchlorscht",  so  ist  es 
um  so  verwunderlicher,  wenn  er  ein  so  grund- 
legendes Werk  wie  Vollmanns  Flora  von 
Bayern  (1914)  nicht  benutzt  hat.  Sonst  wären 
ihm  nicht  die  zahlreichen  veralteten  und  falschen 
Angaben  über  die  bayrische  Flora  unterlaufen. 
Z.  B.  kommt  der  Sumpf  Porst  (Ledum  palustre), 
den  France  vom  Gallerfilz  am  Siarnbergersee 
angibt  (S.  93),  in  ganz  Bayern  nicht  vor,  Euphra- 
sia  salisburgensis  hat  ihre  Nordgrenze  nicht  bei 
München  (S.  74),  sondern  findet  sich  noch  im 
fränkischen  Jura,  Gentiana  germanica  ist  keines- 
wegs „eine  seltenere  Pflanze"  (S.  54).  Ein 
schlechtes  Zeugnis  als  Pflanzenkenner  stellt  sich 
France  aus,  wenn  er  den  bekannten  Stech- 
apfel (Datura  Stramonium)  in  ganz  Bayern  nur  (11) 
am  Lech  bei  Füssen  vorkommen  läßt.  Eine  Reihe 
Pflanzen,  z.  B.  Trientalis  europaea  (S.  111),  Cor- 
tusa  Matthioli  (S.  120J,  Marsilia  quadrifolia  (S.  330) 
führt  der  Verf.  von  Fundorten  auf,  wo  sie  längst 
verschwunden  sind.  All  das  hätte  er  ver- 
meiden können,  wenn  er  unter  den  „tausend  Ar- 
beiten" auch  die  Vollmannsche  Flora  zurate 
gezogen  hätte.  Bei  den  wiedergegebenen  Pflanzen- 
listen macht  es  sich  bemerkbar,  daß  der  Verf. 
oft  nicht  zwischen  allgemein  verbreiteten  und  den 
charakteristischen  Pflanzen  unterscheiden  kann. 
Wenn  also  F'rance,  der  doch  seiner  ganzen  bis- 
herigen Arbeiisrichtung  nach  als  Botaniker  gelten 
will,  schon  im  botanischen  Teil  soviel  „Versehen" 
passieren,  so  darf  man  wohl  vom  zoologischen 
und  geologischen  nicht  allzuviel  Gutes  hoffen. 
Mehr  als  mangelhaft  sind  die  Literaturangaben, 
die  doch  gerade  für  den,  der  sich  in  der  be- 
treffenden Gegend  näher  orientieren  will,  recht 
wertvoll  wären,  ganz  abgesehen  von  zahlreichen 
Druckfehlern,  die  auch  gerade  keine  Zierde  sind. 
Unter  diesen  Umständen  glaube  ich  doch,  daß  es 
etwas  überheblich  ist,  wenn  F'rance  seinen 
„Naturführer"  als  einen  gewissenhaften  Ver- 
such bezeichnet.  Es  mag  zugegeben  werden,  daß 
es  schwierig  ist,  einen  guten,  kritischen  und  zu- 
verlässigen „Naturführer"  zu  schreiben,  wenn  man 
wie  France  Jahr  für  Jahr  ein  um  das  andere 
Werk  —  sei  es  nun  über  Botanik,  Geologie  oder 
„objektive"  Philosophie  —  auf  den  Markt  bringt. 
Wahlloses  Exzerpieren  genügt  für  einen  „Natur- 
führer" nicht,  auch  nicht  die  600  Bergwanderungen 
und  Streifzüge,  die  der  Verf.  gemacht  hat.  Das 
hat  er  wohl  selbst  eingesehen,  wenn  er  sagt,  daß 
sein  Versuch  vielleicht  erst  bei  der  „10.  ver- 
mehrten und  umgearbeiteten  Auflage"  das  sein 
wird,  was  ihm  als  Ideal  vorschwebte.  Hoffentlich 
entschließt  er  sich  aber  bereits  vor  Herausgabe 
der  zweiten  Auflage  seinen  Führer  gründlich 
durchzusehen  und  erfahrene  Fachleute  zu  ersuchen, 
ihm  dabei  behilllich  zu  sein.  Marzell. 


30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


Haecker,  V.,  Allgemeine  Vererbungs- 
lehre. 3.  umgearbeitete  Aufl.  444  S.  mit 
einem  Titelbilde  und  149  Figuren  im  Text. 
Braunschweig  1921,  F.  Vieweg  u.  Sohn.  Brosch. 
46  M. 

Das  Buch  von  Haecker,  eines  der  wichtigsten, 
das  wir  auf  dem  Gebiete  der  Vererbungswissen- 
schaft haben,  bringt  in  der  vorliegenden  dritten 
Auflage  mancherlei  neues  und  trägt  in  allen  Ab- 
schnitten den  vielen  in  den  letzten  Jahren  er- 
zielten Fortschritten  der  Wissenschaft  gewissenhaft 
Rechnung.  Beibehalten  wurde  aber  der  bewährte 
Grundplan  des  Werks,  und  beibehalten  nament- 
lich auch  die  überall  durchgeführte  scharfe  Unter- 
scheidung zwischen  gesicherten  Ergebnissen  und 
Hypothese.  So  ist  der  Leser  in  der  Lage,  überall 
ein  klares  Bild  von  dem  gegenwärtigen  Stande 
der  Dinge  zu  gewinnen,  er  wird  hingewiesen  auf 
viele  noch  offene  Fragen  und  Lücken  in  unserer 
Erkenntnis  und  unwillkürlich  zum  eigenen  Nach- 
denken angeleitet,  wozu  noch  die  vielen  kritischen 
Bemerkungen  des  Verfs.  wesentlich  beitragen. 
Eine  zum  Feil  recht  scharfe  Kritik  übt  Haecker 
an  der  Chromosomenhypothese,  die  manchen  be- 
reits als  festgefügtes  Gebäude  erschienen  war. 
Gegenüber  einer  reinen  Chromosomenhypothese 
der  Vererbung  wird  eine  Kernplasmahypothese 
derselben  dargelegt.  Nicht  die  Qualität  der  chro- 
matischen Kernsubstanz  allein,  sondern  auch  das 
Wechselverhältnis  zwischen  Kernsubstanz  und 
Zellplasma  spielt  bei  den  Differenzierungsvorgängen 
der  Zellen  eine  wichtige  Rolle,  eine  Anschauung, 
die  sich  auch  den  Ansichten  anderer  neuerer 
Forscher  nähert.  Viel  gedankenreiches  enthalten 
besonders  die  Kapitel  28  und  29.  Im  ersteren 
weist  Haecker  darauf  hin,  daß  der  auf  der 
Grundlage  der  M  e  n  d  e  1  sehen  Regeln  beruhende 
Weg  der  Eigenschaftsanalysen  nicht  der  einzige 
ist.  Auch  eine  rückläufige  Eigenschaftsanalyse 
oder  Phänogenetik  ist  möglich,  die  morphogene- 
tisch  und  eniwicklungsphysiologisch  das  Zustande- 
kommen der  Eigenschalten  in  tunlichst  frühe  Ent- 
wicklungsstadien zurückzuverfolgen  sucht.  Im 
folgenden  Kapitel  werden  die  Zusammenhänge 
zwischen  Entwicklung  und  den  verschiedenen 
Vererbungsmodi  eingehend  erörtert  und  eine  ent- 
wicklungsgeschichtliche  Vererbungsregel  ausein- 
andergesetzt. Nicht  ganz  glücklich  wurde  auf 
Seite  200  das  Beispiel  eines  Bastards  Capra 
hircus  X  Ovis  aries  gewählt,  denn  derartige 
Bastarde  gibt  es  nicht.  Bei  dem  Interesse,  welches 
gegenwärtig  der  Vererbungswissenschaft  entgegen- 
gebracht wird,  ist  das  durch  eine  streng  sachliche 
und  überall  klare  Darstellungsweise  ausgezeichnete 
Haeck  ersehe  Lehrbuch  zweifellos  sehr  am  Platze. 

R.  Heymons. 


Volk,  Prof.  Karl  G.,  Geologisches  Wander- 
buch. Eine  Einführung  in  die  Geologie  an 
Bildern  deutscher  Charakterlandschaften.  Teil  I. 
2.  Aufl.     264  S.,    201  Abb.,    1    Taf.     Teubners 


Naturwiss.  Bibliothek  H.  6.     Berlin  und  Leipzig 
1921.     Geb.  36  M. 

Das  Werk,  dessen  2.  Teil  gleichfalls  bereits 
erschien,  ist  mit  Recht  verbreitet  genug,  um  keiner 
langen  Wiedergabe  des  Inhalts  zu  bedürfen.  Es 
wendet  sich  an  reifere  Schüler,  ist  aber  auch  bei 
Studierenden  wegen  der  wissenschaftlichen  Zuver- 
lässigkeit des  Inhalts  noch  beliebt.  Die  ausge- 
zeichnete Ausstattung,  wobei  besonders  die  Aus- 
wahl der  Illustrationen  Zustimmung  verdient,  trägt 
das  Ihrige  dazu  bei.  Sodann  aber  der  warm- 
herzige Anschluß  an  die  deutsche  Heimat,  der 
frisch-fröhliche,  gesunde  Ton  des  begeisterten 
Wanderers,  der  seit  jeher  ein  Geselle  auch  des 
Humors  ist. 

Eine  Fülle  von  Wissensstoff  in  leicht  zugäng- 
licher, den  Boden  des  Echtwissenschaftlichen  nie 
ganz  verlassender  Zubereitung  wird  im  Plaudertone 
dargebracht.  Der  Hauptwert  aber  liegt  in  der 
Methode:  der  Wissensstoff  ist  nur  Stufe  zur  Bil- 
dung des  ganzen  Menschen,  nicht  Selbstzweck, 
der  im  „Überhören"  mündet.  Des  jungen  Men- 
schen Seele  soll  empfänghch,  ja  durstig  gemacht 
werden  in  bezug  auf  die  Natur  unserer  schönen 
deutschen  Landschaft  und  das,  was  sie  dem  zu 
sagen  weiß,  der  ihre  Sprache  erlernte.  Nicht 
totes  Wissen,  sondern  Schauen,  fröhlich  Schauen, 
Trinken  was  die  Wimper  hält,  darauf  ist  das  ganze 
Buch  abgestellt  und  solchen  Jugendlehrern  wollen 
wir  dankbar  sein! 

Gegenüber  der  ersten  bewährten  Auflage 
konnten  sich  die  Ergänzungen  in  bescheidenen 
Grenzen  halten.  Sie  gehen  auf  Abrundung  aus 
und  halten  an  der  induktiven  Art  der  Einführung 
in  Probleme  von  allgemeiner  Bedeutung  fest. 

Hennig. 

Wenz,   Dr.    W.,   Das  Mainzer  Becken   und 
seine     Randgebiete     (zwischen    Hunsrück, 
Taunus,  Vogelsberg,  Spessart,  Odenwald).  350  S. 
mit    518    Abb.,    41    Tafeln.      Heidelberg    1921, 
Ehrig.     Geh.  50  M.,  geb.  60  M. 
Ders. ,     Geologischer    Exkursions führer 
durch   das   Mainzer  Becken   und  seine 
Randgebiete.    1 36  S.  mit  30  Abb.,  6  Tafeln. 
Ebenda   1921.     Kart.   16  M. 
Als  offenbaren  Niederschlag   einer  sehr   liebe- 
vollen und  langjährigen  Beschäftigung  mit  einem 
in  Kürze  und    vorübergehender  Neigung  nun  ein- 
mal nicht  zu  bewältigenden  Stoff  bietet  der  Verf. 
in    Anlehnung    an    eine    Vortragsreihe    eine    ein- 
gehende Darstellung  des  Mainzer  Beckens,   wobei 
mit    voller    Absicht    und    mit    gutem    Recht    das 
Schwergewicht   auf  das  Tertiär   gelegt  ist.     Nicht 
weniger  als  59  Seiten  umfaßt    für    dies  historisch 
wichtige,  zeitlich  und  räumlich  aber  enge  Spezial- 
gebiet   der  Aufzählung    des  Schrifttums   und    der 
Karten  1     Die  Behandlung  ist  umfassend  und  klar, 
auch  dem  Nichtgeologen   zugänglich.     Besondere 
Sorgfalt    ist    auch    auf  die  Veranschaulichung  des 
Stoffes   verwendet.      Sämtliche   Profile,   Kärtchen, 
Fossilwiedergaben  sind  selbst  gezeichnet  (nur  der 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


31 


üreikanter,  Fig.  38,  erscheint  mißglückt).  Be- 
sonders eine  Reihe  paläogeographischer  Kärtchen 
müssen  auch  dem  Fachmann  willkommen  sein. 
Außerordentlich  eingehend  sind  die  Fossillisten. 
Dem  Sammlerliebhaber  kommt  das  Werkchen  vor 
allem  entgegen,  leitet  ihn  aber  zugleich  an,  nicht 
Fossilien  zu  sammeln,  wie  man  Briefmarken 
sammelt,  sondern  darüber  hinaus  den  Zusammen- 
hängen der  Erscheinungen  nachzugehen. 

Der  geologische  Führer  ist  praktischerweise 
abgetrennt  worden,  um  dort  nicht  den  Umfang 
zu  überlasten,  selbst  handlich  zu  bleiben.  Alles 
ist  auch  im  kleinsten  praktisch  angefaßt  und  jedem 
möglichen  Bedürfnis  in  glücklichster  Weise  ent- 
sprochen. Zuverlässigkeit  in  allen  Angaben  steht 
bei  dem  Verf.  außer  Frage.  E.  Hennig. 


Theimer,  V.,  Praktische  Astronomie,  geo- 
graphische Ortsbestimmungen  und 
Zeitbestimmungen.  Teubners  Technische 
Leitfäden  Bd.  13.  127  S.  mit  62  Fig.  Leipzig, 
Berlin  1921.  Kart.  20  M. 
Das  Buch  ist  besonders  den  Bedürfnissen  der 
Studierenden  technischer  Berufe  angepaßt,  die 
nur  ein  gewisses  Kapitel  der  Astronomie  sich  an- 
eignen wollen,  und  darum  hier  alles  vollständig 
beisammen  finden.  Von  den  Grundbegriffen  und 
der  Ableitung  der  Kepl ersehen  Gesetze  aus- 
gehend, werden  die  Koordinatensysteme  und  deren 
Umwandlung  ineinander  abgeleitet,  dann  die  Kor- 
rektionen der  Ablesungen  der  Kreise  der  Libellen, 
die  Instrumentalfehler  und  die  Einflüsse  von  Re- 
fraktion, Parallaxe  und  Radius  der  Gestirne,  so 
daß  nach  Berücksichtigung  dieser  Größen  die  Be- 
stimmung des  Meridians  und  der  Zeit  nach  ver- 
schiedenen Methoden  stattfinden  kann.  Die  so 
erhaltenen  Ergebnisse  werden  dann  zur  geogra- 
phischen Zeit-  und  Längenbestimmung  verwendet, 
wie  sie  für  geodätische  und  Vermessungszwecke 
notwendig  ist.  Die  Beweisführung  und  Beschrei- 
bung der  Methoden  ist  knapp  und  klar,  das  Werk 
ein  willkommenes  Handbuch  für  den  beabsichtigten 
Zweck.  Riem. 

Planck,    M.,    Vorlesungen    über   Thermo- 
dynamik.     6.  Aufl.     292    S.    mit    5  Fig.    im 
Text.      Berlin    und    Leipzig    1921,    Vereinigung 
wissenschaftlicher  Verleger.     Geb.  45  M. 
Das  Planck  sehe  Werk   ist    für   das  Studium 
der  Thermodynamik  bis  heute  von  so  fundamen- 
taler Bedeutung,   daß  das  Erscheinen  dieser  Neu- 
auflage  zweifellos    starkem   Bedürfnis    entspricht. 
Es  will  die  Theorie  der  Wärme  nicht  erschöpfend 
behandeln,    sondern    zeigen,    in    welchem  Umfang 
die  thermodynamische  Kenntnis  aus  den  Gebieten 
der   Physik    und    physikalischen    Chemie    auf  der 
rein  energetischen  Grundlage   der   beiden  Haupt- 
sätze entwickelt  werden  kann.      Wo    ihre  Konse- 
quenzen nicht  ausreichen,   wird  das  Nernstsche 
Wärmetheorem    eingeführt.       Molekularkinetische 
und  quantentheoretische  Betrachtungen  aber  blei- 
ben   ausgeschlossen.      Unter     den    Ergänzungen, 


welche  die  neue  Auflage  erfahren  hat,  ist  im 
wesentlichen  eine  Theorie  der  Gefrierpunktsernie- 
drigung starker  Elektrolyte  und  die  Debyesche 
Zustandsgieichung  fester  Körper  hervorzuheben. 
Hingewiesen  sei  noch  besonders  auf  die  bei  größter 
Reichhaltigkeit  des  Inhalts  durchweg  klare,  leicht- 
faßliche Darstellung,  die  lediglich  Vertrautheit 
mit  den  Elementen  der  Physik  und  Chemie  und 
der  Differential-  und  Integralrechnung  voraussetzt. 

A.  Becker. 

Ludewig,  P.,  Radioaktivität.  317.  Bänd- 
chen der  „Sammlung  Göschen".  133  Seiten 
mit  37  Abbildungen.  Berlin  und  Leipzig  1921, 
Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  Geh. 
4,20  M. 
Das  vorliegende  Bändchen  ist  als  vortreftliche 
Einführung  in  das  Erscheinungsgebiet  der  Radio- 
aktivität und  in  eine  Reihe  damit  zusammen- 
hängender Fragen  von  allgemeinerer  Bedeutung 
allen  am  Fortschritt  der  neueren  physikalischen 
Forschung  interessierten  Lesern  angelegentlich  zu 
empfehlen.  In  kurzen  Zügen  gibt  es  zunächst 
einen  klaren  Einblick  in  die  gegenwärtige  Kennt- 
nis vom  Bau  der  Atome,  dem  Atomzerfall  und 
der  im  periodischen  System  enthaltenen  gesetz- 
mäßigen Beziehungen  der  Elemente  zueinander. 
Im  folgenden  wendet  es  sich  dann  den  speziellen 
physikalischen  Eigenschaften  der  radioaktiven 
Strahlen  und  den  Grundlagen  und  der  praktischen 
Ausführungsweise  aller  wesentlich  in  Betracht 
kommenden  radioaktiven  Messungen  zu.  Daß  die 
Betrachtung  hier  nicht  erschöpfend  sein  konnte, 
ist  bei  der  Kürze  der  Darstellung  selbstverständ- 
lich. Von  besonderem  Interesse  ist  das  der  An- 
wendung der  radioaktiven  Stoffe  in  der  Medizin 
gewidmete  Schlußkapitel.  A.  Becker. 


Lehner,    Alfons,    Tafeln   zum   Bestimmen 
der  Mineralien  mittels  äußererKenn- 
zeichen.      72    S.      Berlin    und    Leipzig    192 1, 
Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.    Walter 
de  Gruyter  u.  Co.     Preis  geh.  10  M. 
Die  Tabellen   geben   in   der  üblichen  Reihen- 
folge für  metallisch  glänzende  und  nichtmetallisch 
glänzende  Mineralien  von  farbigem  oder    weißem 
Strich    die    notwendigen   Daten   zur  Bestimmung. 
Soweit   durch  Proben   festgestellt   wurde,    ist    die 
gleiche    Vollständigkeit    wie    in    den    bekannten 
Tabellen  von  Weisbach-Kolbeck  nicht  ganz 
erreicht  worden.     Auch  die  dort  angenehm  emp- 
fundene   Hervorhebung    seltener,    häufigerer    und 
sehr  häufiger  Mineralien   durch   verschieden   star- 
ken Druck  wäre  zu  empfehlen  gewesen.     Die  bei 
den    einzelnen    Gruppen    angehängten    sehr    spär- 
lichen Angaben  über   zugehörige   seltenere  Mine- 
ralien   sind    für    die    Zwecke    einer    Bestimmung 
wertlos.      Bei    geringeren    Ansprüchen    an    Voll- 
ständigkeit werden  die  Tabellen    aber,    zumal    in- 
folge ihres  billigeren  Preises,  genügen  können. 

Spangenberg. 


32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2 


Anregungen  und  Antworten. 


Die  Ameisenhöcker  auf  den  Grettsladter  Wiesen.  Die 
Gretlstadter  Wiesen,  jenes  südlich  von  Schweinfurt  zwischen 
Schwebheim  und  Sulzbeim  gelegene,  in  einer  Ausdehnung  von 
ungefähr  6  km  Länge  und  2,5  km  Breite  sich  hinziehende 
Moorgebiet,  gehören  zu  der  dem  Stcigerwald  vorgelagerten 
Senkung,  die  wahrscheinlich  dadurch  entstand,  daß  dieser  Teil 
des  schwäbisch-tränkischen  Muschelkalkplateaus  abbrach  und 
in  die  Tiefe  sank.  So  bildete  sich  zwischen  dem  Steigerwald 
und  den  Honen  nördlich  des  Mains  ein  weites  Becken,  dessen 
Wasser  sich  allmäblich  nach  Westen  uod  Südwesten  einen 
.■\blluB  schafften.  Durch  das  Wegspülen  der  Gips-,  Mergel- 
und  Kalkbchichten  bildeten  sich  flache  Mulden,  in  denen  das 
Wasser  stehen  blieb;  kleine  Seen,  Sümpte  und  Moore  zeugen 
heute  noch  von  diesen  Voigangen. 

Von  den  Schichten  der  Triasformation,  zu  der  Unter- 
franken gehört,  ist  es  der  Keuper,  der  an  dem  Aufbau  der 
Gegend  hauptsächlich  beteiligt  ist  und  zwar  die  Lettenkohle, 
deren  gelbgrauer  und  gelbbrauner  Dolomit  am  Unter^pies- 
heimer  Weg  zurzeit  wieder  gebrochen  wird,  und  der  Gips- 
keuper,  der  ihm  aufgelagert  ist  und  besonders  bei  Sulzheim 
(Gipshügel   und  Gipstjruch)  zutage  tritt. 

Die  eigentliche  Torfscbicht  ist  meist  überdeckt  von  einer 
30 — 40  cm  dicken  Humuslage,  unter  welcher  der  Torf  an 
manchen  Stellen  bis  2  m  hinabreicht.  Weiter  nach  unten 
folgen  gewöhnlich  starke  Lagen  eines  feinen,  mit  Millionen 
kleiner  Schneckenhäuser  durchsetzten  Sandes,  durch  den  sich 
weiflgraue  Mergel-  und  Tonschichien  ziehen,  woraus  sich  das 
Stagnieren  des   Wassers  zur  Genüge  erklärt. 

Seit  Jahrhunderten  ist  dieses  Gebiet  bei  den  Floristen 
Deutschlands  als  Fuodstätte  seltener  Pflanzen  bekannt.  Nicht 
minder  Interessantes  bietet  sie  den  Faunisten,  und  es  wäre 
wohl  an  der  Zeit,  dafi  von  diesen  eine  systematische  Durch- 
forschung der  Gegend  erfolgte. 

Zu  den  augenfälligsten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiet 
gehören  die  Ameisenhocker,  die  zwischen  dem  alten  und 
neuen  Unkenbachbctt  am  östlichen  Rande  des  Riedholzes 
sich  fiaden  m  nächster  Nähe  jener  Tümpel,  die  durch  das 
Vorkommen  verschiedener  Charaarten  und  als  Standoit  von 
Cladium  mariscus  bekannt  sind,  infolge  der  Regulierung  des 
Unkenbachs  jetzt  aber  austrocknen. 

Auf  dieser  ungefähr  150  m  langen,  130  m  breiten,  etwas 
höher  als  die  Umgebung  gelegenen  und  darum  tiockenen 
Stelle  erheben  sicti  Hunderle  von  ca.  30 — 40  cm  hoben 
Ameisenhügeln,  oft  dicht  beisammenstehend,  manchmal  auch 
l'/s — 2  m  voneinander  entfernt. 

Gebildet  werden  sie  alle  von  staubfeinem,  dunkelge- 
{arbtem  Sand  ;  als  Bewohner  konnte  ich  ausschließlich  Lasius 
flavus  feststellen.  Zahlreiche  bleistift-  und  kleinlingerdicke 
Gänge  durchziehen  die  Hügel,  in  denen  ich  bei  meinem 
letzten  Besuche  anfangs  September  dieses  Jahres  neben  ziem- 
lich vielen  Weibchen  noch  einige  geflügelte  Männchen  und 
Eier,  Nymphen  und   Puppen  fand,  letztere  in  geringer  Anzahl. 

An  Bäumen  erheben  sich  auf  dem  Platze  nur  eine  fast 
armdicke  Kiefer  von  etwas  über  2  m  Höhe  und  am  Süd- 
und  Westrande  einige  Birken  und  Eichen.  (Das  anstoßende 
Riedholz  weist  neben  zahlreichen  Stiäuchern  in  der  Haupt- 
sache Kiefern  und  Eichen  auf.)  Zwischen  den  Hockern 
wachsen  einige  hundert  Faulbaumsträucher  (Frangula  alnus) 
von  verschiedener  Höhe  und  Stärke,  kleine  Büsche  unter  I  m 
und  gröfiere  bis  1  m  hoch. 

An  sonstigen  Pflanzen  stellte  ich  fest:  Euphorbia  Gerar- 
diana,  Reseda  luteola,  Ononis  spinosa,  Jasione  montana,  Ga- 


lium  boreale,  Achillea  millefolia,  Scabiosa  columbaria,  Poten- 
tilla  tormentilla. 

Auf  dsn  Höckern  selbst  wachsen:  Galium  boreale,  Gali- 
um  verum,  Asperula  cynanchica,  Campanula  rotundifolia, 
Thymus  serpyllum. 

Leider  ist  auch  dieses  Gebiet  —  wie  der  Bestand  der 
Grettstadter  Wiesen  überhaupt  —  durch  die  immer  näher 
heranrückende  Kultivierung  bedroht.  Jahr  für  Jahr  werden 
neue  Machen  dem  Ackerbau  dienstbar  gemacht  und  durch  die 
Tieferlegung  und  Regulierung  des  Unkenbachs  wird  die  Zer- 
störung dieses  in  Franken  einzigartigen  Moorgebietes  und 
seine  Umwandlung  in  Wiesen-  und  Ackerland  immer  mehr 
beschleunigt.  Oberlehrer  A.   Jackel,  Schweinfurt. 


Zu:  Heikertingers  Täuschende  .Ähnlichkeit  mit  Wes- 
pen und  Bienen  (SphekoidieJ  in  Nr.  41,  20.  Jabrg.  mocme  ich 
folgendes  bemerken:  Es  ist  merkwürdig,  wie  verschieden  doch 
die  üntersuchungsergebnisse  jeweilig  ausfallen.  Ich  habe  im 
August  1894  '™  freien  Versuche  angestellt  mit  fast  erwachsenen 
Kreuzspinnen  (Araneus  diadematus),  denen  ich  Eristalis  tenax, 
die  große  braune  bchlammfliege,  ins  Netz  warf.  Die  Versuchs- 
spinnen waren  sehr  lebhaft  und  höchst  gefräßig  —  sie  standen 
dicht  vor  der  Keile  und  waren  einfach  unersättlich.  Sie 
fraßen  an  Fliegen  und  Schmetterlingen,  was  ihnen  nur  ins 
Netz  kam,  hungrig  Tag  und  Nacht,  und  stürzten  sich  mit 
Leidenschaft  auf  ihre  Beutetiere.  Als  ich  einer  Spinne  aber 
eine  Scdlammfliege  ins  Netz  gab,  änderte  sich  ihr  Benebraen 
beträchtlich.  Sie  stürzte  zwar  wie  immer,  so  auch  aut  jetzi 
die  Pseudobienendrohne  los  —  aber  kurz  vor  ihr  stoppte  sie, 
zuckte  eine  kleine  W^eile  an  den  nächsten  Netziäden  und  stieß 
die  Spitzen  ihrer  Vorderbeine  nach  der  verdächtigen  Beute. 
Erst  aann  begann  sie  in  der  Tat  auch  die  Eristalis  einzu- 
wickeln, aber  sehr  respekivoU :  mit  hochgestellten  Beinen  und 
den  Rumpf  in  Beinlänge,  also  etwa  I  cm  Eutlernung  haltend, 
umspann  sie  mit  einem  breiten  Gespinstband  das  gefährliche 
Kerl,  wickelte  es  dicker  ein  als  sie  es  mit  anderer  Beute 
machte;  und  dann  erst  brachte  sie  der  Wehrlosen  den  ersten 
Biß  bei.  Ich  habe  das  grausame  Experiment  —  ich  war  da- 
mals sehr  jung  —  an  mehreren  Tagen  vielleicht  ein  dutzend- 
mal wiederholt  mit  mehreren  Spinnen  —  sie  verhielten  sich 
alle  und  immer  gleich. 

Nach  meiner  Meinung  kann  man  diese  Beobachtungen 
nur  so  deuten  :  Die  Bienenähnlichkeit  der  Schlammfliege  —  ihr 
Aussehen,  ihr  Gebrumm,  ihr  ungebärdiges  Rütteln  im  Netz  — 
kam  den  Kreuzspinnen  irgendwie  zum  Bewußtsein;  sie  zögeiten 
beim  Überfall,  und  eine  mit  voller  Wucht  in  ein  Spinnennetz 
prallende  Eristalis  würde  voraussichtlich  durch  diese  Bienen- 
ähnlichkeit und  das  Stutzen  der  Angreiferin  Zeit  gewinnen, 
sich  aus  dem  Netz  zu  befreien. 

Dagegen  kann  ich  Herrn  H  eike  rting  er  bestätigen,  daß 
Wespen  für  Radspinnen  gefährlich  werden  können.  Unter 
einem  Fenstersims  an  der  Außenwand  eines  Hauses  befand 
sich  das  Netz  einer  Meta  merianae.  Eine  Arbeiterin  von 
Vespa  vulgaris,  die  die  Hauswand  nach  Fliegen  absuchte, 
geriet  in  das  Netz  hinein.  Sie  gebärdete  sich  sogleich  wie 
rasend,  strampelte  und  schnappte  um  sich  und  schnitt  der 
unvorsichtig  zufahrenden  Spinne  mit  einem  Biß  3  Beine  und 
einen  Taster  ab.     Einen  Augenblick  später  war  sie  frei. 

Ich  habe  die  Eristalisbeobachtung  seinerzeit  veröffentlicht 
in  der  längst  eingegangenen  Zeitschrift  ,, Natur  und  Haus", 
Jahrg.  1S95;  daher  ist  mir  die  Sache  so  gut  in  Erinnerung. 
D.  Stadler  (Lohr). 


Inhalt:  W.  A.  Collier,  Idiosynkrasie  und  Anaphylaxie.  S.  17.  K.  Vogt  her  r.  Über  F'ragen  der  Aberration  und  Licht- 
ausbreitung. S.  20.  —  EiDzelbeiichte:  Freundlich,  Der  sogenannte  Einsteinturm  der  Potsdamer  Sternwarte.  S.  25. 
P.  Sud  eck,  Basedowsche  Krankheit  und  innere  Sekretion.  S.  25.  B.  Romeis,  Thymusdrüse  und  Wachstum.  S.  26. 
G.  A.  Hüllet  und  O.  Nelson,  Die  chemische  Natur  der  Grap'bitsäure.  S.  27.  Cl.v.  Thaden,  Künstliche  Beleuch- 
tung zur  Förderung  der  Kükenaufzucht.  S.  27.  Groß  mann.  Die  Bewegung  des  Mcrkurperihels.  S.  28.  —  Bücher- 
besprecbungen  E.  Gehrcke,  Pbysik  und  Erkenntnistheorie.  S.  28.  R.  H.  F  r  a  n  c  e ,  Süd  Bayern.  S.  29.  V.  H  a  e  c  k  e  r , 
Allgememe  Vererbungslehre.  S.  30.  K.  G.  Volk,  Geologisches  Wanderbuch.  S.  30.  W.  Wenz,  Das  Mainzer  Becken 
und  seine  Randgebirge.  Ders,  Geologischer  Exkursionsführer  durch  das  Mainzer  Becken  uud  seine  Randgebiete.  S.  30. 
V.  The  im  er,  Praktische  Astronomie,  geographische  Ortsbestimmungen  und  Zeitbestimmungen.  S.  31.  M.  Planck, 
Vorlesungen  über  Thermodynamik.  S.  31.  P.  Ludewig,  Radioakiivität.  S.  31.  A.  Lehner,  Tatein  zum  Bestimmen 
der  Mineralien  mittels  äußerer  Kennzeichen.  8.31.  —  Anregungen  und  Antworten:  Die  Ameisenhöcker  auf  den  Grett- 
stadter Wiesen.  S.  32.     Täuschende  Ähnlichkeil  mit  Wespen  und  Bienen.  S.  32. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.   Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band: 
der  ganzen  Reihe   37.   Band. 


Sonntag,  den  15.  Januar  1922. 


Nummer  3. 


Zur  Kenntnis  des  Dickenwachstums  der  Opuntien. 

Von  Karl  Reiche. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit   7  Textabbildungen. 


Die  Umgebung  der  Hauptstadt  Mexicos  ist 
reich  an  Kakteen  und  besonders  an  Opuntien,  — 
nur  daß  leider  die  Unterscheidung,  zumal  der 
flachsprossigen  Arten,  noch  große  Schwierigkeiten 
bietet.  Mit  den  Vorstudien  zu  meiner  Vegetations- 
skizze der  Hochebene  von  Mexico  beschäftigt, 
wurde  meine  Aufmerksamkeit  natürlich  auch  auf 
diese  physiognomisch  bedeutsame  Gruppe  gelenkt ; 
und  da  in  der  mir  zur  Verfügung  stehenden  ziem- 
lich reichhaltigen  Literatur  eingehendere  Aufgaben 
über  die  nachträgliche  Verdickung  von  Stämmen 
und  Wurzeln  dieser  Kakteen  fehlten,  so  habe  ich 
versucht,  einige  Beobachtungen  über  diese  mir 
interessant  erscheinenden  Verhältnisse  anzustellen. 
Ich  glaubte  mich  um  so  mehr  dazu  veranlaßt,  als 
man  in  Europa  wohl  schwerlich  dickstämmige, 
vielleicht  hundertjährige  0/?/w//«-Bäume,  falls  sie 
überhaupt  existieren,  dem  Messer  des  Anatomen 
opfern  würde.  Neben  Opiintia  sollen  gelegentlich 
auch  andere  Kakteen  zum  Vergleich  herangezogen 
werden.  — 

Hinsichtlich  der  Methodik  der  Untersuchung 
schicke  ich  voraus ,  daß  ich  zur  Feststellung  der 
gröberen  Anatomie  von  der  Mazeration  in  Wasser 
einen  weitgehenden  Gebrauch  gemacht  habe. 
Man  erhält  auf  diese  Weise  von  den  Holzkörpern 
der  Stämme  und  Wurzeln  sehr  anschauliche,  jedem 
Museum  zur  Zierde  gereichende  Skelette  (vgl. 
Abb.  5).  Dieses  Verfahren  war  durch  die  zahl- 
reichen ausgefaulten  Stammstücke  nahegelegt, 
welche  man  in  der  Steppe  findet.  Sofern  es  sich 
um  Herstellung  mikroskopischer  Präparate  handelt, 
ist  es  empfehlenswert,  nur  Material  zu  schneiden, 
welches  gänzlich  von  Alkohol  durchtränkt  ist; 
sonst  hat  man,  sobald  man  die  Schnitte  mit 
Wasser  oder  wässerigen  Lösungen  in  Berührung 
bringt,  von  den  unglaublichen  Schleimmengen 
aller  Gewebe  mancherlei  Unbequemlichkeiten  zu 
leiden;  übrigens  scheinen  die  Opuntien  weit  reicher 
an  Schleim  als  andere  Kakteen.  Schneidet  man 
einen  ausgewachsenen,  aber  noch  nicht  verholzten 
Flachsproß  durch,  so  quillt  eine  beträchtliche 
Menge  Schleim  heraus ;  er  wird  aus  den  Schleim- 
lücken in  dicken,  wurstförmigen  Massen  entleert, 
steht  also  unter  einem  gewaltigen,  von  dem  um- 
gebenden Parenchym  ausgeübten  Druck. 

Das  untersuchte  Material  läßt  sich  nach  seinen 
Wuchsverhältnissen  in  drei  Gruppen  bringen ; 
I.  niedrige,  rasen-  oder  herdenweis  wachsende 
Arten  mit  eiförmig- zylindrischen,  weichen  Körpern ; 
Typus:  Opiintia  funicata  Lk.  et  Otto;  2.  hoch- 
wüchsige Arten    mit    zylindrischen,    deutlich    ver- 


holzenden Stämmen;  Typus:  O.  imbricaia  DC; 
3.  dickstämmige  Bäume  mit  runder  Krone,  deren 
jüngere  Sprosse  flach  sind ;  Typus :  O.  toincntosa 
S.-D.  Von  ihnen  stehen  in  anatomischer  Bezie- 
hung die  beiden  ersten  einander  näher  als  dem 
dritten. 

Die  nachfolgende  Darstellung  gliedert  sich  in 
drei  Teile:  zunächst  ist  die  ursprüngliche  Be- 
schaffenheit und  Lagerung  der  an  der  späteren 
Dickenzunahme  beteiligten  Gewebe  zu  verzeichnen; 
alsdann  ist  ihre  durch  das  Dickenwachstum  be- 
dingte Veränderung  zu  schildern;  daran  sollen 
sich  einige  allgemeine  Bemerkungen  über  den 
Aufbau  des  Skelettes  der  Kakteen  schließen. 

I.  Der  Bau  des  Stammes  und  der  Wurzel 
von  Opuntia  vor  dem  Dickenwachstum. 

A.  Der  Stamm.  Als  gemeinsamer  Zug  im 
inneren  Aufbau  ist  festzustellen  das  Vorhandensein 
von  stammeigenen ,  ein  regelmäßiges  Maschen- 
werk bildenden  Gefäßbündeln  und  von  unregel- 
mäßig anastomosierenden 
Blattspursträngen,  welch  letz- 
tere von  den  Areolen  zu 
den  stammeigenen  Bündeln 
sich  erstrecken.  In  den 
jungen,  noch  zylindrischen 
und  in  den  älteren,  flachen 
Sprossen  von  O.  loviciitosa 
liegen  die  Blattspursysteme 
in  der  Ebene  der  stamm- 
eigenen Stränge;  in  den 
mit  hervorragenden  Warzen 
ausgestatteten  Gliedern  von 
O.  tiiuicata  und  O.  imbricaia 
bildet  die  Gesamtheit  der 
Blattspuren,  welche  zu  einer 
Areole  gehören,  den  Mantel 
eines  schiefen  Kegels,  dessen 
etwas  abgestumpfte  Spitze 
in  der  Areole,  dessen  Basis 
am  Innenrande  der  Masche 
des   stammeigenen  Systems 

gelegen  ist,  über  welche  jene  areolentragende 
Warze  sich  erhebt  (Abb.  i).  An  den  Ein- 
schnürungen, welche  die  Glieder  voneinander 
trennen,  bilden  die  Bündel  ein  dichtes  Geflecht; 
das  ist  selbstverständlich,  insofern  der  Tochter- 
sproß von  einer  räumlich  sehr  beschränkten  Stelle 
des  Muttersprosses  seinen  Ursprung  nahm. 

Betrachten  wir  zunächst  a)  die  Arten  mit  zy- 
lindrischen Stämmen,    so   ergibt  der  Querschnitt 


Abb.   I. 
Stücl<    des    Holzkörpers 
von     Opuntia    imbricaia^ 
die    Lage     der    Areolen 
und     das     Maschenwerk 

zeigend. 


34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


durch  ein  Glied,  in  der  Höhe  einer  Areole  aus- 
geführt, das  folgende  Bild:  Die  dicken,  stamm- 
eigenen Stränge  sind  nach  Dikotylenart  in  einen 
Kreis  gestellt,  während  die  dünnen,  zahlreichen 
Blattspurstränge  der  in  ihrer  Areole  getroffenen 
Warze  parallel  mit  deren  Umrißlinie  angeordnet 
und,  ihrer  geneigten  Richtung  zufolge,  +  schief 
durchschnitten  sind.  Die  stammeigenen  Bündel 
besitzen  rindenwärts  eine  schwache  Bastzell- 
gruppe, dann  Phloem ,  Kambium  und  einen 
Xylemteil,  der  aus  engen  Schraubengefäßen  und 
Vasalparenchym  besteht;  ihm  schließen  sich  mark- 
wärts  jene  eigentümlichen,  seit  Seh  leiden  be- 
kannten ,  spindelförmigen  Elemente  an ,  welche 
dünne,  unverholzte  Membranen  und  ringförmige, 
stark  nach  der  Mitte  vorspringende  (manchmal 
auch  Schraubenbänder  von  '/a  bis  i  Umgang 
bildende)  und  schwach  verholzte  Verdickungs- 
leisten  besitzen,  und  in  Anlehnung  an  den 
S  c  h  1  e  i  d  e  n  sehen  Ausdruck  „Spiralfaserzellen" 
hier  als  „Spiraltracheiden"  bezeichnet  werden 
mögen.  Von  der  Seite  betrachtet,  sehen  sie  den 
zu  Illuminationszwecken  benutzten  „chinesischen 
Papierlaternen"  nicht  unähnlich.  Außerdem  findet 
sich  an  den  Seiten  und  dem  ins  Mark  vorspringen- 
den Ende  des  Xylems  reichliches  und  typisches 
Collenchym,  dessen  weit  nach  dem  Innern  des 
Sprosses  vorgeschobene  Lagerung  von  dem  son- 
stigen peripherischen  Vorkommen  dieses  Gewebes 
abweicht.  Die  warzenständigen  Blattspurstränge 
sind  weit  einfacher  gebaut;  sie  entbehren  zumal 
des  Kambiums,  der  Spiraltracheiden  und  des  Collen- 
chyms. 

b)  Von  den  später  flachsprossig  werdenden 
Arten  standen  mehrere  Keimlinge  der  O.  touientosa 
(oder  einer  verwandten  Art)  zur  Verfügung.  Ihre 
Keimblätter  waren,  beiläufig  bemerkt,  oft  ungleich 
lang.  Das  hypokotyle  Glied  zeigt  im  Querschnitte 
einen  merklich  zentral  gelegenen  Strang,  der  sich 
aus  4,  um  ein  schwach  entwickeltes  Mark  ge- 
legenen Bändeln  aufbaut.  Von  ihnen  gehen  2 
in  die  Keimblätter  ab,  die  anderen  beiden  ver- 
zweigen sich  unmittelbar  bei  ihrem  Eintritt  in 
das  Stämmchen.  Dieses  ist  hier,  und  ganz  allge- 
mein bei  den  flachsprossigen  Arten  zylindrisch 
geformt  und  besitzt  schwach  hervorragende, 
areolentragende  Warzen;  die  in  einen  Kreis  ge- 
stellten Bündel  enthalten  im  Xylem,  neben  den 
Schraubengefäßen,  auch  einige  Spiraltracheiden, 
im  Widerspruch  zu  den  Eiteraturangaben, ')  wo- 
nach sie  den  flachsprossigen  Opuntien  fehlen 
sollen.  Das  ist  allerdings  auch  hier  insofern  rieh 
tig,  als  sie  eben  in  der  noch  zylindrischen,  jugend- 
lichen Pflanze  auftreten,  aber  bereits  im  nächst- 
folgenden, schon  sich  abflachenden  Sprosse  nicht 
mehr  gebildet  werden.  Aus  dem  Vorstehenden 
erklärt  sich  die  Tatsache,  daß  man  gelegentlich 
in  der  Markkrone  am  Grunde  älterer  Stämme 
noch  Spiraltracheiden  findet.  —  Der  Übergang  vom 
zylindrischen  zum  flachen  Sproß   gibt   sich  durch 


')  Solercdcr,   H.,  System.   Anat.  der  Dikotylen,  S.  463. 


den  zunehmenden  Horizontalabstand  der  in  glei- 
cher Höhe  liegenden  Areolen  kund;  er  betrug 
beispielsweise  im  zylindrischen  Teil  $  mm;  aber 
2  cm  höher,  im  abgeflachten  Teil,  bereits  8  mm; 
und  mit  dieser  äußerlich  meßbaren  Entfernung 
der  Areolen  geht  im  Innern  eine  Zunahme  der 
Bündel  Hand  in  Hand;  einem  Areolenabstand 
von  5  mm  entsprechen  auf  dem  Querschnitt  6, 
einem  solchen  von  9  mm  aber  13  Bündel;  diese 
Vermehrung  ist  bedingt  durch  die  neu  einge- 
schalteten Anastomosen.  — 

Die  Oberfläche  des  Sprosses,  der  Schauplatz 
der  späteren  ausgiebigen  Peridermentwicklung, 
wird  bedeckt  von  einer  einschichtigen  Epidermis 
mit  sehr  stark  verdickten  Außenwänden;  darauf 
folgt  ein  I  —  2  Lagen  mächtiges  Hypoderm  und 
alsdann  die  bekannte  kristallführende  Schicht, 
welche  in  ihrer  Gesamtheit  einen  von  kristall- 
freien Gewebestreifen  unterbrochenen  Steinmantel 
darstellt,  der  den  Sproß  umgibt.  Die  hier  be- 
findlichen Kristallaggregate  weichen  von  den 
im  Grundparenchym  enthaltenen  dadurch  ab,  daß 
sie  nicht  die  geläufige  Morgensternform  haben, 
sondern  radialgestreifte  Kugeln  (Sphärokristalle) 
mit  glatter  Oberfläche  darstelle«.  Sie  sind  außer- 
ordentlich hart,  so  daß  das  Messer  bei  Anfertigen 
der  Präparate  knirscht;  auch  sind  sie  in  Kalilauge 
und  in  Mineralsäuren  so  langsam  zersetzbar,  daß 
ich  an  ihrem  Bestände  aus  Kalziumoxalat  irre 
wurde  und  sie  für  Silikate  zu  halten  geneigt  war, 
bis  ich  beim  Durchmustern  älterer  Präparate,  die 
mit  schwefelsäurehaltigem  Anilinsulfat  behandelt 
waren,  den  Zerfall  jener  Drusen  in  Gipsnadeln 
bemerkte.  Unter  jener  kristallführenden  Schicht 
breitet  sich  schließlich  der  Mantel  aus  unregel- 
mäßigem Collenchym  aus,  der  hier  und  da  von 
den  schlotartigen  Kanälen  senkrecht  durchbrochen 
wird,  welche  die  Spaltöffnungen  mit  dem  Assi- 
milationsgewebe in  Verbindung  setzen. 

B.  Die  Wurzel.  Die  untersuchten  Wurzeln 
sind  von  typischem  Bau,  mit  reichlicher  Entwick- 
lung des  Parenchyms.  Das  zentrale  Gefaßbündel 
ist  tetrarch  bis  hexarch.  Spiraltracheiden  wurden 
niemals  beobachtet. 

II.  Nach  dem  Dicken  Wachstum. 
Wie  bereits  von  allen  Autoren  festgestellt  ist, 
wird  die  Volumenzunahme  der  Stämme  großen- 
teils, wie  bei  fleischigen  Pflanzen  überhaupt,  durch 
eine  beträchtliche  Vermehrung  des  (hier  glykose- 
reichen)  Grundparenchyms  bedingt.  Von  histo- 
logisch wesentlicherem  Interesse  ist  das  vom 
Kambium  aus  unternommene  Dickenwachstum. 
Nach  Schumann  ^)  setzt  dieser  Vorgang  erst 
nach  Jahren  ein :  „bei  den  meisten  Arten  währt 
es  sehr  lange  Zeit,  ehe  die  gesonderten  Stränge 
durch  Interfaszikularbündel  geschlossen  werden 
und  es  zur  Bildung  eines  zusammenhängenden 
Verdickungsringes  kommt."  Ich  kann  diese  Mei- 
nung   für    die    untersuchten   Opuntien    nicht    be- 

')  Natürl.  Pflanzenfam.   III   6a,  S.    IU5. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


35 


stätigen ;  die  Schumann  sehen  Angaben  beziehen 
sich  wohl  auf  das  Verhalten  kultivierter  Exem- 
plare, wie  denn  überhaupt  den  sorgfältigen  Kakteen- 
arbeiten dieses  Verf.s  (auch  in  der  Systematik 
der  Kakteen)  ein  Teil  ihres  Wertes  durch  die 
notgedrungene  Beschränkung  auf  Gartenmaterial 
genommen  wird.  —  Wie  im  vorigen  Abschnitte, 
mögen  zunächst  O.  tunicata  und  0.  imbricata 
einerseits,  und  alsdann  O.  tomciüosa  andererseits 
betrachtet  werden.  Bei  jenen  ist  folgendes  Ver- 
halten zu  beobachten:  Neben  den  stammeigenen, 
das  mehrfach  erwähnte  Maschensystem  bildenden 
Strängen  entstehen  im  Grundparenchym  neue, 
mit  ihnen  parallellaufende,  bzw.  mit  ihnen  anasto- 
mosierende  Bündel,  die  mit  jenen  durch  Inter- 
faszikularkambium  in  Verbindung  treten;  damit 
wird  zunächst  ein  in  tangentialer  Richtung  ver- 
breiterter Strangkomplex  geschaffen,  der  alsdann, 
durch  -die  kambiale  Tätigkeit,  auch  in  radialer 
Richtung  verdickt  wird.  Für  O.  tunicata  im  be- 
sonderen gestalten  sich  die  weiteren  Verhältnisse 
folgendermaßen  (Abb.  2):  Das  Kambium  scheidet 
nach    innen    zu    enge    Schraubengefäße,    weitere 


bedingt,    daß   das    Kambium   abscheidet    i.  dick- 
wandige, sehr  stark  verholzte,  mit  schiefen  Spalten- 
tüpfeln versehene  Holzfasern ;  2.  kurzgliedrige,  an 
Trachelden  erinnernde  Gefäße  mit  eiförmiger  Per 
foration  und  breiten,    quergestellten  Tüpfeln,    mi 
allen  Übergängen    vom  einfachen    zum  Hoftüpfel 
diese     Gefäße     sind     von    verschiedener    Weite 
3.    spärliches     Vasalparenchym     und     4.     Spiral 
tracheiden,   diese  wiederum    nach  dem  IVIarke  zu 
gelegen.      Der    Zusammenschluß    zwischen    den 
einzelnen  Bündeln  wird  durch  schmale  und  breite, 
verholzte     oder    streckenweis    unverholzte    IVlark- 
strahlen,    deren    Zellen  stark  getüpfelt    sind,    ver- 
mittelt.     So    entstehen    im    Querschnitt    trapez- 
förmige oder  dreieckige  Stränge  von  außerordent- 
licher,  an   Knochen    erinnernder  Härte   und   von 
1,5 — 2    cm    Dicke.      Ihre    Außenseite    ist    leicht 
längsgefurcht,  weil  die  Markstrahlen    nach   außen 


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Abb.  2.     Querschnitt  aus  einem  mehrjährigen  Holzstrange  von 
0.  Iiiiiirata.     Der  Pfeil  weist  auf  die  Spiraltracheiden  hin. 

Netzgefäße  (bzw.  eine  Übergangsform  zwischen 
beiden,  insofern  sich  die  Schraubenbänder  gabeln), 
Vasalparenchym  und  Spiraltracheiden  ab,  letztere 
zumal  nach  dem  Marke  hin.  Zwischen  den  ein- 
zelnen, demselben  Strang  zugehörigen  Bündeln 
bleiben  breite,  unverholzte  Markstrahlen  offen. 
Wie  man  sieht,  ist  der  gesamte  Strang  von  lockerer, 
und  bei  der  Menge  parenchymatischen  Gewebes 
von  weicher  Beschaffenheit.  Demgegenüber 
weist  O.  imbricata  ein  weit  festeres  Strangsystem 
auf  (Abb.  3).   Diese  größere  Festigkeit  ist  dadurch 


Abb.  3.     Querschnitt  aus  einem  älteren  Skelettstrang  von 

O.  imbricata;  A.  nach  der  Rinde,  B.  nach  dem  Marke  zu.    In 

letzterer  Figur  sind  am  Innenrande  des  Stranges  Spiraltracheiden 

und  Collenchymfasern  zu  sehen. 

weniger  vorspringen,  als  die  Holzteile;  ihre  Innen- 
seite ist  stark  und  unregelmäßig  gebuchtet,  weil 
die  markwärts  gelegenen  Anteile  der  primitiven 
Bündel  weit  mehr  vorspringen,  als  die  sekundären 
Erzeugnisse  des  Kambiums.  — 

Die  im  Vorstehenden  angeführten  Gewebe  sind 
in  den  Holzsträngen  in  einer  vom  Alter  des  Indi- 
viduums und  von  der  Jahreszeit  abhängigen  Weise 
verteilt.  Nur  in  der  Jugend  gebildete  und  daher 
im  erwachsenen  Stamme  ausschließlich  in  der 
Markkrone  befindliche  Elemente  sind,  wie  im 
vorigen  Abschnitte  bereits  ausgeführt  wurde,  die 
engen  Schraubengefaße,  Collenchymzellen  und  die 
Spiraltracheiden.       Die    Verteilung    der     übrigen 


36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Elemente  erfolgt  in  Abhängigkeit  von  der  Jahres- 
zeit, bedingt  also  die  Entstehung  der  Zuwachs- 
zonen. Von  ihnen  wurden  auf  dem  dreieckigen 
Querschnitt  eines  Holzstranges  von  2  cm  Dicke 
etwa  15  — 16  von  verschiedener  Deutlichkeit  ge- 
zählt; doch  kommt  auch  die  Einschiebung  breiter, 
tangentialer  Parenchymstreifen  vor,  so  daß  lokal 
die  Altersbestimmung  eines  Sprosses  nach  der 
Zahl  der  Jahresringe  unsicher  werden  kann. ')  Das 
Dickenwachstum  beginnt  Anfang  Mai  mit  der 
Bildung  weiter  Gefäße,  großer  Markstrahlzellen, 
etwas  Vasalparenchym  und  Libriform ;  und  schließt 
im  Dezember  mit  der  Bildung  von  reichlichen, 
aber  nicht  tangential  abgeflachten  Nestern  engerer 
Gefäße  und  kleineren  Markstrahlzellen.  Mark- 
strahlen, welche  die  ganze  Dicke  des  Holzstranges 
durchlaufen,  scheint  es  nicht  zu  geben,  sondern 
nur  begrenzte  Stücke  verschiedener  Länge,  auf 
dem  Querschnitte  gemessen;  und  von  verschiede- 
ner Höhe,  auf  dem  Längsschnitte  beobachtet;  nach 
der  Rinde  zu  vergrößert  sich  ihre  Breite;  auch 
ist  deutlich  zu  sehen,  daß  diese  Markstrahlstücke 
unter  sich  streckenweise  seitlich  zusammenhängen. 
Der  Tangentialschnitt  zeigt,  wie  die  Libriform- 
zellen  und  Gefäße  bogenförmig  um  die  unregel- 
mäßig gestalteten  und  verschieden  mächtigen 
Markstrahlinseln  herumlaufen.  — 


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Abb.  4.     Querschnitt  durch  das  Periderm  eines  alten  Stammes 
von   O.  imbricata. 


Während  nun  die  Dicke  des  Stammes  durch 
Vergrößerung  des  Grundparenchyms  und  des 
Holzkörpers  zunimmt,  wird  seine  Außenfläche 
durch  einen  sich  erweiternden  Peridermmantel 
vergrößert  (Abb.  4).  Zu  diesem  Zwecke  über- 
nimmt jene  oben  erwähnte,  zwischen  Epidermis 
und  Kristallschicht  gelegene  dünne  Zellage  die 
Verrichtung  eines  Phellogens,  welches  einseitig 
nur  nach  außen  Peridermzellen  abscheidet,  dabei 
selbst  aber  mehr  und  mehr  in  die  Tiefe  gerät. 
Der  gesamte  Peridermmantel  liegt  demnach  außer- 
halb der  Kristall-  und  der  unmittelbar  an  sie  an- 
schließenden    Collenchymschicht,     deren     kamin- 

')  De  Bary  (vgl.  Anatomie  S.  5 18,  519)  stellt  das  \'or- 
handensein  von  Jahresgrenzen  in  den  Stämmen  der  CJpunticn 
und  der  Kakteen  überhaupt  als  unsicher  hin. 


artige  Spaltöffnungskanäle  selbst  noch  in  alten 
Stämmen  erhalten  bleiben.  Durch  den  zunehmen- 
den Rindendruck  werden  die  einzelnen  Periderm- 
zellen zusammengedrückt  und  ihre  ursprünglich 
radialen  Reihen  unregelmäßig  verbogen.  Zwischen 
sie  sind  schmale,  tangential  verlaufende  Züge 
parallelepipedischer,  bis  zum  Schwinden  des  Lu- 
mens verdickter  und  stark  verholzter  Zellen  ein- 
geschaltet (Trennungsphelloide),  längs  deren  die 
alimähliche  Abstoßung  der  ältesten,  äußersten 
Peridermlagen  erfolgt.  Da  dies  in  dünnen  Platten 
vor  sich  geht,  macht  die  Rinde  selbst  alter,  ge- 
legentlich noch  Reste  der  ursprünglichen  Stachel- 
bündel bewahrender,  armstarker  Stämme  einen 
glatten  Eindruck.  —  Besonders  erwähnenswert 
erschien  eine  einmal  beobachtete  Abweichung  in 
der  Lokalisierung  der  Peridermbildung,  insofern 
diese  nicht,  wie  eben  beschrieben,  zwischen  Epi- 
dermis und  Kristallschicht,  sondern  unterhalb  der 
CoUenchymlage  stattfand,  so  daß  natürlich  jene 
beiden  Schichten  im  Laufe  der  Zeit  nach  außen 
abgestoßen  werden  müssen.  Ich  kenne  keinen 
analogen  Fall  von  zwei  derartig  verschiedenen 
Peridermbildungen  innerhalb  derselben  Art. 

Das  Dickenwachstum  der  O.  toDCiitosa  und 
anderer,  nicht  sicher  bestimmter,  flachsprossiger 
Arten  spielt  sich  in  folgender,  etwas  abweichen- 
der, Weise  ab.  Zwischen  den  ursprünglichen, 
stammeigenen  und  den  mit  ihnen  in  einer  Ebenen 
liegenden  dünneren  Blattspursträngen,  bzw.  deren 
Anastomosen  wird  bereits  in  den  noch  jugend- 
lichen Sprossen  ein  Interfaszikularkambium  ange- 
legt; es  tritt  also  das  Dickenwachstum  von  an- 
fang  an  im  ganzen  Umfang  des  Flachsprosses  und 
in  einer  großen  Anzahl  von  Bündeln  in  Tätigkeit, 
nicht  bloß,  wie  im  vorigen  F'alle,  nur  in  den  pri- 
mären, stammeigenen  Bündeln  und  deren  nächster 
Umgebung.  Damit  ist  aber  das  Verhalten  der 
O.  tovicnfosa  und  Verwandten  auf  das  allgemeine 
Dikotylenschema  zurückgeführt  und  die  noch  zu 
erwähnenden  Eigentümlichkeiten  betreffen  nur 
histologische  Einzelheiten.  Die  in  Betracht  kom- 
menden Zellelemente  sind  unverholztes  und  ver- 
holztes Parenchym;  Tüpfelgefäße  in  allen  Über- 
gängen zu  Netz-  und  Treppengefäßen,  wobei  die 
Tüpfel  oft  leicht  behöft  sind ;  und  stark  verdicktes 
Libriform  mit  feinen,  spaltenförmigen  Tüpfeln. 
An  Menge  überwiegt  das  Parenchym,  einmal  als 
Vasalparenchym,  und  dann,  und  zwar  ganz  be- 
sonders, in  Form  von  Markstrahlen,  teils  schwach 
verholzt  und  getüpfelt,  teils  unverholzte  Inseln  in 
jenen  bildend.  Alle  diese  parenchymatischen 
Elemente  werden  durch  eine  genügend  lange 
Mazeration  in  Wasser  zerstört.  Bei  dieser  Ge- 
legenheit möchte  ich  auf  eine,  an  unserer  hier  in 
Mexico  geläufigen,  aus  Eichenholz  dargestellten 
Holzkohle  zu  machende  Beobachtung  hinweisen; 
auch  in  ihr  ist  das  reichlich  vorhandene  Mark- 
strahlgewebe durch  das  Glühen  im  Meiler  zer- 
stört, während  die  prosenchymatischen  Elemente 
erhalten  bleiben.  Es  weist  dies  ebenfalls  auf  eine 
geringere    Widerstandskraft    und    somit    auf    eine 


N.  F.  XXr.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


37 


andere  chemische  Beschaffenheit  der  Mari<strahlen 
hin.')  —  Um  jenes  oft  mächtig  entwickelte  Strang- 
parenchym  laufen  die  aus  Gefäßen  und  Libriform 
bestehenden  Holzgruppen  im  Bogen  herum,  der- 
gestalt, daß  man  auf  Querschnitten  durch  den 
Opuntiastamm  nur  einige  Holzpartien  senkrecht 
zur  Axe,  die  anderen  aber  +  tangential  durch- 
schneidet, und  die  Lupenvergrößerung  des  Tan- 
gential- und  Querschnittes  ungefähr  dasselbe  Bild 
gibt.  —  Die  Verteilung  der  verschiedenen  ana- 
tomischen Elemente  in  ihrer  Abhängigkeit  von 
der  Jahreszeit,  d.  h.  die  Bildung  der  Zuwachszonen, 
ist  schwieriger  festzustellen  als  in  der  O.  inibricata- 
Gruppe.  Zwar  werden  auch  hier  zu  Beginn  der 
Vegetationszeit  weite  Gefäße,  umgeben  von  dünn- 
wandigem Vasalparenchym ;  und  später  im  Jahr, 
außer  Gefäßen,  Gruppen  sehr  dickwandigen  Libri- 
forms  gebildet;  aber  der  eben  erwähnte  schiefe 
Verlauf  dieser  Elemente,  die  Einschiebung  der 
Markstrahlen  bzw.  Markflecken  von  wechselnder 
Breite  macht  die  Ver- 
folgung der  Jahresgrenzen 
über  größere  Strecken  un- 
sicher. Da,  wie  gesagt, 
das  Parenchym  durch 
Mazeration  leicht  zerstört 
wird,  so  erhält  man  auf 
diesem  Wege  aus  den 
Stammstücken  ein  System 
umeinander  gelegter,  ma= 
schiger  Holzplatten  von 
verschiedener  Dicke,  und 
von  lokal  wechselnder 
Menge  und  Weite  der 
Maschen,  wozu  natürlich 
die  Dicke  der  Holz- 
stränge in  umgekehr- 
tem Verhältnisse  steht. 
Streckenweise,  d.  h.  auf 
der  und  jener  Flanke, 
kommen  auch  fast  mas- 
sive Holzkörper  vor,  deren 

Ausbildung  wohl  örtlichen  mechanischen  Anforde- 
rungen der  stockwerkartig  übereinander  stehen^ 
den  Generationen  von  Flachsprossen  und  Asten 
ihr  Dasein  verdankt.  Bei  dem  unregelmäßig  ge- 
wundenen Verlauf  der  Markstrahlen  erklärt  es 
sich  außerdem,  daß  die  Maschen  der  einen  Platte 
durchaus  nicht  immer  genau  über  denen  der 
anderen  liegen,  so  daß  man  durch  dickere,  aus 
mehreren  Lagen  bestehende  Skelettstücke  in  der 
Richtung  ihrer  zerstörten  Markstrahlen  nicht  hin- 
durchsehen kann.  Die  Trennung  der  aufeinander 
liegenden  Platten  ist  auf  größere  Strecken  des- 
halb möglich,  weil  ihre  prosenchymatischen  Ele- 
mente in  radialer  Richtung  mit  Ausnahme  der 
Knoten  (d.  h.  in  den  Verbindungsstellen  der  auf- 
einander folgenden  Flachsprossen)  wenig    in  Ver- 

')  Auch  in  den  als  Braunkohle  erhaltenen  Dikotylen- 
hölzern werden  die  pareachymatischen  Teile  vollständiger  zer- 
setzt als  die  faserigen  (Gothan  in  Naturw.  Wochenschr. 
Band   19,   1904,  S.   574). 


bindung  stehen  (Abb.  5  A,  B).  Während  man 
durch  Mazeration  des  Stammes  von  O.  imbricata 
einen  einzigen,  aus  dicken,  maschenbildenden 
Holzsträngen  bestehenden  Skelettkörper  erhält, 
ergeben  sich  aus  dem  O.  tomciitosa  ■  Stamm 
(Abb.  5  C,  D)  mehrere,  mit  dem  Alter  des  Baumes 
an  Zahl  zunehmende,  verschieden  dicke  und  kon- 
zentrisch umeinander  gelegte  Gitterplatten.  Der 
Skelettkörper  der  O.  imbricata  macht  mit  dem 
regelmäßigen  Maschensystem  seiner  Stränge  einen 
eleganten,  der  von  O.  tonieiitosa  mit  seinen  un- 
regelmäßigen, lokal  eng-  oder  weitporigen  Gitter- 
platten einen  klobigen  Eindruck.  Bei  der  Schwierig- 
keit, das  Alter  solcher  Opun  tiastämme  aus  den 
Jahresringen  zu  bestimmen,  bleibt  nur  der  Aus- 
weg, durch  Umfrage  bei  der  Bevölkerung  Aus- 
kunft zu  erhalten.  In  einem  Falle  sollten  etwa 
1,6 — 1,7  m  hohe  Opuntiabäume  gegen  30  Jahre 
alt  sein;  da  es  sich  hier  aber  um  einen  durch 
Bewässerung    und   Düngung    von   der  Steppe  ver- 


Abb.  5.  Skelette  von  Stämmen  und  Wurzeln.  A.  von  0.  hnbrUata;  der  Pfeil  bezeichnet 
die  Anschwellung  an  der  unteren  Seite  der  Einfügung  des  Astes.  B.  O;  imbricata;  der 
Pfeil  bezeichnet  eine  unregelmäßige  Masche  infolge  von  Fäulnis.  C.  0.  tomentosa.  Holz- 
körper des  jungen  Stammes.  D.  O.  toiiientosa.  Holzkörper  des  alten  Stammes.  E.  Holz- 
körper der  Wurzel. 


schiedenen  Standort  handelte,  so  scheint  mir  diese 
Mitteilung  nicht  von  besonderem  Wert;  immer- 
hin gestattet  sie  vielleicht  den  Schluß,  daß  die 
höchsten,  etwa  4 — 5  m  erreichenden  Opuntia- 
bäume wohl  hundert  und  mehr  Jahre  alt  sein 
können.  Beiläufig  gesagt,  fehlt  es  in  der  Steppe 
nicht  an  jungem  Nachwuchs. 

Die  Korkentwicklung  an  der  Oberfläche  des 
Stammes  geht  im  wesentlichen  wie  bei  O.  imbri- 
cata vonstatten.  Auch  hier  sind  die  zwischen 
Epidermis  und  Kristallschicht  eingeschobenen 
I — 2  Zellagen  der  Sitz  der  Korkbildung,  deren 
Herd,  indem  die  Abscheidung  neuer  Periderm- 
zellen  immer  nur  nach  außen  erfolgt,  mehr  und 
mehr  nach  dem  Innern  des  Stammes  zu  verlegt 
wird.  Während  aber  bei  O.  imbricata  zwischen 
die  Peridermschichten  nur  spärliche  und  jedenfalls 
dünne,  verholzte  Trennungsphelloide  eingeschaltet 
werden,  kommt  es  hier  zur  Entwicklung  mehr- 
facher, mächtiger  Holzplatten,   gegen    welche  die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Entwicklung  der  sie  trennenden,  verkorkten  Peri- 
dermlagen  stark  zurücktritt.  So  kommt  eine 
derbe  Schuppenborke  zustande,  auf  deren  rauher 
Oberfläche  zahlreiche  Flechten  und  epiphytische 
Tillandsien,  zumal  T.  rccurvata,  sich  ansiedeln.  — 
Die  tangentiale  Spannung,  welche  die  sich  ver- 
dickenden Sprosse  von  O.  inibricata  und  O.  to- 
mmtosa  erfahren,  scheint  keine  bedeutende  zu 
sein,  da  Längsschnitte,  welche  das  Rindengewebe 
der  lebenden  Pflanze  durchtrennen,  zunächst  nicht 
klaffen;  späterhin  treten  die  Wundränder  natür- 
lich auseinander,  in  dem  Maße,  als  sie  aus- 
trocknen. 

Das  Dickenwachstum  der  Wurzeln  bietet  wenig 
bemerkenswertes.  Sie  erreichen  bei  O.  imhricata 
Daumenstärke,  bei  den  hohen,  flachsprossigen 
Opuntien  die  doppelte  Dicke.  IMit  dem  Holz- 
körper der  Stämme  stimmen  sie  im  maschigen 
Bau  überein,  doch  sind  die  Maschen  hier  viel 
enger,  da  ja  hier  jede  Bezugnahme  auf  die  Blatt- 
insertionen  wegfällt  (Abb.  5  E).  Der  Bau  des 
Holzkörpers  wird  von  außen  nach  innen  dichter, 
insofern  die  Markstrahlen  mehr  und  mehr  an 
Menge  zurücktreten  und  ein  zentrales  Mark  über- 
haupt nicht  vorhanden  ist.  Als  Transpirations- 
schutz der  oberflächlich  streichenden  Wurzeln  ist 
ein  stark  verholzter  Peridermmantel  vorhanden. 
Die  Holzmasse  besteht  aus  schief  getüpfelten 
Libriformfasern  und  sehr  zahlreichen,  kurzgliederigen 
und  weiten  Gefäßen,  mit  allen  Übergängen  von 
Tüpfel-  zu  Netz-  und  Treppengefäßen;  die  Tüpfel 
sind  deutlich  behöft.  Die  Libriformfasern  einer 
flachsprossigen  Art,  deren  Wurzeln  ich  bereits 
durch  Wind  und  Wetter  mazeriert  fand,  waren 
sehr  deutlich  spiralig  gestreift. 


III.   Allgemeine   Bemerkungen    über   das 
Skelett  der  Kakteen. 

In  diesem  letzten  Abschnitte  sollen  einige  all- 
gemeine Erörterungen  angestellt  werden,  die  zu 
den  vorstehenden  Beschreibungen  in  Beziehung 
stehen. 

Zunächst  sei  nochmals  die  Aufmerksamkeit 
auf  das  eigenartigste  Bauelement  des  Kakteen 
Stammes  gelenkt,  auf  die  Spiralstracheiden.  Da 
sich  für  sie  eine  besondere  Lebensaufgabe  kaum 
wird  feststellen  lassen ,  so  dürfen  sie  wohl  als 
morphologisches  Merkmal  betrachtet  werden, 
dessen  Interesse  sich  noch  dadurch  erhöht,  daß 
es  unter  den  Opuntien  nur  den  Jugendformen 
zukommt.  Es  lag  nahe,  nacli  einem  anatomisch 
so  ausgesprochenen  Element  (wenn  ihm  auch 
Übergänge  zu  Gefäßen  mit  Spiral-  und  Netz- 
struktur nicht  fehlen)  im  weiteren  Verwandt- 
schaftskreise der  Kakteen  zu  suchen;  und  die 
neuere  Anschauung,  diese  doch  recht  isoliert  im 
System  stehende  Familie  mit  den  Centrospermen 
in  eine  wenn  auch  entfernte  Beziehung  zu  bringen,^) 
gab    für  jene    Nachforschungen    einen   Fingerzeig. 


Zwar  zitiert  Solereder^)  diese  spindelförmigen 
Tracheiden  nur  von  den  Kakteen ;  aber  auf  S.  1 29 
des  Hauptwerkes  werden  „zahlreiche,  kurze,  spin- 
delförmig gestaltete  Spiraltracheiden  im  Mark"  von 
Anacampseros  (einer  zu  den  Portulacaceen 
und  somit  zu  den  Centrospermen  gehörigen  Gat- 
tung) hervorgehoben.  Doch  ist  dieser  Tatsache 
wohl  keine  Bedeutung  für  phylogenetische  Er- 
wägungen einzuräumen,  da  Anacampseros 
der  südafrikanischen  Flora  angehört,  die  Kakteen 
dagegen  fast  ausschließlich  amerikanisch  sind,  und 
die  Entwicklung  der  betreffenden  Florenreiche 
keine  gemeinsamen  Züge  aufweist.  — 

Von  allgemeinem  Interesse  ist  weiter  die  be- 
trächtliche Entwicklung  des  Markstrahlgewebes. 
Es  wurde  oben  darauf  hingewiesen ,  daß  ein  ur- 
sprünglicher, die  fleischige  Beschaffenheit  der 
Kakteen  bedingender  Charakter  in  der  mächtigen 
Entwicklung  des  Grundparenchyms  beruht;  dazu 
kommt  nun  noch  als  weiteres,  von  der  Tätigkeit 
des  Kambiums  abhängendes  Moment  die  starke 
Ausbildung  des  Markstrahlgewebes.  Sie  ist  eben- 
falls als  ein  ursprünglicher,  morphologischer  Cha- 
rakter (wie  bei  den  Protaceen  usw.)  aufzufassen, 
da  er  sich  auch  in  den  nicht  fleischigen  Pei  res - 
kiastämmen  findet  und  in  anderen  Kakteen  bei 
Zunahme  des  Grundparenchyms  auch  seinerseits 
eine  Weiterbildung  erfährt. 

Eine  eingehendere  Erörterung  verlangt  ferner 
das  Skelettsystem  der  oben  besprochenen  Kakteen 
einmal  in  Rücksicht  auf  seine  physiologischen 
Leistungen,  und  dann  auf  seine  Beziehungen  zu 
den  anderen  Gewebssystemen,  die  mit  und  neben 
ihm  im  Kakteenkörper  vertreten  sind.  Dabei 
dürfte  zunächst  von  Interesse  sein,  daß  die  ge- 
ringste Entwicklung  des  Skelettes  den  niedrigsten, 
einzeln  oder  rasenförmig  wachsenden  F'ormen  zu- 
kommt, die  bei  ihrer  geringen  Erhebung  über 
den  Boden  nicht  vom  Winde  gefaßt  werden.  Die 
innere  Struktur  von  O.  tniiicata  mag  dafür  als 
Beispiel  dienen;  ebenso  verhält  sich  die  zum  Ver- 
gleich herangezogene  Miuiiillaria  cciüncirrha,  bei 
deren  Mazeration  man  überhaupt  kein  zusammen- 
hängendes Skelett,  sondern  nur  eine  Menge  regel- 
los anastomosierender,  dünner  Bündel  erhält,  ver- 
gesellschaftet mit  unzähligen  gegliederten  Milch- 
röhren, zu  deren  Demonstration  ein  mazerierter 
M  amillariakörper  geradezu  empfohlen  werden 
kann.  Auch  die  weichen  Stämmchen  von  Echinv- 
ccreits  ciiicrascois  lassen  beim  Verfaulen  kein 
Skelett,  sondern  nur  die  kaftonpapierartige  Hülle 
ihres  Peridermmantels  zurück.  Das  mechanische 
System  des  ebenfalls  vergleichsweise  untersuchten 
Echiiiocactus  cdniigcr  besteht  aus  einem  niedrigen, 
im  Grunde  des  kugeligen  Körpers  gelegenen  Holz- 
zylinders, von  welchem  die  Bündel  zu  den  Are- 
olen auslaufen.  Weit  mehr  Gefahr,  als  vom 
Winde  umgebrochen  zu  werden,  laufen  diese 
niedrigen  Kakteen,  von  den  Tritten  der  etwa  über 


')   Kngler,   .X.,   .Syll^ibus,    1912,   S.   273. 


')  Solcrcdcr 
irags-Hand  S.   38S. 


Syst.    .'\ii;it.    der    Dikulyl.-n.      Narli- 


N.   F.  XXI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


39 


sie  hinwegschreitenden  Tiere  verletzt  zu  werden; 
aber  bei  O.  tiiiiicata  bildet  die  furchtbare  Be- 
stachelung  eine  wirksame  Abwehr,  während  die 
tangential  der  Oberfläche  des  Körpers  ange- 
schmiegten  Stacheln  von  Mamillaria  cenfricirrlia, 
M.  elegans  usw.  einen  federnden  Außenmantel 
darstellen.  Die  anderen,  vorstehend  genauer  be- 
schriebenen Opuntien  sind  hohe,  stattliche  Pflanzen. 
Die  in  ihrer  regelmäßigen  Verzweigung  an  eine 
Araucarie  erinnernde  O.  inibricata  erreicht  2  m 
Höhe  bei  40  zu  45  cm  Stammumfang  über  dem 
Boden.  Ihr  Innenskelett  (Abb.  5  A,  B)  läßt  sich 
einem  zu  einem  Zylinder  zusammengebogenen, 
weitmaschigen  und  dicksträngigen  Drahtgitter 
vergleichen,  dessen  Biegungsfestigkeit  noch  durch 
die  starre,  wie  aus  steifem  Karton  gebaute  Peri- 
dermhüUe  verstärkt  wird.  Da  wo  die  rechtwinklig 
abstehenden  Seitenäste  abzweigen,  ist  das  Skelett 
des  Hauptstammes  an  der  Unterseite  stärker  ver- 
dickt, als  auf  der  Oberseite,  um  die  Äste  in  ihrer 
horizontalen  Richtung  erhalten  zu  können  (Abb.  5  A) ; 
und  wenn  die  Regelmäßigkeit  des  Maschensystems 
durch  einen  der  in  den  fleischigen 
Kakteen  häufigen  Fäulnisherde  lokal 
zerstört  ist,  so  suchen  die  Nachbar- 
stränge durch  veränderte  Stärke  und 
Richtung  den  Schaden  im  Sinne  einer 
Erhaltung  derGesamtfestigkeit  wieder 
gut  zu  machen  (Abb.  5  B).  Es  er- 
innert dies  an  die  Umlagerung  der 
Knochenbälkchen  im  Halse  unseres 
Oberschenkelknochens  infolge  von 
Verletzungen.  — ■  O.  tomeutosa  und 
verwandte  flachsprossige  Arten  sind 
reichästige  Bäume  mit  runder  Krone, 
die  4 — 5  m  Höhe  bei  1,75  m  Stamm- 
umfang über  dem  Boden  erreichen. 
Von  Interesse  ist  der  Wechsel  der 
Querschnittsform  ihrer  Glieder  mit 
dem  Alter;  wie  bekannt,  ist  die 
Hauptaxe  der  jungen  Pflanze  zylin- 
drisch, während  die  folgenden  Aus- 
zweigungen  flachsprossig  werden. 
Aber,  mit  vorschreitendem  Alter  nehmen  die 
älteren  Flachsprosse  zunächst  einen  elliptischen, 
dann  einen  kreisförmigen  Querschnitt  an,  und 
die  anfänglich  deutlich  ausgesprochene  Gliede- 
rung (durch  die  nach  Spitze  und  Basis  ver- 
schmälerte Gestalt  der  Flachsprosse  bedingt)  ver- 
liert sich  allmählich  infolge  des  Dickenwachstums, 
bis  auf  eine  leichte,  gürtelförmige  Einschnürung. 
Wenn  man  nun  im  Auge  behält,  daß  die  Hunderte 
von  nach  allen  Richtungen  und  unter  allen  Winkeln 
zum  Horizont  abstehenden  flachen  Glieder  um- 
fänglicher Opuntien  dem  Winde  eine  gewaltige 
Angriffsfläche  darbieten,  so  ist  mechanisch  ver- 
ständlich, daß  die  unteren  Sprosse,  welche  so- 
wohl auf  Biegungs-  als  auch  auf  Säulenfestigkeit 
in  Anspruch  genommen  werden,  ihre  abgeflachte 
Form  durch  die  weniger  flächenhafte  zylinderische 
ersetzen.  Wie  man  durch  die  Beobachtungen  von 
Sachs   und  Goebel')  weiß,   bedingt   das  Licht 


die  flache  Form  der  Sprosse;  aber  sein  Einfluß 
wird  mit  zunehmendem  Wachstum  des  Individuums 
durch  die  Ansprüche  an  Standfestigkeit  zurück- 
gedrängt, und  die  ursprüngliche,  zylinderische  Form 
wieder  hergestellt.  Die  keilförmig  in  das  Mark 
vorspringenden  Holzteile  setzen  unter  rechtem 
Winkel  nach  außen  an,  so  daß  an  den  schmalen 
Seiten  der  ellipsoidischen,  in  die  Dicke  wachsen- 
den Sprosse  von  O.  tomeutosa  Kurven  entstehen, 
welche  an  Scharen  konfokaler  Parabeln  erinnern 
und  den  Schmalseiten  dieser  Stämme  besondere 
F"estigkeit  verleihen  (Abb.  6).  Bei  heftigem  Winde 
sieht  man  die  Individuen  von  O.  imbricata,  wie 
Gerten,  als  Ganzes  schwanken,  während  von  den 
dicken  Bäumen  der  O.  to)iic)itosa  nur  die  jüngeren 
Auszweigungen  in  Bewegung  gesetzt  werden.  — 
Ebenso  wie  bei  U.  tunicata  werden  auch  bei  den 
flachsprossigen  Arten  tief  in  den  Holzkörper  vor- 
dringende Fäulniswunden  möglichst  bald  und  wirk- 
sam geschlossen,  und  zwar  durch  dicht  aufein- 
ander folgende,  stark  verholzte  Peridermlagen,  die 
durch  dünne  Parenchymschichten  voneinander  ge- 


/ 


/ 


.^: 


/ 


M 


X-'X 


Abb.  6.     Querschuilt    eines    in    die  Dicke  wachsenden ,    zylindrisch    werdenden 

Stammes  von   O.  tomeutosa.      R.    Rinde ;    M.  Mark.      Die    (dunkel    gehaltenen) 

Holzkörper  der  gegenüberliegenden  Seiten  bilden  je  einen  Bogen. 


trennt  sind;  nach  der  Mazeration  erscheinen  sie 
als  aus  konzentrischen  Schichten  gebildete  Gänge 
und  Höhlen,  welche  Rindenparenchym  und  Holz 
durchsetzen.  —  Der  Holzkörper  von  Ccreus  mar- 
giiiatiis  (Abb.  7),  der  nun  noch  zum  Vergleiche 
herangezogen  werden  mag,  ist  ein  geschlossener 
Zylinder;  wenigstens  sind  die  Maschen,  in  welche 
die  Blattspurstränge  einmünden,  so  eng  und  un- 
bedeutend, daß  sie  nicht  in  Betracht  kommen. 
Die  Standfestigkeit  der  bis  7  m  hohen  Säulen, 
welche  diese  nicht  oder  wenig  verzweigten 
Stämme  (vom  Volke  „Orgelpfeifen"  genannt)  dar- 
bieten, trotzt  den  heftigsten  Stürmen. 

Von  der  physiologischen  Anatomie  der  Wurzeln 
ist  nichts  besonderes  zu  berichten;  die  Verlegung 
der  festen  Elemente  nach  dem  Zentrum  zu  — 
Abnehmen   der  Markstrahlen,   Fehlen  des  Markes 


Goebel,  K.,   Organographie   1S9S,  S.   213. 


40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   3 


—  steht  mit  den  Anforderungen  an  einen  zug- 
festen Bau  im  Einklang.  Das  Skelett  von  Cereiis 
hamatiis,  der  mit  seinen  langen,  schlaffen  Zweigen 
hoch  in  die  Bäume  emporsteigt,  braucht  keinen 
biegungsfesten,  sondern  mehr  zugfesten  Bau;  sein 
Holzkörper  ist  weit  nach  innen  gelagert  und,  ent- 
sprechend den  4  stark  vorspringenden  Rippen  des 
Stammes,  in  4  durch  Parenchym  getrennte  Einzel- 
körper  zerlegt.  Diese  Zwischenstreifen  aus  Paren- 
chym mögen  wohl  seitliche  Verschiebungen  der 
Holzkörper  gestatten,  wenn  die  Biegungen  des 
kletternden  Stammes  sie  nötig  machen. 


Abb.  7.  Stück  aus  dem  durch  Mazeration  isolierten  Holz- 
körper von  Cetetis  niarglnattis.  Bs.  die  nach  den  in  Ortho- 
stichen    stehenden    Areolen    abgehenden  Bündel    (Blattspuren). 


Schließlich  mag  das  Skelett  der  Opuntien 
(und  anderer,  mit  ihnen  verglichener  Kakteen) 
betrachtet  werden  in  seinen  Beziehungen  zu  den 
anderen  Verrichtungen  dienenden  Geweben.  Die 
bisherige  Darstellung  suchte  seine  Konstruktion 
aus  mechanischen  Prinzipien  verständlich  zu 
machen;  im  folgenden  soll  gezeigt  werden,  daß 
sein  Auf-  und  Ausbau  auch  von  anderen,  zumal 
durch  die  gesamten  Organisationsverhältnisse  ge- 
gebenen und  den  Familiencharakter  der  Kakteen 
ausmachenden  Verhältnissen  abhängt.  Als  solche 
kommen  in  Betracht  die  fleischige  Beschaffenheit 
der  Sprosse,  die  weitgehende  Unterdrückung  der 
Blätter,  die  Anordnung  der  Areolen  nach  hohen 
Divergenzen  der  Blattspirale,  bzw.  in  dicht  be- 
setzten Orthostichen.  Das  Überwiegen  des 
fleischigen  Parenchyms  macht  die  Breite  der  aus 
ihm  bestehenden  Markstrahlen  verständlich ;  die 
große  Anzahl  der  Areolen,  von  denen  eine  jede 
über  eine  IVIasche  des  Holzstranggewebes  fällt, 
welche  ihrerseits  wieder  einem  Markstrahl  den 
Durchgang  gewährt,  erklärt  die  Notwendigkeit 
jener  Stränge,  bogenförmig  um  jene  umfänglichen 
Markstrahlkomplexe  herumzulaufen,  —  ähnlich 
wie  es  im  Maserholz  mit  seinem  ebenfalls  be- 
trächtlich vergrößerten  Markstrahlgewebe  ')  vor- 
kommt.    Dieser  bogige  Strangverlauf   findet    sich 


sowohl  bei  niedrigen,  wie  bei  hohen  Opuntien,  und 
wenn  er  auch  als  Skelett  für  Biegungsfestigkeit  sehr 
wirksam  sein  mag,  wie  der  oben  gebrauchte  Ver- 
gleich mit  einer  Rolle  Drahtgitter  dartun  soll, 
so  kann  er  doch  nicht  als  eine  diesem  Zwecke 
dienende  Mechanomorphose  aufgefaßt  werden. 
Dagegen  würde  auch  sein  Vorkommen  bei  einer 
unter  ganz  abweichenden  Verhältnissen  lebenden 
Pflanzengruppe  sprechen,  nämlich  in  den  Stämmen 
und  Rhizomen  zahlreicher  Farne;-}  dichte  Blatt- 
stellung und  reichliches  Parenchym  bestimmen 
hier  ebenfalls  seine  Entwicklung. 

Auch  die  andere  Eigentümlichkeit  der  Kakteen, 
die  Unterdrückung  der  Blätter,  weist  eine  eben- 
falls indirekte  Beziehung  zum  Skelettsystem  auf. 
Das  Fehlen  der  Blätter  bringt  als  Korrelation  die 
Verlegung  des  grünen  Assimilationsgewebes  an 
die  Oberfläche  des  Stammes  mit  sich,  und  weiter 
die  Vergrößerung  dieser  Fläche  durch  Warzen 
{OpHiäia  iuibricata,  Mamillarid),  Rippen  {Ccre/ts, 
Echinücadits)  und  Flachsprosse  {ü.  /omcii/asa). 
Von  diesen  Einrichtungen  sind  die  letzteren,  wie 
bereits  oben  dargetan  wurde,  für  die  Herstellung 
der  Biegungs-  und  Säulenfestigkeit  wenig  geeignet 
und  werden  daher  schließlich  durch  zylindrische 
Achsen  ersetzt.  Dagegen  sind  die  Warzen  und 
zumal  die  Rippen  und  vorspringenden  Kämme 
äußerst  vorteilhaft  zur  Erhöhung  der  Biegungs- 
festigkeit, wie  es  jedes  fächerförmig  zusammen- 
gekniffene im  Vergleich  zu  einem  flachen  Stück 
Papier  zeigt,  und  wie  es  die  höchsten  Säulen- 
kakteen der  Gattungen  Qre/is,  Piloccrcns  usw. 
beweisen.  Aber  auch  hier  handelt  es  sich  um 
Organisationen,  die  primär  unter  der  Einwirkung 
des  Lichtes  im  Dienste  der  Assimilation  hervor- 
gerufen wurden,  und  sich  sekundär  auch  als  me- 
chanisch nützlich  erwiesen  haben.  Denn  es  gibt 
kugelförmige,  sehr  niedrige  und  daher  nie  auf 
Biegungsfestigkeit  in  Anspruch  genommene  Kak- 
teen (z.  B.  Ecliinocactus  inuUicostatus),  welche 
außerordentlich  tief  und  scharf  gerippt  sind.  In 
der  Tatsache,  daß  die  gleiche  Organisation  ver- 
schiedenen Verrichtungen  dienstbar  gemacht  wird, 
zeigt  sich  die  Ökonomie  eines  Organismus,  der 
ein  Maximum  von  Leistung  mit  einem  Minimum 
von  Aufwand  an  Material  vollbringt. 

Die  Kakteen  gelten  mit  Recht  als  Schulbeispiel 
für  Organisationen,  die  bis  in  die  feinsten  Einzel- 
heiten für  das  Leben  an  trockenen,  heißen  und 
windigen  Standorten  abgestimmt  sind.  Es  ist 
dies  um  so  bemerkenswerter,  als  sie  eine  relativ 
junge  Pflanzenfamilie  sind,  insofern  man  in  dem 
Tertiär  noch  keine,  an  den  Stacheln  leicht  zu  er- 
kennende fossilen  Reste  von  ihnen  gefunden  hat. 

Mexico,  September  1915. 


')  Küster,  K.,  Pathologische  Pflanzeuanalomie,  .Mib.  6g. 
'-)  De  Bary ,  A.,  Vergleichende  Anatomie,  S.  295,  Abb.  132, 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


41 


Kritische  Betrachtnug  über  die  Grundlagen  der  Relativitätstheorie  Eiusteiu)s. 


[Nachdruck  verböte 


Von  Friedr.  Dahl. 


In  einem  neueren  Vortrag  „Geometrie  und 
Erfahrung"  spricht  sich  Einstein  über  die  er- 
kenntnistheoretischen Grundlagen  seiner  Rela- 
tivitätstheorie aus, ')  und  es  ist  uns  damit  die 
Möglichkeit  gegeben,  die  Prämissen,  auf  denen 
seine  Theorie  sich  aufbaut,  sorgfältig  zu  prüfen. 
Eine  solche  Prüfung  der  Grundanschauung  und 
grundlegenden  Tatsachen  einer  Theorie,  die  man 
allgemein  als  deren  Prämissen  bezeichnen  kann, 
ist  äußerst  wichtig,  da  auf  einem  verfehlten  Fun- 
dament ein  ganzes  Gebäude,  auch  wenn  es  sonst 
formgerecht  aufgebaut  ist,  ins  Wanken  geraten 
kann.  Wissenschaftliche  Theorien  bauen  sich,  wie 
man  weiß,  auf  Prämissen  auf,  welche  nach  dem 
augenblicklichen  Stande  der  Wissenschaft  als 
durchaus  gesichert  erscheinen  müssen.  Jeder 
Fortschritt  der  Wissenschaft,  der  an  den  die  Prä- 
missen liefernden  Tatsachen  etwas  ändert,  muß 
eine  entsprechende  Änderung  der  Theorie  zur 
P'olge  haben.  Ist  die  Theorie  einer  entsprechen- 
den Änderung  nicht  fähig,  so  muß  sie  fallen. 
Eine  Theorie,  bei  deren  Aufbau  schon  unrichtige 
Prämissen  zur  Anwendung  gelangt  sind,  muß 
von  vornherein  als  verfehlt  bezeichnet  werden, 
auch  wenn  der  Aufbau  durchaus  logisch  durch- 
geführt ist.  —  Von  diesem  Standpunkte  aus  wolle 
man  meine  Ausführungen,  die  sich  lediglich  mit 
den  jetzt  von  Einstein  gegebenen  Grundlagen, 
nicht    mit    der  Theorie    selbst    befaßt,   beurteilen. 

Einstein  behauptet,  daß  die  Sätze  der 
Mathematik  und  speziell  der  Geometrie,  soweit 
es  sich  um  ihre  Anwendung  auf  Gegenstände  der 
Wirklichkeit,  d.  h.  also  auch  um  ihre  Anwendung 
auf  naturwissenschaftliche  Gegenstände  handelt, 
unsicher  seien.  Er  sagt  (S.  124)  wörtlich:  „Inso- 
fern sich  die  Sätze  der  Mathematik  auf  die  Wirk- 
lichkeit beziehen,  sind  sie  nicht  sicher,  und  inso- 
fern sie  sicher  sind ,  beziehen  sie  sich  nicht  auf 
die  Wirklichkeit."  —  Es  ist  das  eine  Behauptung 
von  ungeheurer  Tragweite  für  jeden  Forscher  auf 
naturwissenschaftlichem  Gebiete,  der  sich  bei 
seiner  Forschung  mathematischer  Elemente  be- 
dient. 

Wie  begründet  nun  Einstein  seine  Behaup- 
tung? —  Er  meint,  „daß  die  Mathematik  ein  von 
aller  Erfahrung  unabhängiges  Produkt  des  mensch- 
lichen Denkens"  sei.  So  sollen  die  Axiome  der 
Geometrie  „freie  Schöpfungen  des  menschlichen 
Geistes"  sein.  Einstein  ist  also,  um  es  mit 
etwas  anderen  Worten  noch  einmal  klar  auszu- 
drücken, der  Ansicht,  daß  die  Fundamente  der 
Mathematik  nicht  der  Erfahrung,  sondern  lediglich 
dem  Denken  des  Menschen,  unbeeinflußt  durch 
die  Erfahrung,  entsprungen  sind.  -)  —  Diese  An- 
sicht muß  entschieden  als  verfehlt  bezeichnet  wer- 
den. —  Nehmen  wir  als  Beispiel  das  von  Ein- 
stein gewählte  Axiom  der  Geometrie,  einerseits 
in  der  Fassung,    wie   ich   es    in   einem   mir   vor- 


liegenden älteren  Lehrbuche  ^)  finde  und  anderer- 
seits in  der  von  Einstein  gewählten  Fassung, 
so  lautet  es  an  der  erstgenannten  Stelle:  „durch 
zwei  Punkte  läßt  sich  nur  eine  einzige  gerade 
Linie  ziehen",  an  der  zweiten  Stelle:  „durch  zwei 
Punkte  des  Raumes  geht  stets  eine  und  nur  eine 
Gerade".  —  Schon  aus  dem  verschiedenen  Wort- 
laut erkennt  man  klar,  daß  sich  der  Mathema- 
tiker erst  mühsam  von  den  Tatsachen  seiner 
Sinneswahrnehmung  hat  freimachen  müssen.  Bei 
dem  ersten  Wortlaut  erscheint  uns  der  Satz  noch 
deutlich  als  Ergebnis  der  Sinneswahrnehmung. 
Erst  bei  dem  zweiten  Wortlaut  hat  sich  der 
Mathematiker  von  der  Sinneswahrnehmung  völlig 
freigemacht.  —  Schon  aus  dieser  Tatsache  geht 
eigentlich  klar  hervor,  daß  das  Axiom  ursprüng- 
lich als  Produkt  der  Erfahrung  entstanden  ist.  — 
Den  allmählichen ,  unmerklichen  Übergang  des 
gezeichneten  Punktes  und  der  gezeichneten  geraden 
Linie  in  den  nur  gedachten  mathematischen  Punkt 
und  die  nur  gedachte  Gerade  kann  man  aber 
auch  genau  verfolgen  und  damit  den  Beweis 
liefern,  daß  der  Satz  der  Geometrie  in  gleicher 
Weise  für  das  Produkt  der  Sinneswahrnehmung 
und  das  Produkt  des  Denkens  gilt:  —  Machen 
wir  einen  sehr  kleinen  Punkt  auf  das  Papier,  so 
scheint  dieser  für  unser  unbewaffnetes  Auge  gar 
keine  Ausdehnung  zu  besitzen  und  das  ist  in  der 
Praxis,  ebenso  wie  in  der  Mathematik,  für  den 
Begriff  „Punkt"  das  Maßgebende.  Wir  haben  in 
dem  gezeichneten  Punkt  das  Produkt  der  Erfah- 
rung vor  uns,  an  welches  das  mathematische 
Denken  anknüpft.  —  Unter  dem  Mikroskop  er- 
scheint uns  der  mit  unbewaffnetem  Auge  kaum 
noch  sichtbare  Punkt  noch  deutlich  als  Fläche. 
Aber  auch  unter  dem  Mikroskop  erkennen  wir 
bei  jeder  Vergrößerung  Punkte,  die  wieder  bei 
noch  stärkerer  Vergrößerung  als  Flächen  erschei- 
nen. Es  ist  klar,  daß  wir  uns  durch  fortgesetzte 
Verkleinerung  des  Punktes  immer  mehr  einem 
Grenzwert  nähern,  der  dem  nur  gedachten  mathe- 
matischen Punkt  beliebig  nahe  stehen  kann. 
Dieser  (schließlich  auch  nur  noch  zu  denkende) 
kleinste  wirkliche  Punkt  geht  also  unmerklich  in 
den  mathematisciien  Punkt  über.  Dasselbe  gilt 
für  den  Begriff  „Linie"  und  speziell  für  den  Be- 
griff „Gerade".  Bei  der  Linie  handelt  es  sich, 
wenn  man  zum  Grenzwert  übergeht,  um  eine 
Ausdehnung  nur  in  einer  Richtung.  —  Durch 
diese  Erwägungen  wird  jedem  Leser  klar  sein, 
daß  der  mathematische  Begriff  Punkt    nichts    an- 


')  Sitzungsber.  d.  preufl.  .\kad.  d.  Wissensch.  Berlin 
1921,  V,  S.   123 — 130. 

')  Wie  weit  die  genannten  Sätze  von  Einstein  selbst 
herrühren  oder  auch  von  anderen  Forschern  vertreten  werden, 
kann  uns  hier  gleichgültig  sein. 

'■')  A.  Wiegand,  Erster  Kursus  der  Planimetrie,  lo.  Aufl., 
S.  9.     Halle   1874. 


42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  ¥.  XXI.  Nr.  3 


deres  ist,  als  der  unendlich  klein  gedachte 
Punkt  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  der  mathe- 
matische Begriff  Gerade  nichts  anderes  als  die 
unendlich  fein  gedachte  gerade  Linie.  Was 
also  für  den  mathematischen  Punkt  und  die  ma- 
thematische Gerade  gilt,  muß  in  der  Praxis  auch 
für  den  Punkt  und  die  gerade  Linie  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  gelten. 

Daß  die  mathematischen  Begriffe  „Punkt"  und 
„Gerade"  ohne  die  entsprechenden  Begriffe  der 
praktischen  Erfahrung  durch  unser  Denken  allein 
nicht  hätten  gewonnen  werden  können,  ergibt 
eine  einfache  Überlegung:  Stellen  wir  uns 
einen  Menschen  vor,  der  weder  einen  Gesichts- 
sinn noch  einen  Tastsinn  besitzt,  wohl  aber  eine 
normal  funktionierende  Reflextätigkeit,  also  auch 
eine  normale  Ernährung  und  eine  normal  funktio- 
nierende Großhirnrinde,  also  auch  ein  normales 
Denkvermögen,  so  würde  sich  dieser  Mensch 
offenbar  weder  einen  mathematischen  Punkt  noch 
eine  mathematische  Gerade  denken  können,  weil 
ihm  eine  Vorstellung  von  Punkt  und  Linie  fehlt. 
Er  würde  allen  geometrischen  Sätzen  völlig  ver- 
ständnislos gegenüberstehen.  —  Wer  sich  über 
alle  diese  Tatsachen  völlig  klar  geworden  ist,  der 
wird  zu  der  Überzeugung  gelangen,  daß  die  oben 
genannte  Behauptung  Einsteins  unzutreffend 
ist.  —  Nun  sagt  aber  Einstein  selbst,  daß  das, 
was  er  hier  behauptet ,  seiner  Relativitätstheorie 
als  Grundlage  dient.  Diese  Theorie  würde  dem- 
nach der  zulässigen  Grundlage  entbehren  und 
fallen  müssen.  Einstein  sagt  wörtlich  (S.  126); 
„Dieser  geschilderten  Auffassung  der  Geometrie 
lege  ich  deshalb  besondere  Bedeutung  bei,  weil 
es  mir  ohne  sie  unmöglich  gewesen  wäre,  die 
Relativitätstheorie  aufzustellen." 

Ein  längst  in  den  weitesten  Kreisen  der  Natur- 
forscher allgemein  anerkannter  Grundsatz  bewahr- 
heitet sich  also  auch  hier:  Der  Naturforscher  darf 
lediglich  von  Erfahrungstatsachen  als  der  allein 
sicheren  Grundlage  aller  Forschung  ausgehen. 
Weicht  er  von  diesem  Grundsatz  ab,  so  verliert 
er  den  allein  sicheren  Boden  unter  den  Füßen. 
—  Als  Naturforscher  muß  man  also  annehmen, 
daß  das  gesamte  Wissen  des  Menschen  der  Er- 
fahrung entstammt,  und  daß  alles  Denken  nur  an 
Tatsachen  der  Erfahrung  anknüpfen  kann.  Bei 
der  Geburt  ist  eine  „tabula  rasa"  vorhanden.  Nur 
Fähigkeiten  bringt  der  Mensch  bei  der  Ge- 
burt als  ererbte  Tätigkeit  der  Großhirnrinde  mit 
auf  die  Welt,  nur  die  Denkfähigkeit,  kein 
positives  Denken,  weil  erst  Sinneseindrücke  vor- 
handen sein  müssen,  an  welche  das  Denken  an- 
knüpfen kann.  • —  Als  geistige  Fähigkeiten,  deren 
Vorhandensein  bei  der  Geburt  wir  notwendig 
annehmen  müssen,  um  alles,  was  wir  vom  mensch- 
lichen Denken  wissen,  erklären  zu  können,  sind 
folgende  zu  nennen:  i.  Die  Fähigkeit,  Sinnes- 
eindrücke als  „Wahrnehmungen"  ins  Bewußtsein 
aufnehmen  und  durch  das  „Gedächtnis"  festhalten 
zu  können.  2.  Die  Fähigkeit,  Sinneseindrücke 
unter    Einschaltung    eines    Bewußtseinsvorganges 


auf  eine  Muskeltätigkeit  überführen  zu  können. 
3.  Die  Fähigkeit,  Sinneseindrücke  und  Muskel- 
tätigkeit mit  „Gefühlen"  bestimmter  Art  verbinden 
und  diese  Gefühle  für  die  weitere  Muskeltätigkeit, 
für  das  bewußte  Handeln  maßgebend  sein  lassen 
zu  können.  4.  Die  Fähigkeit,  frühere  und  gegen- 
wärtige Sinneseindrücke  miteinander  vergleichen 
zu  können  und  das  Gemeinschaftliche,  —  dem 
etwas  Wirkliches  in  der  Natur  entsprechen  muß, 
—  als  „Begriffe"  herausschälen  zu  können.  5.  Die 
Fähigkeit,  Teile  von  Sinneseindrücken  im  Denken 
beliebig  kombinieren  zu  können  und  von  einzelnen 
Teilen  derselben  abstrahieren  zu  können.  6.  Die 
Fähigkeit  aus  Erfahrungstatsachen  mittels  des 
Satzes  vom  Widerspruch  logische  Schlüsse  ziehen 
zu  können. 

Alles  Denken  knüpft  also  an  Sinneseindrücke, 
an  Tatsachen  der  Erfahrung  an.  —  Zu  den  All- 
gemeinbegriffen, die  der  Erfahrung  entstammen, 
gehören  auch  der  Raum-,  Zeit-  und  Kausalitäts- 
begriff. Auch  sie  leiten  sich  aus  Sinneseindrücken 
ab,  der  Raumbegriff  aus  dem  Nebeneinander  der 
Sinneseindrücke,  der  Zeitbegriff  aus  dem  Nach- 
einander der  Sinneseindrücke  und  der  Kausalitäts- 
begriff aus  dem  gesetzmäßigen  Nacheinander 
bestimmter  Erfahrungstatsachen.  Daß  wir  uns 
Objekte  nur  im  Raum  und  Vorgänge  nur  in  der 
Zeit  denken  können,  ändert,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  an  dieser  Tatsache  nichts  und  ebenso, 
daß  Sinneseindrücke  und  damit  Erfahrungen  ohne 
Kausalität  undenkbar  sind.  —  Der  Naturforscher 
kommt  also  mit  der  Annahme,  daß  alles  Wissen 
und  Denken  auf  Sinneseindrücke,  auf  Tatsachen 
der  Erfahrung    zurückzuführen  ist,    sehr  wohl  aus. 

Was  die  philosophische  Grundlage  des  Natur- 
forschers anbetrifft,  so  stehen  wir  noch  heute  im 
wesentlichen  auf  der  von  Hume  und  Kant  ge- 
schaffenen Basis.  —  Da  Sinnestäuschungen 
bekanntlich  überall  und  immer  wieder  vorkommen, 
so  mußte  sich  der  Forscher  schon  früh  die  F"rage 
vorlegen,  wieweit  wir  uns  überhaupt  auf  unsere 
Sinneswahrnehmungen  verlassen  können.  und 
da  machte  Kant  die  —  zunächst  theoretische  — 
Annahme,  daß  allen  unseren  Sinneswahrnehmungen 
ein  Etwas  in  der  Natur,  d.  i.  in  der  Wirklichkeit 
zugrunde  liegen  müsse.  F"raglich  sei  nur,  wie 
dieses  Etwas,  das  er  „das  Ding  an  sich"  nannte, 
in  Wirklichkeit  beschaffen  sei,  und  darüber  könnten 
uns  unsere  Sinne  nur  eine  auf  der  Beschaffenheit 
der  Organe  beruhende  beschränkte  ."Auskunft 
geben.  —  Wenn  diese  Annahme  Kants,  welche 
bisher  in  keinem  einzigen  Falle  auf  Widersprüche 
gestoßen  ist,  bis  in  alle  Einzelheiten  hinein  gilt, 
wenn  sie  sich  auf  alle  Eigenschaften  der  Be- 
obachtungsobjekte und  die  feinsten  Einzelheiten 
dieser  Eigenschaften  erstreckt,  so  muß  das,  was 
uns  die  Erfahrung  über  die  Beziehungen  der  Dinge 
an  sich  lehrt,  ein  durchaus  getreues  Bild  der 
Wirklichkeit  sein. 

Kant  ist  sehr  oft  mißverstanden  worden,  und 
in  der  Tat  drückt  er  sich  vielfach  sehr  dunkel, 
fast  möchte  man  sagen,  geheimnisvoll  aus.  —  Das 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


43 


logische  Denken,  der  Satz  vom  Widerspruch  ist 
für  ihn  eine  metaphysische  Erkenntnisquelle  a  pri- 
ori. Als  Naturforscher  drücken  wir  das  vielleicht 
etwas  klarer  aus,  wenn  wir  diese  Erkenntnisquelle, 
der  wir  allerdings  sehr  viel  Wissen  verdanken, 
und  welche  allerdings  angeboren,  also  a  priori 
vorhanden  ist,  wie  oben  geschehen,  eine  „Fähig- 
keit", eine  psychische  Fähigkeit  nennen.  Kant 
will  mit  seinem  Ausdruck  „a  priori"  keineswegs 
sagen,  daß  das  Wissen,  das  wir  dem  logischen 
Denken  verdanken,  nicht  doch  letzten  Endes  aus 
der  Erfahrung  stammt.  Das  geht  aus  seinen 
Ausführungen  hervor.  In  seinen  „Prolegomena" 
sagt  Kant  (§  2  b):  „Eben  darum  sind  auch 
alle  analytischen  Sätze  Urteile  a  priori,  wenn- 
gleich ihre  Begriffe  empirisch  sind,  z.  B.  Gold 
ist  ein  gelbes  Metall  .  .  .  ."  Das  ist  offenbar  so 
zu  verstehen:  Aus  der  Erfahrung  wissen  wir, 
daß  es  ein  gelbes  Metall  gibt.  Wir  nennen  dieses 
gelbe  Metall  Gold.  Damit  ist  unser  Begriff  „Gold" 
festgelegt.  Sehen  wir  nun  ein  Metall,  das  nicht 
gelb  ist,  so  kann  es  nach  dem  Satz  vom  Wider- 
spruch nicht  Gold  sein.  Gold  ist  eben  ein  gelbes 
Metall.  In  diesem  einfachen  Satz,  diesem  „Urteil", 
wie  die  Philosophen  es  nennen,  kommt  also  schon 
das  logische  Denken  zur  Anwendung. 

Recht  dunkel  wird  Kant  besonders  dadurch, 
daß  er  Wahrnehmung,  Erfahrung  und  Anschauung 
einander  gegenüberstellt,  obgleich  es  sich  für  den 
Naturforscher  in  allen  drei  P'ällen  um  Erfahrung 
und  nur  um  verschiedene  Grade  der  Gültigkeit 
und  Gewißheit  handelt.  —  Für  den  Naturforscher 
ist  jeder  Sinneseindruck ,  sobald  er  als  Wahr- 
nehmung ins  Bewußtsein  übergegangen  ist,  mag 
er  auch  noch  so  vereinzelt  gegeben  sein,  eine  Er- 
fahrung. Kant  nennt  es  zunächst  nur  eine  ,, em- 
pirische Wahrnehmung"  und  zwar  deshalb,  weil 
das  Wissen ,  das  der  ersten  Wahrnehmung  ent- 
stammt, durchaus  subjektiv  sein  kann.  Von  einer 
Erfahrung  spricht  Kant  erst  dann,  wenn  das 
Subjektive  abgestreift  ist  und  das  Urteil  Allge- 
meingültigkeit erlangt  hat.  —  Beispiel:  Ich  finde 
eine  kleine  Tierart  im  Walde.  Ich  darf  diese 
Tierart  dann  noch  keineswegs  einen  Waldbe- 
wohner nennen.  Das  Tier  kann  vielmehr  durch 
besondere  Umstände  in  den  Wald  gelangt  sein. 
Vielleicht  wurde  es  gar  an  meiner  Kleidung  hin- 
eingetragen. Erst  wenn  ich  zahlreiche  Wahr- 
nehmungen vergleiche,  wenn  ich  statistisch  fest- 
gestellt habe,  daß  die  Tierart  normalerweise  nur 
im  Walde  und  nur  ausnahmsweise  an  anderen 
Orten  gefunden  wird,  ist  mein  Urteil,  daß  es  sich 
um  einen  Waldbewohner  handelt,  auch  für  Kant 
allgemeingültig  und  deshalb  eine  Erfahrung.  Es 
muß  also  eine  Vergleichung  verschiedener  Wahr- 
nehmungen, d.  i.  eine  Verstandestätigkeit  zu  der 
Sinneswahrnehmung  hinzukommen,  um  nach 
Kant  die  Sinneswahrnehmung  in  eine  Erfahrung 
umzuwandeln. 

Das  Beispiel  zeigt  zugleich,  wie  ein  „Begriff' 
entsteht.  Die  Begriffe  sind  nicht  etwa  etwas 
durch  menschliches  Denken  in  die  Natur  Hinein- 


gebrachtes, wie  vielfach,  z.  T.  auch  von  Natur- 
forschern, falschlich  angenommen  wird.  Es  gibt 
tatsächlich  in  der  Natur  „Waldbewohner",  die  wir 
aber  erst  durch  Vergleichung  zahlreicher  Wahr- 
nehmungen als  solche  erkennen.  Das,  was 
unseren  Begriffen  zugrunde  liegt,  ist  also,  genau 
ebenso  wie  das  Ding  an  sich,  das  unserer  Sinnes- 
wahrnehmung als  wirklich  vorhandenes  Objekt 
zugrunde  liegt,  in  der  Natur  vorhanden.  —  Es 
gilt  das  für  alle  Begriffe,  auch  für  die  Begriffe  des 
alltäglichen  Lebens.  Die  letzteren  unterscheiden 
sich  von  den  wissenschaftlichen  Begriffen  nur  da- 
durch, daß  ihre  Entstehung  im  menschlichen  Be- 
wußtsein weit  zurückliegt,  daß  die  Statistik  unbe- 
wußt stattfand,  und  daß  die  Kenntnis  dieser  Be- 
griffe dem  Kinde  durch  bewußten  oder  unbe- 
wußten Anschauungsunterricht  erleichtert  wird. 

Daß  den  von  uns  „geschaffenen"  Begriffen  tat- 
sächlich Beziehungen  der  Objekte  in  der  Wirk- 
lichkeit zugrunde  liegen  müssen,  mag  ein  Beispiel 
klar  zeigen.  —  Nach  der  Plankton- Expedition  teilte 
ich  die  in  dem  Material  der  Expedition  befind- 
lichen Krebse  der  Gattung  Copilia  in  Arten  ein. 
Gleichzeitig  arbeitete  der  Zoologe  Giesbrecht 
in  Neapel  an  dem  Material  einer  anderen  Expe- 
dition, welche  andere  Teile  der  Ozeane  besucht 
hatte.  Seine  Veröffentlichung  erschien  vor  meiner, 
und  es  zeigte  sich,  daß  er  genau  dieselben  Arten 
unterschieden  hatte  wie  ich.  Nur  die  Namen,  die 
er  ihnen  gab,  waren  natürlich  andere.  —  Also 
auch  die  Grundlagen  für  unsere  systematischen 
Begriffe  sind  in  der  Natur,  in  der  Wirklichkeit 
vorhanden. 

Wie  Kant  von  der  „Erfahrung"  die  „empirische 
Wahrnehmung"  gewissermaßen  als  Vorstufe  unter- 
scheidet, so  unterscheidet  er  als  gleichsam  höhere 
Stufe  der  Erfahrung  die  „Anschauung".  Von 
einer  Anschauung  spricht  Kant  nur  dann,  wenn 
Gewißheit  vorhanden  ist  und  je  nach  der  Trag- 
weite dieser  Gewißheit  unterscheidet  er  eine 
„empirische  Anschauung"  und  eine  „reine  An- 
schauung a  priori".  Bei  der  empirischen  An- 
schauung erstreckt  sich  die  Gewißheit  nur  auf 
den  Einzelfall.  Beispiel:  Ich  sehe  ein  weißes 
Pferd.  Daß  das  Pferd  weiß  ist,  ist  für  mich  ge- 
wiß. Es  gilt  das  aber  nur  für  das  Pferd,  das  ich 
gerade  sehe.  Will  ich  die  Gewißheit  zum  Aus- 
druck bringen,  so  kann  ich  mit  Kant  meine 
Wahrnehmung  „Anschauung"  nennen.  —  Bei  Kants 
reiner  Anschauung  a  priori  tritt  schon  mit  der 
ersten  Wahrnehmung  eine  allgemeingültige  Ge- 
wißheit ein.  Ja,  schon  durch  Kombinieren  und 
Abstrahieren  kann  aus  früheren  Wahrnehmungen 
eine  Vorstellung  zustande  kommen,  die  allge- 
meingültige, apodiktische  Gewißheit  besitzt  und 
deshalb  nach  Kant  eine  reine  Anschauung  a  pri- 
ori ist,  obgleich  eine  Wahrnehmung  mittels  unserer 
Sinne  noch  gar  nicht  vorliegt.  Der  Fall,  daß  die 
„Gewißheit"  der  Wahrnehmung  mittels  unserer 
Sinne  vorhergeht,  tritt  besonders  bei  mathema- 
tischen Sätzen  ein.  Beispiel:  „In  einem  Punkte 
können  sich  nicht  mehr  als  drei  Linien  senkrecht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


schneiden".  Es  ist  dieser  Satz  für  uns  gewiß, 
mögen  wir  uns  einen  Spezialfall  durch  Ziehen 
von  Fäden  anschaulich  machen  oder  nicht.  Der 
Naturforscher  zählt  Kants  reine  Anschauung  a 
priori  nicht  zu  den  unmittelbaren  Erfahrungen.  Sie 
ist  dem  Naturforscher  vielmehr  durch  Kombinieren 
und  Abstrahieren  aus  vorangegangenen  Erfahrungen 
entstanden  und  das  setzt  lediglich  eine  ange- 
borene Fähigkeit  des  menschlichen  Geistes  voraus. 
Nur  Kants  „empirische  Anschauung",  die  dessen 
,, empirischer  Wahrnehmung"  vollkommen  ent- 
spricht,   ist  für  den  Naturforscher  eine  Erfahrung. 

Auch  die  Mathematik  geht  lediglich  von  Ele- 
menten der  Erfahrung  aus:  Die  Begriffe  „Linie", 
„Punkt"  und  „Zahl"  entspringen  der  Erfahrung. 
Mit  diesen  operiert  der  Mathematiker  und  gelangt 
dabei  bisweilen  sogar  zu  imaginären  Größen, 
denen  keine  Wirklichkeit  entspricht  und  die  des- 
halb  für    den    Naturforscher    gar  nicht    existieren. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  Gewißheit,  die 
bei  einer  „reinen  Anschauung  a  priori"  Kants 
vorhanden  ist,  eine  Gewißheit,  wie  sie  namentlich 
die  Mathematik  kennt,  uns  nötigt,  eine  besondere 
Fähigkeit  des  menschlichen  Geistes,  außer  den 
oben  schon  genannten,  vorauszusetzen.  Der 
Naturforscher,  der  sich  streng  an  die  Erfahrung 
hält,  muß  diese  Frage  entschieden  verneinen.  Es 
liegt  überhaupt  nicht  der  geringste  Grund  vor, 
die  Quelle  dieser  apodiktischen  Gewißheit  in  dem 
Sukjekt,  d.  i.  in  dem  denkenden  Menschen  suchen 
zu  wollen.  Der  Naturforscher  muß  vielmehr  an- 
nehmen, daß  diese  Gewißheit  in  der  Natur  selbst 
begründet  ist,  in  der  natürlichen  Beschaffenheit 
des  Raumes  und  der  Zeit  als  Ding  an  sich,  d.  h. 
in  dem,  was  unseren  durch  Abstraktion  gewonnenen 
Begriffen  von  Raum  und  Zeit  in  der  Wirklichkeit 
zugrunde  liegt.  —  Es  gibt  manche  Eigenschaften, 
die  wenigen  Körpern  und  wenigen  Vorgängen 
eigen  sind,  manche  Eigenschaften,  die  vielen  Kör- 
pern und  vielen  Vorgängen  eigen  sind.  Warum 
sollte  es  nicht  auch  Eigenschaften  geben  können, 
die,  wie  Ausdehnung  und  Dauer,  allen  Körpern 
und  allen  Vorgängen  in  der  Natur  zukommen  ? 
Basiert  aber  unser  Denken  ausschließlich  auf 
Erfahrung,  so  können  wir  natürlich  einen  Körper 
ohne  Ausdehnung,  einen  Vorgang  ohne  Zeitdauer 
nicht  einmal  denken.  Das,  meine  ich,  wäre 
völlig  klar  und  selbstverständlich.  Ja,  die  Tat- 
sache, daß  wir  uns  einen  Körper  nur  von  drei 
Dimensionen  denken  können,  einen  Vorgang  nur 
in  der  Zeit,  beweist  eigentlich,  daß  unser  Den- 
ken eng  an  die  Erfahrung  gebunden  ist.  Die 
apodiktische  Gewißheit  bei  dem  oben  genannten 
Beispiel  liegt  dann  einfach  in  den  Eigenschaften 
des  dreidimensionalen  Raumes  begründet. 

Kant  verlegt  den  Grund  der  apodiktischen 
Gewißheit  nicht  in  das  Objekt,  sondern  in  das 
Subjekt,  während  er  sonst,  genau  so,  wie  der 
moderne  Naturforscher  die  Grundlage  unseres 
ganzen  Siimeslebens  in  das  Objekt  verlegt.  Er 
nimmt  an,  daß  Raum  und  Zeit  „Anschauungen" 
sind,  die  „als  Form  der  Sinnlichkeit"    in  unserem 


Subjekt  allen  wirklichen  Eindrücken  voran- 
gehen. —  Hier  ist  einer  der  Punkte,  in  denen 
der  Naturforscher  ihm  nicht  folgen  kann.  Der 
Naturforscher  muß  diese  Annahme  Kants  als 
durchaus  willkürliche  Hilfshypothese  bezeich- 
nen, da  sich  alle  Tatsachen  auch  ohne  sie  durch 
die  obige  konsequent  durchgeführte  Annahme, 
daß  alles  Wissen  und  Denken  auf  Erfahrung  zu- 
rückzuführen ist,  sehr  einfach  erklären.  Der 
Naturforscher  bleibt  damit  in  durchaus  konsequenter 
Weise  auf  rein  empirischem  Boden.  —  Mit  Recht 
wendet  sich  Kant  (Prol.  §  13)  gegen  die  Annahme, 
daß  Raum  und  Zeit  Eigenschaften  sind 
und  verweist  dabei  als  Beispiel  auf  die  Symmetrie, 
welche  zeigt,  daß  zwei  der  Masse  nach  genau 
gleiche  Körper,  die  gleich  ausgedehnt  sind,  einen 
verschiedenen  Raum  einnehmen  können.  Nicht 
Raum  und  Zeit,  wohl  aber  Ausdehnung  und 
Dauer  sind  für  den  Naturforscher  Eigenschaf- 
ten und  zwar  Eigenschaften,  die  in  einem  be- 
stimmten Maße  allen  Körpern  und  allen  Vor- 
gängen zukommen. 

Auch  den  Kausalitätsbegriff  hat  offenbar  schon 
der  Urmensch  der  Erfahrung  entnommen.  Der 
Regen,  der  stets  den  Boden  netzt,  der  Wind,  der 
stets  die  Blätter  bewegt  und  dergleichen  Erfah- 
rungen viele  zeigten  ihm,  daß  es  eine  Kausalität 
gäbe.  Wie  lange  aber  hat  es  gedauert,  bis  der 
Mensch  zu  der  Überzeugung  gelangte,  daß  wohl 
jeder  Vorgang  in  der  Natur  eine  Ursache  haben 
möge  und  noch  viel  später  wurde  ihm  klar,  daß 
es  ohne  Kausalität  gar  keine  Sinneseindrücke, 
also  auch  keine  Erfahrung  geben  könne.  Die 
letztere  Einsicht  wurde  erst  möglich  als  man  er- 
kannt hatte,  daß  auch  die  Wärme,  die  Farbe  usw. 
auf  Bewegung  kleinster  Teile  beruhe  und  daß  die 
Bewegung  es  ist,  welche  in  allen  Fällen  auf 
unsere  Sinnesorgane  einwirkt,  die  grobe,  mecha- 
nische Bewegung  und  die  Wärme  auf  unsere 
Tastnervenendigungen,  die  Luftwellen  auf  das 
Gehörorgan ,  die  Ätherwellen  auf  das  Auge  und 
die  als  chemischer  Reiz  sich  zeigende  Atom- 
bewegung auf  das  Geruchs-  und  Geschmacks- 
organ. —  Der  Naturforscher,  der  mit  Kant  an- 
nimmt, daß  jedem  Objekt  der  Wahrnehmung  ein 
Ding  an  sich  in  der  Wirklichkeit  entspricht,  muß 
zugleich  zugeben,  daß  der  Einwirkung  dieser  Ob- 
jekte auf  unsere  Sinnesorgane,  in  welcher  die 
Kausalität  zum  Ausdruck  gelangt,  also  der  Kausa- 
lität selbst  ein  etwas  in  der  Wirklichkeit  ent- 
sprechen muß.  -  Nur  einige  Philosophen  hat  es 
gegeben,  welche  die  Kausalität  leugneten.  Diese 
mußten  denn  auch  zu  der  Überzeugung  gelangen, 
daß  außer  ihnen  nichts  existiere,  daß  die  Welt 
vielmehr  ein  Produkt  ihrer  Phantasie  sei.  Be- 
weisen kann  man  diesen  abnormen  Denkern 
freilich  nicht,  daß  eine  Welt  wirklich  existiert, 
selbst  durch  Prügel  nicht;  denn  auch  diese  wür- 
den sie,  wie  jedes  andere  Leiden  für  ein  unange- 
nehmes Produkt  ihrer  Phantasie  halten.  —  Der 
Naturforscher  ist,  auch  ohne  weiteren  Beweis  als 
seine  Erfahrung,  überzeugt,  daß  die  Welt,   die  er 


N.  F.  XXL  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


45 


mittels  seiner  Sinne  wahrnimmt,  wirklich  existiert, 
d.  h.  unter  dem  von  Kant  gegebenen  Vorbehalt. 
—  Von  den  Ursachen  scharf  unterscheiden 
muß  der  Naturforscher  die  Bedingungen, 
unter  denen  ein  Vorgang  verläuft,  und  die  ihn 
modifizieren.  Der  Stoß  auf  die  Billardkugel  ist 
die  Ursache  des  Rollens.  Wie  sie  rollt,  das  hängt 
von  den  Bedingungen,  von  den  Wänden  des 
Billards  und  von  der  Stellung  der  anderen  Kugeln 
ab.  In  der  Vulgärsprache  rechnet  man  oft  auch 
die  Bedingungen  zu  den  Ursachen.  In  wissen- 
schaftlichen Schriften  sollte  nur  der  kinetische 
Anlaß  des  Vorgangs  Ursache  genannt  werden. 

Auch  von  einer  ganz  anderen  Seite  aus  ge- 
langt man  zu  dem  Resultat,  daß  alles  Wissen  der 
Erfahrung  entstammen  muß.  —  Man  stelle  sich 
einen  Menschen  vor,  der  aller  Sinne  bar  ist,  nicht 
nur  des  Gesichtssinnes  und  Tastsinnes,  sondern 
auch  des  Gehör-,  Geruchs-  und  Geschmackssinnes, 
des  Tast-  oder  Gefiihlssinnes  nicht  nur  an  der 
Körperoberfläche  sondern  auch  im  Innern  des 
Körpers,  einen  Menschen,  der  also  auch  kein 
Schmerzgefühl,  das  infolge  einer  Überreizung 
irgendeines  Sinnesorganes  eintritt,  kennt,  der 
aber  eine  normale  Reflextätigkeit,  Verdauung  und 
Gehirntätigkeit  besitzt.  Was  sollte  denn  ein 
solcher  Mensch  wohl  denken  können  ?  Wie  sollte 
er  zu  einem  Raum-  und  Zeitbegriff  oder  gar  zu 
einem  Kausalitätsbegriff  gelangen  können.?  Für 
ihn  würde  es  höchstens  ein  „cogito,  ergo  sum" 
geben.  Bei  Vorstellung  eines  solchen  Menschen 
wird  uns  so  recht  klar,  daß  alles,  was  wir  denken, 
ausschließlich  an  die  Erfahrung  anknüpft. 

Man  sieht  also,  daß  die  von  Einstein  auf- 
gestellten, oben  genannten  Sätze  völlig  in  nichts 
zerfallen.  —  Auch  mit  Kant  befindet  sich  Ein- 
stein in  Widerspruch.  Kant  sagt  allerdings 
(Prol.  §  6),  daß  die  „Erkenntnis",  der  wir  in  der 
Mathematik  gegenüberstehen,  welche  „durch  und 
durch  apodiktische  Gewißheit,  d.  i.  absolute  Not- 
wendigkeit bei  sich  führt,  also  auf  keinen  Er- 
fahrungsgründen beruht,  mithin  ein  reines  Pro- 
dukt der  Vernunft  ist".  —  Das  klingt  allerdings 
recht  ähnlich  wie  der  obige  Ausspruch  Einsteins, 
zumal  da  Kant  hinzufügt:  „.  .  .  Setzt  dieses 
Vermögen,  da  es  nicht  auf  Erfahrungen  fußt 
noch  fußen  kann,  nicht  einen  Erkenntnisgrund 
a  priori  voraus  .  .  ..?"  Und  doch  besagen  die 
Kant  sehen  Worte  etwas  völlig  anderes  als  die 
Einsteinschen.  —  Wie  an  so  vielen  anderen 
Stellen  so  drückt  sich  Kant  auch  hier  etwas 
dunkel  aus.  Durchaus  verständlich  wird  er  durch 
einige  seiner  nachfolgenden  Sätze.  Kant  sagt 
weiter  (§  7):  „Wir  finden  aber,  daß  alle  mathe- 
matische Erkenntnis  .  .  .  ihren  Begriff  vorher  i  n 
der  Anschauung  .  .  .  a  priori  .  .  .  darstellen 
kann  .  . ."  und  (§  9):  „Hieraus  folgt  .  .  .  daß  An- 


schauungen, die  a  priori  möglich  sind,  niemals 
andere  Dinge,  als  Gegenstände  unserer  Sinne 
betreffen  können."  —  Aus  den  letzten  Worten 
geht  hervor,  daß  nur  die  „Erkenntnis",  nur  das 
„Vermögen"  zu  erkennen,  dem  wir  in  der  Mathe- 
matik begegnen,  für  Kant  ein  „reines  Produkt 
der  Vernunft"  sein  kann,  nicht  die  Mathematik 
selbst,  wie  Einstein  will.  —  So  muß  man 
Kants  Aussprüche  meist  erst  in  die  Sprache  des 
modernen  Naturforschers  übersetzen,  und  dabei 
sind  viele  Naturforscher  gescheitert. 

Was  die  Zuverlässigkeit  unserer  Sinneswahr- 
nehmungen anbetrifft,  so  stehen  wir  übrigens 
heute  auf  einer  völlig  anderen  Basis  als  unser 
großer  Denker  Kant.  —  Wissen  wir  doch,  daß 
der  Mensch,  wie  alle  Lebewesen,  durch  An- 
passung an  seine  Umgebung  entstanden  ist. 
Freilich  pflegt  man  dieses  unser  Wissen  von  der 
Entwicklung  des  Menschen  aus  der  Tierreihe  z.  Z. 
noch  eine  Theorie  zu  nennen,  weil  diese  Ent- 
wicklung nicht  unmittelbar  wahrgenommen,  sondern 
indirekt  aus  Erfahrungstatsachen  geschlossen  wird. 
Theorien  können  aber,  wenn  alle  neu  hinzukom- 
menden Erfahrungstatsachen  sie  bestätigen,  gleich- 
sam zur  Gewißheit  werden.  So  ist  die  Deszen- 
denztheorie für  uns  schon  fast  eine  Gewißheit, 
da  sie  ebenso  wie  unser  Wissen  von  der  Be- 
wegung der  Himmelskörper,  durch  ein  so  unge- 
heures Tatsachenmaterial  gestützt  ist,  daß  an  ihrer 
Richtigkeit    nicht    mehr   gezweifelt  werden   kann. 

—  Handelt  es  sich  aber  beim  Menschen  um  eine 
Anpassung  an  die  Umwelt,  so  dürfen  wir  an- 
nehmen, daß  ihm  durch  seine  Sinne  eine  mög- 
lichst gute  Kenntnis  dieser  Umwelt  gegeben  wird, 
da  eine  selbsttätige  Erhaltung  nur  dann  für  ein 
höheres  Lebewesen,  wie  der  Mensch  es  ist,  mög- 
lich erscheinen  muß,  wenn  dieses  Lebewesen  seine 
Umwelt  möglichst  gut  kennt.  Wir  können  uns 
also  im  allgemeinen  darauf  verlassen,  daß  unsere 
Erfahrung  uns  die  Wahrheit  sagt.  —  Nur  soweit 
werden  im  allgemeinen  Sinnestäuschungen  vor- 
kommen, als  dies  nach  physikalischen  Gesetzen 
Naturnotwendigkeit  ist.  Zu  diesen  Sinnestäu- 
schungen gehören  z.  B.  das  scheinbare  Schmäler- 
werden einer  Allee  in  der  Ferne,  die  scheinbare 
Bewegung  der  Sonne  um  die  Erde,  die  schein- 
bare völlige  Starrheit  gewisser  fester  Körper  usw. 

—  Diese  Täuschungen  können  wir  durch  andere 
Erfahrungstatsachen  ausschalten,  teils  leicht,  teils 
erst  durch  naturwissenschaftliche  Forschung,  die 
aber  wieder  lediglich  auf  Sinneswahrnehmung 
basiert. 

Der  hier  gegebene  Gedankengang  eines  Natur- 
forschers wird  vielleicht  auch  den  Fachphilosophen, 
der  der  Naturforschung  weniger  nahe  steht,  inter- 
essieren und  ihn  zum  Weiterdenken  anregen. 


46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Einzelberichte. 


Die  Einheit  und  Isotopie  Aer  Elemente. 

Nachdem  Rutherford')  aus  einem  halben 
Dutzend  Elementen  Wasserstoff  durch  «-Strahlen 
abgespalten  hat,  ist  die  vor  loo  Jahren  durch 
William  Prout  aufgestellte  Hypothese  vom 
Wasserstoff  als  Urmaterie  wieder  sehr  wahrschein- 
lich geworden.  Daß  sich  jedoch  die  Atomgewichte 
der  Elemente  nicht  stets  als  ganze  Vielfache  des 
Wasserstoffs  erweisen,  erklärt  sich  daraus,  daß  die 
meisten  Elemente  Gemische  von  chemisch  völlig 
identischen  aber  im  Atomgewicht  unterschiedenen 
Stoffen  (=  Isotopen)  sind.  Zum  erstenmal  lehrte 
die  Radiochemie  einige  Elemente  kennen,  die 
chemisch  nicht  trennbar  waren  und  die  doch 
nach  genauesten  Atomgewichtsbestimmungen  einen 
geringen  Unterschied  der  Atommassen  aufwiesen 
( Uranblei-Thorblei ;  lonium-Thorium). 

Im  Jahre  191 3  fand  J.  J.  Thomson-)  bei 
der  elektromagnetischen  Kanalstrahlenanalyse  von 
Neon,  daß  dieses  Element  eine  Mischung  zweier 
Grundstoffe  vom  Atomgewicht  20  und  22  dar- 
stellt; dies  war  der  i.  Fall,  daß  bei  einem  nicht- 
radioaktiven Stoffe  das  Vorkommen  von  Isotopen 
nachgewiesen  wurde.  F.  W.  A  s  t  o  n  ^)  verbesserte 
die  Methode  der  Kanalstrahlenanalyse  so,  daß  die 
Beimengung  eines  Isotopen  zu  einem  Element  bei 
weniger  wie  '/loo  rng  noch  völlig  sicher  nach- 
weisbar wird.  Die  Kanalstrahlenanalyse  besteht 
darin,  daß  ein  Element  im  gasförmigen  Zustand 
in  einer  Vakuumröhre  durch  Kathodenstrahlen 
stark  ionisiert  wird;  die  positiven  Gasionen  be- 
wegen sich  dann  mit  zunehmender  Geschwindig- 
keit auf  die  negative  Kathode  zu  und  treten  durch 
einen  feinen  Kanal  in  der  Kathode  als  Kanal- 
strahlen in  den  kräftefreien  Raum  hinter  der  Ka- 
thode. Hier  werden  die  Kanalstrahlen  durch  ein 
starkes  magnetisches  und  elektrisches  Feld  aus 
ihrer  geraden  Bahn  abgelenkt  und  zwar  hängt 
die  Ablenkungsgröße  von  der  Masse  und  der 
elektrischen  Ladung  der  Kanalstrahlenteilchen  ab. 

Aston  hat  mit  der  elektromagnetischen 
Kanalstrahlenanalyse  bereits  eine  große  Anzahl 
von  Elementen  daraufhin  untersucht,  ob  sie  ein- 
heitlich sind  oder  Isotopengemische  darstellen.  Im 
folgenden  sind  die  neuesten  Ergebnisse  von  Aston 
und  anderen  Forschern  für  die  einzelnen  Elemente 
angegeben. 

Wasserstoff  erweist  sich  als  einheitliches  Gas 
vom  A.  G.  ^)  1,008.  In  Wasserstoff  kanalstrahlen 
wurde  auch  wieder  das  interessante  Molekülion 
H3 '')  beobachtet  und  seine  Masse  genau  zu  3,024 
bestimmt.  Heliumkanalstrahlen  werden  nur  von 
Atomen  mit  der  Masse  4  gebildet. 


')  Nature  Nr.  2680  (1921). 

*)  Naturw.  Wochenschr.  XVI,  S.  699  {1917). 

'J  Nature  Nr.  2689,  S.  334 — 338,  Vol.    107  (1921) 

*)  A.  G.  =  Atom-Gewicht. 

')  Naturw.  Wochenschr.  XIX,  S.   527/8  (1920). 


Neon  hat  das  A.  G.  20,2  und  zeigt  bei  der 
Kanalstrahlenanalyse  zwei  Linien  mit  der  Masse 
20  und  22,  außerdem  zwei  Linien,  die  dem  Ne+'i" 
angehören  und  wegen  der  doppelten  Ladung  ge- 
radeso stark  abgelenkt  werden  wie  die  einfach 
geladenen  Atome  eines  Elementes  mit  der  Masse 
IG  und  II  (Linien  2.  Ordnung).  Gewöhnliches 
Neongas  vom  A.  G.  20,2  besteht  aus  90  "/„  Ne  20 
und  10  "/„  Ne  22.  Aston  hat  dann  auch  durch 
langwierige  mühevolle  Diffusion  des  Neongases 
in  Tonröhren  die  Isotopen  zu  gewinnen  versucht. 
Tatsächlich  ergab  sich  zwischen  der  am  rasche- 
sten und  der  am  langsamsten  diffundierenden 
Fraktion  ein  Dichteunterschied  von  0,7  "/o-  »Der 
isotope  Bau  des  Neons  ist  daher  über  allen  Zweifel 
festgestellt." 

Argon  mit  dem  A.  G.  39,88  sollte  nach  seiner 
Stellung  im  periodischen  System  der  Elemente 
ein  geringeres  Atomgewicht  wie  Kalium  (39,10) 
haben.  Die  Kanalstrahlenanalyse  ergab  auch 
wirklich  eine  schwache  Linie  von  der  Masse  36 
und  eine  starke  bei  40,  außerdem  noch  Linien 
2.  Ordnung  bei  20  und  13,3,  die  dem  A+-i"  und 
A+ '+  zugehören.  Argon  enthält  etwa  3  ",„  von 
dem  leichteren  Anteil.  Krypton  und  Xenon 
zeigten  sich  aus  einer  überraschend  hohen  Zahl 
von  Isotopen  zusammengesetzt.  Kr  ist  ein  Ge- 
misch von  isotopen  Gasen  mit  dem  A.  G.  78, 
So,  83,  84  und  86;  X  zeigt  5  Hauptlinien  bei 
129,  131,  132,  134,  136,  eine  schwächere  Kom- 
ponente bei  128  und  eine  zweifelhafte  bei  130. 
Kr  weist  den  größten  numerischen  Unterschied 
zwischen  seinen  Isotopen  auf,  nämlich  8  Einheiten. 
Fluor  erwies  sich  einatomig  (A.  G.  19).  Chlor 
mit  dem  A.  G.  35,46  weist  2  starke  Linien  bei 
35  und  37  auf,  aber  keine  Spur  einer  Linie  vom 
A.  G.  35,46;  außerdem  2  sehr  schwache  Linien 
bei  39  und  40.  Die  gleichzeitig  auftretenden 
Linien  36  und  38  rühren  von  HCIgr,  und  HCijj- 
her,  die  Linien  17,5  und  18,5  von  Cl.,*r^  und  Cl+^". 
Im  Phosgen  COCI.,  zeigten  sich  die  2  Linien 
des  COCig-,  und  COCL,;  bei  63  und  65.  Durch 
Umladung  negativ  gewordene  Chlorkanalstrahlen 
gaben  nur  die  2  Linien  Cl.^  und  Cl.^..  Den  Grund, 
warum  bei  den  vielen  A.  G.  Bestimmungen  von 
Chlor  noch  keine  abweichenden  Werte  ')  beobachtet 
wurden,  findet  Aston  darin,  daß  alle  irdischen 
Chlorverbindungen  aus  dem  Meereswasser  stam- 
men und  daß  dort  eine  vollkommene  Mischung 
der  Isotopen  stattgefunden  hat.  Chlor  aus  anderen 
Quellen,  etwa  aus  Meteoriten,  könnte  leicht  ein 
abweichendes  A.  G.  haben.  Anscheinend  erfolg- 
reiche Versuche,    die   Isotopen    des  Chlors  durch 


')  Neuerdings  fand  jedoch  Irene  Curie  für  Chlor  au 
einem  Salz  von  Zentralafrika  den  abweichenden  Werl  35,60 
welcher  nicht  durch  die  .\awesenheit  von  Brom  oder  Jod  ver 
ursacht  ist.  Chlor  aus  norwegischem  Apatit  und  aus  kanadi 
schem  Sodalith  hatte  normales  A.  G.  Nature  S.  282,  Vol.  100 
(1921). 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


47 


fraktionierte  Diffusion  zu  gewinnen,  wurden  von 
Hark  ins  ^)  und  Lorenz^)  gemacht. 

Neuerdings  hat  das  genaue  Studium  des  ultra- 
roten -Absorptionsspektrums  vom  Chlorwasserstoff 
einen  interessanten  Beweis  für  das  Vorkommen 
von  CI35  und  C\.,.  geliefert.  Die  ultraroten  Ab- 
sorptionslinien stammen  zum  Teil  daher,  daß  das 
positive  Wasserstoffion  H+  und  das  negative 
Chlorion  Cl~  gegeneinander  schwingen.  Die  Fre- 
quenz dieser  Schwingung  hängt  von  der  Masse 
des  Cl  ab;  enthält  also  HCl  die  Ionen  CI...r,  und 
CI3,,  so  muß  jede  Linie  von  einer  Nebenlinie  be- 
gleitet sein.  Tatsächlich  finden  sich  in  den  sehr 
genauen  IVIessungen  des  ultraroten  Spektrums  von 
HCl  durch  E.  S.  Im  es  Nebenlinien,  welche  die- 
ser nicht  zu  deuten  vermochte.  Das  Intensitäts- 
verhältnis der  Haupt-  und  Nebenlinien  und  deren 
Abstand  stimmt  nach  Kratzer  und  Loomis"') 
genau  damit  überein,  wie  er  sich  aus  der  Annahme 
zweier  Chlorisotoper,  Clg.,  und   CI3-,  berechnet. 

ßromkanalstrahlen  bestehen  aus  gleichen  Teilen 
Br+;  und  Br+.  Jod  erwies  sich  bei  der  Kanal- 
strahlenanalyse mit  großer  Genauigkeit  als  ein 
einatomiges  Element.  Die  Angaben  von  Kohl- 
weiler*)  über  erfolgreiche  Zerlegungsversuche 
des  Jods  in  Isotope  durch  Diffusion  sind  also 
kaum  richtig.  Sauerstoff  und  Schwefel  sind  ein- 
atomige Elemente;  Selen  und  Tellur  ergaben  lei- 
der kein  Resultat;  beide  müssen  aber  Isotopen- 
gemische sein.  Bor  ist  ein  Gemisch  von  Atomen 
mit  der  Masse  10  und  1 1 ;  Silizium  ergibt  Linien 
bei  28,  29  und  möglicherweise  auch  bei  30.  Stick- 
stoff, Phosphor  und  Arsen  sind  anscheinend  ein- 
fache Elemente,  Antimon  und  Zinn  konnten  nicht 
gemessen  werden. 

A  s  t  o  n  '^)  gelang  es  kürzlich,  auch  in  Alkali- 
metalldämpfen Kanalstrahlen  zu  erzeugen  und 
diese  der  elektromagnetischen  Analyse  zu  unter 
werfen.  Lithiumkanalstrahlen  haben  die  Masse  6 
und  7;  die  Kerne  der  beiden  Lithiumisotopen  be- 
stehen also,  wie  Rutherford ")  richtig  voraus- 
sah, wahrscheinlich  aus  X3X.,  und  X3He4,  wobei 
die  Indexzahlen  die  Atommassen  angeben.  Na- 
triumionen sind  einheitlich  und  haben  die  Masse 
23.  Kalium  erweist  sich  zusammengesetzt  aus 
2  Isotopen  vom  A.  G.  39  und  41.  Rubidium- 
kanalstrahlen sind  positive  Ionen  von  der  Masse 
85  und  87.  Cäsium  ist  einheitlich  und  hat  das 
A.  G.  133. 

A.  J.  Dempster  •)  gelang  der  Nachweis  der 

')  Naturw.  Wochenschr.  XIX,  S.  705   (1920). 

-)  Naturw.  Wochenschr.  XX,  S.  566  —  567  (1921).  — 
Durch  fraktionierte  Destillation  von  CCI4  hat  H.  Grimm 
(München)  Chlorisotope  gewonnen ,  deren  A.  G.  zurzeit 
Hönigschmid  bestimmt.  Süddeutsche  Apoth.-Ztg.  S.  367, 
Nr.  61,  Bd.  61   (2.  VIII.    1921). 

^)  Zeitschr.  f.  Phys.  Bd.  3,  S.  460  und  Nw.  S.  569  (1921). 

*)  Zeitschr.  f.  phys.  Chem.  Bd.  95,  S.  95  —  195   (l92o). 

'•)  Nature  Nr.  2681,  S.   72,.  Vol.   107  (1921). 

*)  Baker  Vorlesung.  Proc.  Roy.  Soc.  1920.  Deutsch  von 
Norst.     Leipzig  1921,  S.  Hirzel. 

■)  Phys.  Ber.  S.  683,  Bd.  2  (1921).  —  G.  P.Thomson 
fand  in  Anodenstrahlen  von  Be  nur  Ionen  mit  der  Masse 
9,0  +  0,1   Nature,  S.  395  (1921). 


Isotopie  des  Magnesiums.  Es  zeigt  bei  der  Kanal- 
strahlenanalyse eine  sehr  starke  Komponente  von 
der  Masse  24  und  zwei  schwächere  von  der 
Masse  25  und  26.  Quecksilber  ergibt  nach 
Aston*)  ein  verwaschenes  Band,  das  Atomen  von 
der  Masse  197  bis  200  entspricht;  deutlich  wur- 
den dann  in  den  Quecksilberkanalstrahlen  noch 
2  Linien  bei  202  und  204  gemessen.  Brönsted 
und  Hevesy-)  melden  eine  teilweise  Trennung 
der  Quecksilberisotopen  durch  Verdampfung  bei 
niedrigem  Druck  und  Kondensierung  der  ver- 
dampften Atome  auf  einer  gekühlten  Fläche.  Die 
Möglichkeit  dieser  Art  der  Isotopentrennung  ^)  be- 
ruht darauf,  daß  der  Verdampfungsanteil  von 
Isotopen  der  Quadratwurzel  aus  deren  A.  G.  um- 
gekehrt proportional  ist.  Die  Dichtebestimmung 
der  erhaltenen  Quecksilberfraktionen  wurde  mit 
großer  Genauigkeit  ausgeführt.  Die  Dichte  des 
unverdampften  Quecksilbers  als  Einheit  gesetzt, 
wurde  für  die  Dichte  des  kondensierten  Anteils 
0,999980  erhalten  und  für  die  des  nachgebliebenen 
Anteils  1^000031. 

Folgende  Tabelle  von  Isotopen  läßt  sich  nach 
dem  heutigen  Stand  der  Kanalstrahlenanalyse  auf- 
stellen : 

Elemente  u.  A.  G.  Zahl  u.  Masse  der  Isotopen 

H  1,008  1,008 

He  4  4 

Li  6,94  6,  7 

Be  9,01  9 

B  II  10,   II 

C  1 2  12 

N  14,01  14 

0  16  16 
F  19  19 

Ne  20,2  20,  22  (21) 

Na  23  23 

Mg  24,32  24,  25,  26 

Se  28,3  28,  29  (30) 

r       31.04  31 

S  32,06  32 

Cl  35,46  35,  37  (39) 

A  39,88  36,  40 

K  39,1  39,  41 

Ni  58,68  58,  60 

As  74,96  75 

Br  79,92  79,  81 

Kr  82,92  78,  80,  82—84,  86 

Rb  85,45  85,  87 

1  126,92  127 

X       130,2  129,131,132,134,136(128,130) 

Cs      132,81  133 

Hg     200,6  (197—200)  202,  204 

Die  Zahlen  in  Klammern    sind  noch  nicht  sicher. 


')  Kanalstrahlen  in  Nickelkarbonyldarapf  Iiestanden  aus 
Nickelionen  vom  A.  G.  58  und  60.  Nature,  S.  520,  Vol.  107, 
Nr.  2695  (1921). 

'')  Nature  S.   144,  Vol.  106  (1920),  Phys.  Ber.  I.  c.  S.  27. 

■')  Die  gleiche  Methode  wurde  auch  bei  HCl  angewendet; 
die  gewonnenen  Chlorisotopen  zeigten  einen  Unterschied  im 
A.  G.  von  0,021.     Nature,  S.  019,  Vol.  107,  Nr.  2698  (1921). 


48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  3 


F.W.  Aston')  zieht  aus  seinen  Untersuchun- 
gen der  Elemente  in  Kanalstrahlenform  folgende 
Schlüsse:  „Das  bei  weitem  wichtigste  Ergebnis 
dieser  Messungen  ist,  daß  mit  Ausnahme  von 
H  die  Gewichte  aller  gemessenen  Atome  und 
vielleicht  aller  Elemente  ganze  Zahlen  sind  und 
zwar  nach  den  experimentellen  Messungen  mit 
einer  Genauigkeit  von  i  "/„„.  Ursprünglich  wurde 
von  Prout  im  Jahre  1815  die  Hypothese  aus- 
gesprochen ,  daß  alle  Elemente  aus  Atomen  des 
Protyls  aufgebaut  wären,  einem  hypothetischen 
Element,    das    Prout    mit    dem    Wasserstofif  zu 


')  Nature  Nr.  26!S9,  Vol.   107  (1921) 


identifizieren  suchte.  Jetzt  ist  diese  Hypothese 
mit  der  Abänderung  wieder  aufgelebt,  daß  wir 
2  Arten  von  Uratomen  haben,  nämlich  die  Atome 
der  positiven  und  negativen  Elektrizität.  Letztere 
Einheit  ist  uns  seit  langem  bekannt,  es  sind  die 
Elektronen."  Die  mit  Masse  begabte  Einheit  der 
positiven  Elektrizität  und  zugleich  der  Grund- 
bestandteil aller  Atome  ist  der  positive  Wasser- 
stoffkern H+,  der  erst  neuerdings  erforscht  wurde 
und  der  den  Namen  Proton  oder  Hydron  erhielt. 
„Elektronen  und  Protonen  dürfen  heute  mit  Sicher- 
heit als  die  Bausteine  betrachtet  werden,  aus  denen 
die  Atome  aller  Elemente  konstruiert  sind." 

K.  Kuhn. 


Bücherbesprechungen. 


Gro^mann,  H.  und  Wreschner,  M.,  Die  ano- 
male Rotationsdispersion.    Heft  8/9  von 
Band  26  der  „Sammlung    chemischer    und  che- 
misch-technischer Vorträge";  herausgegeben  von 
W.  Herz.     56  S.  mit  11  Abb.    Stuttgart  192 1, 
F.  Enke.     5  M. 
Die     in     der    Hauptsache    aus    jüngster   Zeit 
stammende    Kenntnis    der    anomalen    Rotations- 
dispersion erfährt  in  der  vorliegenden  Monographie 
eine   erste   vorzügliche   Zusammenfassung.     Mehr 
wie  die  Drehung  der  Polarisationsebene  des  Lichts 
an   sich   ist   ihre   Abhängigkeit   von   der    Wellen- 
länge geeignet,  zur  Lösung  wichtiger  Fragen  der 
Strukturchemie    und   zur  Erforschung  der  Konsti- 
tution der  Materie   allgemein   beizutragen.     Möge 
die   Schrift   in    dieser  Hinsicht   zu  weiterem  Ein- 
dringen in  das  noch  wenig  bekannte  Erscheinungs- 
gebiet anregen.     Die  Verff.  geben    zunächst  eine 
kurze  historische  Einleitung,    besprechen    dann  in 
einem  allgemeinen  Teil  den  gegenwärtigen  Stand 
der  Theorie  und  die  gebräuchlichen  Untersuchungs- 
methoden     und      stellen      schließlich     in     einem 
speziellen  Teil  die  experimentellen  Ergebnisse  für 
eine  Reihe  bisher  untersuchter  Körper  zusammen. 

A.  Becker. 

Abraham,    M. ,   Theorie   der  Elektrizität. 
L   Band:     Einführung    in    die    Maxwell- 
sche  Theorie  der  Elektrizität.     Sechste, 
umgearbeitete  Auflage.     390  S.  mit   1 1   Fig.  im 
Text.     Leipzig  und  Berlin  1921,  B.  G.  Teubner. 
Geh.  50,60  M.  (einschließlich  Teuerungszuschlag). 
Der    4.  Auflage    des    2.  Bandes    des   wohlbe- 
kannten   Abraham  sehen    Werkes,    auf  die    wir 
kürzlich  (20.  Band,  S.  391,   1921)  hinweisen  konn- 
ten,   folgt   jetzt    der  erste  Band    schon  in  6.  Auf- 


lage. Er  enthält  die  Grundlagen  der  Max  well - 
sehen  Theorie  in  der  bewährten  Darstellung,  die 
dem  Werke  einen  ständig  wachsenden  Freundes- 
kreis sichert.  Da  die  durcligehend  benutzte 
Theorie  der  Vektoren  und  der  Vektorfelder  in 
seinem  ersten  Abschnitt  eine  gesonderte  ein- 
gehende Behandlung  erfährt,  bietet  der  Band 
gleichzeitig  eine  vortreffliche  Einführung  in  die 
Vektorentheorie.  Gegen  früher  sind  namentlich 
diese  allgemeineren  Betrachtungen  etwas  schärfer 
zusammengefaßt  worden,  während  im  übrigen 
keine  sehr  wesentlichen  Veränderungen  vorge- 
nommen worden  sind.  A.  Becker. 


Neuburger,  M.  C,   Neuere  Ergebnisse  der 
Forschung  über  die  Radioaktivität  des 
Kaliums     und    Rubidiums    im    letzten 
Dezennium.    Heft  7  von  Bd.  26  der  „Samm- 
lung chemischer  und  chemisch-technischer  Vor- 
träge";   herausgegeben   von    W.    Herz.      10  S. 
Stuttgart   192 1,  F.  Enke. 
Die  vielfachen  Versuche  der  letzten  Zeit,    die 
lange    vermutete  Radioaktivität   der  Alkalimetalle 
kritisch    zu  untersuchen,    werden    hier    unter  Bei- 
fügung    eines     Literaturverzeichnisses     kurz     be- 
sprochen.    Danach   scheint   es  jetzt  festzustehen, 
daß  Kalium  und  Rubidium  tatsächlich  eine  für  sie 
charakteristische  /S-Strahlung    aussenden,    daß    sie 
also    als    radioaktiv    zu    bezeichnen    sind,    obwohl 
bis  jetzt   weder   o-Strahlen    noch    Umwandlungs- 
produkte  nachweisbar  geworden   sind.     Daß   die 
Ausführungen,  wie  Verf.  angibt,  keinen  Anspruch 
auf   Vollständigkeit    in    der    Berücksichtigung   der 
Literatur  machen,    bleibt   zu  bedauern ;    denn    ge- 
rade in  der  Vollständigkeit  würde  Ref.  einen  be- 
sonderen Wert  erblicken.  A.  Becker. 


InbHit:  K.  Reiche,  Zur  Kenntnis  des  Dickenwachstums  der  Opuntien.  (yAbb.i  S.  33.  Fr.  Dahl,  Kritische  Betrachtung 
über  die  Grundlagen  der  Relativitätstheorie  Einsteins.  S.  41.  —  Einzelberichte:  Die  Einheit  und  Isotopie  der  Elemente. 
S.  46.  —  Bücherbesprechungen:  II.  Großmann  und  M.  Wreschner,  Die  anomale  Rotationsdispersion.  S.  48. 
M.  Abraham,  Theorie  der  I  lektrizität.  S.  48.  M.  C.  Neu  burger,  Neuere  Ergebnisse  der  Forschung  über  die 
Radioaktivität  des  Kaliums  und   Rubidiums  im  letzten  Dezennium.  S.  48. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,   Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Puchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  .S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
T  ganzen  Reihe  37.   Band. 


Sonntag,  den  22,  Januar  1922. 


Nummer  4- 


[Nachdruck  verboten.] 


Geologie  und  Wünschelrute. 

Von  Edw.  Hennig. 


In  diesen  Blättern  wurde  kürzlich  mit  Recht 
auf  den  Umstand  aufmerksam  gemacht,  daß  die 
Zeitströmung  vom  materialistischen  Ufer  wieder 
einmal  stark  zum  entgegengesetzten  hinüber- 
pendelt und  sich  auch  in  allerlei  Nebenbewegungen 
auswirkt.  Die  Philosophie  kommt  endlich  auch 
in  der  Naturwissenschaft  wieder  mehr  und  mehr 
zu  Ehren.  Die  Zeit  ist  vorbei,  in  der  jemand  sich 
selbst  mit  der  Behauptung  betrügen  konnte,  er 
verlasse  sich  in  Erfahrungswissenschaften  nur  auf 
seine  fünf  Sinne. 

Es  ist  nicht  bloßer  Zufall,  daß  in  solcher  zum 
Rationalen,  aber  darüber  hinaus  gleich  auch  zum 
Mystischen  neigenden  Periode  beispielsweise  auch 
die  Wünschelrute  wieder  stärker  in  den  Vorder- 
grund des  Interesses  rückt.  Tatsächlich  erlebt  sie 
eine  Art  Hochkonjunktur.  In  Zeitschriften  und 
Zeitungen  jeden  Schlages,  Broschüren  und  Büchern, 
auf  Kongressen  wie  im  Stillen  ist  sie  heiß  um- 
worben und  umstritten.  Wären  die  an  sie  sich 
knüpfenden  Probleme  mit  leidenschaftlichem 
Wollen  zu  erstürmen,  wir  ständen  mit  solchem 
Aufgebot  nicht  noch  immer  weit  draußen  an  den 
ersten  Forts.  Im  Kriege  hat  sie  sich  neuerdings 
Aufmerksamkeit  erzwungen  und  seither  die  be- 
teiligten Kreise  nicht  wieder  losgelassen. 

Man  kann  es  nur  begrüßen,  daß  das  Stadium 
der  mehr  oder  weniger  gefühlsmäßigen  Partei- 
nahme nunmehr  überwunden  ist.  Es  wird  wirk- 
lich untersucht,  streng  wissenschaftlich,  methodisch 
erforscht,  was  der  Gegenwart  an  Fragen  nur 
irgend  zugänglich  ist.')  Bei  der  großen  Rolle,  die 
im  Kampfe  für  und  wider  dem  Geologen  als  einer 
der  Kontrollstellen  zugefallen  ist,  ist  es  besonders 
dankenswert,  daß  sich  ganz  neuerdings  auch  amt- 
liche Fachbehörden  der  Sache  angenommen 
haben.  Die  beiden  Landesanstalten  in  Preußen 
und  Württemberg  sind  mit  gutem  Beispiel  voran- 
gegangen. Niemand  hat  ein  Recht,  den  ange- 
stellten Versuchen  Parteilichkeit,  Unzweckmäßig- 
keit,  mangelnde  oder  übertriebene  Skepsis  vorzu- 
werfen. Volles  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  hat 
obgewaltet. 

Da  ist  es  denn  sehr  bezeichnend  und  höchst 
interessant,  wie  auch  sonst  fast  regelmäßig,  so 
wieder  bei  diesen  offiziellen  Veranstaltungen  wider- 
sprechende Ergebnisse  gezeitigt  zu  finden.  Kommt 
die  preußische  Behörde  zu  einer  restlosen  Ab- 
lehnung,  so  hat  die  Tagung  des  Vereins  zur  Er- 


')  Vgl.  Graf  C.  vonKlinckowstrem:  Neues  von  der 
Wünschelrute,  Theoretisches  und  Kritisches.  2.  Aufl.  Tillessen, 
Berlin  1919. 


forschung  der  Wünschelrute  in  Heilbronn  (Sep- 
tember 1921)  im  Beisein  aller  Angehörigen  der 
geol.  Landesaufnahme,  anscheinend  nicht  so  ent- 
mutigenden Ausgang  genommen,  nachdem  schon 
im  Vorjahre  zu  Görlitz  die  Geologie  auf  dem 
Wünschelrutenkongreß  lebhaften  Anteil  genommen 
hatte.  Hoffentlich  wird  man  darüber  in  ähn- 
licher Weise  unterrichtet,  wie  das  durch  eine 
Darstellung  des  Verlaufs  der  angestellten  Ver- 
suche von  selten  der  preußischen  geologischen 
Landesanstalt ')  geschehen  ist.  Auch  die  hollän- 
dische geologische  Reichsanstalt  ist  mit  holländi- 
schen und  deutschen  Rutengängern  zu  sorgsamen 
Versuchen  geschritten.-) 

Daneben  gehen  die  Einzeläußerungen  von 
geologischen  Fachleuten  einher.  Unter  den  zu 
ganz  negativen  Ergebnissen  gelangenden  seien  die 
betreffenden  Veröffentlichungen  von  Cloos-Bres- 
lau  ^)  und  Gü  rieh -Hamburg  *)  als  besonders  be- 
achtenswert hervorgehoben.  Den  in  der  einen 
oder  anderen  Form  zustimmenden  Vertretern  hat 
sich  nach  Ax.  Schmidt*)  und  anderen  neuer- 
dings mit  dem  ganzen  Gewicht  seiner  Autorität 
in  heimatgeologischen  Dingen  Joh.  Walther- 
Halle ")  beigesellt.  Er  hat  „selbst  lange  Jahre 
den  Rutenproblemen  ablehnend  gegenüber  ge- 
standen", fühlt  sich  aber  nach  sehr  umfangreichen 
Versuchen  mit  Hilfe  von  Rutengängern  nunmehr 
überzeugt,  „daß  manche  rein  wissenschaftliche 
geologische  Frage  sogar  mit  Hilfe  der  Wünschel- 
rute gelöst  werden  kann".  Selbstverständlich  weit 
entfernt,  ersten  überraschenden  Eindrücken  sich 
blindlings  hinzugeben,  hat  er  die  ganze  Proble- 
matik des  eigenartigen  Instrumentes  erkennen 
und  anerkennen  gelernt  und  gibt  seine  Erfahrungen 
in  ansprechender  Weise  wieder. 

So  ist  es  ein  sehr  treffender  Vergleich,  wenn  die 
gewöhnliche  hydrologische  Anschauung  des  Geo- 
logen von  der  Erdrinde  dem  Bilde  zur  Seite  gestellt 
wird,  das  der  Anatom  aus  dem  vor  seinen  Augen 

')  Zur  Wünschelrutenfrage  (l.  Die  mit  Rutengängern  im 
Dezember  1920  angestellten  Versuche  der  Preuß.  Geol.  Landes- 
anstalt).    Berlin  N  4,   1921.     3  M. 

*)    Zeilschr.    f.   Wünschelrutenforschung,    Okt.-Heft    1921, 

s.  38—41- 

')  H.  Cloos:  Zur  Wünschelrutenfrage.  Beobachtungen 
und  Versuche.  Zentr.-Bl.  f.  Min.,  Geol.,  Paläontol.  1918, 
Nr.   I   u.  2. 

*)  G.  Gürich:  Die  Wünschelrutenfrage  in  Hamburg, 
Untersuchungen  und  kritische  Betrachtungen.  Gente-Ham- 
burg   1920. 

*)  Axel  Schmidt:  Der  heutige  Stand  der  Wünschel- 
rutenfrage.     Jahrb.  Ver.  f.  vaterl.  Naturk.   Württemberg  1919. 

")  Joh.  Walther:  Das  unterirdische  Wasser  und  die 
Wünschelrute.     Gernrode/Harz  1921.     32  S. 


so 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  4 


liegenden  entbluteten  Leichnam  gewinnt,  wogegen 
der  Rutengänger  dem  Kliniker  entspricht,  „der  das 
Spiel  der  Nerven,  den  Puls  des  Blutkreislaufs  und 
den  Blutdruck  der  lebenden  Gewebe  beobachtet". 
Daraus  läßt  sich  mancherlei  Nichtverstehen  auf 
beiden  Seiten  wohl  erklären.  Walt  her  scheint 
sogar  geneigt,  in  der  Erforschung  des  Problem- 
komplexes Aufgaben  zu  sehen,  „die  geeignet  sind 
unser  Wirtschaftsleben  einer  neuen  Blüte  ent- 
gegen zu  führen".  Ob  die  Zeit  schon  reif  ist, 
ein  so  gänzlich  unerklärtes  Phänomen  schon  der 
Praxis  zu  empfehlen,  darüber  darf  man  verschiedener 
Meinung  sein,  wenn  schon  es  mit  dem  elektrischen 
Strom  nicht  viel  anders  gewesen  ist.  ,. Jedenfalls 
wird  es  sich  immer  lohnen,  bei  der  Wasserver- 
sorgung eines  größeren  Verbrauchsortes  zuerst 
dem  Kenner  der  Geologie  der  Heimat  das  Wort 
zu  geben."  Ein  vertrauensvolles  Zusammenarbeiten 
der  sicherer  gegründeten  Wissenschaft  mit  dem 
noch  geheimnisvollen  „Fühlhebel"  ist  es,  dem  er 
warm  und  mit  guten  Gründen  das  Wort  redet.  ^) 
Ein  Widerspruch  scheint  darin  zu  liegen,  daß 
Walt  her  die  Wünschelrute  als  „ein  mechanisches 
Hilfsmittel  erklärt,  um  nervöse  Reizzustände  sicht- 
bar zu  machen",  nur  mit  Muskelreaktionen  gegen 
die  Reize  von  außen  rechnet,  nachdem  vorher  die 
in  der  Tat  immer  wieder  überraschende  Erfahrung 
geschildert  wurde,  daß  „zwei  kräftige  Männer  den 
Auftrag  erhalten,  mit  je  einer  Hand  die  Rute 
festzuhalten,  und  ein  stark  begabter  Rutengänger 
durch  bloßes  Auflegen  der  Hände  die 
Rute  zu  kräftigstem  Ausschlag  bringt". 

Zu  den  förderndsten  Beiträgen  über  die  Frage 
dürften   die   statistischen  Erhebungen    zu  rechnen 


')  Ein  wichtiger  Erfolg  ernsthafterer  Beschäftigung  der 
Geologenwelt  mit  dem  Rutenproblem  ist  auch  auf  der  anderen 
Seite  schon  sichtbar:  Die  Leitsätze  Dr.  T.  Beyers  (Zeitschr. 
für  WünschelrutenforschuDg,  November  1921,  S.  52 — 53)  für 
das  Zusammenarbeiten  untersagen  dem  Rutengänger  die  geo- 
logische Ausdeutung  seiner  Beobachtungen.  Natürlich  fällt 
damit  die  ganze  Schwere  der  Verantwortung  auf  den  Geologen. 
Man  wird  das  aber  sachlich  nur  gerechtfertigt  nennen  dürfen. 


sein,  die  Range*)  in  zwei  getrennten  Gebieten 
mit  aridem  Klima  und  daher  ausgeprägterem 
Charakter  der  Grundwasserkörper  anzustellen  Ge- 
legenheit hatte :  in  Deutsch-Südwestafrika  vor  und 
an  der  Palästinafront  im  Weltkriege.  Das  Ergebnis 
sei  hier  in  Kürze  wiedergegeben: 


Afrika 

Orient 

Für  die  Statistik  verwert- 

bare Bohrungen 

435  bzw.   227 

27 

davon  überhaupt  wasser- 

fundig 

347(8o<-/o)    „    184(810/0) 

io(37°/o) 

praktisch  verwertbar 

2io(48''/„)   „      S2(37»/o) 

4U5%) 

Tiefenangaben  Uslars  zu- 

treffend bei 

62''/„     „          34  "/o 

(Fehlergrenze  ges.   10  m). 

„Es  haben  also  reichlich  dreiviertel  aller 
Wünschelrutenbohrungen  Wasser  angefahren,  aber 
weniger  als  die  Hälfte  hat  ein  praktisch  brauch- 
bares Ergebnis  geliefert."  „Ein  unsicheres  Hilfs- 
mittel, Wasser  zu  finden,  wird  die  Wünschelrute 
wohl  immer  bleiben.  Gerade  dadurch  aber,  daß 
sie  die  Bohrtätigkeit  anregte,  hat  sie  manchen 
Nutzen  gestiftet  und  so  mancher  Schatz  ist  ge- 
hoben, der  ohne  sie  wohl  noch  lange  ungenutzt 
im  Schöße  der  Erde  geschlummert  hätte."  Das 
ist  ein  reichlich  indirektes  Lob,  aber  doch  auch 
keine  Verdammung  in  Bausch  und  Bogen.  Viel- 
mehr tut  gerade  die  sehr  klare  Objektivität  der 
Rangeschen  Darstellung  wohl. 

Zu  welcher  Stellungnahme  sich  immer  der 
Einzelne  im  gegenwärtigen  Zeitpunkt  gedrängt 
fühlen  mag,  in  der  tatkräftigen  Beschäftigung  mit 
dem  reizvollen  Wünschelrutenproblem  auf  allen 
Seiten  muß  jeder,  der  am  Ringen  um  die  Hemm- 
nisse der  Erkenntnis  Freude  empfindet,  ein  gutes 
Zeichen  für  den  Geist  der  so  tief  aufgerührten 
Zeit  erblicken. 


')  P.  Range:  Die  Ergebnisse  des  Wassersuchens  mit  der 
Wünschelrute  in  Südwestafrika  und  im  Orient.  „Die  Wünschel- 
rute" 1920.  Vgl.  Ders. :  Das  Problem  der  Wünschelrute. 
Diskussion  in  der  Ingenieur-Zeitung  Sept.   1921,    S.  313 — 315. 


[Nachdruck  verboten.] 


Znr  Grnndleguiig  der  Ganzheitsforderung  der  Biologie. 

Von  H.  Latzin,  Atzgersdorf  bei  Wien. 
Mit   I   Abbildung  im  Text. 


In  Fortsetzung  einer  in  der  Zeitschrift  für  all- 
gemeine Physiologie  B.  XIX  H.  1/2  erschienenen 
Arbeit  des  Verfassers  über  organische  Wahrschein- 
lichkeitstheoreme haben  sich  diesem  einige  merk- 
würdige neue  Gesichtspunkte  ergeben,  die  er,  ob- 
wohl die  funktionentheoretischen  Untersuchungen 
über  diesen  Gegenstand  noch  nicht  abgeschlossen 
sind,  ihres  allgemeinen  Interesses  halber  doch  in 
vorläufiger  Fassung  bekanntgeben  möchte. 

Es  betrifft  das  Postulat  der  Personalganzheit 
der  Organismen,  wie  Driesch  das  Faktum  be- 
nannt hat. 

Wir  können  unter  Ganzheit  dreierlei  verstehen. 


Einmal  Begrifisganzheit,  diese  kommt  für  uns  als 
rein  logisch  nicht  in  Betracht.  Sodann  Wirkungs- 
ganzheit, wie  es  jede  Maschine  ist  und  schließlich 
Personalganzheit,  die  durch  diesen  Begriff  zu- 
sammengefaßte Funktions-  (Handels-)  und  Form- 
wesenheit der  Organismen. 

Ich  glaube  von  einer  näheren  Definition  dieses 
Begrifies  um  so  mehr  absehen  zu  können,  als  ja  in 
dieser  Zeitschrift  oft  genug  auf  ihn  hingewiesen 
wurde  (siehe  das  Referat  über  Ungerer,  Die  Re- 
gulationen der  Pflanzen.) 
I. 

Verfasser   ging  von  der  uns  hier  nicht  weiter 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Si 


berührenden  metaphysischen  Hypothese  aus,  daß 
die  Ganzheit  nur  eine  andere  Form  der 
Allheit,  des  Absoluten  oder  der  Ge- 
samtwelt sei,  derart  daß  der  im  Raum 
und  Zeit  beschränkte  Organismus  die 
in  seinem  Innern  sich  abspielenden  Vor- 
gänge auf  die  Totalität  des  Raumes  und 
der  Zeit  (=  Welt)  abbilde.  Dann  muß  näm- 
lich jedes  Lebewesen  auch  eine  Ganzheit  sein; 
denn  ein  größerer  Abbildungsraum  als  die  Un- 
endlichkeit ist  nicht  mehr  möglich  und  ein  klei- 
nerer widerspräche  der  Abbildungsfunktion,  die 
ein  ganz  bestimmt  definierbarer  mathematischer 
Begriff  ist. 

Als  Veranschaulichung  dieses  unanschaulichen 
Theorems  können  wir  eine  unendliche  Ebene 
heranziehen,  die  in  unendlich  viele  kleine  Rechtecke 
zerlegt  ist. 

Teilen  wir  den  Punkten  dieser  Ebene  Z  die 
Menge  aller  komplexen  Zahlen  z  zu  (Z  als  kom- 
plexe Zahlenebene),  so  wird  durch  eine  gewisse 
Funktion  f(z)  jedes  der  Rechtecke  nach  den  Regeln 
der  Funktionentheorie  umkehrbar,  eindeutig  und 
konform  (=:winkeltreu)  auf  die  gesamte  unendliche 
Halbebene  von  Z  abgebildet;  f(z)  ist  eine  ellip- 
tische Funktion  spezieller  Art.  Die  Menge 
derZahlen  z  ist  ein  Koordinatensystem 
(ein  2-dimensionalesl  =x-(-yi),  ihre 
Rolle  in  der  Gleichung  erfüllen  in  der 
lebenden  Substanz  die  Anschauungs- 
formen des  betreffenden  Organismus.  Wir 
fassen  hier  jegliche  Anschauungsform,  ohne  auf  ihre 
neuere  erkenntniskritische  Behandlung  einzugehen, 
als  Ordnungsschematischen  Begriff  auf,  deren  ein- 
zelne Teile  die  Begriffsganzheit  in  sich,  nicht  unter 
sich  enthält.  Für  den  Organismus  sind  die  An- 
schauungsformen scheinbar  a  priori  vorhandene 
Ordnungsschemata,  mit  denen  er  seine  Erlebnisse 
auf  seine  Totalität  abbildet  (oder  begreift  ?).  Und 
während  wir  jedes  Koordinatensystem  und  die 
in  ihm  ausgeführten  Funktionen  in  unserem  In- 
tellekte trennen  müssen  (die  „Kurve"  Im  Koor- 
dinatensystem ist  eine  fortwährende  neue  Asso- 
ziation zwischen  Anschauungsform  und  Funktions- 
begriffl),  sind  in  der  lebenden  Substanz  beide  innig 
verbunden.  Mit  dem  Kategoroid,  wie  wir  diesen 
organischen  Faktor  aus  einem  gleich  näher  zu  er- 
örternden Grunde  nennen  wollen,  ist  die  Unendlich- 
keitsabbildung und  das  dazugehörige  Koordinaten- 
system zugleich  gegeben,  ein  Hinweis  darauf,  daß 
Mathematik  allein  für  Biologie  ungenügend  ist.  — 
Die  Gesetze  des  logischen  Verbindens  der  er- 
füllten Anschauungsformen  nannte  Kant  Kate- 
gorien (statt  Gesetze  ist  vielleicht  besser  zu 
sagen  Verknüpfungsformen!),  und  wir  dürfen  die 
Totalitätsfunktion  f(z),  das  Vitalaxiom ,  als  die 
den  intellektuellen  menschlichen  Kategorien  vor- 
hergehende, den  Anschauungs formen  noch 
immanente  Kategorie  ansehen.  Vital- 
axiom deswegen,  weil  es  wie  ein  Axiom  einer 
Wissenschaft  dem  handelnden  Leben  als  Richt- 
schnur   für    sein    Verhalten    dient.      Es    ist    der 


mathematische  Ausdruck  des  Instinktes.  Seine 
wesensheitliche  Verbindung  mit  den  Anschauungs- 
formen ist  eben  das  Kategoroid. 

Soweit  das  psychoide  Element  unserer  Unter- 
suchung. 

II. 

Jede  unendliche  Ebene  Z  läßt  sich  so  in  unend- 
lich viele  gleichgestaltete  und  gleichgroße  Figuren 
—  Gebiete  zerlegen,  daß  sie  gleichmäßig  und 
lückenlos  von  diesen  überdeckt  erscheint. 

Aber  nur  in  ganz  bestimmt  gestalteten  solchen 
Gebieten  F  können  durch  eine  Funktion  f(z)  alle 
Punkte  im  Innern  von  F  eindeutig  und  umkehrbar 
den  Punkten  der  ganzen  Ebene  Z  zugeordnet 
werden.  So  also,  daß  die  ganze  Ebene  Z  auf 
jedes  seiner  Teilstücke  abgebildet  wird  und  um- 
gekehrt. 


V      .V 


^ & ffi 


IV 


0 ^ $ 

III 

^ ^ * 


^Pole^A 


(i>  o> 


I  Doppelperiode 

zu  jedem  Rechtecke  (I...)  gehören 
1  Pol  (1..,6)A  zweiter  Ordnung 


Einfachste  elliptische  Funktion  nach  Weierslrass. 

Eine  solche  Funktion  heißt  eine  elliptische 
(vgl.  obenstehende  Figur).  Der  Mathematiker 
unterscheidet  die  unendliche  Halbebene  Z,  auf 
die  alle  F  durch  f(z)  abgebildet  werden,  von  der 
Ebene  der  Gebiete  selbst  und  nennt  sie  aus  nicht 
näher  zu  erörternden  Gründen  die  unendlichblättrige 
Riemannsche  Fläche  f(z).  Dieser  bei  weiterem 
Eindringen  in  unsere  Materie  sehr  wichtige  Um- 
stand kommt  für  den  momentanen  Bedarf  zur  vor- 
läufigen Orientierung  nicht  in  Betracht. 

Rein  funktionentheoretisch  zerfällt  jede  ellip- 
tische Funktion  f(z)  in  eine  unendliche  Summe  von 
Teilfunktionen  g(z),  die  selbst  wieder  von  ihren  so- 
genannten Polen,  das  sind  Stellen  in  der  Ebene  Z, 
wo  die  Funktion  unendlich  wird,  abhängig  sind. 
Die  Anzahl  dieser  Pole  und  deren 
funktionentheoretische  Ordnung  ist  in 
jedem  der  Gebiete  gleich.  Aus  der  Lage 
der  Pole  in  einem  Gebiet  kann  nach  dem  Satze 
von  Mittag  Leffler  die  ganze  Funktion  f(z)  bis  auf 
einen  additiven  Bestandteil  abgelesen  werden. 
g(z)  sind  die  sogenannten  Hauptteile  einer  mero- 
morphen  Funktion. 


52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  4 


Jeder  Pol  liefert  für  den  Hauptteil  einen  be- 
stimmten Bestandteil  f/)(z),  der,  wenn  nicht  mehr  als 
ein  Pol  im  Gebiet  oder  allgemeiner  der  Doppel  periode 
r  (wegen  der  Periodizität  dieser  Funktion  f(z); 
in  jedem  Gebiet  durchläuft  sie  ja  alle  ihre  Werte, 
um  im  nächsten  erneut  zu  beginnen)  vorhanden 
ist,  selbst  zum  Hauptteil  wird.  Wir  haben  also 
oo 
f  (z)  =  Konstante  +  ^  ((rJ^)  •  •  •  +  yi(z) 

a . . .  X    die    verschiedenen    Pole    in    der    Periode, 
oo 

:g  ihre  gemeinsame  Summe  über  alle  F. 
1 

Die  Gesamtfunktion  ist  also  eine  bloße  Summe 
von  gleichwertigen  Teilen. 

Sobald  wir  nur  einmal  die  allgemeine  iVIethode 
zur  Entwicklung  der  Funktion  g(z)  =  cpjz)  .  .  . 
-j-  yi(z)  erkannt  haben,  können  die  Pole  eines  F 
beliebig  angenommen  oder  ausgetauscht  werden, 
jedesmal  eine  andere,  aber  ebenfalls  eine  ellip- 
tische Funktion  ergebend.  Ebenso,  wie  der 
Organismus  eine  ganzheitliche  Summe 
der  Funktionen  oder  Erbeigenschaften 
seiner  Gene  ist. 

Die  Gene  sind  in  unserer  Theorie  diejenigen 
Punkte  im  Organismus,  wo  das  Psychoid,  das  Kate- 
goroid,  mit  der  Materie  zum  innigsten  Zusammen- 
wirken gelangt.  Materiell  entsprechen  den  Polen 
oder  Genen  eines  Gebietes  F  unserer  f(z)  die  De- 
terminanten. Daß  hier  der  Angriffspunkt  des 
Lebens  an  der  Materie  liegt,  ergibt  sich  daraus, 
daß  die  Materie  ebenfalls  als  eine  F"unktion  des 
Absoluten  mit  diskreten  Häufungspunkten  ähnlich 
den  Polen  als  Unendlichkeitspunkten  anzusehen 
ist.  Die  daraus  fließende  metaphysische  Theorie 
der  Materie  wird  in  dem  zusammenfassenden 
Werke  des  Autors  nachzulesen  sein. 

Jedes  der  Gebiete  F  einer  Doppelperiode  mit 
X  singulären  Stellen  (oder  Polen),  die  durch  f(z) 
auf  die  Totalität  abgebildet  werden,  ist  ein  Moment- 
bild des  Lebewesens  f(z)  in  einem  bestimmten, 
durch  die  Hauptteile  (p{z)  festgelegtem  Reizzustande. 
Diese  Reizqualitäten  (fiz  sind  die  pri- 
mären Sinnesqualitäten  der  Psycho- 
logie! — 

Leben  ist  fortwährendes  Fließen.  Sein  Wesen 
ist  nicht  allein  seine  Ganzheit,  sondern  ebensosehr 
auch  die  beständigen  stationären  Bewegungsvor- 
gänge seiner  selbst.  Eines  der  Gebiete  F  nach 
dem  anderen  wird  zum  Momentanzustand  des  Or- 
ganismus, ohne  Rast  werden  sie  vom  Leben  durch- 
laufen, fortdauernd  den  Reizzustand  wechselnd, 
soweit  die  materielle  Erfüllung  der  Gene  mit  den 
Determinanten  der  Veränderung  folgen  kann.  Von 
dieser  materiellen  Menge,  die  den  Genen  koordiniert 


ist,  hängt  die  Fassungskraft    der    primären  Quali- 
täten, die  Mneme  ab. 

Denn  das  Kategoroid  an  sich,  diese  immer- 
währende Setzung  von  Funktionen  in  der  Totalitäts- 
ebene, hat  keine  Grenzen  in  seinem  Flusse.  Ihm 
steht  die  gesamte  unendliche  Ebene  offen.  Grenzen 
der  unendlichen  Möglichkeit  fordert  allein  die 
Materie,  deren  Anhäufung  oder  Verschwinden  am 
Wirkungsgebiete  der  Pole,  wo  die  Funktion  f(z) 
materielle  Eigenschaften  annimmt.  Grenzen,  die 
einerseits  zwar  wie  alles  Grenzhafie  Einschränkungen 
sind,  andererseits  aber  die  Erreichung  eines  bio- 
logisch-zweckdienlichen Gebietes  F  mit  der  ge- 
forderten Reizzustand  cp^{z)  .  .  .  ffjz)  (oder  Polen) 
durch  Vorhandensein  der  entsprechenden  Deter- 
minanten sehr  erleichtert.  Überhaupt  erst  das 
bedingen,  was  statt  der  bisher  behandelten  statischen 
Ganzheit  dynamische  Ganzheit  genannt  werden 
kann.  Das  ist  aber  der  eigentliche  Inhalt  des 
Lebens  I 

Das  Gedächtnis  als  reine  Funktion  der  Materie 
ist  die  Ursache  der  immerwährenden  Verknüpfung 
des  Lebens  an  sich,  der  wirkenden  Ganzheitsbe- 
ziehung, mit  der  lebensfremden  Materie. 

Das  Hinausfahren  von  F  über  das  individuell 
mögliche  Feld  auf  der  Ebene  Z  führt  zu  neuen 
Organismen,  vorläufig  noch  gleicher  Art,  die  in 
einem  konzentrischen  Kreise  um  den  Mutter- 
organismus gruppiert  sind.  Je  weiter  die  Kreise 
werden,  um  so  unähnlicher  die  Organismen.  Die 
ganze  Ebene  Z  repräsentiert  die  gesamte  Lebens- 
heit,  also  ein  und  dieselbe  Totalität  f(z)  für  alle 
Lebewesen,  nach  Driesch's  Nomenklatur 
eine,  und  nur  eine  Entelechie,  oder 
nicht  metaphysisch,  Ganzheit  für  alle 
Organismen. 

Denn  jedes  Gebiet  F,  wo  immer  in  der  Ebene 
Z,  wird  durch  f(z)  auf  die  gleiche  unendliche 
Ebene  abgebildet. 

Die  strenge  Fassung  eines  einheitlichen  Lebens, 
das  sich  in  vielen  diskreten  Organisationen  ob- 
jektiviert, und  die  mathematische  Behandlung  der 
Ganzheitsprobleme  eröff'nen  der  hier  kurz  skizzierten 
Methode  exakter  biologischer  Forschung  die  Mög- 
lichkeit, die  zum  Fortschritt  einer  wirklich  wissen- 
schaftlichen Biologie  unumgänglich  nötige  Philo- 
sophie in  selbst  für  Nichtmetaphysiker  einwand- 
freier Weise  einzuführen. 

Ein  Weg,  den  zuerst  gewiesen  und  begangen 
zu  haben,  Driesch's  Verdienst  ist.  Denn  Bio- 
logie ist  im  tiefsten  Grunde  ihres  Wesens  eigent- 
lich Philosophie,  das  Problem  der  Realität, 
die  Fragen  der  Erkenntnistheorie  u.  a.  m. 
nur  eine  andere  Formung  zur  Betrach- 
tung des  Kategoroids! 


Einzelberichte. 


Die  Homologie  der  Wirbeltierkiemen. 

Die  Kiemenspalten   der  Wirbeltiere   entstehen 
gewöhnlich     zunächst     als     Ausbuchtungen     des 


Schlunddarms,  denen  dann  je  eine  Einbuchtung 
der  Oberhaut  entgegenkommt.  Nach  erfolgtem 
Durchbruch    der    Spalten    bilden    sich    auf    den 


N.  F.  XXI.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


53 


stehengebliebenen  Kiemenbogen  die  wagerechten 
blutreichen  Kiemenblättchen  aus,  deren  Gesamt- 
heit auf  einem  Bogen  —  die  vorderen  und  die 
hinteren  —  je  eine  Kieme  darstellt.  Die  bei 
dieser  Sachlage  oft  schwer  entscheidbare  Frage, 
ob  die  Kieme  Haut-  oder  Darmursprung  hat,  ist 
bisher  verschieden  beantwortet  worden.  Jacobs- 
hagen  sucht  sie  einheitlich  zu  beantworten.*) 
Um  das  Ergebnis  der  Klarheit  halber  vorweg- 
zunehmen: er  entscheidet  sich  für  den  ekto- 
der malen  Ursprung  des  Kiemenepithels. 

Beim  Lanzett fisch  gibt  es  über  loo  Kiemen- 
spalten, aber  keine  aus  Blättchen  bestehenden 
Kiemen  an  ihnen.  Am  komplizierten  Blutverlauf 
in  den  Kiemenspalten  ist  für  unsere  Frage  das 
wesentlichste,  daß  das  Blut  von  unten  her  an  der 
Außenseite  des  Bogens  emporgetrieben  wird 
und  nach  gewissen  Verzweigungen  der  Gefäße 
mehr  an  der  Innenseite  nach  oben  abfließt. 
Mithin  entsprechen  die  Außengefäße  den  Kiemen- 
arterien der  Wirbeltiere,  und  gerade  über  ihnen 
liegt  besonders  ausgebildetes  Epithel  von  breiten, 
niedrigen  Zellen  auf  sehr  dünner  Basalmembran. 
Wegen  ihrer  Außenlage  ist  kein  Zweifel,  daß  sie 
der  Haut  angehören :  „die  Kiemenatmung  der 
Akranier  ist  eine  modifizierte  Hautatmung". 

Die  Kiemenblätter  der  Fische  entstehen 
allgemein  als  je  eine  vordere  und  eine  hintere 
Reihe  anfangs  knopfartiger  Büschel,  die  zunächst 
in  kurze  Fäden  ausgezogen  werden,  hierauf  sich 
wagrecht  zur  Gestalt  des  Kiemenblattes  verbrei- 
tern. Stets  entstehen  sie  an  der  Außenkante 
des  Kiemenbogens,  so  bei  Lungenfischen  (Cera- 
todus)  nach  Greil,  beim  Stör  nach  Goette 
und  bei  Selachiern  und  Knochenfischen  nach 
übereinstimmenden  Angaben.  Greil  hat  zwar 
trotzdem  für  Ceratodus  dargelegt,  daß  nach  seiner 
Ansicht  die  Kiemenblätteranlagen  seitens  dorthin 
gewanderter  Entodermzellen,  die  sich  durch  ihren 
großen  Dotterreichtum  als  solche  erweisen,  ge- 
bildet würden.  Jacobshagen  legt  dar,  daß  er 
ebenso  wie  Marcus  dieser  Ansicht  nicht  folgen 
könne,  der  Dottergehalt  könne  durch  physiologi- 
sche Zustände  innerhalb  der  Zelle  modifiziert 
werden  und  beweise  nicht  entodermale  Herkunft, 
zumal  Jacobshagen  alte  Angaben  vom  Vor- 
kommen von  Plakoidschuppen  auf  den  Kiemen- 
blättern von  Rochen  oder  von  Teleostierschuppen 
auf  denen  von  Orthagoriscus  bestätige,  und  der 
histologische  Aufbau  der  Kiemenblätter  sich  bei 
allen  Fischen,  einschließlich  der  Lungenfische,  als 
homolog  erweise. 

Die  Kiemenblättchen  der  Zyklostomen 
werden  vom  Verf.  für  sich  abgehandelt :  ihr  feinerer 
Bau  entspricht  wiederum  dem  bei  Fischen,  doch 
gilt  seit  Goette  1901  ihre  Entstehung  für  ento- 
dermal,  da  sie  sich  nicht  auf  der  Außenkante  der 
Kiemenbogen,  sondern  auf  deren  Vorder-  und 
Hinterwand  ziemlich  weit  entfernt  vom  Außen- 
rande   anlegen,    insbesondere    einwärts    der    hier 

')  E.  Jacobshagen,  Die  Homologie  der  Wirbeltier- 
Wemen.     Jenaische  Zeitschrift  Bd.  57,  1920. 


wie  immer  im  Außenrande  gelegenen  knorpeligen 
Kiemenbogenspange.  Verf.  macht  nun  darauf 
aufmerksam,  daß  das  knorpelige  Kiemenbögen- 
skelett  der  Zyklostomen  wohl  nicht  dem  ganz 
anders  gebauten  der  übrigen  Fische  gleichzusetzen 
sei,  ferner  daß  der  die  Kiemenblättchen  bildende 
Fleischteil  des  Bogens  embryonal  vorübergehend 
fast  gänzlich  vom  Knorpelbogenteil  getrennt  ist 
und  daß  er  wohl  dem  Außenteil  eines  Selachier- 
kiemenbogens  entsprechen  könne ,  endlich  daß 
nach  Scheffer  anscheinend  ektodermale  Epider- 
mis in  die  Kiemenspalten  hineingedrungen  sei 
und  im  Kiemenblättchen  tragenden  Bereich  das 
entodermale  Flimmerepithel  teilweise  verdrängt 
habe.  Somit  würde  auch  hier  der  ektodermale 
Ursprung  des  Kiemenepithels  wenigstens  als  eine 
Möglichkeit  erscheinen,  vorbehaltlich  erneuter 
ontogenetischer  Prüfung. 

Die  oft  als  „äußere  Kiemen"  bezeichneten 
Fadenkiemen  der  Embryonen  der  Sela- 
chier und  einiger  niederer  Teleostier 
kommen  für  die  hier  behandelte  Frage  nicht  in 
Betracht,  da  sie  nur  aus  den  Kiemenspalten  nach 
außen  herausragende  Verlängerungen  von  Kiemen- 
blättern sind,  also  denselben  Ursprung  haben 
müssen  wie  letztere. 

Bei  den  wirklich  äußeren  Kiemen  der 
Lungenfisch-  und  Krossopt ery gierem- 
b  r  y  o  n  e  n  jedoch,  die  sich  übrigens  bei  Protopterus 
zum  Teil  bis  ins  Alter  erhalten,  und  die  bei  den 
genannten  beiden  Fischgruppen  wiederum  unter- 
einander übereinstimmenden  feineren  Aufbau 
zeigen,  ist  wesentlich,  daß  sie  den  Lungenfischen 
wiederum  ohne  Beteiligung  der  Entoderms  und 
zwar  als  je  eine  knopfartige  Erhebung  auf  der 
Außenkante  der  Kiemenbogen  entstehen.  Eine 
Art  äußerer  Kiemen  fern  von  jeder  Kiemenspalte, 
somit  ganz  sicher  der  Haut  entsprossen ,  bildet 
übrigens  das  Männchen  des  Krossopterygiers  Le- 
pidosiren  vor  der  Fortpflanzungszeit  aus,  indem 
dann  die  Medialfläche  der  hinteren  paarigen 
Flosse  sich  mit  blutreichen  Knöpfchen  oder 
Fädchen  besetzt,  was  es  vermutlich  ermöglicht, 
der  Brutpflege  obzuliegen,  ohne  zu  der  sonst  ja 
auch  den  Krossopterygiern  gegebenen  Lungen- 
atmung greifen  zu  müssen.  —  Es  ist,  beiläufig 
bemerkt,  klar,  daß  diese  Ausbildung  auch  in  Be- 
tracht kommt  für  die  Frage  der  Ableitung  der 
Fischflossen  von  Kiemenbogen. 

Bezüglich  der  embryonal  oder  dauernd  vor- 
handenen äußeren  Kiemen  der  geschwänz- 
ten Amphibien,  die  gleichfalls  als  je  ein 
Knötchen  auf  den  Außenfläche  jedes  Kiemenbogens 
angelegt  werden,  liegt  die  Streitfrage  ähnlich  wie 
bei  den  inneren  Lungenfischkiemen:  auch  sie 
wurden  von  Greil  als  Gebilde  dorthin  gewan- 
derten Entoderms  angesprochen,  was  Verf.  mit 
Marcus  nicht  anerkennen  möchte.*)   Ähnlich  bei 

')  Es  dürfte  auch  in  Betracht  kommen,  daß  sie  nach 
Maurer,  Morphol.  Jahrbuch  Bd.  14,  188S,  vor  Durchbruch 
der  Kiemenspalten  entstehen ,  nachdem  Ektoderm  und  Ento» 
derm  sich  eben  erst  berühren.     F. 


54 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  4 


den  äußeren  Kiemen  der  Froschkaulquappen ;  *) 
obwohl  hier  die  Teilnahme  entodermaler  Ele- 
mente am  Aufbau  der  Kiemen  unumstritten  ist: 
sie  beweise  nicht  die  Bildung  der  Kiemen  durch 
das  Entoderm.  Nach  ihrem  Schwinden  entwickeln 
sich  bekanntlich  an  den  Kiemenbögen  gleichfalls 
vorübergehend  neue  Kiemen,  die  als  innere  zu 
bezeichnen  sind,  weil  sie  unter  einer  inzwischen 
entwickelten  kiemendeckelartigen  Hautfalte  liegen. 
Sie  entstehen  wie  Fischkiemen  als  je  eine  Knöt- 
chenreihe  an  der  Vorder-  und  Hinterkante  der 
Außenfläche  jedes  Kiemenbogens,  gelegentlich 
auch  mehr  der  Mitte  seiner  Außenfläche  genähert. 
Hiernach  wägt  Verf.,  da  jene  Kante  mit  der 
Ektoderm  Entodermgrenze  zusammenfällt,  ab,  daß 
der  ektodermale  Ursprung  der  wahrscheinlichere 
sei.  Ekman  gibt  Greil,  der  auch  hier  ento- 
dermalen  Ursprung  annimmt,  soviel  zu,  daß 
Entodermunterschiebungen  auf  der  Außenfläche 
des  Kiemenbogens  vorkommen,  hat  aber  nur 
selten  einzelne  Entodermzellen  in  den  knötchen- 
förmigen Kiemenanlagen  beobachtet. 

Franz. 

Freie  Ammonium-Radikale  II. 

Nachdem  W  e  i  t  z  ^)  die  Darstellung  eines  freien 
Ammoniumradikals  gelungen  ist,  hat  nunmehr 
H.  H.  S  c  h  1  u  b  a  c  h  in  Gemeinschaft  mit  F.  B  a  1 1  - 
auf  die  Existenz  des  Tetraäthylammoniums  und 
sogar  die  des  Radikals  Ammonium  NH^-  selbst 
wenigstens  in  Lösung  nachweisen  können.^)  Da- 
mit ist  also  auch  das  wichtige  Ammonradikal 
seines  nur  hypothetischen  Charakters  entkleidet 
worden.  Aus  früheren  Beobachtungen  Schlu- 
bachs  war  hervorgegangen,  daß  die  Farbe  der 
Lösung  von  freiem  Tetraäthylammonium,  (C2H5)^N-, 
blau  ist.  In  dem  Auftreten  und  dem  Bestehen 
dieser  Farbe  hat  man  also  zunächst  einmal  einen 
Anhalt  für  das  Vorhandensein  des  Radikals.  Dessen 
Darstellung  ist  lediglich  eine  Frage  der  experi- 
mentellen Geschicklichkeit.  Wenn  bei  — 70"  eine 
Lösung  von  Tetraäthylammoniumjodid  in  flüssigem 
Ammoniak  elektrolysiert  wird,  so  tritt  in  bekannter 
Weise  eine  Wanderung  der  Ionen  des  Salzes  ein: 
(C,H,\NJ  =  (QHJ.N-  +  y 

Da  das  Teiraäthylammonium  Ion  positiv  ge- 
laden ist,  so  scheidet  es  sich  an  der  Kathode  ab. 
Die  Flüssigkeit  um  die  Kathode  wird  also  tief- 
blau. Die  tiefblaue  Lösung  zeigte  nun  in  der 
Tat  alle  Umsetzungen  des  erwarteten  Radikals, 
verhielt  sich  also  in  hohem  Grade  ungesättigt. 
Mit  Jod  trat  augenblicklich  Entfärbung  ein  (Rück- 
bildung des  Tetraäihylammoniumjodids) ,  mit 
Schwefel  bildete  sich  alsbald  das  wasserlösliche 
Sulfid.      Es    ist    also    außer  Zweifel,    daß   in  der 


')  Sie  entstehen  unmittelbar  nach  Durchbruch  der 
Kiemenspalten.      K. 

2)  Naiurw.  Wochenschr.  N.  F.  XXI. 

*j  Der.  d.  d.  ehem.  Gesellsch.  54,  S.  281 1  und  2825. 
1921. 


blauen  Lösung  wirklich  Tetraäthylammonium  der 
Formel  (CjHg^^N-  vorhanden  ist. 

Die  beschriebenen  blauen  Lösungen  sind  nicht 
beständig.  Nach  einigen  Stunden  schon  sind  sie 
entfärbt.  Trotzdem  geben  sie  auch  dann  noch 
die  Reaktionen  des  freien  Radikals.  Auf  Grund 
besonderer  Versuche  und  in  Analogie  zu  ver- 
wandten Erscheinungen  muß  man  annehmen,  daß 
sich  alsdann  die  blaue  in  eine  farblose  Form 
des  Radikals  umgewandelt  hat.  Sie  ist  ebenfalls 
wenig  stabil  und  zersetzt  sich  schon  bei  der 
Temperatur  des  siedenden  Ammoniaks.  Die  farb- 
lose Form  ist  ein  Dimeres  der  blauen,  d.  h.  das 
hochgradig  ungesättigte  freie  Radikal  verkettet 
sich  mit  einem  zweiten  im  Sinne  der  Beziehung: 
2(QH,),N...  =  (C,H,),N...N(,HJ, 
blau  farblos 

Ganz  entsprechende  Verhältnisse  sind  von  ande- 
ren Radikalen  bekannt :  *)  so  z.  B.  von  Stickstofif- 
dioxyd. 

Nachdem  also  hiermit  der  Nachweis  der  Exi- 
stenzmöglichkeit eines  weitgehend  substituierten 
Ammonradikals  geliefert  ist,  kann  es  nicht  ver- 
wundern, daß  auch  dem  Ammonium  selbst, 
d.  h.  der  Gruppe  NH^  . .  eine  gewisse,  wenn  na- 
türlich auch  sehr  geringe  StabiHtät  bei  gewissen 
Bedingungen  zukommt.  Diesen  wichtigen  Nach- 
weis zu  liefern  ist  Schlubach  und  Bai  lauf 
ebenfalls  gelungen  und  damit  die  Entscheidung 
einer  chemisch  -  experimentellen  F"rage,  die  seit 
Davys  Zeiten  die  besten  Experimentatoren  be- 
schäftigt hat.  Noch  Ruff  und  Moissan  ver- 
neinten die  Existenzmöglichkeit  des  Ammoniums 
ganz.  Wenn  man  nämlich  das  Ammonium  aus 
einer  Ammoniumchloridlösung  in  flüssigem  Am- 
moniak mittels  metallischen  Kaliums  in  Freiheit 
zu  setzen  versucht  im  Sinne  der  Gleichung 

NH.Cl  -f  K  =  KCl  +  NH,-, 
so  gewinnt  man  Ammoniak,   indem  sich  das  zu- 
nächst bildende  Ammonium  sofort  zersetzt  nach : 
2NH^  =2NH3  +  Ho. 

Es  wird  also  Wasserstoff  frei.  Damit  hat  man 
gleichzeitig  ein  bequemes  Mittel,  die  Zersetzung, 
bzw.  die  Bildung  von  Ammonium  festzustellen. 
Wenn  nun  Schlubach  eine  sehr  verdünnte 
Lösung  von  Kaliummetall  in  flüssigem  Ammoniak 
in  eine  ebenfalls  wenig  konzentrierte  Ammoniak- 
lösung von  Ammoniumchlorid  bei  — 70"  und  unter 
Beobachtung  größter  Vorsicht  zutropfen  ließ,  so 
entfärbte  sich  jeder  Tropfen  der  blauen  Kalium- 
lösuiig  unter  lebhafter  Reaktion  sofort,  ohne 
daß  Wasserstoff  entwickelt  wurde  1  Hier  ist  also 
zum  ersten  Male  die  Darstellung  freien  Am- 
moniums gelungen,  und  zwar  der  farblosen  Form, 
denn  an  sich  müßte  analog  dem  Obigen  das 
Ammonradikal  natürlich  blau  sein.  Der  analyti- 
sche Nachweis  freien  Ammoniums  ließ  sich  wie- 
der durch  den  momentanen  Umsatz  mit  Jod 
führen.  H.  Heller. 


')  Vgl.  Anmerkung  2. 


N.  F.  XXL  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


55 


Bücherbesprechungen. 


Czapek,  Prof.  Dr.  Fr.,  Biochemie  der  Pflan- 
zen. 2.  umgearbeitete  Auflage.  Bd.  II  und  III. 
Jena,  G.  Fischer.     66  bzw.  iioM. 

Der  erste  Band  der  2.  Auflage  dieses  hervor- 
ragenden und  in  den  Kreisen  der  Biologen  und 
Chemiker  wohlbekannten  Buches  erschien  bereits 
191 3.  Nach  verhältnismäßig  langer  durch  den 
Wellkrieg  bedingter  Pause  erschien  1920  der  2. 
und  überraschend  kurz  darauf  der  3.  Band,  so- 
daß  jetzt  das  Buch  vollständig  vorliegt.  Leider 
hat  der  Verfasser  sich  des  vollendeten  Werkes 
nicht  lange  freuen  können;  kaum  als  Nachfolger 
W.  Pfeffers  nach  Leipzig  berufen,  wurde  er 
vom  Tode  ereilt. 

Czapeks  Werk  ist  der  erste  umfassende 
Versuch,  den  Chemismus  der  Pflanze  in  seinem 
physiologischen  Zusammenhange  kritisch  darzu- 
stellen, und  bedeutet  gewissermaßen  die  F"ort- 
setzung  und  den  Ausbau  der  berühmten  Pflan^.en- 
Physiologie  seines  Lehrers  nach  der  chemischen 
Seite  hin.  Ein  ungeheures  Tatsachenmaterial  ist 
hier,  geordnet  unter  pflanzenphysiologische  Ge- 
sichtspunkte zusammengetragen  zu  einem  Buche, 
das,  wenn  auch  gewiß  nicht  in  allen  Teilen 
gleichmäßig,  doch  überall  in  seiner  Anlage  ori- 
ginell ist  und  noch  auf  lange  Zeit  ein  un- 
entbehrliches Hilfsmittel  für  physiologische  und 
biochemische  Forschung  darstellen  wird. 

Im  zweiten,  541  Seiten  starken  Bande  wird 
zunächst  die  Darstellung  der  im  aufbauenden 
pflanzlichen  Stoff"wechsel  entstehenden  Stoffgruppen 
fortgesetzt.  Es  wird  der  Gewinn  der  stickstoff- 
haltigen organischen  Substanzen,  namentlich  der 
Proteide,  geschildert,  wie  er  sich  bei  Bakterien, 
Pilzen  und  grünen  Pflanzen  vollzieht.  Bei  letzteren 
werden  auch  die  Stoffumsetzungen  bei  der  Keimung, 
die  Mobilisierungs-  und  Speicherungsprozesse  usw. 
ausführlich  erörtert.  Dann  folgt  im  IV.  Teil  die 
Darstellung  der  Rolle,  die  die  Mineralstoffe  im 
pflanzlichen  Stoffwechsel  spielen,  die  ebenfalls  für 
die  einzelnen  Gruppen  der  Pflanzen  sowie  für 
einzelne  Organe,  wie  Samen,  Knollen,  Laubblätter, 
Wurzeln  gesondert  durchgeführt  wird. 

Der  dritte  Band  von  852  Seiten  Umfang  ent- 
hält den  Chemismus  des  abbauenden  Stoffwechsels. 
Er  beginnt  mit  den  mit  Sauerstoffaufnahme  ver- 
knüpften Vorgängen  der  Atmung,  die  zunächst 
allgemein  physiologisch  geschildert  werden,  und 
geht  dann  über  zu  den  mannigfaltigen  weiteren 
oxydativen  Prozessen,  die  sowohl  nach  den 
Materialien,  die  ihnen  unterliegen,  als  auch  nach 
den  gebildeten  Stoffen  abgehandelt  werden.  Daran 
schließen  sich  die  intramolekularen  Atmungs- 
vorgänge, zu  denen  die  Reduktions^vorgänge  der 
Sulfate  und  Nitrate  reduzierenden  Bakterien  sowie 
vitale  Reduktionen  von  Kohlenstoffverbindungen 
und  der  Chemismus  der  Buttersäuregärung  ge- 
rechnet werden,  während  auffallenderweise  die 
typischen  Fäulniserreger  und  das  klassische  Ob- 
jekt,  die  Hefe,   in  diesem  Zusammenhange   nicht 


berücksichtigt  werden.  Die  Alkoholgärung  ist 
vielmehr  im  ersten  Bande  bei  der  Aufnahme  von 
Kohlehydraten  durch  Pilze,  die  Fäulnis  dagegen 
im  zweiten  Bande  oben  beim  Eiweißabbau  be- 
handelt, was  wohl  nicht  ganz  zweckmäßig  ist,  da 
so  sinngemäß  zusammengehöriges  getrennt  wird. 
Es  folgen  dann  die  Produkte,  die  man  gewöhnlich 
als  Endprodukte  auffaßt  und  die  Czapek  ge- 
radezu als  „Ausscheidungsprodukte  bezeichnet, 
zunächst  die  N  haltigen  wie  die  Senföle,  die 
Purinderivate ,  Glukoside ,  Pyridinbasen  usw. 
Schließlich  finden  die  außerordentlich  mannig- 
faltigen stickstoffreien  zyklischen  Kohlenstoff- 
verbindungen, die  Farbstoffe,  Gerbstoffe,  Gluko- 
side, Benzolderivate,  Terpene,  Harze,  Kautschuk- 
substanzen eine  eingehende  Behandlung. 

Besonders  hervorzuheben  ist,  wie  überall  auch 
die  historische  Entwicklung  der  Kenntnisse  be- 
rücksichtigt wird. 

Umfangreiche  Nachträge  und  Ergänzungen 
sowie  ein  ausführliches  Inhaltsverzeichnis  machen 
den  Beschluß.  Miehe. 

Uexküll,  J.  V.,  Umwelt  und  Innenwelt  der 
Tiere.  Zweite,  vermehrte  und  verbesserte 
Auflage.  Mit  16  Textabbildungen.  224  Seiten. 
8°.  Berlin  192 1,  Julius  Springer.  Preis  48  M., 
geb.  54  M. 
Die  Neuauflage  des  v.  Uexküll  sehen  Buches 
ist  um  anschauliche  (nicht  originale)  Habitusbilder 
vermehrt.  An  Stelle  des  Kapitels  über  den  Reflex 
ist  eins  über  den  Funktion^.kreis  getreten.  Von 
sonstigen  Änderungen  und  Verbesserungen  sei 
erwähnt,  daß  ein  Kapitel  über  die  Pilgermuschel 
hinzugekommen  ist.  Die  physiologischen  oder, 
wie  der  Verf.  sie  nennt,  biologischen  Forschungen 
V.  Uexkülls  an  den  verschiedensten  Wirbellosen, 
unter  häufigem  experimentellem  Eingriff  in  das 
Nervensystem,  haben  stets  die  verdiente  Beachtung 
gefunden ;  ihr  Ziel  ist,  die  Reaktionsweise  des  Tieres 
im  Einklang  mit  seinen  Lebenserfordernissen  zu 
verstehen,  und  ihr  allgemeines  Ergebnis  besteht 
darin,  daß  das  Tier  nur  auf  die  ihm  vermöge 
seiner  Sinnesorgane  gegebene  Umwelt,  auf  diese 
aber  vollkommen  eingestellt  ist.  Nehmen  wir 
einmal  als  Beispiel  die  Pilgermuschel.  Sie  hat 
zwei  sehr  verschieden  große  Schließmuskeln.  Der 
kleinere  ist  der  „Sperrmuskel",  er  schließt  die 
beiden  Klappen  fest  aufeinander.  Reizt  man  die 
linke  Kommissur  zwischen  Zerebral-  und  Viszeral- 
ganglion  und  durchschneidet  dann  die  Nerven- 
verbindung zwischen  letzterem  und  dem  Muskel, 
so  bleibt  er  dauernd  verkürzt  oder  „gesperrt". 
Reizt  man  aber  vor  Durchschneidung  der  Nerven 
die  rechte  Kommissur  zwischen  jenen  beiden 
Ganglien,  so  hebt  dies  die  Sperrung  des  Muskels 
auf.  Der  große  Muskel  ist  dagegen  der  Bewegungs- 
muskel, der  die  schwimmende  Bewegung  der 
Muschel  durch  wiederholten  Schalenschlag  be- 
wirkt.    Bei   seiner  Tätigkeit   ist   der  Sperrmuskel 


S6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  4 


stets  schlaff.  Er  untersteht  dem  Viszeralganglion 
und  wird  namentlich  durch  Reizung  der  bekann- 
ten Mantelrandaugen  in  Bewegung  gesetzt.  Ver- 
dunkelung läßt  nämlich  die  das  Auge  umgeben- 
den Tentakeln  auseinanderschlagen;  nähert  sich 
der  die  Verdunkelung  hervorrufende  Körper  im 
Tempo  eines  Seesterns  an,  so  flattern  ihm  alsdann 
die  Tentakeln  entgegen.  Sobald  er  sie  berührt, 
arbeitet  der  Bewegungsmuskel,  und  die  Muschel 
schwimmt  eilends  davon.  „Der  Feind  wird  in 
eine  Reihe  aufeinanderfolgender  Merkmale  zerlegt, 
die  eine  Reihe  von  Handlungen  auslösen."  Der 
oft  als  rudimentär  angesprochene  Fuß  dient  in 
Wahrheit  als  Wischtuch,  um  größere  Fremdkörper 
von  den  Kiemen  fortzufegen.  —  Bezüglich  der 
Manteltiere  legt  v.  Uexküll  dar,  daß  der  ziem- 
lich einfache  Organismus  einer  Ciona  über  einen 
durch  Reizung  der  Kiemenhöhle  hervorgerufenen 
Ausspeireflex  und  einen  beide  Öffnungen  im  Falle 
von  deren  Reizung  verschließenden  Schutzreflex 
verfügt,  daß  das  bekannte  Gehirnganglion  den 
Tonus  der  gesamten  Muskulatur  dauernd  herab- 
setzt, denn  nach  seiner  Entfernung  verfallen  sie 
in  Konlraktionsstarre  oder  „Sperrung",  daß  ferner 
nur  bei  vorhandenem  Ganglion  Reizung  der  einen 
Öffnung  fast  gleichzeitigen  Verschluß  beider  be- 
wirkt, während  bei  fehlendem  nur  energische 
Reizung  langsam  zur  gleichen  Wirkung  führt, 
dies  augenscheinlich  vermöge  eines  allgemeinen 
Nervennetzes,  und  daß  die  durch  den  Schutzreflex 
eintretende  Steigerung  des  Wasserdrucks  im  Innern 
die  Erregung  herabsetzt,  also  den  Reflex  bald 
wieder  aufhebt.  Die  Merkwelt  einer  Ciona  be- 
steht hiernach  „bloß  aus  Schädlichkeiten",  wäh- 
rend „alle  gute  Nahrung  reizlos  in  den  Körper 
wandert",  v.  Uexküll  meint  wohl  nicht  wirk- 
lich, daß  die  Maschine  einer  Ciona  ganz  so  ein- 
fach sei,  sondern  es  handelt  sich  mehr  um  das 
Prinzip,  Tier  und  Umwelt  aufeinander  zu  beziehen. 
Man  könnte  z.  B.  in  seiner  Analyse  die  positiv 
phototropische  Lichtreaktion,  die  auf  auch  hier 
vorhandenen  Mantelrand  -  Lichtsinnesorganen  be- 
ruht, vermissen.  —  In  ähnlicher  Weise  werden 
mehr  als  ein  Dutzend  Tierformen  behandelt. 

Die  Schreibweise  des  Verf.s  im  vorliegenden 
Buche,  wo  er  den  Leser  stets  vom  Alltagswissen 
ungezwungen  in  die  Gelehrsamkeit ,  und  zwar 
ebensowohl  in  v.  UexküUs  eigene  Unter- 
suchungen wie  in  einschlägige  anderer  Forscher, 
hineinführt,  dient  der  Verbreitung  dieser  anziehen- 
den Kenntnisse  gut.  Es  ist  nicht  schwer,  sich 
mit  der  manchmal  eigenen  wissenschaftlichen 
Terminologie  des  Verfs  zu  befreunden.  „In  der 
Umwelt  eines  Tieres  gibt  es  nur  Dinge,  die  die- 
sem Tier  ausschließlich  angehören."  Dieser  Satz 
scheint    mir    der    wichtigste  von    den  2i   Schluß- 


sätzen des  Buches.  Offenbar  in  diesem  Gedanken 
findet  der  Verf.  denn  auch  zur  Tropismenlehre, 
die  doch  von  einer  ganz  entgegengesetzten  Auf- 
fassung ausging,  eine  allerdings  nicht  ganz  klare 
Stellungnahme. 

Der  Verf.  steht  unter  „dem  frischen  Eindruck, 
den  der  Sturz  des  Darwinismus  in  uns  allen  her- 
vorgerufen hat".  Daß  aber  der  Darwinismus  ge- 
stürzt sei  und  „die  Erfolge  eines  halben  Jahrhun- 
derts heute  unwesentlich"  sind,  wird  vom  Verf. 
eben  nur  als  seine  Meinung  hingestellt  und  keines- 
wegs begründet.  Es  müßte  denn  sein,  daß  der 
Verf.  meint,  der  Darwinismus  sei  gleichbedeutend 
mit  der  wenige  Zeilen  später  gleichfalls  von  ihm 
bekämpften  „Lehre  von  der  Vervollkommnung 
der  Lebewesen".  Diese  ist  aber  nur  ein  kleiner 
Teil  vom  Inhalt  des  Darwinismus,  allerdings  der- 
jenige, den  viele  Biologen  heute  als  den  verfehl- 
testen der  ganzen  Entwicklungslehre  betrachten, 
zugleich  derjenige,  der  scheinbar  durch  den 
ganzen  Inhalt  des  v.  UexküUschen  Buches 
widerlegt  wird.  Und  doch  wird  er  dadurch 
keineswegs  widerlegt.  Nehmen  wir  einmal 
als  Beispiel  die  Manteltiere:  v.  Uexküll  leitet  das 
oben  referierte  Kapitel  über  diese  Tiere  mit  aus- 
zugsweise folgenden  Worten  ein :  „Die  freischwim- 
menden Larven  berechtigen  zu  den  schönsten 
Hoffnungen.  Und  dann  dieser  Rückschlag !  Ja 
sie  wirken  in  dieser  moralischen  Beleuchtung  fast 
wie  ein  warnendes  Beispiel.  Und  doch  ist  diese 
ganze  Auffassung  lächerlich."  Wirklich?  Wenn 
wir  uns,  wie  es  der  Verf.  in  anderem  Sinne 
für  notwendig  hält,  „zu  einem  übermomentanen 
Standpunkte  erheben",  so  wird  man  kaum  be- 
zweifeln, daß  die  Fische  längeren  zahlreichen 
Bestand  im  Meere  haben  werden  als  die  Aszidien, 
und  jedenfalls  sind  sie  bis  heute  schon  viel  zahl- 
reicher, und  für  viele  ähnliche  Verhältnisse  im 
Organismenreich  ist  ganz  dasselbe  auch  aus  der 
Paläontologie  abzulesen,  die  leider  bei  den  Mantel- 
tieren versagt.  Der  Physiologe  täte  gut,  auch  der 
Frage  nachzugehen,  worauf  dies  beruht.  Bei 
Jordan,  den  v.  Uexküll  oft  erwähnt,  finden 
sich  Ansätze  dazu. 

V.  U  e  X  k  ü  1 1  s  Buch  soll  daraufhin  nicht  weni- 
ger empfohlen  sein.  Zweifellos  spricht  es  aber 
in  diesem  Punkte  aus  einer  Zeitströmung,  die  auf 
Unkenntnis  der  phylogenetischen  Tatsachen  be- 
ruht. V.  Franz,  Jena. 


Literatur. 


Nee  ff,  Friedrich,  Prolegoraena  zu  einer  Kosmologie. 
Tübingen  '21,  J.  C.   B.  Mohr  (Paul  Siebeck).     9  M. 

Bavink,  Bernhard,  Ergebnisse  und  Probleme  der  Natur- 
wissenschaft. 2.  Aufl.  Leipzig  '21,  S.  Hirzel.  63  M.,  geb. 
75  M- 


lubalt:  Edw.  Hennig,  Geologie  und  Wünschelrute.  S.  49.  II.  Latzin,  Zur  Grundlegung  der  Ganzheitsforschung  der 
Biologie.  (I  Abb.)  S.  50.  —  Einzelberjcbte  Jacobshagen,  Die  Homologie  der  Wirbeltierkiemen.  S.  52.  H.  H. 
Schlubach  und  F.  BaUauf,  Freie  Ammonium-Radikale  II.  S.  54.  —  Bücberbesprecbungen :  Fr.  Czapek,  Bio- 
chemie der  Pflanzen.  S.  55.     J.  v.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  S.   55.  —  Literatur:  Liste.  S.  56. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  43,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Xeue  Folfre  ci.  Band; 
der  ganzen  Reihe   37.   Hand. 


Sonntag,  den  29.  Januar  1922. 


Nummer  5. 


Die  logische  Stellung  der  Biologie  im  System  der  Wissenschaften. 

(über  den  logischen  Charakter  der  Biologie.) 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  Adolf  Meyer,  Hamburg. 


Wie  jede  Definition  oder  jedes  Theorem  in 
der  Wissenschaft,  zu  der  es  gehört,  eine  ganz  be- 
stimmte, nur  ihm  eigentümliche  logische  Stelle 
einnimmt,  so  behauptet  auch  jede  Wissenschaft 
als  solche  im  Systeme  aller  Wissenschaften  einen 
ganz  bestimmten,  nur  ihr  zukommenden ,  logisch 
eindeutig  charakterisierbaren  Platz.  Das  System 
der  Wissenschaften  ist  vielleicht  am  ehesten  einer 
gewaltigen  musikalischen  Symphonie  vergleichbar. 
Die  speziellen  Wissenschaften  sind  dann  charak- 
terisiert durch  die  verschiedenen  Instrumente,  aus 
deren  Zusammenwirken  dann  eben  jenes  gewaltige 
Symphoniekonzert  resultiert,  das  wir  menschliche 
Wissenschaft  heißen.  Wenn  es  dann  auch  hin 
und  wieder  nicht  an  Dissonanzen  fehlt,  wer  wollte 
sich  darüber  wundern,  der  weiß ,  wie  jeglichem 
Menschlichen  eine  gewisse  Unvollkommenheit  an- 
haftet. Zudem  ist  die  Komposition  der  Wissen- 
schaft ja  nie  vollendet. 

Im  Folgenden  soll  nun  versucht  werden,  den 
eigentümlichen  Charakter,  den  das  Biologie  ge- 
nannte Instrument  in  jene  Symphonie  hineinträgt, 
sauber  für  sich  herauszuarbeiten.  Wie  der  geübte 
Musiker  in  der  Lage  ist,  aus  einem  Konzert  ein 
einzelnes  Instrument  stets  deutlich  herauszuhören, 
auch  da,  wo  es  nicht  „die  erste  Geige  spielt",  so 
wollen  wir  ein  gleiches  mit  der  Biologie  ver- 
suchen. Es  handelt  sich  hier  also,  wohlverstan- 
den, nicht  darum,  das  Verhältnis  der  Biologie  zu 
ihren  Schwesterwissenschaften  genauer  zu  be- 
stimmen, sondern  wir  wollen  zunächst  nur  das 
engere  Problem  in  Angriff  nehmen,  die  logischen 
Koordinaten,  die  die  logische  Stellung  der  Biologie 
im  Systeme  der  Wissenschaften  determinieren 
und  damit  ihren  logischen  Charakter  konstituieren, 
genauer  festzustellen. 

Das,  was  jede  Wissenschaft  in  ihrem  innersten 
Gefüge,  in  ihrer  logischen  Struktur  letzten  Endes 
konstituiert,  ist  ihr  Ideengehalt.  Unter  einer 
Idee  im  logischen  Sinne  soll  daher  im 
folgenden  stets  ein  solches  Logisma*) 
verstanden  werden,  das  den  spezifi- 
schen Charakter  einer  Wissenschaft  in 
programmatischer  Weise  beschreibt, 
das  also  auch  das  Ziel  kennzeichnet, 
dem  eine  Wissenschaft  mit  den  ihr 
eigentümlichen  Logismen  zustrebt.  In 
diesem   auf  ein  besonderes,   den   derzeitigen  Be- 

')  „Logisma"  nenne  ich  jedes  logisch  charakterisierbare 
Element  einer  wissenschaftlichen  Theorie ,  z.  B.  Konstanten, 
Gleichungen,  Syllogismen  usw.  Vgl.  diese  Zeitschrift  Nr.  50 
1920  und  Nr.  25,   1921. 


Stand  einer  Wissenschaft  übergreifendes  theoreti- 
sches Ziel  Gerichtetsein  erblicke  ich  das  logische 
Charakteristikum  einer  Idee.  Nur  dadurch  unter- 
scheiden sich  meines  Erachtens  Ideen  von  jenen 
Logismen,  die,  wie  Theorien,  Hypothesen,  Empi- 
rismen, Prinzipien,  Axiome  usw.,  es  sich  lediglich 
angelegen  sein  lassen,  den  gegenwärtigen 
Bestand  einer  Wissenschaft  möglichst  zweck- 
mäßig, d.  h.  benutzbar,  darzustellen. 

Durchmustert  man  nun  nach  solchen  beherr- 
schenden Ideen  das  System  der  Naturwissen- 
schaften von  der  Geometrie  bis  zur  Soziologie, 
so  heben  sich  meines  Erachtens  zwei  wohl  cha- 
rakterisierte, als  Gegenpole  funktionierende  Ideen 
ganz  besonders  deutlich  ab.  Es  sind  dies  die 
Ideen  der  Mathematik  un  d  der  His  t  orie, 
die  Mathematisierung  und  die  Historisierung  aller 
Empirismen,  oder  metaphysisch  gesprochen,  der 
mathematische  und  der  historische  Anblick  oder 
besser  Durchblick  durch  die  Welt.  Beiden  Ideen 
gemeinsam  ist  das  grandiose  Bestreben,  das  Ganze 
der  Welt  und  des  Lebens  in  ihre  logischen  Netze 
einzulangen.  Dabei  stehen  sie  in  fundamentalem 
Gegensatz  zueinander.  Wo  die  eine  von  ihnen 
unumstritten  herrscht,  hat  die  andere  ihr  Recht 
verloren,  und  wo  die  eine  sich  schwach  erweist, 
fühlt  sich  die  andere  unendlich  stark.  Hätte  eine 
von  ihnen  das  leidenschaftlich  erstrebte  Ziel,  alles 
Wirkliche  absolut  zu  durchdringen,  je  erreicht,  so 
würde  die  andere  damit  endgültig  erledigt  sein. 
Da  aber  bei  der  Unendlichkeit  des  Universums 
und  der  Begrenztheit  alles  Menschlichen  ein  sol- 
ches Ziel  schwerlich  je  erreicht  wird,  so  wird  der 
Kampf  beider  Ideen  um  jedes  Stück  der  Wirk- 
lichkeit ein  ewiger  sein.  Trotz  ihrer  Totfeind- 
schaft sind  sie  beide  doch  voneinander  abhängig 
und  aufeinander  angewiesen,  ja  oft  schließen  sie 
infolgedessen  auf  Zeit  ein  friedliches  Kompromiß, 
indem  in  noch  strittigen  Gebieten  jede  von  ihnen 
das  zu  leisten  sich  bemüht,  was  den  Kräften  der 
andern  versagt  geblieben  ist.  Würde  übrigens 
eine  von  ihnen  je  das  absolute  Ziel  erreichen,  so 
hätte  sie  die  andere  damit  nicht  nur  endgültig 
besiegt,  sondern  in  einem  höheren  Sinne  über- 
flüssig gemacht  und  überwunden;  denn  jede 
Frage,  die  die  Überwundene  nur  hätte  stellen 
können,  müßte  in  dem  angenommenen  unwahr- 
scheinlichen Falle  ja  von  der  Siegerin  beantwortet 
sein.  So  würde  ein  endgültiger  Sieg  der  einen 
im  Grunde  auch  eine  versöhnende  Vollendung 
der  anderen  mit  sich  bringen.  Allein  es  ist  gut, 
daß  es  soweit  nie  kommen  wird,   denn  was  gäbe 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5 


es    noch    Anziehendes    für    den    Geist    des    Men- 
schen, wenn  der  Kampf  der  Ideen  fortfieie. 

Jede  von  beiden  hat  ihre  Domäne,  in  der  sie 
wurzelt,  aus  der  sie  immer  aufs  neue  Kraft 
schöpft  für  ihre  stets  wiederholten  Vorstöße  ins 
unbekannte  Land.  So  ist  die  Mathematik  in 
der  sog.  Na tur Wissenschaft  beheimatet.  Das 
meint  auch  Kant,  der  geniale  Schöpfer  der 
modernen  Logik,  wenn  er  einmal  sagt,  daß  in 
jeder  echten  Naturwissenschaft  nur  soviel  wahre, 
eigentliche  Wissenschaft  angetroffen  werde,  als 
sie  Mathematik  enthalte.  Demgegenüber  ist  die 
Historie  in  den  sog.  Geisteswissenschaf- 
ten verankert.  Gleichwohl  ist  es  absolut  unzu- 
lässig, zwischen  beiden  Gebieten  prinzipiell  un- 
übersteigbare  Grenzen  zu  ziehen.  Denn  wie  bis- 
her wird  die  Entwicklung  der  Wissenschaften  auch 
fernerhin  alle  prinzipiellen  Schranken  für  nichts 
achten.  Wer  wollte  so  vermessen  sein,  der  Zu- 
kunft unabänderliche  Wege  vorzuschreiben  ?  Es 
ist  infolgedesssen  auch  nicht  zulässig,  den  hier 
geschilderten  Ideengegensatz  auf  eine  so  einfache 
logische  Formel  wie  den  Gegensatz  des  „Nomo- 
thetischen" und  „Idiographischen",  den  die  Badi- 
sche  Philosophenschule')  herausgearbeitet 
hat,  zu  bringen.  Gewiß  ist  hier  ein  bedeutsames 
Motiv  in  unserer  Ideensymphonie  mit  bewunderns- 
werter Klarheit  herausgehört  worden,  ein  Motiv, 
welches  zudem  für  die  gegenwärtige  Situation  der 
Wissenschaften  besonders  typisch  ist;  gleichwohl 
ist  es,  wie  ja  auch  die  Diskussion  jener  geistvollen 
These  deutlich  ergeben  hat,  unmöglich,  den  uns 
beschäftigenden  grandiosen  Ideengegensatz  in  eine 
so  einfache  Formel  einzufangen.  Man  kann  eine 
Idee  eben  nicht  ohne  Gewaltsamkeiten  auf  eine 
so  glatte  Formel  bringen.  Man  muß  sie  schon 
von  verschiedenen  Seiten  her  betrachten.  Eine 
andere,  aber  auch  wieder  für  sich  allein  unzu- 
längliche Formulierung  unseres  Ideengegensatzes 
würde  es  sein,  wenn  man  in  der  Mathematik  und 
ihren  Abkömmlingen  die  Welt  des  Quantitativen 
und  ihre  Ausbreitung,  in  der  Historie  dagegen  die 
des  Qualitativen  sehen  wollte.  Auch  das  be- 
schreibt unfehlbar  manche  Eigentümlichkeiten 
unserer  Ideen,  erschöpft  sie  aber  auch  nicht,  denn 
die  Mathematik  hat  längst  aufgehört,  eine  Wissen- 
schaft des  nur  Quantitativen  zu  sein.  Man  denke 
doch  nur  an  den  Zahlbegriff  der  Mengenlehre, 
der  enorm  qualitative  Eigenschaften  hat,  oder  an 
den  Logiccaicul  überhaupt,  der  die  Synthese  zwi- 
schen der  Mathematik  und  den  Qualitäten  der 
Logik  immer  enger  zu  gestalten  im  Begriffe  ist. 
Auch  können  die  Ikgriffspaare  intuitiv  (Historie.) 
—  discursiv  (Mathematik)  oder  Welterkenntnis 

')  Man  vergleiche;  W.  Wind  elband ,  „Geschichte  und 
Naturwisscnschafi".  Rede,  Straflburg  1894.  —  H.  Rickert, 
Die  Grenzen  der  naturwissenschafilichen  Begriffsliildung,  2.  Aufl., 
1913;  Kulturwissenschaft  und  Nalurwissrnschaft,  3.  Aufl., 
1915  —  Zur  Kritik:  E.  Troellsch,  ,,Über  Maßstäbe  zur 
Beurteilung  historischer  Dinge".  Rede,  Berlin  1016;  „Über 
den  Begrifl"  einer  historischen  Dialektik.  I.  VVindelband- 
Rickeri".  =  Histor.  Zeitschr.  Bd.  119,  1919,  Heft  3.  — 
Auf  Kroners  BUcher  komme  ich  später  zurück. 


auf  den  Wegen  von  „Außen  nach  Innnen"  (Mathe- 
matik) und  von  „Innen  nach  Außen"  (Historie) 
unser  Problem  nicht  restlos  erschöpfen.  Am  ehe- 
sten wäre  dazu  vielleicht  noch  der  letztgenannte 
Gegensatz ')  imstande.  Dafür  ist  er  dann  aber 
auch  reichlich  unbestimmt  gehalten  und  insofern 
für  wissenschaftliche  Zwecke  nicht  zu  ge- 
brauchen. Metaphysisch  gibt  er  ja  fraglos  gewisse 
Perspektiven.  Man  sieht,  es  ist  nicht  möglich, 
den  Gegensatz  Natur — Geist,  oder  wie  das  Pro- 
blem in  logischer  Formulierung  lautet,  den  Gel- 
tungsbereich von  Mathematik  und  Historie  auf 
endgültige  Formeln  zu  bringen.  Es  handelt  sich 
hier  eben  nicht  um  ein  für  allemal  lösbare  Pro- 
bleme, sondern  um  „Ziele"  der  Wissenschaften. 
Es  gibt  also  keine  prinzipielle  Grenze  zwischen 
Natur-  und  Geisteswissenschaften.  Wer  ihr  Wesen 
kennen  lernen  will,  muß  sich  nicht  an  bloßen 
Formeln  genügen  lassen,  sondern  die  in  ihnen 
wirksamen  grandiosen  Ideen  der  Mathematik  und 
Historie  auf  ihre  Arbeit  begleiten  und  unvorein- 
genommen ihr  Tun  betrachten.  Was  er  dabei 
an  bequemen,  aber  inhaltsleeren  Definitionen  ver- 
liert, wird  ihm  reichlich  ersetzt  werden  „durch 
den  Zauber  der  Wirklichkeit,  der  ihre  Scnöpfungen 
schmückt",  durch  die  berauschend  schönen  Per- 
spektiven, die  sie  der  Forschung  stellen. 

Verfolgen  wir  zunächst  einmal  in  kurzen 
Zügen  die  Idee  der  Mathematik  auf  ihrer 
Reise  durch  die  Welt.  Ihr  Ziel  ist  die  immer 
mehr  fortschreitende  Mathe matisierung  der 
Naturwissenschaften.  Dieser  logische  Prozeß 
ist  freilich  bekannter  unter  einem  anderen  Schlag- 
wort, der  mechanistischen  Naturforschung 
nämlich.  Gleichwohl  sind  beide  Ideen,  wie  ich 
andern  Orts  ^)  nachzuweisen  mich  bemüht  habe, 
im  Wesen  identisch.  Wie  z.  B.  die  Mathemati- 
sierung  in  den  verschiedenen  Naturwissenschaften 
in  logisch  verschiedenem  Grade  aultritt,  so  auch 
die  mechanistische  Idee.  Gewiß  ist  die  Mathe- 
matisierung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  un- 
abhängig von  der  Verwirklichung  des  mecha- 
nistischen Prinzips.  Ist  doch  Mathematisierung 
zunächst,  rein  als  Anwendung  aufgefaßt,  nur 
etwas  Formales,  während  das  mechanistische 
Postulat  stets  inhaltliche  Bestimmungen  mitbringt. 
Gleichwohl  ist  die  äußerliche  Mathematisierung 
als  Anwendung  nicht  die  logisch  höchst  mögliche 
Gestalt  der  Idee  der  Mathematik.  In  höchstem 
Sinne  mathematisiert  ist  vielmehr  eine  Wissen- 
schaft nicht  schon  dann,  wenn  sie  mathematische 
Rechnungsarten  und  Gleichungssysteme  verwendet, 
sondern  erst  dann,  wenn  ihr  Axiomensystem  in 
irgendeiner    bestimmten    Form    auf    das    mathe- 


')  Dieses  BegrifTspaar  hat  der  Verf.  in  zwei,  schon  vor 
2  Jahren  geschriebmen,  aber  noch  unediert  beim  ,, Archiv 
f.  syst.  Philos."  liegenden  Aufsätzen:  a)  „Logik  und  Natur- 
wissenschaft", b)  ,,Zur  Metaphysik  der  Wissenschaft"  behan- 
delt. Metaphysisch  interessierte  Leser  seien  darauf  hinge- 
wiesen. 

■■'}  Vgl.  „Die  mechanistische  Idee  in  der  modernen  Natur- 
wissenschaft".    Naturw.  Wochenschr.  Jahrg.  1920,  Nr.  50. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5 


Naturwisseiiäctiaftliche  Wochenschrift. 


59 


matische,  speziell  geometrische  Axiomensystem 
fest  bezogen  ist.  Diesen  Prozeß  hat  ja  erst  jüngst, 
worauf  vor  allem  Hilbert*)  hingewiesen  hat, 
die  moderne  Relativitätstheorie  für  die 
Physik  geleistet,  wodurch  diese  „eine  Wissenschaft 
vom  Range  der  Geometrie"  geworden  ist.  Die 
Geometrie  kann  nämlich  bekanntlich  schon 
lange  den  Anspruch  erheben,  die  im  höchsten 
Sinne  mathematisierte  Naturwissenschaft  darzu- 
stellen. Der  Streit,  ob  die  Geometrie  eine  aprio- 
rische oder  empirische  Wissenschaft  ist,  ist 
nämlich  nicht  nur  völlig  müßig,  sondern  enthält 
auch  eine  ganz  falsche  Problemstellung.  Insofern 
als  sie  im  höchsten  Sinne  —  axiomatische  Grund- 
lage mit  mathematischen  Deduktionen  —  mathe- 
matisiert  ist,  ist  sie  selbstverständlich  eine  aprio- 
rische Disziplin.  Insofern  aber,  als  sie  Natur- 
wissenschaft ist  und  Empirismen  in  ihren  Axiomen 
(Parallelprinzip  1)  verwendet  —  darauf,  daß  diese 
Empirismen  nur  in  den  Axiomen  verwendet 
werden,  kommt  es  hier  an !  — ,  ist  die  Geometrie 
auch  eine  empirische  Disziplin.  Denn  Em- 
pirie und  Apriorität  schließen  sich 
durchaus  nicht  aus.  Jede  Naturwissenschaft, 
und  wenn  Hilberts  Diagnose  richtig  ist,  erleben 
wir  das  zurzeit  ja  mit  der  Physik,  kann  eine  apri- 
orische Disziplin  werden,  in  dem  Augenblick 
nämlich,  wo  sie  logisch  eine  axiomatische  Ge- 
stalt annimmt.  Für  diese  ist  es  wesentlich,  daß 
die  fragliche  Wissenschaft  das,  was  sie  auch  an 
Empirismen  bedarf,  nur  noch  in  axiomatischer 
Gestalt  verwendet,  womit  natürlich  nicht  gesagt 
sein  soll,  daß  alle  Axiome  Empirismen  sein 
müßten.  Ein  großer  Teil  ist  es  jedenfalls.  Alles 
übrige  vollzieht  sich  in  einer  apriorischen  Wissen- 
schaft dann  nur  noch  in  F"orm  rein  logischer 
oder  mathematischer  Ableitungen,  zumeist  in  den 
Naturwissenschaften  in  Gestalt  von  D  i  f  f  e  r  e  n  t  i  a  1  - 
gleichungen.  Wir  haben  das  geometrische 
Problem  hier  deshalb  so  eingehend  erörtert, 
weil  es,  wie  es  gegenwärtig  für  die  Physik  akut 
geworden  ist,  über  kurz  oder  lang  auch  einmal 
für  die  Biologie  bedeutsam  werden  kann.  Denn 
wie  alles  in  der  Welt  vollzieht  sich  auch  die 
logische  Entfaltung  einer  jeden  Wissenschaft  in 
streng  gesetzmäßiger  Weise,  der  näher  nachzu- 
gehen eben  ein  nicht  unwesentliches,  obschon 
noch  nicht  genügend  beachtetes  Problem  einer 
jeden  Logik  ist. 

Die  Entfaltung  der  „mechanistischen"  Idee  in 
den  einzelnen  Naturwissenschaften  ist  nun,  wie 
gesagt,  nichts  anderes  als  die  Mathematisierung 
in  unserem  logisch  höchsten  Sinne,  dessen  Ziel 
eben  auf  eine  Assimilation  der  Axiome  der  be- 
treffenden Naturwissenschaften  an  die  Axiome 
derjenigen  Naturwissenschaft,  deren  Mathemati- 
sierung als  bereits  abgeschlossen  gelten  kann,  der 
Geometrie  nämlich,  hinausläuft.  Es  ist  übrigens 
charakteristisch    für    diesen    der    Geometrie    seit 


Euklid  eigenen  Charakter,  daß  man  es  fast  ver- 
gessen hat,  daß  die  Geometrie  trotz  ihrer  aprio- 
risch-demonstrativen Konstitution  dennoch  eine 
Naturwissenschaft,  die  vom  Räume  nämlich,  ist. 
Sonst  hätte  man  den  Prozeß  der  Mathematisierung, 
der  nach  der  Geometrie  zunächst  in  der  Mecha- 
nik gewaltige  Eroberungen  machte,  ja  nicht 
„Mechanismus",  sondern  „Geometrisierung"  nennen 
müssen.  Dieser  Begriff  kommt  erst  heute,  wo 
die  Physik  im  Begriffe  steht,  sich  zu  einer  „Welt- 
geometrie" auszugestalten,  zu  der  ihm  zukommen- 
den logischen  Bedeutung. 

Von  Geometrie  und  Physik  kann  man  also 
oder  wird  man,  wenn  nicht  alles  trügt,  bald  sagen 
können,  daß  sie  den  Zustand  höchster  Mathemati- 
sierung erreicht  haben.  Daß  sie  damit  nicht  „reine" 
Mathematik  geworden  sind,  braucht  wohl  nicht 
besonders  mehr  betont  zu  werden,  da  sie  ja  zum 
Unterschied  von  der  „reinen"  Mathematik  in  ihren 
Axiomen  solche  von  unzweifelhaft  empirischer 
Dignität  stets  behalten  werden.  Das  hindert 
wieder  nicht,  daß  gleichwohl  eine  Tendenz  in 
diesen  empirisch  fundierten  und  apriorisch- demon- 
strativ konstituierten  Wissenschaften  wirksam 
bleibt,  die  dahin  geht,  die  Empirismen  unter  den 
Axiomen  in  ihrer  Zahl  auf  ein  Minimum  zu  be- 
schränken. Das  folgt  ohne  weiteres  aus  dem 
Streben  nach  Apriorität,  für  das  es  ja  nur  einen 
anderen,  geläufigen  Ausdruck  bedeutet,  wenn  man 
verlangt,  immer  mehr  Empirismen,  die  einst- 
weilen noch  als  „unabhängig"  voneinander  gelten 
und  darum  logisch  noch  unentbehrlich  sind,  als 
abhängig  oder  besser  ableitbar  von  anderen  auf- 
zuweisen. Je  weniger  unabhängige  Empirismen 
noch  in  den  Axiomen  vorhanden  sind,  desto 
weiter  ist  eine  Wissenschaft  fortgeschritten  auf 
dem  Wege  der  Mathematisierung.  Nur  muß  man 
sich  dann  sehr  davor  hüten,  in  diesen  wenigen 
gebliebenen  empirischen  Axiomen  und  den  deduk- 
tiven Methoden,  mit  deren  Hilfe  aus  ihnen  die 
abhängigen  Empirismen  errechnet  werden  können, 
so  etwas  wie  ein  „Abbild",  im  Sinne  der  primi- 
tiven Abbildtheorie,  der  wirklichen  Zustände  und 
Vorgänge  sehen  zu  wollen.  Das  führt  letzten 
Endes  zu  jenen  gemachten  Schwierigkeiten  und 
Problemen,  die  der  Philosophie  Bergson's  oder 
auch  den  damit  innerlich  verwandten  Bemühungen 
eines  Driesch  oder  Köhler  ^)  zugrunde  liegen. 
Besonders  Köhler  hat  in  seinem  außerordentlich 
dankenswerten  und  gerade  für  theoretisch  inter- 
essierte Biologen  besonders  instruktiven  Buche 
die  sich  aus  solcher  Auffassung  vom  Wesen  der 
Naturwissenschaft,  der  er  wohl  unbewußt  anhängt, 
ergebenden  Schwierigkeiten  für  die  mathematische 
Theoretisierung  der  Natur  wohl  am  eindringlichsten 
aufgespürt.  Aber  alle  diese  zurechtgemachten 
Probleme  fallen,  wenn  man  sich  völlig  darüber 
klar  wird,  daß  es  nie  und  nimmer  Aufgabe 


')  „Die  Grundlagen    der  Physik  I."    —    Nachrichten    von 
der  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Math.-phys.  Kl.   1915. 


')  „Die  physischen  Gestallen  in  Ruhe  und  im  stationären 
Zustand.  Eine  naturphilosophische  Untersuchung."  Braun- 
schweig  1920. 


6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5 


der  Naturwissenschaft  ist,  die  Wirklich- 
keit zu  beschreiben.  Einziges  Ziel  ist, 
sie  zu  beherrschen.  Wenn  ich  sie  nur  allen 
meinen  irgendmöglichen  theoretischen  und 
praktischen  Zwecken  —  das  ist  also  kein  Pragma- 
tismus! —  nutzbar  machen  kann,  dann  ist  es  mir 
vollkommen  gleichgültig,  wie  sie  „an  sich",  „im 
Innersten",  ihrem  „Wesen"  nach  beschaffen  ist. 
Darüber  mehr  oder  weniger  nützliche  Betrach- 
tungen, deren  Wert  und  Notwendigkeit  für  die 
Ethik  wir  keineswegs  leugnen  wollen,  anzustellen, 
muß  den  Metaphysikern  überlassen  bleiben.  Für 
die  Wissenschaft  ist  die  Metaphysik  —  darin  sind 
wir  völlig  Positivisten  im  Sinne  Machs  —  noch 
stets  vom  Übel  gewesen.  ^)  Es  ist  daher  auch 
niemals  eine  sinnvolle  Aufgabe  für  naturwissen- 
schaftliche Deduktionen,  z.  B.  das  Resultanten- 
gesetz, wirkliche  Vorgänge  erschöpfend  wieder- 
zugeben. Wenn  sie  nur  die  jeweils  verlangten 
Empirismen,  Konstanten,  also  zumeist  Maß- 
zahlen,  soweit  sie  für  den  bestimmten  theo- 
retischen oder  praktischen  Zweck  in  Frage 
kommen,  rechnerisch  richtig  ableiten,  haben  sie 
ihre  Schuldigkeit  getan.  Mehr  kann  billiger  Weise 
nicht  von  ihnen  verlangt  werden.  Darüber  hinaus 
können  sie  keine  Wirklichkeit  wiedergeben  oder 
abbilden.  Die  Wirklichkeit  selbst  ist,  das  zeigt 
die  ganze  Geschichte  ihrer  bisherigen  logisch- 
mathematischen Bewältigung,  prinzipiell  unaus- 
schöpfbar,  nicht  abbildbar,  nicht  wiederzugeben 
oder  an  sich  zu  beschreiben,  „irrational",  wie  die 
Metaphysiker  sagen,  oder  kontingent,  wie  wir 
als  vorsichtige  Logiker  dergleichen  logische  Prozesse 
stets  nennen  wollen.  Der  Begriff  der  Kontin- 
genz  wird  leider  in  den  herrschenden  logischen 
und  erkenntnistheoretischen  Richtungen  mit  Aus- 
nahme des  vortrefflichen  Emile  Boutroux,  der 
ihn  benutzt  hat,  um  eine  sehr  interessante,  wenn 
auch  kaum  unangreifbare  Philosophie  darauf  auf- 
zubauen, über  Gebühr  vernachlässigt.  Wir  werden 
noch  oft  Gelegenheit  haben,  auf  das  Problem  der 
Kontingenz  und  seine  große  Bedeutung  für  die 
Logik  zurückzukommen. 

Logisch  läßt  sich  die  strukturelle  Verschieden- 
heit von  sogenannter  „reiner"  Mathematik  und 
der  mathematisierten  Naturwissenschaft,  von  der 
inhaltlichen  Verschiedenheit  der  beiderseitigen 
Theoreme  natürlich  eo  ipso  abgesehen,  nunmehr 
dahin  charakterisieren,  daß  die  Axiome  der 
Mathematik  —  und  erst  recht  natürlich  die  der 
„reinen"  Logik,  die  es  nämlich  auch  gibt,  obwohl 
sich  die  psychologistischen  und  metaphysischen 
Irrfahrten  der  nachkantischen  Logik  in  Deutschland 
alle  Mühe  gegeben  haben,  sie  nicht  zu  sehen  — 
keine  Empirismen  enthalten.  Daß  Logik  und 
Mathematik  darum  nicht  rein  formale  Disziplinen 
sind,  das  weiß  jeder,  der  jemals  etwas  von  dem 
reichen    Inhalt     der     Mathematik     erfahren     hat. 


Diesen  Unterschied  hat  v.  Kries^)  sehr  treffend 
so  zu  charakterisieren  versucht,  daß  er  die  Urteile 
der  Logik  und  Mathematik  „Reflexionsurteile" 
nennt.  Von  der  wissenschaftspsychologischen 
Terminologie,  die  uns  nicht  gefallen  kann,  ab- 
gesehen, trifft  das  durchaus  die  Sache.  Die  Rolle 
der  empirischen  Axiome  spielen  in  der  „reinen" 
Logik  und  Mathematik  eben  die  Definitionen. 
Was  man  in  den  empirischen  Disziplinen,  soweit 
sie  noch  unmathematisiert  sind,  also  rein  des- 
kriptiv oder  auch  experimentell,  natürlich  mit 
Mathematik  als  Anwendung  verfahren,  Definitionen 
nennt,  ist  logisch  etwas  ganz  anderes  als  in  den 
sog.  „reinen"  Wissenschaften.  Hier  ist  die  Defi- 
nition, mit  Dedeknid  zu  sprechen,  immer  eine 
„freie  Schöpfung  des  Geistes",  in  den  noch  un- 
mathematisierten  Wissenschaften  dagegen  nicht. 
Geisteschöpfungen  sind  sie  hier  zwar  auch,  aber 
nicht  im  selben  Sinne  „frei"  und  willkürlich. 

Allein  mit  dem  Geltungsbereich  der  bereits 
weitgehend  mathematisierten  Wissenschaften  Geo- 
metrie und  Physik  ist  der  Einfluß  der  mathe- 
matischen Idee  auf  die  Naturwissenschaften 
keineswegs  erschöpft.  Er  ist,  wenn  auch  in 
anderer  Verkleidung  bis  in  die  Soziologie  hinein 
deutlich  spürbar,  ein  Umstand,  der  uns  a.  a.  O. 
geradezu  dahin  geführt  hat,  die  Naturwissenschaften 
zu  definieren  als  diejenigen  Wissenschaften,  die 
entweder  bereits  mathematisiert  sind  oder  deren 
Mathematisierung  prinzipiell  möglich  ist.  So  tritt 
die  Idee  der  Mathematik  in  der  Biologie  auf 
unter  dem  typisch  biologischen  Schlagwort  des 
Mechanismus,  als  dessen  Widerspiel  der 
Vitalismus  fungiert.  Sieht  man  von  miß- 
verständlichen und  logisch  unhaltbaren  oder  zu 
engen  Auffassungen,  die  die  mechanistische  Idee 
in  der  Biologie  besonders  von  selten  der  Vita- 
listen erfahren  hat,  ab,  so  läßt  sie  sich  in  der 
Biologie  als  eine  fortschreitende  Physi- 
zierung^)  charakterisieren.  Analogerweise  kann 
man  dann  in  der  Psychologie  von  einer 
Biologisierung  und  in  der  Soziologie  von 
einer  Psychologisierung  reden.  Alles  Nähere 
hierüber  findet  sich  in  meinem  oben  zitierten 
Mechanismusaufsatz. 

Versuchen  wir  nunmehr  das  Gesamtergebnis 
unserer  Reise  mit  der  Idee  der  Mathematik 
durch  die  Welt  der  Naturwissenschaften  zu- 
sammenzufassen, so  dürften  wir  wohl  mit  einiger 
Berechtigung  sagen,  daß  unsere  Ausgangsthese, 
die  Idee  der  Mathematik  sei  eine  von 
den  großen  Triebkräften  im  logischen 
Aufbau  der  Wissenschaften,  einigermaßen 
gerechtfertigt  ist. 

Begleiten    wir    nun    auch    die    zweite    große 


')  Das  hindert  natürlich  nicht,  dafl  die  Wissenschaft  als 
Ganzes  auch  ein  metaphysisches  Problem  darbietet.  Man  vgl. 
meinen  oben  zitierten  Aulsatz:  „Zur  Metaphysik  der  Wissen- 
schaft". 


•)  „Logik,  Grundzüge  einer  kritischen  und  formalen  Ur- 
leilslehre."     Tübingen  1916. 

^)  Von  Chemie  u.  Chemisierung  braucht  hier  nicht  beson- 
ders die  Rede  zu  sein.  Denn  seit  den  modernen  physikalisch- 
chemischen l'orschungen  über  die  Struktur  des  Atoms  hat  die 
Chemie  aufgehört,  eine  logisch  selbständige  Wissenschaft  neben 
der  Physik  zu  sein. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6i 


konstituierende  Idee  im  Organismus  der  Wissen- 
schaften, die  der  Historie  nämlich,  noch  ganz 
kurz  auf  ihre  Reise.  Auch  sie  ist  eine  universale 
Idee,  d.  h.  auch  sie  will  ihren  Geltungsbereich 
auf  das  Ganze  der  Wissenschaften  ausdehnen  und 
damit  auch  der  Ausschnitte  aus  der  Wirklichkeit, 
mit  denen  die  einzelnen  Wissenschaften  der  Natur 
und  des  Geistes  sich  beschäftigen.  Es  gibt  eben- 
sowohl eine  historische  Auffassung  der  Mathe- 
matik, wie  eine  mathematische  der  Geschichte. 
Hat  doch  unlängst  nach  Oswald  Spengler  in 
seinem  sensationellen  Buch  vom  „Untergang  des 
Abendlandes"  u.  a.  versucht,  eine  Hisiorisierung 
der  Mathematik  durchzuführen.  Man  wende  nicht 
ein,  daß  es  sich  hier  doch  eigentlich  viel  eher 
um  eine  Naturalisierung  der  Geschichte  handele, 
da  Spengler  doch  eine  „Morphologie  der  Welt- 
geschichte" liefern  wolle.  Alle  Morphologie  ist 
vielmehr  in  ihrem  Wesen  historisch  -  genetisch 
gerichtet.  Infolgedessen  trachtet  die  Biologie 
ja  auch  darnach,  alles  bloß  Morphologische 
physiologisch  und  entwicklungsmechanisch  zu 
überwinden  und  damit  erst  zu  einer  wirklichen 
Naturwissenschaft  zu  werden.  Ferner  bedeutet 
das  a.  a.  O.  zitierte,  hochbedeutsame  Buch  von 
Koehler  im  Grunde  eine  Historisierung  der 
Physik,  denn  alle  „Gestalten"  sind  ja  morpho- 
logische Dinge.  Wieweit  diese  Historisierung 
der  Mathematik  und  der  von  ihr  logisch  gespeisten 
Wissenschaften  sinnvoll  und  berechtigt  ist,  das 
ist  natürlich  eine  andere  Frage.  Hier  handelt  es 
sich  nur  darum,  an  einigen  einleuchtenden  Bei- 
spielen die  Universalität  der  historischen  Idee  dar- 
zutun. 

Wie  läßt  sich  diese  nun  genauer  bestimmen? 
Ein  solcher  Versuch,  das  Wesen  des  Historischen 
definitorisch  zu  erfassen,  ist  natürlich,  wie  gerade 
die  Diskussionen  mancher  Geschichtsphilosophen 
vom  Range  eines  Windelband,  Rickert  oder 
Troeltsch  beweisen,  für  einen  Nichthistoriker 
ein  außerordentlich  schwieriges  Unternehmen. 
Gleichwohl  kommen  wir  nicht  darum  herum,  wenn 
anders  wir  an  der  Rolle,  die  das  Historische  in 
unserer  Wissenschaft  spielt,  nicht  blind  vorüber- 
gehen wollen.  Vielleicht  gelingt  es  uns,  die  wir 
von  einer  Wissenschaft  ausgehen,  die  den  Begriff 
des  Historischen  zwar  verwendet,  aber  immerhin 
doch  in  einer  Form ,  die  gegenüber  seinen  Ge- 
staltungen in  den  sog.  Geisteswissenschaften  pri- 
mitiv genannt  werden  muß,  das  Wesen  der 
Historie  schlichter,  ursprünglicher  zu  beschrei- 
ben, als  es  jenen  ausgezeichneten  Forschern, 
die  sich  einer  unendlich  komplizierten  Lage 
gegenübersahen,  gelingen  konnte.  Uns  will 
es  scheinen,  als  ob  jene  den  beinahe  selbstver- 
ständlich zu  nennenden  schlichten  Gehalt  unserer 
Idee  allzu  wenig  beachtet  haben.  Historie  ist 
doch  wohl  letzten  Endes  Beschreibung 
des  Werdegangs  aller  Dinge,  oder  wie 
Ranke  sagt,  Feststellung,  „wie  es  gewesen  ist''. 
Alles  übrige,  ob  die  historische  Beschreibung  sich 
auf    „Individuelles",    „Einmaliges",     „Besonderes", 


„Originales",  „Wertbezogenes",  „Zweckmäßiges", 
„metaphysisch-Sinnvolles",  „Ganzes"  erstreckt  oder 
ob  den  historischen  Prozessen  mit  der  Dialektik 
Hegels  oder  einer  anderen  oder  mit  der  Meta- 
physik des  Aristoteles  am  besten  beizukommen 
ist,  sind  doch  erst,  zwar  sehr  bedeutungsvolle, 
aber  immerhin  doch  sekundäre  Probleme.  Diese 
Definition  des  Historischen  als  Feststellung,  wie 
alles  gewesen  ist,  mag  es  sich  nun  um  politische 
Geschichte,  Wissenschaftshistorie  oder  Kosmologie 
handeln,  ist  keineswegs  ein  Nurbanales.  Vielmehr 
läßt  sich  die  historische  Idee  so  am  besten  gegen 
die  mathematische  abgrenzen.  Denn  man  kann 
der  wirklichen  Geschehnisse  einmal  dadurch  Herr 
werden,  daß  man  sie  alle  in  chronologischer  Folge 
einfach  aufzählt ,  das  leistet  letzten  Endes  die 
Historie  ihrer  Absicht  nach,  oder  dadurch,  daß 
man  Methoden  ersinnt,  die  es  gestatten,  jedes 
Stück  Wirklichkeit,  dessen  man  bedarf,  im  ge- 
wünschten Moment  wieder  zu  erzeugen,  das  ist 
die  Idee  der  mathematischen  Beherrschung  der 
Natur.  Von  beiden  Ideen  gilt  natürlich ,  daß  sie 
nie  restlos  zu  verwirklichen  sind.  Aber  gleich- 
wohl ergänzen  sich  beide  in  glücklicher  Weise. 
Die  Domäne  der  Mathematik  ist  die  Natur,  die 
der  Geschichte  das  Geistesleben,  die  Kultur. 
Immerhin  hat  sich  herausgestellt,  daß  da,  wo  die 
mathematische  in  befriedigender  Weise  arbeitet, 
die  historische  überflüssig  geworden  ist.  Die 
Mathematik  arbeitet  eben  exakter,  sicherer  und 
mit  einfacheren  Mitteln.  Die  Mathematik  gewinnt 
so  im  Kampfe  mit  der  Historie  immer  mehr  an 
Boden.  Freilich  ist  dieser  logische  Prozeß  ein 
unendlicher,  wie  bereits  hervorgehoben,  so  daß  es 
der  Mathematik  nie  gelingen  wird,  die  Historie 
sich  völlig  zu  unterwerfen.  In  den  Geisteswissen- 
schaften jedoch,  in  die  Mathematik  noch  nicht 
gelangen  kann,  leistet  die  historische  Methode  die 
vortrefflichsten  Dienste.  Gegenwärtig  spielt  sich 
der  Hauptkampf  beider  Ideen  in  der  Biologie 
ab,  wie  wir  noch  näher  zu  schildern  haben  wer- 
den, und  wenn  nicht  alles  trügt,  wird  hier  in 
absehbarer  Zeit  die  Mathematik  die  Historie  auch 
völlig  verdrängen,  wird  die  Physiologie  die  Mor- 
phologie durchdringen. 

Wir  haben  oben  die  Formen  der  mathemati- 
schen Idee  näher  verfolgt  und  dabei  festgestellt, 
daß  ihre  Ausdehnung  keine  gleichsam  lineare 
ist,  sondern  in  typischer,  wohlunterscheidbarer 
Stufenfolge  vor  sich  geht.  Um  zur  Biologie  zu 
gelangen,  mußte  die  mathematische  Idee  die  Ge- 
stalt der  Physizierung  annehmen.  Der  Psychologie 
konnte  sie  sich  nur  in  der  einstweilen  wieder  ab- 
geschwächten Form  einer  Biologisierung  nähern. 
Die  Soziologie  verlangte  endlich  eine  Psychologi- 
sierung, um  der  Mathematik  Raum  geben  zu 
können.  Ganz  Analoges  gilt  auch  von  der  all- 
mählichen „negativen"  Ausdehnung,  also  Ver- 
ringerung des  Geltungsbereichs  der  historischen 
Idee.  Auch  dieser  historische  Rückzug  vollzieht 
sich  nicht  in  gerader  Linie,  sondern  stufenförmig, 
in  Etappen.     Die  historische  Idee  hat,  soweit  sie 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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noch  in  der  Physik  Geltung  besitzt,  eine  andere 
logische  Gestalt  als  in  der  Biologie,  und  hier 
zeigt  sie  wieder  ein  anderes  Gesicht,  wie  in  der 
Psychologie.  Wieder  anders  gebärdet  sie  sich  in 
der  Soziologie,  und  wieder  ganz  anders  natürlich 
in  ihrer  eigentlichen  Domäne,  den  sog.  „histori- 
schen Wissenschaften"  im  engeren  Sinne,  den 
Geistes-  oder  Kulturwissenschaften.  Wir  können 
hier  ebensowenig,  wie  bei  der  mathematischen 
Idee,  die  einzelnen  Etappen  dieses  interessanten 
logischen  Prozesses,  der  sich  strategisch  als  ein 
meisterhaft  geführter  allmählicher  Rückzug  charak- 
terisieren läßt,  näher  verfolgen.  In  einer  be- 
sonderen Arbeit  werden  wir  demnächst  darauf 
zurückkommen.  Nur  zur  kurzen  Verdeutlichung 
des  Gemeinten  soll  es  dienen,  wenn  wir  sagen : 
In  der  Physik  führt  die  historische  Idee  geist- 
volle Scheingefechte  in  Form  dessen,  was  Köhler 
a.  a.  O.  „physische  Gestalten"  nennt,  in 
der  Biologie  verschanzt  sie  sich  hinter  die 
Zweckidee,')  und  in  der  Psychologie  und 
Soziologie  fühlt  sie  sich  gar  noch  so  fest  im 
Sattel,  daß  sie  mitleidig  auf  die  schüchternen  Steh- 
versuche des  feindlichen  mathematischen  Bruders 
herabsieht.  In  der  Psychologie  ist  das  freilich 
schon  mehr  Pose  geworden.  Wohl  ist  ihr  nicht 
mehr  dabei.  In  den  eigentlich  historischen  Wissen- 
schaften endlich  nimmt  sie  jene  hochkomplizierten 
Gestalten  an,  um  deren  Fixierung  sich  die  Geschichts- 
philosophen seit  Hegels  genialem  Wurf  mit 
wechselndem  Erfolg  bemühen.  In  einem,  ich  hätte 
beinahe  gesagt,  in  ihrem  Vorzeichen,  unterschei- 
den sich  unsere  beiden  logischen  Prozesse  aber 
wesentlich  voneinander.  Während  die  Art  der 
Ausbreitung  der  Mathematik  über  die  stufenartigen 
Gebiete  der  Wirklichkeit  als  ein  Fortschritt  im 
Sinne  einer  ständigen  Komplizierung  der  mathe- 
matischen Idee  zu  charakterisieren  ist,  müssen  die 
verschiedenen  Stufenbereiche  der  Historie  als  um 
so  größere  Vereinfachungen,  Primitivierungen  be- 
zeichnet werden,  je  weiter  sie  von  der  zentralen 
Domäne  der  historischen  Idee  sich  entfernen.  Hier 
liegt  das  Höchstkomplexe  im  Ausgangspunkt. 
Nur  den  Rückzug  der  historischen  Idee  kann  man 
noch  als  eine  fortschreitende  Komplizierung  deu- 
ten. Durch  alle  Historismen  freilich  zieht  sich 
als  ein  Minimum  an  historischer  Idee  hindurch  das 
Prinzip  der  Feststellung,  „wie  es  gewesen  ist",  wie 
alles  so  im  Laufe  der  Zeit  zu  dem  geworden  ist, 
was  es  ist. 

Ordnen  wir  nun  —  und  damit  ziehen  wir  das 
Fazit  unserer  Erörterungen  —  die  verschiedenen 
Wissenschaften  und  Gruppen  von  solchen  in  eine 
Reihe,  die  den  P'ortschritt  der  mathematischen 
und  den  Rückzug  der  historischen  Idee  deutlich 
erkennen  läßt,  so  erhalten  wir  folgendes  Bild. 


Man  erkennt,  die  Biologie  befindet  sich  zurzeit 
im  Schnittpunkt  beider  Ideen  und  stellt  so  das 
Schlachtfeld  dar,  auf  dem  das  Rückzugsgefecht 
der  historischen  Idee  im  gegenwärtigen  Moment 
der  Wissenschaftsgeschichte  am  intensivsten  aus- 
gefochten  wird.  Das  ist  die  logische  Signa- 
tur der  Biologie,-)  die  ihre  augenblickliche 
logische  Stellung  im  System  der  Wissenschaften 
am  deutlichsten  charakterisiert.  Das  im  einzelnen 
auszuführen,  wird  das  Thema  einer  bald  vorzu- 
legenden größeren  Arbeit  über  die  „Logik  der 
Biologie"  sein. 

Anhang:  Das  System  der  Wissenschaften. 
Die  Konsequenzen  des  vorhergehenden  Ab- 
schnittes für  die  Gesamteinteilung  der  Wissen- 
schaften seien  anhangweise  hier  noch  aufgeführt. 
Eine  Einteilung  der  Wissenschaften  kann  im 
wesentlichen  nach  drei  Gesichtspunkten  erfolgen : 
Nach  ihren  Gegenständen  oder  Gebieten,  nach 
den  von  ihnen  benutzten  Methoden  der  Forschung 
und  endlich  nach  den  sie  konstituierenden  und 
die  Forschung  leitenden  Ideen.  Die  historisch  ge- 
wachsene, besonders  im  Unterrichtsbetrieb  übliche 
Einteilung  der  Wissenschaften  pflegt  sich  in  erster 
Linie  auf  die  Gegenstände  oder  Gebiete  zu  stützen. 
Die  vollendetste  und  geistvollste  Durchbildung 
einer  Einteilung  auf  dieser  Basis  hat  Stum-pf^) 
gegeben.  Daneben  verdient  die  von  W  u  n  d  t  ^) 
gegebene  besondere  Beachtung.  Eine  Einteilung 
nach  den  die  Wissenschaften  beherrschenden 
Methoden  hat  neuerdings  M  o  o  g  *)  zu  geben  ver- 
sucht. So  gute  Dienste  alle  diese  Einteilungen 
der  Forschung  bisher  geleistet  haben  und  noch 
weiterhin  leisten  werden,  für  unsere  Zwecke 
kommen  sie  nicht  in  Frage.  Auf  Grund  der 
vorhergegangenen  Ausführungen  können   wir  nur 


Idee  der  Mathematik 


Schnittpunkt 

I 


')  Man  vergleiche  das  Buch  von  Kr oncr,  „Das  Problem 
der  historischen  Biologie",  Berlin  1919,  Abh.  z.  theoret.  Bio- 
logie, H.  2. 

'^)  Methodologisch  erweist  sich  die  Biologie  so  zurzeit  als 
ein  „Mischgebiet".  Gleichwohl  sind  ihre  Gegenstände,  wie 
ich  gegen  Troeltsch  (a.  a.  O.  1919,  S.  379)  bemerken 
möchte,  darum  nicht  auch  Mischungen.  Wäre  das  so ,  dann 
wäre  das  doch  von  ganz  offenbarem  Erfolg  begleitete  Be- 
mühen ,  das  Morphologische  (Historische)  physiologisch  (ma- 
thematisch-kausal, ,,entwicklungsraechanisch")  zu  überwinden 
und  damit  alles  Historische  aus  der  Biologie  zu  eliminieren, 
gar  nicht  zu  verstehen,  unmöglich.  Die  Gegenstände,  wenig- 
stens die  Organismen,  sind  niemals  Mischungen,  sondern  ein- 
heitliche Gebilde.  Mischungen  sind  höchstens  unsere  logischen 
Methoden,  durch  die  wir  sie  rationalisieren.  Prinzipiell  anders 
mögen  sich  natürlich  historische  Gegenstände,  soweit  sie  ,, freie 
Schöpfungen  des  Geistes",  Logismen  also,  sind,  verhalten. 

^J  Zur  Einteilung  der  Wissenschaften.  Abh.  d.  Berliner 
Akademie   1907. 

')  Über  die  Einteilung  der  Wissenschaften.  Philos.  Stu- 
dien  V.    1889. 

•*)  Psychologie   und  Psychologismus.     Halle   1919. 


Idee   der   Geschichte 


Mathematik          (nometric          Physik        Biologie            Psychologie          Soziologie  Eigentliche    (Jeislcswisscnschaftcn 

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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


63 


eine  Einteilung  auf  der  Basis  der  die  einzelnen 
Wissenschaften  konstituierenden  Ideen  akzep- 
tieren *). 

Alle  vorhandenen  Wissenschaften  gruppieren  wir 
dann  zunächst  in  die  beiden  Gruppen  der  Ideen - 
Wissenschaften  oder  theoretischen 
Wissenschaften  und  der  praktischen 
Wissenschaften,  die  natüriich  auch  Ideen  in 
ihrem  Aufbau  verwenden,  deren  logische  Ganz- 
struktur aber  nicht  durch  Ideen,  sondern  durch 
die  praktischen  Bedürfnisse  des  Menschen  konsti- 
tuiert wird.  Auf  diese  Weise  scheiden  als 
praktisch  im  weitesten  Sinne  orientierte  Wissen- 
schaften für  unsere  weiteren  Erörterungen  aus: 
Technik,  Medizin,  Politik,  Ethik,  Meta- 
physik. Am  meisten  wird  es  vielleicht,  be- 
sonders auf  philosophischer  Seite,  überraschen, 
die  Metaphysik,  die  doch  im  allgemeinen  gerade- 
zu für  einen  Ausbund  von  reiner  Theorie  gehalten 
wird,  in  dieser  Gesellschaft  zu  finden.  Indessen 
sachlich  ist  diese  Einstufung,  die  selbstverständlich 
kein  Werturteil  darstellt,  durchaus  gerechtfertigt. 
Wer  die  Geschichte  der  Philosophie  kennt,  weiß, 
daß  die  vornehmste  Aufgabe  der  Metaphysik  stets 
gewesen  ist,  einen  Ausgleich  zwischen  den  Er- 
fordernissen des  Intellekts  und  den  sog.  Bedürf- 
nissen des  Gemüts  herzustellen.  Dergleichen 
Hineinspielenlassen  gemütlicher  Bedürfnisse  in  die 
rein  theoretische  Arbeit  ist  aber  nie  Sache  der 
Wissenschaften  gewesen.  Auch  wenn  man  mit 
Wundt  die  Aufgabe  der  Metaphysik  darin  er- 
blickt, die  sog.  Ergebnisse  der  Einzel  Wissenschaften 
zu  einer  einheitlichen  „Weltanschauung"  zu  ver- 
arbeiten, so  ist,  ganz  abgesehen  davon,  daß  man 
das  heute  kaum  noch  für  möglich  halten  wird, 
auch  dergleichen  „Weltanschauung"  alles  andere 
als  reine  Theorie.  In  der  „Weltanschauung" 
spielen  bekanntlich  wieder  die  Bedürfnisse  des 
Gemüts  eine  nicht  geringe  Rolle.  Reine  Wissen- 
schaft hält  sich  von  aller  „Weltanschauung" 
möglichst  rein,  hat  sie  doch  oft  genug  gerade  im 
Kampfe  mit  dieser  Mühe  genug  gehabt,  sich 
durchzusetzen. 

Nach  dieser,  im  Interesse  Mißverständnisse  zu 
vermeiden,  notwendigen  kurzen  Abschweifung 
kehren  wir  zu  unserem  Hauptthema  zurück.  Die 
reinen  Ideen-  oder  theoretischen  Wis'^enschaften 
lassen  sich  ihrerseits  wieder  in  zwei  Gruppen 
trennen,  deren  wesentliche  Eigentümlichkeiten 
wir  uns  am  besten  an  zwei  typischen  Vertretern, 
etwa  der  Physik  und  der  Geologie,  klarmachen 
können.  Wodurch  unterscheiden  sich  beide,  von 
ihrem  veschiedenen  Lehrgehalt  natürlich  abgesehen, 
also  rein  logisch  voneinander  ?  Doch  wohl  darin, 
daß  die  Physik  auf  das  große  Ganze  der  Wirklich- 
keit geht,  während  die  Geologie  einen  eng  be- 
grenzten Ausschnitt  zum  Gegenstand  ihrer  Unter- 
suchungen macht.     Dabei   ist  beiden  gemeinsam, 

')  Auf  die  auflerordentlich  bedeutsame,  jüngst  erschienene 
Arbeit  von  Becher,  ,, Geisteswissenschaften  und  Naturwissen- 
schaften", die  mir  erst  nach  Abschluß  dieser  Arbeit  in  die 
Hände  kam,  werde  ich  später  zurückkommen. 


daß  sie  theoretische  Wissenschaften  sind,  was 
natürlich  wieder  nicht  besagt,  wie  hier  gleich 
ein  für  allemal  betont  sei,  daß  sie  jeder  praktischen 
Anwendung,  jeder  technischen  Verwertung  bar 
sind,  sondern  womit  lediglich  gemeint  ist,  daß  sie 
nicht  um  dieses  praktischen  Nutzens  willen  betrieben 
werden.  Wir  wollen  den  hier  betonten  logischen 
Unterschied  zwischen  den  theoretischen  Wissen- 
schaften, die  zum  Typus  der  Physik  gehören,  und 
denen,  deren  Paradigma  die  Geologie  ist,  in  den 
Terminis  „universale"  und  „partikulare  Wissen- 
schaften" zum  Ausdruck  bringen. 

Zu  den  partikularen  Wissenschaften 
rechnen  wir  die  Astronomie,  Geologie, 
Geographie,  die  Medizin  als  Wissen- 
schaft, die  Nationalökonomie,  die  wis- 
senschaftliche Politik  und  die  Kultur- 
geschichte, sowie  die  sog.  philologisch- 
historischenGeisteswissenschaften.  Sie 
sind,  wie  leicht  ersichtlich,  nach  der  zunehmenden 
Spezialisierung  und  Komplizierung  ihrer  Gegen- 
stände geordnet.  Mit  dem  Wellali  beschäftigt 
sich  die  Astronomie,  mit  dem  —  bit  venia  verbo 
—  Genotypus  der  Erde  die  Geologie,  während 
die  Geographie  sich  für  ihren  Phänotypus  inter- 
essiert, während  sich  alle  übrigen  partikularen 
Wissenschaften  irgendwie  mit  den  Problemen,  die 
der  physische  oder  geistige  Mensch  bietet,  be- 
lassen. Aber  immer  geht  die  Tendenz  auf  theo- 
retische Bewältigung  der  Probleme,  während  man 
die  Nutzanwendung  den  in  Frage  kommenden 
praktischen  Wissenschaften  überläßt. 

Die  universalen  Ideenwissenschaften 
lassen  sich  ihrerseits  wieder  in  zwei  Gruppen  son- 
dern, die  ich  als  originale  und  kombinierte 
Ideenwissenschaften  trennen  möchte.  Zu  den 
originalen  gehören,  wie  für  uns  nun  wohl  ohne 
weiteres  klar  sein  dürfte,  nur  die  Mathematik 
und  die  Historie.  Die  beherrschende  Rolle,  die 
sie  im  Aufbau  aller  Wissenschaften  und  speziell 
in  unserer  Biologie  spielen,  haben  wir  ja  soeben 
erst  ausführlich  besprochen. 

Zu  den  kombinierten  Ideenwissen- 
schaften zählen  wir  die  Geometrie,  Physik, 
Biologie,  Psychologie  und  Soziologie. 
Kombinierte  heißen  sie,  weil  in  jeder  von  ihnen, 
wenn  auch  in  verschiedenem  Grade,  beide  Grund- 
ideen eine  Rolle  spielen;  und  ihre  Reihenfolge 
gibt,  wo'rauf  wir  ja  auch  schon  hingewiesen  haben, 
die  Grade  der  Abschattungen  an,  in  denen  die 
Ideen  der  Mathematik  und  Historie  in  ihnen  wirk- 
sam sind.  Falsch  würde  es  sein,  wenn  man 
glauben  wollte,  daß  außer  der  Physik  eigentlich 
alle  von  ihnen  im  Grunde  partikularen  Charakter 
besäßen,  insoferne  doch  die  Gegenstände  der  Bio- 
logie, P.-ychologie  und  Soziologie  nicht  das  Uni- 
versum, sondern  eng  begrenzte  Ausschnitte  des- 
selben seien.  Indessen  so  ist  der  Begriff  des 
Universalen  von  uns  nicht  gemeint.  Auch  ein 
Ausschnitt  des  Universums  kann  uni- 
versal sein,  dann  nämlich,  wenn  nicht  der 
Ausschnitt  als  solcher  Ziel  der  Forschung  ist,  wie 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  _5 


es  die  Erde  für  die  Geologie  ist,  sondern  wenn 
er  lediglich  ein  Mittel  darstellt,  um 
universale  Gesetze  aufzufinden.  Ob  das 
Organische  sich  auf  der  Erde  oder  wo  anders 
findet,  ist  der  Biologie  einerlei.  Sie  will  die  Ge- 
setze und  Bedingungen  kennen  lernen,  unter 
denen  sich  überall  Organisches  bilden  und  dauern 
kann.  So  sind  ja  auch  die  Gegenstände,  an  denen 
die  Physik  ihre  Untersuchungen  macht,  zweifellos 
partikular,  aber  die  Ziele,  die  die  Physik  dabei 
verfolgt,  ebenso  zweifellos  universal.  In  diesem 
Sinne  darf  man  die  Biologie  wohl  die  Physik  des 
Organischen ,  die  Psychologie  die  Physik  des 
Seelischen,  die  Soziologie  die  Physik  der  Gesell- 
schaft nennen.  Damit  ist  nicht  notwendigerweise 
gesagt,  daß  alle  diese  Wissenschaften  einmal  wirk- 
lich in  eine  universale  Physik  zusammenfließen 
werden.  Man  kann,  da  die  Historie  ebenso  uni- 
versal ist,  wie  die  Mathematik,  auch  das  Gegen- 
teil annehmen  und  mit  dem  gleichen  logischen 
Recht  statt  an  eine  zunehmende  Physizierung  an 
eine  solche  Historisierung  aller  kombinierten  Ideen- 
wissenschaften glauben.  Wer  indessen  offenen 
Auges  den  zunehmenden  Siegeszug  der  Mathe- 
matik über  die  wissenschaftliche  Welt  seit  der 
Renaissance  beobachtet,  dem  wird  es  schwer,  im 
Historismus,  und  trete  er  uns  noch  so  geistvoll 
entgegen  wie  bei  Spengler,  mehr  als  ein 
langsames  Rückzugsgefecht  zu  sehen. 

Am  Schlüsse  dieses  Anhangs  sei  es  gestattet, 
seine  Ergebnisse  in  einer  kurzen  Tabelle  über- 
sichtlich zusammenzufassen. 

Einteilung  der  Wissenschaften. 

A.  Reine  Ideenwissenschaften 

(Theoretische  W.). 

I.  Universale  Wissenschaften. 

Mathematik 


Jl             Geometrie 

Originale 

Ideen- 

wissenschaflen 

/          1    Physik 
'      ■    j    Biologie 
\     f  M    Psychologie 
ij     1   Soziologie 
Historie 

!' 


Kombinierte 
Ideen- 
wissenschaften 


II.  Partikulare  Wissenschaften. 

Astronomie.     Geologie.     Geographie.     Wissenschaftl.  Medizin. 
Nationalökonomie.     Politik  als  Wissenschaft  u.  Rechtswissen- 
schaften. 
Kulturgeschichte  und  die  eigentlichen  Geisteswissenschaften. 

B.  Praktisch  orientierte  Wissen- 
schaften. 

Technik.     Medizin.     Politik.     Kthik.     .Metaphysik. 


Eine  Wissenschaft  haben  wir  nun  noch  ver- 
gessen, die  für  uns  von  besonderer  Wichtigkeit 
ist,  sich  aber  gleichwohl  nicht  in  eine  der  ge- 
nannten Kategorien  einfügen  läßt.  Das  ist  die 
Logik.  Sie  ist  von  uns  ihrem  Wesen  nach  zu 
charakterisieren  als  allgemeine  Wissen- 
schaftslehre, d.  h.  Wissenschaft  von  der 
Wissenschaft  selbst.  Sie  befaßt  sich  aber  nicht 
mit  dem  jeweiligen  Lehrgehalt  der  Einzel- 
wissenschaften, sie  erforscht  nur  die  logischen 
Werkzeuge,  deren  sich  die  Einzelwissenschaften 
bei  ihrer  Arbeit  bedienen,  sie  vergleicht  die  be- 
sonderen logischen  Strukturen  der  Einzelwissen- 
schaften miteinander  mit  dem  Ziel,  allgemeine 
logische  Gesetzmäßigkeiten  zu  finden ,  die  das 
Werden  und  Wachsen  der  Wissenschaften  be- 
dingen. Die  Methode  der  Vergleichung  spielt 
eine  große  Rolle  in  ihr,  ohne  daß  sie  aber  des- 
halb auf  dem  logischen  Standpunkt  einer  nur 
vergleichenden  Wissenschaft  stehen  bleiben  müßte. 
Die  Vergleichung  liefert  ihr  nur  die  „empirischen" 
Unterlagen,  aus  denen  sie,  wie  jede  andere 
Wissenschaft  ein  deduktives  System  zu  errichten 
hat.  Am  nächsten  ist  sie  so  der  Mathematik 
verwandt,  die  man  cum  grano  salis  als  die 
Logik  des  Quantitativen  bezeichnen  kann.  Als 
solche  hat  die  Mathematik  ihre  großen  Erfolge 
errungen;  und  wenn  man  jetzt  von  ihr  sagen  kann, 
daß  sie  aufgehört  habe,  nur  noch  die  Logik  des 
Quantitativen  zu  sein,  so  besagt  das  doch  nur, 
daß  die  bisherige  Grenze  zwischen 
Mathematik  und  Logik  zu  verschwinden 
beginnt  und  beide  Wissenschaften  sich  in  einer 
neuen  gemeinsamen  Wissenschaft,  heiße  sie  nun 
Mengenlehre  oder  anders,  zu  verankern  im  Be- 
griffe stehen.  Trotzdem  bleibt  die  Mathematik 
dann,  wenn  anders  man  auf  klare  Begriffe  Wert 
legt,  vorzugsweise  die  Logik  des  Quantitativen. 
Bis  wir  soweit  sind,  daß  die  Logik  mit  ihren 
Qualitäten,  wie  Urteilen,  Theorien  usw.,  so  exakt 
deduktiv  operieren  kann  wie  die  Mathematik  mit 
ihren  Quantitäten,  den  Zahlen,  wird  es  immerhin 
noch  vieler  Bemühungen  der  Logiker  und  Mathe- 
matiker bedürfen.  Das  Ziel,  die  „apriorisch- 
deduktive Logik",  die  Schwester  der  ebenso 
apriorisch  deduktiven  Mathematik,  ist  schon  jetzt 
klar.  Desgleichen,  daß  die  Logik  mit  Normen 
ebensowenig  zu  tun  hat  wie  die  Mathematik, 
und  ferner,  daß  sie  ebensowenig  eine  formale 
Disziplin  ist  wie  diese,  da  sie  ja  ebenfalls  auf 
exakte  deduktive  Sätze  gerichtet  ist.  Dergleichen 
Unterstellungen  der  Philosophen  sind  hoffentlich 
seit  Husserl  endgültig  erledigt. 


Segeltliig  und  fliegende  Fische. 

[Nachdruck  verboten.)  Von  Dr.  med.  W.  Frölich. 

Auf  den  Aufsatz  von  G.  Lilien thal:  „Über     schrift)    möchte    ich   folgendes    erwidern.^)     Ich 

den      Segelflug      der      Vögel       und      das       Fliegen  •)  soweit  nichts  anderes  bemerkt  ist,    beziehen   sich  alle 

der     F'ische"     (Heft     Nr.     45,      192 1      dieser      Zeit-       Zitate  auf  Brehms  Tierlebcn  4.  Auflage. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6S 


kann  nur  auf  greifbare,  nicht  auf  die  eingangs 
gemachten  allgemeinen  Einwände  eingehen.  Wie 
aus  dem  ganzen  Zusammenhang  meiner  Arbeit: 
„Der  Segelflug  und  verwandte  Bewegungen  in 
Luft  und  Wasser"  Heft  13,  1921  dieser  Zeitschrift 
hervorgeht,  benutzt  der  fliegende  Fisch,  der  sich 
durch  riesengroße  Brustflossen  und  eine  eben- 
solche Schwimmblase  (bei  16  cm  Körperlänge 
9  cm  lange,  2,5  cm  weite,  44  ccm  fassende  Schwimm- 
blase) auszeichnet,  wie  ich  unten  zeigen  will, 
seine  Brustflossen  im  Wasser  gerade  eben  nur 
unter  Bedingungen,  unter  denen  eine  Beobachtung 
des  Tieres  teilweis  unmöglich  ist.  Der  zweite 
greifbare  Einwand  des  Herrn  L  i  1  i  e  n  t  h  a  1  ist : 
„daß  die  Luft  der  Schwimmblase  sich  einseitig 
nach  der  Richtung,  wo  der  Wasserdruck  ver- 
mindert ist,  ausdehnt,  widerspricht  dem  Verhalten 
der  Gase,  welche  immer  auf  alle  Teile  des  ein- 
schließenden Gefäßes  gleichmäßig  drücken."  Das 
letztere  setze  ich  ja  selbst  voraus  mit  den  Worten 
„daß  in  einer  gasgefüllten  Schwimmblase  zu  einem 
gegebenen  Zeitpunkt  überall  derselbe  Gasdruck 
herrscht".  Ein  freies  Gas  dehnt  sich  doch  ge- 
gebenenfalls immer  nach  der  Richtung  des  ge- 
ringsten Widerstandes,  des  geringsten  Druckes 
aus.  Das  Gas  in  der  Schwimmblase  aber  dehnt 
sich,  da  eine  Lokomotion  des  Fisches  während 
der  Ausdehnung  stattfindet,  als  Ganzes  in 
Räume  sich  vermindernden  Wasserdruckes  hinein. 
Der  bildliche  Vergleich  mit  dem  Fortschnellen 
eines  schlüpfrigen  Zitronenkernes,  wie  ich  ihn  ge- 
brauchte, veranschaulicht  den  Vorgang.  Wie  der 
segelnde  Vogel  den  Wind,  so  benutzt  das  Wasser- 
tier die  Wellenenergie  im  Meere  vermittels  der 
Schwimmblase  oder  Lunge,  die  durch  den  Druck 
des  sich  dem  Tiere  überlagernden  Wellenberges 
gespannt  wird,  während  unter  dem  nachfolgenden 
Wellental  eine  Entspannung  und  Ausdehnung  der 
Schwimmblase  in  Räume  sich  vermindernden 
Wasserdruckes  hinein  erfolgt,  so  daß  eine  Phase 
der  Energieaufnahme  aus  den  Wellen  und  eine 
der  Energieabgabe  unterschieden  werden  können. 
Für  weitgehende  Ausnützung  der  Wellenenergie 
spricht  z.  B.  das  Verhalten  eines  Blauwals,  der 
1850  einem  Schiffe  24  Tage  nicht  von  der  Seite 
wich  (Bd.  12  S.  503).  Die  Bartenwale  haben  be- 
sonders loses  Brustkorbgerüst  mit  guter  Schwimm- 
blasenwirkung; zu  diesen  gehören  die  Langflossen- 
wale mit  Brustflossen  von  '/;  bis  fast  '/g  der 
Körperlänge.  Unter  diesen  ist  1.  c.  Bd.  12  S.  504  ff. 
der  Buckelwal  eingehender  behandelt :  bis  1 5  m 
lang,  Brustflosse  je  bis  4  m  lang;  „gewaltige" 
Lunge;  also  Analogie  zum  Flugfisch.  Auch  unter 
Wasser  schwimmend  „wirft  er  sich  oft  von  einer 
Seite  auf  die  andere  und  wiegt  sich  förmlich  in 
seinem  Element  ganz  so  wie  ein  Vogel  in  der 
Luft.  Das  beliebte  Rollen  von  einer  Seite  auf 
die  andere  wird  durch  die  Brustflossen  besorgt, 
das  gewöhnliche  Schwimmen  durch  die  Schwanz- 
flosse, während  die  Brustflossen  dann 
nur  manchmal  zur  Aufrechterhaltung 
des  Gleichgewichts  etwas  bewegt  wer- 


d  e  n."  Der  riesige  Buckelwal  kann  wohl  nur  durch 
Schwimmblasen-Mitwirkung  Luftsprünge  ausführen, 
daß  die  4  m  spannende  Schwanzflosse  das  Wasser 
nicht  mehr  berührt.  Volle  Segelwirkung  der 
Schwimmblase  ist  offenbar  nur  bei  bewegter  See 
unter  Wasser  möglich,  also  kaum  oder  nicht 
zu  beobachten.  —  Die  Pinguine  schwimmen 
entweder  mit  den  Ruderfüßen  oder  mit  den 
P^lügeln.  Sie  fliegen  unter  Wasser.  Das  Fliegen 
unter  Wasser,  das  vielleicht  bei  hohem  Seegang 
bei  manchen  Arten  in  ein  Segeln  übergeht,  wie 
es  bei  den  sich  ähnlich  bewegenden  Seeschild- 
kröten (vgl.  meine  Arbeit  in  Heft  13)  statt  hat, 
gibt  einen  Fingerzeig  auch  für  die  Beurteilung  der 
Funktion  der  Brustflossen  beim  Segeln  im 
Wasser,  die  wahrscheinlich  der  der  Flügel  der 
Vögel  beim  Segeln  in  der  Luft  ähnlich  ist.  Bei 
allen  einer  aktiven  Fortbewegung  fähigen  Lebe- 
wesen dürfen  wir  wahrscheinlich  grundsätzlich 
zwei  Bewegungsphasen  unterscheiden,  eine  aktive. 
Energieabgebende  und  eine  passive,  so  ist  z.  B. 
beim  Gang  des  Menschen  das  pendelnde  Bein  in 
der  Regel  passiv.  So  scheint  auch  bei  einer  ge- 
wissen Geschwindigkeit  das  Heben  der  Flügel 
beim  Flug  in  der  Luft  durch  Luftwirbelbildung 
unter  der  Flügelwölbung,  durch  die  ein  nicht 
unerheblicher  Auftrieb  gewonnen  wird  (vgl.  Milla 
Bd.  6.  S.  22),  zu  einer  mehr  oder  weniger  passiven 
Bewegung  zu  werden.  Wahrscheinlich  verhält 
sich  nun  auch  beim  Flügelheben  des  Pinguins 
unter  Wasser  das  Wasser  ähnlich  zum  Flügel  wie 
dort  die  Luft  unter  dem  Flügel.  Ähnliches  dürfte 
für  die  Brustflossen  segelnden  Wassertiere  gelten; 
sie  verhindern,  daß  das  Tier  wegen  seiner  großen 
Schwimmblase  ein  Spielball  der  Wellen  wird,  daß 
die  ihrer  Spannungsvermehrung  widerstrebende 
Schwimmblase  vor  dem  drückenden  Wellenberge 
hergetrieben  wird  und  nicht  vielmehr  stärkere 
Spannung  der  Schwimmblase  erfolgt,  daß  das 
Tier  in  der  beabsichtigten  Bewegung  gegen  den 
Wellenberg  verzögert  wird.  Die  langen  Brust- 
flossen wirken  also  Sperrzahnähnlich.  Dem  durch 
den  andringenden  Tierkörper  auseinanderge- 
triebenen Wasser  wird  Beschleunigung  erteilt. 
Dieses  wird  nicht  ebenso  wie  der  Tierkörper, 
der  gegen  den  Wellenberg  schwimmt,  durch  eine 
Schwimmblase,  gegen  die  der  Wellenberg  drückt, 
verzögert,  behält  daher  vergleichsweise  einen  Über- 
schuß an  Bewegungsenergie,  der  zu  einer  rück- 
läufigen Bewegung  an  den  Flossen  führt,  die  wohl 
der  Bewegung  des  Wassers  bei  aktiver  Brust- 
flossenbewegung gerade  entgegengesetzt  ist.  Je 
größer  die  Lunge  bzw.  Schwimmblase  um  so  größer 
auch  die  Sperrzahn  wirkung,  die  Brustflossenwirkung. 
Wenn  beim  Wassersegeln  an  den  Brustflossen 
keine  aktive  Bewegung  in  der  Phase  der  Energie- 
abgabe der  Schwimmblase  beobachtet  werden 
kann,  so  widerspricht  dem  keineswegs  das  Vor- 
handensein einer  Muskelanspannung,  durch  die 
das  Wasser  gezwungen  wird,  seinen  Weg  nach 
dem  freien,  nachgiebigen  und  absaugenden  Flossen- 
saum   hin  zu    nehmen.     Der    Muskel    leistet   be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kanntlich  auch  „innere  Arbeit",  spannt  sich  ohne 
äußerlich  unmittelbar  sichtbaren  mechanischen 
Effekt  z.  B.,  wenn  der  Mensch  ein  schweres  Ge- 
wicht „heraushält".  Wenn  die  Brustflossen  des 
Flugfisches  bewegungslos  sind,  so  ist  das  keines- 
wegs der  Beweis  ihrer  Inaktivität;  sie  könnten 
sich  sehr  wohl  in  einem  Spannungszustand  be- 
finden, der  beim  Aufhören  des  Wasserwider- 
standes ihre  sofortige  Ausbeitung  veranlaßt.  Nach 
Analogie  des  Buckelwals  und  Pinguins  wird  aber 
der  Flugfisch  gerade  dann  von  den  Brustflossen 
keinen  sichtbaren  Gebrauch  machen,  wenn  er  die 
Schwanzflossen  aktiv  bewegt.  Der  Hauptzweck 
der  auffälligen  Verlängerung  des  unteren  Zipfels 
der  Schwanzflosse  ist  offenbar  der,  zu  verhindern, 
daß  die  ungeheure  Schwimmblase  bei  der  Fort- 
bewegung des  Fisches  durch  die  Schwanzflosse 
unter  Wasser  ein  Überkippen  des  Fisches  nach 
hinten  herbeiführt.  Ein  analoges  Verhältnis  be- 
steht auch  bei  einem  segelnden  Vogel  zwischen 
Luftsack  und  Schwanzlänge.  Welchen  Sinn  sollte 
aber  die  riesengroße  Schwimmblase  haben,  wenn 
nicht  den,  die  Energie  der  Wellen  auszunützen; 
sie  erleichtert  und  hilft  zwar  beim  Emporschnellen 
aus  dem  Wasser  auch  bei  spiegelglatter  See;  der 
Fisch  muß  sie  aber  doch  bei  glatter  See  gerade 
erst  vorher  mit  seiner  eigenen  Schwanzenergie 
spannen,  weil  ihm  dann  die  Wellenenergie  nicht 
zu  Gebote  steht.  Darum  ist  er  auch  bei  glatter 
See  der  schwimmblasenlosen  Goldmakrele  weit 
unterlegen  (vgl.  Bd.  3  S.  523);  er  würde  ausge- 
rottet oder  nicht  entstanden  sein,  wenn  die  See 
meist  glatt  und  zu  einer  Beobachtung  unter 
Wasser  geeignet  wäre.  Die  für  den  Flugfisch 
ausnutzbare  Wellenenergie  ist  viel  größer  als 
seine  eigene  nutzbare  IVIuskelenergie.  Ist  die 
Schwanzflosse  ihrer  Ausdehnung  nach  als  Über- 
tragungsmittel der  eigenen  Muskelenergie  auf 
das  Wasser  geeignet,  so  ist  sie  ganz  gewiß  zu 
klein,  um  zu  verhindern,  daß  der  Fisch  mit  seiner 
Riesen-Schwimmblase  ein  Spielball  der  Wellen 
wird.  Um  vielmehr  die  Herrschaft  über  die 
Wellenenergie  zu  behaupten  und  sie  auszunutzen, 
sind  die  Brustflossen  notwendig,  die  gerade 
dann  in  Tätigkeit  treten,  wenn  die  Schwanzflosse 
von  untergeordneter  Bedeutung  ist.  Herr  Lilien- 
thal  dürfte  den  Flugfisch  nicht  bei  starker 
Wellenbewegung  unter  den  Wellenbergen  gesehen 
haben  mit  einer  Geschwindigkeit,  die  gelegentlich 
ein  Emporschnellen  bis  5  m  über  Wasser  er- 
möglichte. —  Gegen  Gleichmäßigkeit  des  Windes 
über  den  Wellen  spricht  das  Verhalten  der  Brust- 
flossen des  Flugfisches  bei  dem  Gleiten  in  der 
Luft :  die  mit  der  Windgeschwindigkeit  wechselnden 
von  den  Wellenphasen  nicht  unabhängigen  passiven 
Vibrationen  der  Brustflossen  (Bd.  3  S.  327).  Um 
schiefen  Auffassungen  meiner  Ansicht  über  den 
Segelflug  in  der  Luft  vorzubeugen,  muß  ich  von 
vorn  herein  betonen:  die  Luftverdünnung  unter 
dem  Gefieder  ist  an  sich  gar  nicht  der  springende 
Punkt  beim  Zustandekommen  des  Segelflugs, 
sondern  der  springende  Punkt  ist,  daß  eine  Klein- 


gefiederwirkung eintritt,  die  einen  Analogievorgang 
zur  Schwimmblasenwirkung  beim  Segeln  im 
Wasser  darstellt.  Bei  Luftsegeln  tritt  an  Stelle 
der  Schwimmblase  das  Kleingefieder,  das  das 
Körpervolumen  des  Vogels  vervielfacht ,  bei 
manchen  Vögeln  sogar  verfünffachen  oder  ver- 
sechsfachen soll.  Wie  die  Schwimmblase  durch 
den  Wasserdruck  gespannt  wird  so  das  Klein- 
gefieder durch  die  an  ihm  entlang  strömende 
Luft,  mit  deren  Geschwindigkeit  die  Gefieder- 
spannung zu  und  abnimmt.  Wie  sich  die  Schwimm- 
blase in  Räume  sich  vermindernden  Wasserdruckes 
dehnt  so  das  Kleingefieder  in  Räume  sich  relativ 
zum  Vogelkörper  vermindernder  Luftgeschwindig- 
keit. Dabei  verhalten  sich  die  langen  schmalen 
Flügel  analog  wie  im  Wasser  die  Brustflossen. 
Das  Kleingefieder  ermöglicht  (vgl.  meine  Arbeit 
Heft  13)  den  langphasigen  Flug  und  damit  unter 
günstigen  äußeren  Bedingungen  auch  das  Segeln. 
Daneben  spielen  beim  Fliegen  und  Segeln  der 
Vögeln  auch  die  Luftsäcke  der  Vögel  eine  gewisse 
Rolle.  Kleingefieder  und  Luftsäcke  fehlen  den 
Fledermäusen,  die  deshalb  auch  nicht  in  der  Luft 
schweben,  die  Luft  nicht  längere  Zeit  ohne  Flügel- 
schlag durchschießen  und  nicht  segeln  können. 
Trotz  ihrer  langen  Flügel  hat  daher  die  früh- 
fliegende Fledermaus,  die  an  Fluggewandtheit  am 
Tage  mit  den  Schwalben  wetteifert,  keinen  lang- 
phasigen  Flug,  sondern  „umschwirrt  mit  raschen, 
fast  zitternden  Flügelschlägen  geradezu  unheimlich 
schnell  die  höchsten  Baumkronen"  (Bd.  10  S.  459). 
Sie  entgeht  dem  Baumfalken,  dem  die  Schwalbe 
zum  Opfer  fällt,  weil  der  Falke  wegen  seiner 
Gefiederwirkung  nicht  so  jäh  bremsen  kann  wie 
die  Fledermaus.  —  Der  Mechanismus,  durch  den 
die  Luftverdünnung  unter  den  Deckfedern  herbei- 
geführt wird,  ist  aus  meiner  Arbeit  Heft  13  zu 
ersehen.  Herr  Lilienthal  erhebt  den  Einwand, 
daß  ja  bei  diesem  Mechanismus  auch  an  der  Unter- 
fläche der  Flügel  eine  Luftverdünnung  entstehen 
müsse,  die  den  Vogel  nicht  heben  sondern  her- 
niederziehen würde.  Die  selbstverständliche  folge- 
richtige Anwendung  dieses  sehr  einfachen  Me- 
chanismus zeigt,  daß  der  Einwand  unberechtigt 
ist.  Durch  die  an  der  Unterfläche  der  Flügel 
hinstreichende  Luft,  die  trotz  des  positiven  Über- 
druckes nicht  nach  oben  durch  das  Gefieder 
hindurchgetrieben  werden  kann,  weil  sie  sonst 
eben  so  schädlich  wirken  würde  wie  eine  Luft- 
verdünnung unter  den  Flügeln,  entfaltet  bei  ihrem 
Hinstreichen  eine  Saugwirkung,  die  wegen  Durch- 
lässigkeit des  Gefieders  für  Luft  in  der  Richtung 
von  oben  nach  unten  geht,  mithin  den  Vogel 
nach  oben  saugt.  Die  Saugwirkung  von  oben 
nach  unten  ist  aber  mindesteus  ebenso  groß  wie 
die  von  unten  nach  oben;  beide  Saugwirkungen 
halten  sich  also  die  Wage.  Der  zweite  Einwand, 
daß  die  Luftverdünnung  auch  innerhalb  des  Feder- 
balges gar  nicht  eintreten  könne,  weil  er  eine  viel 
zu  lockere,  ungeschlossene  Masse  bilde,  läßt  wohl 
außer  Acht,  daß  die  Luft,  abgesehen  von  der 
Unterfläche  der  Flügel,  wo  die  Lultströmung  ganz 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


67 


oder  teilweise  rückläufig  sein  kann,  ohne  deshalb 
ihre  Saugwirkung  einzubüßen,  überall  in  der 
Strichrichtung  abfließt  und  dabei  auf  rein  dyna- 
mischem Wege  die  Luftverdünnung  aufrecht  er- 
hält, daß  die  Luftverdünnung  sehr  gering  und 
zwar  höchstens  so  groß  ist,  daß  die  Geschwindig- 
keit der  Luft  über  den  Deckfederfahnen  gleich  ist 
der  „Ausflußgeschwindigkeit"  der  freien  atmo- 
sphärischen Luft  in  den  Raum  unter  den  Deck- 
federn, daß  die  Lockerheit  des  Gefieders  bei 
geringer  Druckdifferenz  gerade  zweckmäßig  ist, 
um  ein  freies  elastisches  Spiel  des  Gefieders  zu 
ermöglichen,  das  mit  harmonischer  Trägheit  neben 
den  Geschwindigkeitsschwankungen  der  Luft  ein- 
hergeht, endlich  daß  das  in  der  Strichrichtung 
und  seitlich  dachziegelartig  übereinander  schließende 
Deckgefieder  nicht  nach  einer  solchen  Richtung 
offen  ist,  daß  eine  Wiederaufhebung  der  Saug- 
wirkung durch  eindringende  Luft  bei  dem  Heft  13 
beschriebenen  Saugmechanismus  wahrscheinlich 
wäre.  Die  allgemeinste  Bedeutung  des  Gefieders 
ist  die  eines  Schutzes  gegen  Wärmeverlust  und 
Temperaturschwankungen.  Es  erhält  die  Tempe- 
ratur von  40 — 44"  C  konstant.  Es  würde  für  einen 
pfeilschnell  fliegenden  Kolibri  oder  für  den 
kleinsten  europäischen  Vogel,  des  nur  5,5  g 
wiegenden  Goldhähnchen,  verhängnisvoll,  wenn 
die  durch  ihre  eigene  Flugbewegung  eintretende 
Luftbewegung  ins  Innere  ihres  Gefieders  vordränge. 
Dem  wird  aber  schon  durch  die  Glätte  des  Ge- 
fieders vorgebeugt.  Durch  den  Gefiedermechanis- 
mus wird  eine  sonst  kaum  möglich  erscheinende 
gleichartige  mechanische  Beanspruchung  des  gleich- 
artig beschaffenen  Gefieders  erreicht.  Durch  ihn 
wird  die  Entstehung  von  Turbulenz  über  dem 
Gefieder  verhindert,  wodurch  der  Luftwiderstand 
in  der  Flugrichtung  vermindert  wird.  E^  ist  un- 
vermeidlich, daß  das  umfangreiche  elastische  Ge- 
fieder bei  Geschwindigkeitszunahme  irgendwie  in 
stärkere  Spannung  versetzt  wird.  Es  würde  eine 
Energievergeudung  bedeuten,  wenn  die  zu  dieser 
stärkeren  Spannung  erforderliche  Energie  nicht, 
wie  bei  den  beschriebenen  Mechanismus,  wieder 
zugunsten  des  Vogels  ausgenutzt  würde.  Bei  den 
Vorstellungen  des  Herrn  Lilienthal  vermisse 
ich  noch  eine  solche  systematische  Ausnützung 
der  Gefiederenergie.  Bei  dem  großen  Volumen 
des  Gefieders  wäre  ein  Obsiegen  im  Daseinskampfe 
gegenüber  anderen  federlosen  Flugtieren  der  erd- 
geschichtlichen Vergangenheit  unmöglich  gewesen 
ohne  die  zweckmäßigste  Einrichtung  des  Gefieders. 
Schon  der  Archäopteryx  hatte  echte  Federn.  Bei 
den  verschiedensten  Vögeln  haben  sich  die  Federn 
sehr  ähnlich  gestaltet  und  erhalten.  Auch  die 
Schwungfedern  mit  ihren  elastischen,  nach  den 
freien  Enden  hin  sich  verjüngenden  und  nach- 
giebiger werdenden  Kielen  werden  dazu  beitragen, 
daß  der  Vogel  im  Gegensatz  zu  angehängten, 
passiven  künstlichen  Modellen  den  Ablauf  der 
Luft  unmittelbar  an  seiner  Oberfläche  und  an  den 
Flächen  seiner  Flüge!  und  des  Schwanzes,  voll- 
kommen beherrscht,  daß  der  Luftstrom  unter  dem 


Einfluß  des  Druckes  des  harmonisch  angemessenen 
Vogelkörpergewichts  und  des  feinen  Spieles 
wechselnder  Muskelspannungen  den  Weg  vorwärts 
oder  rückwärts  einschlägt,  der  durch  die  Elastizitäts- 
verhältnisse und  gegebene  Führungslinien  vor- 
geschrieben ist,  ohne  daß  es  dabei  zu  unzweck- 
mäßiger Turbulenz  kommt.  Eine  solche  Be- 
herrschung der  Luft,  die  eine  der  passiven  gleich- 
wertige aktive  Phase  der  Flugbewegung  zur 
Voraussetzung  haben  dürfte,  wird  aber  auch  beim 
Segelflug  nicht  möglich  sein  ohne  Muskeltonus- 
schwankungen und  unterhalb  der  Schwelle  der 
Wahrnehmbarkeit  liegende  Flügelbewegungen. 
Ein  Fehlen  solcher  Schwankungen  besonders  bei 
dauerndem  Segeln  wie  dem  der  Möven  wäre  der 
physiologischen  Ernährung  des  Muskels  nicht 
günstig;  es  würde  auch  dem  lebhaften  Atmungs- 
bedürfnis des  Vogels  nicht  entsprechen.  Denn 
die  Lungenventilation  wird  beim  Fliegen  und 
Segeln  durch  die  Luftsäcke  des  Vogels  vermittelt, 
die  unter  den  Brustmuskeln,  um  die  Luftröhre,  in 
Brust  und  Bauch  liegen,  deren  Füllungsgrad  von 
Geschwindigkeitsschwankungen  abhängt.  Wegen 
der  unvermeidlichen  Volumenschwankungen  der 
Luftsäcke  müssen  dieselben  in  einem  harmonischen 
Abhängigkeitsverhältnis  zu  den  Flugphasen  stehen. 
Für  Wechsel  von  aktiver  und  passiver  Phase 
spricht  auch,  daß  der  Segelflug  offenbar  aus  dem 
gewöhnlichen,  unnachahmlichen  Vogelflug  phylo- 
genetisch hervorgegangen  ist.  Die  Geschwindig- 
keitsschwankungen des  Segelfluges  relativ  zur 
Luft  zu  beobachten,  wird  aber  dadurch  erschwert, 
daß  eine  Zunahme  des  Gegenwindes  wegen  der 
Flügelwirkung,  die  wohl  sperrzahnähnlich  ist, 
nicht  zu  sichtbaren  Verzögerungen  zu  führen 
braucht,  während  umgekehrt  ein  Gleitflug  durch 
beschleunigende  Wirkung  des  Gefieders  bei  ab- 
nehmendem Gegenwind  und  entsprechender  Flügel- 
haltung so  umgestaltet  oder  verschleiert  werden 
kann,  daß  ein  Verlust  an  äußerer  Lageenergie 
nicht  eintritt  oder  nicht  zur  Wahrnehmung  kommt. 
Über  den  Abhängen  der  Meereswellenberge  ent- 
steht offenbar  ein  stärkerer  Auftrieb  als  über  den 
Tälern.  Wäre  der  Auftrieb  über  Wellenberg  und 
-Tal  gleichmäßig,  so  wäre  nicht  einzusehen,  warum 
ein  Vogel  nicht  relativ  zum  Meeresgrunde  im 
Auftriebe  über  dem  Meere  ohne  zu  rütteln  still- 
stehen kann,  wie  der  Raubvogel  über  dem  Land- 
berge; warum  große  Vögel  nicht  dicht  über  den 
relativ  zu  kleinen  Wellen  größerer  Binnenseen 
geradlinig  segeln.  Das  Land  bietet  an  seiner 
Grenze  gegen  Gewässer,  an  Bodenwellen,  Sand- 
dünen, Bergen  reichlich  Möglichkeit  zu  Wechsel 
der  Auftriebsstärke;  bei  Mangel  daran  schafft 
Kurvensegeln  den  erforderlichen  Geschwindigkeits- 
wechsel relativ  zur  Luft;  Flügelschläge  oder  ein 
Gleitflug  werden  eingelegt.  Ein  Gleitflug  in  be- 
deutender Höhe  wird  oft  nicht  vom  Segeln  zu 
unterscheiden  sein,  z.  B.  beim  Baumfalken.  Der 
künstliche  Rhönsegelflug  ist  auch  nach  Herrn 
Lilien thals  Ansicht  kein  echter  Segelflug. 


68 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5 


Einzelberichte. 


Die  Ursache  dei*  Eiszeit. 


Mannigfache  Hypothesen  über  die  Ursache  der 
Eiszeit  sind  bereits  ausgesprochen  worden,  ist 
doch  dieses  Problem  zweifellos  die  interessanteste 
Aufgabe,  die  uns  die  Erdgeschichte  stellt.  Vielen 
solchen  Erklärungsversuchen  liegen  mehr  oder 
weniger  wahrscheinliche  bzw.  mögliche  kosmische 
Ursachen  zugrunde.  Bald  soll  die  Erdachse  sich 
im  Erdkörper  verschoben  haben,  bald  sollen 
Schwankungen  der  Exzentrizität  der  Erdbahn  in 
periodischem  Wechsel  wärmere  und  kältere 
Epochen  bedingen ;  aber  keine  dieser  verschiedenen 
Ansichten  hat  die  Mehrzahl  der  Forscher  bis  jetzt 
zu  überzeugen  vermocht.  Neuerdings  vertritt 
Nölke^)  die  Ansicht,  die  Eiszeiten  seien  zurück- 
zuführen auf  Durchquerungen  kosmischer  Nebel- 
massen, denen  das  Sonnensystem  bei  seiner  mit 
rund  20  km  Geschwindigkeit  stattfindenden  Be- 
wegung nach  dem  Sternbilde  der  Leyer  begegnet. 
Die  Absorption,  die  dabei  die  Sonnenstrahlen  er- 
fahren, könnte  nach  Nölkes  Meinung  bei  be- 
stimmten Dichtigkeitsverhältnissen  größer  sein  als 
die  durch  den  Aufprall  der  Nebelmassen  auf  die 
Himmelskörper  entstehende  Wärme.  Wenn  N  ö  1  k  e 
den  großen  Orionnebel  für  die  diluviale  Eiszeit 
verantwortlich  macht,  so  übersieht  er,  daß  der 
Apex  der  Sonnenbewegung  nach  den  neuesten 
Bestimmungen  eine  Deklination  von  +30"  bis  35" 
hat,  während  der  Orionnebel  in  — 5"  Deklination 
liegt,  also  durchaus  nicht  mit  dem  Antiapex  zu- 
sammenfällt. Auch  würde  bei  der  von  Berg- 
strand für  den  Orionnebel  gefundenen  Parallaxe 
von  nur  0,008",  der  eine  Entfernung  von  400 
Lichtjahren  entspricht,  die  Eiszeit  schon  7  Mil- 
lionen Jahre  hinter  uns  liegen,  was  sicherlich  viel 
zu  viel  ist.  Uns  scheint  es  auch  gar  nicht  nötig, 
daß  das  kosmische  Gebilde,  dessen  Durchquerung 
die  Eiszeit  bedingte,  sichtbar  sein  muß.  Im  Gegen- 
teil ist  es  wahrscheinlicher,  daß  es  zur  Gruppe 
der  unsichtbaren,  sich  eventuell  nur  durch  Ab- 
sorption des  Lichtes  schwächster,  dahinter  stehen- 
der Sterne  bemerkbar  machender  Nebelmassen 
gehört,  auf  deren  Existenz  jüngst  wieder  Hagen 
aufmerksam  gemacht  hat. 

Die  nur  auf  der  südlichen  Erdhalbkugel  nach- 
gewiesene permische  Eiszeit  könnte  verursacht 
gewesen  sein  durch  einen  Nebel  von  etwas  größerer 
Dichte,  so  daß  die  bei  der  Durchquerung  in  der 
Richtung  des  Apex  vorangehende,  nördliche  Erd- 
hälfte  infolge  des  Aufpralls  der  Nebelmaterie  er- 
höhte oder  wenigstens  nicht  verminderte  Tempe- 
ratur angenommen  hätte,  während  auf  der  Süd- 
halbkugel, wo  nur  die  Absorption  des  Sonnen- 
lichts zur  Wirkung  kam,  starke  Abkühlung  ein- 
getreten wäre.  Sogar  das  auffällige,  durch  Fehlen 
der  Jahresringe  der  Ilolzgewächse  angezeigte  Vor- 
kommen tropischer  Vegetationen  auf  Spitzbergen 

')  Siehe  „Die  Naturwissenscliaftea"  1921,  Hell  42. 


in  früheren  geologischen  Epochen  könnte  mit  der 
erwärmenden  Wirkung  dichterer  kosmischer 
Massen  auf  der  bei  der  Bewegung  des  Sonnen- 
systems vorangehenden,  nördlichen  Halbkugel  der 
Erde  in  Verbindung  gebracht  werden. 

Die  Wasserstoffschicht,  die  nach  unserem 
gegenwärtigen  Wissen  unsere  Stickstoffatmosphäre 
von  etwa  80  km  Höhe  ab  überlagert,  könnte  nach 
Nölkes  Meinung  sehr  wohl  aus  dem  Nebel, 
durch  den  unser  Planet  einst  hindurchgegangen 
ist,  entnommen  sein,  ebenso  auch  die  von  230  km 
Höhe  ab  nach  Wegen  er  vorhandene  Geo- 
coroniumhülle,  in  der  sich  gewisse  Polarlicht- 
erscheinungen abspielen.  Kbr. 

Ein  neues  Bnitvorkomnien  der  Bartnieise  in 
Beutsclilaud. 

Die  Bartmeise,  Panurus  biarmicus  L. ,  deren 
Verbreitungsgebiet  Reichenow  in  seinen  „Kenn- 
zeichen der  Vögel  Deutschlands"  (Neudamm  1902, 
116)  knapp,  aber  klar  mit  den  Worten  umschreibt: 
„Brütet  in  Holland,  England,  im  südlichen  Europa 
und  Kleinasien",  ist  früher  vereinzelt  auch  in 
Deutschland  brütend  nachgewiesen  worden,  in 
den  letzten  Jahrzehnten  aber,  obwohl  ihr  Vor- 
kommen auch  in  anderen  ausgedehnteren  Rohr- 
gebieten nicht  ganz  unwahrscheinlich  erschien, 
als  wahrscheinlicher  Brutvogel  nur  noch  bei  Danzig 
beobachtet  worden.  Im  verflossenen  Sommer  ist 
es  dem  als  zuverlässigen  Ornithologen  geschätzten 
Pfarrer  Dr.  Fr.  Lindner  in  Quedlinburg  ge- 
lungen, auf  dem  Madüsee  in  Pommern,  dem  zweit- 
größten See  dieser  Provinz,  das  zweite  Brutvor- 
kommen der  Art  in  unserem  Vaterlande  nachzu- 
weisen. Über  die  Auffindung  der  Meise  an  dem 
neuen  Vorkommen  berichtet  ihr  Entdecker  aus- 
führlich in  der  Ornithol.  Monatsschrift  (46,  1921, 
149  — 155),  aus  der  hier  das  Folgende  hervorge- 
hoben sei.  Nachdem  bereits  bei  einem  im  ver- 
gangenen Jahre  erfolgten  Besuche  des  Sees  das 
Vorkommen  des  Vogels  vermutet  worden  war, 
sein  Nachweis  aber  nicht  gelang,  war  dieser  in 
einer  überraschend  glänzenden  Weise  in  der  ver- 
flossenen Brutsaison  möglich.  Bei  einem  Ein- 
dringen in  das  schwer  zugängliche  Rohr  des  See- 
gebietes am  30.  Juni  wurden  drei  jüngere  Vögel: 
2  $5  und  I  (J  gesichtet  und  längere  Zeit  hin- 
durch beobachtet;  Vögel,  die  nur  an  Ort  und 
Stelle  erbrütet  sein  konnten.  Wenige  Tage  später, 
am  10.  Juli,  wurden  durch  die  Herren  Besch 
und  R ob ien  Stettin,  die  von  Dr.  Lindner  auf 
das  Vorkommen  aufmerksam  gemacht  worden 
waren,  neben  einem  Nest  mit  5  Jungen  noch  zwei 
Gesellschaften  flügger  Junger  und  mehrere  Alte, 
im  ganzen  30  Vögel,  festgestellt.  —  Die  Auffindung 
der  Bartmeise  in  Pommern  ist  zugleich  auch  die 
erste  sichere  Beobachtung  der  Art  wieder  in  der  Pro- 
vinz seit  84  Jahren.  Sie  wird  aus  den  Jahren  1826 
von  Greifswald  und   1833  aus  der  Nähe  von  Müg- 


N.  F.  XXL  Nr.  § 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


69 


genhall  in  -den  (ungedruckten)  ornithologischen 
Tagebüchern  des  ehemaligen  Konservators  Dr. 
N.  Schilling  Greifs wald  erwähnt  und  ist  dann 
in  dem  von  ihm  zusammen  mit  Hornschuch 
herausgegebenen  „Verzeichnis  der  in  Pommern 
vorkommenden  Vögel"  (Greifswald  1837)  nur  ganz 
allgemein  als  seltener  Zugvogel  aufgeführt.  In 
seiner  „Systematischen  Übersicht  der  Vögel  Pom- 
merns" (Anklam  1837)  erwähnt  E.  F.  v.  Hoh- 
meyer  die  Beobachtung  einer  kleinen  Gesell- 
schaft im  Herbst  1835  bei  Uckermünde  und  be- 
richtet im  I.  Nachtrag  zu  seiner  Übersicht  (1841) 
von  der  Sichtung  einer  Familie  nochmals  an  der 
gleichen  Stelle.  Ein  von  ihm  erwähntes  Beleg- 
stück im  Zoologischen  Museum  zu  Greifswald  ist 
nach  dem  Katalog  des  Museums  mit  noch  einem 
zweiten,  einige  Monate  später  eingegangenen  1829 
bei  Greifswald  selbst  erbeutet  worden.  Ein  noch 
jetzt  im  Museum  befindliches  Stück  trägt  eben- 
falls die  Bezeichnung  Greifswald,  ist  aber  sonst 
mit  keinerlei  weiteren  Angaben  über  die  Herkunft 
und  die  Zeit  der  Erbeutung  versehen. 

Rud.  Zimmermann. 


Zur  Biologie  der  Pfeilwürmer. 

P.  van  Oye^)  erwähnt  aus  dem  Javameer  vier 
Gattungen  und  18  Arten  von  Chätognathen,  dar- 
unter I  Gattung  und  6  Arten  als  neu.  Es  wur- 
den mit  großen  Planktonnetzen  mehr  Chäto- 
gnathen gefangen  als  mit  kleinen,  was  in  metho- 
discher Hinsicht  Beachtung  verdient  und  auf 
dem  Seh-  und  schnellen  Schwimmvermögen  der 
Tiere  beruhen  dürfte.  Die  Ernährung  besteht  — 
was  nicht  ganz  neu  ist  —  meist  aus  Kopepoden 
und  aus  anderen  Chätognathen.  Die  Beute  wird 
von  den  großen,  am  Kopf  stehenden  Greifhaken, 
deren  jeder  für  sich  beweglich  ist,  ergriffen,  von 
den  Kiefern  aber  nur  mundgerecht  gemacht,  in 
den  sich  trichterförmig  öffnenden  Mund  hinein- 
geschoben und  im  Magen  bis  auf  die  Hartgebilde 
verdaut.  Ihrerseits  dienen  die  Chätognathen 
Medusen  und  Fischen  zur  Nahrung.  Auf  Chäto- 
gnathen fanden  sich  nicht  selten  peritriche  Ciliaten 
als  Parasiten.  V.  Franz,  Jena. 


Die  Konstitntion  des  Cyanwasserstoffs. 

Trotz  der  vielfachen  Verwendung,  die  der 
Cyanwasserstoff  (Blausäure)  zu  theoretisch  und 
praktisch  wichtigen  Untersuchungen  und  Arbeiten 
findet,  trotz  der  Unzahl  von  Derivaten,  in  denen 
sein  Strukiurbild  mehr  oder  weniger  verändert 
vorliegt,  ist  man  sich  über  die  Formulierung  dieses 
Stoffes  im  Sinne  der  Strukturchemie  nicht  emig. 
Rein  formal  besteht  die  Möglichkeit,  die  Verbin- 
dung HCN  in  den  beiden  Formeln  H  —  N  =  C  und 
H  —  C^N  wiederzugeben.    Nach  der  ersten  wäre 

')  P.  van  Oye,  Untersuchungen  über  die  Chätognathen 
des  Javameers.  In :  Contributions  ii  la  Faune  des  Indes  neer- 
landaises.     Buitenzorg   1918. 


Cyanwasserstoff  ein  Abkömmling  des  Ammoniaks, 
nämlich  Carbylamin  oder  Iso-nitril.  Nach  der 
zweiten  Auffassung  wäre  er  das  Nitril  der  ein- 
fachsten Carbonsäure,  der  Ameisensäure,  also 
Formonitril.  Beide  Auffassungen  haben  ihre  ex- 
perimentelle Begründung  und  dementsprechend 
ihre  Vertreter  unter  den  Chemikern  gefunden.  So 
betrachten,  ohne  daß  dies  im  einzelnen  erläutert 
sei,  Nef  und  Lemoult  den  freien  Cyanwasser- 
stoff als  Isonitril,  Gautier  und  Brühl  den 
gleichen  Stoff  als  Formonitril.  Wade  hinwieder- 
um erkennt  die  Nitrilform  zwar  der  freien  Blau- 
säure, den  Salzen  jedoch  die  Isonitrilform  zu. 
Ähnlich  zweideutig  erscheint  der  Stoff  auf  Grund 
der  Untersuchungen  von  Guillemard  und  von 
Auger.  Und  schon  1885  wandte  K.  Laar  seine 
bekannte  Oszillationshypothese  auf  die  Blausäure 
an,  um  ihr  zwiefaltiges  Verhalten  zu  deuten.  In 
der  freien  Säure  sollte  der  Wasserstoff  von  N 
nach  C  schwingen,  so  daß  je  nach  den  Reaktions- 
bedingungen bald  die  eine,  bald  die  andere  Form 
die  vorherrschend  wirksame  sein  könne.  So  ein- 
fach die  Erklärung  erscheint,  so  ist  sie,  da  sie  in 
den  meisten  analogen  Fällen  versagte,  doch  ver- 
lassen worden.  Statt  dessen  hielt  man  die  freie 
Säure  für  ein  allelotropes  Gemenge  beider  For- 
men, wie  in  entsprechender  Weise  zahlreiche 
andere  Beispiele  bekannt  wurden.  ')  Über  die 
Mengenanteile  der  miteinander  im  Gleichgewicht 
angenommenen  Formen  war  jedoch  nichts  aus- 
zusagen. In  chemischen  Umsetzungen  war,  das 
lehrten  die  genannten  Forschungsergebnisse,  ein 
einwandfreies  Kriterium  hierfür  nicht  zu  erblicken. 
Ja,  es  entbehrt  nicht  der  Komik,  daß  aus  der 
elektrolytischen  Leitfähigkeit  des  wenig  disso- 
ziierten Quecksilbercyanides  Kieseritzki  auf 
die  Isonitril-,  Ley  im  strikten  Gegensatz  auf  die 
Nitrilform  schließt! 

Kurt  H.  Meyer,  dem  mehrere  für  das  Ver- 
ständnis der  tautomeren  Stoffe  förderliche  Arbeiten 
zu  danken  sind,  hat  nun  in  Gemeinschaft  mit 
H.  Hop  ff  die  Frage  nach  der  Konstitution  des 
freien  Cyanwasserstoffs  erneut  angeschnitten.  -) 
Unter  gewissen  Vorsichtsmaßregeln  gelingt  es  be- 
kanntlich, tautomere  Substanzen  aus  ihrer  gegen- 
seitigen Mischung  zu  isolieren  und  sie  so  wenig- 
stens vorübergehend  frei  von  der  anderen  Form, 
mit  der  sie  in  Gleichgewicht  stehen,  zu  erhalten. 
Ein  Weg  hierzu  ist  die  fraktionierte  Destillation. 
Auf  Grund  analoger  Verhältnisse  war  zu  erwarten, 
daß  hierbei  zunächst  das  leichter  flüchtige  Iso- 
nitril destillieren  würde.  Aus  einer  Änderung 
des  Brechungsindex  der  einzelnen  übergehenden 
Fraktionen  hätte  sich  also  eindeutig  die  An- 
reicherung der  einen  Form  erkennen  lassen.  Der 
Versuch  ließ  aber  nicht  die  geringste  Änderung 
des  Brechungsindex  erkennen.  Man  muß  also, 
bei  der   Schärfe    dieses   Reagenz,   schließen,   daß 

')  Vgl.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XX,  S.  672,   1921. 

^)  Bcr.  d.  d.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.  1709,  1921.  Da- 
selbst Angabe  der  sämtlichen  bisherigen  Arbeiten  in  der  Lite- 
ratur. 


70 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XXI.  Nr.  s 


Blausäure  keinesfalls  ein  Gemisch  zweier 
Tautomeren  sei,  die  sich  mit  meßbarer  Geschwin- 
digkeit ineinander  umlagern.  Auch  eine  sehr 
hohe  Umlagerungsgeschwindigkeit  kommt  nicht 
in  Frage,  denn  Meyer  und  Hopff  fanden  weiter, 
daß  flüssige  und  gasförmige  Blausäure  die  gleiche 
Molekularrefraktion  besitzen,  was  andernfalls  aus- 
geschlossen ist.  Endlich  läßt  sich  die  Molekular- 
refraktion der  beiden  Formen  berechnen.  Ver- 
gleicht man  sie  mit  der  experimentell  gefundenen 
(MD  =  6,48),    so    ergibt    sich    eine    hinreichende 


Übereinstimmung  nur  für  die  Nitrilform ,  für  die 
sich  der  Wert  6,52  berechnet. 

In  Übereinstimmung  hiermit  führt  auch  eine 
thermochemische  Betrachtung  die  beiden  Verf. 
zu  dem  Ergebnis,  daß  freier  Cyanwasserstoff  im 
wesentlichen  Formonitril  mit  einer  geringen 
Beimengung  von  Carbylamin  ist. 

Läßt  sich  dieser  Befund  erhärten,  so  würde 
sich  die  physiologische  Wirksamkeit  der  Blausäure 
allerdings   in   bemerkenswertem   Licht    darstellen. 

H.  Heller. 


Bücherbesprechuagen. 


Helmholtz,  H.  V.,  Schriften  zur  Erkenntnis- 
theorie. Hrsg.  und  erläutert  von  Paul  Hertz 
und  Moritz  Schlick.  Berlin  1921,  Springer. 
Die  Herausgabe  dieses  Werkes,  das  die  Heraus- 
geber „dem  Andenken  an  Hermann  v.  Helmholtz 
zur  Jahrhundertfeier  seines  Geburtstags"  gewidmet 
und  womit  sie  diesem  für  die  Geistesgeschichte  der 
Menschheit  so  bedeutsamen  Tage  das  schönste 
Denkmal  errichtet  haben,  ist  nicht  nur  in  diesem 
Sinne  ein  großes  Verdienst,  sondern  entspricht 
wirklich  einem  wissenschaftlichen  Bedürfnis,  wenn 
ich  diesen  etwas  reichlich  mißbrauchten  Terminus 
auch  einmal  in  wirklich  zutreffender  Weise  an- 
wenden darf.  Denn  dieses  Buch  bietet  zum  ersten 
Male  eine  in  sich  geschlossene  Gesamtdarstellung 
der  Erkenntnistheorie  Helmholtz'  und  zwar 
eine  keineswegs  subjektiv  gefärbte  Darstellung, 
an  denen  ja  gerade  kein  Mangel  herrscht,  sondern 
eine  insofern  denkbar  objektive,  als  sie  Helm- 
holtz' Lehre  von  diesem  selbst  darstellen  lassen! 
Die  Herausgeber  haben  sich  eben  die  Aufgabe 
gestellt,  Helmholtz'  in  Frage  kommenden  Ab- 
handlungen in  solcher  Auswahl  vorzulegen,  daß 
eben  dieses  einheitliche  Gesamtbild  entsteht,  ein 
bei  der  Zerstreuung  zwar  nicht  der  Hauptschriften 
Helmholtz'  zur  Erkenntnistheorie,  wohl  aber  der 
vielen  wichtigen  ebenfalls  hierhin  gehörigen  Be- 
merkungen in  den  anderen  Abhandlungen  keines- 
wegs leichtes  Unternehmen.  Die  Herausgeber 
haben  aber  diese  Aufgabe  mit  großem  Geschick 
in  der  Weise  gelöst,  daß  sie  dem  wörtlichen 
Abdruck  der  Hauptschriften  reiche  Anmerkungen 
haben  folgen  lassen ,  die  abgesehen  von  ihrer 
kommentariellen  Bedeutung  eben  alle  jene  ge- 
legentlichen Bemerkungen  von  Helmholtz 
gründlich  verwerten.  Besonders  wertvoll  an  diesen 
Anmerkungen  ist  auch  das  ständige  Fühlung- 
bewahren mit  den  modernen  Problemen  der  Er- 
kenntnistheorie der  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaften. 

Hoffentlich  hat  diese  meisterliche  redaktionelle 
Arbeit  nur  nicht  die  Wirkung,  daß  manche  ihrer 
Leser  die  Lektüre  der  Originalwerke  Helmholtz', 
besonders  der  zu  den  klassischen  Hausbüchern 
des  modernen  Gebildeten  gehörenden  „Vorträge 
und  Reden",  fortan  für  überflüssig  halten.    Hoffent- 


lich dient  diese  Neuausgabe  vielmehr  dazu,  die 
Kenntnis  jener  herrlichen  Bücher  noch  mehr  zu 
verbreiten.  Das  wäre  der  schönste  Dienst,  den 
sie  der  Erinnerung  an  Helmholtz  leisten  könnte. 

Noch  eine  weitere  Wirkung  wünsche  ich  dem 
vorliegenden  Buche,  die  nämlich,  daß  recht  viele, 
die  Helmholtz'  Erkenntnistheorie  bisher  nur 
aus  der  flüchtigen  Darstellung  kennen,  die  sie 
in  den  gebräuchlichen  Lehrbüchern  der  Geschichte 
der  Philosophie  gefunden  hat,  erkennen  möchten, 
wie  wenig  diese  Darstellungen,  die  Helmholtz' 
Lehre  viel  zu  psychologisch  schildern,  in  die 
Tiefe  gegangen  sind.  Das  psychologische,  ge- 
nauer physiologisch-physikalische  Element  ist  nur 
die  äußere  Form  der  Helmholtz'schen  Lehren, 
die  sich  sehr  einfach  daraus  erklärt,  daß  Helm- 
holtz der  bisher  bedeutendste  Erforscher  jener 
Probleme  war,  die  mit  gleichem  Recht  in  drei 
Wissenschaften,  Physik,  Physiologie  und  Psycho- 
logie grundlegend  sind.  Im  Grunde  ist  Helm- 
holtz' Erkenntnistheorie  ebensowenig  psycho- 
logistisch  fundiert  wie  etwa  die  Lehre  Kants, 
deren  Problemen  Helmholtz  wieder  einer  der 
ersten  Wegbereiter  im  Neukantianismus  war. 

Nicht  unwidersprochen  möchte  ich  die  Meinung 
der  Herausgeber  lassen,  daß  Helmholtz  in 
seinen  nicht  erkenntnisheoretischen  Werken,  seinen 
Hauptleistungen  also,  für  uns  nur  noch  mehr 
historische  Bedeutung  habe.  Mir  will  es  so 
scheinen,  als  ob  die  modernen  Probleme  der 
Physik,  wie  sie  sich  in  erster  Linie  um  die  Re- 
lativitätstheorie gruppieren,  zurzeit  mehr  durch 
eine  Betonung  des  Gemeinsamen  mit  der 
„klassischen  Physik"  gefördert  werden  können  als 
durch  die  reichlich  unhistorisch  gedachte,  ewige 
Betonung  des  Gegensätzlichen.  Und  dann  ist 
auch  der  Physiker  Helmholtz  auch  heute  noch 
eine  keineswegs  bloß  historische  Größe. 

A.  Meyer. 

Lipps,  G.  F.,  Grundriß  der  Psychophy sik. 
Mit  6  Zeichnungen.  Dritte,  neubearbeitete  Auf- 
lage. Berlin  und  Leipzig,  Vereinigung  wissen- 
schaftlicher Verleger,  Walter  de  Gruyter  &  Co. 
Sammlung  Göschen  Nr.  98. 
Dieses  Buch,  das  jetzt  in  3.,   weitgehend  um- 


N.  F.  XXI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


7* 


gearbeiteter  Auflage  vorliegt,  hat  sich  bereits  in 
seinen  früheren  Auflagen  als  eine  ebenso  kurze, 
wie  gründliche  Einführung  in  denjenigen  Teil  der 
Psychologie  bewährt,  den  man  mit  James  als 
„naturwissenschaftliche  Psychologie"  bezeichnen 
kann  und  den  Fechner  bekanntlich  Psychophysik 
genannt  hatte.  Es  erübrigt  sich  daher,  der  neuen 
Auflage  besondere  Empfehlungen  mit  auf  den 
Weg  zu  geben.  Möge  sie  ebenso  wie  ihre  Vor- 
gängerinnen dazu  beitragen,  klare  Begriffe  und 
gründliche  Kenntnisse  in  demjenigen  Teile  der 
in  prinzipieller  Hinsicht  so  viel  mißhandelten 
Psychologie  zu  verbreiten,  der  wegen  der  Exakt- 
heit seiner  Methoden  und  der  Objektivität  seiner 
Ergebnisse  noch  am  ehesten  als  Wissenschaft  in 
dem  strengen  Sinne  Kants  auftreten  kann. 

Als  ganz  besonders  klar  und  lichtvoll  sind  uns 
Lipps  kurze  Darlegungen  erschienen  über  „das 
psychische  Maß  und  die  psychophysischen  Maß- 
methoden", demjenigen  Gebiet,  auf  dem  Lipps 
ganz  besonders  als  Autorität  gelten  kann,  sowie 
seine  daraus  folgenden  Ausführungen  über  „Ord- 
nen und  Messen"  psychologischer  Phänomene, 
einem  Gebiete ,  auf  dem  von  Philosophen  und 
doktrinären  Naturforschern  bekanntlich  sehr  viel 
Verwirrung  angerichtet  worden  ist. 

Wir  wünschen  dem  treflflichen  Büchlein  auch 
weiterhin  gute  Wirkungen.  Adolf  Meyer. 


Geitler,  J.,    Elektromagnetische  Schwin- 
gungen   und    Wellen.     „Die  Wissenschaft" 
Band  6.      Zweite,   vermehrte   Auflage.     2i8  S. 
mit     HO    Abbildungen.       Braunschweig     1921, 
F.  Vieweg  &  Sohn.  —  Geh.  30  M. 
Es  ist  sehr  zu  begrüßen,  daß  die  Herausgabe 
der    vorliegenden    Neuauflage    Gelegenheit    gibt, 
weitere  Kreise  auf  diese  erstmalig  im  Jahre   1905 
erschienene  vortreffliche  Monographie  nachdrück- 
lichst hinzuweisen.    Ein  besonderer  Vorzug  dieser 
klaren,  alle  wesentlichen  prinzipiellen  Fragen  mit 
großer  Sorgfalt  und  Vollständigkeit  behandelnden 
Übersicht  über  das  theoretisch    und  praktisch  be- 
deutungsvolle    Gebiet      der     elektromagnetischen 
Schwingungen    ist   die   scharfe  Hervorhebung  der 
historischen  Entwicklung  und  die  unübertreffliche 
Herausarbeitung  der  großen  das  Gebiet  der  Nieder- 
frequenzen   und    die    übrige  Optik    verknüpfenden 
allgemeinen  physikalischen  Gesichtspunkte. 

Die  Schrift  beginnt  mit  einer  kurzen  Betrach- 
tung der  alten  Vorstellung  einer  unmittelbaren 
Fernwirkung  und  zeigt  dann  sehr  eingehend,  wie 
die  Theorie  der  vermittelten  Fernwirkungen  von 
Far ad ay  begründet,  von  Maxwell  vertieft  und 
schließlich  von  Hertz  experimentell  verifiziert 
worden  ist.  Etwa  den  gleichen  Raum  nimmt  die 
systematische  Darstellung  der  weiteren  Entwick- 
lung ein,  die  in  den  drei  Abschnitten  i.  die  elek- 
tromagnetischen Wellen  und  die  Optik,  2.  die 
Ausbreitung  der  elektromagnetischen  Strahlung, 
3.  Verfahren  zur  Erzeugung  und  Beobachtung 
elektromagnetischer  Wellen  gegeben  wird.  Die 
Neuauflage    berücksichtigt    hier    in    theoretischer 


Hinsicht  insbesondere  die  Bedeutung  des  Quanten- 
begriffs in  der  Strahlungstheorie,  und  in  prakti- 
scher Hinsicht  sind  die  wichtigen  neuen  Verfahren 
der  Erzeugung  und  Verwertung  ungedämpfter 
Schwingungen  aufgenommen  worden.  Im  letzteren 
Fall  wäre  vielleicht  etwas  größere  Ausführlichkeit 
zu  wünschen. 

Die  mustergültige  allgemeinverständliche  Dar- 
stellung ist  in  gleicher  Weise  sowohl  zur  Ein- 
führung in  den  Gegenstand  als  zur  Vertiefung 
früherer  Kenntnis  bestens  geeignet. 

A.  Becker. 

Das  Tierreich.  IV.  Fische.  Von  Prof.  Dr.  Max 
R  a  u  t  h  e  r ,  Konservator  a.  d.  Württ.  Naturalien- 
sammlung.    Zweite,  umgearbeitete  Auflage.    Mit 

42  Abbildungen.  Sammlung  Göschen  Nr.  356. 
Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger  Walter 
de  Gruyter  &  Co.  Berlin  W  10  und  Leipzig 
192 1.     Preis  6  M. 

Ein  ausgezeichnetes  Nachschlagewerkchen  zur 
raschen  verhältnismäßig  genauen  Orientierung 
über  den  Körperbau  der  Fische,  über  ihr  System 
—  für  die  Teleostier  wurde  Boulenger  zu- 
grunde gelegt  —  und  über  die  Kennzeichen  der 
allermeisten  bekannteren  Arten  und  selbst  Varie- 
täten, sowie  über  die  Hauptzüge  in  ihren  Lebens- 
verrichtungen. Nur  durch  ausgiebige  Verwendung 
von  Kleindruck  und  sehr  knappen  Stil  war  es 
möglich,  diesen  umfangreichen  Stoff  auf  144  Klein- 
oktavseiten zu  bewältigen.  Wie  gesagt,  wird  das 
Büchlein  als  Nachschlagewerk  selten  versagen, 
außer  allerdings  bei  Zierfischen  der  heutigen 
Aquariumliebhaberei;  diese  kommen  sehr  kurz 
weg,  ja  bleiben  großenteils  unerwähnt.  Wer  also 
von  dieser  Seite  den  Fischen  nähergetreten  ist 
und  weiterhin  nähertreten  will,  kann  demnach 
an  Hand  des  Rauth  ersehen  Büchleins  seine 
Kenntnisse  nur  in  allgemeinere  einordnen.  Wer 
sich  über  die  deutsche  oder  über  die  bekannteste 
Meeres  -  Uschfauna  unterrichten  will,  wird  das 
Büchlein  mit  Nutzen  verwenden.  'J 

V.  Franz. 

Study,  E.,  Denken  und  Darstellung.  Logik 
und  Werte,  Dingliches  und  Menschliches  in 
Mathematik  und  Naturwissenschaft.  Sammlung 
Vieweg  (Tagesfragen  aus  den  Gebieten  der 
Naturwissenschaft  und  Technik)  Heft  59,    192 1. 

43  S.     8».     3  20  M. 

Der  Verf.  wünscht  bei  allen  Lehrern  natur- 
wissenschaftlicher P'ächer  ein  gründliches  Studium 
der  Differential-  und  Integralrechnung,    damit  das 


')  Für  einen  Neudruck  sei  empfohlen ,  das  Vorderhim 
der  Fische  den  neuen  Anschauungen  entsprechend  darzustellen, 
sowie  Amphioxides  zu  streichen,  da  letztere  1905  aufgestellte 
Gattung  ein  Jahr  später  von  ihrem  Autor  selber  zurückgezogen 
worden  ist.  Dagegen  wäre  die  Gattung  Asymmetron  zu  nennen. 
Diese  Ausstellungen  werden  dem  Ref.  nur  dadurch  nahegelegt, 
daß  sie  in  von  ihm  selber  bearbeitete  Gebiete  fallen.  Die 
gewünschten  Berichtigungen  aber  würden  gerade  solche  Punkte 
betreffen,  die  der  Aufmerksamkeit  jedes  Lesers  sicher  sein 
würden. 


72 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr. 


eiforderliche  Gefühl  erweckt  werde  für  die  Not- 
wendigkeit genauen  Ausdrucks,  und  das  Zutrauen 
in  die  Zuverlässigkeit  längerer  Schlußketten  sich 
stärke.  Er  verurteilt  die  Abkehr  von  Theorie  und 
„Spekulation"  ebenso  sehr  wie  oberflächliche, 
widerspruchsvolle  Theorien.  Zu  letzteren  rechnet 
er  den  Lamarekismus  und  die  Kritik  der  Selek- 
tionstheorie. Er  wünscht  sich  die  biologischen 
Disziplinen  nicht  als  beschreibende  und  begrüßt 
um  so  mehr  exakte  Physiologie  und  Erblichkeits- 
lehre. Darwins  Abneigung,  zu  polemisieren, 
habe  die  Wirkung  seiner  Gedanken  sehr  beein- 
trächtigt. Der  Vitalismus  überkleistere  Denk- 
lücken mit  leeren  Worten.  In  zahlreichen  Fällen 
sei  eine  Nachprüfung  vorhandener  Lehren  nötig. 
Gleichwohl  müssen  in  der  Naturwissenschaft  eben- 
sowenig wie  in  der  Mathematik  alle  Schlußketten 
in  ihre  letzten  Elemente  aufgelöst  werden. 

V.  Franz,  Jena. 


Planck,  M.,  Die  Entstehung  und  bisherige 
Entwicklung     der     Quantentheorie. 
Nobel  -  Vortrag     gehalten     vor     der     Königlich 
Schwedischen  Akad.  d.  Wiss.  zu  Stockholm  am 
2.  Juni  1920.     32   Seiten.     Leipzig    1920,   J.  A. 
Barth.     Geh.  4  M. 
Wer  sich  über  das  Wesen  und  die  Bedeutung 
der    Quantentheorie    zuverlässig    orientieren    will, 
wird    den    Abdruck    des  Planckschen  Nobelvor- 
trags ganz    besonders    begrüßen.      Der  Begründer 
dieser  Theorie    gibt   hier   einen   unübertrefflichen 
knappen    und    doch    durchweg    klaren    Überblick 
über  die  Entwicklung  seiner  theoretischen  Unter- 
suchungen, den  mühevollen  Weg,  auf  dem  er  mit 
der  Einführung  des  Energiequantums   die  Grund- 
lagen der  Quantentheorie  gelegt  hat,  und  den  ge- 
waltigen   Einfluß    der    neuen    Erkenntnis    auf   die 
gesamte    gegenwärtige    physikalische    Forschung. 

A.  Becker. 


Anregungen  und  Antworten. 


In  Nr.  43  der  Naturw.  Wochenschrift  1921  erwähnt 
H.  Kranichfeld  in  seinem  hochinteressanten  Aufsatz  über 
fremddienliche  Zweckmäßigkeit  die  Trunksucht  der  Grau- 
bündner.  Ich  bin  Ostpreuße  und  lebe  seit  über  21  Jahren  in 
Graubünden  und  habe  das  Land  nach  allen  Richtungen  hin 
durchstreift.  Ich  habe  die  Bündner  als  ruhige,  nüchtern  ab- 
wägende, dem  Fremden  gegenüber  etwas  verschlossene  Men- 
schen kennen  gelernt.  Nie  habe  ich  einen  betrunkenen  Bündner 
gesehen.  Man  schätzt  ganz  gewiß  den  herben  und  doch  feu- 
rigen Veltliner  Wein,  der  hier  in  der  Gebirgswelt  seine  besten 
Eigenschaften  entfaltet;  man  trinkt  ihn,  aber  man  säuft  ihn 
nicht.  Es  wäre  gewiß  interessant  zu  erfahren,  auf  welche 
Beobachtungen  Herr  Kranichfeld  seine  Behauptung  stützt. 
Dr.  Otto  Suchlandt. 


Lauterzeugung  bei  einem  Krebs.  Ein  Geräusch ,  sehr 
ähnlich  dem,  das  bei  dem  Herausziehen  eines  Stöpsels  aus 
einer  Flasche  entsteht,  habe  ich  an  der  Küste  der  Provinz 
St.  Catharina  (Südbrasilien)  gehört.  Es  wurde  hervorgebracht 
von  einem  Vertreter  der  Gattung  Alpheus ,  der  dort  an  den 
Felsen  unter  Schwämmen,  Bryozoen  usw.  verborgen  lebte. 
Es  kam  dadurch  zustande,  daß  der  bewegliche  Finger  der 
großen  Schere  einen  zylindrischen  Fortsatz  besaß,  der  genau 
in  eine  Grube  des  unbeweglichen  Fingers  paßte.  Wurde  die 
Schere  geöffnet,  der  Fortsatz  aus  der  Grube  gezogen,  so  ent- 
stand das  Geräusch,  das  also  ganz  in  der  gleichen  Weise  zu- 
stande kam,  wie  das  beim  Offnen  einer  Flasche. 

G.  W.  Müller. 


Literatur. 

Thirriug,  Hans,  Die  Idee  der  Relativitätstheorie.  Ber- 
in  '21,  Julius  Springer.     24  M. 

Pauli,  W.  jun.,  Relativitätstheorie.  Leipzig-Berlin  '21, 
B.  G.  Teubner.     40  M.,   geb.   50  M. 

Lenard,  Prof.  Dr.  Ph.,  Über  Äther  und  Uräther.  Leip- 
zig '21,  S.  Hirzel.     9  M. 

Mie,  Prof.  Gustav,  Die  Einsteinsche  Gravitationstheorie. 
Leipzig  '21,  S.  Hirzel.     7  M. 

Sammlung  Göschen:  Bauer,  Prof.  Dr.  Hugo,  Geschichte 
der  Chemie  I/II.  Berlin  und  Leipzig  '21,  Vereinigung  wissen- 
schaftlicher Verleger. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig -Berlin  '21,  B.  G. 
Teubner. 

675:  Nienburg,  W.,  Pilz  und  Flechten. 
720:  Ziegler,  K.  und   Oppenheim,  S.,  Weltunter- 
gang in  Sage  und   Wissenschaft. 
Mathematisch-physikalische    Bibliothek    Band    8:    Meth, 
Paul,  Theorie  der  Planetcnbewegung.     Leipzig  und  Berlin '21, 
B.  G.  Teubner.     Kart.  5   M. 


Cloos,  Dr.  H.  und  Meister,  Dr.  E.,  Bau  und  Boden- 
schätze Osteuropas.  Leipzig  und  Berlin  21'  B.  G.  Teubner. 
Kart.  30  M. 

Kultur  und  Welt:  Brehm,  Alfred,  Kleine  Schriften. 
Leipzig  '21,  Bibliographisches  Institut.     Geb.  37  M. 

Linck,  Prof.  Dr.  G.,  Tabellen  zur  Gesteinskunde,  5.  Aufl. 
Jena  '21,   Gustav  Fischer.      15  M. 

Parek,  Oskar,  Urgeschichte  Württembergs.  .Stuttgart 
'21,  Strecker  &  Schröder.     22  M.,  geb.  30  M. 

Wissenschaft  und  Bildung:  Lehmann,  Richard,  Geo- 
graphische Beobachtungen.  Leipzig  '21,  Quelle  &  Meyer. 
Geb.    10  M. 

Herlwig,  Oscar,  Zur  Abwehr  des  ethischen,  des  sozia- 
len, des  politischen  Darwinismus.  2.  Aufl.  Jena  '21,  Gustav 
Fischer.      14  M. 

Vannino,  Prof.  Dr.  Ludwig,  Handbuch  der  präpara- 
tiven  Chemie.  I.  Band :  Anorganischer  Teil.  2.,  vielfach  ver- 
mehrte Auflage.     Stuttgart  '21,   Ferdinand  Enke.     140  M. 

V.  Lippmann,  Prof.  Dr.  Edmund  O.,  Zeittafeln  zur 
Geschichte  der  organischen  Chemie.  Berlin '21,  Julius  Springer. 
181   M. 


Illlinlt:  A.  Meyer,  Die  logische  Stellung  der  Biologie  im  System  der  Wissenschaften.  S.  57.  W.  Fr  ö  lieh,  .Segelflug 
und  fliegende  Fische.  S.  64.  —  Einzelberichte:  Nölke,  Die  Ursache  der  Eiszeit.  S.  68.  Kr.  Lindner,  Ein  neues 
Brutvorkommen  der  Bartmeise  in  Deutschland.  S.  68.  P.  van  Oye,  Zur  Biologie  der  Pfeilwürmer.  S.  69.  K.  H. 
Meyer  und  H.  Hop  ff,  Die  Konstitution  des  Cyanwasserstoffs.  S.  69.  —  Bücherbesprechungen:  H.  v.  Helm- 
holtz,  Schriften  zur  Erkenntnistheorie.  S.  70.  G.  F.  Lipps,  Grundriß  der  Psychophysik.  S.  70.  J.  Geitler,  Elektro- 
magnetische Schwingungen  und  Wellen.  S.  71.  M.  Rauther,  Das  Tierreich.  S.  71.  E.  Study,  Denken  und  Dar- 
stellung. S.  71.  M.  Planck,  Die  Entstehung  und  bisherige  Entwicklung  der  Quantentheorie.  S.  72.  —  Anregungen 
und  Antworten :  Trunksucht  der  Graubündner.  S.  72.     Lauterzeugung  bei  einem  Krebs.  S.  72.  —  Literatur:  Liste.  S.  72. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  5.  Februar  1922. 


Nummer  6. 


INachdnick  verboten.] 

Lange  Zeit  hat  die  al.s  Kontraktions- 
theorie bezeichnete  Annahme,  daß  der  Erd- 
körper  als  ursprünglich  feuriger  Glutball  einem 
Abkühlungsprozeß  unterliege  und  daß  die  durch 
die  entstehende  Volumverkleinerung  ausgelösten 
Kräfte,  neben  den  an  der  Erdoberfläche  selbst 
wirkenden  zerstörenden  und  aufbauenden  Kräften, 
in  der  geologischen  Vergangenheit  dem  Antlitz 
der  Erde  seine  Züge  eingeprägt  habe,  in  der 
Wissenschaft  fast  allgemeines,  unbestrittenes  An- 
sehen genossen.  In  den  letzten  Jahren  sind  aber, 
weil  nach  der  Ansicht  mancher  Forscher  mehrere 
Beobachtungstatsachen  sich  nur  schwer  mit  ihr 
in  Einklang  bringen  lassen,  Angriffe  auf  diese 
Theorie  erfolgt,  und  man  hat  versucht,  sie  durch 
andere  Annahmen  zu  ersetzen.  Einer  ihrer  Haupt- 
gegner ist  A.  Wegen  er,  und  seine  Argumente 
und  die  seiner  Vorgänger  sind  wohl  geeignet, 
den  der  Kontraktionstheorie  anhängenden  Geo- 
logen nachdenklich  zu  stimmen.  Allein  wenn 
man,  diese  Argumente  anerkennend,  versucht,  sich 
mit  Hilfe  neuer  Annahmen  ein  Bild  von  der  Ent- 
wicklung der  Erde  zu  machen,  so  stößt  man  bald 
auf  andere,  nicht  weniger  große  Schwierigkeiten. 
Diese  Tatsache  zwingt  zur  Vorsicht.  Bevor  man 
das  Alte,  lange  Zeit  hindurch  Bewährte  aufgibt, 
empfiehlt  es  sich  jedenfalls,  durch  eine  gründliche 
Prüfung  festzustellen,  ob  man  Besseres  dafür  ein- 
tauscht. Und  zeigt  sich,  daß  die  neuen  An- 
nahmen vor  einer  strengen  Kritik  nicht  bestehen 
können,  so  ist  es  natürlich,  daß  man  sich  wieder 
der  alten  Erklärung  zuwendet,  in  der  stillen  Er- 
wartung, daß  sie  doch  wohl  das  richtige  treffe. 
Wir  wollen  im  folgenden  versuchen  nachzuweisen, 
daß  es  sich  mit  der  Kontraktionstheorie  wirklich 
so  verhält,  daß  nur  eine  falsche  Auffassung  schuld 
daran  war,  daß  Zweifel  an  ihrer  Richtigkeit  auf- 
tauchen konnten.  Für  die  Wissenschaft  ist  die 
Wanderung  auf  einem  Irrwege  immer  bedauerlich ; 
aber  etwas  Gutes  hat  sie  doch  zur  Folge.  Nur 
durch  eine  sorgfältige  Umschau  und  Ausschau 
gcHngt  es  vom  Irrweg  den  rechten  Weg  zurück- 
zugewinnen, und  dieser  Zwang  führt  in  der 
Wissenschaft  zur  Klärung  der  Vorstellungen  und 
zur  Vertiefung  der  Einsicht. 

Neue  Hypothesen. 
A.  Wegener  führt  die  Entstehung  der  Ge- 
birge nicht  auf  die  Schrumpfung  des  Erdkörpers 
zurück,  sondern  erklärt  sie  als  die  Wirkung  eines 
doppelten  Verschiebungszwanges  der  Kontinente, 
einer  Polflucht   und   einer  Ostwesttrift  derselben. 


Zur  Kontraktionstheorie. 

Eine  Rechtfertigung. 

Von  Prof,   Dr.  Fr.  Nölke,  Bremen. 


Die  Polflucht  ist  eine  Wirkung  der  Zentrifugal- 
kraft, die  dadurch  entsteht,  daß  der  Schwerpunkt 
der  aus  den  leichteren  Sialmassen  sich  zusammen- 
setzenden Kontinentalschollen  in  einem  etwas 
höheren  Niveau  liegt,  als  der  Schwerpunkt  des 
von  ihnen  verdrängten  schwereren  Simas;  die 
Ostwesttrift  ergibt  sich  aus  der  Richtungs- 
ablenkung, die  alle  dem  Äquator  zustrebenden 
IVIassen  auf  der  Erdoberfläche  erfahren.  Daß 
Kräfte  in  dem  von  Wegener  angegebenen  Sinne 
wirksam  sind,  steht  hiernach  fest.  Es  zeigt  sich 
aber,  daß  sie  viel  zu  schwach  sind,  um  die  er- 
forderliche Wirkung  hervorzubringen.  Der  die 
Polflucht  bewirkende  Verschiebungsdruck  beträgt 
nämlich,  selbst  bei  Kontinentalschollen  von  vielen 
tausend  km  Durchmesser,  nur  i  bis  2  Atmo- 
sphären auf  dem  Quadratzentimeter  ihrer  Stirn- 
wand.^) Dieser  Druck  reicht  bei  gewissen  An- 
nahmen über  die  Zähigkeit  der  die  Kontinen- 
talschollen unterlagernden  Simamassen  nach  einer 
Rechnung  von  P.  Epstein-)  gerade  aus,  um  die 
Schollen  mit  der  von  Wegener  hergeleiteten 
Geschwindigkeit  wagerecht  zu  verschieben,  vor- 
ausgesetzt, daß  ihnen  kein  Hindernis 
im  Wege  steht.  Da  ihnen  aber  fast  in  ihrer 
ganzen  Dickenerstreckung  (100 — 120  km)  die  den 
Boden  der  Ozeane  bildenden  Gesteinsschichten 
in  nur  wenig  geringerer  Dickenerstreckung  vor- 
gelagert sind,  so  kann  die  Verschiebung  nicht 
erfolgen.  Denn  ein  Druck  von  2  Atmosphären 
auf  dem  qcm  ruft  bei  Gesteinen  gar  keine  er- 
kennbare Wirkung  hervor.  Eine  Emporstülpung 
der  Ränder  würde  nur  erfolgen,  wenn  die  dem 
Druck  unterliegenden  Massen  flüssig  wären,  und 
auch  dann  würden  nur  Hügel  von  einigen  Metern 
Höhe  entstehen.  Bei  festen  Schollen  aber,  wie 
sie  wirklich  vorliegen,  führt  der  Druck  nur  zu 
einer  geringen  molekularen  Spannung. 

Wegener  ist  sich  des  problematischen 
Charakters  seiner  physikalischen  Beweisführung 
wohl  bewußt,  will  aber,  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  die  Beobachtungstatsachen  die  Anerkennung 
der  Verschiebungshypothese  fordern  und  im  Hin- 
blick auf  die  Möglichkeit  einer  zukünftigen  besseren 
Begründung  der  Hypothese,  ihr  den  wissenschaft- 
lichen  Wert    nicht    absprechen    lassen.     Solange 


')  Vgl.  auch  Prof.  E.  Hennigs  gründliche  Kritik  der 
We  g  enerschen  Hypothese  in  dem  Aufsatze  „Neue  Ansichten 
vom  Entstehen  des  Erdbildes",  Naturw.  Wochenschr.  1921, 
Heft  48, 

'')  Über  die  Polflucht  der  Kontinente.  Naturwissenschaften, 
1921,   Heft  25,  S.  499. 


u 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


ihr  das  theoretische  Fundament  fehlt,  wird  ihr 
jedoch  nicht  leicht  jemand  vor  der  Kontraktions- 
hypothese, die  diesen  Mangel  nicht  besitzt,  den 
Vorzug  geben,  vorausgesetzt,  daß  auch  sie  die 
Beobachtungstatsachen  gut  zu  erklären  vermag, 
was,  wie  wir  noch  zeigen  werden,  zutrifft. 

Ähnlich  wie  mit  der  Wegenerschen  Er- 
klärung steht  es  mit  einer  andern,  von  geologischer 
Seite  vertretenen  Ansicht,  nach  welcher  an  den 
Stellen  der  Erde,  wo  eine  Faltung  eintrat,  diese 
durch  lokale  Verhältnisse  in  den  die  gefalteten 
Schichten  unterlagernden  Massen  verursacht  wurde. 
Wenn  man  versucht,  diese  Hypothese  in  ihren 
Einzelheiten  zu  durchdenken ,  so  erkennt  man 
bald  ihre  Unzulänglichkeit.  Denn  man  mag  un- 
gleiche Zusammensetzung  des  Erdkörpers  nicht 
nur  in  senkrechter,  sondern  auch  in  wagerechter 
Richtung,  ungleiche  Dichten  und  Temperaturen 
in  den  einzelnen  Gebieten,  lokale  Kristallisations- 
vorgänge, oder  was  man  sonst  will,  annehmen, 
so  wird  im  Grunde  damit  nur  wenig  erreicht. 
Um  z.  B.  eine  Zusammenschiebung  der  Alpen 
bis  auf  die  Hälfte  oder  gar  ein  Viertel  ihrer  ur- 
sprünglichen Breitenerstreckung  zu  erklären,  müßte 
man  einen  förmlichen  Schwund  der  in  der  Tiefe 
lagernden  Massen  annehmen.  Es  ist  aber  keine 
Möglichkeit  vorhanden,  eine  solche  Annahme 
physikalisch  zu  rechtfertigen.  Ein  vielleicht  durch 
geringere  Dichte  bewirktes  ursprüngliches  Massen- 
defizit würde  übrigens  schon  vor  dem  Einsetzen 
der  Faltung  durch  eine  Verschiebung  der  nach 
Druckgleichgewicht  strebenden  benachbarten 
Massen  und  Emporpressung  jener  weniger  dichten 
Massen  über  die  Erdoberfläche  ausgeglichen 
werden;  es  würde  also  zu  gar  keiner  Faltung, 
sondern  zu  einer  Zerreißung  der  oberflächlichen 
Schichten  kommen. 

Es  soll  nicht  bestritten  werden,  daß  lokale 
Verhältnisse  auf  die  Faltungsvorgänge  einen  mit- 
bestimmenden Einfluß  haben.  Die  Festigkeit  der 
Erdkruste  ist  nicht  überall  dieselbe.  Große, 
schollenartige  Gebiete  haben  fast  während  der 
ganzen  geologischen  Vergangenheit  nur  gering- 
fügige Änderungen  erlitten,  während  andere 
zwischen  den  Schollen  gürtelartig  sich  erstreckende 
Zonen  immer  von  neuem  wieder  gefaltet  worden 
sind.  Bei  den  Faltungen  wird  das  Schweregleich- 
gewicht der  Faltungszonen  gestört.  Gestörtes 
Gleichgewicht  aber  strebt  einem  Ausgleich  zu, 
und  infolge  davon  treten  sekundäre  Bewegungen 
(größere  oder  kleinere,  durch  örtliche  Massen- 
defizite oder  Massenüberschüsse  oder  durch 
Sedimentation  von  Geosynklinalen  verursachte 
Hebungen  und  Senkungen)  ein,  deren  Zeitdauer 
um  so  länger  ist,  je  höher  der  Grad  der  Zäh- 
flüssigkeit der  magmatischen  Unterlage  und  je 
weiter  der  Ausgleich  bereits  vorgeschritten  ist. 
Es  muß  jedoch  mit  Nachdruck  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  es  nicht  statthaft  ist,  in  diesen  Be- 
wegungen, die  nur  als  Folgeerscheinung 
eines  Faltungsvorgangs  zu  betrachten  sind,  um- 
gekehrt die  Ursache  desselben  zu  sehen.    Den 


Faltungszonen  kommt,  worauf  besonders  auch 
F.  Koßmat  aufmerksam  macht,')  keine  aktive, 
sondern  nur  eine  passive  Bedeutung  zu.  Sie  sind 
nicht  selbst  der  Sitz  einer  bewegenden  Kraft, 
sondern  nur  der  Schauplatz  ihrer  Wirksamkeit. 
Ein  ßewegungsvorgang,  der  in  sich  abgeschlossen 
ist,  der  keine  neuen  Anstöße  von  außen  empfängt, 
muß  allmählich  abklingen  und  asymptotisch  einem 
Ruhezustande  zustreben.  Versucht  man  bei  den 
Faltungen  ohne  eine  äußere  Kraft  auszukommen, 
so  ist  gar  nicht  einzusehen,  warum  die  tektonischen 
Bewegungen  in  der  Erdkruste  nicht  längst  zum 
Stillstand  gekommen,  warum  Perioden  großartiger 
Faltungserscheinungen  solchen  verhältnismäßiger 
Ruhe  immer  wieder  gefolgt  sind.  Es  geht  auch 
nicht  an ,  diese  äußere  Kraft  in  gewissen  kos- 
mischen Faktoren,  z.  B.  in  der  Anziehung  durch 
Sonne  und  Mond,  oder  ähnlich  wie  Wegener 
in  der  Rotationsbewegung  der  Erde  zu  suchen. 
Denn  die  Gezeitenkräfte  des  Mondes  und  der 
Sonne  und  die  zentrifugalen  Kräfte  der  Erd- 
rotation sind  viel  zu  schwach,  um  die  erforderliche 
Wirkung  zu  erzielen.  Die  Schwierigkeiten,  zu 
denen  die  Kontraktionshypothese  führen  soll,  er- 
scheinen bei  dieser  Erklärung  vervielfacht;  auch 
würde  die  Anerkennung  ihrer  unbestimmten, 
allgemein  gehaltenen  Voraussetzungen  nur  als  ein 
verhülltes  Eingeständnis  des  ignoramus  zu  be- 
werten sein. 

Die  Kontraktionshypothese. 
Nach  dem  im  vorigen  Abschnitte  Gesagten 
steht  der  problematische  Charakter  der  Hypo- 
thesen, die  man  an  die  Stelle  der  Kontraktions- 
hypothese gesetzt  hat,  fest.  Erscheinen  diese 
Hypothesen  in  einem  zweifelhaften  Lichte,  so  ge- 
winnt ihnen  gegenüber  die  Kontraktionshypothese 
jedoch  von  selbst  wieder  an  Bedeutung.  Verdient 
sie  es  wirklich,  zum  alten  Eisen  geworfen  zu 
werden,  oder  braucht  man  sie  vielleicht  nur  von 
altem  Roste  zu  säubern,  damit  sie  heller  erstrahlt, 
als  je  zuvor?  Treffen  die  Einwendungen,  die 
man  gegen  sie  erhoben  hat,  wirklich  ihren 
eigentlichen  Kern?  Wäre  es  nicht  denkbar,  daß 
die  Erklärung  richtig,  aber  wegen  unvollkommener 
Einsicht  in  die  tatsächlichen  Verhältnisse  nicht 
ganz  richtig  dargestellt  worden  ist?  Könnte  sie 
den  neuen  Beobachtungsergebnissen  nicht  ange- 
paßt werden,  oder  besser,  sind  erst  diese  vielleicht 
geeignet,  der  Erklärung  das  richtige  Kleid  zu 
verleihen,  während  das  frühere  gar  nicht  das  ihr 
angemessene  war?  Indem  wir  die  gegen  sie  er- 
hobenen Einwände  einzeln  durchgehen,  werden 
wir  nachher  zeigen,  daß  es  sich  tatsächlich  so 
verhält.  Vorher  aber  sind  wir  in  der  Lage, 
durch  eine  Betrachtung  allgemeiner  Art  gleichsam 
einen  indirekten  Beweis  für  ihre  Richtigkeit  zu 
liefern. 


')  Die  mediterranen  Kettengebirge  und  ihre  Beziehung 
zum  Gleichgewichtszustand  der  Erdrinde.  Abb.  d.  math.- 
phys.  Kl.  d.  Sachs.  Akad.  d.  VViss.,  Bd.  38,  1921,  Nr.  2. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


7S 


We gener  behauptet,  es  sei  eine  unbewiesene 
Annahme,  daß  die  Erde  zusammenschrumpfen 
müsse,  weil  sie  sich  abkühle.  Es  stehe  keines- 
wegs fest,  daß  sie  Wärme  abgebe;  es  sei  sogar 
möglich,  daß  sie  sich,  z.  B.  infolge  Radiumzerfalls 
in  ihrem  Inneren,  erhitze.  Um  über  diesen  Punkt 
Klarheit  zu  gewinnen,  ist  eine  kurze  kosmogonische 
Auseinandersetzung  erforderlich. 

Niemand  wird  behaupten,  daß  die  Erde  von 
Ewigkeit  her  bestanden  habe.  Sie  hat,  wie  alle 
Weltkörper,  ihre  Entstehungsgeschichte.  Der  Ur- 
zustand der  Erde  läßt  sich  in  zweifacher  Weise 
denken.  Den  einen  Zustand  beobachten  wir  bei 
den  Sternen,  die  nach  den  neueren  astronomischen 
Forschungsergebnissen  ihre  Entwicklung  als  hell- 
strahlende Riesensterne  beginnen  und  allmählich, 
durch  Wärmeausstrahlung  ihr  Volumen  verkleinernd, 
in  den  Zustand  der  Zwergsterne  übergehen,  um 
dann  zu  erlöschen.  Wenn  die  Entwicklung  der 
Erde  mit  der  der  Sterne  gleichartig,  wenn  sie 
ursprünglich  ein  gewaltiger  Gasball  war,  so  mußte 
sie,  wie  die  Sterne,  ihr  Volumen  verkleinern 
und  allmählich  aus  dem  gasförmigen  in  den 
dichteren  flüssigen  und  festen  Zustand  übergehen. 
In  diesem  Falle  würde  die  Kontraktionshypothese 
zu  recht  bestehen.  Eine  andere  Beobachtung 
weist  auf  einen  anderen  Entwicklungsweg.  Täglich 
fallen  Sternschnuppen-  und  Meteoritenkörperchen, 
gelegentlich  in  großer  Zahl,  auf  die  Erde  und 
vermehren  ihre  Masse.  Es  wäre  denkbar,  daß 
die  Erde  ihre  ganze  Masse  allmählich  aus  Meteo- 
riten aufgebaut  habe.  In  diesem  Falle  würde  sie 
von  Anfang  an  ein  konglomeratartiger,  fester,  und 
verhältnismäßig  kalter  Körper  gewesen  sein,  der 
sich  nicht  mehr  merklich  zusammenziehen  konnte, 
für  den  also  die  Annahme  Wegeners,  daß  er 
vielleicht  sogar  seine  Temperatur  erhöhe,  zuträfe. 
Aus  zahlreichen  Gründen,  z.  T.  rein  analytisch- 
mechanischen, z.  T.  physikalischen  Charakters, 
deren  Erörterung  hier  zu  weit  führen  würde,  folgt 
aber  unwidersprechlich,  daß  diese  zweite  Ent- 
wicklungsmöglichkeit für  die  Erde  nicht  in  Frage 
kommt,  daß  die  sog.  Meteoritenhypothese,  nach 
welcher  sie  sich  aus  einem  die  Sonne  umkreisen- 
den Meteorringe  allmählich  gebildet  hätte,  un- 
richtig ist.  ^)  Dann  bleibt  nur  die  erste  Möglich- 
keit übrig,  und  damit  ist  die  Richtigkeit  der 
Kontraktionshypothese  zunächst  theoretisch  er- 
wiesen. 

Wir  kommen  nunmehr  zu  den  Einwänden,  die 
man  gegen  die  Kontraktionshypothese  erhoben  hat. 
Von  keinem  Forscher  ist  sie  ernstlicher  und  gründ- 
licher angegriffen  worden,  als  von  Wegener. '^j 
lici  der  Erörterung  können  wir  uns  daher  auf 
seine  Argumente  beschränken;  doch  werden  wir 
sie  noch  etwas  schärfer  präzisieren,  als  es  von 
ihm  geschieht. 


')  Vgl.  des  Verf.s  „Problem  der  Entwicklung  unseres 
Planetensystems",  eine  kritische  Studie.  2.  Aufl.,  Julius 
Springer,   1919. 

^)  Die  Entstehung  der  Kontinente  und  Ozeane.  2.  Aufl., 
Fr.  Vieweg,   1920,  S.   I  fl. 


1.  „Nach  der  Kontraktionshypothese  sind  die 
Kontinente  der  einzelnen  geologischen  Epochen 
beim  „Zusammenbruch  des  Erdballs"  stehenge- 
bliebene, die  Ozeane  abgesunkene  Schollen,  die  bei 
fortschreitender  Kontraktion  ihre  Rolle  auch  mit- 
einander vertauschen  können.  Aus  den  neueren 
geologischen  Forschungen  ergibt  sich  aber,  daß 
die  meisten  Sedimente  Flachseebildungen  sind, 
daß  die  Kontinente  also  bereits  seit  den  ältesten 
Zeiten  bestanden  und  nur  ihre  Randgebiete  ge- 
legentliche Senkungen  und  Hebungen  erfahren 
haben." 

Wenn  die  neueren  Forschungen  zeigen ,  daß 
die  frühere  Annahme,  nach  welcher  beim  „Zu- 
sammenbruch des  Erdballs"  die  Kontinente  teil- 
weise oder  ganz  zu  beträchtlichen  Meerestiefen 
absinken  konnten,  unrichtig  sei,  so  steht  der  An- 
erkennung dieser  Tatsache  von  selten  der  Kon- 
traktionshypothese nichts  im  Wege.  Man  hat 
sich  nur  von  der  Vorstellung,  daß  die  Erde  als 
Ganzes  zusammenbreche,  freizumachen,  und 
den  Zusammenbruch  auf  die  äußerste  feste  Rinde 
zu  beschränken,  dann  fällt  jeder  Widerspruch  fort. 

2.  „Nach  den  Lehren  der  Isostasie  herrscht  bei 
den  die  oberen  Erdschichten  bildenden  Massen 
Druckgleichgewicht.  Die  Schrumpfungshypothese 
führt  jedoch  das  Aufsteigen  und  Niedersinken  der 
Kontinente  auf  den  in  mehr  oder  weniger  schiefer 
Richtung  wirkenden  Gewölbedruck  zurück.  Dieser 
Gewölbedruck  läßt  die  Entstehung  eines  Druck- 
gleichgewichts nicht  zu." 

Die  Dicke  der  Kontinentalschollen  wird  zu 
100  bis  120  km  geschätzt.  Nun  zeigt  z.  B.  die 
Alpenfaltung,  daß  nur  die  oberen  Schichten  in 
einer  Dicke  von  ungefähr  10  km  von  der  Faltung 
ergriffen  worden  sind.  Die  tieferen  Schichten  der 
Schollen  nehmen  bei  ihrer  höheren  Temperatur 
unter  der  Einwirkung  des  Gewichtes  der  über 
ihnen  lagernden  Massen  und  der  Einwirkung  des 
seitlichen  Druckes,  der  die  oberen  Schichten  in 
Falten  legt,  plastische  Eigenschaften  an.  Sie  wer- 
den nicht  gefaltet,  sondern  weichen  nach  unten 
aus  und  verdicken  die  Kontinentaltafel  unter  und 
seitlich  von  den  Faltengebirgen.  Der  Gewölbe- 
druck beschränkt  sich  hiernach,  soweit  überhaupt 
von  ihm  die  Rede  sein  kann,  auf  das  obere 
Zehntel  der  Kontinentalschollen;  er  kann  daher 
das  Druckgleichgewicht  der  ganzen  Schollen  nur 
in  unbedeutender  Weise  modifizieren.  Vielleicht 
bildet  er  aber  doch  die  Veranlassung,  daß  ge- 
legentlich eine  geringe  Senkung  oder  Hebung  der 
Schollen  und  infolge  davon  eine  wechselnde  Über- 
flutung und  Trockenlegung  ihrer  Randgebiete  er- 
folgt, was,  wenn  genaues  Druckgleichgewicht  be- 
stünde, nicht  stattfinden  könnte.  Die  Schrump- 
fungshypothese wird  hiernach  den  Tatsachen 
besser  gerecht  als  die  W  e  g  e  n  e  r  sehe  Hypothese, 
die  keinen  Gewölbedruck  kennt. 

3.  „Durch  Glättung  der  Gebirgsfalten  ergibt 
sich  nach  der  Kontraktionshypothese  der  Betrag 
der  Schrumpfung  der  Erdkugel  seit  der  Entstehung 
der  gefalteten   Gebirge.     Nun   ist   allein   die   ter- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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tiäre  Faltung  so  beträchtlich,  daß  eine  Verminde- 
rung des  Erdumfangs  um  3  7o  eingetreten  sein 
müßte  um  sie  hervorzurufen.  Eme  einfache  Rech- 
nung zeigt  dann  aber,  daß  allein  um  die  tertiäre 
Faltung  zu  erzielen,  eine  Temperaturerniedrigung 
der  Erde  um  20OO  bis  3000",  und  seit  den  älte- 
sten Zeiten  eine  solche  von  ganz  unwahrschein- 
lich hohem  Betrage  eingetreten  sein  müßte." 

Der  Betrag  der  Schrumpfung  des  Erdkörpers 
ergibt  sich  nicht  rechnungsmäßig  allein  aus  der 
erfolgten  Temperaturerniedrigung.  Wenn  nur 
diese  in  Frage  käme,  so  würde  allerdings  das 
aus  der  Glättung  der  Falten  resultierende  Erd- 
volumen für  die  frühesten  geologischen  Epochen 
die  Annahme  einer  unwahrscheinlich  hohen  Tem- 
peratur des  Erdkörpers  erfordern.  Allein  für  die 
Schrumpfung  kommt  noch  ein  anderer  Umstand 
in  Betracht.  Der  Übergang  aus  dem  flüssigen  in 
den  festen  Zustand  ist  bei  fast  allen  Stoffen  mit 
einer  nicht  unbeträchtlichen  Volumverkleinerung 
verbunden.  Beachtet  man,  daß  die  Erdmasse 
zur  Zeit  der  ersten  Krustenbildung  und  ohne 
.  Zweifel  noch  längere  Zeit  danach  größtenteils 
flüssigen  Charakter  besaß,  daß  aber  bei  der  Ab- 
kühlung ihre  Zähigkeit  allmählich  wuchs,  und 
daß  sie  jetzt,  nach  Untersuchungen  von  W. 
Schweydar  u.  a. ,  sogar  als  fester  Körper  be- 
trachtet werden  kann,  so  wird  es  verständlich, 
daß  der  Betrag  ihrer  Schrumpfung  nicht  nur  durch 
die  eingetretene  Temperaturerniedrigung,  sondern 
außerdem  durch  den  Volumverlust,  den  die  Ände- 
rung des  Aggregatzustandes  mit  sich  bringt,  be- 
stimmt wurde.  Auch  die  Entgasung  des  Magmas 
konnte  zu  einer  Volumverkleinerung  desselben 
führen. 

4.  „Legen  sich  die  oberflächlichen  Erdschichten 
infolge  Schrumpfung  des  Erdinnern  in  Falten,  so 
ist  zu  erwarten,  daß  diese  Faltung,  wie  bei  einem 
austrocknenden  Apfel,  überall  ziemlich  gleichmäßig 
erfolgt.  Die  tertiäre  Faltung  hat  aber  nur  auf 
zwei  größten  Kreisen  der  Erde  stattgefunden." 

Dieser  Einwand  ist  der  einzige,  der  einige 
Scheinbarkeit  besitzt.  Die  Schlußfolgerung  ist 
auch  ohne  Zweifel  richtig,  solange  die  das  heiße 
Innere  einhüllende  Decke  noch  dünn  ist  und  den 
tangentialen  Schubkräften  gegenüber  keine  ge- 
nügende Festigkeit  besitzt.  In  der  Tat  sehen  wir, 
daß  die  in  frühen  geologischen  Zeitaltern  ge- 
bildeten Sedimente  stark  gefaltet  und  gefältelt 
sind;  die  devonischen  Schiefer  z.  B.  zeigen  schon 
auf  kleinstem  Raum,  auf  Strecken  von  einigen 
Metern,  Falten  und  Doppelfalten.  Die  Verhält- 
nisse ändern  sich  aber,  wenn  die  Schollen  dicker 
werden.  Zunächst  ist  zu  beachten,  daß  schon 
eine  verschwindend  kleine  Kraft  ausreicht,  um 
eine  Kontinentalscholle,  die  an  ihrer  Unterseite 
keinen  Reibungswiderstand  zu  überwinden  und 
auf  ihrer  Vorderseite  keine  Massen  aus  dem  Wege 
zu  räumen  hat,  in  Bewegung  zu  setzen ;  denn  ihre 
Verschiebung  erfolgt  auf  einer  Niveaufläche.  Nun 
ist  die  Kraft,  welche  zur  Überwindung  der  wirk- 
lich vorhandenen  Reibung    an  der  Unterseite  der 


Scholle  erforderlich  ist,  verhältnismäßig  gering. 
Nach  der  schon  einmal  herangezogenen  Rechnung 
Epsteins  genügt  ein  Druck  von  wenigen  Atmo- 
sphären auf  dem  Quadratzentimeter,  um  diese  Wir- 
kung zu  erzielen.  Um  die  Scholle  an  einer  Stelle 
aufzuwölben  und  zu  falten,  ist  aber  eine  sehr  große 
Kraft  erforderlich.  Wir  müssen  Klarheit  darüber 
zu  gewinnen  suchen,  ob  die  Scholle  genügende 
Festigkeit  besitzt,  um  einen  seitlichen  Druck  von 
großer  Stärke  über  tausende  von  Kilometern 
weiterzuleiten. 

100  km  Schollendicke  stehen  zu  10  000  km 
Schollendurchmesser  im  Verhältnis  i  :  100.  Man 
wähle  quadratische  Platten  aus  verschiedenem 
Material,  Eis,  Wachs,  Metallen,  Gesteinen,  von 
I  m  Kantenlänge  und  i  cm  Dicke,  die  in  ver- 
kleinertem Maßstabe  der  angenommenen  Konti- 
nentaltafel entsprechen  würden,  übe  auf  ihrer 
schmalen  Rückseite  einen  Druck  aus  und  stelle 
experimentell  fest,  wie  groß  die  Stirnwiderstände 
sind,  welche  diese  Platten,  ohne  zu  zerbrechen 
oder  sich  zu  verbiegen,  zu  überwinden  vermögen. 
Diese  Widerstände  sind  erstaunlich,  selbst  bei  der 
aus  plastischem  Material  bestehenden  und  daher 
den  Erdschollen  einigermaßen  ähnelnden  Wachs- 
tafel. Man  würde  sogar  die  bei  der  Gebirgs- 
bildung  sich  abspielenden  Vorgänge  im  kleinen 
nachahmen  können,  wenn  man  die  Wachstafel 
mit  einer  dünnen  Metallschicht,  z.  B.  Zinnfolie, 
überziehen  und  die  Widerstand  leistende  Masse 
ein  wenig  erwärmen  würde,  so  daß  die  Tafel  an 
ihrer  Vorderseite  etwas  von  ihrer  Festigkeit  ver- 
lieren und  sich  zusammenschieben  würde.  Jeden- 
falls liegt  kein  Grund  vor,  zu  bestreiten,  daß 
100  km  dicke,  fast  reibungslos  sich  verschiebende 
Erdschollen  in  ihrer  Längsrichtung,  ohne  sich  auf- 
zuwölben, auf  Strecken  von  10  000  km  und  mehr 
ganz  gewaltige  Drucke  fortzuleiten  vermögen. 
Wenn  der  Druck  eine  gewisse  Größe  erreicht 
hat,  so  wird  das  Material  der  Scholle  an  einer 
besonders  schwachen  Stelle  plastisch  werden  und 
ausweichen;  die  darüberliegenden  oberflächlichen 
Schichten  aber  müssen  sich  in  Falten  legen.  Hat 
der  Ausgleich  eingesetzt,  so  erniedrigt  sich  die 
Spannung  allmählich  bis  zu  einem  gewissen  Mini- 
mum. In  diesem  Minimum  kann  sie  längere  Zeit 
beharren,  ohne  daß  die  Schollenbewegung  und 
der  Faltungsvorgang  zum  Stillstand  zu  kommen 
braucht.  Wenn  z.  B.  eine  Änderung  des  Aggregat- 
zustandes gewisser  Massen  des  Erdinnern  die 
Hauptursache  der  entstandenen  Spannung  war,  so 
könnte  angenommen  werden,  daß  diese  Änderung 
nicht  überall  gleichzeitig^  erfolgt,  sondern  sich  von 
der  Stelle,  wo  der  erste  Spannungsausgleich  statt- 
fand, durch  die  benachbarten  Gebiete,  wo  die 
Massen ,  gewissermaßen  im  Zustande  der  Unter- 
kühlung, erst  den  Zeitpunkt  abwarten  müssen, 
der  ihnen  gestattet,  ebenfalls  in  den  erstrebten 
neuen  Zustand  überzugehen ,  langsam  fortsetzt. 
Ist  dieser  Zustand  bei  allen  Massen,  die  ihm  zu- 
streben, erreicht,  so  hat  die  Faltungsperiode  ihren 
Abschluß  gefunden,  und  es  schließt  sich  ihr  eine 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kürzere  oder  längere  Zeit  dauernde  Periode  der 
Ruhe  und  des  Gleichgewichts  an.  Wenn  aber 
die  Spannung  allmählich  wieder  zunimmt  und 
einen  neuen  Ausgleich  sucht,  so  ist  es  leicht  mög- 
lich, daß  er  wieder  an  derselben  Stelle  wie  vor- 
her eintritt,  da  hier  das  innere  Gefüge  der 
Schollendecke  nicht  so  fest  ist  wie  an  den  anderen 
von  den  früheren  Faltungsvorgängen  nicht  be- 
rührten Stellen. 

Wir  waren  soeben  in  der  Lage  zu  erklären, 
warum  Perioden  großartiger  Faltungen  der  Erd- 
oberfläche mit  längeren  Ruheperioden  abge- 
wechselt haben.  Die  Spannung  in  den  ober- 
flächlichen Schichten  muß  erst  eine  gewisse  Größe 
erreichen,  bis  der  Ausgleich  erfolgt.  Ist  dieser 
aber  eingetreten,  so  dauert  es  längere  Zeit,  bis 
die  Druckspannung  wieder  einen  Wert  erlangt, 
der  eine  neue  Faltung  einzuleiten  vermag.  In 
diesem  Punkte  zeigt  sich  die  Kontraktions- 
hypothese der  Wegen  ersehen  Hypothese  be- 
trächtlich überlegen.  Nach  Wegener  läßt  sich 
nicht  erklären,  daß  die  Kräfte  der  Gebirgsbildung 
nur  in  gewissen  geologischen  Perioden  wirksam 
waren.  Denn  nach  ihm  sind  es  beständig 
wirkende  Kräfte,  welche  die  Erdteile  ver- 
schieben, und  diese  Kräfte  vergrößern  sich 
nicht,  wenn  sie  sich  noch  nicht  in  erkennbarer 
Weise  zu  äußern  vermögen.  Sie  summieren  sich 
nicht  wie  die  Druckspannungen  bei  fortschreitender 
Abkühlung,  sondern  behalten  stets  einen  kon- 
stanten Wert.')  Wenn  die  Erde  nach  Wegener 
ursprünglich  möglicherweise  kälter  war  als  jetzt, 
so  fallt  es  ihm  außerdem  schwer,  für  die  erste 
Entstehung  der  Kontinentalschollen  eine  Erklärung 
anzugeben,  während  die  Beantwortung  dieser 
Frage  der  Kontraktionshypothese  keine  großen 
Schwierigkeiten  macht.  Er  begnügt  sich  mit 
der  Behauptung,  daß  die  ursprünglich  die  ganze 
Erde  in  gleichmäßig  dicker  Schicht  umgebenden 
Sialmassen  sich  zusammengeschoben  hätten,  bleibt 
aber  die  physikalische  Interpretation  dieses  Vor- 
gangs schuldig  (a.  a.  O.  S.  58).  Die  Schilderung 
des  Faltungsvorganges,  die  Wegener  geliefert 
hat  (a.  a.  O.  S.  31 — 33),  ist  einleuchtend  und 
schön.  Sie  läßt  sich  ohne  weiteres  auf  die  Kon- 
traktionshypothese übertragen,   und  wir  brauchen 


')  Die  Angabe  W.  Köppens  („Ursachen  und  Wirkungen 
der  Kontinentenverschiebungen  und  Polwanderungen",  Pet. 
Milt.  1921,  Juli- Augustheft),  daß  die  die  Polflucht  bewirkenden 
Kräfte  mit  der  Zeit  zu  beliebig  großen  Werten  anwachsen,  ist 
unrichtig.  Sie  sind  von  der  Zeit  ganz  unabhängig,  ebenso 
wie  z.  B.  der  Gewichtsdruck  eines  auf  einer  Tischplatte  ruhen- 
den Gegenstandes,  der  sich  gleich  bleibt,  einerlei  ob  der 
Körper  eine  Minute  oder  ein  Jahrhundert  auf  der  Platte  liegt. 
Im  Gegensatze  hierzu  nimmt  die  Druckspannung  in  der  Erd- 
rinde mit  der  Zeit  zu,  da  die  Wärmeausstrahlung  und  die 
durch  sie  bewirkte  Volumverminderung  ununterbrochen  fort- 
dauern. 


sie  weder  zu  verbessern  noch  zu  ergänzen.  Ja 
sie  wird  eigentlich  erst  ganz  verständlich,  wenn 
man  immer  die  gewaltigen  Druckkräfte,  welche 
die  Zusammenziehung  der  Erde  auslöst,  vor 
Augen  hat,  während  man  bei  Zugrundelegung 
der  Wegener  sehen  Annahmen  fast  bei  jeder 
Zeile  die  Inkongruenz  zwischen  den  vorausgesetzten 
geringfügigen  Ursachen  und  den  gewaltigen 
Wirkungen  fühlt. 

Daß    es   wirklich  die  Volumverminderung  des 
Erdinnern    war,    was    z.  B.    die    großen   tertiären 
Faltengebirge   schuf,    geht    aus  der  Tatsache  her- 
vor,   daß    zwei    Hauptfaltungen    in    ungefähr    auf- 
einander   senkrechten    Richtungen,    die    eine    in 
nordsüdlicher   (Kordilleren),    die   andere    in    west- 
östlicher  Richtung    (Alpen,    Kaukasus,    Himalaya) 
erfolgte.      Denn   die    entstehende   Spannung   war 
eine   allseitige   und    natürlicherweise   bestrebt,    in 
zwei    aufeinander    senkrechten    Richtungen    einen 
Ausgleich     zu     suchen.      Bei     der    Verschiebung 
blieben   auch  die   übrigen  Gebiete  der  Kontinen- 
taltafeln   von  dem  großen  seitlichen  Druck    nicht 
ganz  unbeeinflußt.  Stellenweise  trat  eine  Stauchung 
und    Aufwölbung    der   Schollen    ein.      Daß    auch 
noch    gegenwärtig    ein    Spannungszustand    in    der 
Erdkruste  vorliegt,   zeigen  die  Erdbeben   und  die 
Hebungen  und  Senkungen  gewisser  Küstengebiete. 
Wir  glauben    durch    unsere  Ausführungen  ge- 
zeigt  zu   haben,   daß   die  Kontraktionshypothese, 
weit  entfernt  davon,    sich  als  unzulänglich  zu  er- 
weisen,   im    Gegenteil    die    einzige    Möglichkeit 
bietet,  die  Züge  im  Antlitz  der  Erde  verständlich 
zu    machen.      Die    Kontraktion    ist    nicht,     wie 
Wegener  will,  ein  bedeutungsloser  Faktor,  oder, 
wie   andere   Geologen   annehmen,    nur    eine   mit- 
wirkende, sekundäre,  sondern  die  ausschlaggebende, 
primäre  Ursache  bei  der  tektonischen  Umgestaltung 
der  Erdoberfläche.     Zwar    wirken    viele  Faktoren 
zusammen,  um  die  Einzelheiten  eines  Faltungs- 
vorganges zu  bestimmen.    Aber  die  Kraft,  welche 
die  Großschollen  der  Erdrinde  in  einen  Spannungs- 
zustand versetzt,  sie  gegeneinander  preßt  und  die 
weniger   widerstandsfähigen    Massen    ihrer    Rand- 
zonen   verschiebt ,    auftürmt    und    faltet ,    ist    der 
tangentiale  Druck,    der   in    der   starren   Rinde    zu 
immer    größeren    Werten    anwächst,     wenn    die 
Massen    des  Erdinnern  durch  Wärmeverlust,    Än- 
derung  ihres  Aggregatzustandes    oder   Entgasung 
ihr    Volumen    verkleinern.      Zuzugeben    ist ,    daß 
diese   Massendislokationen    in    der    Erdrinde   Stö- 
rungen    des    Schweregleichgewichts     hervorrufen 
und    dadurch    zu    neuen,    einem    Ausgleich    zu- 
strebenden, sekundären  Massenverschiebungen  An- 
laß geben;    doch  können   sich  Umfang   und  Aus- 
maß derselben  im  allgemeinen  mit  den  unmittel- 
bar    durch     die     Kontraktion     bewirkten     nicht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


[Nachdruck  verboten.^ 


Der  Darmkanal  des  Maikäfers. 

(Aus  dem  Zoolog.  Institut  der  Technischen  Hochschule  in  Stuttgart.) 

Von  Christian  Schweizer. 

Mit  4  Textabbildungen. 


In  der  Ordnung  der  Käfer  kommen  sehr 
mannigfaltige  Ernährungsweisen  vor,  und  dement- 
sprechend ist  auch  der  Darmkanal  verschieden- 
artig ausgebildet.  Man  könnte  soweit  gehen,  jeder 
Art  von  Nahrung  einen  bestimmten  Darmkanal 
zuzuschreiben,  der  sich  schon  bei  äußerlicher  Be- 
trachtung von  einem  Darmtraktus  mit  anderer 
Nahrung  deutlich  unterscheidet.  Eine  solche  Be- 
trachtung hat  Gorka  (1901)  angestellt,  indem 
er  für  die  Käfer  sechs  Ernährungstypen  und  dem- 
entsprechend sechs 
Darmtypen  aufstellte. 
Diese  Betrachtung  muß 
aber  mit  Vorsicht  an- 
gewandt werden. 
Selbstverständlich  ist 
jeder  Darmkanal  seiner 
Nahrung  angepaßt, 
allein  die  Art  und 
Weise  dieser  Anpas- 
sung ist  sehr  ver- 
schieden ,  und  sie 
kann  eine  versteckte 
bleiben ,  d.  h.  äußer- 
lich nicht  zu  erkennen 
sein.  In  einigen  Fa- 
milien gibt  es  Käfer 
mit  verschiedener  Nah- 
rung, und  sie  weisen 
doch  einen  ähnlich 
gebauten  Darmkanal 
auf,  so  daß  man  aus 
der  Betrachung  dessel- 
ben nicht  auf  die  Art 
der  Nahrung  schließen 
kann ;  dasselbe  gilt 
vergleichsweise  auch 
für  die  Orthopteren, 
welche  teils  Pflanzen- 
fresser (z.  B.  Locusta), 
teils  Fleischfresser  (z.  B. 
Mantis),  teils  Alles- 
fresser (z.  B.  Blatta) 
sind,  und  doch  im 
Darmkanal  eine  weit- 
gehende Übereinstimmung  zeigen. 

Die  Käfer  sind  mit  den  Orthopteren  ver- 
wandt und  waren  im  Darmkanal  ursprünglich 
ihnen  ähnlich,  aber  manche  Käfer  haben  sich  weit 
von  dieser  Grundform  entfernt. 

Bekanntlich  teilt  man  den  Darmkanal  der 
Käfer  in  3  Abschnitte  ein:  Vorder-,  Mittel-  und 
Enddarm.  Interessant  ist  zunächst  das  Verhalten 
des  Vorderdarms,  welcher  verschiedene  Stufen 
der  Rückbildung  oder  Vereinfachung  zeigt.  Aus- 
gangspunkt ist  ein  hochentwickelter,  in  Schlund 
(Ösophagus),    Kropf   und  Kaumagen    gesonderter 


Abb.   I.    Darmkanal  des  Gold- 
laufkäfers,     Carabus      auratus 

(nach    Du  f  cur). 
k   Kopf    mit    den    Oberkiefern 
und  den  Fühlern ,    oe  Schlund, 

in    Kropf,    pv    Kaumagen, 
cd  Mitteldarm ,    vm  Vasa    Mal- 
pighii,    ed   Dünndarm,    r  Mast- 
darm, ad  Analdrüsen  mit  Sekret- 
blasen (ab). 


Vorderdarm,  der  sich  an  denjenigen  der  Orthopteren 
anlehnt  (Abb.  i).  Er  kommt  vor  bei  den  Ade- 
phagen  (Raubkäfern)  und  Rhynchophoren  (Rüssel- 
und  Borkenkäfern).  Manche  Käfer  haben  einen 
einfachen,  nicht  gegliederten  Vorderdarm,  wie 
z.  B.  der  Maikäfer  (s.  Abb.  2).  Der  Endpunkt  der 
Reduktionsreihe  ist  ein  vollständig  „geschwundener" 
Vorderdarm  (bei  Histeriden,  Stutzkäfern). 


Abb.  2.     Darmkanal  des  Maikäfers, 
vd  Vorderdarm,    md   Mitteldarm,    vm  Stelle    der    Einmündung 
der  Vasa  Malpighii,  dd  Dünndarm,  dk  Dickdarm,  ms  Mastdarm. 
3  Ebene  des  Schnittes  Abb.  3;  4  Ebene  des  Schnittes  Abb.  4. 


Der  Mitteldarm  der  Käfer  ist  ebenfalls 
sehr  mannigfaltig  gestaltet.  Im  wesentlichen 
kommen  folgende  Formen  vor.  Erstens  ein  kurzer, 
großenteils  mit  Blindschläuchen  besetzter  Mittel- 
darm, wie  bei  den  Raubkäfern  (Abb.  i),  Wasser- 
käfern und  Aaskäfern,  zweitens  ein  breiter,  nicht 
langer  Mitteldarm  (z.  B.  bei  Meloe),  ohne  Aus- 
stülpungen, drittens  ein  längerer  Mitteldarm,  etwa 
zweimal  so  lang  als  das  Abdomen,  vorne  breit, 
hinten  schmal,  wie  z.  B.  bei  einzelnen  Rüsselkäfern, 
viertens  ein  schmaler  und  langer  Mitteldarm  wie 
beim  Maikäfer  (Abb.  2). 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


79 


Der  End  darm  schließHch  kann  in  verschiedener 
Weise  bei  den  Käfern  ausgebildet  sein.  Er  be- 
steht meistens  aus  Dünndarm  und  Mastdarm  (Abb.  i). 
Aber  bei  den  Scarabaeiden  in  der  Unterfamilie 
der  Melolonthinen  kommt  auch  der  Dickdarm 
vor,  ein  Organ,  das  in  der  Insektenklasse  nur  eine 
beschränkte  Verbreitung  besitzt.  Bei  der  ver- 
wandten Unterfamilie  der  Coprophaginen  (Geo- 
trupes)  ist  dieser  Darmabschnitt  nicht  ausgebildet, 
ebenso  bei  allen  übrigen  Käfern.  Die  Entstehung 
dieses  Organs  kann  als  eine  Neubildung  innerhalb 
der  Familie  der  Scarabaeiden  aufgefaßt  werden. 
Es  wäre  allerdings  auch  möglich,  den  Dickdarm 
dieser  Gruppe  von  dem  der  Orthopteren  (etwa 
von  Periplaneta)  abzuleiten,  so  daß  er  bei  den 
Coprophaginen  als  reduziert  anzusehen  wäre. 

Nach  dieser  Übersicht  über  die  Käfer  komme 
ich  nun  zu  dem  Darmkanal  des  Maikäfers. 
Der  Vorderdarm  kann  als  vereinfacht  und  reduziert 
angesehen  werden.  Er  ist  sehr  kurz  und  endet 
schon  im  Anfang  des  ersten  Brustsegmentes 
(s.  Abb.  2).  Er  hat  eine  birnförmige  Gestalt  und 
ist  bei  seinem  Übergang  in  den  Mitteldarm  ver- 
engt, weshalb  man  von  einer  „abgesetzten  Speise- 
röhre" spricht. 

Der  auf  den  Vorderdarm  folgende  Mitteldarm 
ist  sehr  lang,  worin  man  eine  Anpassung  an  die 
Blätternahrung  sehen  darf.  Er  geht  durch  die 
Brust  und  einen  Teil  des  Hinterleibs,  wendet  sich 
oralwärts  und  zieht  in  einem  großen  nach  hinten 
gerichteten  Bogen  von  der  einen  Seite  zur  anderen, 
verläuft  dann  direkt  unter  der  Rückendecke  quer 
über  das  Abdomen  und  bildet,  ventralwärts  ab- 
steigend, einen  zweiten  nach  hinten  gerichteten 
Bogen.  Nun  folgt  eine  Schleife,  dann  geht  der 
Mitteldarm  wieder  analwärts  bis  zum  Beginn  des 
Enddarms  (Abb.  2  bei  vm).  Der  Mitteldarm 
ist  fast  durchweg  gleich  eng,  mit  Ausnahme  seines 
ersten  Teils,  der  etwas  breiter  ist,  eine  Erscheinung, 
die  bei  anderen  Käfern  (z.  B.  Lamia  und  Curculio) 
deutlicher  entwickelt  ist.  Die  sonstigen  breiteren 
Stellen  sind  durch  gestaute  Nahrungsmassen  ver- 
ursacht. Eine  ziemliche  Strecke  weit  besitzt  der 
Mitteldarm  schmale  Querwülste,  die  nach  hinten 
hin  allmählich  immer  undeutlicher  werden  (Abb.  2). 
Der  dritte  und  letzte  Abschnitt,  der  Enddarm, 
beginnt  nach  Einmündung  der  vier  Malpighischen 
Gefäße  (Vasa  Malpighii)  und  zerfällt  in  Dünndarm, 
Dickdarm  und  Mastdarm.  Der  kurze  Dünndarm 
geht  ohne  scharfe  Grenze  in  den  Dickdarm  über, 
der  quer  durch  das  Abdomen  zieht.  Der  dünnere 
Mastdarm  beschreibt  einen  großen  nach  vorne 
gerichteten  Bogen  und  ist  gegen  das  Ende  keulen- 
förmig verdickt  (Abb.  2).  Er  erscheint  durch  die 
Ringmuskeln  geringelt.  An  dem  keulenförmigen 
Teile  erkennt  man,  daß  der  einheitliche  Ring- 
muskelmantel auf  dem  Querschnitt  aus  sechs  Ab- 
schnitten besteht  (vgl.  Abb.  4).  —  Auf  den  keulen- 
förmigen Teil  des  Mastdarms  folgt  noch  ein  kurzer 
schmälerer  Endabschnitt  (Abb.  2). 

Die  Topographie   des    Darmkanals    habe    ich 
bei    verschiedenen    untersuchten   Exemplaren    im 


Prinzip  konstant  für  beide  Geschlechter  gefunden. 
Beim  Männchen  bewirkt  der  mächtige  Penis  eine 
Verschiebung  der  Darmschlingen  nach  rechts.  — 
Auch  der  Verlauf  des  Darmkanals  beim  Junikäfer 
und  beim  Roßkäfer  läßt  sich  auf  den  des  Mai- 
käfers zurückführen,  so  daß  in  dieser  Familie  die 
Topographie  des  Darmkanals  ein  charakteristisches 
Merkmal  ist. 

Ich  muß  nun  noch  auf  die  histologische 
Beschaffenheit    des    Maikäferdarms    eingehen. 
Bei    dem    Vorderdarm    sind     die     einzelligen 
Speicheldrüsen  beachtenswert.  Sirodot(i858)  hat 
dieselben  bereits  genau  beschrieben.    Es  sind  dies 
langgezogene    Zellen,    die   außerhalb    des    eigent- 
lichen Epithels  liegen;  ein  schlauchförmiger  Gang 
verbindet  den  sezernierenden  Teil  der  Zelle  mit  dem 
Ösophaguslumen.   Mingazzini  hat  gezeigt,  daß  die 
Speicheldrüsenzellen    genetisch    zum    Ösophagus- 
epithel gehören.  —  Sonst  ist  der  Vorderdarm  sehr 
einfach  gebaut.     Er   zeigt  von  außen    nach  innen 
Längs-  und  Ringmuskulatur,  Basalmembran,  undeut- 
liches Epithel,    welches  schwache,   unregelmäßige 
Längsfalten  aufweist    und  eine  Chitinintima.     Der 
Vorderdarm    ist    in    den    Anfang   des  Mitteldarms 
eingesenkt.    Das  Lumen  wird  hierbei  sehr  eng  und 
kann  sowohl  durch  eine  Ring-  als  auch  durch  die 
starke  Längsmuskulatur  geschlossen  werden.    Das 
plötzliche    Anschwellen    der    Längsmuskulatur   an 
dem  eingesenkten  Vorderdarm  habe  ich  auch  bei 
Geotrupes  gefunden.    Ein  Verschluß  des  Vorder- 
darms  gegen  den   Mitteldarm    kommt    dort    aus- 
schließlich   durch   Kontraktion    der  Längsmuskeln 
zustande.     Solches  Verhalten  der  Muskulatur  darf 
als   eine  Besonderheit   der   Lamellicornier   gelten. 
Ebenfalls  einfach  ist  der  Mitteldarm  des  Mai- 
käfers   gebaut.      Seine    Histologie     ist    an    allen 
Stellen  die  gleiche;  es  gibt  von  außen  nach  innen 
eine  schwache  Muskulatur  (Längs-  und  Ringmus- 
kulatur), eine  Basalmembran  und  ein  Epithel,  welches 
im  ruhenden  Zustand  einen  Stäbchensaum  besitzt, 
dessen  Bedeutung  nicht   ganz    geklärt   ist.  —  Bei 
genauerem    Zusehen   bemerkt   man   an   der  Basis 
des   Epithels    kleine  Ausstülpungen.     Sie    stehen 
mit  dem  übrigen  Epithel  in  Verbindung,  buchten 
die   Basalmembran   etwas  aus,   treten   aber   nicht 
durch    den  Muskelmantel    hindurch.     Diese  Blind- 
schläuche enthalten  in  ihrem  Fundus  diesogenannten 
Regenerationszellen,    d.   h.    Zellen,    die    ihren    em- 
bryonalen Charakter   bewahrt    haben    und    damit 
die  Fähigkeit  der   mitotischen  Teilung.     Die  hier 
entstehenden  Zellen  differenzieren  sich  zu  Epithel- 
zellen   und   treten  an  Stelle  von  funktionierenden 
Epithelzellen,     welche    durch    ihre    sezernierende 
Tätigkeit  dem   Untergang   verfallen.     Diese    Re- 
generationsherde   kommen    bei    allen    Käfern    vor 
und   liegen   bei   den   Raubkäfern   (z.   B.   Carabus) 
in    den    Enden    der    zahlreichen    Blindschläuche, 
welche   durch    die    Muskelschichten    nach    außen 
treten    und  dem  ersten  Teil   des    Mitteldarms  ein 
bürstenartiges  Aussehen  geben  (Abb.  i). 

Der  letzte  Abschnitt  des  Darmkanals,  der  End- 
darm, ist  beim  Maikäfer  ziemlich  hoch  entwickelt 


8o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


und  deutlich  in  Dünndarm,  Dickdarm  und  Mast- 
darm gegliedert.  Am  Übergang  des  Mitteldarms 
in  den  Enddarm  erblickt  man  auf  Schnitten  zwei 
zum  Enddarm  gehörende  Lappen,  welche  in  den 
Dünndarm  hineinragen.  Ihr  Epithel  unterscheidet 
sich  nicht  wesentlich  von  dem  des  darauffolgenden 
Abschnittes.  Wir  haben  es  hier  wieder  mit  einer 
Besonderheit  zu  tun,  denn  bei  vielen  Käfern  ist 
der  Übergang  des  Mitteldarms  in  den  Enddarm 
durch  den  sogenannten  „hinteren  Imaginalring"  ge- 
bildet. Das  Epithel  dieses  Ringes  ist  hoch,  deut- 
lich von  dem  übrigen  EpitheJ  unterscheidbar  und 
meist  in  vier  Lappen  aufgespalten  (z.  B.  Geotrupes), 
in  sechs  (z.  B.  bei  Carabus)  oder  in  ein  Multiplum 
von  sechs  (z.  B.  Dytiscus).  Die  Zellen  des  Imaginal- 
ringes  müssen  in  der  Metamorphose  die  nötigen 
Elemente  zur  Vergrößerung  des  Enddarms  liefern, 
sie  sind  also  auch  embryonale  Zellen.  Der  Imaginal- 
ring erhält  sich  bis  ins  Imago- Leben,  trotzdem  er 
eigentlich  keine  Bedeutung  mehr  besitzt,  während 
als  Verschlußapparat  meist  der  darauf  folgende 
„Pylorus"  gilt,  ein  durch  starke  Muskulatur  aus- 
gezeichnetes Organ,  das  beim  Maikäfer  auch  vor- 
handen, aber  vom  Dünndarm  nicht  deutlich  zu 
unterscheiden  ist. 


Abb.  3.    Querschnitt  durch  den  Dickdarm  des  Maikäfers, 
i  Chitinschicht  (Intima),   ep  Epithel,  Im  Längsmuskeln,  rm  Ring- 
muskeln. 


Der  Dünndarm  ist  allgemein  bei  den  Lamelli- 
corniern  sehr  kurz.  Das  Längenverhältnis  des 
Dünndarms  zum  übrigen  Enddarm  ist  hier  ein 
gerade  umgekehrtes  wie  bei  den  meisten  anderen 
Käfern.  Beim  Maikäfer  bildet  das  Epithel  des 
Dünndarms  zahlreiche  unregelmäßige  Falten.  Dies 
ist  insofern  ein  abweichendes  Verhalten,  als  der 
Dünndarm  bei  anderen  Käfern  im  allgemeinen 
sechs  deutliche  Längsfalten  besitzt. 

fün  Teil  des  Enddarms  hat  sich  beim  Mai- 
käfer in  den  Dickdarm  umgewandelt,  ein  ziemlich 


voluminöses  Organ,  dessen  Epithel  eine  große 
Anzahl  mächtiger  Falten  aufweist  (Abb.  3).  Das 
Epithel  dieser  Zotten  trägt  eine  dicke,  fein  senk- 
recht gestreifte  Chitinschicht  (Intima,  i),  während 
das  übrige  Epithel  nur  eine  schwache  ungestreifte 
Chitinschicht  hat.  Die  Muskulatur  ist  sehr  schwach. 
Wahrscheinlich  ist  dieses  Organ  absorbierend  tätig; 
ein  stenger  Nachweis  fehlt  jedoch,  da  Steudel 
verfütterte  Präparate  nur  in  der  Chitinschicht,  nicht 
aber  in  den  Zellen  selbst  hat  nachweisen  können. 
An  den  Dickdarm  schließt  sich  der  Mastdarm 
(das  Rektum)  an.  Er  ist  ziemlich  lang  und  schwillt 
keulenförmig  an,  wobei  seine  Ringmuskulatur 
sukzessive  stärker  wird.  Die  Ringmuskelbündel 
ziehen  im  vorderen  und  längsten  Teil  glatt  über 
die  Falten    weg;    weiterhin    macht    sich    aber  die 


Abb.  4.     Querschnitt  durch  den  Mastdarm  des  Maikäfers, 
i  Chitinscbicht  (Intima),  e  Epithel,  rm  Ringmuskeln. 


Tendenz  geltend,  den  Muskelmantel  in  sechs  Ab- 
schnitte zerfallen  zu  lassen  (Abb.  4).  Der  erste 
Teil  des  Mastdarms  besitzt  im  Innern  zahlreiche 
Längsfalten;  diese  ordnen  sich  weiterhin  in  sechs 
Gruppen  an;  so  entstehen  sechs  große  Längsfalten, 
welche  spitze  Winkel  miteinander  einschließen 
(Abb.  4).  Deutlich  sieht  man  das  eine  dünne 
Chitinschicht  tragende  Epithel. 

Überall  wo  mächtige  Falten  des  Epithels  sich 
entwickeln,  zeigt  sich  die  Neigung,  den  Ring- 
muskelmantel in  so  viel  Teilstücke  zu  zerlegen 
als  Falten  vorhanden  sind,  natürlich  nur  dann, 
wenn  in  den  Falten  keine  anderen  Muskelelemente 
(Längsmuskeln)  vorhanden  sind.  Es  wird  dadurch 
eine  größere  Wirksamkeit  der  Muskeln  herbei- 
geführt und  der  leere  Raum  in  den  F"alten  aus- 
genutzt. 

Die  Ausgestaltung  und  Größe  des  Mastdarms 
beim  Maikäfer  ist  wiederum  eine  Besonderheit 
der  Melolonthinen,  da  dieses  Organ  in  der  Ordnung 
der  Käfer  meist  keine  eigenartige  Ausbildung  in 
histologischer  Hinsicht  zeigt  und  oft  sehr  unschein- 
bar ist. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  die  vier  Vasa 
Malpighii   erwähnen,    welche    am    Übergang    des 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftlich  e  Wochenschrift. 


Mitteldarms  zum  Enddarm  einmünden  (Abb.  2 
bei  vm).  Zwei  derselben  sind  einfache  Schläuche, 
die  zwei  anderen  verzweigt,  d.  h.  mit  zahlreichen 
Seitennästchen  versehen ').  Die  Malpighischen 
Gefäße  liegen  dem  Mitteldarm  dicht  an,  alle  seine 
Windungen  mitmachend  und  gelangen  bis  zum 
Vorderdarm;  desgleichen  umschließen  sie  den 
Enddarm.  Sie  erscheinen  als  ein  Gewirre  von 
Fäden,  welches  leicht  in  die  Augen  fällt,  wenn 
man  den  Hinterleib  des  Käfers  aufgeschnitten  hat 


M  Auf  der  die  Anatomie  des  Maikäfers  betreffenden 
Wandtafel  von  Leuckart  und  Nitsche  (Nr.  84),  welche 
von  Prof  Eckstein  gezeichnet  wurde,  ist  die  Histologie  der 
Vasa  Malpighii  nach  Leydig  abgebildet. 


und  in  der  üblichen  Weise  in  der  Präparierschale 
unter  Wasser  betrachtet. 

Literatur. 

G  o  r  k  a :  Beiträge  zur  Morphologie  des  Verdauungsappa- 
rates der  Coleopteren.  Allgemeine  Zeitschrift  für  Entomologie 
Bd.  6,    1901,   S.  339. 

Jordan:  Vergleichende  Physiologie  Wirbelloser.  Jena 
19 13,  S.  623. 

Mingazzini:  Ricerche  sul  canale  digerente  dei  La- 
mellicorni.  Mitteilungen  der  Zoologischen  Station  zu  Neapel 
Bd.  9,   18S9. 

Sirodot:  Recherches  sur  les  secretions  chez  les  insectes. 
Annales  des  Sciences  naturelles.  Zoologie  Vol.  10,  1858, 
S.  151  u.  251. 

Weitere  Literatur  ist  erwähnt  in  dem  Handbuch  der 
Entomologie  von  Schröder  (Abschnitt  „Darmkanal").  2.  Liefe- 
rung, Jena   1913. 


Die  Kniturpflanzen  und  Unkräuter  der  Wikinger. 


[Nachdruck  verboten.] 

Bis  vor  kurzem  waren  wir  für  die  Kenntnis 
der  Kulturpflanzen  des  germanischen  Altertums 
ganz  auf  literarische  und  linguistische  Quellen  an- 
gewiesen. Diesbezügliche  Daten  haben  für  Nor- 
wegen Schübeier,  01afsen,Növik,  Schnit- 
1er,  Skappel,  Hasund,  Bugge,  Johnsen 
u.  a.  und  für  das  gesamte  germanische  Altertum 
vor  allem  Hoops*)  zusammengestellt.  Da  wurde 
1903  beim  Hof  Oseberg  im  norwegischen  Amt 
Vestfold  (an  der  IMündung  des  Kristianiafjords)  in 
einem  Grabhügel  aus  Torf  ein  wohlerhaltenes 
Wikingerschiff  aus  der  Mitte  des  9.  Jahrhunderts 
entdeckt  und  im  folgenden  Jahre  sorgfältig  aus- 
gegraben und  wieder  zusammengesetzt.  Die  zahl- 
reichen ,  kulturgeschichtlich  hochbedeutsamen 
Funde,  die  in  die  jüngere  Eisenzeit  gehören,  wer- 
den in  einem  in  Kristiania  erscheinenden  Pracht- 
werk „Osebergfundet"  beschrieben.  Soeben  ist 
der  die  Nutzpflanzen  und  Unkräuter  behandelnde 
Teil  von  Prof  Jens  Holmboe  in  Bergen  er- 
schienen. -)  Da  diese  Bearbeitung  weit  über 
Skandinavien  hinaus  großes  Interesse  verdient, 
sei  der  Inhalt  hier  kurz  skizziert. 

Auf  dem  prächtig  geschnitzten  Schiff  ist  eine 
Wikingerkönigin  mit  ihrer  Magd,  ihren  Pferden, 
Ochsen  und  Hunden  und  zahlreichen  Geräten  zur 
letzten  Ruhe  gebettet  worden.  Höchstwahrschein- 
lich war  es  Aasa,  die  Gemahlin  Halvdan  Svartes 
und  Großmutter  König  Harald  Haarfagres,  der 
zum  erstenmal  ganz  Norwegen  zu  einem  Reich 
vereinigte.  Sowohl  die  Beisetzung  der  Königin 
wie  die  Geburt  ihres  Enkels  erfolgten  zwischen 
840  und  850  n.  Chr.  —  Kurz  zuvor  soll  dessen 
Mutter  folgenden  Traum  gehabt  haben:  Sie  stand 
in    ihrem    „Grasgarten"    und    zog  einen  Dorn  aus 

')  Joh.  Hoops,  VValdbäume  und  Kulturpflanzen  im 
germanischen  Altertum.     Straflburg   1905. 

^)  Jens  Holmboe,  Nytteplanter  og  ugraes  i  Oseberg- 
fundet. Osebergfundet  Bd.  V,  Kristiania  1921.  —  Vgl.  auch 
die  vorläufige  Mitteilung  desselben  Verf.s  im  Nyt  Magazin  for 
Naturvidenskaberne  Bd.  44,  1906. 


Referat  von  Dr.  H.  Garns. 


dem  Gewand.  Dieser  erwuchs  zu  einem  mächti- 
gen Baum,  und  seine  Äste  breiteten  sich  über 
ganz  Norwegen  und  darüber  hinaus.  —  Aus  die- 
sem königlichen  Garten,  der  wohl  bei  Borre 
2  Stunden  von  Oseberg  lag,  dürften  also  die 
meisten  der  auf  dem  Schiff  gefundenen  Pflanzen- 
reste stammen.  Diese  lassen  sich  auf  5  Gruppen 
verteilen : 

1.  Von  im  Lande  selbst  nicht  gebauten  Pflan- 
zen stammende,  von  auswärts  eingeführte  Pro- 
dukte. Hierher  wahrscheinlich  nur  die  Walnuß 
(liiglcms  regia),  von  der  eine  halbe  Schale  in  der 
Grabkammer  gefunden  worden  ist.  Im  Neolithi- 
kum wurde  der  Nußbaum  im  Mittelmeergebiet 
und  von  Südfrankreich  bis  in  die  Schweiz  kulti- 
viert, seit  der  Bronzezeit  auch  im  übrigen  West- 
und  Mitteleuropa.  Die  Hof-  und  Klostergarten- 
inventare  des  9.  Jahrhunderts  nennen  ihn  iiiicarios, 
die  ältesten  angelsächsischen  Glossare  hnutbcam. 
Nach  Skandinavien  gelangte  der  Baum  selbst  wohl 
erst  im  späteren  Mittelalter,  doch  wurden  die 
Nüsse  schon  früher  aus  Westeuropa  (daher  valhiwt, 
Walnuß  =  welsche  Nuß)  geholt,  so  im  11.  und 
12.  Jahrhundert  von  den  Königen  Harald  Haar- 
drade  und  Sigurd  Jorsalfar  aus  Miklagard.  Der 
1 1 39  gestorbene  Sigurd  Slembedegn  soll  ein 
Feuerzeug  in  einer  Nußschale  besessen  haben. 
Erst  aus  dem  16.  Jahrhundert  werden  aus  Nor- 
wegen auch  grüne  Nußschalen  in  Hexenurkunden 
genannt. 

2.  Von  auswärts  eingeführte,  aber  im  Land 
selbst  gebaute  Getreide ,  Küchen- ,  Faser-  und 
P'ärbepflanzen.  Von  Getreidekörnern  enthielten 
Kisten  der  Oseberggrabkammer  Hafer  {Avena 
sativd)  und  Weizen  {Triticum  vulgare).  Noch 
Theophrast  nennt  den  Hafer  als  halbwilde  Kultur- 
pflanze, von  größerem  Haferbau  berichten  erst 
Galen  und  Plinius.  Aus  der  Bronzezeit  liegen 
Haferfunde  außer  aus  Savoyen  und  der  Schweiz 
auch  aus  Dänemark  und  Schweden  vor.  Hafer- 
abdrücke    auf     vorgeschichtlichen     Töpfen     aus 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Schweden  und  Norwegen  haben  Sarauw  und 
Holmboe  wiederholt  nachgewiesen,  einzelne 
schon  aus  der  Eisenzeit.  Wie  das  lateinische 
avcna  vielleicht  mit  ovis,  so  hängt  das  altnordische 
hafri  mit  hafr  =  Bock  zusammen.  Beides  scheint 
auf  die  Verwendung  als  Viehfutter  zu  deuten. 
Wohl  schon  zur  Wikingerzeit  ist  der  nordische 
Name  auch  ins  Englische  und  Finnische  {kakra, 
kaurd)  übergegangen.  Daneben  findet  sich  in 
der  Edda  auch  korkt,  wohl  ein  keltisches  Lehn- 
wort. Nächst  der  Gerste  war  der  Hafer  wohl  das 
wichtigste  Getreide  der  Wikinger.  In  dem  um 
goo  entstandenen  Harbardslied  nennt  ihn  Tor  mit 
dem  Häring  zusammen.  Ob  schon  die  in  alt- 
nordischen Gräbern  nicht  seltenen  Bratpfannen 
aus  Schmiedeeisen  zur  Herstellung  von  „Flabröd" 
aus  Hafer  gedient  haben,  mag  dahingestellt  blei- 
ben. Von  alten  Ortsnamen  leiten  sich  Hartveit 
in  Norwegen  wie  Haverthwaite  in  Cumberland 
vom  Hafer  ab.  Gegen  1300  heißt  er  in  Nor- 
wegen und  Schweden  auch  licstakoru  (Pferdekorn), 
welchen  Namen  der  1302  bei  Bergen  hingerichtete 
Edelmann  Audun  Hugleiksson  bekommen  haben 
soll,  da  er  als  erster  Getreide  an  Pferde  verfüttert 
haben  soll.  Doch  haben  solches  schon  früher  die 
Pferde  Olafs  des  Heiligen  und  des  Bischofs  be- 
kommen. • —  Der  gefundene  Weizen  gehört  sicher 
zu  Triticitm  vulgare,  da  die  Spelzen  fehlen.  Die 
Körner  sind  im  Verhältnis  zu  anderen  vorge- 
schichtlichen Funden  groß.  Aus  dem  mittel- 
europäischen Neolithikum  sind  sowohl  Nackt- 
weizen {T.  vulgare  und  cotnpachi.ni)  wie  auch 
Spelzweizen  [T.  monococciim  und  dicoccuni) 
bekannt,  aus  Oberitalien  auch  T.  iurgidum.  Auf 
neolithischen  Töpfen  aus  Dänemark  fand  Sarauw 
Abdrücke  von  vulgare,  dicoccuin  und  nionococcum. 
Letztere  beide  sind  in  Nordeuropa  aus  späterer 
Zeit  nicht  bekannt.  T.  vulgare  stellte  er  auch 
für  das  schwedische  Neolithikum,  T.  compactnni 
für  die  dänische  Bronzezeit  fest.  Holmboe 
fand  Abdrücke  von  vulgare  an  Töpfen  aus  Nor- 
wegen, die  wesentlich  älter  als  das  Osebergschiff 
sind,  die  Annahme  Körn  ick  es,  daß  der  Weizen 
erst  im  12.  Jahrhundert  nach  Norwegen  gekom- 
men sei,  ist  also  unhaltbar.  Noch  heute  wird  um 
Oseberg  reichlich  Weizen  gebaut.  Zur  Zeit  Haar- 
fagres  wurde  nach  der  Egilssaga  Weizen  aus 
England  importiert,  damals  war  auch  bereits 
dünnes  Weizenbrot  bekannt.  Neben  hveiti  findet 
sich  seit  dem  12.  Jahrhundert  auch  Jiainalkynii, 
das  ursprünglich  wohl  Weizen  und  Roggen  be- 
zeichnete, wogegen  im  Deutschen,  Dänischen  und 
Englischen  Amelkorn  vor  allem  für  Emmer  {T. 
dicoccuin)  gebraucht  wurde.  Jetzt  bedeutet  es  in 
den  norwegischen  Dialekten  {hunivulkoii,  Iiaiiilc- 
konii,  Iiunivielkyriie)  zumeist  Mengfrucht  aus  Hafer 
und  Gerste.  —  Das  Hauptgetreide  der  Wikinger 
war  wohl  die  Sommergerste  (Hordeum 
disficliitni).  Das  altnordische  barlak  findet  sich 
im  englischen  barlcy  wieder.  Im  Hallingdal  ist 
daraus  harlindbygg  geworden ,  das  natürlich  mit 
der  Eibe  (norw.  barlitid)  nichts  zu  tun  hat.     Zur 


Wikingerzeit  ist  sicher  Getreide  auch  aus  England 
eingeführt  worden,  worauf  u.  a.  die  Namen  val- 
^ySS  (welsche  Gerste)  und  valrugr  (welscher 
Roggen)  deuten.  Damals  scheint  der  Ackerbau 
überhaupt  große  Ausbreitung  und  manche  Ver- 
besserung   und  Bereicherung    erfahren    zu    haben. 

—  Vom  Roggen  (Secalc  cereale)  soll  eine  später 
verloren  gegangene  Mehlprobe  des  Osebergschiffs 
stammen ;  mit  Sicherheit  ist  er  in  Norwegen  erst 
aus  dem  christlichen  Mittelalter,  in  Schweden 
schon  aus  dem  3. — 4.  Jahrh.  n.  Chr.,  in  Dänemark 
aus  der  späteren  Eisenzeit  bekannt. 

Eine  bei  einem  der  Pferdeskelette  gefundene 
runde  Holzschachtel  enthielt  reichlich  Schötchen- 
reste  und  Samen  der  Gartenkresse  {Lepidium 
sativum  f.  typicmn  Thell.).  Vorgeschichtliche 
Kressenfunde  waren  bisher  nur  aus  Ägypten  be- 
kannt. *)  In  England  wurde  sie  schon  in  angel- 
sächsischer Zeit  gebaut;  in  Deutschland  nennen 
sie  zuerst  die  heilige  Hildegard  und  Albertus 
Magnus,  in  Dänemark,  gleichfalls  als  Heilmittel, 
der  Kräuterbuchverfasser  Henrik  Harpestreng  (geb. 
1164,  gest.  1244).  Auch  für  Schweden  wird  sie 
schon  in  älteren  Kräuterbüchern,  für  Norwegen 
erst  aus  dem  17.  Jahrhundert  angeführt.  Der 
Osebergfund  lehrt,  daß  sie  auch  daselbst  zu  den 
ältesten    Bestandteilen    des  Küchengartens    zählte. 

—  Andere  Gewürz-  und  Gemüsepflanzen  der 
Wikinger  waren  Lauch  {Allium  -  Arten,  wohl 
zuerst  sativum ,  dann  scJiocnoprasum  und  cepa ; 
ersteres  ist  wohl  der  gcirlaukr  der  alten  Texte, 
letzteres  unioen  bei  Harpestreng;  die  Deu- 
tung von  hjalmlaukr,  itrlaukr  und  nattlaukr 
ist  ungewiß),  Engelwurz  {Angelica  Archange- 
lica,  altnordisch  Jivoiin ,  jetzt  kvaini)  und  Rüben 
(Brassica  N^apus,  altnord.  naepa,  angelsächs.  nacp). 
Lauch  und  Lein  werden  schon  in  der  Runen- 
inschrift eines  Fleischmessers  von  Alversund  bei 
Bergen  genannt,  das  aus  dem  4.  Jahrh.  stammt 
und  wohl  zu  rituellen  Zwecken  in  einem  altnor- 
dischen Phalluskult  diente.  Engelwurz  schenkte 
bereits  im  Jahre  1000  König  Olav  Tryggvason 
zu  Nidaros  (Drontheim)  seiner  Gemahlin,  die  frei- 
lich so  gemeine  Speise  verschmähte.  —  Auch 
Kohl,  Erbsen,  Bohnen  {Vicia  Faba)  und 
Hopfen  waren  schon  in  der  Sagazeit  bekannt, 
und  Gesetze  aus  dem  13.  Jahrhundert  sprechen 
von  Bohnen-,  Erbsen-  und  Rübenbeeten  (batmareitr, 
ertrareitr,  naepnareitr).  —  Vielleicht  baute  man 
auch  den  Leindotter  {Camelina  safiva),  denn 
mehrere  mit  dotJira  zusammengesetzte  Ortsnamen 
müssen  älter  als  die  Wikingerzeit  sein.  Cameliiui 
ist  aus  dem  Neolithikum  für  Ungarn  (Aggtelek), 
aus  der  La  Tene-Zeit  für  Schlesien  und  aus  dem 
3. — 4.  Jahrhundert  für  Gothland  nachgewiesen. 
Nach  Dioskurides  wurde  Dotteröl  zu  Fackeln  ge- 
braucht, in  Osteuropa  ist  es  noch  allgemein  be- 
kannt und  in  den  Kriegsjahren   auch  in  Deutsch- 


')  Samen  einer  nicht  weiter  bestimmten  Kressenart  hat 
Neu  weil  er  vor  kurzem  in  den  Pfahlbauten  des  Zürichsees 
gefunden.     Anm.  d.  Referenten. 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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land  wieder  empfohlen  worden.  Gunnerus  nennt 
die  Pflanze  daadre  und  liindotter ;  heute  ist  sie 
in  Norwegen  nur  noch  ein  seltenes  Unkraut. 

Von  Gespinnst-  und  Färbepflanzen  hat  das 
Osebergschiff  einzelne  Samen  von  Flachs  {Liimm 
usitatissimton)  und  Hanf  {Cannabis  sativa)  und 
eine  ganze  Schachtel  voll  Schötchenresten  vom 
Waid  (Isaf IS  tindorid)  aufbewahrt.  Die  Bestim- 
mung der  meisten  alten  Leinreste  ist  immer  noch 
umstritten.  L.  usitafissiinuni  ist  sicher  im  alten 
Mesopotamien.  Ägypten  und  Italien  gebaut  wor- 
den. Der  Pfahlbautenlein  wird  bald  als  L.  aii- 
i;iisti/oliuiii ,  das  sicher  die  Stammpflanze  von 
L.  usitalissimum  ist,  bald  als  L.  aiistriaciiin  ge- 
deutet. (Nach  Gentner  ist  er  sicher  der  zwei- 
jährige Wintetflachs,  der  noch  jetzt  in  einigen 
Tälern  der  Zentral-  und  Ostalpen  gebaut  wird. 
Ref.)  Aus  Deutschland  stammen  die  ältesten 
Leinfunde  aus  der  älteren  Eisenzeit,  aus  Däne- 
mark aus  der  jüngeren  Bronzezeit,  aus  Schweden 
aus  der  Eisenzeit.  Aus  Westnorwegen  wird  liiui 
neben  laukar  (Lauch  s.  oben)  bereits  in  einer 
Runeninschrift  aus  dem  4.  Jahrh.  genannt.  Alte 
Leinhecheln  und  Spinnräder  sind  oft  gefunden 
worden,  Leintuch  z.  B.  in  einem  Grab  aus  dem 
10.  Jahrh.  Mehrere  aus  liii-  und  -vin  zusammen- 
gesetzte Ortsnamen  müssen  spätestens  aus  der 
Wikingerzeit  stammen,  der  nördlichste  liegt  im 
Troms-Amt  (später  soll  Flachs  sogar  bis  Skjervö 
gebaut  worden  sein).  Neben  altnordisch  lüi 
kommt  auch  horr  vor.  In  einem  leinenen  Frauen- 
gewand soll  Tor  seine  Fahrt  zu  den  Riesen  an- 
getreten haben.  Noch  im  19.  Jahrh.  war  der 
Flachsbau  bis  Drontheim  von  Bedeutung;  1907 
war  er  auf  8  Ämter  beschränkt  (am  meisten  noch 
in  Opland  und  Hedmark).  Interessanterweise 
treten  Flachs  und  Kresse  heute  oft  zusammen 
ruderal  oder  in  Äckern  auf,  wie  sie  schon  auf 
dem  Osebergschifif  beisammen  lagen.  ■ —  Die  Hanf- 
kultur reicht  in  Indien  bis  ins  8.  und  9.,  in  China 
bis  ins  5.  Jahrh.  v.  Chr.  zurück,  war  dagegen  im 
alten  Ägypten,  Palästina  und  Griechenland  an- 
scheinend unbekannt.  Die  Skythen  bereiteten 
nach  Herodot  aus  Hanf  Gewebe  und  Narkotika 
(Haschisch  1),  und  von  ihnen  ist  er  wohl  zu  den 
Germanen  und  Galliern  gelangt.  Während  die 
Römer  Hanf  erst  seit  dem  2.  Jahrh.  bauten,  ließ 
Hiero  II.  von  Syrakus  schon  im  3.  Jahrh.  v.  Chr. 
Hanfseile  aus  dem  Rhonetal  kommen.  Die  Ger- 
manen haben  den  Hanf  schon  vor  der  Abtrennung 
der  Angelsachsen,  also  wohl  schon  im  4.  oder 
5.  Jahrh.  v.Chr.  aus  Südosteuropa  erhalten.  Aus 
Deutschland  nennt  ihn  zuerst  das  Capitulare  de 
villis.  Prähistorische  Hanfsamen  waren  aus  Mittel- 
und  Nordeuropa  bisher  nicht  bekannt,  hingegen 
ist  Segeltuch  aus  Hanf  außer  im  Osebergschiff 
auch  in  Wikingergräbern  der  norwegischen  West- 
küste gefunden  worden.  Für  Hanfkultur  mußte 
im  12.  und  13.  Jahrh.  in  Norwegen  und  Schwe- 
den Zehnten  bezahlt  werden.  Hemden  aus  Hanf 
oder  Flachs  waren  für  den  Besuch  am  norwegi- 
schen Königshof  vorgeschrieben.   Für  die  Gegend 


von  Oseberg  ist  Hanfbau  fürs  16.  Jahrh.  nachge- 
wiesen, im  18.  reichte  er  bis  Surendalen  und 
Bradsbierg,  ging  aber  schon  damals  rasch  zurück. 
Schon  im  Mittelalter  mußte  Hanf  aus  England 
und  später  von  den  Hansastädten  in  Preußen  und 
Livland  eingeführt  werden,  und  heute  ist  der 
nordische  Hanfbau  trotz  aller  Bestrebungen  zu 
seiner  Wiederbelebung  ganz  erloschen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  der  Waid 
[Isafis  tindoria),  von  dem  sich  eine  Menge  zer- 
fallener Schötchen  fand.  Die  Pflanze  ist  sicher 
nicht  in  ihrem  ganzen  heute  von  Madeira,  Nord- 
afrika und  Indien  bis  Schweden  und  Finnland 
reichenden  Areal  urwüchsig.  Die  ursprüngliche 
Westgrenze  dürfte  kaum  über  Ungarn  hinaus- 
gehen. Ihren  Gebrauch  zum  Blaufärben  beschreibt 
schon  Demokrit.  Die  Römer  nannten  sie  vitruvi 
oder  glastum^  wohl  von  keltisch  glas  =  blau. 
Die  Britannier  bemalten  sich  zu  Cäsars  Zeit  damit 
den  Körper,  daher  hatten  wohl  auch  die  Picter 
ihren  Namen.  Der  schon  im  Gotischen  und  Alt- 
hochdeutschen nachweisbare  Name  Waid  ist  in 
verschiedenen  Formen  ins  Spätlateinische,  Italieni- 
sche ,  Französische,  Tschechische  und  Russische 
übergegangen  und  ist  wohl  auch  mit  dem  lateini- 
schen und  griechischen  Namen  stammverwandt, 
so  daß  die  Pflanze  wohl  schon  vor  der  Abzweigung 
der  Hellenen  und  Italer  von  den  übrigen  Indo- 
germanen  bekannt  gewesen  sein  wird.  Sicher 
bauten  sie  die  Kelten.  In  Deutschland  wird  sie 
zuerst  aus  dem  9.  Jahrh.  [uiiatsdu  im  Capitulare 
de  villis)  genannt.  Der  ausgedehnte  Waidbau  in 
Thüringen  und  im  Languedoc  geht  mindestens 
bis  ins  10.  Jahrh.  zurück,  von  welchem  an  bis  zur 
Einführung  des  Indigo  der  Waid  den  wichtigsten 
blauen  Farbstoff  in  Mittel-  und  Nordeuropa  lieferte. 
Von  Waidhändlern  wurde  die  Universität  Erfurt 
1392  gestiftet,  der  dortige  Waidbau  erreichte 
seinen  Höhepunkt  im  16.  Jahrh.  Von  1570  an 
mußte  er  aber  trotz  behördlicher  Maßnahmen 
dem  asiatischen  und  später  dem  synthetischen 
Indigo  weichen.  Von  den  1616  noch  vorhandenen 
300  „Waiddörfern"  Thüringens  waren  1629  nur 
noch  30,  1750  noch  17  und  1850  nur  noch  9 
übrig.  Bis  gegen  1800  hielt  sich  der  Waidbau 
in  England  und  Kärnten  und  bis  heute  stellen- 
weise in  Portugal,  Italien  und  Rumänien.  Ver- 
gebens suchten  Schreber  1752  und  F".  A. 
V.  Resch  181 2,  ihn  wieder  emporzubringen.  Im 
Altertum  (z.  B.  bei  Dioskurides)  und  im  Mittel- 
alter (z.  B.  bei  der  heiligen  Hildegard  und  Macer 
floridus)  war  der  Waid  auch  Heilpflanze.  Des 
letzteren  Werk  war  die  Hauptquelle  für  Henrik 
Harpestreng.  In  mehreren  seiner  Handschriften 
und  selbst  in  isländischen  Arzneibüchern  ist  von 
dem  Heilmittel  vifrnin  gegen  Blasensteine  die 
Rede,  wobei  aber  nicht  immer  sicher  ist,  ob  die 
betreffenden  Verff.  die  Pflanze  kannten.  Verwil- 
derter Waid  wird  aus  der  Umgebung  eines  däni- 
schen Klosters  1688  angegeben,  und  1761  galt  er 
bereits  als  in  Dänemark  einheimisch,  ist  aber  seit- 
her bis  auf  seltene  adventive  Vorkommnisse  ver- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schwunden.  In  Schweden  wird  der  Waid  zuerst 
1623  als  wild  und  bald  darauf  auch  als  Färber- 
pflanze {färgvedc)  genannt.  L  i  n  n  e  traf  ihn  am 
Strand  Von  Öland  (1741)  und  einigen  Inseln  bei 
Gotland  wie  wild.  In  Schweden,  besonders  in 
Vestergötland ,  wurde  er  damals  und  bis  ins 
19.  Jahrhundert  zusammen  mit  Wau  {Reseda 
luteola)  viel  gebaut.  Der  Waid  lieferte  die  blaue 
und  der  Wau  die  gelbe  Farbe  für  die  schwedi- 
schen Uniformen  und  Fahnen.  Jetzt  ist  der  Waid- 
bau auch  dort  verschwunden,  die  Pflanze  hat  sich 
aber  noch  hier  und  da  am  Strand  zu  behaupten 
vermocht.  Aus  Norwegen  fehlten  bisher  sichere 
Angaben  aus  älterer  Zeit.  Gefärbte  und  nament- 
lich blaue  Kleider  waren  schon  zur  Wikingerzeit 
bei  den  Vornehmen  in  Gebrauch,  nach  der  Svarf- 
doela-  und  Finnboga-Saga  auch  auf  Island.  Dort 
wurden  blaue  Tücher  nachweisbar  von  außen  be- 
zogen. Als  einheimische  Farbpflanze  kommen 
nur  Geraniinii  silvaticiim ,  Vaccinium  Alyrtillus 
und  Campaiuda  rotundifolia  in  Betracht.  Blaue 
Wollfäden  aus  einem  Grab  aus  dem  5.  Jahrh.  am 
Nordfjord  sind  nach  Hilda  Christensen  sicher 
durch  einen  Indigofarbstoff,  also  wohl  durch  Waid 
gefärbt.  Ähnlich  gefärbte  Wolle  fand  sich  in 
einem  Grab  aus  dem  10.  Jahrh.  in  Mörkedal. 
Erst  aus  viel  späterer  Zeit  liegen  Angaben  über 
Waidbau  in  Norwegen  vor,  er  war  dort  nie  von 
ähnlicher  Bedeutung  wie  in  Schweden.  Im 
18.  Jahrh.  wurde  z.  B.  Waid  von  Bischof  Gunnerus 
bei  Drontheim  gepflanzt,  etwas  später  von  Sommer- 
feit in  Toten.  Von  1768  bis  1843  wurde  der 
Waidbau  besonders  von  der  Gesellschaft  für  Nor- 
wegens Wohlfahrt  wiederholt  empfohlen.  Reife 
Samen  wurden  noch  am  Maalselv  im  nördlichen 
Norwegen  und  in  Hallingdal  bis  470  m  ü.  M. 
geerntet.  Jetzt  tritt  die  Pflanze  nur  noch  selten 
als  Kulturrelikt  oder  ruderal  auf,  so  noch  in  Saiten 
und  Lavanger  im  Amte  Troms  fern  von  jeder 
Kultur,  wohl  aus  verschwemmten  Samen. 

3.  Sammelfrüchte  einheimischer  Arten.  Von 
solchen  sind  in  größerer  Zahl  Haselnüsse 
{Corylns  avclland)  und  Holzäpfel  {Malus  sä- 
vestris)  auf  dem  Osebergschiff  gefunden  worden. 
Wie  in  den  Pfahlbauten  fanden  sich  von  der 
Haselnuß  sowohl  f.  süvestris  wie  f.  oblonga.  Die 
Hasel  wird  in  der  Saga-Literatur  oft  genannt.  — 
Die  gefundenen  Holzäpfel ,  wovon  54  ganze, 
stimmen  mit  heutigen  norwegischen  Wildäpfeln 
überein.  In  Süd- Helgeland  überschreitet  der 
Holzapfel  heute  den  66.  Breitegrad.  Auf  dem 
Osebergschiff  fanden  sich  eine  mehr  fünfseitige, 
zugespitzte  Form  und  eine  mehr  kugelige,  da- 
gegen nicht  der  zuerst  von  Heer  beschriebene 
„größere  Pfalilbauapfel",  wohl  die  älteste  Kultur- 
sorte in  Europa.  1908  wurde  diese  auch  in  dem 
neolithischen  Pfahlbau  Alvastra  in  Vestergötland 
gefunden.  Die  bronzezeitlichen  Äpfel  von  Vam- 
drup  in  Dänemark  gleichen  dagegen  der  runden 
Form  von  Oseberg.  Sicher  haben  die  alten  Ger- 
manen einheimische  Holzäpfel  in  Kultur  genom- 
men.     Von    dem    altnordischen    apaldr    für    den 


Baum  und  epli  für  die  Frucht  leiten  sich  nicht 
nur  die  germanischen,  sondern  auch  slavische  und 
keltische  Namen  ab,  vielleicht  auch  der  Name  der 
italienischen  Stadt  Abella.  Bekanntermaßen  spielen 
Äpfel  auch  in  der  nordischen  Mythologie  (z.  B. 
bei  Idun  und  Fröi)  eine  Rolle,  wogegen  die  „Äpfel 
des  Paradieses"  nach  Thorild  Wulff  auf  eine 
unrichtige  Übersetzung  zurückgehen.  Abgesehen 
von  dem  Alvastrafund  kennt  man  sicher  kultivierte 
Äpfel  in  Skandinavien  erst  aus  christlicher  Zeit. 
Wahrscheinlich  wurde  der  Obstbau  hauptsächlich 
durch  die  Mönche  gefördert.  Von  apaldr  abge- 
leitete Ortsnamen  sind  bis  in  die  Gegend  von 
Drontheim  (Abelvik)  nachweisbar,  und  aus  dem 
Mittelalter  werden  öfter  Apfelgärten  erwähnt. 

4.  Unkräuter  (altnordisch  ülgye^i).  Unter  den 
Getreide-  und  Kressenamen  und  zwischen  Federn 
in  der  Grabkammer  wurden  Samen  und  Frücht- 
chen folgender  Unkräuter  festgestellt:  Polygonum 
cf.  lapatlii/ülüim^  auch  aus  zahlreichen  stein-  und 
bronzezeitlichen  Funden  in  Mitteleuropa  bekannt, 
in  Großbritannien  seit  dem  Neolithikum,  in  Däne- 
mark in  vielen  mittelalterlichen  Ablagerungen,  in 
Norwegen  heute  bis  Drontheim  und  Ostfinnmarken. 

—  Polygoinim  Con-i'olvulus\  in  Mitteleuropa  seit 
dem  Neolithikum,  stellenweise  so  reichlich ,  daß 
vielleicht  an  alten  Anbau  zu  denken  ist  (vgl. 
„wild  Baukweite"  in  Pommern),  in  Kopenhagen 
in  den  mittelalterlichen  Kulturschichten,  in  Nor- 
wegen heute  bis  Nordland  und  Ostfinnmarken.  — 
Chciiopodium  albitm ;  ebenfalls  in  alten  Ablage- 
rungen (z.  B.  in  den  Pfahlbauten  der  Schweiz,  in 
dänischen  Funden,  in  einem  Eisenzeitfund  am 
Mälarsee)  häufig  und  wohl  auch  alte  Mehlfrucht, 
in  Norwegen  heute  bis  Finnmarken.  —  Urtica 
uretis ;  bisher  aus  Mittel-  und  Nordeuropa  prä- 
historisch nicht  nachgewiesen,  in  Dänemark  erst 
in  den  mittelalterlichen  Kulturschichten  von  Kopen- 
hagen, aus  Deutschland  zuerst  bei  der  heiligen 
Hildegard  und  Albertus  Magnus,  in  Norwegen 
jetzt  bis  Finnland  verbreitet.  —  Stellaria  media; 
in  England  und  Schottland  schon  in  dem  prä- 
glazialen Cromer  forest  bed,  in  der  Schweiz  in 
paläolithischen  Pfahlbauten  usw.  Der  altnordische 
Name  arfi  (jetzt  vassarv)  ist  in  einigen  norwegi- 
schen Ortsnamen  vermutet  worden.  Die  Art  ist 
in  Norwegen  eines  der  gemeinsten  Unkräuter, 
wohl  auch  sicher  urwüchsig,  und  ist  von  V.  B. 
Wittrock  (Vetenskapsakademiens  Arsbok  19 18) 
für  die  am  meisten  kosmopolitische  Phanerogame 
überhaupt  erklärt  worden.  —  CapseUa  Bursa 
pastoris ;  bisher  anscheinend  prähistorisch  nicht 
nachgewiesen ,  jetzt  allgernein  verbreitet.  —  La- 
inium  cf.  purpiirtutii ;  in  Österreich  in  den  Hall- 
statterfunden, in  Kopenhagen  in  den  alten  Kultur- 
schichten nachgewiesen,  in  Norwegen  jetzt  bis 
Nordland  und  vereinzelt  bis  Finnmarken  verbreitet. 

—  Galeopsis  tctrahit;  in  England  und  Schottland 
schon  im  Spätglazial,  in  der  Schweiz  und  Deutsch- 
land im  Neolithikum,  in  Dänemark  (eher  G.  spe- 
eiosa)  in  den  Kulturschichten  von  Kopenhagen, 
in  Schweden  schon  in  Torf  aus  dem  Anfang  der 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


85 


Tapeszeit,  jetzt  in  ganz  Norwegen  verbreitet.  Auf 
diese  Pflanze  werden  altnordisch  akrdai  und  doglia 
bezogen ,  doch  wurden  darunter  jedenfalls  auch 
aromatische  oder  narkotische  Pflanzen  verstanden, 
die  dem  Met  und  Bier  zugesetzt  wurden,  so  auf 
den  Shetlandsinseln  nach  dem  Hildinalied  und  in 
späterer  Zeit  in  Sogn.  —  Cirsmm  arvense ;  in 
Norwegen  heute  bis  zum  Kvaefjord,  bisher  prä- 
historisch nicht  nachgewiesen,  wohl  aber  C.  pa- 
histre  und  lanceolatutn  aus  Großbritannien  und 
Dänemark.  Disteln  werden  als  fJiisfill  schon  im 
Eddalied  Skirnismal  (etwa  um  900  entstanden) 
und  in  einer  Übersetzung  alttestamentlicher  Texte 
aus  dem  13.  Jahrh.  genannt.  —  Daß  auch  andere 
Unkräuter  in  der  Wikingerzeit  bekannt  waren, 
geht  aus  der  Literatur  hervor.  Der  für  Matricaria 
inodora  bis  Island  gebräuchliche  Name  balderbraa 
muß  sehr  alt  sein,  denn  schon  in  der  h-dda  wird 
der  Glanz  von  Haiders  Augenbrauen  mit  „dem 
weißesten  aller  Kräuter"  verglichen.  Heute  ist 
die  Art  in  allen  nordischen  Gegenden  mit  primi- 
tiver Kultur  um  die  Siedlungen  gemein ,  so  na- 
mentlich bei  den  Erdkammern  der  Seelappen  des 
nördlichen  Norwegens  und  auf  Island.  —  Alt- 
nordische Namen  besitzen  ferner:  Lolinvi  fenw- 
lentum,  im  Kongespeil  als  skjathak ,  schon  im 
alten  Ägypten  und  in  Schweizer  Pfahlbauten  unter 
Getreide,  früher  ein  gefürchtetes  Unkraut,  jetzt 
selten.  —  Rumex  cf.  acetosa,  als  sura  oder  akr- 
sura,  u.  a.  auch  als  Schlafmittel  empfohlen.  — 
Epilobüim  angustifoUimi  heißt  noch  jetzt  in  ein- 
zelnen Dialekten  geitskor  (Ziegenhufe,  nach  einer 
anderen  Deutung  Ziegenfell).  —  Plantago  7najor 
wurde  als  laehnsgras  gegen  Schlangenbiß  emp- 
fohlen. —  Sonchns  arvensis  ist  wohl  dylla  und 
dyndül  der  Sagen,  auch  als  Übername  und  in 
Flurnamen.  —  Taraxacmn  ist  altnordisch  fifiU, 
als  fivel  noch  jetzt  in  einzelnen  norwegischen 
Dialekten.  In  den  Sagen  werden  gelbliche  Pferde 
als  fifilbleiker  bezeichnet.  —  Lolmm,  Pol)gom<m 
Convolvulus,  Urtica,  Chowpodimn  und  Lamhim 
furpureiim  (oder  amplcxicaiile)  sind  sicher  mit 
Kulturpflanzen  eingeschleppt  worden,  vielleicht 
auch  Polygoimm  lapatla'foluim ,  Stellar ia  media 
und  Capsella,  die  heute  als  einheimisch  erscheinen. 
Plantago  major,  Sonc/ms  arvensis  und  Matricaria 
inodora  sind  wohl  als  Strandpflanzen  spontan  ein- 
gewandert, ähnlich  auch  Cirsium  arvense  und 
Galeopsis,  sowie  als  Wiesenpflanzen  Rumex,  Ta- 
raxacmn und  Epilobiiim.  —  Um  den  Gegensatz 
zwischen  Archaeophyten  und  Neophyten  zu  be- 
leuchten,   seien    einige   Arten    genannt,    die    erst 


zwischen  1700  und  1900  in  Norwegen  eingewan- 
dert sind:')  Chrysanthevmm  segetwn  (1704), 
Barbar ea  vzdgaris  ( 1 790),  Senecio  viscosus  ( 1 804), 
Anthenns  tinctoria  (1807),  Bunias  orientalis{i%i2), 
Gerast ium  arvense  und  Berter oa  incana  (1826), 
Alyssum  calyctnum  (1857),  Co7iringia  orietitalis 
(1859),  Matricaria  discoidea  (1862),  Campanula 
patiila  (1870),  Xantimmi  spinosum  (1872),  Eri- 
geron  canadensis  (1874),  Thlaspi  alpestre  (1876), 
Rudbeckia  hirta  und  Galinsoga  parvißora  (1880) 
und  Lepidinni  virginiciun  (1889). 

5.  Sonstige  Reste  einheimischer  Pflanzen.  Aus 
Eichenholz  war  das  Schiff  gezimmert,  aus  Birken- 
rinde einzelne  Geräte  gefertigt.  Die  Flaum- 
birke {Betula  pubesccns)  ist  durch  zwischen  den 
Waidschötchen  gefundene  Kätzchenschuppen  und 
Flügelfrüchtchen  nachgewiesen.  —  Aus  dem 
Mageninhalt  zweier  Ochsen  und  eines  Pferdes 
konnten  bestimmt  werden:  Nadeln  des  Wachol- 
ders {Juniperus  communis),  des  ersten  in  Skan- 
dinavien eingewanderten  Nadelholzes,  Zweigstücke 
des  erst  während  des  Maximums  der  postglazialen 
Senkung  eingewanderten,  in  Dänemark  dagegen 
schon  interglazial  und  spätglazial  nachgewiesenen 
Heidekrauts  ( Calliina  vulgaris),  ein  Rosen- 
stachel  (Rosacf.mollis),  Früchtchen  von  Carex- 
Arten,  Samen  von  Luznla  campestris  (zum  ersten- 
mal prähistorisch  nachgewiesen),  Nüßchen  und 
Kronblätter  von  Ranmicidus  repens  in  größerer 
Zahl  und  auffallend  gut  erhalten.  Die  Art  ist  in 
Großbritannien  schon  präglazial,  in  Dänemark 
diluvial  und  interglazial,  aus  Schweden  und  Nor- 
wegen wie  aus  Mitteleuropa  dagegen  erst  post- 
glazial nachgewiesen.  —  Zwischen  Federn  an 
einem  Teppich  der  Grabkammer  fand  sich  ein  Frucht- 
kelch von  Agrimonia  cnpaforia,  die  sonst  prähisto- 
risch nur  aus  3  meist  neolithischen  Pfahlbauten 
der  Schweiz  bekannt  ist  und  in  Norwegen  heute 
bis  Drontheim,  im  Osten  noch  weiter  nördlich 
reicht.  —  Aus  dem  Torf  des  Grabhügels  konnten 
schließlich  u.  a.  Leo7itodon  autii^nualis  (inter- 
glazial in  England,  aus  dem  Neolithikum  in  Schott- 
land) und  einige  gemeine  Astmoose  bestimmt 
werden:  Thuidiiim  Philiberfi,  Acrocladium  cus- 
pidatnm,  Climacium  dendroides  und  Rhytidiadel- 
p/iiis  sq/iarrosiis,  letztere  beide  auch  aus  dem  Grab- 
hügel des  schon  früher  bei  Gokstad  ausgegrabe- 
nen Wikingerschiflfs,  von  dem  sonst  keine  bemerkens- 
werten Pflanzenfunde  bekannt  geworden  sind. 


')  Nach  J.  Holmboe,  Nogle  ugraesplanters  indvandring 
i  Norge.     Nyt  Mag.  for.  Naturvidensk.  XXXVIII.   1900. 


Einzelberichte. 


Lichterscheiunngen  an  fliegenden  Yögeln. 

In  den  Sagen  der  verschiedensten  Völker,  der 
Japaner,  Irokesen,  Kelten,  Polynesier  und  in  den 
alten  tatarischen   und   vedischen  Heldengesängen 


begegnen  wir  dem  Glauben  an  einen  Vogel,  der 
Feuer  vom  Himmel  holt  oder  den  Blitz  hält. 
Mehrfach  ist  dieser  Vogel  eine  Möwe,  was  insofern 
auffallend  ist,  als  an  diesem  Tier  von  wissen- 
schaftlich    einwandfreier     Seite     wirklich    Licht- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


erscheinungen  gesehen  wurden.  Es  handelt  sich 
um  die  von  Dr.  K.  M.  Schneider  in  den  „Orni- 
thologischen  Monatsberichten"  192 1,  Heft  12  (Her- 
ausgeb.  Prof.  Reichenow  und  Dr.  S t r e s e - 
mann)  besprochenen  Möwenbeobachtungen  des 
Prof.    Dr.  A.  Kirschmann    auf   der  Insel  Sylt. 

An  einem  heißen  Sommerabend  fiel  Prof. 
Kirschmann  auf,  daß  bei  einem  Unwetter  etwa 
50  Möwen  jeden  neuen  Gewitterausbruch  einige 
Minuten  vorher  durch  erregtes  Schreien  anzeigten. 
Bei  hereinbrechender  Dunkelheit  sah  er  vorm 
Fenster,  an  das  die  Vögel  dicht  heranflogen, 
Gruppen  von  2 — 4  Feuerchen  durcheinander 
schweben  und  konnte  feststellen,  daß  die  Möwen 
an  Schnabel,  Flügelspitzen  und  Schwanz  diese 
Flämmchen  trugen.  Die  Vögel  schrien  dann 
immer  sehr  erregt  und  beruhigten  sich  wieder 
etwas,  wenn  mit  neuen  heftigen  Entladungen 
zugleich  auch  die  Flämmchen  verschwanden. 
Dr.  Schneide  r  erklärt  die  Erregung  der  Möwen 
mit  der,  diesen  ungewohnten,  Lichterscheinung, 
meint,  das  Leuchten  könne  auch  mit  einem  Zischen 
und  Knistern  verbunden  sein,  oder  die  Tiere  ver- 
spürten das  sonderbare  Kribbeln  in  der  Haut, 
das  wir  beim  Elektrisieren  in  den  Haarwurzeln 
wahrnehmen. 

Die  helle  violettrote  Flammenfärbung,  die  der 
Feuererscheinung  bei  einer  elektrischen  Entladung 
gleicht,  läßt  vermuten,  daß  es  sich  hier  um  etwas 
Ähnliches  wie  ein  „Elmsfeuer"  gehandelt  hat. 
Prof.  Dr.  Wenger,  Leiter  des  Leipziger 
geophysikalischen  Instituts,  erklärt  die  Erscheinung 
folgendermaßen:  „Kommt  ein  Vogel  aus  einer 
Gegend  mit  hoher  Spannung,  wo  er  also  stark 
elektrisch  geladen  worden  ist,  in  eine  Region 
mit  wesentlich  niedrigerer  Spannung,  so  wird 
sich  der  Unterschied  ausgleichen.  Derlei  Ent- 
ladungen vollziehen  sich  bekanntlich  am  stärksten 
an  Spitzen.  In  unserm  Fall  ist  nun  das  Aus- 
strömen der  Elektrizität  in  der  Dunkelheit  an  den 
spitzen  Körperteilen  in  Lichtbüscheln  sichtbar 
geworden.  Eine  solch  stille  langsame  Entladung 
kann  natürlich  eintreten,  wenn  der  Vogel  eine 
Region  mit  sehr  verschieden  starker  Ladung 
gleichnamiger  Elektrizität  durchfliegt,  aber  ebenso 
dann,  wenn  er  in  Luftschichten  kommt,  die  mit 
Elektrizitätsmengen  ungleichen  Vorzeichens  (po- 
sitiv oder  negativ)  kräftig  geladen  sind,  wobei 
er  entweder  als  Anode  oder  Kathode  wirkt.  Die 
Flammenerscheinung  ist  dann  ähnlich  derjenigen, 
welche  den  Luftschiffern  so  gefährlich  werden 
kann,  wenn  diese  mit  ihrem  leichtentzündlichen 
Fahrzeug  rasch  durch  Gebiete  mit  stark  ver- 
ändertem Potential  kommen."  — 

W.  Sunkel. 

Einbryobildung  nach  Verletzung  der  Frncht- 
kuoteii  und  SanienanLigen. 

Die  früher  hier  besprochenen  Arbeiten  G. 
Haberlandts  (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1921, 
S.  592)   haben   in  ihrer   weiteren  Verfolgung  den 


Verf.  zu  Versuchen  geführt,  die  das  Ziel  hatten, 
bei  Blütenpflanzen  durch  Anregung  der  Bildung 
von  Wundhormonen  künstliche  Parthenogenesis 
und  Entstehung  von  Adventivembryonen  aus  dem 
Nuzellus  der  Samenanlagen  hervorzurufen.  1910 
hatte  Bataillon  durch  Anstechen  reifer  Frosch- 
eier parthenogenetische  Larven  gezüchtet,  und 
Anstichversuche  mit  Eizellen  einer  Vaucheria  sind 
1920  von  F.  v.  Wettstein  veröffentlicht  worden. 
Bei  den  höheren  Pflanzen  ist  das  Anstechen  der 
Eizellen  schon  wegen  ihrer  Kleinheit  technisch 
unmöglich.  Nach  den  Erfahrungen  Haber- 
landts konnte  angenommen  werden,  daß  es 
genügen  würde,  durch  mechanische  Verletzung 
der  Samenanlagen  oder  des  Fruchtknotens  die 
Bildung  von  Wundhormonen  in  der  Nachbarschaft 
der  Eizellen  zu  veranlassen.  Verf.  benutzte  zu 
seinen  Versuchen  die  dazu  besonders  geeignete 
Oenothera  Lamarckiana.  Um  Bestäubung  auszu- 
schließen, wurden  die  Blütenknospen  durch  Füh- 
rung eines  Querschnittes,  der  Antheren  und  Narbe 
entfernte,  kastriert.  Die  mechanische  Verletzung 
wurde  teils  durch  Drücken  (Quetschen)  der  Frucht- 
knoten zwischen  Daumen  und  Zeigefinger,  teils  durch 
mehrmaliges  Anstechen  oder  Durchstechen  der 
Fruchtknoten  mit  einer  feinen  Stahl-  oder  Glasnadel 
herbeigeführt.  Die  meisten  der  so  behandelten 
Fruchtknoten  gingen  nach  i — 3  Wochen  zugrunde, 
blieben  aber  häufig  länger  grün  als  nichtverletzte 
Vergleichsfruchtknoten  in  kastrierten  Blüten.  Eine 
Anzahl  verletzter  Fruchtknoten  wuchs  aber  weiter, 
ohne  jedoch  die  Größe  der  sich  normal  ent- 
wickelnden Fruchtknoten  zu  erreichen.  Einige 
Fruchtknoten  wurden  verletzt,  ohne  daß  die  Blüten 
kastriert  worden  waren;  sie  wuchsen  in  vielen 
Fällen  kräftig  weiter  und  wurden  fast  ebenso 
groß  wie  die  normalen. 

Durch  das  Quetschen  traten  in  den  Frucht- 
knoten Zerreißungen  auf.  Die  Nuzelluszellen  der 
Samenanlagen  zeigten  sich  vielfach  abgestorben 
und  kollabiert;  einige  aber  hatten  sich  blasen- 
artig abgerundet  und  stellten  mögUcherweise  An- 
fange von  Adventivembryonen  dar.  Von  den 
Embryosäcken  andererseits  entwickelten  sich  einige 
ungestört  weiter  und  wiesen  dann  einen  normalen 
Eiapparat  auf;  andere  starben  ab  oder  teilten  sich 
durch  eine  Querwand.  Am  Eiapparat  wurde  in 
ein  paar  Fällen  der  Anfang  der  partheno- 
genetischen  Entwicklung  der'Eizelle 
beobachtet.  Die  Eizelle  hatte  sich  mit  einer 
zarten  Membran  umkleidet  und  eine  kopfförmige 
Ausstülpung  gebildet.  Aber  nur  einmal  war  eine 
Teilung  eingetreten,  die  die  kopfförmige  Aus- 
stülpung von  dem  übrigen  Teil  der  Eizelle  (dem 
Suspensor)  abgetrennt  hatte.  Verf.  nimmt  an, 
daß  die  parthenogenetische  Entwicklung  deshalb 
nicht  weiter  fortschreitet,  weil  infolge  der  Quet- 
schung die  die  Baustoffe  zuleitenden  Zellen  der 
Chalaza  geschädigt  werden  und  ihre  Aufgabe  nicht 
vollführen  können,  so  daß  die  jungen  Embryonen 
verhungern. 

Bei    angestochenen    Fruchtknoten    treten 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


87 


Kalluswucherungen  auf,  die  in  den  Wundkanal 
hineinwachsen,  aber  auch  in  gewisser  Ent- 
fernung von  diesem  an  den  Innenseiten  der 
Fruchtknotenwände,  an  den  Scheidewänden  und 
den  Plazenten  auftreten  können.  Sie  entstehen 
auch  an  den  durch  die  Nadel  verletzten  Samen- 
anlagen. Wenn  sie  hier  vom  Nuzellus  oder  vom 
inneren  Integument  aus  in  den  Embryosack  hin- 
einwuchern, so  können  sie  zu  monströsen  oder 
auch  typisch  geformten  Adventivembryo  nen 
werden  oder  solche  aus  sich  hervorsprießen  lassen. 
In  einem  besonders  lehrreichen  Fall  hatten  sich 
in  einer  durch  Anstich  verletzten  Samenanlage 
zwei  mit  Suspensoren  versehene,  typischen  Ei- 
embryonen  ganz  ähnliche  Nuzellarembryonen  ge- 
bildet, die  an  einander  gegenüberliegenden  Stellen 
in  den  Embryosack  hineinragten.  In  angestoche- 
nen Fruchtknoten  nich  t kastrierter  Blüien  wurden 
keine  Nuzellarembryonen  gefunden;  vielleicht 
wird  deren  Ausbildung  durch  die  Entwicklung 
der  Eiembryonen  verhindert.  Ansätze  zur  Bildung 
parthenogenetischer  Eiembryonen  konnten  in  den 
angestochenen  Fruchtknoten  kastrierter  Blüten 
nicht   beobachtet  werden.     Dagegen   entwickelte 


sich  in  den  Fällen,  wo  Kalluswucherungen  aus 
dem  Nuzellus  und  Adventivembryonen  entstanden, 
aus  dem  (haploiden)  Polkern  des  Embryosacks 
auf  parthenogenetischem  Wege  Endosperm. 

Die  Entwicklung  von  Nuzellarembryonen,  die 
bei  Oenothera  Lamarckiana  vom  Experimentator 
durch  Nadelstiche  bewirkt  wird,  erreicht  die  Natur 
bei  Ficus  Roxburghii  in  viel  vollkommenerer 
Weise  mit  Hilfe  eines  Hymenopters,  das  die 
Fruchtknoten  dieser  Feige  mit  seiner  Legeröhre 
ansticht.  Cunningham,  der  den  Vorgang  be- 
schreibt, führt  die  Wirkung  auf  vermehrten  Nah- 
rungszufluß zurück,  während  Haberlandt  hier 
wie  bei  Oenothera  die  Ursache  der  Embryonen - 
bildung  in  der  Entstehung  von  Wundhormonen 
(besser  „Nekrohormonen")  erblickt.  Als  weitere 
Bedingung  für  die  Entwicklung  solcher  Adventiv- 
embryonen nimmt  er  an,  daß  die  Pflanze  eine 
erhöhte  Neigung  zu  Kalluswucherungen,  auch  im 
Nuzellargewebe,  besitze.  (Sitzungsberichte  der 
preußischen  Akademie  der  Wissenschaften,  Physik.- 
math.  Kl.  1921,  Nr.  40,  S.  695 — 725). 

F.  Moewes. 


Bücherbesprechungen. 


Kahler,   Dr.  Karl  (wissenschaftl.  Hilfsarbeiter   am 
Preußischen  Meteorologisch-Magnetischen  Obser- 
vatorium Potsdam),  Luftelektrizität.  2.  Aufl. 
134  S.  mit  19  Abb.    Sammlung  Göschen  Nr.  649. 
Berlin    W    10    und    Leipzig    1921,    Vereinigung 
wiss.  Verleger  Walter  de  Gruyter  &  Co.    2,10  M. 
und   100  "/o  Verlegerteuerungszuschlag. 
Die    neuen    Arbeiten    in  Washington    und    auf 
dem  stillen  Ozean,  sowie  in  Deutschland,  die  seit 
dem  vor  8  Jahren  erfolgten  Erscheinen  der  ersten 
Auflage  unsere  Kenntnis  über  die  Luftelektrizität 
wesentlich  erweiterten,  haben  ihre  Berücksichtigung 
erfahren,    so  daß  der  Leser  durch    das  sehr  emp- 
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der  Forschung  unterrichtet  wird.  Fricke. 


Schau,  A.,  Statik.     Aus  Natur  und  Geisteswelt 

Bd.  828.   2.  Aufl.  iioS.    112  Fig.    Leipzig  192 1, 

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Schau,  A.,  Festigkeitslehre.    Aus  Natur  und 

Geisteswelt  Bd.  829.    2.  Aufl.    iii  S.    119 Fig. 

Leipzig  192 1,  B.  G.  Teubner. 
In  dem  ersten  Bändchen  werden  die  grund- 
legenden physikalischen  Gesetze  und  ihre  An- 
wendungen auf  die  Baukonstruktionen  mitgeteilt. 
Das  zweite  Bändchen  enthält  die  Festigkeitslehre ; 
sie  ist  in  der  neuen  Bearbeitung  als  ein  besonderer 
Teil  abgetrennt,  weil  dem  mehrfach  ausge- 
sprochenen Wunsche,  auch  über  Anwendungen 
für  den  Maschinenbau  unterrichtet  zu  werden, 
Rechnung  getragen  werden  sollte.  Dem  Verf., 
der  Baugewerksschuldirektor  in  Essen  ist,  ist  die 
Auswahl  aus  dem   großen  Stoffgebiet  vortrefflich 


gelungen  und  wie  die  erste  Auflage  draußen  im 
Schützengraben  anregend  gewirkt  hat,  wird  diese 
neue  beim  Wiederaufbau  vortreffliche  Dienste 
leisten.  PVicke. 

Beiträge  zur  Metallurgie    und   andere  Arbeiten 
auf  chemischem  Gebiet.    Festgabe  zum  60.  Ge- 
burtstag   für    Prof    Dr.    Dr.   ing.   e.   h.  Hans 
Goldschmidt.     Herausgegeben  von  Oscar 
Neuß,   Leiter   des    wissenschaftlichen  Labora- 
toriums  Prof   Dr.  Goldschmidt.     80  Seiten 
mit    II   Abbildungen    und    einem    Porträt    von 
Prof  Dr.  Goldschmidt.     Dresden  und  Leip- 
zig 192 1,  Verlag  von  Theodor  Steinkopfif.    Preis 
geh.  15  M. 
Prof   Dr.   Hans   Goldschmidt,    der  auch 
weiteren    Kreisen    des    naturwissenschaftlich    und 
technisch    interessierten    Publikums    als    Erfinder 
der  Aluminothermie  und  der  autogenen  Schweißung 
und    Mitbegründer    der    Weltfirma    Th.    Gold- 
schmidt  A.-G.  in  Essen  bekannte  Chemiker,  in 
dem  sich  die  Vereinigung  von  wissenschaftlichem 
und  technischem  Denken  zu    einem  einheitlichen 
Ganzen  in  vorbildlicher  Weise  vollzogen  hat,  hat 
in  diesem  Jahre    seinen    60.  Geburtstag    gefeiert. 
Aus  Anlaß  dieses  Ereignisses  hat  Oscar  Neuß, 
der  Leiter   des    wissenschaftlichen   Laboratoriums, 
das    Hans    Goldschmidt     nach    seinem    vor 
einiger  Zeit  vollzogenen  Austritt  aus  der  Essener 
Firma   in    Berlin    errichtet    hat,    eine  kleine  Fest- 
schrift herausgegeben,  in  der  Freunde  und  Schüler 
Goldschmidts     ihm     nach    schönem     Brauch 
durch    kleinere   Abhandlungen    wissenschaftlichen 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  6 


Inhaltes  ihre  Verehrung  beweisen.  Aus  dem 
bunten  Inhalt  des  Heftes  seien  die  allgemeinen 
Betrachtungen  von  Max  Buchner  in  Hannover 
über  Zweck  und  Wert  wissenschaftlicher  Vereine 
und  Kongresse,  von  Oscar  Neuß  über  das 
Aspochin,  das  Azetylsalizylat  des  Chininazetyl- 
säureesters  C2oH23N.,0., -CgH^Oj  •  CgH^O^ ,  das 
ausgezeichnete  Dienste  bei  gewissen  Menstruations- 
störungen (Schmerzen  und  zu  großem  Blutverlust) 
sowie  bei  Anfällen  von  Bronchialasthma  leistet, 
die  metalltechnischen  Beiträge  von  Doerinckel, 
Stavenhagen,  B.  Strauß  und  Tammann, 
sowie  eine  Untersuchung  von  Prätorius  über 
Nachweis  und  angenäherte  Bestimmung  kleiner 
Mengen  von  Aluminium    im   Beryllium  angeführt. 

Die  Ausstattung  der  kleinen  Schrift,  der  ein 
recht  gutes  Bild  von  Goldschmidt  beigegeben 
ist,   entspricht   allen  berechtigten    Anforderungen. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Driesch,    Hans,    Philosophie   des  Organi- 
schen.     2.    verbesserte    und    teilweise    umge- 
arbeitete   Auflage.      Leipzig    1921,    W.  Engel- 
mann. 
Es  ist  jetzt  12  Jahre  her,  seit  die  „Philosophie 
des    Organischen"    erschienen    ist,    und    in   diesen 
12  Jahren  hat  sich  so  manches  geändert,    einmal 
ist   die    Gegnerschaft   gegen   den    von   Driesch 
verfochtenen  Vitalismus  angewachsen,  andererseits 
ist  aber  auch  so  mancher  Forscher   in  das  Lager 
der  Vitalisten  übergegangen,    sei    es,    daß   er   es 
ofifen  bekennt  und  daß  er  es  bewußt  tut,   sei  es, 
daß  er  es  unwissentlich  getan  hätte.     Aber  auch 
Driesch  hat  sich  geändert,  vom  philosophieren- 
den Biologen   ist.  er   zum   biologisch  orientierten 
Philosophen    geworden.      Das    merkt    der    Leser 
deutlich,  wenn  er  sich  in  das  Werk  vertieft. 

Die  biologischen  Grundlagen,  die  den  Haupt- 
teil des  Werkes  bilden,  sind  im  wesentlichen  die 
gleichen  geblieben.  Und  doch  ist  überall  zu  er- 
kennen, daß  die  Einzeltatsachen  und  die  Probleme 
auf  den  heutigen  Stand  der  Forschung  gebracht 
sind,  denn  seit  dem  Erscheinen  der  ersten  Auf- 
lage hat  sich  die  Entwicklungsmechanik  die  ersten 
Kinderschuhe  abgelaufen  und  bewiesen,  daß  sie 
ein  selbständiges  Gebiet  ist,  vor  allem  durch  Be- 
schaffung eines  gewaltigen  Tatsachenmaterials 
und  durch  ganz  exakte ,,  präzise  Festlegung  be- 
stimmter Lehrmeinungen.  Hier  ist  das  Werk  auf 
dem  Laufenden  erhalten  worden,  ich  nenne  nur 
die  trefflichen  Ausführungen  über  die  Welt  des 
Organischen  als  Ganzes. 

Anders  ist  es  mit  dem  letzten  philosophischen 
Teil  des  Buches.    Hier  ist  etwas  völlig  Neues  ge- 


schaffen worden :  Der  Philosoph  von  heute  hat 
das  Wort.  Hier  wird  der  Naturphilosoph  zum 
Logiker,  aber  auch  zum  Metaphysiken  Die 
Sprache  der  vorigen  Auflage,  die  dem  flüchtigen 
Leser  schon  schwer  faßlich  erschien,  ist  hier  da- 
durch stärker  kompliziert  worden,  daß  Driesch 
die  Terminologie  seiner  „Ordnungslehre"  einführt. 
Mancher  Leser  mag  ihm  dies  sicherlich  verübeln, 
aber  schließlich  dürfte  die  „Philosophie  des  Orga- 
nischen" nicht  für  flüchtige  Lektüre  bestimmt 
sein.  Einfach  mit  Schlagworten  abtun  läßt  sich  nun 
einmal  der  Vitalismus  auf  keinen  Fall,  wenn  auch 
nicht  verhehlt  werden  soll,  daß  so  manche  Theorie 
des  Vitalismus  auf  schwachen  Stützen  steht. 

Es  ist  schwer,  etwas  über  den  Inhalt  dieses 
letzten  Teiles  zu  sagen.  Jegliche  Kritik  daran 
wäre  gewagt  und  würde  sicherlich  von  jedem 
Leser  Widerspruch  erfahren ,  denn  sie  wäre  zu 
subjektiv  gehalten.  So  muß  es  aber  jedem  gehen, 
der  sich  ernsthaft  hineinversenkt  und  den  „Stand- 
punkt" Drieschs  zu  verstehen  sucht.  Ein  jeder 
aber,  mag  er  ausgesprochenster  Mechanist  oder 
mag  er  Vitalist  sein,  muß  Driesch  das  Verdienst 
zuerkennen,  ein  nachdrücklich  strenges  und  klares 
Gedankensystem  des  Vitalismus  geschaffen  zu 
haben.  Die  Energie  und  die  Begeisterung,  mit 
der  Driesch  hier  vorgegangen  ist,  ist  zum  min- 
desten der  Achtung  wert,  andererseits  aber  auch 
sein  heißes  Mühen,  die  Gesamtheit  alles  mensch- 
lichen Wissens  in  ein  „Eines"  zu  fassen.  Das 
ist  nach  Driesch  Liebe  zur  Weisheit,  das  ist 
Philosophie.  Collier  (Frankfurt). 


Literatur. 

Lassar-Cohn,  Einführung  in  die  Chemie.  6.  Aufl. 
Leipzig  '21,   Leopold  Voß. 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte.  Naturwissenschaft- 
liche Reihe.  Herausgegeb.  von  Dr.  Raphael  Ed.  Liesegang. 
Band  III.  Pummerer,  Dr.  R.,  Organische  Chemie.  Dres- 
den und  Leipzig   '21,  Theodor  SteinkopfT.     36  M. 

Kaufmann,  H.  P.,  Lehrbuch  der  Chemie  für  Mediziner 
und  Biologen.  1.  Anorganischer  Teil.  Leipzig-Berlin  '21,  B. 
G.  Teubner.     30  M.,  geb.  38  M. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig-Berlin  '21  ,  B.  G. 
Teubner. 

19g:    Trömmer,  E.,    Hypnotismus    und    Suggestion. 
4.  Aufl. 

Planck,  Max,  Physikalische  Rundblicke.  Leipzig  '21, 
S.  Hirzel.     20  M.,  geb.  30  M. 

Mathematisch-physikalische  Bibliothek.  Leipzig  '21,  B. 
G.  Teubner. 

Band  5:  Timme  rding,  H.  E.,  Die  Fallgesetze.  2.  Aufl. 

Auerbach,  Felix,  Raum  und  Zeit.  Materie  und  Ener- 
gie.    Leipzig  '21,  Dürrsche  Buchhandlung.      14  M.,  geb.  16  M. 

Klaus,  Dr.  Alfred,  Atome- Elektronen -Quanten.  Die 
Entwicklung  der  Molekularphysik  in  elementarer  Darstellung. 
Berlin  '21,  Winckelmann  &  Söhne.     15  M. 


Inbalt:  Fr.  Nölke,  Zur  Kontraktionstheoric.  S.  73.  Chr.  Schweizer,  Der  Darmkanal  des  Maikäfers.  (4  Abb.)  S.  78. 
n.  Garns,  Die  Kulturpflanzen  und  Unkräuter  der  Wikinger.  S.  81.  —  Einzelbericbte:  K.  M.  Schneider,  Licht- 
erscheinungen an  fliegenden  Vögeln.  S.  85.  G.  Haberlandt,  Embryobildung  nach  Verletzung  der  Fruchtknoten  und 
Samenanlagen.  S.  86.  —  BUcbeTbesprecbungen:  K.  Kahler,  Luftelektrizität.  S.  87.  A.  Schau,  Statik.  Ders. 
Festigkeitslehre.  S.  87.  Beiträge  zur  Metallurgie.  S.  87.  H.  Driesch,  Philosophie  des  Organischen.  S,  88.  —  Lite- 
ratur: Liste.  S.  88. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  12.  Februar  1922. 


Nummer  7. 


[Nachdruck  verboten.] 

Jeder  Sturm,  der  den  Seegrund  aufwühlt, 
bringt  Bernstein  empor  und  treibt  ihn  gegen 
unsere  Küste.  Seit  die  Ostsee  ihre  Ufer  und 
Wellen  hat,  ist  das  der  Fall  gewesen,  und  aufge- 
lesen hat  ihn  der  Mensch,  seit  er  ihn  beachtete 
und  zum  Schmuck  für  geeignet  hielt. 

Überall  an  der  Südküste  der  Ostsee  findet  er 
sich  als  Auswurf  des  Meeres  und  im  Dünensande 
vor.  Ans  Ufer  geworfen,  bleibt  er  dort  ruhen,  wird 
mit  Sand  bedeckt  und  bildet  Lager.  Sein  geringes 
spez.  Gewicht,  das  höchstens  i,o8  beträgt,  bringt 
ihn  schon  bei  sanfter  Strömung  zum  Schwimmen ; 
ist  er  von  Tangmassen  umhüllt ,  so  wird  seine 
Fähigkeit,  sich  längere  Zeit  schwebend  im  Wasser 
zu  halten,  noch  größer.  Flaut  die  Strömung  an 
unterirdischen  Sandbänken  oder  anderen  Er- 
hebungen ab,  so  sinkt  er  zu  Boden.  Aycke 
schildert  bereits  anschaulich,  wie  der  organische 
Auswurf  des  Meeres,  das  sog.  „Mill"  (Müll)  an 
das  flache  Ufer  geworfen  und  oft  bei  zurück- 
tretenden Wasser  dort  zurückbleibt  und  vertrocknet, 
wie  die  sog.  „Reffe"  (Riffe,  Sandbänke),  welche 
dem  Ufer  parallel  bis  dicht  unter  die  Oberfläche 
des  Wassers  emporsteigen,  die  Landung  des  Mills 
verhindern,  wie  gelegentlich  aber  auch  die  Wellen 
über  diese  Hindernisse  hinweg  einen  Teil  des 
Mills  nebst  dem  Bernstein  hinüberschleudern 
(3,  S.  3,  4).  —  In  der  früheren  Provinz  West- 
preußen waren  allein  26  Abnahmebezirke  für  am 
Strande  gefundenen  Bernstein  eingerichtet;  im 
Gebiete  des  jetzigen  Freistaats  Danzig  liegen  nur 
noch   10  von  ihnen  (30,  S.  53). 

Das  Niedersinken  schwebenden  Bernsteins  in 
ruhigerem  Wasser  an  Erhebungen  auf  dem  Meeres- 
boden gab  Veranlassung  zur  Bildung  von  Legenden, 
die  von  unterirdischen  Bernsteinadern  erzählen. 
Eine  solche  war  nach  Aurifaber  nahe  bei 
Danzig  in  der  Putziger  Bucht.  Dort  glaubten  sie 
die  Fischer  bisweilen  bei  ruhiger  See  auf  dem  Grunde 
des  Wassers  zu  erblicken.  Sie  besaß  die  Form  eines 
Rückens  und  glänzte  von  den  vielen  Bernstein- 
stücken. Leider  könne  man  sie  —  wie  es  in  der 
Beschreibung  heißt  —  wegen  ihrer  Tiefe  nicht 
ausbeuten.  —  Eine  ähnliche  Fabel  erzählten  freilich 
auch  die  Fischer  an  den  Ufern  des  Samlands  von 
ihren  Gewässern  dem  Bischof  Wigand.  Daß  es 
sich  hier  um  ein  bloßes  Erzeugnis  der  Phantasie 
handelt,  geht  aus  der  weiteren  Angabe  hervor, 
an  diesen  Stellen  im  Wasser  fänden  sich  die  Fische 
ein,  um  den  noch  weichen  Bernstein  als  Speise 
oder  Arzenei  zu  verschlucken.  Auch  im  Orzechower 
oder  Szontag  See  (Masuren)  soll  —  wie  1841  be- 
richtet wurde  —  3  bis  4  m  unter  dem  Wasserspiegel 


Danzig  als  Heimat  des  Bernsteins. 

Von  Dr.  Paul  Dalims,  Zoppot  a.  d.  Ostsee. 


ein  ähnlicher  Bergrücken  liegen.  Im  Glauben  der 
Anwohner  dieses  Gewässers  bleiben  die  Netze  an 
dem  ,, Bernsteinfelsen"  oft  hängen  und  bringen  dann 
und  wann  größere  Stücke  von  ihm  mit  glänzenden 
Bruchflächen  in  die  Höhe  (11).  In  allen  diesen 
Fällen  handelt  es  sich  um  bloße  Fabeln,  die  von 
dem  glühenden  Wunsche  beseelt  sind,  den  wert- 
vollen Stein  zu  erbeuten.  Sie  haben  bei  den 
Schriftstellern  viel  Nachdenken  verursacht  und  zu 
der  Auffassung  geführt,  daß  auf  dem  Boden  der 
Gewässer  Quellen  hervorbrächen,  aus  denen  die 
Substanz  des  Bernsteins  „wie  der  Asphalt  im 
Toten  Meere"  flösse.  Auch  Sendel  spricht  noch 
von  solchen  offenen  Bernsteinadern  auf  dem 
Meeresgrunde  (28,  §  39,  S.  274,  275).  Einen  ge- 
wissen Kern  finden  diese  Mutmaßungen  in  der 
Tatsache,  daß  Bernstein  sich  am  Grunde  von  Ge- 
wässern in  großen  Mengen  ansammeln  kann.  Auf 
sie  ist  der  großartige  Erfolg  zurückzuführen,  den 
die  Baggerarbeiten  in  der  Fahrrinne  von  Königs- 
berg bis  Memel,  vorzugsweise  bei  Schwarzort 
aufweisen  konnten. 

Bemerkenswerte  Lager  sind  auf  der  Nehrung, 
bei  Heubude  und  Weichselmünde  vorhanden.  Die 
ersteren  erwähnt  bereits  Aurifaber  (2,  S.  Cy). 
Dagegen  beschreibt  Aycke  solche  von  Weichsel- 
münde nahe  der  See,  1,7 — 3,3  m  unter  dem  Sand- 
boden des  angrenzenden  Waldes.  Er  schildert  sie 
als  von  recht  beträchtlicher  Ausdehnung  und  von 
gleicher  Beschaffenheit  wie  bei  dem  Auswurf  mit 
Sehr  vielen  „Sprock"  und  Holzstücken  (3,  S.  7). 
Wie  Bock  berichtet,  ließen  die  Danziger  Bernstein- 
künstler in  dem  ehemaligen  Walde,  der  dort  stand, 
graben,  wenn  der  Stein  am  Strande  nur  spärlich 
gesammelt  werden  konnte;  die  Unkosten  wurden 
ihnen    bisweilen    reichlich    ersetzt    (6  II,    S.    184). 

In  den  siebziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
wurde  zwischen  Heubude  und  Weichselmünde 
auf  diese  Weise  viel  Bernstein  erbeutet  (30,  S.  5  1). 
Um  das  Jahr  1890  versuchte  die  Firma  Daniel 
Alter  auf  diesem  Gelände  das  Edelharz  zu  ge- 
winnen. Als  durch  Bohrungen  festgestellt  war, 
daß  unter  dem  Dünensande  Bernstein  in  Nestern 
liege,  wurde  deren  Begrenzung  festgestellt  und 
der  Boden  bis  zum  Grundwasserspiegel  abgekarrt. 
Bagger  hoben  den  Dünensand  weiter  heraus;  das 
Material  der  bernsteinführenden  Schicht  wurde 
durch  Siebe  geworfen,  um  das  Fossil  von  dem 
Sande  zu  trennen.  Die  Bernstein  führende  Schicht 
soll  etwa  I — 4  m  unter  dem  Wasserspiegel^  ge- 
legen haben  (22,  S.  11).  Später  wurde  die  Ge^ 
winnung  hier  eingestellt  auf  Grund  einer  Abmachung 


go 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


zwischen  dem  preußischen  Fiskus  (Kgl.  Bernstein- 
werke) und  der  Stadt  Danzig  (30,  S.  51). 

Die  älteste  Art  der  Gewinnung  des  Bernsteins 
auf  dem  Sirandsande  der  Danziger  Nehrung  ist 
von  Aurifaber  (2,  S.  Cy)  beschrieben.  Nach 
ihr  benutzten  die  Arbeiter  eine  starke  Stange,  die 
vorn  ein  schaufelähnliches,  scharfes  Eisen  trug. 
Mit  ihm  durchtasteten  sie  den  Boden,  der  dem 
Eindringen  bei  seinem  Gehalt  an  eingeschlossenen 
Seepflanzen  und  seiner  dichten  Packung  Schwierig- 
keiten entgegensetzte.  Trafen  sie  auf  Bernstein, 
so  konnten  sie  das  durch  eine  eigentümliche  Er- 
schütterung der  Stange  mit  ihren  Händen  wahr- 
nehmen; dann  gruben  sie  nach  und  holten  ihn 
heraus.  —  Für  das  Gelände  an  der  Danziger  Bucht 
(sinus  Codanicus)  war  nach  VVigand  (35,  S.  23,  24) 
die  Gewinnungsweise  eine  andere.  Auch  bei  ihr 
wurde  das  Gelände,  wie  eben  besprochen,  abgetastet, 
der  Bernstein  aber  nur  dann  durch  bloßes  Graben 
ans  Licht  geschafft,  wenn  er  tiefer  als  mannestief  lag. 
In  anderen  Fällen  legten  die  Gräber  eine  Grube 
an,  stießen  von  ihr  aus  zugespitzte  Pfähle  in  den 
Boden,  bewegten  sie  gewaltsam  nach  allen  Seiten 
und  rissen  sie  dann  wieder  heraus.  Auf  diese 
Weise  trieben  sie  trichterförmige  Löcher  in  den 
Sand,  und  was  in  deren  Nähe  an  Bernstein  war, 
kam  hervor.  Dann  legte  man  Netze  in  die  Grube, 
die  sich  mehr  und  mehr  mit  Wasser  gefüllt  "hatte, 
bewegte  sie  hin  und  her  und  fischte  mit  ihnen 
heraus,  was  sich  von  ihm  angesammelt  hatte.  — 
Interessant  ist  ein  Vergleich  dieses  Verfahrens  mit 
dem,  das  Daniel  Alter  400  Jahre  später  an- 
wandte; das  letztere  ist  dem  älteren  fast  voll- 
kommen gleich,  nur  bediente  es  sich  statt  der 
hänfenen  Netze  solcher  aus  Metalldraht,  wie  sie 
von  der  Firma  Stantien  und  Becker  zuerst 
bei  der  Arbeit  mit  den  Dampf  baggern  bei 
Schwarzort  mit  Vorteil  benutzt  wurden. 

Unter  der  Regierung  des  Markgrafen  Georg 
Friedrich  scheint  in  Ostpreußen  der  erste  Versuch 
gemacht  zu  sein,  nach  Bernstein  zu  graben.  Es 
war  der  Danziger  Bernsleinschreiber  Andreas 
Meurer,  der  am  i.  Mai  1585  Erlaubnis  erhielt, 
dort  zu  graben,  wo  früher  das  alte  Lochstetter 
Tief  gewesen  war  (12,  S.  588,  589).  Das  Datum 
liegt  zwischen  den  Jahreszahlen  für  die  Ver- 
öffentlichungen von  Aurifaber  (1551)  und 
Wigand  {1590). 

Bei  der  Gewinnung  des  Bernsteins  mit  Dampf- 
baggern bei  Schwarzort  handelte  es  sich  um  die 
Ausbeutung  des  großen  Lagers,  das  sich  unter 
dem  Schutze  der  Nehrung  angesammelt  hatte 
und  4 — 10  m  unter  dem  Haffspiegel  lag.  Es  war 
dadurch  entstanden,  daß  alle  gegen  die  Küste  ge- 
richteten Stürme  mit  den  Wassermassen  auch 
den  durch  die  aufgeregten  Wasser  schwebend  er- 
haltenen Bernstein  in  den  Windschatten  zu  drängen 
streben.  Das  Haff  war  ein  Klärungsbccken,  in 
dem  sich  Sand  und  Bernstein  zu  Boden  senkten; 
beide  sanken  um  so  leichter  zu  Boden,  als  das 
Seewasser  im  Bereiche  des  Haffs  brakisch  ge- 
worden   und    ein    niederes    spez.   Gewicht    ange- 


nommen hatte.  —  Bei  Brüsterort,  wo  die  Ge- 
winnung des  Bernsteins  durch  Taucher  etwa 
10  Jahre  hindurch  blühte,  hatte  sich  unter  dem 
Schutz  großer  Blöcke  ebenfalls  eine  Art  Klär- 
becken gebildet.  Bei  der  Zerstörung  des  Vor- 
gebirges durch  die  Brandung  waren  diese  aus  dem 
Grundmoränenschutt  herausgewaschen  und  mehrere 
hundert  Meter  weit  in  der  See  liegen  geblieben. 
Dort  hielten  sie  zurück,  was  an  Bernstein  aus 
dem  zerwaschenen  Boden  oder  von  anderen  Stellen 
ans  Ufer  gebracht  wurde  (17,  S.  42—44).  Diese 
Tatsachen  sind  von  Bedeutung,  wenn  man  in  Be- 
tracht zieht,  daß  gerade  das  Danziger  Ufer  als 
Fundstelle  für  Bernstein  erwähnt  und  bis  in  die 
jüngste  Zeit  hinein  au.sgebeutet  wurde.  Sicherlich 
hat  Heia  einen  Einfluß  auf  die  Ansammlung  ge- 
rade an  dieser  Stelle,  wenn  auch  nicht  in  Abrede 
gestellt  werden  soll,  daß  der  Eintritt  der  Ostsee 
in  die  Danziger  Bucht  im  Vergleich  mit  den  Tiefs 
der  beiden  Haffe  eine  viel  zu  große  Uffnurg  auf- 
weist, um  einen  hinreichenden  Schutz  gegen  das 
bewegte  Wasser  bieten  zu  können.  Der  Salzgehalt 
ist  ferner  kaum  so  erheblich,  daß  er  von  irgend 
welcher  deutlich  wahrnehmbaren  Wirkung  auf  das 
Niedersinken  schwebender  Körper  sein  dürfte, 
immerhin  ist  er  vor  Heia  rund  '/i  mal  so  hoch  wie 
in  unserer  Bucht. 

Ein  Einfluß  auf  die  Ansammlung  wird  aber 
keineswegs  vollkommen  abzulehnen  sein,  schon 
aus  dem  Grunde  nicht,  weil  jede  Ausbuchtung 
an  den  Küsten  sammelnd  wirkt;  außerdem  mag 
auf  die  Tatsache  hingewiesen  werden,  daß  nach 
jedem  Sturm  am  Danziger  Strand  die  Beute  an 
Bernstein  gerade  dann  als  besonders  reichlich  an- 
gesehen wurde,  wenn  der  Wind  aus  Nordwest 
und  West  blies;  so  daß  dann  die  Wellen  in  der 
Danziger  Bucht  eine  weniger  bewegte  Stelle  an- 
treffen, wo  sie  das  von  ihnen  mitgeführte  Gut  ab- 
setzen können  (3,  S.  3). 

Der  einzige  Weg,  den  Bernstein  hier  zu  ge- 
winnen, war  der,  ihn  zu  sammeln  oder  aus  dem 
Sande  herauszugraben ;  ein  Schöpfen  mit  Keschern 
wurde  nie  betrieben  (35,  S.  16;  28,  S.  275). 

Da  der  Strand  in  früheren  Zeiten  fast  der 
einzige  Ort  war,  an  dem  Bernstein  gefunden 
wurde,  so  suchte  man  ihn  vor  unberufenen  Be- 
suchern zu  sichern.  Schon  zu  Wigands  Zeiten 
waren  am  Strande  Galgen  aufgerichtet,  um 
Diebe  zu  hängen,  die  man  bei  der  Tat  antraf 
Ebenso  wie  auf  die  Anwohner  des  Strandes  wurde 
eine  strenge  Aufsicht  über  alle  geführt,  welche 
ihres  Gewerbes  wegen  an  den  Strand  kamen. 
Der  Bernsteineid,  ein  besonderes  Strand-  und 
Bernsteingericht,  zeitweise  Einrichtung  einer  Zivil- 
Jurisdiktion  an  die  Strandpächter,  körperliche 
und  Geldstrafen  bezweckten,  die  jährlichen  Ein- 
nahmen zu  vermehren,  bis  seit  ungefähr  100  Jahren 
erträglichere  Verhältnisse  platzgreifen  (12,  S.  589  ff. ; 
30,  S.  51,   52  Anm.). 

Für  unser  Gebiet  übersteigt  die  jährliche  Aus- 
beute der  See  die  an  gegrabenem  Bernstein,  was 
die  Menge  angeht,    bei  weitem ;    dagegen    ist  der 


N.  F.  XXL  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


91 


Wert  des  letzteren  bedeutend  höher,  weil  er 
größere  Stücke  liefert,  dann  aber  auch  eine  wert- 
vollere Beschaffenheit  hat.  Wie  Aycke  (1835) 
schätzt,  ist  sie  „ungleich  höher  anzunehmen,  .  .  . 
als  eine  10  und  mehrfache  Menge  des  See-Bern- 
steins überhaupt  betragen  dürfte"  (3,  S.   i). 

Im  Samlande  sind  wiederholt  Versuche  ge- 
macht worden,  das  Gold  der  Ostseeküste  in  regel- 
rechtem bergmännischen  Beirieb  zu  gewinnen, 
doch  erst  im  Jahre  1875  hatte  man  nach  manchem 
Mißerfolg  damit  Gelingen.  Für  Danzig  und  seine 
Umgegend  fallen  solche  Versuche  natürlich  fort. 
In  weiterer  und  geringerer  Entfernung  vom  Strande, 
in  geringer  Erhebung  über  dem  Meeresspiegel 
und  auf  den  Höhen  hat  man  mehr  oder  weniger 
tief  im  Diluvium  und  Alluvium  nach  dem  Stein 
gegraben.  Meist  wurde  ihm  von  5  bis  6  Bauern, 
die  ohne  jede  Kenntnis  der  Verhältnisse  und  ohne 
Führung  ihr  Glück  versuchten,  nachgespürt.  Je 
nachdem  sie  auf  Spuren  von  fossilem  oder  sub- 
fossilem Holz,  Wurzeln  und  Bernstein  trafen,  folgten 
sie  den  gegebenen  Spuren  und  gingen  der  sog. 
Ader  nach  oder  sie  wiederholten  den  Versuch  an 
anderer  Stelle  (3,  S.  12  —  14).  Um  in  eine  ge- 
nügende Tiefe  hinabzukommen,  legten  sie  aus 
Brettern  in  bestimmten  Höhen  abwech.selnd 
Bühnen  an,  von  deren  unteren  der  losgelöste 
Boden  zu  gegenüberliegenden  nächst  höheren  be- 
fördert wurde.  Bei  der  Willkür  der  Anlage  ge- 
schah es  verhältnismäßig  oft,  daß  die  Wandungen 
der  Grube  den  Halt  verloren  und  die  Gräber 
verschütteten.  Besonders  auf  den  Höhen  im  Süd- 
westen von  Danzig  waren  solche  Anlagen  früher 
in  Betrieb  bei  Klein  Kleschkau,  Rosenberg,  Klem- 
pin,  im  Bankauer  Wald  (sämtlich  im  Kreise  Danziger 
Höhe)  und  —  weiter  abgelegen  —  in  der  Tucheier 
Heide  (30,  S.  50).  Zaddach  gibt  eine  ein- 
gehende Beschreibung  von  den  ehemaligen  Bern- 
steingräbereien  beiSteegen  und  Leba  im  Alluvium, 
bei  Gluckau  (Danz.  Höhe),  Karthaus,  Treten  und 
Rohr  (nördlich  von  Rummelsburg),  sowie  in  der 
Tucheier  Heide    im  Diluvium  (36,  S.  3  —  12). 

Die  bekanntesten  primitiven  Bernsteingräbereien 
stehen  mit  denen  Danzigs  in  einer  gewissen  Be- 
ziehung. Sie  liegen  am  Südfuße  des  Uralisch- 
Baltischen  Höhenzuges  in  den  masurischen  Kreisen 
Orteisburg  und  Johannisburg,  im  alten  Sudauen, 
dort  wo  vor  dem  Rande  der  einstigen  Inlands- 
eisdecke der  gewaltige  Sander  beginnt  und  sich 
weit  nach  Polen  hineinzieht:  bei  Orteisburg, 
Willenberg  und  Johannisburg.  Der  Stein  kommt 
hier  in  zahlreichen  Nestern  in  i — 3  m  Tiefe  vor; 
die  Mächtigkeit  der  Bernstein  führenden  Schicht 
schwankt  zwischen  0,3  und  i  m.  Der  meiste  sog. 
„Blaue"  oder  „Russische  Bernstein",  der  sehr  hoch 
geschätzt  ist,  stammt  hierher.  Sein  Abbau  reicht 
mit  Sicherheit  bis  in  die  graue  Vorzeit  zurück 
(15,  S.  68,  69;  17,  S.  41,  42).  —  Caspar  Schütz 
(1592)  erzählt,  daß  nicht  weit  von  dort,  wo  jetzt 
Danzig  steht,  der  Ort  Wike  gelegen  hätte;  in 
ihm  hätten  Fischer  und  Krüger  in  ziemlicher 
Anzahl  gewohnt.     Diese    tauschten    mit  den    „Su 


dawischen  Preußen"  seit  alters  Fische  gegen  Bern- 
stein aus  (25,  S.  7,  8).  Es  ist  verhältnismäßig 
schwer  zu  verstehen,  wie  diese  Handelsbeziehung 
zu  denken  ist,  besonders  wenn  man  sich  vorstellt, 
daß  der  Transport  wohl  ausschließlich  zur  See 
erfolgen  mußte,  und  dann  für  die  Sudauer  nichts 
näher  lag,  als  von  den  nächsten  Küstenbewohnern 
die  Fische  zu  beziehen.  Eine  Aufklärung  erfährt 
die  gemachte  Angabe  dadurch,  daß  an  der  sam- 
ländischen  Küste  Danziger  Fischer  beschäftigt 
waren.  Der  Orden  hatte  ihnen  nach  der  Erobe- 
rung des  Landes  das  Sammelrecht  im  Jahre  1312 
abgetreten,  später  ging  dieses  (1342)  an  das 
Kloster  Oliva  über  (33,  S.  8),  doch  werden  die 
mit  dem  Sammeln  betrauten  Leute  von  den  Be- 
wohnern des  Innenlandes  wohl  auch  weiterhin  als 
Danziger  bezeichnet  worden  sein.  Von  Beruf 
Fischer,  gaben  sich  diese  dem  Fischfang  mit  Eifer 
außer  zu  ihrer  Ernähung  hin,  wenn  in  ruhiger 
Sommer-  oder  Winterzeit  die  See  keinen  Bernstein 
auswarf.  Dann  benutzten  sie  die  gemachte  Beute 
zu  Handelszwecken  und  tauschten  sie  gegen  den 
Bernstein  der  Sudauer  im  Binnenlande  aus.  Die 
Erträge  der  dortigen  Gräbereien  waren  nicht  un- 
bedeutend; sie  betrugen  noch  zwischen  1812  und 
1838  durchschnittlich  für  eine  Grube,  an  der 
6  Mann  5  Tage  lang  gearbeitet  hatten,  etwa 
45—100  Reichstaler  (17,  S.  42). 

Es  muß  hier  bemerkt  werden,  daß  man  etwa 
2^/3  Jahrhunderte  später  bereits  das  Samland 
^Sambia)  als  den  Sudauern  gehörig  ansah.  Auri- 
faber  (2,  S.  Cuj)  gibt  155 1  an,  daß  an  diesem 
Strande  7  Buchten  (Wicken)  seien.  Je  nach  Ge- 
legenheit wehten  die  Stürme  in  die  eine  oder 
andere  hinein  und  brächten  Bernstein  mit;  eine 
Windrichtung  allein  käme  nicht  für  alle  in  Be- 
tracht. Auch  Wigand  erwähnt  (1590)  das 
sudanische  Gestade  im  Samland. 

Daß  Bernstein  als  eine  Harzbildung  anzusehen 
ist,  wurde  bereits  von  Aristoteles,  Plinius 
und  Tacitus  ausgesprochen.  Die  vielen  bis  ins 
feinste  erhaltenen  Einschlüsse  weisen  auf  seine 
ursprünglich  flüssige  Beschaffenheit  hin.  Nadeln 
von  Fichten,  bzw.  Tannen,  Holzsplitter  und  andere 
Reste  von  diesen  und  von  Laubbäumen,  sowie 
weitere  Reste  aus  dem  Pflanzenreich  sprechen 
dafür,  daß  er  sich  an  der  Luft  und  nicht  im  Boden 
bildete,  besonders  auch  der  Umstand,  daß  man 
Holz-  und  Rindenreste  von  ihm  durchdrungen 
fand.  —  Dieser  Auffassung  gegenüber  machte  sich 
später  um  das  Jahr  1563  eine  andere  geltend. 
Sie  behauptete  den  mineralischen  Ursprung  und 
stützte  sich  darauf,  daß  Bäume,  die  den  Bernstein 
hervorbrächten,  nirgends  anzutreffen  seien  und 
seine  wahre  Heimat  im  Schoß  der  Erde  zu  suchen 
wäre.  Die  Fabeln  von  den  unterirdischen  Höhen- 
rücken, die  man  in  der  Tiefe  des  Wassers  zu 
sehen  meinte,  gaben  dieser  Ansicht  eine  gewisse 
Stütze.  Man  übersah  dabei,  daß  das  fossile  Harz 
Körper  umschloß,  die  sich  nicht  in  der  Erde  oder 
im  Meere,  wohl  aber  in  Wäldern  mit  Nadelhölzern 
bilden  konnten. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Die  Einschlüsse  von  Insekten  sollten  dadurch 
zustande  gekommen  sein,  daß  diese  Tiere  bei  ein- 
tretender Kälte  sich  in  den  Boden  verkröchen 
und  während  des  langen  Winterschlafes  hier  von 
einer  Art  Erdöl  umflossen  würden.  In  solche 
Tiefen,  wo  der  Bernstein  gefunden  wird,  vermögen 
aber  die  Insekten  oft  nicht  vorzudringen.  Bei  dem 
trefflichen  Erhaltungszustande  dieser  Einschlüsse 
muß  man  wegen  ihrer  Lage,  Ausbildung  und 
anderer  Umstände  ferner  annehmen,  daß  sie  nicht 
schlafend  von  der  konservierenden  Flüssigkeit  um- 
sponnen wurden.  Eine  Erklärung  für  die  voll- 
kommene Nichtachtung  der  Inklusen  liegt  darin, 
daß  man  sie  lange  Zeit  als  bloße  Naturspiele  ansah. 
Diese  Auffassung  wäre  zu  verstehen  gewesen, 
hätte  man  andererseits  nicht  auf  solche  Einschlüsse 
Gewicht  gelegt,  die  tatsächlich  als  Naturspiele  be- 
zeichnet werden  können:  Es  sind  das  Sprünge, 
die  durch  Spannungsunterschiede  im  Inneren  des 
Bernsteins  zustande  kommen,  meist  goldig  glänzen 
und  bald  wie  Pflanzenreste,  besonders  wie  Moose 
und  Tange  aussehen,  bald  an  Federn  erinnern 
oder  die  Form  von  Rosetten  haben.  Wo  sie 
kreisrund  sind,  meinte  man  Schuppchen  und 
Blättchen,  sogar  Münzen  von  Gold,  wo  sich  ihnen 
Markasit  infiltriert  hatte,  Erze  in  ihnen  zu  sehen 
(lo,  S.  194,  217).  Metall-  und  Erzproben  konnten 
nur  im  Boden  entstehen,  und  damit  meinte  man 
festgestellt  zu  haben,  daß  der  Ursprung  des  Bern- 
steins nur  dort  gewesen  sein  könne. 

Weiteres  Beweismaterial  dafür,  daß  Bernstein 
nicht  durch  ausgeschwitztes  Erdharz  oder  flüssiges 
Erdöl  gebildet  wurde,  liefern  die  unzähligen  Tropf- 
stücke, sowie  die  zapfenförmigen  und  schlaubigen 
Stücke;  sie  verlangen  zu  ihrer  Entstehung,  daß 
das  Material,  das  sie  bildete,  sich  —  hängend  oder 
aus  einer  Unterlage  fließend  —  von  oben  nach 
unten  bewegte.  Die  Möglichkeit  zu  derartigen 
Bildungen  liegt  in  der  Erde  nicht  vor. 

Später  hat  Linne  in  seiner  „Reise  durch 
Schonen"  (6  II,  S.  256)  die  Möglichkeit  der  Ent- 
stehung des  Bernsteins  aus  Harz  angedeutet,  doch 
erst  der  Russe  Lomonossow  konnte  in  einer 
zu  Petersburg  vor  der  Akademie  gehaltenen  Rede 
(1757)  klar  und  überzeugend  zum  Ausdruck  bringen, 
daß  Bernstein  allein  als  fossiles  Harz  aufgefaßt 
werden  könne.  Erst  hiermit  kam  es  zu  einem 
abermaligen  Umschwung  in  der  Auffassung  von 
der  Entstehung  des  Bernsteins,  zurück  zu  der,  wie 
sie  vor  fast  2  Jahrtausenden  bereits  von  den  Alten 
zum  Ausdruck  gebracht  war.  Auch  hinsichtlich  der 
Mutterpflanze  kehrte  man  schließlich  zu  der  An- 
nahme des  Plinius  zurück,  daß  Nadelhölzer  allein 
in  Frage  kämen,  nachdem  man  vorher  an  Eichen, 
Erlen,  Ölbäume,  Palmen,  Pappeln,  Weiden,  Rham  - 
n US- Arten    und    andere  Gewächse   gedacht  hatte. 

Die  Heimat  des  Bernsteins  suchte  man  in 
Norwegen,  Schweden,  auf  f)land,  Gotland  und 
anderen  Inseln;  man  nahm  sogar  an,  daß  seine 
Mutterpflanze  noch  gedeihe.  Dieser  Auffassung 
war  mit  dem  Zweifel  zu  begegnen,  ob  die  Nadel- 
hölzer   an  den  nördlichen  Gestaden    so    viel  Harz 


auszuschwitzen  vermöchten,  als  von  der  preußischen 
See  ausgeworfen  würde.  Ebensowenig  war  zu 
verstehen,  wie  der  schwedische  Bernstein  in  die 
Berge  und  über  das  ganze  Land  gekommen  sei 
(6,  S.  256).  Auch  Preußen,  besonders  das  Sam- 
land,  und  unsere  Ufer  hat  man  als  Entstehungs- 
stätte des  Bernsteins  angesprochen.  Dort  wo  man 
keine  Wälder  fand ,  wies  man  sie  aus  früherer 
Zeit  nach  und  gab  auch  den  Grund  für  ihr  Ver- 
schwinden an.  Diesen  Annahmen  gegenüber 
sprachen  sich  Bock  und  John  dahin  aus,  daß 
solche  Wälder  nur  in  der  Einbildung  beständen, 
daß  Bernstein  nicht  überall  dort  gebildet  werde, 
wo  Nadelhölzer  am  Meeresufer  gediehen,  daß  er 
aus  Pflanzen  hervorgegangen,  die  nicht  mehr 
existierten,  und  daß  seine  Entstehung  in  die  älteste 
Zeit  zurückzuverlegen  sei  (6  II,  S.  256,  257,  282, 
283,  295,  256;   14,  S.   159). 

Vergleicht  man  den  Charakter  der  Wälder 
allein  in  verschiedenen  Teilen  Deutschlands,  so 
findet  man,  daß  in  den  einen  ein  bestimmtes 
Nadelholz  vorherrscht,  in  anderen  je  nach  den 
äußeren  Umständen  wieder  ein  anderes;  auch  der 
Bernsteinwald  muß  eine  örtliche  Verbreitung  ge- 
habt haben.  Sein  Boden  bestand  viele  Jahrtausende 
hindurch,  und  sein  durch  Krankheitserscheinungen 
gesteigerter  Harzerguß  häufte  von  zahlreichen 
Baumgenerationen  große  Massen  künftigen  Bern- 
steins an.  Er  versank  im  Laufe  der  Zeit  in  die 
Fluten  des  Meeres  und  setzte  während  der  Tertiär- 
zeit aus  seinen  Bestandteilen  und  den  Harzmassen 
die  Bernsteinerde  ab. 

Die  Lage  des  Bernsteinwaldes  hat  man  fest- 
zulegen versucht.  Nach  Berendt  und  Klebs 
grünte  er  auf  einem  Festland,  das  sich  südlich  von 
Skandinavien  etwa  bis  zum  55"  nördlicher  Breite 
hinzog  und  auch  über  das  Gebiet  der  heutigen 
Ostsee  erstreckte;  teilweise  lag  er  nördlich  vom 
heutigen  Samland.  —  Die  hauptsächlichste  Ab- 
lagerungsslelle für  die  Trümmer  dieses  Waldes 
ist  die  Blaue  Erde  des  Samiandes,  und  dieses  hat 
lange  Zeit  für  die  einzige  Stätte  gegolten,  an  der 
Bernstein  auf  primärer  Lagerstätte  abgesetzt  war. 
Später  konnte  man  die  Tatsache  feststellen,  daß 
der  nordische  Bernstein  sehr  weit  verbreitet  ist, 
vorzugsweise  in  den  Ländern,  die  der  Ost-  und 
auch  der  Nordsee  benachbart  sind;  dabei  gilt 
Norfolk  in  England  als  Westgrenze  überhaupt, 
die  Ostgrenze  liegt  nahe  am  Ural  bei  Kaltsche- 
dansk  unweit  Kamensk.  .Auf  Jütland  und  fast 
allen  dänischen  Inseln,  einschließlich  Bornholm, 
findet  er  sich  im  Diluvium,  ferner  kommt  er  auch 
in  den  schwedischen  Provinzen  Schonen  und 
Halland,  sowie  auf  der  Insel  Öland  vor.  Man  hat 
ihn  also  wunderbarer  Weise  später  dort  antreffen 
können,    wo  man  früher  seine  Heimat  vermutete. 

Die  weite  Verbreitung  und  das  massenhafte 
Vorkommen  in  manchen  Gegenden  lassen  sich 
nicht  allein  durch  einen  längeren  oder  kürzeren 
Transport  während  der  Eiszeit  erklären,  obgleich 
an  mehreren  Stücken  deutliche  Spuren  einer  solchen 
Wanderung  in  Form  von  Schrammen  zu  erkennen 


N.  F.  XXI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sind.  Man  muß  annehmen ,  daß  die  bernstein- 
führenden Schichten  früher  eine  größere  Ver- 
breitung hatten.  Grünsandschollen  mit  Bernstein, 
Grünsande,  die  nach  ihrer  Beschaffenheit  mit  dem 
Material  des  samländischen  Oligocäns  durchaus 
übereinstimmen,  Anhäufungen  von  Bernstein  an 
verschiedenen  Orten  in  zentnerschweren  Massen 
weisen  darauf  hin,  daß  sie  einer  Ablagerung  ihren 
Ursprung  verdanken,  die  nicht  weit  von  ihrem 
Fundorte  entfernt  lag  (9,  S.  175,  176;  17,  S.  41). 
Von  den  ursprünglichen  Ablagerungen  zur  Tertiär- 
zeit sind  später  vom  Inlandeise  während  des 
Diluviums  mächtige  Schollen  aufgenommen,  ver- 
schleppt und  in  die  Grundmoräne  übergegangen, 
aus  der  sie  stellenweise  hervorragen.  Sie  und 
zerstörte  Schichten  des  vordiluvialen  Untergrundes 
liegen  dort  vor,  wo  man  mit  Vorteil  mittels 
Gruben  Bernstein  erbeutet.  —  Unteroligocäne 
Bildungen  finden  sich  nahe  bei  Danzig  in  Nenkau 
und  Schüddelkau  (30,  S.  42). 

Aus  dem  Gebiete  der  Pommerellischen  Herzöge 
wissen  wir,  daß  bereits  vor  der  Ankunft  des 
Ordens  in  Preußen  eine  Art  Bernsteinregal  aus- 
gebildet war.  Sie  erkannten,  daß  die  Nachfrage 
nach  ihm  größer  war  als  sein  Bestand,  und  daß 
er  damit  ein  bedeutender  Handelsgegenstand 
werden  würde.  Deshalb  verliehen  sie  an  einzelne 
Untertanen  das  Recht  des  Bernsteinsammeins, 
während  sie  für  sich  selbst  das  Recht  des  Kaufs 
des  gewonnenen  Bernsteins  ausbedungen  hatten. 
Es  waren  das  die  ältesten  F'ormen  des  Regals  und 
Monopols,  die  sich  mit  geringen  Abweichungen 
bis  in  die  jüngste  Zeit  erhalten  haben.  —  Die 
Schenkungsurkunde  Conrads  von  Masovien  (1230) 
und  die  kulmische  Handfeste  erwähnen  Bernstein 
nicht,  dagegen  führen  sie  Gold  und  Silber,  jede 
Art  Erz  oder  Metalle  und  Edelsteine  auf.  Es  war 
dem  Orden,  bevor  er  an  die  Eroberung  Preußens 
ging,  ohne  Zweifel  ganz  unbekannt,  ob  sich  im 
Lande  Metalle  auffinden  ließen  oder  Bergwerke 
anzulegen  seien.  Er  hatte  sich  deshalb  von 
Kaiser  Friedrich  II.  das  Bergwerksrecht  erteilen 
lassen  und  machte  Kraft  dieser  kaiserlichen  Ver- 
leihung in  der  Kulmer  Handfeste  die  Auffindung 
der  Metalle  und  Bergwerke  als  sein  Regal  geltend. 
Wo  irgendwelche  Funde  an  Metallen  gemacht 
wurden,  betrachtete  der  Orden  deren  Gewinn  als 
sein  gutes  Recht.  Deshalb  behielten  sich  auch 
die  Ordensgebietiger  sowohl  wie  die  Bischöfe  in 
ländlichen  Verschreibungen  die  Auffindung  aller 
Metalle  immer  ausschließlich  als  Regal  vor  (34, 
S.  629).  Die  Eroberung  der  einzelnen  Gaue  des 
neuen  Landes  nahm  vorläufig  die  ganze  Tätigkeit 
des  Ordens  in  Anspruch.  Doch  gleich  nach  der 
Erwerbung  des  Samlandes  trat  er  in  gleicher 
Weise,  wie  früher  die  Pommerellischen  Herzöge, 
das  Sammelrecht  an  einzelne  seiner  Untertanen 
ab,  zuerst  1264  an  den  Bischof  von  Samland; 
13 12  kam  das  Vorkaufsrecht  des  Ordens  hinzu.  — 
Eigentümlich  ist  es,  daß  auch  in  den  Schenkungs-, 
Verkaufs-  und  Verleihungsurkunden  Pommerellens 
von    den    Herzögen    Mestwin    und    Sambor    von 


Pommern  und  Markgraf  Waldemar  von  Brandeif- 
bürg  aus  der  Zeit  von  1266  — 13 10  der  Bernstein 
nirgends  ausdrücklich  erwähnt  wird.  Man  sicherte 
sich  freilich  die  Bodenschätze,  indem  man  sie  aus- 
drücklich in  solche  unterschied,  die  über  oder 
unter  der  Erde  und  im  Wasser  gefunden  würden, 
und  in  solche,  die  jetzt  oder  in  Zukunft  gefunden 
würden  (21,  S.  176,  274,  282,  308,  353,  372,  373, 
388,  603). 

Die  Geschichte  des  Bernsteinregals  in  Preußen 
ist  von  W.  von  Brünneck,  H.  L.  Elditt 
und  W.  Tesdorpf  behandelt  worden.  Auf  das 
große  Gebiet  irgendwie  näher  einzugehen,  ist  hier 
nicht  möglich.  Soweit  Beziehungen  zu  Danzig  vor- 
liegen, sei  erwähnt,  daß  Markgraf  Albrecht  15 18 
mit  Kauf  leuten  aus  Königsberg,  Danzig  und  Lübeck 
einen  Vertrag  abschloß,  der  von  den  Lieferungen 
des  rohen  Bernsteins  an  sie  handelte  (12,  S.  585). 
Bemerkenswerter  ist  ferner  der  Kontrakt  mit  den 
Kaufleuten  Jasky  in  Danzig  und  Genossen,  der 
vom  18.  Dez.  1533  bis  zum  21.  Febr.  1647  dauerte 
(12,  S.  586—592).  —  Bei  seinem  Abschluß  hatte 
man  sich  gedacht,  daß  er  ewig  währen  sollte, 
doch  stellten  sich  bald  Schwierigkeiten  heraus. 
Als  nämlich  die  Ausbreitung  der  Reformation 
durch  den  verminderten  Absatz  des  sog.  geringen 
Steins  zu  Räucherwerk  und  zu  Rosenkränzen  die 
Pächter  schädigte,  scheinen  sie  trotz  ihres  Pfandes 
von  1000  Mark  den  Vertrag  gekündigt  zu  haben. 
Der  Markgraf  schloß  darauf  einen  anderen,  setzte 
die  Preise  fest  und  versprach,  daß  diese  fallen 
sollten,  wenn  die  Kauflust  noch  mehr  abnähme. 
Es  war  aber  nicht  vorgesehen,  daß  die  Pächter 
eine  größere  Summe  zu  zahlen  hätten,  wenn  der 
Bernstein  im  Preise  stiege.  Diese  Unvorsichtigkeit 
rächte  sich,  als  die  in  Peru  entdeckten  Silber- 
Minen  Europa  mit  diesem  Edelmetall  überschütteten 
und  dadurch  den  Wert  des  Geldes  und  die  Preise 
der  Waren  sich  änderten.  Schließlich  konnten 
die  Unkosten  der  Verwaltung  kaum  gedeckt 
werden,  und  Markgraf  Georg  Friedrich  behielt 
deshalb  zuerst  den  groben,  dann  allen  Bernstein 
zurück,  um  ihn  an  den  Meistbietenden  zu  verkaufen. 
Die  Jasken  hatten  aber  vorsichtigerweise  ihren 
Kontrakt  vom  König  von  Polen  bestätigen  lassen 
und  kamen  mit  großer  Beschwerde  bei  ihm  ein. 
Von  dem  Kontrakt  wollten  sie  nicht  zurücktreten, 
da  sie  im  Voraus  bezahlt  hatten  und  wegen  ihres 
Bernsteinhandels,  den  sie  bis  in  die  Türkei,  Persien 
und  sogar  bis  Indien  ausgebreitet  und  mit  großen 
Kosten  in  vielen  Städten  eingerichtet  hatten.  Es 
kam  zu  einer  neuen  Vereinbarung,  doch  auch 
diese  brachte  nicht  den  gewünschten  Vorteil  für 
die  Preußischen  Fürsten.  Der  oft  erwähnte  Kon- 
trakt war  Schuld  daran,  daß  die  Einnahmen  sich 
von  Jahr  zu  Jahr  verschlechterten;  in  einigen 
Jahren  überstiegen  die  Verwaltungskosten  sogar 
die  Einnahmen.  Endlich  gelang  es  dem  Großen 
Kurfürsten  unter  Zahlung  von  40000  Talern  ihn 
zu  lösen.  Später  kam  es  unter  seiner  Regierung 
bereits  zu  einem  Kontrakt  mit  den  Bernsteindrehern  ■ 
in  Danzig,  die  während  der  Zeit  des  Pachtvertrages 


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Naturwissenschaftlich  e  Wochenschrift. 


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mit  den  Jaskis  von  diesen  ständig  und  hart  ge- 
drückt waren.  — 

Früh  setzte  auch  das  Suchen  nach  der  Heimat 
des  Bernsteins  ein.  Die  alte,  von  vielen  Dichtern 
behandelte  Fabel  von  Phaeton,  der  den  Wagen 
mit  den  Sonnenrossen  seines  Vaters  nicht  zu 
lenken  vermag  und,  von  Jupiter  mit  dem  Blitz 
erschlagen,  in  den  Eridanus  geschleudert  wird, 
bot  einen  geeigneten  Ausgangspunkt  für  Mut- 
maßungen der  verschiedensten  Art.  IVIan  hoffte 
den  Ort  ausfindig  zu  machen,  wo  die  in  Bäume 
verwandelten  Nymphen  den  Tod  ihres  Bruders 
beweinten  und  Tränen  aus  Bernstein  in  den  Fluß 
fallen  ließen. 

Woher  der  Name  dieses  Flusses  stammt,  ist 
unbekannt.  Vielleicht  handelt  es  sich  um  eine 
phönizische  und  karthagische  Bezeichnung,  die 
übersetzt  wurde.  Als  die  Griechen  sich  mit  ihrer 
Schiffahrt  noch  in  den  Anfängen  befanden 
und  sie  nur  in  dem  östlichen  Teil  des  Mittel- 
ländischen Meeres  betrieben,  vermuteten  sie  den 
Eridanus  im  Westen,  wohin  die  Schiffe  der  unter- 
nehmungslustigen östlichen  Völker  fuhren.  Zuerst 
sah  man  ihn  hauptsächlich  im  Po,  dann  im  Rhone- 
strom. Hierher  kam  der  Bernstein  auf  Handelsstraßen 
längs  der  größeren  Flußläufe  von  Norden  her. 
Später  waren  auch  andere  Gegenden  im  Norden 
des  östlichen  Miitelmeeres  Ausmündungsstellen 
solcher  Handelsstraßen  (i6,  S.  17,  18),  auf  denen 
Güter  von  Volk  zu  Volk  südwärts  weitergegeben 
wurden.  Als  man  am  Mittelmeer  vergeblich  nach 
Bernsteinbäumen  Umschau  gehalten  hatte,  die 
Griechen  ihre  Fahrten  über  das  ganze  Gebiet 
dieses  Gewässers  erstreckten  und  Carthager  und 
Massilier  sich  über  die  Säulen  des  Herkules  hinaus- 
wagten, verlegte  man  den  rätselhaften  Fluß  in 
die  nördlichen  Teile  von  Europa.  Von  dem  Eri- 
danus bei  Athen  um  den  ganzen  Erdteil  herum 
bis  zur  Düna  hat  man  nach  ihm  gesucht.  • —  Was 
von  der  Geheimnistuerei  phönizischer  Seefahrer 
erzählt  wird ,  ist  nur  mit  Vorsicht  zu  glauben ; 
wahrscheinlich  ist  mit  dem  Namen  gar  keine  be- 
stimmte Stelle  gemeint,  sondern  nur  ein  Ort,  an 
dem  man  je  nach  den  Verhältnissen  die  Ware 
gewinnen  konnte  und  dessen  Bezeichnung  sich 
auch  auf  andere  weitererbte. 

Mehr  Glück  hatte  man  beim  Suchen  der 
gläßarischen  Inseln  oder  Elektriden,  die  Britannien 
gegenüber  im  germanischen  Meere  liegen  sollten. 
Nach  vielen  Bemühungen,  bei  denen  man  nicht 
davor  zurückschreckte,  sogar  in  Halbinseln  diese 
Inseln  wiederzuerkennen,  fand  man  sie  schließlich 
in  denen ,  die  sich  längs  der  ganzen  Westküste 
der  jütischen  Halbinsel  hinziehen  (19,  S.  9,  lO). 
Bei  diesen  Betrachlungen  drängt  sich  immer  stö- 
rend die  Annahme  in  den  Weg,  daß  Preußen 
allein  das  Bernsteinland  sein  könne;  wenn  seine 
geographische  Lage  den  gestellten  Forderungen 
nicht  entsprach,  so  nahm  man  einfach  an,  daß  sie 
in  früheren  Zeiten  eine  andere  gewesen  sei  (13, 
S.   17,   18),  und  gab    sich  dem  Glauben    hin,    daß 


die  Phönizier  auf  ihren  Fahrten  trotzdem  bis  nach 
Preußen  gekommen  seien. 

Der  Begründer  der  historischen  Erdkunde  und 
erste  große  Geograph  vom  alten  Deutschland 
Philipp  Clüver  (Cluverius),  geb.  1 580  in  Danzig, 
dem  ein  anderes  Vaterland  des  Bernsteins  noch 
nicht  bekannt  war,  sah  die  Werder  in  der  Weichsel- 
mündung für  die  Elektriden  der  Alten  und  die 
kleine  Radaune  bei  seiner  Vaterstadt  für  den  Eri- 
danus an.  Die  späteren  stützten  sich  zum  Teil 
auf  seine  Angaben,  während  andere  sie  zu  wider- 
legen trachteten  (7,  S.  128,  137;  13,  S.  18 — 24; 
19,  S.  8,  9).  Tatsächlich  hatte  seine  Theorie  sehr 
viel  für  sich :  Die  Werder  werden  im  Lateinischen 
als  „insulae"  bezeichnet,  vor  ihrer  Eindeichung 
während  der  Jahre  1283 — 1299  (6  1,  S.  418.  419) 
bildeten  sie  ein  „aestuarium",  d.  i.  ein  flaches  Ge- 
lände, das  zeitweise  überspült  wurde,  dann  wieder 
trocken  lag;  hier  fand  das  Sinken  und  Steigen  des 
Wassers  freilich  nicht  täglich,  sondern  nur  im 
Wechsel  der  Jahreszeiten  statt.  Hatte  man  bereits 
in  der  Weichsel  den  Eridanus  vermutet,  so  lag 
es  nahe,  durch  die  Übereinstimmung  in  den  Na- 
men Eridanus  und  Radaune  eine  Bestätigung  für 
die  Annahme  zu  sehen.  Sicher  haben  die  Fund- 
stellen für  Bernstein  gerade  an  der  Mündung  der 
Weichsel  dazu  beigetragen,  in  ihr  und  ihren  Zu- 
flüssen den  Bernsteinstrom  der  Fabel  zu  sehen. 
Man  konnte  vermuten,  daß  der  Strom  das  kost- 
bare Material  der  See  zuführte,  die  es  dann  an 
den  Strand  warf.  Daß  aber  die  Weichsel  Bern- 
stein mit  sich  führt,  wird  von  verschiedenen  Schrift- 
stellern angegeben,  so  von  Hartmann  1677 
(13,  S.  26),  Biörn  1803  (5,  S.  32)  und  Aycke 
1835  (3,  S.  12).  Als  Ort  seiner  Herkunft  wird 
Polen  genannt;  doch  auch  das  linke  Stromufer 
könnte  ihn  geliefert  haben,  wo  er  reichlich  im 
Boden  verteilt  ist  und  darauf  hinweist,  daß  im 
nordwestlichen  Teil  Westpreußens  tertiäre  bernstein- 
führende Bildungen  vorhanden  gewesen  sind  oder 
noch  vorhanden  sein  müssen.  Durch  die  Diluvial- 
gletscher sind  ungeheure  Mengen  von  Tertiär  auf- 
gewühlt, den  Moränen  einverleibt  und  durch  die 
Schmelzwasser  fortgeführt.  Bernstein  ist  deshalb 
durch  das  ganze  norddeutsche  Diluvium  verbreitet 
und  kann  überall  in  kleinen  Mengen  angetroffen 
werden. 

Noch  ein  anderer  Danziger,  der  Sekretär  des 
Rates  Reinhold  Curicke,  versuchte  in  seiner 
Chronik  (1687;  S.  3,  34,  35)  den  Ruhm  seiner 
Vaterstadt  auf  griechische  und  römische  Schrift- 
steller zurückzuführen;  wie  Clüver  in  der  Ra- 
daune, so  wollte  er  in  der  Weichsel  und  der  Ra- 
daune den  Eridanus  der  Alten  wiedererkennen. 
Einen  Schritt  weiter  ging  der  Danziger  Schöppen- 
meister  Joh.  Uphagen.  Er  griff  die  Fabel  von 
der  Fahrt  der  Phönizier  bis  nach  Preußen  auf  und 
spann  sie  weiter  aus.  In  seinen  „Parerga  historica" 
(1782)  spricht  er  mit  Stolz  von  seiner  Vaterstadt; 
auch  für  ihn  ist  die  Radaune  zweifellos  der  sagen- 
hafte Eridanus,  und  eine  angebliche  Kolonie  der 
Phönizier,    Scurgon,    verlegt  er  nach  Heia.     Diese 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


95 


Auffassung  ist  deshalb  von  Bedeutung;,  weil  sie 
zeigt,  daß  die  Bernsteininseln  für  ihn  nicht  mehr 
in  den  künstlich  umhegten  Weichsel werdern  ge 
sehen  wurden,  vielmehr  in  der  Inselreihe,  in  welche 
die  Halbinsel  Heia  wiederholt  auf  kurze  Zeit  zer- 
fallen ist.  Durch  Unterbrechungen,  welche  teils 
die  Natur  bei  Überspülungen  (Sturmfluten)  und 
andererseits  der  Mensch  hervorriefen,  stellte  sie 
sich  gelegentlich  als  aus  mehreren  Einzelinseln 
zusammengesetzt  dar.  —  Nordstürme  füllen  die 
Durchlässe  zwischen  ihnen  mit  Wasser,  bei  ruhiger 
See  sind  sie  mit  Sand  gefüllt.  Der  Sandstrom, 
der  im  Wasser  an  der  Küste  entlang  läuft,  und 
Flugsand  schließen  solche  Durchbrüche  jedesmal 
kurz  nach  ihrer  Entstehung. 

P.  Sonntag  führt  20  ältere  Karten  von  Heia 
an;  von  ihnen  stellen  6  Heia  als  Inselreihe  dar, 
und  von  diesen  weisen  4  je  5  und  2  je  6  Durch- 
lässe auf.  Er  berichtet  sogar  über  einen  Plan,  der 
von  Großendorf  bis  Putziger  Heisternest  45  Unter- 
brechungen aufweist  und  aus  dem  Jahre  1694 
stammt  (19,  S.  17;  29,  S.  36,  37,  39,  40 ;  3i,S.  I2b*). 
Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  die  Teilstücke,  die 
sich  bei  Nordwinden  immer  wieder  zeigen,  bei 
Uphagen  den  Gedanken  wachriefen,  in  ihnen 
lägen  die  Elektriden  vor. 

Der  Elbinger  Arzt  Nath.  Sendel  vertritt 
ebenfalls  die  Meinung,  daß  Preußen  das  alte  Bern- 
steinland sei.  Aus  seinen  Schriften  zeigt  sich,  daß 
•er  noch  vollständig  unter  dem  Banne  der  Auto- 
rität von  Albertus  Magnus  steht,  der  die 
Entstehung  des  Bernsteins  unter  der  Erde  sich 
abspielen  läßt.  — 

In  dem  Zeitraum  seit  den  ältesten  Zeiten  bis 
zum  Einfall  der  Sarazenen  in  Europa  (642)  haben 
mehr  als  33  Schriftsteller  über  die  Entstehung 
dieses  Minerals  Angaben  gemacht.  Von  ihnen 
sind  25  für  seine  Herkunft  aus  dem  Pflanzenreich, 
3  aus  dem  Tierreiche;  5  lassen  ihn  auf  andere 
Weise  gebildet  werden:  aus  dem  Meeresschaum, 
durch  Einwirkung  der  Sonne  auf  das  Meer  oder 
dessen  Schlamm  oder  als  ein  Produkt  der  Erde 
(Plato).  Die  Auffassung  von  seiner  vegetativen 
Natur  überwiegt  also  die  anderen  um  mehr  als 
das  Dreifache. 

Im  Jahre  1563  sprach  Albertus  Magnus 
in  seinem  Werke  „De  rebus  mineralibus  et  rebus 
metallicis"  die  Ansicht  aus,  daß  das  Succinum 
eine  Art  Gagat  oder  Katabre  sei.  Es  werde  an 
das  Meeresufer  Libiens  oder  Britanniens  und  Teu- 
toniens  angespült;  vorzugsweise  finde  er  sich  in 
England.  Diese  Meinung  des  großen  Gelehrten, 
daß  Bernstein  eine  Art  Gagat  sei,  wurde  für  die 
Folge  herrschend;  sie  gab  u.  a.  zu  dem  Glauben 
Veranlassung,  daß  es  auch  schwarzen  Bernstein 
gebe  (14,  S.  45,  46,  188,  199).  —  Bis  zur  Rede 
des  Mineralogen  Lomonossow  im  Jahre  1757 
und  Bocks  eingehenden  „Versuch  einer  kurzen 
Naturgeschichte  des  preußischen  Bernsteins  und 
einer  neuen  wahrscheinlichen  Erklärung  seines 
Ursprungs"  im  Jahre  1767,  die  überzeugend  für 
die  Herkunft    des    Bernsteins    aus    dem    Pflanzen- 


reiche eintraten ,  zähle  ich  48  weitere  Arbeiten, 
die  Angaben  über  seinen  Ursprung  machen.  Der 
Persönlichkeit  des  Albertus  Magnus  ist  es 
wohl  zuzuschreiben,  daß  sich  seit  dem  Mauren- 
einfall nur  13  Schriftsteller  für  den  vegetativen, 
dagegen  29  für  den  fossilen  Ursprung  entscheiden, 
während  die  6  anderen  ihn  aus  dem  Meeres- 
schaum, der  Fettigkeit  der  See,  aus  dem  Schaum 
von  Walen  und  Seehunden,  in  Fischen  und  aus 
dem  Honig  entstehen  lassen.  Sieht  man  von 
diesen  zuletzt  genannten  vereinzelten  Hypothesen 
ab,  so  findet  man,  daß  die  Zahl  der  Anhänger 
einer  mineralogischen  Entstehungsart  um  das 
Doppelte  die  für  eine  pflanzliche  überwiegt. 

Sendel  kam  durch  eigenartige  Umstände 
dazu,  von  seiner  ursprünglichen  Auffassung  abzu- 
weichen. Er  wurde  mit  der  Beschreibung  der 
großen  Bernsteiijsammlung  betraut,  die  August 
der  Starke  im  Dresdner  „Grünen  Gewölbe"  auf- 
bewahrte, und  die  später  ein  Raub  der  Flammen 
wurde.  In  seinem  berühmten  Werke  „Historia 
succinorum  Corpora  aliena  involventium"  beschreibt 
er  sie  nach  dem  Stande  des  damaligen  Wissens 
(1742)  und  bildet  viele  Stücke  ab  (17.  S.  48;  18, 
S.  218).  Für  uns  ist  es  von  besonderem  Inter- 
esse, daß  die  Sammlung  wohl  ausschließlich  aus 
Danziger  Erwerbungen  hervorgegangen  ist  und 
daß  Sendel  sich  bei  der  Abfassung  seines  Werkes 
vielfach  mit  Danziger  Gelehrten  in  Verbindung 
setzte  und  auf  ihre  Ansichten  Bezug  nahm. 

Der  Orden  hatte  das  Verbot  erlassen,  daß  kein 
Bernsteindreher  oder  Ankäufer  sich  am  Strande 
blicken  lassen  dürfe;  dieses  wurde  später  auf  alle 
herumziehenden  Geweibetreibenden,  ja  sogar  auf 
Spaziergänger  ohne  Paß  ausgedehnt  und  mit 
Strafen  belegt.  Um  Diebstahl  und  Betrügereien 
zu  unterbinden,  suchten  der  Orden  und  die  ersten 
deutschen  Herzöge  die  Bernsteinzünfte  möglichst 
weit  vom  Fundorte  des  Materials  fern  zu  hallen. 
Es  ist  deshalb  kein  bloßer  Zufall,  wenn  sie  erst 
langsam  mit  der  Zeit  von  Westen  nach  Osten 
vorrückten.  Von  der  ältesten  in  Brügge  schritt 
ihre  Entstehung  über  Lübeck  weiter  nach  Siolp, 
Kolberg,  Danzig,  Elbing  nach  Königsberg.  — 
Erst  nach  dem  Niedergang  der  Blüte  des  Ordens 
ertrotzte  die  Stadt  Danzig  etwa  um  1477  sich  das 
Recht,  eine  eigene  Bernsteindreherzunft  zu  haben. 
In  Königsberg  wurde  erst  etwa  200  Jahre  später, 
1641 ,  eine  solche  vom  Großen  Kurfürsten  ins 
Leben  gerufen.  Trotzdem  nahe  bei  Königsberg 
das  eigentliche  Bernsteinland  ist  und  trotz  seiner 
Universität  trat  es  erst  später  in  den  Vordergrund 
(33.  S.  9,  21,  23,  24,  35,  36).  Danzig  besaß  in 
früherer  Zeit  außerdem  dadurch  hohe  Bedeutung, 
daß  es  eine  Zeillang  Vorort  für  die  Zünfte  Stolp, 
Kolberg  und  Elbing  war. 

Als  Sendel  das  Dresdener  Bernsteinkabinett 
beschrieb,  ließ  er  sich  besonders  von  dem  Dan- 
ziger Stadtsekretär  Klein  teils  Originalstücke, 
teils  Zeichnungen  nach  Dresden  schicken.  Ferner 
benutzte  er  Stücke  von  verschiedenen  anderen 
Danziger    und    von  Königsberger    Naturforschern. 


96 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXL  Nr.  7 


Die  seinem  Werke  auf  Tafeln  beigegebenen  Kupfer- 
stiche stellen  die  seltensten  Stücke  aus  dem 
Dresdener  Schatz  in  natürlicher  Größe  dar;  die 
Zeichnungen  für  sie  stammen  von  der  Hand  eines 
Danziger  Schulmanns  (6  II,  S.  630 — 632).  —  Wie 
sehr  er  davon  überzeugt  ist,  daß  das  Material  zu 
seiner  Arbeit  am  Strande  Preußens  oder  bei 
Danzig  selbst  entstanden  ist,  geht  aus  verschie- 
denen Angaben,  besonders  solchen  für  die  Pflanzen, 
hervor.  Diese  konnten  —  wie  er  meint  —  nur 
dann  eingeschlossen  werden,  wenn  sie  in  größter 
Nähe  des  Meeres,  zum  wenigsten  auf  preußischem 
Boden  gedeihen;  fremdländische  oder  auch  nur 
wenig  vom  Ufer  entfernte  seien  nur  selten  einge- 
schlossen gefunden;  sie  müssen  von  den  Wogen 
ans  Ufer  geworfen  oder  von  heftig  wehenden 
Winden  aus  der  Nähe  herangetrieben  sein.  Dabei 
sei  es  nicht  immer  notwendig,  daß  die  weiche 
Bernsteinmasse  auf  sie  falle;  die  Pflanzenteile 
könnten  auch  auf  sie  hinaufgeweht  und  von  neu 
hinzukommender  Substanz  eingebettet  werden.  — 
Bei  den  eingeschlossenen  Pflanzenresten  ist  von 
Buchsbaum  die  Rede,  der  in  Preußen  häufig  vor- 
kommt, von  Coronilla  herbacea,  die  in  den  Hecken 
oft  angetroffen  wird  (satis  familiaris),  oder  von 
Onobrychis  secunda,  die  auch  in  Preußen  daheim 
sei.  In  einem  anderen  Stück  sieht  er  ein  Laser- 
kraut {LaserpUium  dancoldcs  pniloüctini),  das 
von  seinem  Mitarbeiter,  dem  Arzte  Dr.  Joh. 
Philipp  Breyn  in  Danzig,  zuerst  beschrieben 
wurde  und  bei  dem  Dorfe  Zoppot,  in  der  Nähe 
von  Danzig,  vorkommen  sollte.  Einen  anderen 
Einschluß  hielt  er  mit  Klein  für  einen  Rest  des 
am  Ufer  gedeihenden  Mauerpfeffers  (28). 

Wie  früher  bereits  Hartmann  hielt  Sende  1 
den  Bernstein  und  das  oft  mit  ihm  zusammen 
auftretende  fossile  Holz  für  mineralischen  Ursprungs 
und  glaubte,  daß  es  noch  jetzt  wie  von  Anfang 
der  Welt  an  entstehe.  Gebildet  sollte  der  Bern- 
stein werden  aus  Vitriol,  Schwefel  und  Erdharzen, 
wie  sie  in  Gängen  und  Klüften  der  Erde  vorhan- 
den seien ;  den  Anstoß  zu  seiner  Bildung  sollten 
feine  Dünste,  Geister,  Rauch  und  Ausdünstungen 
geben,  die,  von  der  Luft  oder  den  Sonnenstrahlen 
in  Bewegung  gesetzt,  sich  mit  dem  Samen  ver- 
dichteten, der  zur  Bildung  erforderlich  und  in  der 
Erde  enthalten  sei.  —  Statt  der  früher  geäußerten 
Auffassung,  daß  Insekten  in  die  Erde  kriechen 
müßten,  um  vom  Bernstein  umhüllt  zu  werden, 
äußert  Sendel  sich  bereits  dahin,  daß  sie  —  wie 
auch  Pflanzen  und  ihre  Teile  —  in  zutage  tretende 
harzige  Adern  geweht  wurden.  Hatte  er  durch 
diese  Annahme  den  Gegensatz  und  die  Schwierig- 
keit beseitigt,  der  bisher  zwischen  der  Bildung 
von  Tier-  und  Pflanzeninklusen  bestand ,  so 
machte  ihm  nun  die  Bildung  der  Tropfen  und 
Schlauben  des  Bernsteins  weitere  Mühe.  Um 
sie  zu  deuten,  mußte  er  annehmen,  daß  eine 
Bewegung  der  Bernsteinsubstanz  von  oben  nach 
unten  möglich  sei,  und,  um  ihre  ungehemmte 
Ausbildung  zu  erklären,  daß  die  Berge,  in  denen 
sie  entstanden,  durch  Risse  geborsten  seien.    Diese 


Annahmen  sind  um  so  interessanter,  als  sie  in  der 
Zeit  eines  Lomonossow  (1727)  gemacht  wur- 
den und  es  nur  noch  eines  kleinen  Schrittes  be- 
durfte, um  zur  Auffassung  der  Alten  zurückzu- 
kehren. Der  an  einem  Nadelbaum  hernieder- 
fließende und  tropfende  Balsam  bot  bequem  die 
Möglichkeit,  alle  Fragen  zu  beantworten,  die  sich 
auf  die  Bildung  von  tierischen  und  pflanzlichen 
Einschlüssen,  von  Tropfen  und  schlaubigen  Flüssen 
bezogen. 

Im  Jahre  1803  brachte  der  Königl.  preuß. 
Kammer  -  Kommissionsrat  und  Oberplantagen- 
Inspektor  Sören  Biörn  in  Danzig  ejne  weitere 
Erklärung  für  die  Entstehung  des  Bernsteins,  die 
von  Wäldern  mit  Nadelbäumen  ihren  Ausgang 
nahm.  Von  der  See  aus  stieg  nach  ihm  bis  zu 
den  Gebirgsketten  der  Karpathen  das  Land  lang- 
sam empor.  Frühzeitig  bedeckten  sich  die  oberen 
Teile  mit  Waldungen,  vorzugsweise  mit  Nadel- 
hölzern; von  ihnen  wurden  ganze  Strecken  zu 
Siedelungszwecken  und  aus  anderen  Gründen 
niedergebrannt.  Dabei  träufelte  sehr  viel  Harz 
aus  den  Bäumen;  die  zur  Ostsee  führenden  Ge- 
wässer, die  noch  keine  eingeengten  Flußbetten 
hatten ,  rissen  Waldboden  und  Bäume  mit  Harz 
zeitweise  los  und  führten  das  letztere  mit  sich 
fort.  In  der  See  wurde  es  von  dem  aufgewühlten 
Sande  verschüttet  und  von  heftigen  Stürmen  mit 
dem  zerbröckelten  Holz  an  die  Küste  geworfen, 
bei  umspringendem  Wind  aber  wieder  fortgeführt. 
So  gelangte  es  mit  Holz,  Erde  und  Sand  in 
früheren  Zeiten  durch  die  Mündungen  der  Flüsse 
in  die  damals  mehr  landeinwärts  gelegenen 
Meeresbuchten  der  Ostsee.  Die  Ströme,  die  vor- 
zugsweise in  Frage  kommen,  „fließen  bei  Danzig 
herab,  nämlich  die  Weichsel,  und  die  sich  kurz 
vor  dem  Ausflusse  derselben  darin  ergießende 
Radaune  (der  sog.  Eridanus)"  (5,  S.   52). 

Auf  diese  Weise  erklärt  Biörn  die  Bildungs- 
möglichkeit des  Seebernsteins  und  des  gegrabenen 
Steins.  Da  er  nach  Überschwemmungen  an  den 
Ufern  Stücke  von  diesem  Material  gefunden  hat, 
ist  für  ihn  die  Richtigkeit  seiner  Annahme  be- 
wiesen. Interessant  ist  es,  wie  er  der  Schwierig- 
keit ausweicht,  das  Fehlen  der  Stämme  von  den 
Bernsteinbäumen  zu  erklären.  Er  läßt  sie  an 
ihrem  Entstehungsoft  verbrennen ,  den  Rest  der 
See  zuführen  und  hier  durch  die  Brandung  zer- 
bröckeln. Die  schwarze  Farbe  der  ausgeworfenen 
Holzstücke  stützt  seine  Auffassung.  Durch  den 
Waldbrand  vermag  er  ferner  zu  erklären,  wie  es 
möglich  war,  daß  Bernsteinstücke  von  oft  so  er- 
heblicher Größe  entstanden,  wie  sie  heute  aus 
Harz  in  unseren  Waldungen  nicht  angetroffen 
werden.  Aus  „historisch- geographischen"  Gründen 
spricht  sich  bereits  Joh.  Gottfr.  Haße  in  den 
letzten  Jahren  des  i8.  Jahrhunderts  für  die  Mit- 
wirkung von  Bränden  aus ;  ausschlaggebend  war 
für  ihn  freilich  die  Phaeton-Sage,  nach  der  der 
Sonnen  wagen  den  Erdkreis  in  Flammen  setzte. 

13  Jahre  nach  Biörn  veröffentlichte  der  Le 
gationsrat    von    Struve    in  Leonhards  Jahrbuch 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'^7 


(14,  S.  122,  123)  eine  weitere  Ansicht  über  die 
Entstehungsart  des  Bernsteins.  Er  lebte  in  Danzig 
und  wandte  hier  der  Entstehungsart  des  Natur- 
körpers sein  Interesse  zu.  In  Anlehnung  an  die 
Auffassung  des  Jenenser  Professors  John  war  er 
der  Meinung,  daß  Bernstein  aus  Tannenharz  ent- 
stehe; es  war  ihm  das  hinreichend  dadurch  er- 
wiesen ,  daß  in  ihm  „Tannenzapfen  und  Tannen- 
haar" gefunden  würden.  —  Seine  Theorie  knüpft 
an  die  großen  Waldungen  von  Tannen  an ,  die 
sich  am  Danziger  Strande  fänden.  Das  Harz  aus 
ihnen  bahne  sich  mittels  seiner  Schwere  auf  den 
schwach  geneigten  Ufergelände  seinen  Weg  ins 
Meer.  Diese  Bewegung  gehe  besonders  im  Som- 
mer gut  von  statten,  wenn  der  Sand  heiß  und 
deshalb  trocken  sei.  Gelangte  er  ins  Meer,  so  forme 
er  sich  dort  nach  verschiedenen  Zufälligkeiten 
und  erhalte  unter  der  Wirkung  des  reibenden 
Sandes  mit  der  Zeit  seine  Glätte,  bleibe  er  unter- 
wegs hängen,  so  erhalte  er  im  Boden  eine  Kruste. 

Es  ist  von  S  t  r  u  V  e  entgegnet,  daß  dieser  Auf- 
fassung verschiedenes  entgegengehalten  werden 
könne,  u.  a.,  daß  der  Bernstein  sich  noch  heute 
auf  diesem  Wege  erzeugen  müsse,  wie  er  es  vor 
langen  Zeiten  getan  hätte.  Entstände  er  aber 
noch  heute  so ,  dann  müßten  sich  an  ihm  alle 
möglichen  Übergänge  nachweisen  lassen,  von  der 
Weichheit  des  ausgeflossenen  Harzes  bis  zur 
Härte  des  fertigen  Bernsteins.  —  Dieser  Einwurf 
ist  unberechtigt,  wenn  man  daran  denkt,  daß  in 
früheren  Zeiten  das  Vorhandensein  von  weichem 
Bernstein  mit  Sicherheit  angenommen  wurde. 
Sendel  widmet  ihm  in  seiner  2.  Abhandlung 
(missus  secundus)  eine  eingehende  Besprechung, 
als  er  die  ursprünglich  weiche  Beschaffenheit 
des  Bernsteins  beleuchtet  (27,  S.  i — 20).  Er 
berichtet,  daß  er  ihn  häufig  genau  betrachtet  und 
verschiedene  Grade  der  Härte  an  ihm  wahrge- 
nommen habe.  Auch  John  behandelt  den  flüssi- 
gen und  teigigen  Bernstein  eingehend  (14,  S.  268 
bis  278)  und  gibt  gleiche  Resultate,  ebenso  Bock 
(6  II,  S.  187 — 195).  Nach  ihm  kann  man  an  ein 
und  demselben  größeren  Stück  verschiedene  Härte- 
stufen wahrnehmen  (6  II,  S.  192,  193).  Eine  Er- 
klärung hierfür  ergibt  sich  durch  die  Betrachtung, 
daß  mit  dem  Fortschreiten  der  Verwitterung  die 
Härte  zunimmt;  selbstverständlich  ist  hierbei  von 
keinem  Mineral  teigiger  Beschaffenheit  die  Rede. 
Auch  Pfannenschmidt  in  Danzig  gibt  noch 
vor  30  Jahren  an,  daß  hin  und  wieder  unter  dem 
Bernstein  Stücke  gefunden  wurden,  die  eine  ziem- 
lich weiche,  fast  gummiartig  elastische  Beschaffen- 
heit besäßen,  während  ihre  chemische  Beschaffen- 
heit der  des  Edelharzes  sehr  nahe  käme  (22,  S.  67). 
Kopal-  und  Harzstücke  werden  nun  aber  am 
Ufer,  besonders  an  Strommündungen  öfter  auf- 
gelesen und  als  Bernstein  angesehen ;  sie  stammen 
wohl  aus  Schiffsladungen  her.  Auch  Bock  weiß 
von  derartig  kolophonähnlicher  Substanz  zu  be- 
richten (611,  S.  258,  259). 

Die  ersten  Mitteilungen  von  solchem  weichen 
Bernstein  sind  recht  alt.      Von  dem  ersten  Bern- 


steinherrn,  der  an  der  Küste  für  den  Orden  die 
Aufsicht  über  den  Stein  führte,  Hermann  von 
Arsenberg,  wird  erzählt,  daß  er  in  der  Zeit, 
als  Herzog  Luderus  von  Braunschweig 
Hochmeister  war,  einen  Versuch  mit  solchem 
weichen  Material  anstellte.  Er  drückte  einen 
Zettel  mit  näheren  Angaben  hinein  und  warf  es 
wieder  in  die  See.  Das  Stück  soll,  wie  die  Fabel 
erzählt,  im  Jahre  1498,  zu  vollkommenem  Bern- 
stein erhärtet,  wieder  aufgefischt  sein  (12,  S.  579). 
—  Wie  sehr  man  sich  mit  dieser  Angelegenheit 
beschäftigte,  geht  aus  einer  anderen  Legende  her- 
vor, in  der  man  die  weiche  Harzmasse  mit  dem 
Danziger  Sternkundigen  Hevelius  in  Beziehung 
bringt.  Am  Strande  zwischen  Danzig  und  Königs- 
berg soll  er  ein  wachsweiches  Stück  Bernstein 
gefunden  und  seinen  Siegelring  darin  abgedrückt 
haben.  Das  Stück  diente  ihm  später  als  Beweis- 
stück dafür,  daß  der  Stoff  des  Bernsteins  ehemals 
weich  gewesen  sei;  dann  soll  das  Stück  nach 
England  geschickt  und  dort  Neugierigen  als  große 
Seltenheit  gezeigt  worden  sein  (24,  S.  177).  — 
Von  größerer  Bedeutung  ist  eine  Notiz,  nach  der 
eine  Gesellschaft  junger  Leute  von  Danzig  nach 
Heia  fuhr  und  unterwegs  neben  ihrem  Boote  eine 
klebrige  Masse  schwimmend  fand,  die  für  weichen 
Bernstein  gehalten  wurde  (6  II,  S.  192).  Von  be- 
sonderem Interesse  hierbei  ist  der  Umstand,  daß 
der  angetroffene  Körper  schwamm ,  also  ein  ge- 
ringeres spez.  Gewicht  als  das  Meerwasser  hatte. 
In  dieser  Hinsicht  würde  er  mit  dem  sog.  unreifen 
Bernstein  übereinstimmen,  der  von  G.  Berendt 
und  H.  Spirgatis  (4;  32)  untersucht  und  als 
gleich  mit  der  als  Krantzit  bezeichneten  Bernstein- 
art ermittelt  wurde. 

Über  die  Entstehung  unseres  Edelharzes  be- 
richtet im  Jahre  1835  auch  Aycke  in  seinen 
„F'ragmenten  zur  Naturgeschichte  des  Bernsteins", 
nachdem  er  14  Jahre  vorher  die  Pacht  des  Bern- 
steinsammelns  am  Danziger  Seestrande  übernom- 
men und  eine  reiche  Sammlung  von  typischem 
Belegmaterial  zusammengebracht  hatte.  Er  knüpft 
an  die  Beobachtung  der  Landleute  und  Bernstein- 
gräber an,  daß  Nester  von  Bernstein  unter  den 
Wurzeln  umgerissener  Fichtenstämme  angetroffen 
sein  sollen.  Er  selbst  hat  an  ausgegrabenen 
Wurzelstöcken  und  in  den  Gruben,  aus  denen 
sie  geholt  waren,  Bernstein  nicht  wahrnehmen 
können,  dagegen  aus  anderen  Gruben  des  Berna- 
dower  Forstbezirks,  unweit  Gr.  Katz  bei  Danzig, 
Bernsteinnester  mit  Wurzelfasern  erhalten,  ohne 
ihre  Abstammung  erkennen  zu  können.  —  Nach 
Phil.  Jac.  Hartmann  berichtet  Agricola 
von  ähnlichen  Bildungen  aus  der  Nähe  des  Klosters 
Oliva ;  er  bezeichnet  das  Material  der  Stücke  frei- 
lich als  Bitumen  (13,  S.  39,  40). 

In  den  Bernsteinwäldern  sonderte  sich  —  nach 
Aycke  —  Stammharz  ab,  der  Überfluß  wurde 
der  Wurzel  zugeführt.  Eine  Erdrevolution  zer- 
störte sie,  wühlte  ihre  Wurzeln  aus  dem  Boden 
und  zerstreute  sie  nebst  Stämmen  und  Harz  i« 
dem  neu  aufgeschütteten  Lande.    Die  tieferliegen-. 


98 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


den  Wurzelfasern  blieben  mit  ihren  Produkten  in 
dem  teilweise  unberührten  Boden  zurück,  über 
den  sich  neue  Schichten  ablagerten.  Die  fossilen 
Holztrümmer  und  vereinzelte  Bernsteinstöcke  fin- 
den sich  deshalb  nur  zerstreut  in  den  obersten 
Erdschichten  der  jüngsten  Formation  und  enthalten 
oft  Spuren  ihres  vegetativen  Ursprungs.  Wo  die 
Wurzeln  in  größerer  Tiefe  vorkommen,  sind  ,, Holz- 
splitter und  Insekten  nie,  wohl  aber  Wurzelreste, 
festere  Erdteile,  Sumpfeisen  und  Kiesel-Konglo- 
merate" (!  1)  in  dem  fossilen  Harz  eingeschlossen. 
Von  dem  gegrabenen  Bernstein  ist  ein  Teil  unter 
der  Erde  ausgeflossen  und  erhärtet  und  beim 
öffnen  der  Grube  zum  erstenmal  ans  Tageslicht 
gelangt.  Man  sollte  annehmen  dürfen,  daß  heftige 
Winde  gewöhnlich  nur  den  Bernstein  ans  der 
See  hervorbrächten,  der  früher  an  den  Stämmen 
und  Ästen  der  Bäume  ausgeflossen  ist  oder  in 
ihrem  Inneren  sich  ansammelte.  Die  stärksten 
Stürme  griffen  dagegen  bis  in  die  tieferliegenden 
Wurzeln  und  den  unter  ihnen  liegenden  Stein 
herunter  und  brächten  ihn  ans  Ufer  (3,  S.  25,  31, 
32,  33,  60).  Nach  dieser  Auffassung  müßten  die 
Stämme  der  ursprünglichen  Bernsteinbäume  heute 
noch  auf  dem  Boden  der  See  vorhanden  sein. 
Doch  sind  sie  freilich  bis  heute  noch  nicht  nach- 
gewiesen worden.  Schon  früher  ließ  man  sie 
durch  Waldbrände  zugrunde  gehen  oder  später 
—  sogar  noch  1889  —  beim  Untergang  des 
Bernsteinwaldes  ins  offene  Meer  hinaustreiben  und 
verschwinden  (16,  S.  12),  während  der  Bernstein 
sich  in  der  Nähe  des  fortgespülten  Landes  ab- 
setzte. 

Conwentz  hat  schließlich  in  seiner  „Mono- 
graphie der  Baltischen  Bernsteinbäume"  (1890) 
gezeigt,  weshalb  man  die  Stämme  aus  jenen 
Wäldern  der  Vorwelt  nicht  aufzufinden  vermöchte 
(8,  S.  143):  Durch  allmähliches  Zusammentrocknen 
entstehen  im  toten  Holz  Risse.  Saprophyten  be- 
wirken in  Gemeinschaft  mit  atmosphärischen 
Niederschlägen  und  mit  Wärme  eine  immer 
stärkere  Zersetzung  und  Zerstörung,  so  daß 
schließlich  ein  Nährboden  entstand,  auf  dem  an- 
dere Pflanzen  zu  keimen  und  sich  zu  entwickeln 
vermochten.  Hinzu  kam  die  Tätigkeit  von  Insekten, 
die  das  Holz  annagten,  ihre  Gänge  darin  anlegten 
und  darin  verbreiteten.  Auf  physikalischem  und 
chemischem  Wege  wurde  die  Zerstörung  des 
Holzes  so  immer  weiter  geführt,  bis  es  in  größere 
und  kleinere  Teilchen  zerlegt  war.  die  mit  tieri- 
schen und  pflanzlichen  Resten  den  Mulm  des 
Waldbodens  ausmachten. 

Tropfte  Bernsteinbalsam  auf  ihn  hernieder,  so 
durchtränkte  er  ihn  und  bildete  Stücke,  die  mit 
Verunreinigungen  erfüllt  und  deshalb  wenig  an- 
sehnlich sind.  Diese  Bildung  ergibt  den  sog. 
Firniß  des  Handels,  der  nur  zur  Herstellung  von 
Lacken  Verwendung  findet. 

Die  bis  hier  erwähnten  Schriften  sind  nicht 
die  einzigen,  welche  die  Heimat,  die  Entstehung 
und  das  Vorkommen  des  Bernsteins  bei  Danzig 
behandeln ;     viele    andere    Autoren    kommen    bei 


der  einen  oder  anderen  Gelegenheit  auf  diese 
Frage  zu  sprechen,  aber  die  aufgeführten  sind  die 
wichtigsten.  Mit  dem  Jahre  1845,  als  Georg 
Carl  Berendt  sein  Werk  über  „die  im  Bern- 
stein befindlichen  organischen  Reste  der  Vorwelt" 
herauszugeben  begann,  hat  man  den  einen  oder 
anderen  bisher  zweifelhaften  Punkt  näher  beleuchtet 
und  manche  noch  vorhandene  Lücke  zu  füllen 
gewußt.  Dies  gelang  immer  mehr  und  in  um- 
fassenderem Maße,  als  die  Phys.  Ökonom.  Gesell- 
schaft in  Königsberg  wissenschaftlich  zu  sammeln 
und  auf  weite  Kreise  anregend  zu  wirken  begann. 
In  edlem  Wettstreit  mit  Ostpreußen  hat  West- 
preußen und  besonders  Danzig  das  Wissen  vom 
Bernstein  weiterzuführen  und  abzuschließen  ge- 
sucht und  dabei  die  Erkenntnis  gewonnen,  daß 
jede  gelöste  Frage  zu  vielen  weiteren  Veranlassung 
gibt,  die  der  Beantwortung  harren. 

Beuutxte  Literatur. 

I.  Abel,  Olhenio,  Die  Tiere  der  Vorwelt.  Aus  Natur 
und  Geisteswrlt,  Bd.   399;    1914. 

2  Aurifaber,  Andreas,  Succini  historia.  Ein  kurtzer 
gründlicher  Bericht,  woher  der  Agisiein  oder  Börnstein  vr- 
sprünglich  komme  usw.     Königsberg  1551. 

3  Aycke,  Joh.  Chr.,  Fragmente  zur  Naturgeschichte 
des  Bernsteins.     Danzig   1835. 

4.  Berendt,  G.,  Unreifer  Bernstein.  Schrift,  d.  phys.- 
ökun.   Ges.  zu   Königsberg  i.  Pr,,  Bd.   13,   1872,  S.   133—135. 

5.  Biörn,  Sören,  Bemerkungen  über  die  vormalige  und 
gegenwärtige  Lage  und  Beschaffenheit  der  preufiischec  und 
danziger  südbaltischen  Ufer  usw.     Danzig   1803. 

6.  Bock,  Friedrich  Samuel,  Versuch  einer  wissen- 
schaftlichen Naturgeschichte  von  dem  Königreich  Ost-  und 
VVestpreuSen.     Dessau;  Bd.    i,   1782;  Bd.  2,   1783. 

7.  Clüver,  Philipp,  Germaniae  antiquae  libri  tres. 
Lugduni  Batavorum    1616. 

8  Conwentz,  H.,  Monographie  der  Baltischen  Bern- 
steinbäume.    Danzig   1890. 

9.  Conwentz,  H.,  Über  die  Verbreitung  des  Succinits, 
besonders  in  Schweden  und  Dänemark.  Schrift,  d.  Naturf. 
Ges.  in  Danzig.  N.  F.  Bd.  7,  Heft  3.  Danzig  1890,  S.  165 
bis   176. 

10.  Dahms,Faul,  Verwitterungsvorgänge  am  Bernstein. 
Min.  Unters,  über  Bernstein  XI.  Schrift,  der  Naturf  Ges.  in 
Danzig.     N.   F.  Bd.   13,  Heft  3/4.     Danzig  1914,  S.  175     243. 

II.  Dcwischeit,  F.,  Bericht  über  einen  Brrnsteirfund- 
ort  in  Masuren.     Preuß.  Prov.-Bl.    Königsberg  i.  Pr.,    Bd.   26, 

184I,    S.    195    -  300. 

12.  Elditt,  H.  L.,  Das  Bernsteinregal  in  Preu8en.  Alt- 
preuß.  Monatsschrift.  Königsberg  i.  Pr.,  Bd.  5,  1868,  S.  577 
bis  611,  673— bqS;  Bd.  6,  1869,  S.  432—462;  Bd.  8,  1871, 
S.   385-426. 

13.  Hartiuann,  Phil,  jac,  Succini  prussici  physica  et 
civilis  hisioria  etc.     Francofuni    1677. 

14.  John,  J.  F.,  Naturgeschichte  des  Succins,  oder  des 
sog.  Bernsteins.     I.  Teil.     Köln    1S16. 

15.  Kaunhowen,  F.,  Der  Bernstein  in  Ostpreußen. 
Jahrb.  d.  Königl.  Preuß.  Geol.  Landesanstalt  für  1913,  Bd.  34, 
Teil   2,  Heft   1.     Berlin    1913,  S.   1  —  80. 

16.  Klcbs,  Richard,  Aufstellung  und  Katalog  des 
Bernsteinmuseums  von  Stantien  und  Becker,  Königsberg  i.  Pr. 
Nehsl  einer  kurzen  Geschichte  des  Bernsteins.  Königsberg 
1889. 

17.  Klebs,  Richard,  Der  Bernstein  und  seine  Bedeu- 
tung für  Ostpreußen.  Königsberg  in  der  Naiurforschung  und 
Medizin.     Königsberg  i.  Pr.   1910,  S.  38  —  52. 

iS.  Klebs,  Richard,  Über  Bernsieineinscblüsse  im 
allgemeinen  und  die  Colcoptcren  meiner  Bernsteinsammlung. 
Schrift,  d.  phys.-ökon.  Ges.  zu  Königsberg  i.  Pr.  Jahrg.  51, 
Heft   I.     Leipzig  und  Berlin   191 1,  S.  217 — 242. 

19.   1-ohmeyer,  Karl,    Ist  Preußen    das    Bernsteinland 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


99 


der  Alten  gewesen?     Altpreuß.  Monatsschrift  Bd.   9.     Königs- 
berg i    Pr.   1872,  S.   I  — 17. 

20.  Perlbach,  M.,  Preußische  Regesten  bis  zum  Aus- 
gang des  13.  Jahrhunderts.  Alipreuß.  Monatsschrift.  —  1874, 
Bd.  II,  S.  1—32,  97—128,  326—348,  385—432,  546—572, 
609—624  und  1875,  Bd.  12,  S.  1—26,  97 — 144,  193  —  216, 
3>9— 344.  385— 42S,   577—645.     Königsberg   1876. 

21.  Perlbach,  M. ,  Pommerellisches  Urkundenbuch. 
Danzig  1882. 

22.  Pf  annenschrai  d  t,  Ed.,  Über  Bernstein  usw.  Mün- 
chen  (ohne  Jahreszahl). 

23.  Roy,  C.  VV.  van,  Ansichten  über  Entstehung  und 
Vorkommen  des  Bernsleins,  sowie  praktische  Miuheilungen  über 
den  Werth  und  die  Behandlung  desselben  als  Handelswaare. 
Danzig   1S40. 

24.  Rzaczynski,  Gabr. ,  Historia  naturalis  curiosa 
regni  Poloniae,  magniducatus  Lituaniae,  annexarumque  provin 
ciarum  etc.     Sandomiriae   1721. 

25.  Schütz,  Caspar,  Historia  rerum  prussicarum  etc 
Zerbst  1592. 

26.  Schuster,  Julius,  Hundert  Jahre  Phytopaläonto 
logie  in  Deutschland.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  Bd.  20 
Nr.  21,  S.  305—310. 

27.  Sendel,  Nathan,  Electrologiae  per  varia  tenta 
mina  faistorica  et  physica  cnntinuandae  missus  secundus  etc 
Elbingae   1726. 


28.  Sendel,  Nathan,  Historia  soccinorum  corppra 
aliena  involventium.  Lipsiae  1742.  Pars  II,  Cap.  I,  S.  264 
bis  277. 

29.  Sonntag,  P.,  Heia,  die  Frische  Nehrung  und  das 
Haff.  Schliff,  d.  Naturf.  Ges.  in  Danzig.  N.  F.  Bd.  14, 
Heft   I.     Danzig  1915,  S.  32 — 59. 

30.  Sonntag,  P. ,  Geologie  von  Westpreußen.  Berlin 
1919. 

31.  Spiegel,  V.,  Heia.  26.  und  27.  Ber.  des  Westpr. 
Bot.-zool.  Vereins.     Danzig   1905.     S.    126* — 143*. 

32.  Spirgatis,  H.,  Über  die  Identität  des  sog.  unreifen 
Bernsteins  mit  dem  Krantzit.  Schrift,  der  phys.ökon.  Ges. 
zu  Königsberg  i.   Pr.  Bd.    13,   1872,  S.   136—137. 

33.  Tesdorpf,  W.,  Gewmnung,  Verarbeitung  und  Han- 
del des  Bernsteins  in  Preußen  usw.  Staatswissenschafiliche 
Studien.     Bd.   i,  Heft  6.     Jena   1887. 

34.  Voigt,  Johannes,  Geschichte  Preußens,  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  zum  Untergänge  der  Herrschaft  des  deut- 
schen  Ordens.      Bd.  6.      Königsberg    1834. 

35.  Wigand,  Joh.,  Vera  historia  de  succino  bonissico 
etc.     Jrnae   1590. 

36.  Zaddach,  E.  G. ,  Beobachtungen  über  das  Vor- 
kommen des  Bernsteins  und  die  Ausdehnung  des  Tertiär- 
gebirges in  Westpreußen  und  Pommern.  Schrift,  d.  Königl. 
phys.-ökon.  Ges.  zu  Königsberg,  Jahrg.  10;  Königsberg  1869, 
S.   1-82. 


Einzelberichte. 


Die  Ursachen   der  diluvialen  Anischotteniiig 
und  Erosion. 

Als  Ausgangspunkt  für  die  Untersuchungen 
W.  Soergels')  über  die  Ursachen  der  diluvialen 
Aufschotterung  und  Erosion  wurde  das  im  Dilu- 
vium nicht  vereiste  Thüringen  gewählt.  Doch 
sind  die  für  Thüringen  durch  seine  Untersuchungen 
als  gültig  erwiesenen  Tatsachen  auch  für  weite 
Gebiete  Mittel-  und  Westeuropas  zutreffend. 

Die  diluviale  Aufschotterung  steht  als  ganz 
besondere,  bisher  kaum  richtig  in  ihrer  Bedeutung 
für  das  Eiszeitproblem  gewürdigte  Erscheinung 
im  zeitlichen  Rahmen  zwischen  Pliozän  und  Allu- 
vium. 

Die  diluviale  Aufschotterung  ist  eine 
durchaus  regionale,  erstens,  weil  sie  in  großen 
und  kleinen  Flußtälern  wirksam  war,  nicht  aber 
an  bestimmte,  durch  ihre  Wasserführung  oder 
Talrichtung  ausgezeichnete  Wasserläufe  gebunden 
ist,  zweitens  im  Hinblick  auf  ihre  weite  Erstrek- 
kung  im  Talgebiete  des  gleichen  Flusses.  Regio- 
nale Verbreitung  und  petrographische  Zusammen- 
setzung der  diluvialen  Aufschotterung  beweisen  nun, 
daß,  —  man  könnte  zu  ihrer  Erklärung  tektonische 
und  klimatische  (Ab-  und  Zunahme  der  Nieder- 
schläge) Ursachen  heranziehen  —  es  vor  allem 
klimatische  Ursachen  waren,  die  die  Bildung 
der  diluvialen  Schottermassen  beherrschen.  Weder 
kontinentale  noch  orogenetische  Bewegungen 
können  als  Ursachen  der  Aufschotterung  ange- 
sehen werden.  Sie  ist  rein  klimatisch  bedingt. 
Das  gleiche  gilt  für  die  Erosion  insofern,  als 
ihr  Einsetzen  ohne  Klimaänderung  nicht  möglich 

')  Verlag  (iebr.   Borntracger,   Berlin   1921. 


war,  mag  das  Ausmaß  auch  durch  kontinentale 
Bewegungen  beeinflußt  sein.  Während  ein  kal- 
tes, halbarides  Klima,  das  regional  in  Mittel- 
und  Westeuropa  herrschte,  die  Zeiten  der  Auf- 
schotterung kennzeichnet  und  ihre  unbedingte 
Voraussetzung  ist,  zeichnet  ein  humides  die 
Zeiten  der  Erosion  aus.  Im  wiederholten,  durch 
die  Schotterterrassen  bewiesenen  Wech-^el  dieser 
beiden  Klimate  ist  zugleich  der  Wechsel  von  Eis- 
zeiten und  Zwischeneiszeiten  zu  erkennen  —  wie 
er  in  anderen  Gebieten  als  Thüringen  und  auf 
Grund  anderer  Beobachtungen  nachgewiesen  wurde. 
Wie  in  dem  zur  Diluvialzeit  vergletschert  ge- 
wesenen Alpengebiete  jeder  Glazialzeit  eine  Auf- 
schotterung der  aus  ihm  führenden  Flüsse,  resp. 
eine  Schotterterrasse  zugehört,  so  muß  sich  auch 
in  Thüringen  die  Anzahl  der  Eiszeiten  und  der 
Schotterterrassen  entsprechen. 

Der  Aufschotterungsvorgang  selbst  ist  auf  die 
glazial  beeinflußte  und  die  glaziale  Übergangszeit 
vom  interglazialen  zum  hochglazialen  Klima  im 
wesentlichen  beschränkt. 

In  den  regionalen  Schotterterrassen  unvereister 
Gebiete  ist  ein  sehr  wertvolles  Mittel  vorhanden, 
die  in  diluvial  vereisten  Gebieten  festgestellte 
Reihe  von  Glazial-  und  Interglazialzeiten  gegen- 
seitig zu  kontrollieren. 

Mit  der  endgültigen  Ausschaltung  interglazialer 
regionaler  (lokale  mögen  vorhanden  sein)  Schotter- 
terrassen, an  denen  die  Monoglazialisten  bis  heute 
festhallen,  tritt  der  bedeutsame  Gegensatz  von 
Glazial-  und  Interglazialzeiten  von  neuem  in 
schärferes  Licht.  Beiden  gemeinsam  ist  allein 
eine  regionale  Verwitterung;  diese  aber  ist 
in  Glazialzeiten  eine  mechanische,  in  Inter- 
glazialzeiten   eine    chemische.      Neben    diesem 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


Unterschiede  in  der  Verwitterung  tritt  als  ein 
weiterer  durchgreifender  zwischen  beiden  Zeiten 
die  Gesteinsbildung  ein.  Es  bildeten  sich 
in  Glazialzeiten  die  regional  verbreiteten  Geschiebe- 
mergel  und  ihre  Auswaschungsprodukte,  Schotter 
und  Löß.  In  den  Intergiazialzeiten  bildeten  sich 
jedoch  nur  lokal  beschränkte  Schotterlagen,  Ton- 
lagen, Kalktuffe  und  Torfmoore. 

Soergel  betont  auf  Grund  seiner  Unter- 
suchungen besonders,  daß,  wenn  durch  Prüfung 
von  Tatsachen  ein  Fragenkomplex  der  Diluvial - 
geologie  kritisch  beleuchtet  wird,  das  Ergebnis 
stets  eine  Verschärfung  des  Gegen- 
satzes zwischen  glazialen  und  inter- 
glazialen Verhältnissen  ist,  im  vollen 
Widerspruche  zur  monoglazialistischen  Auffassung. 

Krenkel. 

Elephas  C'oluuibi  Falc. 

Während  die  diluvialen  Elefanten  Europas  be 
reits  ausgiebig  von  verschiedenen  Autoren  bear- 
beitet worden  sind,  fehlte  bisher  eine  entsprechende 
Zusammenfassung  der  nordamerikanischen  Arten. 
Einen  sehr  wesentlichen  Beitrag  in  dieser  Richtung 
liefern  die  Untersuchungen  W.  Soergels  über 
Elefhas  coliimbi  Falconer.\)  Das  der  Arbeit  zu- 
grundeliegende Material  wurde  1906/07  von Doren - 
berg  aus  einer  inzwischen  wohl  völlig  abgebauten 
diluvialen  Kalktuffiafel  nordöstlich  der  Stadt  P  u  eb  1  a 
gesammelt,  und  befindet  sich  gegenwärtig  im  Frei- 
burger Geol.  Institut.  Es  umfaßt  neben  einem 
wohlerhaltenen  Unterkiefer  ein  Kieferbruchstück, 
verschiedene  Zähne  und  Zahnbruchstücke,  sowie 
einige  Extremitätenknochen  und  Teile  des  Rumpf- 
skelelts,  insgesamt  Reste  von  8   Elefanten. 

Den  ersten  Teil  der  Arbeit  bildet  eine  sehr  ein- 
gehende Beschreibung  der  Fundstücke.  Wertvoll 
ist  die  eingehende  Vermessung,  deren  Resultate,  in 
Tabellenform  mit  entsprechenden  Maßen  europäi- 
scher Elefanten  zusammengestellt,  deutlich  die  Be- 
ziehungen zu  denselben  erkennen  lassen.  Die  Ver- 
hältnisse des  Metacarpale  III,  des  Unterkiefers  und 
der  Molaren  trennen  EL.  coliunbi  von  der  hysitdriciis- 
indicus-  und  der  aitti(]iiiis-^€\\\z  und  fügen  ihn  der 
trogont}icrii-primige)niis-^€\\\&  an.  Ausgiebig  wird 
die  Dentition  der  amerikanischen  Art  behandelt, 
welche  eine  eigentümliche  Verquickung  trogon- 
theroider  und  primigenoider  Merkmale  aufweist,  in- 
sofern als  der  erste  Molar  stark,  der  zweite  schwach 
trogontheroid,  der  dritte  ganz  primigenoid  ist. 

Von  allgemeinerem  Interesse  sind  die  Resultate 
über  Stammesgeschichte  und  Entwicklungsmecha- 
nik, denen  der  zweite  Teil  der  Arbeit  gewidmet 
ist.  Die  Unterscheidung  des  EL  coliunbi  von  dem 
älteren  El.  imperator  l.eidy  wird  auf  der  geringeren 
Größe.größeren  Lamellenzahl  und  dünnerem  Schmelz 

')  Soergel,  W.,  Elcphas  Columbi  Falconer.  Kin  Bei- 
ürag  zur  Slammesgeschichte  der  Elefanten  und  zum  Enlwick- 
lungsmechanismus  des  Elefantengebisses.  Geol.  u.  paläonl. 
Abbandl.,  N.F.  bd.  14,  Heft  1/2,  1921,  qg  S.  mit  15  .Abb.  im 
Text  und  8  Tafeln.     (Preis  150  M.) 


basiert,  doch  wird  eiri  fließerider  Übergang  beideV 
Arten  postuliert.  Das  Mammut  des  nördlicheren 
Nordamerika  wird  als  eingewanderte  eurasiatische 
Form  angesehen,  nicht  als  Endform  der  uiiperator- 
(uliivibiYLe\\\c.  Diese  selbst  dürfte  sich  von  El. 
iiuridionalis  Nesti  ableiten. 

Die  Entstehung  des  Elefantengebisses  wird  auf 
entwicklungsmechanischer  Basis  zu  klären  versucht. 
Bolks  Dimerentheorie  wird  als  unwahrscheinlich 
abgelehnt;  ebenso  wird  gegen  A  ich  eis  Ansichten 
die  Theorie  vom  „mobilen  Gebiß"  verteidigt.  Ent- 
scheidend für  die  Genese  des  Elefantengebisses 
war  die  Entwicklung  der  Incisiven.  Durch  ihre 
Vergrößerung  erforderten  sie  eine  Kieferverkürzung, 
und  diese  bedingte  die  Besonderheiten  in  Zahn- 
form und  Zahnwechsel.  Steigender  Druck  führte 
zu  steigender  Wellenzahl  des  Schmelzes;  vielleicht 
ist  aber  nicht  gesteigerte  F"altenbildung  direkt 
durch  den  Druck,  sondern  vielmehr  stärkere  Ent- 
wicklung des  Schmelzorganes  unter  dem  Einfluß 
des  Druckreizes  als  bestimmend  anzunehmen.  Das 
Vorkommen  „tortuoser"  Molaren  besonders  bei 
jüngeren  Elefanten  {triinigcnitis,  iudicns)  wird  als 
Beleg  für  die  unmittelbar  wirkende  entwicklungs- 
mechanische Bedeutung  des  Druckes  herangezogen, 
dürfte  aber  auch  in  dem  vom  Ref.  berührten 
Sinne  indirekter  Beeinflussung  ausgelegt  werden 
können.  Die  Korrelation  zwischen  Incisivengröße 
einerseits  und  Molarengröße,  Lamellenzahl  und 
Tortuosität  andererseits  ist  mit  einiger  Wahrschein- 
lichkeit auf  ein  Kausalverhältnis  zurückzuführen, 
bei  welchem  die  Incisivenvergrößerung  die  anderen 
Wandlungen  veranlaßte.  Weiter  wird  dann  die  Kor- 
relation zwischen  Incisivenvergrößerung  und  Milieu 
betont.  Ob  hier  auch  ein  Kausalverhältnis  vorliegt, 
mag  dahingestellt  bleiben.  Moderne  Erblichkeits- 
forschung hat  noch  keineswegs  erweisen  können, 
daß  jede  Entwicklung  durchaus  zwangsläufig  von 
vornherein  vom  Milieu  bedingt  sei,  und  hat  fast  nur 
dagegen  sprechende  Tatsachen  ergeben.  Die  An- 
sichten über  die  Bestimmung  der  Molarenfaltung 
durch  die  Natur  der  Nahrung  werden  ja  auch  vom 
Verf.  in  diesem  Sinne  durch  Hinweis  auf  das  Ver- 
halten der  pla>iifn'/!s  -  hysitdricus  iudicns  -  Reihe 
bekämpft.  Prell  (Tübingen). 

Schallgefscbwiudigkeit  uud  ihre  Messiiug. 

Wie  eine  dem  Fizeau sehen  Versuch  nach- 
gebildete Methode  zur  Messung  der  Schallge- 
schwindigkeit in  gasförmigen,  flüssigen 
und  festen  Körpern  dienen  kann,  führte  in  der 
letzten  Sitzung  des  Naturwissenschaftlichen  Ver- 
eins in  Hamburg  Dr.  J.  Brockmüller,  Ham- 
burg, aus.  Die  von  dem  Vortragenden  gegebenen 
Darlegungen  wurden  erläutert  durch  die  Demon- 
stration einer  Versuchsanordnung,  die  über  die 
Einzelheiten  der  Methode  sehr  gut  unterrichtete. 
Einleitend  wurden  die  Beziehungen  des  Fizeau - 
sehen  Versuchs  zu  dem  des  Vortragenden  er- 
wähnt. Das  Prinzip  der  Methode  besteht  darin: 
Die  Zeit,  welche  der  Schall  benötigt ,    sich    längs 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


eines  vorgeschriebenen  ,  kleinen  Weges  fortzu- 
pflanzen ,  wird  durch  eine  rotierende  Walze  von 
bekannter  sekundlicher  Umdrehung  gemessen. 
Diese  Hartgummiwalze  trägt  auf  ihrem  Umfange, 
parallel  der  Achse,  zwei  voneinander  getrennte, 
mit  zwei  Schleifringen  verbundene  Lamellen,  die 
mit  zwei  Schleiffedern  elektrischen  Kontakt  geben. 
Der  eine  Kontakt  wird  zur  Erzeugung  des  Schalles, 
der  andere  zum  Empfang  desselben  verwandt. 
Der  vom  Schall  zu  durchlaufende  Weg  wird  durch 
ein  Rohrsystem  von  bekannter  Länge  dargestellt. 
Zu  Anfang  des  Rohrsystems  befindet  sich  ein 
dem  ersten  Kontakt  angeschlossenes  Telephon  zur 
Lautangabe,  am  Ende  ein  Mikrophon  zur  Laut- 
aufnahme. Dem  Mikrophon  angeschlossen  ist  ein 
lautsprechendes  Telephon,  dessen  Stromkreis  über 
den  zweiten  verstellbaren  Kontakt  geht.  Die 
Einstellung  dieses  Kontaktes  wird  registriert  durch 
einen  Gradzeiger;  die  sekundlichen  Umdrehungen 
der  durch  einen  Motor  getriebenen  Walze  be- 
stimmten Zählwerk  und  Uhr.  —  Das  Ansprechen 
des  lautsprechenden  Telephons  erfordert  die 
Schließung  des  über  den  zweiten  Kontakt  laufen- 
den Stromkreises  durch  Wirken  desselben  Kon- 
taktes in  dem  Moment,  da  der  Schall  das  Mikro- 
phon trifft.  Aus  der  entsprechenden  Einstellung 
des  Gradzeigers,  dem  Drehungswinkel  et,  der  Um- 
drehungszahl u,  der  rotierenden  Walze  pro  Sekunde 
und  dem  Schallweg  s  folgt  die  Schallgeschwindig- 
keit V  nach  der  Gleichung: 

360-  u-s 
V  =      — 
a 

Als  Mittelwert  ergab  sich  für  v  in  der  Luft 
bei  etwa  15"  Temperatur  333,5  m.  Für  andere 
Gase  werden  die  Werte  gleicherweise  ermittelt, 
indem  das  betreffende  Gas  durch  das  Röhren- 
system langsam  hindurchgeleitet  wird,  wobei  die 
Strömungsgeschwindigkeit  des  Gases  der  Schall- 
geschwindigkeit gegenüber  vernachlässigt  werden 
kann.  Für  Kohlensäure  ergab  sich  so  der  Mittel- 
wert V  =^  269  m,  für  Wasserstoff  v  =  1258  m. 

Das  lautsprechende  Telephon  kann  ersetzt 
werden  durch  einen  Oszillographen,  der  die  rich- 
tige Stellung  des  Gradzeigers  für  den  zweiten 
verstellbaren  Kontakt  zu  erkennen  gibt  durch  das 
Auftreten  von  Schwingungen  des  Lichtzeigers. 
Eine  weitere  Möglichkeit,  den  Drehungswinkel  « 
mit  Hilfe  des  Auges  einzustellen,  bietet  die  Flam- 


menkapsel von  König.  Man  verbindet  sie  sinn- 
gemäß mit  dem  lautsprechenden  Telephon  und 
beobachtet  im  rotierenden  Spiegel  die  Flammen- 
bilder. 

Bei  der  Bestimmung  der  Schallgeschwindigkeit 
in  festen  und  flüssigen  Körpern  ist  das  laut- 
sprechende Telephon  dicht  ans  Ohr  zu  bringen, 
damit  der  verstellbare  Kontakt  richtig  eingestellt 
werden  kann.  Der  in  dem  lautsprechenden  Tele- 
phon den  Schall  erzeugende  Wechselstromimpuls 
ist  hier  schwächer  als  bei  Gasen,  das  die  richtige 
Stellung  des  zweiten  Kontakts  anzeigende  An- 
sprechen demzufolge  auch  schwächer.  Zur 
Ausführung  einer  derartigen  Bestimmung  ist  ferner 
nötig,  das  zu  untersuchende  Mittel  an  Stelle  des 
Röhrensystems  einzuschalten,  sei  es  in  Form  eines 
runden,  ■  massiven  Stabes,  der  an  einem  Ende 
dicht  aufsitzend  das  Telephon  und  am  anderen 
Ende  das  Mikrophon  trägt,  oder  sei  es,  wie  z.  B. 
bei  Wasser,  daß  man  das  Telephon  mit  einem 
Schalltrichter  versieht,  der  ins  Wasser  taucht  und 
das  Mikroplion  auf  einem  Holzbrettchen,  Membran 
parallel  der  Wasseroberfläche  und  ihr  zugekehrt, 
schwimmen  läßt.  Auch  in  Röhren  lassen  sich 
Flüssigkeit  einschließen  und  zweckentsprechend 
zwischen  Telephon  und  Mikrophon  bringen.  Als 
Schallwege  für  feste  Körper  eignen  sich  gespannte 
Drähte  oder  Fäden.  Schließlich  braucht  man  nur 
Telephon  und  Mikrophon  mit  schwachem  Druck 
gegen  die  Zimmerwand  zu  halten  oder  auf  den 
Tisch  zu  setzen,  Membran  parallel  der  Oberfläche, 
um  die  Schallgeschwindigkeit  in  der  Wand  (Mauer- 
werk) und  im  Tische  (Holz)  zu  ermitteln. 

Ohne  Schwierigkeit  läßt  sich  mit  dem  Zeit- 
bestimmungsapparat eine  sekundliche  Umdrehungs- 
zahl gleich  60  erzielen.  Wird  der  verstellbare 
Kontakt  demgemäß  auf  30"  eingestellt,  so  ergibt 
sich  V720  Sekunde,  so  daß  der  Schallweg  bei 
Wasser  etwa  2  m  wäre,  eine  relativ  kleine  Weg- 
länge. Bei.  Metallen  ist  die  Weglänge  etwa  8  m 
unter  gleichen  Umständen. 

Vortragender  hat  seine  Versuche  in  bezug  auf 
flüssige  und  feste  Körper  noch  nicht  abgeschlossen, 
hält  aber  jetzt  schon  eine  weitere  Verminderung 
des  Schallwegs  für  möglich.  Da  der  Versuch 
als  Schulversuch  gedacht  ist,  so  ist  auf  etwaige 
Korrektionen  des  Versuchsresultats  keine  Rück- 
sicht genommen,  da  sie  das  Resultat  nicht  wesent- 
lich ändern  würden.  Petersen. 


Bücherbesprechungen. 


Jungklaus,  Fr.,  Der  kleine  Münsterländer 
Vorstehhund  (Westfälischer  Wachtelhund, 
Heidewachtel,  Spion,  Stöber,  Vogelhund,  Ha- 
bichtshund) als  Jagd-  und  Haushund,  unter  Be- 
rücksichtigung der  verwandten  Schoßhundformen 
in  historischer  und  zoologischer  Beleuchtung. 
112  Seiten.  Mit  Titelbild,  4  Vollbildern  und 
54  Abbildungen  im  Text.  Neudamm  1921, 
Verlag  J.  Neumann. 
Mit  Freude  begrüßen    wir   alle    diejenigen  Be- 


strebungen, welche  dahin  zielen,  die  alten  heimi- 
schen Hunderassen  wieder  zu  Ehren  und  erneuter 
Geltung  zu  bringen.  Einer  der  bewährtesten 
Vorkämpfer  auf  diesem  Gebiet  ist  der  Verf  des 
oben  genannten  Büchleins,  der  mit  diesem  die 
Aufmerksamkeit  auf  eine  der  interessantesten 
deutschen  Rassen,  den  Münsterländer  Vorstehhund, 
lenkt.  Nachdem  er  uns  mit  dem  Wesen  und  der 
Verbreitung  der  hierhin  gehörenden  Hundeformen_ 
bekannt  gemacht  hat,  erfahren  wir  von  der  in  früherer' 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zeit  scharf  durchgeführten  Unterscheidung  zwi- 
schen Bracke  und  Vogelhund,  wobei  unter  letz- 
terem ein  Hund  zu  verstehen  ist,  welcher  nicht 
etwa  den  Vogel  zu  erbeuten,  sondern  ihn  nur 
aufzustöbern  hat,  während  das  Fangen  der  Beute 
damals  mit  Hilfe  des  Beizvogels  ausgeübt  wurde. 
Mit  großem  Geschick  und  außerordentlicher  Um- 
sicht hat  Dr.  Jungklaus  alles  ausfindig  gemacht, 
was  sich  auf  diese  in  früherer  Zeit  so  wichtige 
Form  von  Hunden  bezieht;  besonders  sind  es 
hierbei  Abbildungen  und  Gemälde  aus  mittel- 
alterlicher Zeit,  die  ihm  als  Wegweiser  dienen 
konnten  und  wertvolle  Aufschlüsse  gegeben  haben. 
Dieser  historische  mit  vielen  interessanten  Bildern 
geschmückte  Teil  ist  unseres  Erachtens  einer  der 
wichtigsten  und  bemerkenswertesten  Abschnitte 
des  Büchleins,  ein  Teil,  der  weit  über  den -engeren 
Kreis  der  Kynologen  hinaus  Beachtung  und  Auf- 
merksamkeit verdient.  Dasselbe  gilt  übrigens 
auch  für  den  folgenden  Abschnitt,  in  dem  von 
dem  Namen  der  Rasse  die  Rede  ist,  und  welcher 
viel  Anregendes  auf  etymologischem  Gebiet  ent- 
hält. Jagdfreunde  werden  mit  besonderem  Inter- 
esse die  folgenden  Kapitel  lesen ,  in  denen  die 
alten  Jagdbräuche  und  die  Eigentümlichkeiten  der 
bei  den  Jagden  verwendeten  Hunde  geschildert 
werden.  Eine  genaue  Kennzeichnung  der  Rasse 
und  ihrer  Unterschiede  im  Vergleich  zu  anderen 
Jagdhunden  sowie  Mitteilungen  über  Zucht  und 
Züchter  schließen  sich  an.  Der  letzte  Abschnitt 
behandelt  die  Stellung  der  Rasse  im  zoologischen 
System.  Hier  urteilt  der  Verf.  wohl  allzu  ein- 
seitig. Seine  Ansichten  über  die  zoologische  Be- 
nennung der  Hunde  dürften  da  schwerlich  ohne 
weiteres  den  Beifall  der  Fachzoologen  finden. 
Welchen  Standpunkt  man  aber  auch  immer  ein- 
nehmen mag,  auf  jeden  Fall  sind  die  Darlegungen 
des  Verfs  in  vieler  Hinsicht  anregend,  und  wir 
hoffen  auch,  daß  seine  Schrift  zu  weiteren  erfolg- 
reichen Forschungen  ähnlicher  Art  Anstoß  geben 
wird.  R.  Heymons. 

Wahnschaffe,    Felix,    Geologie    und  Ober- 
flächengestaltung des  norddeutschen 
Flachlandes.     4.   Aufl.,    neu    bearbeitet    von 
Friedrich  Schucht.     472  S.,  82  Texibilder, 
29  Beilagen.    Stuttgart  1921,  J.  Engelhorns  Nachf. 
Unter    den    Büchern    über   das  Diluvium,    ins- 
besondere das  Diluvium  des  norddeutschen  Flach- 
landes, war  dasjenige  von  Felix  Wahnschaffe, 
dem  verstorbenen  Leiter   der   F'lachlandsabteilung 
der  Preuß.  geol.  Landesanstalt,  von  seinem  ersten 
Erscheinen  an  das  bestgenannte  und  meistgelesene. 
Diesen  Vorzug  verdankte   es  seiner  klaren,  leicht 
faßlichen  Darstellungsweise,  seinem  erschöpfenden, 
sorgsam  durchgearbeiteten  Inhalt  und  seiner  guten 
Illustrierung.    Wahn  schaffe  suchte  seinen  Ruhm 
in  vollständiger  und  gerecht  abwägender  Bericht- 
erstattung  über   die  Ergebnisse    der  geologischen 
Forschung.      In  theoretischen  Dingen    war  er  zu- 
rückhaltend;   der    kühne    Wurf   war    nicht    seine 
Sache,    er  wartete  als   guter  Beobachter,    bis    die 


Dinge  ausreiften,  und  verzichtete  auf  geistreiche 
Spekulationen,  zu  denen  gerade  die  phantasie- 
geslüizte  Diluvialgeologie  nur  zu  leicht  verführt. 
Sein  Buch  war  vor  allen  Dingen  durch  und  durch 
solide. 

Die  dritte  Auflage  ging  zur  Neige ,  und 
Wahnschaffe  hatte  mit  den  ersten  Vorberei- 
tungen für  die  vierte  begonnen,  als  Ende  1913 
der  Tod  den  noch  rüstigen  Mann  zu  früh  von 
seinem  Werk  abrief  Sein  Flachlandsbuch  aber 
lebt  fort  und  hat  in  Friedrich  Schucht 
einen  neuen  Bearbeiter  gefunden,  der  es  in  reiner 
sachlicher  Hingabe  verstanden  hat,  ihm  die  Ge- 
diegenheit des  Gehaltes  und  die  faßliche  Form  zu 
wahren.  Wir  kennen  F.  Schucht  bereits  als 
verdienstvollen  Mitarbeiter  Wahnschaffes  an 
dessen  „Anleitung  zur  wissenschaftlichen  Boden- 
untersuchung". Als  Landesgeologe  im  Flachlande 
vielseitig  erfahren  und  als  Bodentorscher  bekannt 
geworden,  war  Schucht  ohne  Zweifel  der  ge- 
eignetste Adoptivvater  dieses  Werkes.  Er  hat 
die  mühevolle  Arbeit  geleistet,  die  in  den  letzten 
12  Jahren  gewaltig  angewachsenen  Kartierungs- 
ergebnisse  extensiver  wie  intensiver  Art  in  Nord- 
deutschland der  neuen  Auflage  einzufügen,  ohne 
das  Buch  aus  der  bewährten  Richtung  zu  drängen. 
Veraltetes  und  Entbehrliches  ist  entfernt,  mancher 
Satz  und  Abschnitt  durch  wenige  geschickte  Ab- 
striche und  Zusätze  zeilgemäß  gemacht,  das  Ganze 
wesentlich  bereichert  und  vermehrt.  Insbesondere 
ist  auch  die  Zahl  der  Abbildungen,  nicht  zum 
wenigsten  durch  vorzügliche  Aufnahmen  von  Frau 
Therese  Wahnschaffe,  sehr  vergrößert  wor- 
den. Ausführlicher  als  früher  finden  wir  jetzt  den 
Rahmen  und  den  Gebirgsuntergrund  des  nord- 
deutschen Tieflandes  dargestellt,  wogegen  die 
Tabellen  der  Tiefbohrungen  im  Quartär  nicht 
mehr  fortgeführt,  sondern  als  zu  einseitige  Material- 
sammlung auf  einen  ganz  kurzen  Auszug  einge- 
schränkt sind.  Überhaupt  ist  die  innere  Struktur, 
der  geologische  Bau  des  Flachlandes  neben  den 
Oberflächenformen  und  ihrer  Deutung  entschie- 
dener zur  Geltung  gebracht  und  dadurch  die  Er- 
weiterung des  Werktitels  durch  den  Ausdruck 
„Geologie"  gerechtfertigt. 

Nach  gründlicher  Darstellung  der  Struktur-  und 
Formelemente  des  Flachlandes  kommt  Wahn- 
schaffe-Seh  ucht  dann  auf  die  zeitliche  Glie- 
derung des  Diluviums  zu  sprechen.  In  dieser 
Frage  hält  er  offensichtlich  den  Augenblick  für 
eine  kritisch  durchgreifende  Grenzziehung  der 
verschiedenen  Vereisungen  und  Einstufung  der 
nichtglazialen  Bildungen  noch  nicht  für  gekommen, 
sondern  verhält  sich  vorwiegend  referierend  und 
behutsam  sichtend.  So  kommt  es,  daß  die  auf 
diesem  sehr  schwierigen,  noch  große  neue  Ent- 
deckungen versprechenden  Gebiet  vorhandenen 
Auffassungsverschiedenheiten  der  einzelnen  Autoren 
nicht  selten  in  sein  Buch  unausgeglichen  über- 
gehen. Es  ist  in  der  Tat  unmöglich,  gewisse 
Dinge,  wie  z.  B.  die  Alters-  und  Höhenbeziehun- 
gen   der    Terrassensysteme     der    mitteldeutschen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


103 


Randflüsse  von  Schlesien  bis  zum  Rheinland  auf 
Grund  der  Spezialliteratur  einheitlich  darzustellen, 
und  es  werden  noch  viele  Jahre  vergehen,  bis  die 
Möglichkeit  näher  rückt.  Hier  versagt  die  refe- 
rierende Darstellungsmethode  in  gewisser  Hin- 
sicht, hier  muß  wissenschaftlich  befruchtete  Intui- 
tion, Kritik  und  schöpferische  Forschung  sich  her- 
vorwagen, um  die  hinheit  zu  schaffen.  Dies  ist 
ein  Wunsch,  den  wir  für  eine  künftige  Auflage 
des  Baches  hegen,  und  der  eine  kräftige  Entwick- 
lung der  F'lachlandsgeologie  nach  dieser  Richtung 
einschließt.  W.  Wolff. 

Meisenheimer,  J. ,  Geschlecht  und  Ge- 
schlechter im  Tierreiche.  I.  Die  natür- 
lichen Beziehungen.  8g6  S.  mit  737  Abb.  im 
Text.  Jena  1921,  G.  Fischer.  Preis  brosch. 
180  M.,  geb.  2io  M. 

Ein  monumentales  Werk,  welches  das  Riesen- 
gebiet der  Sexualität  und  der  Sexualprobleme 
in  unifassender  Weise  behandelt.  Ausgehend  von 
den  niedersten  Organismen,  den  Einzelligen,  bei 
denen  schon  geschlechtliche  Vorgänge  einfachster 
Form  sich  abspielen ,  führt  uns  der  Verf  weiter 
zu  den  mehrzelligen  Pflanzen  und  Tieren ,  deren 
Körper  als  Gametozytenträger  die  spezifischen 
Geschlechtszellen  hervorzubringen  hat.  Hier  wird 
uns  dann  die  ungeheure  Mannigfaltigkeit  aller 
Einrichtungen  vor  Augen  geführt,  die  in  Be- 
ziehung zum  Geschlechtsleben  stehen.  Zwittertum 
und  getrenntes  Geschlecht,  die  Eigenart  zwittriger 
Organismen,  die  Begattungsformen  und  Begattungs- 
apparaie  mit  allen  ihren  Nebeneinrichtungen  sind 
ebenso  wie  die  verschiedenen  Formen  der  ge- 
schlechtlichen Annäherung,  die  sexuellen  Waffen, 
Eiablage  und  Brutpflege,  Geschlechtsmerkmale 
und  deren  Übertragung  von  Geschlecht  zu  Ge- 
schlecht, nebst  vielen  anderen  das  Geschlechts- 
leben betreffenden  Einrichtungen  und  Vorgängen 
in  vergleichender  Form  behandelt.  Auf  Einzel- 
heiten einzugehen  würde  den  Raum  dieses  Refe- 
rates weit  überschreiten.  Nur  soviel  sei  gesagt, 
daß  der  Verf  es  mit  großem  Geschick  fertig  ge- 
bracht hat,  den  gewaltigen  Stoff  zu  meistern. 
Wir  erhalten  auf  diese  Weise  ein  Gesamtbild,  das 
in  solcher  Vollständigkeit  noch  nirgends  existiert 
und  uns  einen  einheitlichen  Überblick  über  das 
ganze  Gebiet  des  Geschlechtslebens  und  der  ge- 
schlechtlichen Einrichtungen  von  den  niedersten 
Tieren  bis  einschließlich  zum  Menschen  hinauf 
verschafft.  In  einer  Zeit,  in  der  notgedrungen  die 
Spezialisierung  in  allen  Zweigen  der  Wissenschaft 
immer  weiter  fortschreitet,  und  der  Einzelne  längst 
nicht  mehr  die  Fülle  der  Veröffentlichungen  zu 
übersehen  vermag,  sind  zusammenfassende  Werke, 
wie  das  hier  in  Rede  stehende  Buch  über  Ge- 
schlecht und  Geschlechter  von  unschätzbarem 
Werte;  sie  sind  um  so  bedeutungsvoller,  wenn, 
wie  dies  im  vorliegenden  Falle  zutrifft,  der  Verf, 
selbst  forschend  auf  dem  betreffenden  Gebiete 
tätig  war,  und  sich  nicht  begnügt,  Tatsachen  zu 
registrieren,    sondern    überall    kritisch  sichtet  und 


selbst  zu  wichtigen  Fragen  und  Problemen  Stel- 
lung nimmt.  So  hat  in  dem  vorliegenden  Werk 
der  Autor  z.  B.  bei  der  Beurteilung  des  Herma- 
phrodiiismus,  bei  der  Deutung  der  Geschlechts- 
verhältnisse inneihalb  der  Gruppe  der  Wirbel- 
tiere und  an  vielen  anderen  Stellen  seine  eigene 
Meinung  begründet.  Das  M  eisen  he  im  ersehe 
Buch  darf  als  eine  der  wichtigsten  neueren  Er- 
scheinungen begrüßt  werden,  es  ist  ein  Werk,  auf 
das  der  Zoologe  immer  wieder  zurückgreifen 
wird,  ebenso  wie  es  für  den  auf  dem  Gebiete  der 
Sexualforschung  tätigen  Mediziner  von  großem 
Interesse  ist.  Die  Ausstattung  und  der  reiche 
Schmuck  mit  Abbildungen  verdienen  in  der  gegen- 
wärtigen Zeit  alle  Anerkennung. 

R.  Heymons. 

Roth,  Dr.  W.  A.,  Physikalisch- c  hemische 
Übungen.  3.  vermehrte  und  verbesserte  Auf- 
lage. VllI  u.  278  Seiten  mit  75  Abbildungen 
im  Text.  Leipzig  1921,  Verlag  von  Leopold 
Voß.  Preis  geb.  30  M. 
Die  physikalisch  ■  chemischen  Übungen  von 
Dr.  W.  A.  Roth,  ordentl.  Prof  an  der  Techni- 
schen Hochschule  in  Braunschweig,  die  nunmehr 
in  der  dritten,  erheblich  vermehrten  und  ver- 
besserten Auflage  erschienen  sind,  stellen  ein  für 
den  praktischen  Gebrauch  im  Laboratorium  be- 
stimmtes Buch  dar  und  haben  den  Zweck,  Stu- 
dierende auf  experimentellem  Wege  in  die  Grund- 
lehren und  Grundtatsachen  der  physikalischen 
Chemie  einzuführen.  Dichtebestimmungen,  Mole- 
kulargewichtsbestimmungen in  Lösungen,  thermo- 
chemische  Untersuchungen,  Bestimmung  optischer 
Konstanten,  Versuche  zur  chemischen  Statik  und 
Kinetik,  elektrische  Messungen  aller  Art  und 
kolloidchemische  Versuche  sind  der  Gegenstand 
der  wichtigsten  Abschnitte.  Das  ganze  Buch  ist 
sehr  sorgfältig  und  gewissenhaft  durchgearbeitet, 
die  Darstellung  ist  hinsichtlich  der  Besprechung 
sowohl  der  theoretischen  Grundlagen  als  auch  der 
praktischen  Ausführung  der  Versuche  sachlich 
einwandfrei,  klar  und  verständlich,  die  Beurteilung 
der  Versuchsergebnisse  wird  durch  Diskussion  der 
Fehlerquellen,  ihre  rechnerische  Verwertung  durch 
zahlreiche  Zahlenbeispiele  einfacherer  und  schwie- 
rigerer Art  gründlich  erläutert.  Die  nötigen  Ta- 
bellen sind  beigefügt.  Kurz,  es  ist  ein  Werk,  aus 
dem  wissenschaftlichen  Laboratorium  geboren  und 
für  die  Praxis  wissenschaftlicher  Versuche  gemacht. 
Um  den  Preis  des  Buches  möglichst  niedrig 
zu  halten,  ist  die  dritte  Auflage  nicht  neu  gesetzt, 
die  zweite  Auflage  ist  vielmehr  photomechanisch 
vervielfältigt  worden.  Die  erforderlichen  Zusätze 
und  Ergänzungen  —  diese  behandeln  besonders 
die  Kolloidchemie  —  sind  als  Zusätze  gedruckt 
worden. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 

Nernst,  Walther,  Theoretische  Chemie 
vom  Standpunkte  der  Avogadroschen  Regel 
und    der     Thermodynamik.       8. — 10.    Auflage. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XXI.  Nr.  7 


XVI    und    896  Seiten    mit    58  Abbildungen  im 

Text.      Stuttgart    1921,    Verlag    von  Ferdinand 

Enke.  Preis  geh.  141  M. 
Von  allen  Lehrbüchern  der  theoretischen 
Chemie  ist  das  von  Walther  Nernst  das  be- 
kannteste und  verbreitetsle.  Das  ist  nicht  erstaun- 
lich. Einerseits  ist  Nernst,  der  als  ordentlicher 
Professor  und  Direktor  des  Instituts  für  physika- 
lische Chemie  an  der  Universität  Berlin  wirkt, 
wohl  unbestritten  der  erste  physikalische  Che- 
miker der  Gegenwart,  seine  Theorie  des  galvani- 
schen Elements  und  die  Entdeckung  des  dritten 
Hauptsatzes  der  Thermodynamik  sind  Leistungen 
allerersten  Ranges,  und  wenn  Nernst  jetzt  den 
Nobelpreis  erhalten  hat,  so  wundert  sich  der  Fach- 
mann nur,  daß  er  ihn  erst  jetzt  erhalten  hat. 
Andererseits  ist  sein  Lehrbuch  dank  der  über- 
legenen Art  der  Darstellung,  dank  seiner  Einfach- 
heit und  Klarheit  tatsächlich  ein  Meisterwerk,  wie 
es  eben  nur  ein  Nernst  schaffen  konnte.  Die 
lange  erwartete  und  nunmehr  endlich  vorliegende 
Neuauflage  ist  von  ganz  besonderem  Interesse, 
weil  die  physikalische  Chemie  in  den  letzten 
Jahren  eine  große  Reihe  ungemein  wesentlicher 
Fortschritte  gemacht  hat,  die  ihren  Ausgangs- 
punkt einerseits  in  der  Quantentheorie,  anderer- 
seits in  der  Lehre  von  der  Radioaktivität  haben. 
Alle  diese  Fortschritte,  an  denen  Nernst  zum 
Teil  selbst  mit  größtem  Erfolge  mitgearbeitet  hat, 
sind  mit  großer  Sorgfalt  in  das  Lehrbuch  hinein- 
gearbeitet worden,  so  daß  sich  dem  Leser  wieder 
ein  dem  neuesten  Stande  der  Wissenschaft  ent- 
sprechendes Bild  entrollt.  Daher  ist  auch  für 
alle  Besitzer  der  älteren  Auflagen  des  Nernst- 
schen  Lehrbuches  die  Beschaffung  der  neuen 
Ausgabe  eine  dringende  Notwendigkeit. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 

Citron,  J. ,  Die  Methoden  der  1mm uno- 
diagnostik  und  Immunotherapie  und 
ihre  praktische  Verwertung.  Leipzig 
1919,  Georg  Thieme. 

In  vorliegendem  Buche  sind  die  wichtigsten 
Methoden  der  Immunitätsforschung  in  einer  Weise 
dargestellt,  die  es  auch  dem  wenig  erfahrenen 
Biologen,  der  ja  auch  immer  mehr  die  Arbeits- 
mittel und  Errungenschaften  der  Immunitäts- 
wissenschaft benötigt,  möglich  macht,  diese  in 
seinem  Sonderfach  mit  gutem  Erfolg  anzuwenden. 
Jede  Wissenschaft  hat  ja  ihr  Fundament  in  ihrer 
speziellen  Arbeitsmethodik,  und  diese  gibt  zugleich 
eine  Vorstellung  davon,  wie  weit  sich  Tatsachen 
und  Theorien  die  Wage  halten.  Wenn  man  nun 
die  Methodik  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  be- 


trachtet, so  weist  sie  zugleich  einen  Weg  zu  den 
Ergebnissen  ihres  Wissensgebietes. 

Dies  ist  in  dem  Citronschen  Werke  erreicht. 
Dem  praktisch  arbeitenden  Biologen  gibt  es  eine 
Reihe  guter  und  erprobter  Arbeitsmethoden  zur 
Hand,  nicht  nur  allgemeiner  Natur,  sondern  auch 
unter  Berücksichtigung  speziellster  und  neuester 
Forschung.  So  sind  die  Abschnitte  über  die  Par- 
tigene, die  Ausfällungsreaktionen,  die  Meiostagmin- 
reaktion  und  den  Nachweis  der  Abderhalden- 
schen  Abwehrfermente  ganz  vorzüglich  ausgear- 
beitet. Das  Kapitel  über  Chemotherapie  hätte 
vielleicht  etwas  mehr  ausgebaut  werden  körmen. 
Allein  auch  demjenigen,  der  sich  nur  rein  theo- 
retisch mit  dem  Gebiete  der  Immunitätsforschung 
befassen  will,  ist  das  Buch  ein  vortrefflicher 
Führer  in  dieses  Gebiet,  umsomehr  als  gerade 
hier  äußerste  Vorsicht  an  Verallgemeinerungen 
und  kein  Theoretisieren  geboten  ist.  Die  sichere 
Hand  des  als  erfahrenen  Praktikers  bekannten 
Verfs  vermeidet  aber,  den  Boden  sicherer  Tat- 
sachen zu  verlassen.  Collier  (Frankfurt). 


Literatur. 

Kayser,  Dr.  H.,  Lehrbuch  der  Physik  für  Studierende. 
n.  Aufl.     Stuttgart  '21,   Ferdinand   Enke.     72  M. 

Wien,  W.,  Aus  der  Welt  der  Wissenschaft.  Leipzig  '21, 
Joh.  Ambr.  Barth.     60  M. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig-Berlin  '21,  B.  (J. 
Teubner. 

20:   Wedding,  W.,  Das  Eisenhüttenwesen,     ö.  Aufl. 
541 :  Fischer,  P.  B.,  Darstellende  Geometrie. 
558:    Schmitt,    N. ,    Aufgaben    aus    der    technischen 
Mechanik.     1.  Bewegungslehre,    Statik    und    Festig- 
keitslehre.    2.  Aufl. 
601  :  Köhler,   F.,  Friedrich  Nietzsche. 
Sammlung  Göschen.     Fans  er,   Oberbaurat  Otto,    Melio- 
rationen.      Berlin     '21,     Vereinigung     wissenschaftl.     Verleger. 
0  M. 

Teubners  Untenichtsbücher  für  maschinenlcchnische  Lehr- 
anstalten. 

Band  3:   Wiegner-Stephan,    Lehr-   und  Aufgaben- 
buch der  Physik.     111.  Teil:    Elektrizität.      Leipzig- 
Berlin,  B.  G.  Teubner.     Kart.  26  M. 
Band  2:   Wiegner-Stephan,    Lehr-  und  Aufgaben- 
buch der  Physik.     II.  Teil:  Lehre  von  der  Wärme, 
Lehre  vom  Licht,  Wellenlehre.     Kart.   22  M. 
Bibliothek  für  Philosophie,  herausgeg.  von  Ludwig  Stein. 
20.    Band:     Auerbach,    Mathias,     Mitleid     und     Charakter. 
Berlin  '21,  Leonhard  Simion  Nachf. 

Henze  und  Meyer,  Führer  in  die  Arbeitsschule.  Bd.  2  : 
Grupe,  Heinrich,  Natur  und  Unterricht.  Frankfurt  a.  M.  '21 , 
Moritz  Diesterweg.      10  M.,  geb.    12  M.  und   100  %■ 

Landsberg-Günthart-Schmidt,  Streifzüge  durch 
Wald  und  Flur.  Leipzig-Berlin  '21,  B.  G.  Teubner.  Geb. 
34  M. 

Lebensvoller  Unterricht.  Band  7:  Forker,  Prof.  Dr. 
Georg,  Chemie  und  Mineralogie.  Leipzig  '22,  Dürrsche  Buch- 
handlung. 


InllHlt:  P.  Dahms,  Danzig  als  Heimat  des  Bernsteins.  S.  S9.  —  Einzelberichte:  \V.  So  er  gel,  Die  Ursachen  der  dilu- 
vialen Aufscholterung  und  Erosion.  S.  99.  W.  Soergel,  Elcphas  Columbi  Falc.  S.  100.  J.  Brockmüller,  Schall- 
geschwindigkeit und  ihre  Messung.  S.  100.  —  Bücherbesprechungen:  Fr.  Jungklaus,  Der  kleine  Münsterländer 
Vorstehhund.  S.  101.  F.  Wahnschaffe,  Geologie  und  Oberflächengeslahung  des  norddeutschen  Flachlandes.  S.  102. 
J.    Meisenheimer,    Geschlecht    und    Geschlechter    im    Tierreiche.    S.    103  W.   A.   Roth,     Physikalisch-chemische 

Übungen.  S.   103.     W.  Nernst,  Theoretische   Chemie.  S.    103.     J.  Citron,  Die  Methoden   der  Immunodiagnostik  und 
Immunotherapie  und  ihre  praktische  Verwertung.  S.   104.  —    Literatur:  Liste.  S.   104 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,   Invalidcnstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.   Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.   G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Hand. 


Sonntag,  den  19.  Februar  1922. 


Nummer  8. 


Reste  eines  alten  Höhlenflusses. 


[Nachdruck  verboten.! 

In  Nr.  8  1920  der  Naturwissenschaftlichen 
Wochenschrift  berichtet  Herr  Dr.  L  i  n  d  n  e  r  über 
unterirdische  Flüsse  und  Bäche,  wobei  er  auch 
einige  Überreste  in  der  fränkischen  Schweiz  er- 
wähnt, ohne  dabei  auf  ein  klassisches  Beispiel  der 
Reste  eines  nachweisbaren  Höhlenflusses  in  jener 
Gegend  einzugehen.  Da  ich  mich  mit  der  Frage 
der  geologisch  chemischen  Tätigkeit  des  Wassers 
befasse,  möchte  ich  nicht  verfehlen,  dieses  schöne 
Schulbeispiel  näher  zu  behandeln.  Ich  meine 
hierbei  den  oberen  Teil  des  Oberailsbachtales  in 
der  Gegend  zwischen  Oberailsfeld  und  Kirchahorn. 
Um  meine  Ausführungen  verständlich  zu  machen, 
muß  ich  zuerst  auf  die  grundsätzlichen  Faktoren 
dieses  Problems  eingehen.  Im  allgemeinen  sind 
uns  unterirdische  Flüsse  zurzeit  nur  aus  dem  Ge- 
biet des  Karstes  bekannt.  Diesen  zu  besuchen 
ist  in  der  Jetztzeit  für  die  Bewohner  Deutschlands 
und  Österreichs  fast  zur  Unmöglichkeit  geworden, 
wodurch  meine  Aufgabe  mitten  im  Deutschen 
Reiche  einen  derartigen  Höhlenfluß,  wenn  auch 
nur  in  Überresten,  nachzuweisen,  besonders  dankbar 
geworden  ist.  Stellen  wir  uns  zunächst  einmal  die 
für  einen  Höhlenfluß  charakteristischen  Einzelteile 
seines  Laufes  vor,  so  haben  wir  folgende  Gliederung 
vorzunehmen. 

Die  Stelle,  wo  der  an  der  Oberfläche  fließende 
Bach  in  dem  Untergrund  oder  in  einer  senkrecht 
vor  ihm  aufsteigenden  Wand  verschwindet,  nennen 
wir  das  Ponor.  Öfter  ist  diesem  Ponor  ein  weites 
muldenartiges  Tal  vorgelagert,  welches  zu  Zeiten 
besonders  starker  Wasseranschwellung  von  diesem 
erfüllt  ist  und  einen  See  bilden  kann.  Dieses  Tal 
wird  dann  Polje  genannt,  wobei  ich  an  das  be- 
rühmteste derartige  Versickerungstal,  das  Popovo- 
polje  erinnern  möchte.  In  diesem  Tal  können 
nun  schon  eine  Anzahl  Versickerungslöcher  ver- 
teilt sein,  die  wir  in  diesem  Falle  als  Vorponore 
bezeichnen  können.  In  Deutschland  können  wir 
derartige  Ponore  sehr  gut  an  der  Donauversickerung 
bei  Immendingen  beobachten.  Wir  sehen  hier  zu 
manchen  Zeiten  des  Jahres  vor  allem  im  Hoch- 
sommer zuerst  in  dem  Wasserspiegel  Strudel,  die 
deutlich  zeigen,  wie  das  Wasser  hier  nach  unten 
versickert  und  zu  Zeiten  gänzlicher  Trockenheit 
können  wir  diese  Löcher  selbst  am  Boden  in 
großer  Anzahl  beobachten.  Verschwindet  das 
Wasser  direkt  in  der  Felswand,  so  können  wir 
entweder  wie  bei  der  Recka  eine  Höhle  oder 
Grotte  sehen  (Mahorcicgrotte),  oder  das  Wasser 
verschwindet  in  der  P^elswand  durch  ein  kaum 
dem  Auge  sichtbares  Loch,  welches  an  die  Mün- 
dung einer  Kanalöffnung  erinnert.  Letzteres  können 


Von  Dr.  H.  K,  Becker. 


wir  besonders  deutlich  bei  der  „Pegnitz"  bei  der 
Stadt  Pegnitz  beobachten,  wo  dieser  Fluß  bei  der 
Wassermühle  in  dem  Wasserberg  verschwindet. 
Einen  Übergang  zwischen  diesen  beiden  Arten  von 
Ponoren  war  mir  vergönnt  während  des  Krieges 
bei  der  belgischen  Grotte  von  Han  sur  Lesse  zu 
beobachten,  welche  ich  als  Heeresgeologe  zu  durch- 
forschen hatte.  Der  sog.  Perte  de  la  Lesse  oder 
das  Gouffre  de  Belveaux  stellte  eine  kleine  Grotte 
dar,  in  welcher  das  Wasser  der  Lesse  plötzlich 
nach  unten  verschwindet,  ohne  daß  es  möglich 
wäre,  den  Lauf  weiter  zu  verfolgen.  Der  sog.  alte 
Eingang  zu  den  oben  erwähnten  Grotten,  der 
heute  nur  noch  in  ganz  seltenen  Fällen  besonderer 
Wasseranschwellung  von  der  Lesse  erreicht  wird, 
ist  als  ein  ganzes  System  horizontal  in  den  Berg 
eindringender  Kanäle  aufzufassen.  Dem  Höhlen- 
forscher ist  auch  reichlich  der  Grund  bekannt, 
warum  es  so  oft  unmöglich  ist,  an  der  eigent- 
lichen Einbruchsteile  des  Flusses,  diesem  zu  folgen. 
Die  Ursache  hierfür  ist  ein  Deckensturz,  der  den 
Kanal  derartig  abschließt,  daß  das  Wasser  ihn  nur 
nach  Art  kommunizierender  Röhren  durchfließt. 
Sehr  oft  ist  es  unmöglich  auf  seitlichen  Spalten 
diesen  „Siphon"  zu  umgehen,  wie  es  so  bei  der 
Peuck  im  Karste  der  Fall  ist.  Der  P'luß  durcheilt 
dann,  mehr  oder  weniger  verzweigt,  das  Gebirge, 
wobei  das  Wasser  gar  oft  durch  Strudellöcher  in 
tieferen  Höhlengängen  verschwindet,  zu  denen  wir 
uns  wieder  mühsam  den  Zugang  erkämpfen  müssen, 
um  dann  bei  dem  Austritt  des  Flusses  die  über- 
raschende Beobachtung  zu  machen,  daß  wir  in 
einem  ganz  anderen  Flußsystem  angelangt  sind, 
als  dasjenige  war,  aus  welchem  der  Höhlenfluß 
vor  seinem  Eintritt  in  das  Gebirge  entstanden  ist. 
So  treffen  wir  die  bei  Immendingen  verschwinden- 
den Wasser  der  Donau  in  der  Aachquelle  wieder, 
die  dem  Rhein  ihre  Wasser  zufließen  läßt.  Über 
die  Art  wie  man  derartige  Höhlenflüsse  durch 
Färben  des  Wassers  oder  durch  Salzlösungen  ver- 
folgen kann,  auch  wenn  ein  Befahren  des  Laufes 
selbst  ausgeschlossen  ist,  kann  ich  an  dieser  Stelle 
nicht  weiter  eingehen.  Nicht  verfehlen  möchte 
ich  aber  darauf  hinzuweisen,  daß  unter  Umstän- 
den durch  derartig  verschwindende  oder  an  unge- 
eigneten Stellen  wieder  auftauchende  Höhlen- 
flüsse wirtschaftliche  Folgen  hervorgerufen  werden 
können,  die  von  katastrophaler  Bedeutung  sind. 
Denken  wir  z.  B.  an  den  Fall,  daß  der  obere  Lauf 
der  Donau  einst  sein  ganzes  Wasser  an  den  Rhein 
abgibt,  so  wird  eine  ganze  Anzahl  von  Industrien, 
die  ihr  Wasser  aus  diesem  Lauf  nehmen,  vernichtet. 
Als  typisches  Beispiel  möchte  ich  noch  den  Zirk- 


io6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nitzersee  erwähnen,  über  den  im  Mittelalter  der 
Ausspruch  im  Umgang  war,  man  könne  nach  der 
jeweiligen  Zeit  in  ihm  pflügen,  säen,  ernten,  fischen 
und  Wasservögel  jagen.  Wenn  auch  dieser  Aus- 
spruch selbstverständlich  übertrieben  ist,  so  wurden 
doch  im  Laufe  der  Jahrhunderte  wiederholt  Fälle 
beobachtet,  wo  der  See  vollständig  trocken  lag, 
oder  wo  er  plötzlich  wieder  von  Wasser  angefüllt 
wurde,  nachdem  die  umwohnenden  Bauern  in  ihm 
Äcker  angelegt  und  Häuser  gebaut  hatten.  Dies 
alles  sind  Fragen,  die  den  Geologen  des  Karst- 
gebietes eingehend  zu  beschäftigen  haben  und  ihm 
die  P'rage  vorlegen,  ob  es  möglich  ist,  derartige 
Höhlenflüsse  und  ihr  Zutagetreten  durch  eventuelle 
Vermauerung  ihres  Austrittes  zu  beeinflussen. 

Dieses  Austreten  des  Höhlenflusses  aus  dem 
Gebirge  kann  nun  wieder  in  verschiedener  Weise 
zur  Geltung  kommen.  Im  schon  erwähnten  Fall 
der  Aach,  haben  wir  einen  sog.  Quelltopf  vor 
uns,  d.  h.  den  Fall,  daß  das  Wasser  in  Form  einer 
sehr  starken  Quelle  anscheinend  senkrecht  aus 
der  Erde  hervortritt.  Als  weiteres  Beispiel  hierfür 
möchte  ich  die  drei  Quellen  der  Wiesent  bei  der 
Stempfermühle  erwähnen.  Der  Unterschied  ist 
der,  daß  ein  ganzer  Fluß  d.  h.  also  nicht  der 
dünne  Wasserstrahl  einer  Quelle  aus  dem  Gebirge 
hervortritt;  diesen  Fall  nennen  wir  nach  dem 
klassischen  Beispiel  in  Frankreich  Vauclusequelle. 

Die  Frage,  ob  der  Fluß  zwischen  seinem  Ponor 
und  seiner  Vauclusequelle  in  ununterbrochenem 
Lauf  das  Gebirge  durchströmt,  oder  ob  er  sich 
zwischendurch  erst  einmal  auf  die  Grundwasser 
verteilt  hat,  und  somit  aus  der  Vauclusequelle 
nicht  der  ursprüngliche  Höhlenfluß  sondern  das 
Grundwasser  zutage  tritt,  können  wir  auch  an 
dieser  Stelle  nicht  behandeln.  Kraus  und 
Knebel  haben  diese  Frage  an  dem  Beispiel  der 
Recka,  des  Timavo,  der  Peuck,  der  Donau  und 
anderer  Flüsse  eingehend  behandelt,  ohne  zu 
einem  definitiven  und  für  alle  Fälle  zu  verallge- 
meinernden Schluß  zu  kommen.  Für  unser  klas- 
sisches Beispiel  des  alten  Höhlenflusses  im  Ober- 
ailsbachtal  kommt  diese  Frage   nicht  in  Betracht. 

Ohne  auf  die  Bildung  von  Höhlen  im  allge- 
meinen an  dieser  Stelle  einzugehen,  möchte  ich 
doch  darauf  hinweisen,  daß  wir  bei  Betrachtung 
dieser  Frage  wesentlich  mehr  die  Bildungen  durch 
einen  Höhenfluß  berücksichtigen  sollten,  als  es 
seither  geschah.  In  vielen  Fällen,  wo  zuerst  nur 
das  versickernde  Regenwasser  den  Weg  durch 
Korrosion  von  Spalten  anbahnte,  ist  in  späterer 
Zeit  ein  Fluß  eingebrochen  und  hat  diesen  kleinen 
Kanal  durch  Erosion  mechanisch  erweitert.  Diese 
Spalten  können  sich  zu  regelrechten  Strudellöchern 
vergrößern,  was  noch  ganz  besonders  begünstigt 
wird,  wenn  das  Wasser  in  der  Lage  ist,  ganze 
Geröllstücke  mitzureißen  und  die  Spalten  nach 
Art  einer  Gletschermühle  zu  vertiefen.  Wir  sehen 
derartige  Strudellöcher  im  Verlauf  des  Oberails- 
bachtales  und  auch  an  dem  Wege  durch  das 
Püttlachtal  in  großer  Anzahl.  Den  Besuchern  der 
Schweiz  ist  wohl  der  wunderbare  Trömmelbachfall 


bekannt,  der  ja  aus  einem  solchen  Strudelloch  in 
dickem  starkem  Strahl  mit  solcher  Kraft  herab- 
stürzt, daß  er  an  manchen  Stellen  sofort  wieder 
den  Untergrund  aufstrudelt  und  in  ihm  ver- 
schwindet. Was  wir  hier  zutage  sehen,  kann 
natürlich  auch  in  den  unterirdischen  Räumen  eines 
Höhlenflusses  geschehen.  Wenn  dann  einmal  die 
Decke  eines  solchen  Tales  einbricht,  ein  Fall,  auf 
den  wir  am  Schlüsse  unserer  Betrachtung  einzu- 
gehen haben  werden,  so  sehen  wir  ein  enges, 
schluchtenartiges  Tal,  dessen  Wände  muschelartig 
vertieft,  die  Reste  einer  fortgesetzten  Bildung  und 
Aufarbeitung  von  Strudellöchern  zeigen.  Ich  er- 
innere hierbei  an  die  Aaretalschlucht  bei  Meiringen, 
die  Partnachklamm  und  einige  von  Flüssen  durch- 
strömte Schluchten.  Besonders  deutlich  sehen 
wir  die  Reste  des  alten  Höhlenflusses,  am  Quacken- 
schloß  und  an  der  Riesenburg  bei  Doos. 

Wenn  wir  das  seither  Ausgeführte  auf  das 
Oberailsbachtal  anwenden  wollen,  so  müssen  wir 
im  Interesse  der  klaren  Übersicht  einen  Augen- 
blick die  Frage,  woher  dieser  Bach  kam,  zurück- 
stellen. Deutliche  Beispiele  für  die  von  allen 
Seiten  hervorbrechenden  und  in  die  Haupthöhle 
(deren  Verlauf  wir  uns  ungefähr  von  der  Schweins- 
mühle an  der  Ruine  Rabenstein  vorbei  bis  an  das 
Gasthaus  zum  Oberailsbachtal  vorstellen  müssen) 
verschwindenden  Wasserstrahlen  sehen  wir  ganz 
besonders  in  der  Nähe  des  großen  und  des  kleinen 
Schneiderloches,  wie  ja  auch  die  Ludwigshöhle 
in  ihrem  hinteren  Teile  einzelne  Läufe  erkennen 
läßt,  die  in  einem  domartigen  Hauptraume,  der 
heutigen  eigentlichen  Höhle  zusammenströmen. 
Daß  neben  dieser  Flußhöhle  auch  die  sonst 
üblichen  nur  durch  Sickerwasser  und  Deckensturz 
entstandenen  Höhlen  auftreten  konnten,  beweist 
die  heute  neben  dem  Tale,  früher  neben  der 
Flußhöhle  befindliche  Klausstein  Sophiengrotte. 
Erstere,  die  Klaussteinhöhle,  gehört  unbedingt  noch 
in  das  Gebiet  des  Höhlenflusses  hinein,  wurde 
ich  doch  bei  ihrem  Anblick  äußerst  stark  an  das 
eingangs  erwähnte  Ponor  der  Lesse  erinnert.  Die 
Sophiengrotte  ist  indessen  lediglich  eine  Sicker- 
wasser-Einsturzhöhle, die  mit  dem  Flusse  nichts 
zu  tun  hat,  vielleicht  sogar  erst  später  entstanden 
ist.  Selbstverständlich  kann  das  Wasser  eines 
solchen  Höhlenflusses  sich  durch  Strudellöcher 
immer  tiefer  bohrend,  auch  ein  altes  früher  ent- 
standenes Höhlensystem  in  Besitz  nehmen  und 
somit  nachträglich  dieses  zu  dem  System  eines 
Höhlenflusses  umwandeln.  Ohne  einen  in  sehr 
vielen  Phallen  anwendbaren  Satz  nun  unbedingt 
verallgemeinern  zu  wollen,  möchte  ich  annehmen, 
daß  bei  allen  Höhlengebieten,  die  zwischen  Ponor 
und  Vauclusequelle  eines  Höhlenflusses  liegen,  ohne 
daß  zwischen  Eintreten  und  Austreten  aus  dem 
Gebirge  ein  nennenswertes  Gefälle  besteht,  eine 
reine  Höhlenflußbildung  vorliegt.  Besteht  aber 
zwischen  l'onor  und  Austritt  des  Flusses  ein  sehr 
starker  Niveauunterschied,  so  liegt  der  Verdacht 
nahe,  daß  der  einmal  in  das  Gebirge  eingetretene 
Fluß  nunmehr  mit  seinen  Strudellöchern   sich  in 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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vorhandene  Höhlensysteme  eingebohrt  und  sie 
dann  durchflössen  hat.  Hierher  möchte  ich  das 
Beispiel  der  Maximiliansgrotte  bei  Krottensee 
stellen.  Das  immer  tieferbohren  eines  solchen 
Flusses  und  sein  damit  verbundenes  Herabsinken 
in  tiefere  Stockwerke  können  wir  ebensowohl  an 
bekannten  Höhlenflüssen  wie  an  dem  Fluß  des 
Oberailsbachtales  beobachten.  Als  derartig  be- 
kanntes Beispiel  möchte  ich  die  Schwindlöcher 
der  Peuck  erwähnen  die  übereinanderliegen,  ebenso 
wie  es  bei  der  Eishöhle  im  Tämnengebirge  der 
Fall  ist,  einem  unterirdischen  Flußsystem,  das 
mein  Kollege  Herr  Dr.  H  a  u  s  e  r  auf  26  km  Länge 
durchforscht  hat.  Im  Oberailsbachtal  beobachten 
wir  wieder  die  untereinanderliegenden  Strudel- 
löcher, am  schönsten  an  der  Flußpartie  gegenüber 
der  Rabensteiner  Burg,  zwischen  der  Ludwigs- 
höhle und  dem  Komplex  der  Schneiderlöcher. 

VieUeicht  hat  uns  die  Natur  auch  noch  ein 
bisher  unbekanntes  Stück  des  alten  Flußlaufes 
aufbewahrt.  Unterhalb  der  Sophienhöhle  befindet 
sich  nämlich  ein  seither  noch  nicht  durchforschtes 
Höhlensystem,  welches  wegen  seiner  schwierigen 
Befahrbarkeit  die  Verzweiflungshöhle  genannt 
wurde  und  deren  Durchforschung  ich  mir  noch 
vorbehalten  habe.  Daß  eine  Verbindung  zwischen 
ihr  und  dem  System  der  Klaussteinhöhle  besteht, 
ist  an  letzterer  erwiesen. 

Sind  die  Gesteinsschichten,  die  von  dem  Fluß 
durcheilt  werden,  von  einem  flachen,  geringen 
Einfall  nach  der  Talsole  zu  geneigt,  so  finden  wir 
oft  die  Decke  dieses  unterirdischen  Laufes  in  der 
Nähe  des  Tales  eingebrochen  und  können  uns 
sodann  Bildungen  erklären,  wie  sie  in  der  Riesen- 
burg bei  Doos  vorliegen.  Wir  haben,  wie  ich  in 
anderer  Arbeit  ausführen  werde,  hier  einen  unter- 
irdischen Lauf  der  ehemaligen  Wiesent  vor  uns, 
der  mit  ziemlich  starkem  Gefälle  von  der  Höhe 
des  Gebirges  nach  der  Talsole  herabstürzt.  In 
der  Mitte  der  Riesenburg  stehend,  haben  wir  nach 
oben  blickend  das  unzerstörte  Höhlenflußsystem 
vor  uns,  während  wir  in  der  Richtung  nach  dem 
Tale  zuschauend,  d.  h.  nach  unten  zu,  nur  noch 
die  Reste  einzelner  Brücken  und  schroffe  Wände 
sehen. 

Wie  kommt  es  nun,  daß  wir  heute  den  Ails- 
bach  mit  sehr  mäßigem  Gefälle  aus  der  Gegend 
von  Kirchahorn  kommend,  sich  nach  der  Wiesent 
zu  ergießen  sehen,  wobei  er  zwischen  der  Schweins- 
mühle und  Oberailsfeld  wohl  ein  schluchtartiges 
Tal  durchfließt,  nicht  aber  eine  tunnelartige 
Höhle?  Neischl,  der  Vater  der  Höhlenforschung 
in  der  fränkischen  Schweiz,  erklärt  die  Bildung 
der  meisten  derartigen  Täler  durch  Einsturz  ehe- 
maliger Höhlensysteme,  indem  er  schildert,  wie 
allmählich  durch  Abbruch  der  Höhlendecke  diese 
immer  dünner  wird,  und  schließlich  die  über- 
ragende Gesteinsmasse  nicht  mehr  getragen  wer- 
den kann  und  so  einstürzt.  In  dieser  Anschauung 
stimme  ich  mit  Neischl  fast  vollständig  überein, 
wobei  ich  allerdings  diejenigen,  die  bei  dem 
bloßen  Lesen  dieser  Theorie  Zweifel  hegen,  bitten 


möchte,  sich  erst  an  Ort  und  Stelle  die  typischen 
und  handgreifbaren  Beweise  dieser  Theorie  anzu- 
sehen. Nur  in  dem  einen  weiche  ich  etwas  von 
Neischls  Ansicht  ab,  nämlich  darin,  daß  ich 
nicht  diese  Talbildung  auf  Einsturz  von  einfachen 
Sickerwasserhöhlen  zurückführen,  sondern  hierbei 
unbedingt  die  Mithilfe  alter  Höhlenflüsse  zu  Hilfe 
nehmen  und  einschließen  möchte.  Meines  Er- 
achtens  haben  alle  diese  Flüßchen  und  Bäche  der 
fränkischen  Schweiz  einen  Vorfahren  aus  der  Eis- 
zeit oder  der  ihr  nachfolgenden  Zeit  gehabt,  der 
das  Kalkgebirge  ähnlich  durchhöhlt  und  durch- 
strudelt hat,  wie  es  heute  die  Bäche  und  Flüsse 
des  Karstgebietes  tun.  Bei  dem  schon  wiederholt 
erwähnten  Beispiel  der  Donauversickerung  dürfen 
wir  ohne  weiteres  ein  derartig  unterirdisches 
Höhlensystem  annehmen,  und  haben  sogar  die 
Gelegenheit,  den  Beweis  für  die  eben  erwähnte 
Theorie  zu  studieren.  Wenige  hundert  Meter 
oberhalb  der  Aachquelle  ist  nämlich  bereits  ein 
langgestrecktes  dolinenartiges  Tälchen  zu  sehen, 
welches  nur  dadurch  entstanden  sein  kann,  daß 
das  untere  Höhlensystem  des  Donau-Rhein-Höhlen- 
flusses hier  bereits  eingebrochen  ist.  Von  dem 
Laufe  der  Recka  kennen  wir  ja  auf  der  Strecke 
zwischen  der  Marinitschgrotte  und  der  darauf- 
folgenden Gebirgswand  eine  Strecke  von  300  m, 
auf  der  sie  in  einer  tiefen  Talschlucht  fließt,  wäh- 
rend sie  vorher  und  nachher  in  unterirdischen 
Tunnellen  dahineilt.  Wir  haben  hier  also  ein 
derartiges  Beispiel,  daß  ein  Teil  der  Decke  ein- 
gebrochen ist.  Ein  ganzes  System  solcher,  bald 
überirdisch,  bald  unterirdisch  verlaufender  Wasser, 
ist  das  Gebiet  der  Peuck-Unz-Laibach. 

Die  Zuhilfenahme  unterirdischer  Flüsse  bei 
der  Erklärung  durch  Einbruch  entstandener  Täler 
erscheint  mir  vor  allen  Dingen  deshalb  notwendig, 
weil  wir  doch  immerhin  mit  Wasser  von  einer 
gewissen  Wirkungskraft  rechnen  müssen,  um  uns 
die  Entfernung  des  durch  den  Deckensturz  ent- 
standenen mächtigen  Schuttes  erklären  zu  können. 
Bei  unserem  Beispiel  des  Ailsbachtales  glaube  ich 
auch  in  der  glücklichen  Lage  zu  sein,  nachweisen 
zu  können,  wo  dieser  Schutt  hingekommen  ist. 
In  dem  Dorf  Oberailsfeld  befindet  sich  eine  Stelle 
von  Sand,  welcher  in  der  Literatur  als  eine  Art 
Meeressand  bezeichnet  wird.  Nachdem  ich  seiner- 
zeit reichlich  Gelegenheit  hatte,  rezenten  und 
fossilen  Meeressand  zu  studieren,  glaube  ich  ein- 
wandfrei einen  Meeressand  von  einfachem  Fluß- 
sand unterscheiden  zu  können.  Ganz  besonders 
auffallend  ist  nun  an  dieser  Stelle  die  gänzliche 
Fossilleerheit  dieser  Sande,  obwohl  sie  derartig 
feinkörnig  sind,  daß  selbst  ganz  zarte  Reste  in 
ihnen  hätten  erhalten  bleiben  müssen.  Selbst  in 
den  stark  ausgelaugten  Meeressanden  des  Mainzer 
Beckens  ließen  sich  doch  immerhin  die  Reste  von 
besonders  widerstandsfähigen  Fossilen  nachweisen, 
d.  h.  von  solchen,  deren  Schalen  von  kohlen- 
saurem Kalk  in  der  Form  des  widerstandsfähigen 
Kalkspates  statt  des  leicht  zerstörbaren  Aragonites 
vorlagen.      In    den    Sanden     des    Oberailsbaches 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  8 


konnte  ich  in  der  mir  zur  Verfügung  stehenden 
Zeit  keine  Fossilien  nachweisen.  Hierbei  möchte 
ich  sogar  noch  die  geringe  Wahrscheinlichkeit, 
daß  sich  hier  ganz  lokal  in  den  Resten  des  Jura- 
meeres eine  Insel  von  Strandsand  erhalten  hätte, 
nicht  weiter  ausführen.  An  der  Stelle,  wo  das 
heutige  Gasthaus  zum  Oberailsbachtal  steht,  d.  h. 
an  der  Stelle,  wo  sich  auch  die  Vauclusequelle 
des  Ailsbaches  aus  der  das  Tal  steil  abschließen- 
den Felswand  ergoß,  verbreitert  sich  das  heutige 
Tal  des  Baches  und  bildet  etwa  an  der  Stelle, 
wo  der  Sandrücken  zu  sehen  ist,  eine  Kurve ,  in 
die  an  dieser  Stelle  der  mitgerissene  Schutt  ab- 
gelagert wurde.  Lediglich  die  Feinkörnigkeit  des 
Sandes  deutet  auf  längeren  Transport. 

Der  Einbruch  des  Tales  und  damit  das  Fest- 
legen des  Ailsbaches  in  seinem  heutigen  Bette  ist 
erst  später  erfolgt,  sonst  würde  sich  dieser  Bach 
wahrscheinlich  an  der  Stelle  der  heutigen  Gais- 
kirche  weiter  in  der  Tiefe  in  ein  schon  vorhan- 
denes oder  von  ihm  zu  schaffendes  Höhlensystem 
ergossen  haben.  Das  ganze  Äußere  der  Gais- 
kirche  zwingt  uns,  in  ihr  ein  Ponor  mit  mehreren 
Sauglöchern  zu  sehen,  so  daß  wir  also  von  dem 
Ailsbach  nunmehr  aus  oberen  Stockwerken  nach 
unten,  d.  h.  nach  der  heutigen  Talsole  gerichtete 
Sauglöcher  erblicken,  daß  wir  ein  unter  der  Tal- 
sole gelagertes  Höhlensystem  annehmen  dürfen, 
und  daß  uns  auch  wahrscheinlich  der  Austritt, 
d.  h.  die  Vauclusequelle  bekannt  ist. 

Es  bleibt  uns  also  nunmehr  nur  noch  die 
Frage  zu  lösen,  woher  dieser  Fluß  kam.  Bei  der 
Kürze  des  Laufes  und  seiner  Kraftentfaltung  dürfen 
wir  ihm  nicht  als  nur  aus  Niederschlägen  ent- 
standen annehmen.  Wesentlich  wahrscheinlicher 
ist  wohl  die  Annahme,  daß  eine  große  Wasser- 
menge, in  die  das  Tal  damals  noch  bei  der 
heutigen  Schweinsmühle  abschließenden  Felswand 
durch  ein  Ponor  eindrang  und  somit  das  spätere 
Höhlental  schuf.  Daß  gerade  die  Felswand  an 
dieser  Stelle  abschnitt,  erklärt  sich  dem  Geologen 
dadurch,  daß  die  Doggerschichten  in  die  Höhe 
der  Malmschichten  verworfen  sind,  derart,  daß  die 
unteren  Doggerschichten  etwa  in  Höhe  des  heu- 
tigen Talbodens  lagern ,  während  das  Tal  selbst 
in  den  obersten  Malmschichten,  d.  h.  im  fränki- 
schen Dolomit  eingeschnitten  ist.  Wieso  die  einst 
über  dem  Dogger  lagernden  Malmschichten  ver- 
schwunden sind,  kann  uns  an  dieser  Stelle  nicht 
näher  beschäftigen.  Tatsache  ist,  daß  wir  nach 
Abtragung  dieser  Malmschichten  hier  ein  weites 
Tal  vor  uns  hatten ,  welches  sehr  wohl  mit  den 
großen    Wassermassen    der    Nacheiszeit    angefüllt 


war  und  das  seinen  Verlauf  durch  die  eben  be- 
zeichneten Malmwände  suchen  mußte.  Hierbei 
dürfen  wir  dann  annehmen,  daß  bei  dem  ursprüng- 
lichen höchsten  Wasserstand  dieser  Eintritt  durch 
hochgelegene  Sauglöcher  erfolgte  (etwas  höher 
als  die  Schneiderlöcher),  während  bei  späterem 
Absinken  des  Wasserlaufes  sehr  wohl  ein  torartiges 
Ponor  wenig  höher  als  der  heutige  Talboden  be- 
standen haben  kann. 

Daß  ursprünglich  derartige  Wassermassen  vor- 
handen waren,  dürfte  aus  dem  Umstände  hervor- 
gehen, daß  der  Ort  Kirchahorn  in  seinem  Namen 
auf  das  Wort  Sumpf  hinweist.  Kirchahorn  soll 
nämlich,  wie  mir  ein  dortiger  Lehrer  liebenswürdig 
erklärte,  Kirchahora,  d.  h.  die  Kirche  arn  Sumpf 
bedeuten.  Daß  dieser  Sumpf  als  alter  Überrest 
des  alten  Sees  aufzufassen  ist,  erscheint  mir  sehr 
glaublich.  Als  heutiges  Beispiel  für  einen  der- 
artigen See ,  der  seinen  Abfluß  in  einer  vorge- 
lagerten Felswand  nimmt,  möchte  ich  nochmals 
den  Zirknitzersee  erwähnen.  Wir  haben  somit 
den  Eintritt,  den  Austritt  des  Ailsbachhöhlen- 
flusses  kennen  gelernt  und  wissen  ebensowohl  wo 
er  sein  Wasser  hergenommen  und  wo  er  seinen 
Schutt  abgelagert  hat.  Nicht  ebenso  vollständig 
läßt  sich  das  Bild  des  vorgeschichtlichen  Wiesent- 
höhlenflusses  rekonstruieren.  Einzelne  Teile  von 
ihm  kennen  wir  indessen.  Ich  erinnere  hier  an 
die  Oswaldhöhle  und  das  Quackenschloß  mit 
ihren  typischen  Strudellöchern,  erwähne  die 
Riesenburg  bei  Doos,  die  vielleicht  den  Zufluß 
eines  unterirdischen  Nebenflusses  darstellt  und 
möchte  zum  Schluß  nur  noch  anführen,  daß  es 
mir  auch  noch  gelungen  ist,  bei  einer  ganzen 
Anzahl  der  anderen  auf  dem  Plateau  gelegenen 
Höhlen,  wie  der  Schönstein  -  Brumsteinhöhle  — 
und  im  Schwingbogen  deutliche  Reste  ehemaliger 
Flußwirkungen  festzustellen,  möchte  aber  auf 
Einzelheiten  an  dieser  Stelle  nicht  näher  eingehen. 
Alle  diese  Betrachtungen  zusammenfassend,  möchte 
ich  die  PVänkische  Schweiz  als  ein  Deutsches 
Karstgebiet  bezeichnen,  das  uns  allerdings  infolge 
von  Klimaveränderung  heute  nur  noch  als  nicht 
mehr  in  diesem  Sinne  fortschreitende  Endbildung 
vorliegt. 

Gar  manchmal  steht  der  Geologe  vor  einer 
1  albildung,  die  er  nicht  ohne  weiteres  zu  erklären 
imstande  ist.  Sollten  da  meine  Ausführungen  die 
Möglichkeit  geben,  durch  die  Annahme  einge- 
stürzter Höhlenflußsysteme  Aufklärungen  zu 
schaffen,  so  wäre  die  Aufgabe  meiner  Ausführun- 
gen erfüllt. 


[Nachdruck  verboten.] 

Mit  dem  vor  einem  Jahre  {25.  XII.  1920)  von 
uns  geschiedenen  Prof.  Dr.  Helmut  Bruch- 
mann    in  Gotha    ist    der  Botanik    ein    Forscher 


Helmut  Bruchmanu. 

Von  K.  Goebel. 


entrissen  worden,  der  aus  mehr  als  einem  Grunde 
verdient,  daß  wir  uns  dankbar  seiner  erinnern. 
Es  ist  nicht    nur  der  Glanz   seiner  Entdeckungen, 


N.  F.  XXI.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


109 


sondern  auch  seine  ganze  Persönlichkeit  eine 
Ehre  für  die  deutsche  Wissenschaft.  Wir  sind 
gewöhnt,  daß  die  wissenschaftliche  Tätigkeit  in 
den  Instituten  der  Hochschulen  und  den  wenigen 
Forschungsinstituten,  die  wir  besitzen,  sich  ab- 
spielt. Unsere  jungen  Botaniker  sind  unglücklich, 
wenn  sie  nicht  ein  „den  Anforderungen  der  Neu- 
zeit" entsprechendes  Laboratorium  zur  Verfügung 
haben  und  glauben  nur  in  einem  solchen  mit 
Erfolg  wissenschaftlich  tätig  sein  zu  können. 
Bruchmann  hat  gezeigt,  daß  man  ohne  ein 
Institut  mit  den  einfachsten  Hilfsmitteln  noch 
ungemein  viel  leisten  kann  und  wenn  wir  seine 
Lebensarbeit  überblicken,  so  werden  wir  zugeben 
müssen,  daß  sie  an  Bedeutung  die  nicht  weniger 
Universitätsprofessoren  seiner  Zeit  recht  erheblich 
übertroffen  hat. 

Sein  Lebensgang  war  ein  sehr  einfacher. 
Geboren  am  13.  November  1847  in  Pollow  in 
Pommern  als  Sohn  eines  Ackerbürgers  widmete 
er  sich  zunächst  der  Vorbereitung  für  den  Lehrer- 
beruf. Aber  bald  ging  er  zur  Universität  über. 
Er  studierte  in  Jena,  wo  Strasburger,  damals 
auf  der  Höhe  seiner  Tätigkeit,  sein  Lehrer  war. 
Er  legte  im  Jahre  1874  das  Doktorexamen  ab 
und  erhielt  1877  eine  Lehrstelle  in  Gotha,  wo  er 
bis  zu  seiner  im  Jahre  1906  erfolgten  Pensionie- 
rung wirkte.  Seine  wissenschaftliche  Tätigkeit 
fiel  in  die  Periode  der  Botanik,  welcher  das  Genie 
Wilhelm  Hofmeisters  den  Stempel  aufge- 
drückt hatte. 

In  Hofmeister  feierte  die  entwicklungs- 
geschichtliche Richtung,  die  namentlich  durch 
S  c  h  1  e  i  d  e  n  und  N  ä  g  e  1  i  eingeleitet  worden  war, 
ihre  höchsten  Triumphe.  Ihm  gelang  es,  durch 
Auffindung  des  Generationswechsels  die  Homo- 
logien zwischen  Moosen  und  Farnen  aufzufinden 
und  die  Kluft  zu  überbrücken,  welche  zwischen 
„Kryptogamen"  und  „Phanerogamen"  zu  bestehen 
schien.  Die  Pteridophyten  oder  Gefäßkrypto- 
gamen boten  den  Schlüssel  zum  Verständnis  der 
Lebensgeschichte  der  Samenpflanzen.  Sie  rückten 
demgemäß  für  längere  Zeit  in  den  Mittelpunkt 
des  wissenschaftlichen  Interesses.  Ihnen  gehörte 
auch  die  Lebensarbeit  Bruchmanns  an.  Schon 
seine  auf  Strasburgers  Veranlassung  ausge- 
führte Dissertation  „Über  Anlage  und  Wachstum 
der  Wurzeln  von  Lycopodium  und  Isoetes"  (1874) 
beschäftigte  sich  mit  den  Pflanzen,  mit  welchen 
Bruchmanns  Name  jetzt  für  immer  verbun- 
den ist. 

Schon  diese  Erstlingsarbeit  zeigt  eine  vortreff- 
liche Beobachtungsgabe  und  ein  ungewöhnliches 
Geschick  in  der  Anfertigung  mikroskopischer 
Präparate. 

Damals  war  eine  Streitfrage  vor  allem  das 
Vorhandensein  einer  „Scheitelzelle".  Unter  dem 
Einflüsse  Nägel is  glaubte  man  eine  solche  an 
den  Vegetationspunkten  allgemein  voraussetzen 
zu  müssen.  Der  Verf.  dieser  Zeilen  erinnert  sich, 
daß  noch  im  Jahre  1876  der  verstorbene  bekannte 
Botaniker  Schwendener  ihm  erklärte,  er  halte 


das  Wachstum  eines  Vegetationspunktes  ohne 
Scheitelzelle  „mechanisch  für  unmöglich".  Bruch- 
manns  Untersuchungen  aber  hatten  (mit  anderen) 
dieses  Dogma  (denn  weiter  war  es  nichts)  aber 
schon  als  unhaltbar  erwiesen  und  die  eigenartige 
Verzweigung  der  Wurzeln  —  sie  weicht  von  den 
aller  anderen  Pflanzen  ab  —  bei  den  Lycopodien 
aufgehellt. 

Die  Gattung  Lycopodium  war  die,  deren  Ent- 
wicklungsgang auch  von  Hofmeister  nicht  er- 
mittelt werden  konnte.  Zwar  bilden  die  Lyco- 
podien unserer  Wälder  so  massenhaft  Sporen  aus, 
daß  diese  einen  Handelsartikel  (Sporae  Lycopodii) 
(für  Apotheken  u.  a.)  bildeten.  Aber  alle  Ver- 
suche, diese  Sporen  zur  Keimung  zu  bringen, 
schlugen  fehl  —  nur  de  Bary  war  es  gelungen, 
von  Lycopodium  inundatum  einmal  wenigzellige 
Körper  aus  Sporen  zu  erziehen  —  sie  gingen 
durch  einen  Zufall  zugrunde  und  konnten  später 
nicht  mehr  erhalten  werden.  Man  wußte  nicht 
einmal  sicher,  ob  Lycopodium  zu  den  isosporen 
oder  heterosporen  Pteridophyten  gehöre  —  im 
letzteren  Falle  wären  die  Sporen  als  Mikrosporen 
zu  betrachten  gewesen.  Diese  Frage  wurde  ent- 
schieden als  Fankhauser  in  der  Schweiz  1872 
Prothallien  von  Lycop.  annotinum  mit  Keim- 
pflanzen fand.  Es  waren  unterirdische  chlorophyl- 
lose  Knöllchen,  die  offenbar  als  Saprophyten 
lebten.  Aber  der  Entdecker  wußte  mit  seinem 
Fund  nicht  eben  viel  anzufangen  und  die  wichtig- 
sten Bauverhältnisse  der  Prothallien  blieben  im 
Dunkeln.  1884  fand  der  Verf.  bei  Rostock  chloro- 
phyllhaltige  Prothallien  von  Lycopodium  inunda- 
tum, da  aber  T  r  e  u  b  seine  javanischen  Funde  im 
selben  Jahre  veröffentlichte,  unterblieb  zunächst 
eine  Beschreibung.  Treub  und  Bruchmann 
sind  es  gewesen,  welche  die  große  Lücke  in 
unseren  Kenntnissen  über  Lycopodium  ausgefüllt 
und  uns  die  merkwürdigen  Gestaltungs-  und 
Lebensverhältnisse  der  Geschlechtsgeneration  er- 
schlossen haben.  Diese  ist  nicht  nur  biologisch 
höchst  interessant  —  bei  den  meisten  Arten  lebt 
sie  als  Saprophyt  im  Boden  mit  einem  Pilz  ver- 
gesellschaftet —  sondern  auch  für  die  systematische 
Gliederung  der  Gattung  wichtig. 

Bruchmann  gelang  es ,  bei  fast  allen  deut- 
schen Arten  die  Entwicklungsgeschichte  des  Pro- 
thalliums und  des  Embryos  lückenlos  festzustellen. 
Das  war  nur  möglich  durch  zielbewußte,  rastlose 
Arbeit,  bei  der  er  durch  seine  Frau  aufs  beste 
unterstützt  wurde,  und  durch  eine  ganz  seltene 
Beobachtungsgabe.  Die  Arbeiten,  in  denen  Bruch- 
mann  seine  Funde  beschrieben  hat,  sind  Muster 
der  Exaktheit  und  mit  schönen,  lehrreichen  Ab- 
bildungen geschmückt.  Es  gelang  ihm  schließ- 
lich auch  die  Sporen  zur  Keimung  zu  bringen. 
Wir  kennen  jetzt  die  Lebensverhältnisse  dieser 
Prothallien  ebensogut  wie  die  der  anderen  Pteri- 
dophyten. 

Außer  den  Lycopodien  war  Bruchmanns 
Tätigkeit  namentlich  den  Selaginellen  gewidmet. 
Ihre    gesamte   Morphologie    hat    durch    ihn   die 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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größte  Förderung  erfahren.  Er  lehrte  uns  die 
verschiedenen  Keimungstypen  der  Makro-Prothal- 
lien  kennen,  wies  für  einige  Formen  Zeugungs- 
verlust (Apogamie)  nach,  erforschte  die  Embryo- 
entwicklung, die  Bildung  der  merkwürdigen  Wurzel- 
träger, deren  Regeneration  und  Umbildung.  Die 
technischen  Schwierigkeiten,  die  namentlich  bei 
der  Untersuchung  der  Prothallien  zu  überwinden 
waren,  sind  sehr  große.  Bruchmann  besiegte 
sie  auch  ohne  Mikrotom.  Seine  Abbildungen 
zieren  unsere  Lehr-  und  Handbücher.  Auch  die 
merkwürdige  Formengruppe  der  Ophioglosseen 
(bei  uns  vertreten  durch  Ophioglossum  und  Botr- 
ychium)  verdankt  iKm  eine  wesentliche  Förderung 
unserer  Kenntnisse.  Die  Geschlechtsgeneration 
dieser    Formen    zeigt    merkwürdige    Konvergenz- 


erscheinungen zu  der  der  meisten  Lycopodien. 
Auch  sie  lebt  als  Holosaprophyt  unterirdisch  und 
hat  sich  deshalb  lange  der  Nachforschung  ent- 
zogen. Bruchmanns  Scharfsinn  hat  auch  hier 
Erfolge  gefeiert.  Er  behielt  seine  Schätze  aber 
nicht  für  sieht.  Zahlreiche  botanische  Institute 
verdanken  ihm  sorgfältig  montierte  Sammlungen 
von  Prothallien  und  Keimpflanzen  von  Lycopodium, 
Ophioglossum  u.  a. 

Er  hat  gezeigt,  was  ein  Naturforscher,  der  ganz 
auf  sich  allein  gestellt  ist,  leisten  kann,  wenn  er 
sich  auf  ein  bestimmtes  Gebiet  konzentriert  und 
wenn  er  der  rechte  Mann  dazu  ist,  es  auszubeuten. 
Es  wird  für  alle  Zeiten  unter  den  Botanikern  der 
Hof  meist  ersehen  Ära  einen  Ehrenplatz  ein- 
nehmen. 


Einzelberichte. 


tiber  die  eigentümliche  Naliruiigsgewinuuuj 
einer  Schlupfwespe  (Habrocytus  cionicita). 

(Mit  1  Abbildung.) 

In  den  Cpt.  rend.  hebdom.  des  seances  de 
l'acad.  des  sciences  Bd.  173,  Nr.  17,  192 1  berichtet 
Jean  L.  Lichtenstein  über  die  Biologie  einer 
Schlupfwespe  (Chalcidide)  und  weist  besonders 
auf  die  ganz  eigentümliche  Art  ihrer  Nahrungs- 
gewinnung hin.  Da  die  von  L.  beschriebenen 
und  abgebildeten  Verhältnisse  bis  jetzt  wohl  einzig 
dastehen,  so  seien  sie  hier  wiedergegeben  unter 
Benutzung  der  L.schen  Abbildung.  Einige  Be- 
merkungen füge  ich  hinzu.  Zunächst  ist  voraus- 
zuschicken, daß  die  von  L.  neu  beschriebene 
Schlupfwespe  Habrocytus  cionicita  im  Jugend- 
stadium parasitiert,  und  zwar  an  den  Larven  und 
Puppen  des  Käfers  Cionus  thaspi  (Familie  Curcu- 
lionidae).  Das  legreife  Wespenweibchen  sucht 
sich  Körner  aus,  in  denen  die  Käferlarve  lebt  und 
sticht  durch  die  Schale  hindurch  die  Käferlarve 
an:  einmal  um  sie  zu  lähmen  und  zweitens  um 
ihre  Eier  —  sie  schlüpfen  nach  2  bis  3  Tagen 
aus  —  unterzubringen.  Die  schlüpfende  Wespen- 
larve saugt,  wie  viele  ektoparasitäre  Larven  dieser 
Art,  die  Käferlarve  aus.  Ganz  eigentümlich  ist 
nun  die  Art,  wie  das  Weibchen  die  Käferlarven 
derselben  Art  zur  eigenen  Ernährung  auswertet. 
Hierzu  schicken  wir  voraus,  daß  eine  ganze  Reihe 
von  Schlupfwespen  Raupen  oder  Eier  anstechen 
und  durch  die  mit  dem  Stachel  gesetzte  Stich- 
stelle diese  Nahrungsobjekte  aussaugen.  Ich  selbst 
bearbeite  zurzeit  eine  Braconide  (Habrobracon 
brevicornis  Wesm.),  welche  genau  in  der  gleichen 
Weise  verfährt.  Darüber  wird  an  anderer  Stelle 
berichtet  werden.  Diese  Eigentümlichkeit  scheint 
bei  den  Schlupfwespen  und  ihren  Verwandten 
weiter  verbreitet  zu  sein  als  man  bisher  annahm. 
In  derselben  Art  und  Weise  verfährt  auch  die 
durch  L.  bekannt  gewordene  Art  Habrocytus.  — 
Da    aber    die  Käfcrlarve,    von    welcher    sich    die 


•  'i^t( Wespe  ernährt,  in  einem  Samenkorn  lebt,  und  da 
.|'  ein  Zwischenraum  zwischen  Käferlarve  und  Samen- 

,  schale  bleibt,  so  kann  die  Wespe  nicht  ihren 
Mund  auf  die  von  ihr  gesetzte  Stichstelle  in  der 
Käferlarvenhaut  anpressen.  In  der  Abbildung  sind 
die  Verhältnisse  wiedergegeben.  Die  Wespe  muß 
den  Zwischenraum  (in  der  Abbildung  schwarz 
gehalten)  auf  irgendeine  Art  und  Weise  über- 
brücken. Sie  verfährt  folgendermaßen.  Der  Lege- 
stachel ist  so  lang,  daß  er  durch  die  Samenschale 
über  den  Zwischenraum  hinweg  bis  in  die  Käfer- 


larve reicht.  Diesen  Umstand  benutzt  die  Wespe 
wie  folgt.  Das  Weibchen  sticht  durch  die  Schale 
die  Larve  an  und  läßt  seinen  Legestachel  bis  zu 
einer  halben  Stunde  in  dieser  Lage  stecken.  Dabei 
tritt  ein  eigentümliches  Sekret,  über  dessen  Natur 
L.  keine  weiteren  Angaben  macht,  längs  des 
Stachels  aus;  es  gerinnt  und  umschließt  den  Stachel 
schließlich  wie  eine  feste  Scheide.  Ist  dies  ge- 
schehen, so  zieht  die  Wespe  den  Stachel  heraus, 
und  nun  hat  sie  sich  selbst  mit  Hilfe  ihres  Lege- 
stachels eine  feine  kapillare  Röhre  gebildet,  die 
vom  Inneren  der  Käferlarve  durch  die  Samenschale 
nach    außen    geht.      Die    L.sche  Abbildung    gibt 


N.  F.  XXI.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


diese  höchst  sonderbaren  Verhältnisse  sehr  an- 
schaulich wieder.  Der  Außenöffnung  der  selbst 
geschaffenen  Steigröhre  preßt  jetzt  die  Wespe  den 
Mund  auf  und  saugt  nun  durch  dieses  Rohr  die 
Käferlarve  von  außen  her  mit  aus,  so  wie  in 
der  Samenschale  die  Larve  der  Wespe  die  Käfer- 
larve aussaugt.  —  Die  Richtigkeit  der  L. sehen 
Beobachtungen  vorausgesetzt,  hätten  wir  hier  die 
sehr  eigentümlichen  Verhältnisse,  daß  der  Lege- 
stachel, bzw.  Wehrstachel,  zu  bestimmter  Ver- 
wendung bei  der  Nahrungsaufnahme  kommt.  In 
dieser  Hinsicht  sind  die  L.schen  Beobachtungen 
völlig  neu.  Daß  die  mütterlichen  Tiere  bei  Schlupf- 
wespen zugleich  mit  ihren  Nachkommen  an  ein 
und  demselben  Objekt  saugen  wie  Habrocytus,  ist 
auch  von  anderen  Formen  bekannt.  Genau  die 
gleichen  Verhältnisse  habe  ich  jetzt  bei  der  an 
Mehlmotten  parasitierenden  Braconide  Habr.  brev. 
(s.  o.)  festgestellt.  Die  erwachsenen  Tiere  (Weibchen) 
leben  von  der  gleichen  Nahrung  (auch  am  gleichen 
Stück)  wie  die  Larven.  Für  die  Deutung  be- 
stimmter sozialer  Erscheinungen  bei  Wespen  er- 
scheinen mir  diese  Beobachtungen  wichtig. 

A.  Hase  (Berlin-Dahlem). 


Innervation  und  Inkretbildung. 

In  einem  Aufsatz  „Über  das  Wesen  der  Inner- 
vation und  ihre  Beziehungen  zur  Inkretbildung"  ') 
stellt  Abderhalden  Befunde  zusammen,  die 
uns  in  beachtlichem  Maße  weitergebracht  haben 
in  der  Behandlung  der  Frage,  ob  die  Einwirkung 
der  Nerven  auf  die  Erfolgsorgane  eine  direkte 
oder  indirekte  ist.  Es  handelt  sich  hier  darum, 
ob  die  innervierten  Organe  etwa  durch  einen  Stoß 
beeinflußt  werden,  dessen  Bildung  durch  die  in 
Frage  kommenden  Nerven  bewirkt  wird. 

Schon  vor  längerer  Zeit  beobachtete  H  o  w  e  1 1 , 
daß  der  Kaliumgehalt  der  Herzflüssigkeit  zunimmt, 
wenn  der  Nervus  vagus  gereizt  wird.  Es  liegt 
also  nahe,  die  hemmende  Wirkung,  die  bei  Reizung 


•)  Klinische  Wochenschrift,   i.  Jahrg.,  Nr.  i,   1922. 


des  Nervus  vagus  am  Herzen  zu  beobachten  ist, 
auf  das  Kalium  oder  überhaupt  auf  eine  Gruppe 
von  Stoffen  zurückzuführen,  die  infolge  der  Reizung 
in  der  Durchspülungsflüssigkeit  des  Herzens  ver- 
mehrt auftreten.  Abderhalden  geht  in  seinem 
Aufsatz  besonders  auf  Versuche  von  O.  Loewi 
(1921)  ein,  der  diese  bedeutsame  Frage  in  der  ge- 
schilderten Richtung  weiter  aufrollt  und  der  neuen 
Theorie  von  der  Beziehung  der  Inkrete  zur  Inner- 
vation eine  festere  Basis  verschafft.  Im  Nach- 
stehenden folge  ich  den  Ausführungen  Abder- 
haldens, der  die  Methode  und  die  Ergebnisse 
der  Loe wischen  Versuche  der  besseren  Ver- 
ständlichkeit halber  in  vereinfachter  Form  dar- 
stellt. Loewi  beobachtete,  daß  die  Herzflüssig- 
keit (Ring ersehe  Lösung)  eines  von  Reizen  un- 
beeinflußten Herzens  auf  ein  ebensolches  ohne 
Einfluß  bleibt.  Reizte  Loewi  dagegen  den  Nervus 
parasympathicus,  wobei  eine  Verlangsamung  der 
Herzschlagfolge  eintritt,  so  konnte  er  nach  Über- 
tragung des  Herzinhaltes  feststellen,  daß  auch  das 
von  Reizen  unbeeinflußte  Herz  langsamer  schlägt, 
also  ebenso  reagiert  wie  das  Herz,  dem  die  Flüssig- 
keit entnommen  wurde.  Der  Inhalt  eines  Heraens, 
das  unter  dem  Einfluß  des  Nervus  sympathicus 
steht,  auf  ein  unbeeinflußtes  Herz  übertragen,  be- 
wirkt raschere  Schlagfolge  und  stärkere  Zusammen- 
ziehungen. Es  scheint  also  durch  die  Reizung 
der  erwähnten  Nerven  eine  Inkretbildung  verur- 
sacht zu  werden.  Die  Inkrete  bewirken  dann  erst 
Hemmung  oder  Steigerung  der  Herztätigkeit. 

Wie  aus  einer  Mitteilung ')  von  Loewi  selbst 
hervorgeht,  entstehen  die  Inkrete  nicht  etwa  i  n  - 
folge  der  gehemmten  oder  gesteigerten  Tätigkeit 
des  Herzens,  sondern  „unmittelbar  unter  dem  Ein- 
fluß der  Nervreizung  vor  aller  Tätigkeitsänderung 
des  Herzmuskels".  Die  entstehenden  chemischen 
Stoffe  bezeichnet  Loewi  als  „lokal  gebildete  und 
wirksame  Hormone".  Nach  allen  Befunden  scheint 
also  der  Herzmuskel  mit  den  endokrinen  Organen 
auf  einer  Stufe  zu  stehen.  Schließlich  weisen  auch 
die  neuen  Ergebnisse  auf  einen  nahen  Zusammen- 
hang zwischen  Nervensystem  und  Inkretion  hin. 
Gustav  Zeuner. 


Kirchner,    O.    v. ,     Di 

ihre      Erkennung      und      Bekämpfung. 

4.  Auflage.     44  Seiten.     Mit  über  loo  farbigen 

Abbildungen  auf  2  Tafeln    und  21   Textfiguren. 

Stuttgart  1921,  Verlag  E.  Ulmer. 
Das  treffliche  Büchlein  ist  für  weitere  Kreise 
bestimmt  und  dürfte  sich  in  der  Hand  von  Obst- 
züchtern und  Gartenfreunden  als  treuer  Ratgeber 
bewähren,  indem  es  nicht  allein  zuverlässige  Aus- 
kunft über  die  vielen  tierischen  und  pflanzlichen 
Schädlinge  gibt,  die  den  Obstbau  bedrohen,  son- 
dern auch  gleich  den  richtigen  Weg  zeigt,  wie 
den  Schädlingen  erfolgreich  zu  begegnen  ist.    Die 


Bücherbesprechungen. 

Obstbaum  feinde,  Benutzung  gestaltet  sich  dem  Zweck  entsprechend 
so  einfach  wie  möglich.  Ein  langwieriges  Be- 
stimmen oder  Vergleichen  mit  mehr  oder  minder 
passenden  Beschreibungen,  Dinge,  die  erfahrungs- 
mäßig dem  Anfänger  immer  viel  Schwierigkeiten 
bereiten,  sind  unnötig,  weil  wohl  in  fast  allen 
Fällen  schon  ein  Blick  auf  die  bunten,  im  allge- 
meinen trefflich  gelungenen  farbigen  Bilder  ge- 
nügen wird,  um  festzustellen,  welcher  Feind  ge- 
rade in  Frage  kommt.  Nähere  Angaben  und 
namentlich  die  Vorschriften  zur  Bekämpfung  sind 
dann  leicht  im  Text  zu  finden.  Letzterer  ist 
sachgemäß    durchgearbeitet    und    in    der    neuen 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  8 


Apf  läge  dem  Stande  der  Wissenschaft  entsprechend. 
Den  praktischen  Bedürfnissen  kommt  ein  beson- 
deres Kapitel  entgegen,  in  dem  die  verschiedenen 
Maßnahmen  zur  Bekämpfung,  wie  Leimringe, 
Fanggürtel  und  deren  Anwendung,  sowie  die 
Herstellung  und  Benutzung  der  wichtigsten  pilz- 
tötenden und  insektentötenden  IVIittel  geschildert 
werden.  Eine  Anzahl  der  bewährtesten  als  Be- 
zugsquellen in  Betracht  kommenden  Firmen  ist 
genannt,  ebenso  sind  auch  die  wichtigsten  Gerät- 
schaften und  Apparate  abgebildet  worden.  Für 
eine  etwaige  Neuauflage  möchten  wir  empfehlen, 
den  Apfelsauger  (Psylla  mali),  der  in  manchen 
Jahren  sich  als  ungemein  lästig  erweist,  möglichst 
auch  mit  Larve  bildlich  darzustellen.  Es  könnte 
dafür  die  in  Fig.  30  gegebene  und  nicht  beson- 
ders gelungene  Abbildung  des  Birnsaugers  aus- 
gemerzt werden.  R.  Heymons. 

Dannemann,  Friedrich,  Plinius  und  seine 
Naturgeschichte  in  ihrer  Bedeutung 
für  die  Gegenwart  (Klassiker  der  Natur- 
wissenschaften und  der  Technik,  herausgegeben 
von  Fr.  Strunz).  250  S.  Jena  1921,  Eugen 
Diederichs.  Preis  brosch.  30  M.,  geb.  40  M. 
Bei  dem  erfreulicherweise  immer  mehr  er- 
starkenden Interesse  für  die  Geschichte  der  Natur- 
wissenschaften ist  es  sehr  begrüßenswert,  daß 
sich  Dannemann  entschloß,  die  berühmte 
„Naturgeschichte"  (Naturalis  historia)  des 
Römers  Plinius,  die  das  ganze  IMittelalter  hin- 
durch das  höchste  Ansehen  genoß,  auszugsweise 
in  guter  deutscher  Übersetzung  herauszugeben. 
Die  bereits  vorhandenen  Übersetzungen  sind  z.  T. 
recht  schwerfällig  und  oft  auch  nicht  leicht  zu- 
gänglich. Außerdem  sind  sie  für  den,  der  nicht 
iVIuße  hat,  sich  eingehender  mit  Plinius  zu  be- 
fassen, zu  umfangreich,  da  sie  den  ganzen  Text 
enthalten.  Dannemann  hat  sich  bemüht  aus 
den  37  Büchern  des  Plinius  das  auszuwählen, 
„was  heute  noch  in  hohem  Grade  fesselnd  und 
von  Wert  ist  und  daher  die  Beachtung  der  ge- 
bildeten Kreise  im  weitesten  Sinn  des  Wortes 
verdient".  Im  großen  und  ganzen  dürfte  ihm 
diese  Auswahl  gelungen  sein.  Sehr  wünschens- 
wert wäre  es  aber  gewesen,  wenn  der  Heraus- 
geber bei  seinen  Auszügen  die  betr.  Pliniusstelle 
angegeben  hätte,  was  doch  leicht  durch  Rand- 
noten hätte  gemacht  .werden  können.  Die  Ein- 
leitung bringt  einen  kurzen  Überblick  über  die 
antike  Naturwissenschaft  und  einiges  über  das 
Leben  und  die  Quellen  des  Plinius.  Wer  sich, 
ohne  zeitraubende  Studien  machen  zu  können, 
über  die  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  des 
klassischen  Altertums  unterrichten    will,    dem  sei 


das  Buch  bestens  empfohlen.  Die  Ausstattung 
ist,  wie  beim  Diederichsschen  Verlag  nicht 
anders  zu  erwarten,  recht  gut.  Marzell. 


Müller,  Dr.  Max,  Anfangsgründe  der  Che- 
mie.     Ein    Leitfaden     für    Haushaltungs-    und 
Gewerbeseminare,    höhere  Mädchen-    und  Fort- 
bildungsschulen,   Chemieschulen    und    ähnliche 
Anstalten.  Zweite  durchgesehene  und  vermehrte 
Auflage.     IV   und    273    Seiten    mit  41    Abbil- 
dungen   im    Text.      Berlin    192 1,    Verlag    von 
Julius  Springer.     Preis  geh.  20  M. 
Ein  ganz  elementar  gehaltenes,  recht  geschickt 
abgefaßtes,  nur  auf  das  Praktische  gerichtetes,  die 
wissenschaftliche    Seite    der    Chemie    absichtlich 
ganz  unberücksichtigt  lassendes,    mit    vielen  lehr- 
reichen Abbildungen  ausgestattetes  Büchlein.   Der 
vom  Verf.  ins  Auge  gefaßte   Leserkreis,   für   den 
das  Buch  in  seiner  ganzen  Anlage  zweifellos  recht 
geeignet   ist   —   in  gut  geleiteten  Chemieschulen 
wird    man    an    die  Schülerinnen    allerdings    auch 
einige    Anforderungen     in    theoretischer    Chemie 
stellen  —  geht  aus  dem  Untertitel  mit  genügen- 
der Deutlichkeit  hervor. 

Die    Ausstattung    ist    einfach,    aber   durchaus 
ausreichend,  der  Preis  ist  als  niedrig  zu  bezeichnen. 
Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 

Kossei,  Dr.  W. ,  Valenzkräfte  und  Rönt- 
genspektren. Mit  II  Abb.  Berlin  192 1, 
Julius  Springer.  12  M. 
Zwei  gut  stilisierte  Aufsätze  des  bekannten 
Physikers  über  das  Elektronengebäude  des  Atoms 
in  der  heute  herrschenden  Vorstellung.  Einige 
Sachkenntnis  vorausgesetzt,  ist  die  Schrift  eine 
sehr  gute  Zusammenfassung  und  Diskussion  aller 
neueren ,  selbst  neuesten  experimentellen  und 
spekulativen  Ergebnisse.  Die  Einwände  gegen 
die  geschilderte  Vorstellung  des  Atomgebäudes 
treten  bei  der  ausgesprochenen  Stellung  des  Verf.s 
naturgemäß  zurück.  Zur  Ergänzung  in  dieser 
Beziehung  sei  auf  die  Arbeit  von  J.  Starck  im 
Jahrbuch  der  Radioaktivität  17,  Heft  2,  1920  ver- 
wiesen. —  S.  48  ist  der  Wert  für  E„  versehent- 
lich negativ  gesetzt.  H.  H. 


Literatur. 

Abbandlungen  und  Vorträge  aus  dem  Gebiet  der  Mathe- 
matik, Naturwissenschaft  und  Technik.  Heftö:  Hochmuth, 
Dr.  Kurt,  Der  Kreiselkompaß.  Leipzig- Berlin  '21,  B.  G. 
Teubner.      12  M. 

Lebensvoller  Unterricht.  Band  8:  Walt  her,  Prof. 
Ernst,  Tierkunde.     Leipzig   '21,  Dürrsche  Buchhandlung. 

Kraepelin,  K.,  Einführung  in  die  Biologie.  Grofle 
Ausgabe.     Leipzig-Berlin,  B.  G.  Teubner.     Geb.  35  M. 


Inhalt:  H.  K.  Becker,  Reste  eines  alten  Höhlenflusses.  S.  105.  K.  Goebel,  Helmut  Bruchmann.  S.  108.  —  Einzel- 
berichte:  J.  L.  Lichtenstein,  Über  die  eigentümliche  Nahrungsgewinnung  einer  Schlupfwespe  (Habrocytus  cionicita). 
(I  Abb.)  S.  iio.  Abderhalden,  Innervation  und  Inkretbildung.  S.  III.  —  Bücberbesprechungen:  O.  v.  Kirch- 
ner, Die  Obstbaumfeinde,  ihre  Erkennung  und  Bekämpfung.  S.  Iil.  Fr.  Dannemann,  Plinius  und  seine  Natur- 
geschichte in  ihrer  Bedeutung  für  die  (Jegenwart.  S.  112.  M.  Müller,  Anfangsgründe  der  Chemie.  S.  112.  W. 
Kos  sei,  Valenzkräfte  und  Röntgenspektren.  S.   112.  —  Literatur:  Liste.  S.   112. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  26.  Februar  1922. 


Nummer  9. 


tNachdruck  verboten.] 

Auf  zahllosen  Wegen  arbeitet  sich  die  F"orschung 
an  die  Rätsel  des  Lebens  heran;  je  näher  dem 
Ziele,  um  so  schwerer  gangbar  werden  die  Wege ; 
bisher  enden  sie  alle  vor  unüberwindlichen  Hinder- 
nissen. Daher  wird  immer  wieder  Ausschau  ge- 
halten nach  neuen  Wegen,  neuen  Methoden,  die 
neue  Fortschritte  versprechen. 

Als  man  zuerst  im  Mikroskop  in  viel  hundert- 
facher Größe  die  lebendige  Substanz  unmittelbar 
vor  Augen  sah  und  endlich  erkannte,  an  welchen 
Teil  der  Lebenseinheit,  der  Zelle,  das  Leben  selbst 
wirklich  und  wesentlich  gebunden  ist,  da  mochte 
begeisterte  Hoffnung  entstehen,  nunmehr  die 
letzten  Geheimnisse  zu  ergründen;  es  galt  ja  nur 
noch  die  Eigenschaften  des  Lebenssubstrates  zu 
erforschen  und  zu  analysieren.  Doch  vor  diesem 
neuen,  scheinbar  so  nahen  Ziele  türmten  und 
türmen  sich  gewaltig  immer  neue  Hindernisse. 
Das  Mikroskop  gestattete  in  stetig  gesteigerter 
Vollkommenheit  das  Studium  der  Morphologie 
der  lebenden  Substanz;  einen  wie  reichen  Inhalt 
aber  auch  allmählich  der  morphologische  Begriff 
des  Protoplasmas  gewann,  es  waren  damit  kaum 
Lösungen  irgendwelcher  nach  dem  Wesen  der 
Lebenserscheinungen  gerichteter  Fragen  gewonnen. 
Auch  die  Chemie  —  selbst  in  der  ungeahnten 
Verfeinerung  ihrer  Methodik  als  Mikrochemie  — 
kann  wohl  das  Leben  nicht  restlos  erfassen ;  sie 
arbeitet  meist  nur  mit  tödlich  wirkenden  Mitteln; 
aber  im  Tode  verrät  die  Zelle  nur  wenig  von 
den  Vorgängen  und  Kräften,  die  ihrem  Wesen 
eigen  waren,  eben  dem  Leben,  das  sie  verlor. 

Wesentlich  mildere,  wenn  auch  immer  noch 
rohe  Methoden  stehen  der  physikalischen 
Chemie  zu  Gebote;  diese  völlig  neuartige,  ge- 
waltig aufstrebende  Wissenschaft  ist  wohl  berufen, 
auch  das  direkte  Studium  der  lebendigen  Substanz 
ganz  wesentlich  zu  fördern. 

Schon  der  Entdecker  der  lebenden  Substanz 
der  Pflanzenzelle,  derjenige  der  zuerst  in  völliger 
Klarheit  ihre  wahre  Bedeutung  erkannte,  der 
Schöpfer  des  Protoplasmabegriffes  Hugo  von 
Mo  hl  hat  in  der  ersten  Beschreibung  dieser  ge- 
heimnisreichen Materie  (1846)  eine  physikalische 
Eigenschaft  derselben  als  besonders  charakteristisch 
hervorgehoben :  er  nennt  sie  eine  „zähflüssige 
Masse",  eine  „zähe  Flüssigkeit".  Die  relativ  hohe 
Zähigkeit  oder  Viskosität  ist  also  das- 
jenige Merkmal  des  Protoplasmas,  das  zunächst 
Erwähnung  fand.  Das  Studium  dieser  Eigenschaft, 
lange  Zeit  hindurch  vernachlässigt,  ist  erst  in  den 
letzten  Jahren  zu  erhöhter  Bedeutung  gelangt. 

Wir   wollen    sehen,    welche    Methoden    dieses 


Die  Viskosität  des  Protoplasmas. 

Von  Dr.  Friedl  Weber,  Graz. 


Studium  ermöglichen  und  welche  Ergebnisse  hier- 
mit bisher  erzielt  worden  sind. 

Die  Viskosität  oder  innere  Reibung 
einer  F"lüssigkeit  ist  der  Widerstand,  der  sich  der 
Bewegung  ihrer  Teile  gegeneinander  entgegen- 
setzt. Ihre  Messung  ist  bei  Flüssigkeiten  im  all- 
gemeinen nicht  schwierig.  Die  einfachste  und 
gebräuchlichste  Methode  ist  die  Auslauf- 
methode. Sie  beruht  darauf,  daß  die  Ausfluß- 
menge einer  in  bestimmter  Zeit  aus  einer  Kapillar- 
röhre ausströmenden  Flüssigkeit  abhängig  ist  von 
der  Viskosität  der  Flüssigkeit.  Die  Messung  wird 
so  vorgenommen,  daß  man  eine  bestimmte  Menge 
Flüssigkeit  durch  eine  Glaskapillare  „das  Viskosi- 
meter"  strömen  läßt  und  die  Durchfließzeit  bzw. 
Auslaufzeit  bestimmt.  Durch  ein  derartiges  Vis- 
kosimeter  läßt  sich  aber  das  lebende  Protoplasma 
nicht  pressen.  Allerdings  finden  sich  auch  in  der 
Natur  Verhältnisse  realisiert,  unter  denen  lebendes 
Protoplasma  in  analoger  Weise  durch  Kapillaren 
strömt,  wie  eine  Flüssigkeit  in  einem  Viskosi- 
meter.  Es  sind  dies  die  zarten  Strenge  der  Plas- 
modien der  Myxomyceten,  die  in  wechselndem 
Rhythmus  vom  Endoplasma  durchflössen  werden. 
Wäre  der  Druck  oder  die  Kraft  bekannt,  welche 
diesen  Strom  in  dauender  Bewegung  hält,  so  ließe 
sich  wohl  in  diesem  Falle  nach  dem  Poiseuil le- 
schen Gesetz  die  Viskosität  des  Protoplasmas  be- 
rechnen. Dies  ist  aber  derzeit  nicht  der  Fall,  und 
so  ist  es  heute  nicht  möglich,  mit  Hilfe  der  Aus- 
laufmethode die  Viskosität  des  Protoplasmas  zu 
ermitteln. 

Die  beschriebene  Auslaufmethode  wird  in  der 
physikalischen  Chemie  verwendet  zur  Viskositäts- 
messung leicht  beweglicher  Flüssigkeiten;  soll  die 
innere  Reibung  zähflüssiger  Lösungen  gemessen 
werden,  so  leistet  eine  andere  die  sog.  Fall- 
m  et  ho  de  bessere  Dienste  (vgl.  neuestens  Gibson 
1920). 

Diese  Methode  beruht  darauf,  daß  die  Sink- 
geschwindigkeit von  Kugeln,  die  in  einer  Flüssig- 
keit unter  dem  Einflüsse  der  Schwerkraft  fallen, 
abhängig  ist  von  der  Zähigkeit  der  Flüssigkeit. 
Die  Messung  der  Zähigkeit  nach  diesem  Prinzipe 
ist  höchst  einfach.  Man  füllt  einen  Glaszylinder 
mit  der  Flüssigkeit,  läßt  darin  eine  Glaskugel 
sinken  und  mißt  die  Zeit,  die  sie  braucht,  um 
eine  bestimmte  von  zwei  Marken  begrenzte  Strecke 
zu  durchfallen.  Will  man  die  Messung,  um  Mittel- 
werte zu  erhalten,  wiederholen,  so  braucht  der 
Glaszylinder  nur  um   180"  gedreht  zu  werden. 

Bestimmte  Pflanzenzellen  stellen  nun  selbst 
nach   obigem  Prinzipe   gebaute  Viskosimeter  dar. 


114 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  9 


Es  ist  das  Verdienst  Heilbronns  (1912,  1914), 
dies  erkannt  und  damit  als  erster  das  aktuelle 
Interesse  auf  die  Viskositätsverhältnisse  des  Proto- 
plasmas gelenkt  zu  haben. 

Die  Zellwand  entspricht  der  Wand  des  Glas- 
zylinders; sie  schließt  die  Flüssigkeit:  das  Proto- 
plasma ein  und  in  dieser  eingebettet  liegen  die 
zur  Fallzeitmessung  benötigten  „Kugeln",  nämlich 
bewegliche  Stärkekörner.  Wie  bekannt,  haben 
Haberlandt  und  Nemec  gezeigt,  daß  manche 
Zellen,  z.  B.  die  Stärkescheidenzellen  der  Stengel 
höherer  Pflanzen  mit  beweglichen  Stärkekörnern 
ausgestattet  sind,  die  dem  Zuge  der  Schwerkraft 
folgend  sich  stets  an  die  physikalisch  untere  Zell- 
wand anlegen.  Dreht  man  einen  derartigen  Stengel 
um  180",  so  wandern  die  Stärkekörner  der  gegen- 
überliegenden nunmehr  unteren  Wand  zu  und 
treffen  dort  nach  bestimmter  „Wanderzeit"  ein, 
wie  sich  an  nachher  angefertigten  Schnitten  ohne 
weiteres  mikroskopisch  feststellen  läßt.  Heil- 
bronn  hat  nun  gefunden,  daß  bei  geeigneten 
Versuchspflanzen  (Stengel  von  Phascolus  vidgaris) 
das  Sinken  der  Stärkekörner  an  Schnitten  direkt 
in  der  lebenden  Zelle  verfolgt  werden  kann.  Die 
Schnitte  kommen  zu  diesem  Behufe  in  einem 
Tropfen  Wasser  auf  dem  Objektträger  auf  das 
horizontal  umgelegte  Mikroskop ;  um  die  Drehung 
um  180"  durchzuführen  wird  entweder  der  Objekt- 
tisch gedreht  oder  das  ganze  Mikroskop  an  einer 
Drehscheibe.  Um  die  Fallzeit  der  Stärkekörner 
stets  längs  der  gleichen  Wegstrecke  zu  messen, 
schaltet  man  in  das  Okular  ein  Mikrometer  ein 
und  wählt  die  Entfernung  zweier  beliebiger  Teil- 
striche als  Fallhöhe. 

Nach  dem  gleichen  Prinzipe  läßt  sich  auch 
die  Viskosität  des  Zellsaftes  lebender  Pflanzen- 
zellen messen  (Weber  1921).  Man  beobachtet 
auch  hier  das  Sinken  spezifisch  schwererer 
Körperchen,  z.  B.  von  Calciumoxalatkristallen,  die 
sich  nicht  selten  im  zentralen  Zellsaftraum  vor- 
finden.    (Vgl.  auch  Prankerd    1920.) 

Auch  in  tierischen  Zellen  gibt  es  bisweilen 
spezifisch  schwerere  Inhaltskörper,  die  unter  dem 
Einflüsse  der  Schwerkraft  innerhalb  des  Cyto- 
plasmas  absinken.  Froscheier,überhaupt  Amphibien- 
eier besitzen  eine  weiße  und  eine  dunkle  Hemisphäre. 
Der  weiße  Pol,  der  vegetative,  ist  dotterreich  und 
stets  nach  unten  gekehrt,  da  die  weißen  Dotter- 
plättchen  ein  größeres  spezifisches  Gewicht  be- 
sitzen als  das  leichtere  Eiprotoplasma.  In  den 
noch  unreifen  Hierstockseiern  finden  sich  die 
Dotterkörperchen,  obwohl  sie  schon  schwerer  sind 
als  das  Cytoplasma  noch  nicht  nach  der  physika- 
lisch unteren  Eihälfte  verlagert;  erst  in  einem 
späteren  Entwicklungsstadium  des  Eies  sinkt  der 
weiße  Dotter  im  Eiinnern  nach  unten.  Es  muß 
sich  also  wohl  —  was  gewiß  von  Interesse  ist  • — 
in  diesem  Entwicklungsstadium  der  Widerstand, 
der  sich  der  Sinkbewegung  entgegensetzt,  das  ist 
eben  die  Zähigkeit  des  Cytoplasmas,  verringert 
haben.  Aber  noch  vor  diesem  Stadium  der 
Viskositätsverringerung    lassen    sich    die    Dotter- 


plättchen  verlagern,  wenn  man  sie  nicht  dem 
schwachen  Zuge  der  Schwerkraft  überläßt,  sondern 
bei  raschem  Zentrifugieren  hohen  Schleuderkräften 
aussetzt.  Dann  wird  auch  bei  höherer  Plasma- 
viskosität, die  unter  natürlichen  Verhältnissen  ein 
Absinken  der  Inhaltsbestandteile  nicht  mehr  ge- 
stattet, eine  Umlagerung  erzwungen  werden. 

Diese  Zentrifugierungsmethode  mit 
ihren  abstufbaren  Kräften  ist  daher  ein  ganz  vor- 
zügliches Mittel,  um  Viskositätsänderungen  des 
lebenden  Protoplasmas  auf  die  Spur  zu  kommen. 
Aus  den  von  verschiedensten  Gesichtspunkten  aus 
schon  lange  ausgeführten  Zentrifugierungsversuchen 
lassen  sich  daher  auch  manche  Schlüsse  auf  die 
innere  Reibung  des  Cytoplasmas  ziehen.  Doch 
erst  Heilbrunn  in  Amerika  hat  die  Zentri- 
fugierungsmethode zu  diesem  Zwecke  eigens  an- 
gewendet (191 3  und  später)  und  zwar  an  tierischen 
Eiern.  Ebenso  verspricht  diese  Methode  mit 
Pflanzenzellen  Erfolge,  wie  aus  früheren  Versuchen 
von  Szücs  191 3  und  neuen  von  Weber  192 1 
mit  Spirogyren  hervorgeht. 

Auch  auf  andere  Weise  nicht  nur  durch 
Schwer-  und  Zentrifugalkraft  lassen  sich  im  Cyto- 
plasma eingebettete  Körper  vor  allem  der  Zell- 
kern zur  Verlagerung  bringen.  Es  hat  jüngst 
Meier  (1921)  erwiesen,  daß  beim  Hindurchsenden 
eines  elektrischen  Stromes  durch  Wurzelspitzen 
(von  Pisnm  sativiiiii)  eine  Verlagerung  des  Zell- 
inhaltes und  zwar  im  wesentlichen  ein  Wandern 
nach  der  -\-  Elektrode  erfolgt.  Dieses  Wandern 
geschieht  nach  dem  Prinzipe  der  Kataphorese. 
Taucht  man  Elektroden  in  eine  Suspension  und 
schaltet  einen  Strom  ein,  so  wandern  die  suspen- 
dierten Teilchen  nach  einer  der  Elektroden.  Diese 
Bewegung,  Überführung  der  Teilchen  unter  der 
Einwirkung  des  elektrischen  Stromes  heißt  Kata- 
phorese. Auch  lebende  Einzelzellen  wie  Blut- 
körperchen, Hefe,  Bakterien  lassen  sich  elektrisch 
transportieren.  Dagegen  war  bisher  kaum  etwas 
bekannt,  ob  auch  innerhalb  der  von  der  Membran 
umschlossenen  Pflanzenzelle  eine  kataphoretische 
Wanderung  einzelner  Bestandteile  und  Organe  des 
lebenden  Inhaltes  vor  sich  zu  gehen  vermag.  Die 
Geschwindigkeit  der  elektrischen  Überführung  ist 
nun  begreiflicherweise  abhängig  vom  Widerstände 
der  sich  ihr  entgegensetzt,  d.  i.  von  der  inneren 
Reibung  des  Suspensionsmittels.   Es  gilt  die  Formel 

V  =    vt f  wo  V  die  Geschwindigkeit  der  kata- 

phoretisch  bewegten  Teilchen,  H  das  Potential- 
gefälle, D  die  Dielektrizitätskonstante  der  Flüssig- 
keit, e  der  Potentialsprung  zwischen  dem  suspen- 
dierten Teilchen  und  der  Flüssigkeit  und  //  die 
Viskositätskonstante  bedeutet.  Wird  letzterer  Wert 
allzu  groß,  so  muß  natürlich  die  kataphoretische 
Fortführung  schließlich  ganz  unterbleiben.  Daher 
schließt  auch  Meier  (1921)  aus  dem  Unterbleiben 
der  kataphoretischen  Umlagerung  des  Kerns  in 
den  Zellen  bestimmter  Regionen  der  Wurzelspitze, 
daß  in  diesen  die  Suspensionsflüssigkeit,  das  ist 
eben    das    Cytoplasma,    eine    starke    Viskositäts- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


"5 


erhöhung  erfahren  habe,  aus  dem  Sol-  in  den 
Gelzustand  übergegangen  sei.  Es  ist  anzunehmen, 
daß  auch  diese  Kataphoresemethode  sich 
in  Zukunft  zu  quantitativer  Viskositätsbestimmung 
als  brauchbar  erweisen  wird. 

Doch  damit  sind  die  Möglichkeiten  der  Me- 
thoden, welche  am  lebenden  Cytoplasma  den 
Zähigkeitsgrad  und  seine  Änderungen  zu  erkennen 
gestatten,  noch  nicht  erschöpft.  In  vielen  tieri- 
schen und  pflanzlichen  Protoplasten  lassen  sich 
mit  starker  oder  stärkster  Vergrößerung,  beson- 
ders schön  aber  bei  Dunkelfeldbeleuchtung  im 
Ultramikroskop,  kleinste  Körnchen  oder  tröpfchen- 
artige Körperchen  unterscheiden.  Sie  mögen 
ohne  Rücksicht  auf  ihre  mannigfache  chemische 
Natur  und  physiologische  Wertigkeit  mit  dem 
Sammelnamen  „Mikrosomen"  bezeichnet  werden. 
Diese  Mikrosomen  sind  nun  nicht  selten  auch  im 
an  und  für  sich  ruhigen,  keinerlei  Strömungen 
aufweisenden  Cytoplasma  keineswegs  regungs- 
und  bewegungslos.  In  nie  endender  Unrast,  in 
endlosem  Tanze  führen  sie  ruckweise  zitternde 
Bewegungen  aus.  Diese  Zitterbewegung  vom 
englischen  Botaniker  Brown  zuerst  beobachtet, 
wird  als  Brown  sehe  Molekularbewegung  be- 
zeichnet, weil  man  annimmt,  die  Mikrosomen 
werden  durch  die  in  ewigen  Schwingungen  be- 
findlichen Flüssigkeitsmoleküle,  die  an  sie  stoßen, 
zu  diesem  rastlosen  Tanze  getrieben.  Man  hat 
es  dabei  keineswegs  mit  einer  der  lebenden  Sub- 
stanz spezifischen  Eigentümlichkeit  zu  tun;  in 
jeder  auch  leblosen  Flüssigkeit  tanzen  kleinste 
suspendierte  Körperchen,  die  eine  Größe  von 
wenigen  //  nicht  übersteigen,  diesen  ewigen  Tanz; 
aber  nur  solange  die  Flüssigkeit  den  Charakter 
ihres  Aggregatzustandes  typisch  bewahrt,  ihre 
Fluidität  nicht  allzu  geringen,  ihre  Zähigkeit  nicht 
allzu  großen  Wert  erreicht.  Die  Intensität 
der  Brownschen  Molekularbewegung  ist  näm- 
lich abhängig  vom  Viskositätsgrade  der  Flüssig- 
keit. Die  Beziehung  der  mittleren  Geschwindig- 
keit (Weglänge,  Amplitude)  A  zu  der  Viskosität  /; 
der  Flüssigkeit  ist  ausgedrückt  durch  die  Glei- 
chung: A  ■  jj  =  konstant.  Die  Weglänge  in  der 
Zeiteinheit  ist  also  umgekehrt  proportional  der 
Viskosität.  Die  genaue  Bestimmung  der  Ampli- 
tude der  B.  M.  B.  erfordert  eine  komplizierte 
Apparatur;  an  der  lebenden  Substanz  sind  solche 
Messungen  noch  nicht  angestellt  und  eine  quanti- 
tative Ermittlung  von  Viskositätsänderungen  ist 
auf  diesem  Wege  bisher  nicht  durchgeführt  wor- 
den; doch  führt  schon  die  gewissermaßen  quali- 
tative Prüfung,  ob  unter  bestimmten  Verhältnissen 
die  Mikrosomen  im  Cytoplasma  in  B.  M.  B.  sich 
hefinden  oder  nicht  zu  interessanten  Aufschlüssen  : 
Erweisen  sie  sich  in  Bewegung,  so  läßt  dies  er- 
kennen, das  Protoplasma  befindet  sich  in  einem 
dem  Solzustande  der  Kolloide  entsprechendem 
Stadium;  zeigen  sie  sich  aber  unbeweglich,  so  ist 
das  Protoplasma  in  den  Gelzustand  übergegangen. 

Mit  Hilfe  dieser  Methode  der  Brown- 
schen Molekularbewegung  konnte  sich 
Bayliss  (1920)  an  Amöben  von  der  reversiblen 


Gelbildung  des  lebenden  Protoplasmas  überzeugen ; 
die  Beobachtung  der  B.  M.  B.  geschah  bei  Dunkel- 
feldbeleuchtung mit  Hilfe  eines  Paraboloidkonden- 
sors,  nachdem  ein  Modellversuch  von  der  Zulässig- 
keit  des  Verfahrens  überzeugte :  Ein  Stück  Gummi- 
gutt  wird  in  einem  Tropfen  5  proz.  Gelatinelösung 
auf  einem  erwärmten  Objektträger  verrieben;  so- 
fort unter  dem  Mikroskope  untersucht  zeigen  die 
Partikel  lebhafte  B.  M.  B.  Kühlt  aber  der  Objekt- 
träger aus,  beginnt  die  Lösung  zu  einer  Gallerte 
zu  erstarren,  so  werden  die  Bewegungen  der 
Teilchen  träge  und  träger  und  hören  schließlich 
auf.  Bei  neuerlichem  Erwärmen  erscheint  die 
Bewegung  wieder.  Auch  andere  Autoren  haben 
sich  der  B.  M.  B. ,  dieses  Kriteriums  des  flüssigen 
Aggregatzustandes  zur  Beurteilung  des  Plasma- 
viskositätsgrades bedient,  so  u.  a.  Chifflot  et 
Gautier  1905,  Russo  1910,  Leblond  1919, 
Seifriz  1920. 

Ein  weiterer  neuer  Weg,  auf  dem  die  For- 
schung die  Viskositätsverhältnisse  der  lebenden 
Substanz  aufzuklären  strebt,  ist  die  Methode 
der  Mikrodissektion. 

Die  Mikrodissektion,  auch  Mikrovivisektion 
genannt,  das  Operieren,  Sezieren,  Zerschneiden 
unter  dem  Mikroskop  an  der  makroskopisch  un- 
sichtbaren Einzelzelle  ist  eine  in  Amerika  zu  er- 
staunlicher Vollkommenheit  ausgebildete  Methodik. 
An  und  für  sich  mit  den  gewaltsamen,  rohen 
Mitteln  des  Operateurs  arbeitend,  gelingt  es  durch 
eine  wunderbare  Verfeinerung  der  Instrumente 
der  geübten  Hand  an  Mikroorganismen  operative 
Eingrifi'e  zu  vollführen,  die  man  bei  der  Winzig- 
keit, der  Empfindlichkeit,  ja  der  „Unfaßbarkeit" 
dieser  kleinsten  Individuen  kaum  für  möglich 
halten  sollte.  Die  in  der  Hand  amerikanischer 
Forscher  in  den  letzten  Jahren  zu  wahrer  Virtuo- 
sität ausgebildete  Methode  der  Mikrodissektion  ver- 
spricht Erfolge  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der 
physikalischen  Analyse  der  lebenden  Substanz. 
Zu  ihrer  modernen  Form  wurde  die  Methode  zu- 
erst von  K  i  t  e  ausgestaltet,  bald  darauf  von  seinem 
Schüler  Chambers  (191 7)  weiter  ausgearbeitet 
und  neuestens  auch  von  Seifriz  (1920)  mit 
Meisterschaft  und  Kritik  geübt. 

Das  Prinzip  der  Methode  ist  einfach.  Sie 
sucht  aus  dem  Verhalten  des  Protoplasmas  ins- 
besondere aus  Strömungserscheinungen  und  Form- 
veränderungen während  des  operativen  Eingriffes 
auf  den  Fluiditätszustand  der  lebenden  Substanz 
Schlüsse  zu  ziehen.  Das  Instrument  des  Mikro- 
dissektionisten  ist  meist  nicht  das  Messer,  sondern 
■  eine  Glasnadel;  diese  ist  so  fein,  daß  sie  an  ihrer 
Spitze  im  Durchmesser  weniger  als  i  Mikron 
(0,001  mm)  mißt;  zu  diesem  feinen  Ende  wird 
ein  Röhrchen  aus  Spezial- Jena -Glas  ausgezogen. 
Die  Nadel  ist  befestigt  an  einem  eigenen  Halter 
(Stativ),  der  Bewegungen  nach  3  facher  Richtung 
zuläßt.  Die  Zelle,  an  der  die  Operation  vorge- 
nommen werden  soll,  befindet  sich  in  einer 
feuchten  Kammer  [die  aber  an  einer  Seite  offen 
und  so  der  Nadel  zugänglich  sein  muß]  und  zwar 
in   einem   hängenden   Tropfen   an  der  Unterseite 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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des  Deckglases,  das  die  feuchte  Kammer  oben 
abschließt.  Die  Operationsnadel,  der  mittels  der 
Mikrometerschrauben  des  Stativs  minimalste  Be- 
wegungsimpulse in  gewünschter  Richtung  erteilt 
werden  können,  arbeitet  also  nicht  zwischen  Ob- 
jektiv und  Objektträger,  wobei  immer  nur  schwache 
Vergrößerungen  anwendbar  wären;  sie  arbeitet 
vielmehr  unterhalb  des  Deckglases,  das  hier  zu- 
gleich als  Objektträger  fungiert,  da  auf  dessen 
Unterseite  sich  das  Objekt  im  hängenden  Tropfen 
suspendiert  befindet.  Es  kann  daher  selbst  das 
stärkste  Immersionsobjektiv,  ohne  die  Bewegungs- 
freiheit der  Nadel  zu  behindern,  in  unmittelbarste 
Nähe  an  das  Objekt  heran. 

Einen  Begriff  von  der  Leistungsfähigkeit  der 
Methode  geben  die  Angaben  von  Kite,  der  be- 
reits 191 3  mit  seiner  Seziernadel  an  sich  teilen- 
den Zellen  einzelne  Chromosomen  herausschneiden 
konnte  und  ihre  Viskositätsverhältnisse  sowie  die- 
jenigen der  Spindelfasern  zu  prüfen  imstande  war. 

Man  könnte  glauben,  das  Protoplasma  erfährt 
unmittelbar  während  der  mechanischen  Eingriffe 
und  Verletzungen  weitgehende  Veränderungen; 
dies  würde  die  Brauchbarkeit  der  Methode  in 
Frage  stellen,  denn  eine  Ermittlung  des  Zustan- 
des,  wie  er  normalerweise  zu  Lebzeiten  besteht, 
ließe  sich  dann  damit  ja  überhaupt  nicht  durch- 
führen. In  der  Regel  treten  nun  aber  derartige 
irreführende  Veränderungen  noch  während  der 
operativen  Eingriffe  keineswegs  auf  und  bei  ge- 
nügender Vertrautheit  mit  den  Untersuchungs- 
objekten und  kritischer  Deutung  des  Geschehenen, 
lassen  sich  zuverlässige  Einblicke  in  die  normalen 
Verhältnisse  des  lebenden  Zelleibes  gewinnen 
(siehe  insb.  Seifriz  1.  c.).') 

Was  nun  dabei  die  Ermittlung  des  jeweiligen 
Viskositätsgrades  der  lebenden  Substanz  betrifft, 
so  begnügt  man  sich  neuestens  keineswegs  damit, 
zu  eruieren,  ob  das  Protoplasma  flüssig  oder  fest, 
schwach  oder  stark  viskos,  dünn-  oder  zähflüssig 
sei.  Es  hat  Seifriz  (1920)  vielmehr  eine  Viskosi- 
tätsskala mit  10  verschiedenen  Graden  aufgestellt; 
diese  Skala  wird  ähnlich  gute  Dienste  tun  wie 
die  allbekannte  Härteskala  der  Minerale.  Die 
„Standard"-Werte  lassen  sich  durch  verschieden- 
prozentige  Lösungen  gewöhnlicher  Gelatine  jeder- 
zeit leicht  herstellen.  Einige  Grade  dieser  Skala 
seien  angeführt: 


Viskosi- 
tätsgrad 

Bezeichnung 

»/o-Gehalt  der 
Gelatine 

Substanzen, 
die  einen    ent- 
sprechenden 
V.-G.  besitzen 

I 

wässerig 

0,0 

Wasser 

3 

flüssig 

0,2 

5 

ziemlich  viskos 

°.5 

Paraftinöl 

7 

sehr  viskos 

o,7 

Glyzerin 

9 

gelartig 

I 

Vaseline 

10 

starres  Gel 

2 

feste  Gelatine 

')  Eine  Kritik  dieser  Methode  gibt  Ileilbrunn   1921. 


Es  spricht  jedenfalls  sehr  für  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Dissektionsmethode ,  daß  es  mit 
ihrer  Hilfe  möglich  ist,  die  einzelnen  10  Grade 
voneinander  zu  unterscheiden.  Natürlich  vermag 
die  Methode  Aufschluß  zu  geben  über  physikali- 
sche Eigenschaften  auch  spezieller  Bestandteile 
und  Organe  des  lebenden  Zelleibes,  so  des  Zell- 
kerns, der  Piastiden,  der  Plasmamenbran  (über 
letztere  macht  insbesondere  Seifriz  1921  be- 
achtenswerte Angaben). 

Schließlich  sei  noch  einer  Methode  gedacht, 
die  an  Genialität  keiner  anderen  nachsteht.  Leider 
ist  bisher  nur  eine  vorläufige  Mitteilung  darüber 
erschienen,  Heilbronn  hat  1918  kurz  davon 
berichtet.  In  der  Wahl  des  Untersuchungsobjektes 
ist  hier  eine  Beschränkung  nötig;  es  lassen  sich 
nämlich  nur  Protoplasten  verwenden,  welche  nackt, 
d.  h.  von  keiner  dauernd  verfestigten  Membran 
umschlossen  sind  und  daher  auch  ungelöste  Par- 
tikel in  sich  aufzunehmen  vermögen.  Daraus  geht 
schon  hervor,  daß  das  geeignete  Objekt  die  Plas- 
modien der  Schleimpilze  abgeben.  Diesen  nackten 
Protoplasmamassen  werden  mikroskopisch  kleine 
Eisenstäbchen  zur  Aufnahme  dargeboten.  Sobald 
diese  von  der  lebenden  Substanz  umflossen  sind, 
wird  das  einzelne  Eisenstäbchen  mittels  eines 
Elektromagneten  um  90"  gedreht,  bzw.  das  Eisen- 
teilchen vom  Magneten  in  seiner  Lage  fixiert, 
während  der  umschließende  Protoplast  mit  seiner 
Unterlage  eine  Drehung  erfährt.  Die  zur  Drehung 
des  Eisenstäbchens  resp.  zur  Verhinderung  der- 
selben aufgewendete  Stromstärke  an  einem  Gal- 
vanometer abgelesen,  gibt  ein  Maß  für  die  Größe 
der  Reibungswiderstände  (also  der  Viskosität), 
welche  das  Protoplasma  der  Bewegung  der  Eisen- 
teilchen entgegensetzt.  Auf  den  ausführlichen 
Bericht  über  diese  Galvanometermethode 
und  die  mit  ihr  erzielten  Ergebnisse  darf  man 
äußerst  gespannt  sein. 

Damit  schließen  wir  den  Bericht  über  die 
Methoden  der  Plasmaviskositätsmessung  und 
-Schätzung.  Fragen  wir  uns  nun,  was  wurde  bis- 
her mit  diesen  Methoden  geleistet;  inwieweit 
wurden  Aufschlüsse  über  die  Zähigkeitsverhältnisse 
und  -Veränderungen  der  lebenden  Substanz  ge- 
wonnen. Bei  der  Beurteilung  der  Ergebnisse 
dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  die  Forschung 
hier  an  einem  Anfange  steht.  Die  Methoden  sind 
alle  neu,  ja  meist  ganz  neu  und  nur  wenige  haben 
bisher  damit  gearbeitet.  Trotzdem  verspricht  der 
Anfang  viel. 

Hugo  von  Mo  hl  selbst ,  der  Schöpfer  des 
Protoplasmabegriffes,  war  wohl  auch  der  erste, 
der  Änderungen  der  Plasmaviskosität  beobachtet 
hat;  er  war  der  erste  Mikrodissektionist,  wenn 
auch  mit  noch  roher  Methodik.  In  der  so  oft 
zitierten  aber  so  selten  mehr  gelesenen  Schrift, 
„Über  die  Saftbewegung  im  Innern  der  Zellen" 
(1846)  beschreibt  er,  wie  das  Protoplasma  häufig 
in  rascher  strömender  Bewegung  anzutreffen  ist; 
dabei  muß  es  von  relativ  leichtflüssiger  wenig 
zäher  Beschaffenheit  sein ;  in  zarten  feinsten  Ström- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


117 


chen  fließt  es  mitten  durch  den  Zellsaftraum.  Je 
älter  aber  die  Zelle  wird,  um  so  mehr  scheint  die 
Substanz  der  Strömchen  zu  erhärten ,  ja  in  ge- 
wissen Fällen  werden  die  Strömchen  zu  festen 
F"äden.  Im  Fleische  der  Frucht  von  Rhanuius 
fraiignla  liegen  vereinzelt  auffallend  große  Zellen; 
in  ihrer  Mitte  ist  der  Zellkern  an  feinen  Plasma- 
fäden aufgehängt.  Werden  solche  Zellen ,  wenn 
sie  altern,  mit  einem  scharfen  Messer  quer  durch- 
schnitten, so  strömt  das  Protoplasma  dieser  Fäd- 
chen  keineswegs  aus  oder  kugelt  sich  ab,  wie  es 
dies  im  jugendlichen  leichtflüssigen  Zustande  ge- 
tan hätte;  die  Plasmafäden  haben  vielmehr  im 
Alter  eine  solche  Festigkeit  erlangt,  daß  sie 
auch  im  durchschnittenen  Zustande  steif  in  ihrer 
Lage  verbleiben. 

Damit  ist  eine  interessante  Tatsache  festgestellt: 
Die  lebende  Substanz  büßt  mit  dem  Alter  an 
Beweglichkeit  allmählich  ein;  es  verhält  sich  mit 
ihr,  sagt  de  Vries,  genau  so  wie  mit  unserem 
Körper,  der  auch  mit  jedem  Jahr  an  Beweglich- 
keit verliert.  Mit  dem  Alter  nimmt  die 
Viskosität  des  Protoplasmas  zu  so  wie 
auch  in  leblosen  Kolloiden  beim  „Altern"  Ände- 
rungen im  Grade  ihrer  inneren  Reibung  sich  ein- 
stellen können.  *) 

Aber  nicht  nur  beim  Altern  auch  sonst  gehen 
während  des  natürlichen  normalen  Ablaufes  des 
Zellebens  Viskositätsänderung  der  lebenden  Sub- 
stanz vor  sich.  Nach  Lebion ds  Untersuchungen 
an  Algen  (1919)  zeigt  sich  der  Solzustand,  also 
das  Stadium  geringer  Viskosität  im  Protoplasma 
keineswegs  permanent,  ja  es  ist  bisweilen  nötig, 
um  überhaupt  sein  an  lebhafter  Brownscher 
Molekularbewegung  erkenntliches  Auftreten  zu 
beobachten,  lange  Zeit  hindurch  die  individuelle 
Entwicklung  zu  verfolgen.  Im  allgemeinen  gilt 
die  Regel:  Die  Umwandlung  aus  dem  relativ 
starren  Gelzustand  in  den  Solzustand  geht  nur 
dann  vor  sich,  wenn  die  Zelle  aus  einer  Periode 
der  Ruhe  übergeht  in  eine  Periode  funktio- 
neller Aktivität,  so  während  des  Wachs- 
tums, der  Teilung,  der  sexuellen  und  asexuellen 
Reproduktion. '-)  An  jungen  Sporenkeimlingen 
von  Oedogoiiiuin  z.  B.,  die  erst  aus  einigen  Aell- 
elementen  bestehen  und  in  lebhaftem  Wachstum 
begriffen  sind,  findet  man  das  Cytoplasma  zur 
Gänze  im  Solzustand  und  die  winzigen  Mikrosomen 
darin  in  lebhaftester  Brownscher  Bewegung. 
Bei  anderen  Algen,  bei  denen  sonst  keine  B.  M.  B. 
innerhalb  der  lebenden  Substanz  zu  sehen  ist, 
tritt  sie  auf  in   den  Oogonien   oder  im  Moment 


')  Wenn  Miehe  (1901)  findet,  daß  in  alleren  Mono- 
kotylenblättern  der  Kern  durch  Zentrifugierung  in  den  Zellen 
schwerer  verlagert  wird  als  in  jüngeren,  so  beruht  dies  viel- 
leicht auch  auf  Viskositätszunahme  des  einbettenden  Plasmas 
mit  dem  Alter.  Über  Verschiedenheiten  des  Plasmazustandes 
in  alten  und  jungen  Zellen  vgl.  besonders  Chifflot  und 
Gautier  (1905)  sowie  Russo  (1910). 

^)  Ebenso  gaben  Chifflot  und  Gau tier  (1905)  an: 
„Ces  mouvements  sont  visibles  chez  des  organismes  jeunes  en 
voie  de  croissancc  (cellules  de  Spirogyra  en  voie  de  cloisonne- 
ment,  zygospore  de  Cosmarium  germant,  usw.)." 


der  Bildung  ungeschlechtlicher  Sporen.  Bei  den 
Konjugaten  repräsentiert  die  Umwandlung  aus 
dem  Gel-  in  das  Solstadium  eines  der  ersten  An- 
zeichen beginnender  Reproduktionsaktivität;  sie 
tritt  ein  noch  vor  der  Bildung  der  Kopulations- 
schläuche. Lebion d  versucht  auch  eine  Erklä- 
rung der  Viskositätsherabsetzung  zu  geben  :  Wenn 
sich  Spirogyren  zur  Kopulation  entschließen, 
werden  die  vorher  parallel  zueinander  stehenden 
Längswände  bogig  nach  außen  vorgewölbt.  Die 
Zellen  nehmen  tönnchenförmige  Gestalt  an.  Dies 
geht  zurück  auf  ein  Ansteigen  des  Innendruckes, 
das  seinerseits  wieder  bedingt  ist  durch  Anreiche- 
rung von  Ionen  im  Innern  der  Zelle.  Gleich- 
zeitig bewirken  diese  Ionen  aber  den  Übergang 
kolloider  Substanz  aus  dem  Gel-  in  das  Sol- 
stadium. 

In  vollkommener  Übereinstimmung  mit  den 
Befunden  Leblonds  stehen  die  mit  Hilfe  der 
Mikrodissektion  von  Seifriz  (1920)  ermittelten 
Tatsachen.  Auch  Seifriz  gibt  Belege  für  weit- 
gehende Viskositätsänderungen  des  Protoplasmas 
während  der  verschiedenen  Lebensphasen;  dabei 
ist  der  Spielraum  dieser  Schwankungen  ein  auf- 
fallend großer.  Die  Viskosität  kann  abnehmen 
bis  zu  einem  Grade,  der  nur  wenig  höher  ist  als 
der  des  Wassers  und  wieder  ansteigen  bis  zur 
Festigkeit  eines  gänzlich  starren  Gels.  Auch 
Seifriz  findet  einen  Zusammenhang  zwischen 
der  Änderung  der  Protoplasmakonsistenz  und  den 
Schwankungen  der  physiologischen  Aktivität. 

Besonders  eingehend  wurden  die  Verhältnisse 
bei  den  Myxomycetenplasmodien  studiert.  Im 
aktiven  vegetativen  Stadium  ist  ihr  Protoplasma 
flüssig  (Viskositätsgrad  =  V.G.  =  3) ;  im  ruhen- 
den Zustand  dagegen  sind  die  Plasmodien  sehr 
zähe  (V.G.  8),  klebrig  und  elastisch  oft  von  ganz 
plastischer  Qualität,  ähnlich  wie  Brotteig.  Ganz 
analoge  Beobachtungen  liegen  für  Amöben  vor. 
Im  aktiven  Zustand,  dem  ein  flüssiges  Protoplasma 
zukommt,  herrscht  allgemein  im  Inneren  äußerst 
lebhafte  Brownsche  Bewegung;  wenn  aber  zu- 
gleich mit  der  Abnahme  der  Aktivität  die  Zähig- 
keit zunimmt,  dann  wird  sowohl  die  Zahl  der 
tanzenden  Teilchen  geringer  (weil  die  größeren 
unbeweglich  werden)  als  auch  die  Amplitude  der 
Bewegung.  Von  Interesse  sind  fernerhin  die 
Zähigkeitsänderungen  während  der  aufeinander- 
folgenden Entwicklungsstadien  der  Oogonien,  z.  B. 
von  Fucus.  Das  junge  einkernige  Oogon  weist 
den  Viskositätsgrad  3  auf,  vielleicht  sogar  nur 
2  =  sehr  flüssig.  Im  beinahe  reifen  Oogon,  nach- 
dem die  Teilung  in  8  Eier  eben  vollendet  er- 
scheint, ist  die  Viskosität  auf  4  gestiegen.  Sind 
dann  die  Eier  selbst  fast  reif  geworden,  so  haben 
sie  das  Viskositätsstadium  5  erreicht  und  die 
Vollreifen  freiwerdenden  Eier  sind  „entschieden  zäh" 
(V.G.  6).  Diese  Zunahme  der  Konsistenz  fällt 
zusammen  mit  einer  Abnahme  der  physiologischen 
Aktivität.  „Das  junge  Oogon  mit  dem  Proto- 
plasma von  flüssiger  Konsistenz  befindet  sich  im 
Stadium  lebhaften  Wachstums,  während  das  ganz 


Il8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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und  gar  zähe  reife  Ei  in  einem  mehr  oder  weniger 
ruhendem  Stadium  die  Befruchtung  erwartet." 

Noch  größeres,  ganz  allgemeines  Interesse 
verdient  die  Beobachtung  der  Änderung  der 
Cy  toplasmavisko  sität  während  der 
Zellteilung.  Die  Befunde  sind  wenigstens  in 
ihren  Grundzügen  völlig  gesichert,  da  sie  an  ver- 
schiedenen Objekten  von  verschiedenen  Autoren 
mit  verschiedenen  Methoden  gewonnen  wurden. 
Heilbrunn  1917,  Chambers  1919,  Seifriz 
1920. 

Heilbrunn  experimentierte  mit  Seeigeleiern; 
in  kurzen  Intervallen  wurde  nach  erfolgter  Be- 
fruchtung die  Viskosität  des  Eicytoplasmas  mittels 
der  Zentrifugierungsmethode  bestimmt.  Werden 
unbefruchtete  Ardaaa-Eier  kräftig  zentrifugiert,  so 
wird  alsbald  im  Cytoplasma  eine  Scheidung  in 
vier  Zonen  sichtbar.  An  dem  zentrifugalen  Pole 
sammeln  sich  die  Pigment  granula;  dies  ist  die 
Pigmentzone;  ihr  zunächst  folgt  eine  zweite 
granuläre  Zone,  dann  eine  hyaline  und  an  dem 
der  Pigmentzone  gegenüberliegenden  Pol,  bildet 
sich  die  ihrer  Farbe  entsprechend  „gray  cap"  ge- 
nannte Schicht.  Wenn  ein  Ei  nach  der  Zentri- 
fugierung  alle  diese  Zonen  typisch  aufweist,  wird 
es  als  geschichtet  („stratified")  bezeichnet.  Nimmt 
nun  die  Viskosität  des  Protoplasmas  zu,  dann  ist 
eine  derartige  Schichtung  immer  schwieriger  zu 
erzielen  oder  (bei  gleicher  Zentrifugalkraft)  immer 
undeutlicher  ausgebildet  und  in  einem  ganz  ver- 
festigten Ei  wird  eine  solche  künstliche  Schichtung 
überhaupt  unmöglich. 

Es  ergab  sich  nun  folgendes;  Nach  der  Be- 
fruchtung nimmt  die  Plasmaviskosität  allmählich 
zu  bis  zu  einem  Maximum,  das  in  20 — 25  Minuten 
erreicht  wird.  Durch  Zentrifugalkräfte  selbst  der 
doppelten  Intensität,  die  vorher  leicht  die  Schichtung 
im  Ei  bewirkte,  läßt  sich  nunmehr  keine  Scheidung 
in  eine  granuläre  und  hyaline,  glasige  Zone  er- 
zielen. Ist  dann  aber  bei  beginnender  Furchung 
die  Teilungsspindel  erschienen,  dann  folgt  eine 
stetige  Abnahme  der  Zähigkeit;  das  Eicytoplasma 
kehrt  wieder  zurück  zu  seinem  ursprünglichen 
Fluiditätszustande.  Bei  den  mitotischen  Vor- 
gängen, die  zum  2.  Teilungsschritt  des  sich 
furchenden  Eies  führen,  spielt  sich  ähnlicher 
Viskositätswechsel  ab. 

Noch  eingehender  verfolgt  wurden  die  Ände- 
rungen der  Protoplasmakonsistenz  in  ihrer  Be- 
ziehung zur  Zellteilung  von  Chambers  (1917, 
1919)  durch  Mikrodissektionsstudien,  insbesondere 
am  Ei  von  Ccrebratitlus.  Die  wichtigen  Ergeb- 
nisse seien  ausführlicher,  zum  Teil  in  der  eigenen 
Schilderung  des  Autors  wiedergegeben : 

Die  Konsistenz,  die  das  Cytoplasma  in  den 
Perioden  vom  Moment  der  Befruchtung  bis  zur 
Beendigung  der  ersten  F"urchungsteilung  zeigt, 
wurde  ermittelt  durch  sorgfältige  Prüfung  mit  der 
Mikrodissektionsnadel.  Unmittelbar  nach  der  Be- 
fruchtung werden  die  Granula  durch  die  Nadel 
leicht  in  ausweichende,  fließende  Bewegung  ge- 
setzt.    Nachdem    das   Sperma    in   das   Ei    einge- 


drungen ist,  bildet  sich  die  bekannte  Sperma- 
strahlung aus  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  des 
Spermakopfes.  Zugleich  mit  dem  Spermakern 
wandert  die  Strahlung  dem  Eikerne  entgegen  und 
nimmt  allmählich  an  Größe  zu,  je  mehr  sie  sich 
dem  Eizentrum  nähert.  Wenn  die  Spermastrahlung 
in  voller  Entwicklung  steht,  zeigt  die  operierende 
Nadel  den  hoch  viskosen  Zustand  des  Cytoplasmas 
an.  Anstatt  daß  die  Granula  wie  früher  durch 
die  Bewegungen  der  Nadel  im  Innern  des  Eies 
leicht  aus  ihrer  Lage  gebracht  werden  könnten, 
erweisen  sie  sich  als  festgehalten,  an  Ort  und 
Stelle  fixiert  wie  in  einer  Gallerte,  und  die  Be- 
wegungen der  Nadel  bewirken  nunmehr  Torsionen 
der  gesamten  Eisubstanz.  Dieser  Starrezustand 
erreicht  seinen  Höhepunkt  ungefähr  15  Minuten 
nach  der  Befruchtung  (Übereinstimmung  mit  dem 
Viskositätsmaximum  H  e  i  1  b  r  u  n  n  s).  Gleichzeitig 
mit  dieser  Verdichtung  der  strahligen  Cytoplasma- 
region  vergrößert  sich  die  im  Zentrum  der 
Strahlung  gelegene  Hyaloplasmasphäre.  Diese  Ver- 
größerung ist  bedingt  durch  Ansammlung  hyaliner 
Flüssigkeit,  letztere  aber  scheidet  sich  ab  aus  den 
sich  verdichtenden  Plasmapartien  und  strömt  in 
feinsten  konvergierenden  Strömchen  dem  Strahlen- 
zentrum zu.  Dadurch  ist  wohl  auch  das  charakte- 
ristische Aussehen  der  Sperma-„Strahlung"  erklärt. 
Einige  Minuten  später  beginnt  diese  Strahlung  zu 
verblassen  und  gleichzeitig  kehrt  das  Cytoplasma 
zurück  vom  halbfesten  zu  einem  mehr  flüssigen 
Zustand.  Die  Granula  sind  jetzt  wieder  leichter 
verschiebbar  durch  die  Bewegungen  der  Nadel. 
Das  Verschwinden  der  Spermastrahlung  bedeutet 
also  einen  Prozeß  der  Verflüssigung. 

Die  flüssige  Substanz  des  vergrößerten  hyalinen 
Areals  strömt  nun  am  Teilungskern  vorbei  an 
dessen  beide  Pole;  dabei  kommen  die  für  dieses 
Stadium  bezeichnenden  hyalinen  Streifen  zustande, 
die  sich  klar  abheben  von  dem  sonst  granulären 
Cytoplasma  des  Eies.  Gegen  Ende  dieses  Stadiums, 
das  ca.  20 — 30  Minuten  dauert,  sammelt  sich  das 
Hyaloplasma  schließlich  in  zwei  halbkugeligen 
Massen  an  den  Polen  des  Nukleus.  Kurz  vor  der 
eigentlichen  Zellteilung  also  etwa  40 — 50  Minuten 
nach  der  Befruchtung  bildet  sich  in  jeder  dieser 
flüssigen  Halbkugeln  ein  Zentrum,  von  dem  aus 
das  Cytoplasma  sich  neuerdings  zu  verfestigen 
beginnt.  Die  Verdichtung  breitet  sich  von  jedem 
der  beiden  Polzentren  aus,  so  kommt  der  „Amphi- 
aster",  die  Gegenpolstellung  der  Astrophären  zu- 
stande. Nun  verlängert  sich  das  Ei;  die  Längs- 
achse geht  durch  die  Zentren  des  Amphiasters. 
Jetzt  erst  erscheint  die  Teilungsfurche  und  nun 
ca.  10  Minuten  nach  dem  Erscheinen  der  beiden 
.'\strospharen  wird  die  Teilung  rasch  beendigt. 
In  den  neu  entstandenen  Blastomeren  persistiert 
die  Starrheit  des  Cytoplasmas  aber  nur,  solange 
sie  noch  +  kugelig  sind.  Später  drängen  sich 
die  Blastomeren  gegeneinander  und  jede  nimmt 
halbkugelige  P'orm  an.  In  diesem  Stadium  ist 
das  Cytoplasma  wieder  ganz  flüssig. 

Es  besteht  also  eine   ausgeprägte  Perio- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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dizität  im  physikalischen  Zustand  des 
Eies  nach  erfolgter  Befruchtung  und 
während  des  Zellteilungsprozesses:  Im 
unreifen  Ei  ist  die  Viskosität  hoch, 
nach  der  Reifung  nimmt  sie  ab,  nach 
der  Befruchtung  beginnt  sie  neuerdings 
anzusteigen  und  erreicht  das  Maximum 
zur  Zeit  des  Höhepunkts  der  Sperma- 
strahlung. Dann  sinkt  die  Zähigkeit 
neuerdings,  bleibt  gering  bis  die 
Teilung  naht,  steigt  hierauf  aufs  Neue 
und  sinkt  erst  wieder  nach  Beendigung 
der  ersten  Furchungsteilung.  Dasselbe 
Spiel  wickelt  sich  wohl  bei  der  2.  Furchungs- 
teilung ab. 

Chambers  sieht  daher  das  Wesen  des 
Furchungsprozesses  in  einer  Änderung  des  physi- 
kalischen Zustandes  des  Cytoplasmas,  wobei  sich 
zwei  halbfeste  Massen,  die  Astrosphären  bilden, 
die  heranwachsen  auf  Kosten  der  flüssigen  Plasma- 
teile; damit  ist  eine  neue  Vorstellung  gewonnen 
über  den  Mechanismus  der  Zellteilung.')  Es  ist 
schon  lange  bekannt,  daß  die  Eier  verschiedener 
Tiere  zur  Zeit  der  Teilung  eine  Längsstreckung 
erfahren  und  die  Teilungsfurche  in  einer  Ebene 
senkrecht  zur  Längsachse  sich  einstellt.  Eine  be- 
friedigende Erklärung  dieser  Längsstreckung  konnte 
nicht  gegeben  werden.  Die  neuen  Feststellungen 
sollen  nun  aber  ein  Verständnis  vermitteln:  Die 
beiden  verfestigten  kugeligen  Massen  wachsen  auf 
Kosten  der  sie  umgebenden  flüssigen  Teile  so 
lange,  bis  alles  flüssige  Cytoplasma  aufgenommen 
ist;  da  nun  aber  die  beiden  Durchmesser  dieser 
Kugeln  zusammen  größer  sind  als  der  ursprüng- 
liche Durchmesser  des  Eies,  so  muß  sich  dieses 
in  die  Länge  strecken. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  viel  Arbeit,  vor  allem 
auch  theoretische  Spekulation,  schon  darauf  ver- 
wendet wurde,  um  die  Vorgänge  im  Cytoplasma 
während  der  Teilung  dem  Verständnis  näher  zu 
bringen,  und  zwar  ohne  besonderen  Erfolg,  so 
bedeuten  diese  exakten  Feststellungen  einen  ge- 
waltigen Fortschritt  und  eine  Bestätigung  theo- 
retischer Vermutungen.  Es  ist  daher  von  großer 
Wichtigkeit,  daß  auch  von  anderer  Seite  Gleiches 
gefunden  wurde. 

S  eifriz  hat,  ebenfalls  am  Seeigelei,  nach  seiner 
Skala  die  verschiedenen  Viskositätsgrade  noch 
genauer  zu  charakterisieren  vermocht:  das  reife 
unbefruchtete  Ei  besitzt  den  Viskositätsgrad  7. 
Beim  Erscheinen  der  Spermastrahlung  steigt  im 
peripheren  Cytoplasmateil  die  Viskosität  auf  8. 
Im  Amphiaster  bestehen  die  polaren  Hyaloplasma- 
sphären sowie  die  Strahlen  der  Astrosphären  selbst 
aus  stark  verflüssigtem  Plasma  (V.G.  3).  Be- 
sonders der  Nachweis  des  flüssigen  Charakters 
der  hyalinen  Strahlen  ist  von  hohem  Interesse,  da 
er  schon  vielfach  theoretisch  postuliert  worden 
war,  andererseits  aber  auch  eine  verfestigte  Kon- 


sistenz behauptet  wurde.  Dagegen  sind  das 
periphere  Protoplasma  sowie  die  keilförmigen 
Plasmateile,  die  mit  den  hyalinen  Strahlen  ab- 
wechseln und  die  eben  das  sternförmige  Aus- 
sehen der  mitotischen  Figuren  bedingen  von 
extrem  hoher  Viskosität  (7 — 8). 

S eifriz  hat  auch  an  pflanzlichen  Eiern  (Fucus) 
die  nach  der  Befruchtung  sich  einstellenden 
Viskositätsänderungen  studiert;  es  ergaben  sich 
analoge  Verhältnisse,  doch  ist  hier  die  Beobachtung 
durch  die  dunkle  Färbung  der  Chromatophoren 
erschwert. 

Abgesehen  von  den  genannten  amerikanischen 
Forschern  haben  sich  auch  andere  Autoren,  zum 
Teil  schon  früher,  eine  Vorstellung  über  die 
Viskositätsverhältnisse  während  der  Zellteilung  zu 
machen  gesucht.  Als  erster  hat  wohl  Albrecht 
(1898)  auf  Grund  primitiver  Kompressionsversuche 
angenommen,  daß  nach  der  Befruchtung  tierischer 
Eier  eine  Viskositätszunahme  im  Plasma  erfolgt. 
191 8  hat  Speck  bei  seinen  Studien  über  die 
Ursache  der  Zellteilungen  beobachtet,  wie  bei 
Nematoden-Eiern  sich  das  periphere  Cytoplasma 
in  ständiger  amöboider  Bewegung  befindet; 
in  dem  Moment  nun,  in  dem  zu  Beginn  der 
Teilung  die  Spindel  sichtbar  wird,  steht  diese 
Bewegung  ganz  plötzlich  still.  Wahrscheinlich, 
meint  Speck,  ist  dies  auf  eine  Viskositätszunahme 
zurückzuführen. 

Es  sei  ferner  daran  erinnert,  daß  Nemec(i9i5) 
auf  Grund  von  Studien  an  zentrifugierten  Wurzel- 
spitzen, wobei  die  ruhenden  Zellkerne  aber  auch 
die  Teilungsfiguren  als  Ganzes  in  bestimmter 
Weise  verlagert  befunden  wurden,  sich  folgende 
Vorstellung  gebildet  hat :  „Wenn  sich  die  Figuren 
wie  einheitliche  Gebilde  verhalten,  an  denen  es 
nicht  möglich  ist  durch  das  Zentrifugieren  irgend- 
einen Teil  herauszureißen,  und  wenn  sie  sich  aus 
einer  labilen  in  eine  stabile,  standfeste  Lage  heraus- 
drehen, so  kann  man  dies  so  deuten,  daß  sie  im 
ganzen  ein  starres,  einheitliches  Gebilde  vor- 
stellen. Sie  verhalten  sich  so,  wie  wenn  sie  aus 
einer  festen  Substanz  bestünden,  oder  wie  wenn 
sie  wenigstens  ein  festes  Gerüst  besäßen."  Er 
hat  auch  erkannt,  daß  die  achromatische  Spindel 
ein  starres  System  darstelle.^)  Da  es  nun  nach 
Nemecs  Erfahrungen  gelingt,  ohne  die  Zelle  zu 
töten,  durch  Einwirkung  bestimmter  Substanzen  — 
er  verwendete  ^4  "io  Chloralhydratlösung  —  die 
achromatische  Spindel  „aufzulösen",  so  müßten 
sich  die  Teilungsfiguren  bei  Zentrifugierung  nach 
solcher  Narkose  anders  verhalten.  Dies  war  tat- 
sächlich der  Fall.  Die  Chromosomen  erschienen 
nunmehr  ganz  an  die  Wand  gedrückt  und  man 
sah  zahlreiche  Zellen,  in  denen  sich  die  Chromo- 
somengruppen     wie      freibewegliche      spezifisch 


')  Betreffs    anderer   Theorien    und    bisheriger   Modellver- 
suche vgl.  Rhumbler  1921. 


')  Andrews  (igis)  hat  ähnliches  konstatiert:  Wenn  die 
Chromosomen  sich  an  den  Polen  befanden,  wurde  die  Spindel 
bei  Zentrifugierung  nicht  zerquetscht.  ,,Dies  zeigt,  daß  sie 
eine  starrere  Struktur  besitzt,  als  man  voraussetzen  möchte." 
Befanden  sich  die  Chromosomen  jedoch  an  der  Äquatorial- 
platte, dann  wurden  die  Spindeln  platt  gedrückt. 


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schwerere  Körperchen  verhalten  hatten.  Die 
„erweichte"  Spindel  leistete  der  Bewegung  der 
Chromosomen  keinen  Widerstand  mehr. 

Damit  kommen  wir  zur  Erörterung  der 
künstlichen  Beeinflussung  der  Proto- 
plasmaviskosität. Auch  hier  stehen  wir  vor 
einem  aussichtsreichen  Forschungsgebiet,  dessen 
Bearbeitung  eben  erst  in  Angriff  genommen  wurde. 
Daß  die  lebende  kolloide  Substanz  so  wie  die  im 
kolloiden  Zustande  befindliche  Materie  überhaupt 
unter  der  Einwirkung  der  verschiedensten  Außen- 
faktoren chemischer  und  physikalischer  Art  Vis- 
kositätsänderungen erleiden  und  erkennen  lassen 
würde,  war  von  vornherein  zu  erwarten  (Weber 
191 7).  Damit  soll  aber  keineswegs  gesagt  sein, 
das  lebende  Protoplasma  verhalte  sich  in  jeder 
Beziehung  ganz  wie  ein  lebloses  Kolloid;  ja  bei 
Heilbronns  Versuchen  an  Plasmodien  (191 8) 
zeigte  es  sich,  daß  die  Beeinflußbarkeit  der  Plasma- 
viskosität „keineswegs  rein  den  für  Kolloide 
geltenden  Gesetzen  der  physikalischen  Chemie 
folgte,  sondern  daß  vielmehr  ein  innerer  vitaler 
Faktor  regulierend  eingriff".  Aber  gerade  diese 
Inkongruenzen  werden  besonderer  Ansporn  sein 
zum  Studium  am  lebenden  Objekt. 

Es  seien  zunächst  Versuche  Heilbrunns 
(1915,  1920)  besprochen.  Er  ging  von  der  Vor- 
stellung aus,  die  von  ihm  bewiesene  Viskositäts- 
steigerung, die  Gelbildung  zu  Beginn  der  Zell- 
teilung sei  keine  nebensächliche  sekundäre  Er- 
scheinung, sie  sei  vielmehr  vorherbestimmend  und 
maßgebend  für  die  Ausbilduug  der  Spindel;  ist 
diese  Annahme  richtig,  so  muß  es  gelingen  durch 
Verhinderung  der  Gelbildung  auch  die  Entstehung 
der  Teilungsfigur  sowie  die  Zellteilung  überhaupt 
zu  verhindern  und  umgekehrt  muß  es  sich  nach- 
weisen lassen,  daß  äußere  Einflüsse,  die  die  Zell- 
teilung hemmen,  der  Viskositätssteigerung  des 
Cytoplasmas  entgegenwirken.  Diese  Vermutung 
fand  in  glänzender  Weise  volle  Bestätigung. 

Heilbrunn  untersuchte  den  Einfluß  einer 
Reihe  lipoidlöslicher  Substanzen.  Dabei  wurde 
die  Lösung  eines  der  grundlegenden  Probleme 
der  Zellphysiologie  gefördert,  der  P'rage  nach  der 
Wirkungsweise  der  Narkotika  auf  die 
lebende  Substanz.  Heilbrunn  stellte  sich 
die  P'rage:  Welches  ist  der  Effekt  der  Narkotika 
auf  die  Protoplasmaviskosität  der  Seeigeleier  ?  Die 
Anästhetika  wurden  zunächst  in  Konzentrationen 
verwendet,  bei  welchen  typische  narkotische  Wir- 
kung zur  Gehung  kommt,  d.  h.  die  Zellfunktion 
(in  diesem  F'alle  die  Teilung)  eine  reversible  Läh- 
mung erfährt.  Werden  solche  narkotisierte  Eier 
gleichzeitig  mit  normalen  Kontrollobjekten  zen- 
trifugiert  und  zwar  mit  einer  Geschwindigkeit 
und  Dauer,  die  nicht  ausreicht  um  die  Granula 
in  den  normalen  Eiern  zu  verlagern,  so  zeigen 
sich  in  den  narkotisieren  Eiern  die  Granula  gänz- 
lich verlagert,  in  die  zentrifugale  Hälfte  des  Eies 
geschleudert;  hier  hatte  also  der  Widerstand  des 
Cytoplasmas  beträchtlich  abgenommen:  Die  Vis- 
kosität des  narkotisierten  Cytoplasmas  war  zweifel- 


los viel  geringer  als  die  der  normalen  Eier.  Die 
Konzentration  der  Narkotika,  die  diese  Herab- 
setzung der  Plasmaviskosität  bewirkt,  war  nun 
genau  dieselbe,  die  auch  die  Zellteilung  verhindert. 
Dagegen  verursachen  höhere  Narkotikakonzentra- 
tionen, die  eine  dauernde,  schließlich  zum  Tode 
führende  Schädigung  der  Eier  hervorrufen,  eine 
irreversible  Zunahme  der  Plasmazähigkeit. 

Diese  Versuche  und  Ergebnisse  sind  in  zwei- 
facher Hinsicht  von  großem  Interesse.  Erstens 
lassen  sie  es  verständlich  erscheinen,  warum  die 
Narkose  die  Zellteilung  hemmt;  es  wird  nämlich 
die  für  die  ersten  Teilungsstadien  maßgebende 
Viskositätszunahme  verhindert,  ja  rückgängig  ge- 
macht und  in  das  Gegenteil  verkehrt.  Zweitens 
bilden  sie  einen  bedeutungsvollen  Fortschritt  in 
dem  langumstrittenen  Problem  der  Narkose- 
theorie  überhaupt.  (Über  die  Theorien  der 
Narkose  vgl.  Winterstein  1919.)  Gerade  in 
letzterer  Beziehung  ist  es  daher  besonders  erfreu- 
lich, daß  die  Befunde  Heilbrunns  über  die 
Viskositätsänderung  unter  dem  Einfluß  der  Nar- 
kotika keineswegs  allein  stehen.  1914  hatte  Heil- 
b  r  o  n  n  1)  mit  Hilfe  der  Fallmethode  den  Nach- 
weis erbracht,  daß  verdünnte  Ätherlösungen  die 
Plasmaviskosität  pflanzlicher  Zellen  herabsetzen. 
Größere  Bedeutung  mißt  Heilbronn  allerdings 
der  durch  stärkere  Narkotikadosen  hervorgerufenen 
reversiblen  „Plasmastarre"  bei,  die  er  für  den 
Ausdruck  der  eigentlich  , .narkotischen"  Wirkung 
hält.  Einen  vermittelnden  Standpunkt  nimmt 
neuestens  Weber  (1922)  ein,  der  an  ätherisierten 
Spirogyrcii,  je  nach  der  Konzentration  des  Nar- 
kotikums durch  Zentrifugierung  eine  Erleichterung 
bzw.  Erschwerung  der  Verlagerungsfähigkeit  des 
Chloroplastenbandes  feststellte,  was  er  als  Ernie- 
drigung bzw.  Erhöhung  der  Cytopiasmazähigkeit 
deutet.  „Die  Frage,  ob  der  Zustand  des  Plasmas, 
bei  welchem  eine  Herabsetzung  der  Plasmavisko- 
sität erfolgt,  dem  Erregungs-  oder  dem  Lähmungs- 
stadium der  Narkose  entspricht,  muß  für  Spiro- 
gyra  verschieden  beantwortet  werden,  je  nach 
der  Zellfunktion,  die  als  Maß  des  Narkosegrades 
verwendet  wird.  Für  die  Funktion  der  Proto- 
plasmaströmung scheint  es  sich  dabei  um  das 
Erregungs-,  für  die  Zellteilung  um  das  Lähmungs- 
stadium zu  handeln." 

Doch  kehren  wir  nochmals  zurück  zu  den 
Versuchen  Heilbrunns.  V.x  faßt  den  Begriff 
der  Anästhesie  relativ  weit;  er  nennt  Anästhetika 
alle  Substanzen,  welche  einen  vitalen  Prozeß  zum 
Stillstand  bringen,  ohne  daß  die  Zelle,  in  der  sich 
der  Prozeß  abspielt,  getötet  wird.  Dazu  gehören 
dann  natürlich  nicht  nur  die  lipoidlöslichen  Nar- 
kotika. Heilbrunn  fand  nun:  Nicht  alle 
Anästhetika  verursachen  eine  Abnahme  der  Plasma- 
viskosität, einige  vielmehr  gerade  den  gegenteiligen 
Effekt  (Magnesium-Narkose).     „Es  gibt  zwei  Typen 

')  Die  Namensähnlichkeit  der  Autoren,  die  Identität  des 
bearbeiteten  Problems,  sowie  die  Gleichzeitigkeit  der  For- 
schungen dürfte  für  die,  welche  an  das  „Gesetz  der  Serie" 
(Kamm  er  er   1919)  glauben,  von  Interesse  sein. 


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der  Narkose  beim  Seeigelei;  in  dem  einen  ist  die 
Viskosität  des  Cytoplasmas  verringrert,  in  dem 
anderen  ist  sie  erhöht."  Aber  beide  Typen  hem- 
men die  Zellteilung;  der  eine  hält  das  Cytoplasma 
dauernd  im  flüssigen,  der  andere  dauernd  im 
starren  Zustand,  aber  gerade  der  periodische 
Wechsel  im  Viskositätszustand,  der  für  die  Mitose 
von  Bedeutung  ist,  kann  bei  beiden  Narkosetypen 
nicht  normal  ablaufen :  das  Ei  ist  auf  jedem  Fall 
narkotisch  an  der  Teilung  gehemmt. 

Überhaupt  ist  es  wohl  verständlich,  daß  ein 
und  dieselben  Außenfaktoren  recht  verschieden 
auf  die  Zellteilung  einwirken  können,  je  nachdem 
sie  in  ein  oder  das  andere  durch  die  bestimmten 
Viskositätsgrade  charakterisiertes  Stadium  des 
Teilungsprozesses  eingreifen.  In  rebus  biologicis 
ist  eben  alles  viel  komplizierter,  als  man  zunächst 
annehmen  zu  dürfen  glaubt,  und  hier  gilt  wohl 
selten  der  Satz,  die  erste  Erklärung  sei  auch 
gleich  immer  die  beste  und  zutreffende.  Wenn 
nach  Heilbrunn  die  Hemmungswirkung  auf 
die  Zellteilung  sowohl  durch  Mittel  ausgeübt 
werden  kann,  die  die  Gelbildung  befördern  als 
auch  durch  solche,  die  sie  verhindern,  dann  kann 
es  uns  andererseits  auch  nicht  verwundern,  wenn 
sich  anscheinend  widersprechende  Angaben  vor- 
liegen über  diejenigen  Stoffgruppen,  welche  för- 
dernd auf  die  Zellteilung  einwirken. 

In  seinen  Studien  über  künstliche  Par- 
thenogenese hat  Heilbrunn  schon  191 5  ge- 
zeigt, daß  alle  künstlichen  Parthenogenetika  vis- 
kositätserhöhend  wirken,  Gelbildung  oder  Koagu- 
lation innerhalb  des  Eicytoplasmas  hervorrufen.  *) 
Eine  derartige  die  Viskosität  steigernde  Wirkung 
kann  sowohl  von  hypertonischen  Lösungen  aus- 
gehen, die  Wasseraustritt  (Exosmose)  bedingen, 
als  auch  von  hypotonischen,  die  Eintritt  von 
Wasser  in  die  Zelle  ermöglichen.  Eine  gering- 
fügige Änderung  der  Salzkonzentration  im  Innern 
des  Eies  reicht  eben  aus  um  die  Gelbildung  aus- 
zulösen und  dadurch  entwicklungserregend  zu 
wirken.  Die  Viskositätserhöhung  tritt  fast  un- 
mittelbar ein  nach  erfolgter  natürlicher  oder 
künstlicher  Befruchtung,  bevor  noch  irgendein 
anderes  Anzeichen  der  beginnenden  Entwicklung 
zu  sehen  ist.  Es  ist  daher  anzunehmen,  daß  man 
es  dabei  mit  einem  der  primärsten  Glieder  der 
Kette  von  Prozessen  zu  tun  hat,  die  zur  Zellteilung 
führen. 

Von  anderen  Versuchen  und  Gedankengängen 


')  Bereits  1905  versuchten  Fischer  und  Üstwald  den 
Nachweis  zu  erbringen,  „daß  sämtliche  Mittel ,  durch  welche 
eine  Astrosphärenbildung  im  Ei  oder  eine  Befruchtung  hervor- 
gerufen werden  kann,  Mittel  sind,  durch  welche  ein  Sol  von 
der  ungefähren  Beschaffenheit  des  Eiplasmas  zur  Gelbildung 
veranlaßt  werden  kann".  Erst  10  Jahre  später  ist  die  Vis- 
kositätssteigerung im  Ei  selbst  fnach  der  Befruchtung)  kon- 
statiert worden.  Über  die  künstliche  Nachbildung  der  Astro- 
sphären,  Kernteilungsspindeln,  Spermastrahlung  usw.  siehe 
die  neue  zusammenfassende  Darstellung  Rhumblers  (1921); 
hierzu  auch  Buscalioni  1920  und  über  die  Mechanik  der 
Mitose  überhaupt  die  eben  erscheinende  große  „Allgemeine 
Pflanzenkaryologie"  von  Tischler   1921/22. 


ausgehend  hat  Spek  (1920)  experimentelle  Bei- 
träge zur  Kolloidchemie  der  Zellteilung 
geliefert.  Seine  Fragestellung  war  die:  Kann 
man  durch  Erhöhung  des  Wassergehaltes  der 
Zelle  dieselbe  zu  Teilungen  anregen.  Spek  hält 
die  Wasserentziehungstheorie  für  verfehlt  und 
vermutet  für  den  Beginn  der  Zellteilung  eine 
„Verflüssigung  der  Zellkolloide".  Sollte  diese 
aber  nicht  nur  sekundäre  Begleiterscheinung,  son- 
dern auslösende  Ursache  sein,  dann  müßte  eine 
geeignete  Behandlung  der  Zellen  mit  quellungs- 
fördernden  Substanzen  die  Teilung  stimulieren. 
Damit  war  das  Arbeitsprogramm  gegeben.  Die 
Zellen  mußten  unter  dem  Einfluß  quellungs- 
fördernder  und  quellungshemmender  Substanzen 
gebracht  werden.  Das  Hauptversuchsobjekt  war 
Paramaeciiim  caudatnm,  die  geprüften  Substanzen 
verschiedene  Salzlösungen.  Die  Salze  wurden  der 
Kulturflüssigkeit  beigegeben.  Das  Ergebnis  ent- 
sprach der  Erwartung.  „Stark  quellende  Salze, 
d.  h.  Salze,  bei  denen  Ionen  stark  quellungs- 
fördernd  wirken,  oder  aber  nur  eins,  ohne  daß 
das  andere  entgegengesetzt  wirkt,  fördern  die  Zell- 
teilung ganz  bedeutend.  LiBr,  LiCl  und  KSCN 
wirken  auf  diese  Weise.  Daß  diese  Salze  auch 
auf  die  Plasmakolloide  der  Paramäcien  quellungs- 
fördernd  wirken,  geht  aus  einer  Volumszunahme 
der  Tiere  hervor.  —  Entquellend  wirkende  Salze 
wie  CaCl.,  oder  Sulfate  hemmen  die  Zellteilungen 
im  hohen  Maße." 

Spek  stellt  auf  Grund  seiner  glänzenden 
Versuchsergebnisse  eine  „Quellungstheorie 
der  Entwicklung"  auf,  nach  der  Substanzen, 
welche  das  Quellen  befördern  und  Kolloide  ver- 
flüssigen, zur  Entwicklung  anregen.  Er  sieht 
sich  daher  genötigt  zu  der  anscheinend  entgegen- 
gesetzten „Koagulationstheorie  der  Entwicklung" 
Stellung  zu  nehmen.  Letztere  war  1905  von 
Fischer  und  Ostwald  aufgestellt  worden  und 
hat  in  den  erörterten  neuen  amerikanischen  Ar- 
beiten nunmehr  experimentelle  Stütze  gefunden. 
Auf  die  interessante  Diskussion  kann  nur  ver- 
wiesen werden.  Spek  erkennt  an,  daß  in  be- 
stimmten Partien  des  Eies  nämlich  den  Astro- 
sphären  lokale  Koagulationsprozesse  stattfinden 
können;  dies  muß  nunmehr  durch  die  Unter- 
suchungen von  Chambers  als  feststehend  be- 
trachtet werden.  Dagegen  können  andere  Bezirke 
des  Zelleibes  gleichzeitig  verflüssigt  werden.  Auch 
diese  Annahme  hat  ja  durch  Chambers  Be- 
stätigung gefunden.  Eine  solche  Verflüssigung 
nimmt  Spek  insbesondere  für  die  Äquatorzone 
der  sich  teilenden  Zelle  an;  sie  soll  unter  natür- 
lichen Verhältnissen  verursacht  werden  durch  das 
Auftreten  einer  Base,  die  als  Nebenprodukt  der 
Nukleinsynthese  entsteht  und  in  die  Äquatorregion 
der  Zelle  diffundiert. 

Viskositätsänderungen  des  Cytoplasmas  spielen 
aber  gewiß  nicht  ausschließlich  während  der  Zell- 
teilung eine  bedeutungsvolle  Rolle.  Mit  der  Zeit 
wird  sich  vielmehr  gewiß  herausstellen,  daß  die 
Zähigkeitsverhältnisse    auch    in    anderen   Lebens- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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lagen  der  Zelle  von  Bedeutung  sind;  doch  ist 
darüber  noch  wenig  bekannt  und  noch  weniger 
kann  hier  Erwähnung  finden. 

G.  u.  F.  Weber  haben  19 16  zu  erweisen  ge- 
sucht, daß  in  gewissen  Pflanzenzellen  unter  dem 
Einfluß  des  Schwerkraftsreizes,  der  die 
Orientierung  der  Pflanzenteile  im  Räume  ermög- 
licht, eine  Änderung  der  Plasmaviskosität  als 
primäre  Wirkung  sich  einstellt;  dieser  „geovisko- 
sische  Effekt"  sollte  eines  der  ersten  Glieder  sein 
in  der  Reiz-  und  Reaktionskette,  die  mit  der  Aus- 
führung der  geotropischen  Krümmung  endigt.  Der 
geoviskosische  Effekt  wurde  ermittelt  durch  Messung 
der  Fallgeschwindigkeit  der  Statolithenstärkekörner 
in  den  Stärkescheidenzellen  der  Stengel  von  Bohnen- 
keimlingen. Bei  einer  eingehenden  Nachprüfung 
konnte  Zollikofer  (191 8)  das  Eintreten  eines 
geoviskosischen  Effektes  in  vielen  Fällen  nicht 
bestätigen.  Die  Autorin  glaubt  daher,  der  ur- 
sprüngliche positive  Befund  (nach  dem  durch 
Schwerkraftsreiz  eine  Änderung  der  Plasmavisko- 
sität bewirkt  wurde)  sei  durch  in  der  Versuchs- 
methodik gelegenen  Fehlerquellen  vorgetäuscht 
worden.  Leider  hat  sich  seitdem  niemand  mehr 
entschlossen,  die  zeitraubenden  Versuche  erneut 
in  Angriff  zu  nehmen.  Im  allgemeinen  muß  man 
sagen,  daß  heute  die  Konstatierung  eines  geovis- 
kosischen Effektes  keineswegs  so  überraschend 
erscheinen  würde  als  zur  Zeit  des  Beginnes  der 
Plasmaviskositätsstudien.  Die  geotropische  Krüm- 
mung als  deren  Vorläufer  die  Änderung  der 
Plasmaviskosität  angesehen  wurde,  beruht  in  Unter- 
schieden der  Wachstumsintensität  an  den  antago- 
nistischen P'lanken  des  Organs.  Bei  einem  negativ 
geotropischen  Keimstengel  wächst  nach  geotro- 
pischer  Reizung  die  Unterseite  stärker  als  die 
Oberseite.  Daß  aber  bei  Wachstums  Vorgängen 
Plasmaviskositäts-Änderungen  beteiligt  sind,  muß 
heute  als  höchstwahrscheinlich  bezeichnet  werden,') 
und  so  kann  auch  mit  einer  Verschiedenheit  der 
Plasmazähigkeit  an  den  entgegengesetzten  Stengel- 
tlanken  nach  geotropischer  Reizung  gerechnet 
werden.  Zudem  sind  heute  andere  Fälle  bekannt, 
wo  die  lebende  Substanz  auf  einen  äußeren 
Reiz  hin  mit  reversibler  Änderung  der  Zähigkeit 
reagiert.') 

Bayliß,  der  Autor  der  vorbildlichen  „Prin- 
ciples  of  General  Physiology",  hat  das  Verhalten 
der  Pseudopodien  lebender  Amöben  im  Dunkel- 
feld   beobachtet    vor,    während    und    nach    elek- 


')  Nach  Borowikow  (1913)  fördert  die  Quellung  der 
Kolloide  der  Zelle  den  Wachstumsprozeß  (Streckungswachs- 
tum). Vgl.  hiezu  ferner  Lloyd  (1916/17)  sowie  dessen  aus- 
gezeichnetes Praktikum  der  allgemeinen  Physiologie  1921.  üin 
analoges  Praktikum  fehlt  in  der  deutschen  Literatur;  zu  ver- 
gleichen sind  nur  die  neuen  Praktika  der  Kolloidchemie  bzw. 
physikalischen  Chemie  von  Üstwald  und  Michaelis,  die 
aber  naturgemäß  die  Verbältnisse  der  „lebenden  Substanz" 
nicht  so  eingehend  berücksichtigen. 

")  Gräfe  hat  igig  Gedanken  über  den  Zusammenhang 
zwischen  Quellung  und  Kntquellung  und  den  Reizreaktionen 
im  allgemeinen  publiziert.  Mittel  die  fjuellungsfördernd  wirken, 
fördern  die  Erregungsleitung. 


trischer  Reizung.  Im  ungereizten  hyalinen 
Pseudopodium-Protoplasma  werden  durch  ihre 
glänzenden  Beugungsbilder  eine  immense  Anzahl 
winzigster  Mikrosomen  sichtbar;  sie  befinden  sich 
in  lebhaftester  Brownscher  Molekularbewegung. 
Der  allgemeine  Eindruck  ist  der  einer  schimmernden 
zitternden  Unruhe  im  Gesichtsfelde.  Schon  Kühne 
hatte  festgestellt,  daß  bei  elektrischer  Reizung 
einer  derartigen  Amöbe  die  Protoplasmaströmung 
in  ihr  momentan  stillsteht.  Bayliß  nahm  nun 
an,  daß  diese  Strömungssistierung  bedingt  sei 
durch  eine  plötzliche  Viskositätserhöhung,  durch 
den  Übergang  aus  dem  Sol-  in  den  Gelzustand. ^) 
Dies  konnte  nur  bewiesen  werden  durch  Beob- 
achtung der  Brownschen  Bewegung;  so  lange 
sie  lebhaft  ist,  manifestiert  sich  dadurch  die 
Flüssigkeitsnatur,  der  Solzustand  des  Systems.  Bei 
richtig  abgestimmtem  elektrischen  Reiz  ist  der 
Effekt  ungemein  auffallend.  Die  kontinuierliche 
zitternde  Bewegung  der  glänzenden  Punkte,  die 
auf  die  B.  B.  zurückzuführen  ist,  hört  fast  momentan 
auf,  als  wäre  das  Protoplasma  erstarrt.  Sobald 
dies  erfolgt,  wird  der  Reiz  unterbrochen  und  fast 
zur  selben  Zeit  beginnt  die  Brown  sehe  Bewegung 
aufs  neue".")  Ist  der  elektrische  Shok  aber  zu 
stark,  so  daß  der  Organismus  getötet  wird,  dann 
bleibt  das  starre  Gelstadium,  die  Totenstarre  bis 
zur  autolytischen  Auflösung  der  Leiche  erhalten, 
das  Solstadium  und  mit  ihm  das  Leben  kehrt 
nicht  mehr  zurück.^) 

Osterhout  hat  1916  die  Frage  diskutiert, 
ob  zwischen  Permeabilität  und  Viskosität 
eine  direkte  Beziehung  besteht,  ohne  zunächst 
dabei  zu  endgültigen  Ergebnissen  zu  gelangen. 
Nach  den  Erörterungen  Trau bes  (1914)  müssen 
wir  jedenfalls  annehmen,  daß  die  Reibungskonstante 
auch  bei  osmotischen  Prozessen  zur  Geltung 
kommt.  Traube  gelangte  dazu  ein  „osmotisches 
Gesetz"  aufzustellen,  „ganz  analog  demjenigen, 
welches  für  andere  Energien  besteht  und  für  die 
elektrischen  Vorgänge  von  Ohm  formuliert  wurde. 
Ist  G  die  osmotische  Geschwindigkeit,  d.  h.  die 
in  der  Zeiteinheit  osmotisch  fortgeführte  Menge 
eines  Stoffes,  K  die  durch  die  Oberflächenaktivität 
gemessene  osmotische  Kraft  und  R  die  Reibungs- 

]^ 
konstante,  so  ist  G^  „,  d.  h.  die  osmotische  Ge- 

K 

schwindigkeit  ist  proportional  der  osmotischen 
Kraft  und  umgekehrt  proportional  der  Reibungs- 
konstante" (vgl.  auch  Girard  1914).  Änderungen 
der  Zähigkeit  besonders  an  den  peripheren  Plasma- 


')  Auf  den  Zusammenhang  zwischen  Protoplasma-Visko- 
sität und  -Strömung  wurde  schon  von  zahlreichen  Autoren 
hingewiesen,  vgl.  insbes.  Ewart   1903. 

'-)  In  diesem  Zusammenhange  ist  die  neue  Theorie 
A.  Meyers  (192t,  S.  638)  von  Interesse,  nach  der  die  Proto- 
plasmaströmung verursacht  ist  durch  eine  geordnete  Wärme- 
bewegung der  Moleküle. 

')  Über  die  zahlreichen  Beobachtungen  verschiedener 
Autoren  (Gaidukow  1914,  Russo  1910,  Chambers  1917, 
Seifriz  1920/21  u.a.)  über  die  Viskositätsverhältnisse  während 
der  Nekrobiose  und  beim  Eintritt  des  Todes  kann  hier  nicht 
referiert  werden. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


123 


schichten  müssen  daher  für  die  Geschwindigkeit 
des  osmotischen  Stoffaustausches  mit  verantwort- 
lich sein. 

Zum  Schluß  sei  noch  auf  die  Beziehung  zwischen 
Z e  1 1  f o r m  und  Protoplasmaviskosität  ver- 
wiesen. Eine  solche  wurde  schon  wiederholt  ge- 
legentlich angenommen  u.  a.  von  Spiro  (1910), 
Gräper  (1919).')  Hier  sei  jedoch  nur  der 
speziellere  Fall  erörtert,  wobei  die  Konsistenz  des 
Protoplasmas  maßgebend  ist  für  die  Art  und  Weise 
der  Pseudopodienbildung  einzelner  Zellen.  Schon 
1910  hat  Leo  Loeb  gezeigt,  daß  die  Pseudo- 
podienbildung der  Blutzellen  von  L  i  m  u  1  u  s  ")  von 
denjenigen  Ionen  des  umgebenden  Mediums  be- 
günstigt wird,  die  einer  Quellung  von  Gelatine 
oder  einer  Verflüssigung  von  Eiweiß  entgegen- 
wirken; umgekehrt  hemmen  diejenigen  Ionen  die 
Pseudopodienbildung,  welche  die  Ouellung  und 
Verflüssigung  gewisser  Kolloide  fördern.  1921 
hat  Loeb  diese  Versuche  wieder  aufgenommen. 
Beim  Austreten  des  Limulus-Blutes  bildet  sich 
ein  Klumpen  künstlichen  Gewebes,  welches  aus- 
schließlich aus  Amöbocyten  besteht.  Dies  Gewebe 
wird  im  hohlgeschliffenen  Objektträger  kultiviert 
und  sein  Verhalten  insbesondere  der  Grad  des 
„Auswachsens"  und  die  Form  der  Pseudopodien 
in  den  verschiedensten  Kulturmedien  und  -be- 
dingungen  studiert.^)  Durch  Änderung  im  osmo- 
tischen Druck  des  umgebenden  Mediums  ist  es 
möglich  die  Konsistenz  der  Zellen  zu  verändern 
und  zugleich  auch  den  Charakter  der  amöboiden 
Bewegung.  Die  Pseudopodien  können  die  mannig- 
fachste Gestalt  annehmen.  Die  normalerweise  im 
Innern  des  Tieres  zirkulierenden  Blutzellen  sind 
flache  Scheiben;  nach  Verlassen  des  Körpers 
kugeln  sie  sich  ab;  in  hypertonischen  Lösungen 
bilden  sie  fadendünne  Pseudopodien  oder  spitz- 
zungenförmige,  in  isotonischen  können  breitzungige 
entstehen,  in  schwach  hypotonischen  überwiegen 
die  letzteren,  bei  stärkerer  Hypotonie  bildet  sich 
das  „Ballonpseudopodium"  aus.  Vereinigen  sich 
diese  verschiedengestalteten  Zellen,  so  entstehen 
Gewebe  mit  Strukturen  analog  dem  Nerven-  resp. 
Gliagewebe.  Alle  diese  verschiedenen  Pseudo- 
podienformen  stehen  in  Zusammenhang  mit  be- 
stimmten Viskositätsgraden  des  Protoplasmas.  Die 
Änderungen  der  Konsistenz  sind  der  primäre 
Faktor  bei  der  amöboiden  Bewegung  und  Ge- 
staltung der  Amöbocyten  sowie  der  Leukocyten 
überhaupt  und  ebenso  auch  der  Protozoen.  Die 
Änderung  der  Oberflächenspannung,  der  man  bisher 
allzuhohe  Bedeutung  beigemessen  hat,  folgt  erst 
sekundär  nach.  Auch  ein  prinzipielles  Verständnis 
dieser  ständig  wechselnden  reversiblen  Konsistenz- 
änderungen ist  ermöglicht  (insbesondere  nach  den 
kolloidchemischen  Forschungen  eines  Wo.  Pauli 

')  Über  die  Bedeutung  von  Viskositätsänderungen  für 
Fragen  der  Biochemie  siehe   Richter  (1921). 

-)  Limulus,  der  Molukkenkrebs  gehört  zu  den  l'feil- 
scliwänzen  (Xiphosuren). 

■')  Vgl.  auch  die  inhaltsreiche  Studie  von  Levi  (1919) 
über  Kulturen  tierischer  Zellen  in  vitro. 


(1920)  und  eines  J.  Loeb  (1918,  1920) ')  durch 
die  kombinierte  Einwirkung  von  Säuren,  Alkali 
und  Neutralsalzen  auf  die  Proteine.  Schwach  hypo- 
tonische KCl-Lösungen  führen  z.  B.  zu  einer  deut- 
lichen Erweichung  der  ganzen  Zelle  und  zu  merk- 
würdigen „Zirkus-Bewegungen". 

Aber  nicht  nur  chemische  Veränderungen  der 
umgebenden  Flüssigkeit,  sondern  ebenso  die  physi- 
kalischen, vor  allem  die  Temperatur-Verhält- 
nisse beeinflussen  die  Form  der  Pseudopodien- 
bildung. Geringe  Temperaturerhöhung  begünstigt 
das  Einziehen  der  Fortsätze  und  eine  Abrundung 
und  Kontraktion  der  ßlutzellen.  Bei  etwas  stärkerem 
Temperaturanstieg  gehen  ganz  spezifische  Form- 
änderungen vor  sich,  die  am  ausgeprägtesten  sich 
äußern  in  der  Bildung  von  multiplen  Tropfen- 
pseudopodien, wodurch  eigenartige  „Maulbeer- 
zellen" zustande  kommen.  Die  Erklärung,  sagt 
Loeb,  ist  gegeben  in  einer  zunehmenden  Ver- 
flüssigung des  Protoplasmas  infolge  der  Tempe- 
raturerhöhung. Die  Viskositätsabnahme,  welche 
reversibel  ist,  äußert  sich  bei  den  Blutzellen  im 
Auftreten  von  Brown  scher  Bewegung  von  vorher 
unbeweglichen  Mikrosomen. 

[Eine  eingehende  messende  Verfolgung  der 
Temperaturabhängigkeit  der  Plasmaviskosität  hatten 
im  übrigen  an  pflanzlichen  Zellen  mit  Hilfe  der 
Fallmethode  bereits  191 7  F.  u.  G.  Weber  ge- 
geben. Dabei  wurde  ebenfalls  Viskositätsabnahme 
bei  steigender  Temperatur  konstatiert  und  der 
Temperaturkoeffizient  (Qk,)  mit  durchschnittlich 
I — 2  bestimmt.] 

Von  ganz  besonders  schöner  Ausbildung  sind 
die  Pseudopodien  der  Foraminiferen;  sie  können 
anwachsen  bis  zu  einer  Länge  von  mehreren  mm 
ja  selbst  von  Zentimetern  und  doch  überschreitet 
ihr  Breitendurchmesser  einige  tausendstel  Milli- 
meter nicht.  Dies  schien  mit  den  physikalischen 
Gesetzen  der  Flüssigkeiten  unvereinbar.  Die  Kräfte 
der  Oberflächenspannung  zerreißen  einen  Faden, 
wenn  er  über  eine  gewisse  Länge  hinaus  ausge- 
dehnt wird.  Man  nahm  daher  zur  Erklärung  der 
langen  fadenförmigen  Rhizopoden-Pseudopodien 
an,  daß  in  deren  Achse  ein  fester  Faden,  ein 
Achsenfaden  eingelagert  sei.  Doflein  hat  nun 
1916  die  Entstehung  der  Foraminiferen-Pseudo- 
podien  eingehend  studiert.  Bei  Dunkelfeldbeleuch- 
tung konnte  er  tatsächlich  sehen,  daß  diese  Pseudo- 
podien aus  zwei  verschiedenen  Substanzen  be- 
stehen :  Ein  gerader  fast  wie  ein  Telegraphendraht 
aussehender  fester  Achsenfaden  das  „Stereo - 
plasma"  wird  außen  vom  flüssigen  Protoplasma, 
dem  „Rheoplasma"  wie  von  einem  Mantel 
umhüllt.  Auf  welche  Weise  stretkt  sich  solch 
ein  Pseudopodium  aus.?  Man  sieht  „einen  feinen 
Strahl  stark  leuchtender  Substanz  sich  vollkommen 
geradlinig  vorschieben.  Manchmal  geht  dies  ziem- 
lich langsam  vor  sich.  .  .  .  Nicht  selten  streckt 
sich  der  Faden  aber  auch  sehr  rasch  vor,  man 
hat  geradezu    den    Eindruck    eines  Aufschießens." 


')  Siehe  auch  McDougal   und  Spoehr  (1920). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  9 


Sofort,  oder  erst  später  sieht  man  dann  den 
Achsenfaden  von  Rheoplasma  umflossen.  Dieser 
ganze  Prozeß  läßt  sich  an  Modellversuchen  nach- 
ahmen. „Schiebt  man  z.  B.  ein  sehr  feines  Haar 
durch  einen  auf  einem  Objektträger  ausgebreiteten 
Wassertropfen,  so  läßt  sich  ein  langer  pseudo- 
podienähnlicher  Fortsatz  des  Tropfens  erzeugen; 
das  Wasser  bildet  einen  Mantel  um  das  Haar"; 
dieser  Überzug  hat  die  Tendenz  sich  zu  kugeligen 
Tropfen  zusammenzuziehen.  Dieser  Tendenz  wirkt 
aber  die  Adhäsion  an  das  Haar  entgegen;  infolge- 
dessen entsteht  ein  „Unduloid".  Dieses  hält  sich 
relativ  lange,  noch  länger  bei  Flüssigkeiten  von 
größerer  Viskosität.  So  lassen  sich  derartige 
„künstliche  Pseudopodien"  besonders  schön  er- 
zielen aus  Canadabalsam  mit  Hilfe  eines  Haares 
in  Glyzerin. 

Für  unsere  Betrachtung  ist  es  von  besonderem 
Interesse,  daß  in  diesem  stereoplasmatischen 
Achsenfaden  ein  Protoplasma  vorliegt,  das  einen 
ganz  besonderen  Grad  von  Zähigkeit,  ja  Festig- 
keit erlangt  hat;  die  Achsenfäden  können  sich 
elastisch  biegen  und  zurückschnellen,  ja  knicken 
und  brechen.  Der  Übergang  aus  der  normal 
flüssigen  in  diese  feste  Phase  vollzieht  sich  rasch 
und  ebenso  rasch  der  entgegengesetzte  Prozeß 
der  Verflüssigung.  Wie  so  oft  in  der  lebenden 
Substanz  bestehen  Teile  flüssiger  und  fester  Kon- 
sistenz nebeneinander  und  können  ineinander 
übergehen,  verbunden  durch  alle  Grade  der  Vis- 
kosität. 

Doflein  schließt  seine  Pseudopodienstudien 
mit  den  Worten:  „Das  Rätsel  des  Protoplasmas, 
welches  das  Rätsel  des  Lebens  ist,  wird  jeden 
Naturforscher  immer  wieder  anziehen.  Wo  wir 
eine  Möglichkeit  sehen,  ihm  näher  zu  kommen, 
müssen  wir  sie  ergreifen.  Ich  glaube,  daß  die 
hier  von  mir  verzeichneten  Beobachtungen  uns 
manche  bisher  nicht  erklärbaren  Besonderheiten 
des  Protoplasmas  auf  bekannte  Gesetzmäßigkeiten 
zurückzuführen  erlauben.  Sie  zeigen,  welche  neue 
Gesichtspunkte  uns  oft  eine  neue  Methodik  an 
viel  untersuchten,  alt  bekannten  Objekten  anzu- 
wenden erlaubt.  Ich  hoffe,  daß  eine  Verfolgung 
der  hier  berührten  Probleme  uns  ein  Stück  dem 
Ziel  näher  bringen  wird,  die  Besonderheiten  des 
Protoplasmas,  der  lebenden  Substanz  auf  Gesetze 
der  Chemie  und  Physik  zurückzuführen"  —  oder 
aber  wir. werden  so  erkennen,  daß  es  doch  vitale 
Besonderheiten  gibt,  die  sich  nicht  „erklären" 
lassen,  daß  wir  das  Ziel  nicht  erreichen  werden. 
Und  nur  das  unerreichte  Ziel  scheint  uns  er- 
strebenswert und  schön. 


Literatur. 

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Gesell.  Morphol.  u.  Physiol.  München,  13. 

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N.  F.  XXI.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


125 


Spiro,  1920,  Physikal.  Chemie  der  Zelle  in  Oppen- 
heimers Biochemie  II.  1. 

Spek,  1920,  Beiträge  zur  Kolloidchemie  der  Zellteilung. 
Kolloidchem.  Beihefte  12. 

Tischler,  1921/22.  Allgemeine Pflanzenkaryologie.  Berlin. 

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Weber,  1917,  Plasroaviskosität  pflanzlicher  Zellen.  Zeit- 
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Ber.  deutsch,  bot.  Ges.  31. 

—  — ,  1916,  Wirkung  der  Schwerkraft  auf  die  Plasma- 
viskosität.    Jahrb.  wiss.  Botanik.  57. 


—  — ,    1921,    Zellsaflviskosität    lebender    Pflanzenzellen. 
Ber.  deutsch,  botan.  Ges.  39. 

—  — ,    1922,    Zentrifugierungsversuche    mit    ätherisierten 
Spirogyren.     Bloch.  Zeitschr. 

Winterstein,   1919,   Die  Narkose. 

Zollikofer,    1918,    Wirkung    der  Schwerkraft    auf  die 
Plasmaviskosität.     Beiträge  zur  allgemeinen  Botanik.   1. 

Nachtrag.     Während  der  Drucklegung  erschienen: 
Chambers,   1921,    The  formation  of  Ihe  Aster  in  arli- 

ficial  Parthenogenesis.     Journ.   Gener.   Physiol.  1. 

H  e  i  1  b  r  u  n  n  ,  192 1 ,  Protoplasmic  viscosity  changcs  during 

mitosis.     Journ.  experim.  Zoölogy.  34. 


[Nachdruck  verboten.] 


Der  neue  zentralafrikanische  fossile  Menschenfund. 

Von  Hans  Reck, 

Geolog. -paläontolog.  Institut  der  Universität  Berlin. 


Durch  die  Zeitschriften  und  Zeitungen  der 
letzten  Wochen  gingen  —  besonders  in  England 
aber  auch  bei  uns  —  zahlreiche  Artikel  über  einen 
neuen  Fund  vorzüglich  erhaltener  Reste  eines 
Menschen  in  einer  Höhle  in  Broken-Hill-JVIine  in 
Nord-Rhodesien.  Die  Erhaltung  der  Einzelteile 
läßt  darauf  schließen,  daß  ein  ganzes  Skelet  vor- 
gelegen haben  dürfte,  von  dem  jedoch  nur  Teile 
gerettet   wurden. 

Es  ist  eine  immer  wiederkehrende  Erscheinung, 
daß  bei  solchen  Funden  der  Sensation  des  Neuen, 
Seltenen  sofort  das  Aufeinanderplatzen  der  ab- 
weichendsten Meinungen  folgt  und  die  weitest- 
gehenden Hypothesen  auf  ganz  unsicherem  Grunde 
wie  Pilze  aus  der  Erde  schießen. 

So  sieht  A.  Keith  verschiedene  Merkmale  des 
Schädels  als  primitiver  an,  als  die  des  deutschen 
Neandertalers,  sucht  und  findet  viel  Vergleichbares 
mit  dem  Gibraltarschädel  und  möchte  nun  das 
Ursprungsland  dieses  ganzen  Menschentypus  so- 
gleich nach  Südafrika  verlegen,  von  wo  dann  auch 
unser  deutscher  Neandertaler  seine  Wanderung 
begonnen  hätte. 

Wood  ward  dagegen  spricht  den  Schädel  als 
im  ganzen  weniger  primitiv  und  daher  jünger  als 
den  Neandertaltyp  an,  obwohl  auch  er  noch  Spuren 
eines  affenartigen  Vorfahren  in  ihm  zu  entdecken 
glaubt.  Moderner  Gehirnschädel  und  primitives 
Gesicht  erscheinen    in    merkwürdigem  Gegensatz. 

Nun  hat  schon  Prof  Martin  in  einem  Auf- 
satz in  den  Münchener  Neuesten  Nachrichten  all 
diese  Behauptungen  einer  sehr  nötigen  abwägenden 
Kritik  unterzogen.  Ich  will  daher  auf  das  anthro- 
pologische Moment  der  Frage  hier  nicht  .mehr 
eingehen,  kurz  beleuchten  möchte  ich  dagegen  die 
geologischen  Begleitumstände  des  Fundes. 

Man  kann  wohl  sagen,  daß  nicht  nur  anthro- 
pologisch sondern  auch  geologisch  bisher  nichts 
Beweisendes  für  das  Alter  des  Fundes  beigebracht 
ist.  Die  geringe  Fossilisation  der  Knochen  spricht 
eher  gegen  wie  für  ein  hohes  Alter  der  Funde, 
denn  der  Fossilisationsprozeß  kann  in  den  Tropen 
erstaunlich  schnell  und  intensiv  vor  sich  gehen, 
während  andererseits  der  restlose  Zerfall  sehr 
rasch  sich  zu  vollziehen  pflegt,  wo  keine  guten 
Fossilisationsbedingungen  vorliegen  —  man  wird 
aber  nicht  sagen  dürfen,  daß  dem  in  allen  Fällen 


so  sein  muß.  Auf  diesem  Wege  allein  ist  kaum 
ein  entscheidender  Beweis  möglich. 

Geologisch  höchst  uncharakteristisch  ist  auch 
der  Fundort.  Eine  Höhle  kann  jeden  Alters  sein. 
Und  selbst  wenn  die  Höhlenbildung  eines  be- 
grenzten Gebietes  ihrem  Alter  nach  geologisch 
bestimmt  werden  kann,  was  hier  meines  Wissens 
noch  nicht  der  Fall  ist,  so  wird  dies  immer  nur 
eine  generelle  Bestimmung  sein,  ohne  für  die 
Bildungszeit  der  Einzelhöhlen  eine  scharfe  Grenz- 
ziehung zu  ermöglichen,  außerhalb  der  nach  oben 
oder  unten  keine  Höhle  mehr  entstanden  oder 
weiter  gebildet  worden  sein  könnte. 

Außerordentlich  wichtig  dagegen  sind  für  die 
Altersdeutung  die  den  Menschenfund  begleitenden 
tierischen  fossilen  Reste.  Von  diesen  wird  aber 
allseits  hervorgehoben,  daß  sie  völlig  rezent  seien. 
Das  spricht  sehr  gegen  ein  auch  nur  jung-  bis 
mitteldiluviales  Alter,  denn  wir  wissen  von  einigen 
anderen  zentralafrikanischen  Fundpunkten  heute 
bereits  sicher,  daß  die  jung-mitteldiluviale  Fauna 
Afrikas  wesentlich  abweichend  von  der  heutigen 
zusammengesetzt  war.  Das  gilt  in  erster  Linie 
von  den  Elefanten.  Den  heutigen  afrikanischen 
Elefant  kennt  man  im  Diluvium  Afrikas  noch 
nicht,  wohl  aber  bildet  eine  ganz  und  gar  ab- 
weichende Elefantenrasse,  ein  Elephas  antiquus, 
einen  überaus  charakteristischen  Bestandteil  dilu- 
vialer afrikanischer  Säugetierfaunen. 

Ist  also  —  und  das  muß  auch  noch  festgestellt 
werden  —  der  Mensch  gleichzeitig  mit  der  heute 
mit  ihm  vereinten  Fauna  in  die  Höhle  geraten  — 
wobei  die  Massenanhäufung  verschiedenartiger 
Knochenreste  nichts  geologisch  Seltenes  ist,  wenn 
auch  die  Genese  solcher  Lagerstätten  ein  noch 
nicht  befriedigend  gelöstes  Problem  darstellt  — 
und  ist  diese  Fauna  in  der  Tat  rezent,  dann  ver- 
ringert sich  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  hier  ein 
diluvialer  Menschenfund  vorliegt,  noch  um  ein 
Beträchtliches. 

Doch  ist  auch  hier  Vorsicht  nötig.  Bei  den 
Tausenden  von  Tierknochen  der  Höhle  bedarf  es 
einer  sehr  eingehenden  Untersuchung,  um  be- 
stimmt sagen  zu  können,  ob  die  Fauna  rezent 
oder  prärezent  ist.  Eine  solche  genaue  Unter- 
suchung scheint  aber  noch  nicht  geschehen  zu 
sein.     Denn  nicht  alle  Tierformen  haben  sich  seit 


126 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  9 


diluvialer  Zeit  gleichmäßig  geändert.  Manche  gar 
nicht.  Viele  nur  in  bestimmten  Skeletteilen. 
Andere  ältere  Formen  dagegen  fehlen  der  heutigen 
Fauna  vollständig. 

Trotz  unserer  geringen  Kenntnis  der  diluvialen 
zentralafrikanischen  Fauna  können  wir  doch  heute 
schon  mit  Sicherheit  sagen,  daß  sie  in  vielem 
(und  das  gilt  besonders  für  wenig  charakteristische 
Einzelknochen)  der  heutigen  zwar  gleich  oder  ähn- 
lich ist,  daß  sie  aber  auch  zahlreiche  Abweichungen 
von  heutigen  Formen  und  vor  allem  zahlreiche 
ausgestorbene  Typen  und  selbst  Genera  hat,  welche 
ihren  Gesamthabitus  von  dem  heutigen  Bild  ganz 
wesentlich  verschieden  erscheinen  lassen. 

Und  noch  einen  Funkt  möchte  ich  in  die  Dis- 
kussion des  neuen  Fundes  tragen.  Vor  dem 
rhodesischen  Fund  bereits  hat  eine  deutsche  Expe- 
dition in  deutsch-afrikanischer  Erde  einen  fossilen 
zentralafrikanischen  Menschen  gefunden  und  ge- 
borgen. Es  war  die  191 3  von  Berlin  ausgegangene 
Oldoway  Expedition,  welche  mit  den  ersten  reichen 
Funden  einer  jung-mitteldiluvialen  zentralafrika- 
nischen Säugetierfauna  auch  ein  vollständiges 
fossiles  Menschenskelet  mit  nach  Hause  brachte, 
das  heute  im  Berliner  Museum  für  Naturkunde 
aufbewahrt  wird. 

Die   Ungunst   der  Verhältnisse    und    der   Zeit 


hat  die  Bearbeitung  und  Veröffentlichung  der 
Resultate  dieser  Expedition  immer  wieder  ver- 
zögert. Außer  der  teilweisen  Bearbeitung  des 
Elefantenmaterials  konnten  bisher  nur  vorläufige 
Mitteilungen  darüber  publiziert  werden.  Über 
den  Menschenfund  ist  das  letzte  Wort  noch 
nicht  gesprochen.  Die  Fauna,  mit  der  er  zu- 
sammenliegend in  festen  gebankten  Tuffen  längst 
erloschener  Vulkane  gefunden  wurde,  ist  sicher 
jung-  bis  mitteldiluvial.  Das  hat  besonders 
die  Bearbeitung  der  Elefanten  gelehrt.  Das 
Menschenskelet  selbst  jedoch,  dessen  fossiler 
Habitus  ebenso  wie  seine  Vollständigkeit  auffällt, 
gehört  sicher  einem  hoch  entwickelten  Typ  an. 
Wohin  er  zu  stellen  ist,  ist  noch  fraglich.  Meist 
sprechen  ihm  die  Anthropologen  negroide  Eigen- 
schaften ab,  und  sehen  Hinweise  auf  eine  indisch- 
asiatische Heimat,  was  mit  dem  Bild  der  Fauna 
in  gutem  Einklang  stehen  würde.  —  Ist  der  Mensch 
nun  in  der  Tat  gleichzeitig  mit  dieser  ihm  nicht 
fremd  gegenüberstehenden  Fauna  in  die  Tuffe  ein- 
gebettet worden,  so  haben  wir  hier  einen  geologisch 
fixierbaren  diluvialen  afrikanischen  Menschenfund 
vor  uns,  der  bei  dem  neuen  rhodesischen  Vor- 
kommen an  erster  Stelle  zum  Vergleich  heranzu- 
ziehen wäre,  was  meines  Wissens  bisher  noch 
nicht  geschehen  ist. 


Bücherbesprechungen. 


Bölsche,     Wilhelm,     Vom     Bazillus     zum 
Affenmenschen.        Naturwissenschaftliche 
Plaudereien.       11. — 15.  Tausend.       Vollständig 
umgearbeitete  und  erweiterte  Neuausgabe.  320  S. 
Jena  192 1,  Eugen  Diederichs.     40  M.,  geb.  55  M. 
Es    ist    eine    wahre   Erquickung  —   auch    für 
den  Fachmann  —  sich  in    den  jetzigen  Zeiten  in 
ein  Werk  wie  das  vorliegende  versenken  zu  können. 
Der  Titel  verleitet  zu  der  Vorstellung,  als  ob  wir 
es    hier    mit    einer    mehr     oder    weniger    streng 
durchgeführten    entwicklungsgeschichtlichen    Dar- 
legung zu  tun  hätten,  wie  sie  sich  etwa   in  dem 
Werke     Konrad    Guenthers:     „Vom    Urtier 
zum  Menschen"  findet.     Wie  sich  aber  schon  aus 
dem  Untertitel    und    aus  den  Kapitelüberschriften 
ergibt,    liegt    hier    doch    etwas    ganz    anderes  vor 
und  der  Titel  deckt  nicht  den  vielseitigen  Inhalt. 
Die  einzelnen  Abschnitte  lauten :  Bazillusgedanken ; 
Vom  klassischen  Boden  des  Ichthyosaurus  (dieses 
Kapitel  wurde  ganz  neu  niedergeschrieben) ;  Wenn 
der  Komet  kommt;    Ein    lebendes  Tier    aus    der 
Urwelt;    Das  Geheimnis    des  Südkontinents;    Der 
Affenmensch  von  Java;    Vom    dicken  Vogt;    Das 
Märchem  des  Mars. 

Wir  wollen  doch  sehr  dankbar  sein,  daß  wir 
einen  Bölsche  haben,  der  die  Resultate  der 
wissenschaftlichen  Arbeit,  wie  sie  in  unseren 
Laboratorien,  Museen,  Sternwarten  und  Studier- 
stuben in  mühsamer,  tiefgründiger  Forscherarbeit 
heranreiften,  in  weite  Kreise    hinausträgt    und  sie 


meist  erst  auf  diese  Weise  der  Allgemeinheit  nahe 
bringt  und  sie  dem  Verständnis  der  Laien  er- 
schließt. Freilich  kommt  es  hierbei  alles  auf  das 
wie  an  und  da  ist  der  Leser  bei  Bölsche 
unter  gewissenhafter  und  sachkundiger  Führung. 
Allein  schon  das  hier  zur  Besprechung  stehende 
Buch  ergibt  ein  erstaunlich  umfassendes  Studium, 
oft  bis  in  kleinste  Einzelheiten  hinein,  sowohl 
nach  der  literarischen,  geschichtlichen,  philosophi- 
schen als  auch  vor  allem  nach  der  naturwissen- 
schaftlichen Seite  hin,  ferner  eine  verblüffende 
Übersicht  über  die  Bewertung  der  einschlägigen 
Forschungen.  Bei  dieser  glänzenden  Beherrschung 
der  Spezialgebiete  und  bei  der  hinzutretenden 
geistreichen  künstlerisch  gewandten  Behandlung 
baut  sich  ein  Ganzes  von  bestrickendem  Reiz 
auf,  dessen  Fundamente,  wie  gesagt,  immer 
auf  dem  Boden  der  Wissenschaft  ruhen.  Und 
dort  wo  die  Wissenschaft  selbst  noch  tastet  und 
Zuflucht  nehmen  muß  zu  Hypothesen,  und  wie 
oft  ist  das  der  Fall,  da  sehen  wir  nicht  selten 
bei  Bölsche  eine  vorsichtige  und  zurückhaltende 
Weiterführung  in  oft  wundervollen  Entwicklungs- 
gängen, die  den  Wert  oder  Unwert  dieser  oder 
jener  Hypothese  durch  diese  Gesamtschau  in  eine 
neue  Beleuchtung  rückt. 

Seit  langem  ist  die  Fähigkeit  Bölsches  an- 
erkannt, auch  die  trockenste  und  schwierigste 
Materie  dem  Laien  schmackhaft  und  mundgerecht 
zu  machen.     Sein  Stil  ist  einfacher  und  schlichter 


N.  F.  XXI.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


127 


geworden,  aber,  wie  mir  scheint,  um  so  eindrucks- 
voller. 

Auf  die  einzelnen  Kapitel  kann  hier  nicht  ein- 
gegangen werden.  Es  sei  nur  bemerkt,  daß  die 
geistvolle  Skizze:  „Vom  dicken  Vogt"  wohl  das 
Beste  sein  dürfte,  was  je  über  Karl  Vogt  ge- 
schrieben worden  ist  mit  warmer  Anerkennung, 
humorvoller  Satyre  und  „mit  feiner  Bonhomie, 
aber  doch  mit  einem  Stich  in  die  Karikatur". 
V.  Büttel-Reepen. 


Mayer,    Adolf,    Lehrbuch  der  Agrikultur- 
chemie   in    Vorlesungen.       7.    neubearb. 
Aufl.     Bd.   I.     Die    Ernährung    der  grünen  Ge- 
wächse   in    27  Vorlesungen    zum    Gebrauch  an 
Universitäten    und  höheren  landwirtschaftlichen 
Lehranstalten,    sowie    zum    Selbststudium.     8 ". 
VIII  und  460  S.     40  Textabbild,    und    i  Tafel. 
Heidelberg    1920,    Carl    Winters    Universitäts- 
buchhandlung.    Geb.  54  IVI.  u.  Sortim.- Zuschlag. 
Wenn  man  die  Zahl  der  Auflagen  als  Maßstab 
für  die  Güte  eines  Buches  anlegt,  so  erscheint  es 
überflüssig,     dem    May  er  sehen    Lehrbuch    noch 
eine  besondere  Empfehlung  mit  auf  den  Weg  zu 
geben.     Im  Jahre  1870  zum  ersten  Male  erschienen, 
hat   es   bisher   6  Auflagen   erlebt   und  das  große 
Interesse,   das  sowohl   von  Seiten   der  Studieren- 
den als  auch  Lehrer  und  Forscher  für  dieses  Buch 
besteht,  hat  eine  Neuauflage  notwendig  gemacht. 
Wieder  auf  den  neuesten  Stand  unseres  Wissens 
gebracht,   gibt   das   vorliegende  Buch   ein  klares, 
übersichtliches    und     vollständiges    Bild    von    der 
Pflanzenernährungslehre;   dabei    hat  deren  histori- 
sche Entwicklung  soweit  Erwähnung  gefunden,  als 
zum  Verständnis    des    Gegenwärtigen    notwendig 
ist.     Gerade    darin    besteht    ein    besonderer    Vor- 
zug   dieses   Lehrbuches.     Denn    nichts    ist    mehr 
geeignet,    ein    vollständiges    Verständnis   für   eine 
Sache  zu  erzeugen,  als  sie  werden  zu  sehen.    Der 
Umstand,    daß    Adolf   Mayer   als    Nestor    der 
Agrikulturchemiker  die  Entwicklung  miterlebt  und 
außerdem   selbsttätig    mit    gefördert  hat,    verleiht 
ihm  die  Lebhaftigkeit  der  Schilderung,  die  Gründ- 
lichkeit und  Klarheit  der  Darstellung. 

Der  Stoff  ist   in  Form   von  Vorlesungen  dar- 
gelegt und  folgendermaßen  eingeteilt: 

I.  Abschnitt:    Die    stickstoffreien     organischen 
Bestandteile  der  Pflanzen. 

Vorlesung  i — 5:  Die  Produktion  von  orga- 
nischer Substanz. 

Vorlesung  6:  Wanderung  der  organischen 
Substanz. 

Vorlesung  7:  Die  Pflanzenatmung. 

Vorlesung  8 — 10:  Die  stickstoffreien  orga- 
nischen Bestandteile  der  Pflanze. 

II.  Abschnitt:    Die    stickstoffhaltigen    Bestand- 
teile der  Pflanze. 
Vorlesung   ii  — 15. 

III.  Abschnitt:    Die  unverbrennlichen  Bestand- 
teile der  Pflanze. 
Vorlesung  16 — 20. 


IV.  Abschnitt:  Die  Gesetze  der  Stoffaufnahme. 
Vorlesung  21 — 25. 

V.  Abschnitt:  Sonstige  Vegetationsbedingungen. 
Vorlesung  26 — 27. 

Am  Ende  jedes  Abschnittes  sind  die  wichtig- 
sten Ergebnisse  in  kurzen  Sätzen  zusammen- 
gefaßt. Auf  diese  Weise  ist  die  ganze  Lehre  der 
Pflanzenernährung  auf  99  Thesen  zusammenge- 
drängt. Diese  Zusammenfassung  nützt  dem  Lehrer 
zur  schnellen  Orientierung  über  den  Inhalt  der 
einzelnen  Abschnitte;  dem  Studierenden  aber 
bietet  diese  Vereinheitlichung  des  reichen  und 
mannigfaltigen  Stoffes  eine  klare  Übersicht,  die 
ihm    bei    Wiederholung    wertvolle  Dienste   leistet. 

Da  das  May  er  sehe  Lehrbuch  hauptsächlich 
die  rein  pflanzenphysiologischen  Momente  hervor- 
hebt, bietet  es  eine  willkommene  Ergänzung  zu 
dem  Lehrbuch  von  Schneidewind,  welches  in 
erster  Linie  die  praktische  Seite  der  Pflanzen- 
ernährung beleuchtet.  Es  ist  für  den  Bota- 
niker, der  sich  über  die  Ernährung  der  Pflanzen 
eingehender  unterrichten  will,  ebenso  wertvoll 
wie  für  den  Agrikulturchemiker,  wenn  dieser  be- 
absichtigt, nach  der  theoretischen  Seite  hin  sich 
zu  vervollkommnen. 

Die  Ausstattung  des  Buches  ist  eine  sehr  gute. 
Wießmann  (Berlin). 


Kühn,  Alfred,  Morphologie  der  Tiere  in 
Bildern,  i.  Heft:  Protozoen;  i.Teil:  Flagel- 
laten.  106  S.  Berlin  1921,  Gebr.  Borntraeger. 
21  M. 

Das  erste  Heft  eines  groß  angelegten  Werkes 
liegt  vor  uns.  Der  Verf.  beabsichtigt  in  einer 
großen  Anzahl  von  Einzelheften  eine  vollständige 
Bildersammlung  des  gesamten  Tierreiches  zu 
geben,  um  dadurch  das  Verständnis  der  tierischen 
Baupläne  zu  erleichtern.  Das  erste  Heft,  welches 
die  Klasse  der  Flagellaten  behandelt,  ist  erschienen. 
Mit  sehr  großem  Fleiß  sind  die  Abbildungen  der 
wichtigsten  Formen  und  Typen  dieser  Protozoen- 
gruppe aus  den  Originalarbeiten  zusammengesucht 
und  in  einheitlicher  Darstellung  wiedergegeben. 
Der  kurze  zu  den  Bildern  gehörige  Text  bringt 
eine  ganz  kurze,  aber  klare  Übersicht  über  die 
wichtigsten,  charakteristischen  Eigenschaften  und 
Bauverhältnisse  des  betreffenden  Tieres.  Sämt- 
liche Abbildungen  sind  als  Federzeichnungen  um- 
gezeichnet und  als  Zinkätzungen  wiedergegeben. 
Gerade  diese  einheitliche  Ausführung  der  Figuren 
ermöglicht  eine  Vergleichung  der  verschiedenen 
Formen  und  damit  eine  Ableitung  der  einzelnen 
Typen  voneinander  und  die  Klärung  ihrer  ver- 
wandtschaftlichen Verhältnisse.  Die  außerordent- 
lich klaren  und  sauberen  Zeichnungen  sind  teils 
vom  Verf.  selbst,  teils  von  Fräulein  Else  Arm- 
bruster hergestellt.  Daß  allein  die  Darstellung 
der  Klasse  der  Flagellaten  über  lOO  Seiten  Raum 
einnimmt,  zeigt,  daß  die  getroffene  Auswahl  der 
P'ormen  sehr  reichhaltig  ist  und,  daß  man  in  dem 
Heft  sehr  viel  mehr  Typen  vertreten  findet  als 
etwa  in  den  üblichen  Lehrbüchern. 


128 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  9 


Diese  neue  Bildersammlung  wird  daher  sowohl 
dem  Forscher,  der  die  Verwandtschaftsverhältnisse 
der  Formen  untersucht,  eine  reiche  Materialsamm- 
lung an  die  Hand  geben,  als  auch  dem  Lernen- 
den, der  die  Bauverhältnisse  der  Tiere  kennen 
lernen  will,  mühseliges  Einzelstudium  erleichtern; 
und  besonders  der  Unterrichtende,  sei  es  in  der 
Schule  oder  im  Kolleg,  findet  in  diesem  Werke 
eine  übersichtliche  Auswahl  brauchbarer  Abbil- 
dungen aller  wichtigeren  Typen.  IVIögen  weitere 
Hefte  diesem  ersten  recht  bald  folgen  und  das 
Werk  die  ihm  gebührende  Verbreitung  finden. 
A.  Pratje,  Halle  a.  S. 


Schoenichen,  W.,  Praktik  um  der  Insekten- 
kunde nach  biologisch  ökologischen  Gesichts- 
punkten. Zweite,  vermehrte  und  verbesserte 
Auflage.  227  S.  mit  261  Abb.  im  Text.  Jena 
1921,  G.  Fischer.  Preis  brosch.  34  M.,  geb. 
40  IVI. 
Wer  den  Körperbau  der  Insekten  in  seiner 
unerschöpflichen  Mannigfaltigkeit  und  Zweck- 
mäßigkeit seiner  einzelnen  Teile  näher  kennen 
gelernt  hat,  wird  mit  dem  Verf  darin  überein- 
stimmen, daß  sich  die  Insekten  wie  kaum  eine 
andere  Tiergruppe  als  Studienobjekte  für  mikro- 
skopische Untersuchungen  und  zur  Einführung  in 
biologisch- ökologische  Betrachtungen  eignen.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  ist  das  Schoenichen- 
sche  Praktikum  entstanden,  das  jetzt  in  zweiter 
Auflage  vor  uns  liegt.  In  erster  Linie  für  den 
Unterricht  an  Schulen  und  zur  Ausbildung  von 
Lehramtskandidaten  bestimmt,  hat  es  auch  rasch 
an  den  Hochschulen  Verbreitung  gefunden.  Bei  der 
Darstellung  ist  grundsätzlich  nur  das  Chitinskelett 
berücksichtigt  worden,  dessen  Teile  sich  ohne 
Mühe  für  mikroskopische  Studien  herrichten  lassen, 
ohne  daß  wie  bei  den  inneren  Organen  kompli- 
ziertere Methoden,  wie  Färben,  Schneiden  u.  a. 
nötig  werden.  In  den  Kreis  der  Betrachtungen 
sind  Vertreter  aus  den  verschiedensten  Insekten- 
gruppen gezogen,  vorzugsweise  solche,  die  aus 
biologischen  Gründen  unser  Interesse  beanspruchen 
dürfen.  Neu  hinzugefügt  wurden  in  der  vorliegen- 
den Auflage  Abschnitte  über  die  niedersten  In- 
sekten, die  Thysanuroidea ,  und  über  blüten- 
besuchende Hautflügler,  Käfer  und  Fliegen.  Sehr 
zu  begrüßen  ist,  daß  auch  weiter  mehrere  wirt- 
schaftlich oder  hygienisch  wichtige  Insekten,  wie 
die  Kleiderlaus,  der  Hundefloh,  Borkenkäfer  u.  a. 
aufgenommen  worden  sind.  Bemerkenswert  sind 
die  vielen  gut  gelungenen  Textfiguren,  die  den 
Gebrauch  des  Buches  wesentlich  unterstützen. 
Die  Zahl  dieser  Abbildungen  wurde  in  der  vor- 
liegenden Auflage  noch  um  60  vermehrt. 

R.  Heymons. 


Arrhenius,  Svante,  Der  Lebenslauf  der 
Planeten.  35  Abb.  166  S.  Leipzig  1921, 
Akadem.  Verlagsgesellschaft  m.  b.  H. 
Der  Verf.  gibt  hier  eine  Ergänzung  seiner 
Kosmogonie  im  „Werden  der  Welten".  Er  be- 
spricht zunächst  ausführlich  die  Ergebnisse  der 
neueren  Forschungen  über  Wesen,  Form  und 
Ausdehnung  der  Milchstraße,  der  Grundlage  des 
Sternsystems  und  erörtert  dann  die  Frage  nach 
der  Stellung  der  Nebel  und  kugeligen  Sternhaufen 
zur  Milchstraße,  wieweit  man  annehmen  darf,  es 
hier  mit  selbständigen  Systemen  zu  tun  zu  haben, 
wobei  die  Untersuchungen  Shapleys  die  ge- 
bührende Würdigung  finden.  Aus  den  nächsten 
drei  Kapiteln  spricht  ganz  der  Physiker,  wenn  er 
die  klimatische  Bedeutung  des  Wasserdampfes 
höchst  anschaulich  schildert  und  die  physikalische 
und  chemische  Bedeutung  der  Atmosphären,  ihrer 
Zusammensetzung  und  chemischen  Veränderung 
in  geologischen  Zeiten  hervorhebt.  Mars  verdient 
ein  besonderes  Kapitel,  wenig  bekannte  Einzel- 
heiten aus  der  Marsforschung,  wie  die  Feststellung 
des  Wassergehaltes  der  Marsatmosphäre,  finden 
wir  hier,  und  auf  sie  sich  aufbauend  eine  Mars- 
meteorologie, die  viel  für  sich  hat,  wenn  sie  auch 
andern  Arbeiten,  vor  allem  der  sonst  ansprechend- 
sten von  Baumann  widerspricht.  Hier  wird  die 
nächste  Marsopposition  neues  Material  herbei- 
schaffen müssen.  Das  letzte  Kapitel  ist  der  zu- 
sammengehörigen Gruppe  von  Merkur,  Venus 
und  Mond  gewidmet,  je  mehr  wir  vom  Monde 
wissen,  um  so  mehr  muß  das  überaus  dürftige 
Beobachtungsmaterial  der  beiden  anderen  Planeten 
mit  Hilfe  von  Analogien  ausgewertet  werden,  so 
daß  ein  einigermaßen  brauchbares  Ergebnis  erzielt 
werden  kann.  Die  Darstellung  ist,  wie  immer  bei 
Arrhenius,  sehr  klar  und  flüssig,  man  merkt 
dem  Text  nicht  an,  daß  es  sich  um  eine  Über- 
setzung aus  dem  Schwedischen  handelt. 

Riem. 


Literatur. 

Karny,  Dr.  Heinrich,  Der  Insektenkörper  und  seine 
Terminologie.     Wien  '21,  A.  Pichlers  Witwe  &  Sohn.      7  M. 

Süßwasserflora  Heft  7:  Heering,  W. ,  Chlorophyceaue 
IV.  Siphonoclodiales,  Siphonales.  Jena  '21,  Gustav  Fischer. 
15  M.,  geb.  20  M. 

Teubners  naturwissenschaftliche  Bibliothek  Heft  5  :  R  u  s  c  h , 
Himmelsbeobachtungen.  Leipzig  und  Berlin  '21,  B.  G.  Teubner. 
Geb.  20  M. 

Collier,  Dr.  W.  A.,  Einführung  in  die  Variationsstatislik. 
Berlin  '21,  Julius  Springer.     33  M. 

Pringsheim,  Peter,  Kluoreszenz  und  Phosphoreszenz 
im  Lichte  der  neueren  Atomtheorie.  Berlin '21,  Julius  Springer. 
4S  M. 

Laue,  Prof.  M.  v.,  Das  physikalische  Weltbild.  Karls- 
ruhe i.  B.  '21,  C.   F.  MüUerschc  Hofbuchhandlung  m.b.H. 


Inbftlt:  l'riedl  Weber,  Die  Viskositiit  des  Protoplasmas.  S.  113.  H.  Reck,  Der  neue  zentralafrikanische  fossile 
Menschenfund.  S.  125.  —  Bücberbesprechungen:  W.  Bölsche,  Vom  Bazillus  zum  Affenmenschen.  S.  126. 
A.  Mayer,  Lehrbuch  der  Agrikulturchemie  in  Vorlesungen.  S.  127.  A.  Kühn,  Morphologie  der  Tiere  in  Bildern. 
S.  127.  W.  Schoenichen,  Praktikum  der  Insektenkunde.  S.  128.  Sv.  Arrhenius,  Der  Lebenslauf  der  Planeten. 
S.  128.  —    Literatur:  Liste.  S.   128. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Patz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Ba 
T  ganzen  Reihe  .^7. 


Sonntag,  den  5.  März  1922. 


Nummer  10. 


[Nachdruck  verbotea.) 

Der  schlimmste  Vorwurf,  der  einen  Chemiker 
treffen  kann,  ist  die  Behauptung,  daß  die  Verbin- 
dung, die  er  dargestellt  und  sogar  mit  einer  For- 
mel bezeichnet  hat,  nicht  rein  sei.  Denn  diese 
Formel  will  ja  nicht  nur  der  Garantieschein  sein 
für  die  in  ihr  ausgedrückte  qualitative  und  quan- 
titative Zusammensetzung  des  neuen  Körpers, 
sondern  auch  die  konzentrierteste  Beschreibung 
seiner  Eigenschaften.  Eine  stoffliche  Unreinheit 
läßt  mithin  sofort  in  Zweifel  ziehen,  ob  die  be- 
obachteten Eigenschaften  dem  definierten  Körper 
oder  nicht  vielmehr  seinen  Verunreinigungen  zu- 
gerechnet werden  müssen.  Erst  einem  analysen- 
reinen Produkt  ordnen  wir  die  Mannigfaltigkeit 
seiner  Eigenschaften  bei  und  erwarten,  sie  in  ihrer 
Gesamtheit  immer  dann  wiederzufinden,  wenn  der 
gleiche  Stoff  vorliegt.  Es  soll  nicht  nur  der  Stoff, 
auf  verschiedene  Art  hergestellt,  immer  die  näm- 
lichen Umsetzungsreaktionen  geben,  sondern  auch 
die  physikalischen  Merkmale  sollen  konstant  sein; 
ja  gerade  an  ihnen,  z.  B.  an  Kristallform  und 
Lichtbrechung,  an  Schmelzpunkt  und  Siedepunkt, 
an  Dichte  und  Löslichkeit  erkennt  der  Chemiker 
die  stoffliche  Individualität.  Und  doch,  wie  häufig 
kommt  es  vor,  daß  zwei  bisher  als  identisch  er- 
achtete Stoffe  bei  einer  neuen,  verfeinerten  Unter- 
suchung voneinander  abweichen,  vielleicht  nur  in 
einer,  ganz  untergeordneten,  Richtung.  Ist  diese 
geringfügige  Unterschiedlichkeit  die  Folge  einer 
gleichfalls  sehr  feinen,  materiellen  Andersartigkeit? 
Zeigt  schon  ein  neuer  Körper  seine  Existenz  an  1 
Wie  eng  sind  überhaupt  stoffliche  Zusammen- 
setzung und  Eigenschaften  miteinander  gekoppelt  ? 

Ein  künstlicher  Rubin  und  der  natürliche  Edel- 
stein-Rubin sind  für  einen  Chemiker  dasselbe, 
nämlich  Aluminiumoxyd,  das  durch  Chrom  ange- 
färbt ist;  auch  der  Physiker  und  der  Mineraloge 
werden  in  Kristallform  und  Lichtbrechung  beide 
als  identisch  erkennen.  Der  Juwelier  dagegen 
wird  den  nachgemachten  vom  echten  scharf 
sondern,  für  ihn  ist  die  Entstehungsart  ein  wesent- 
liches Merkmal.  Welche  Unterschiede  in  den 
Sorten  sieht  der  Kenner,  der  Maurer  in  den  Kalk- 
steinen, der  Gerber  in  dem  Leder,  die  einem  Laien 
alle  als  gleich  erscheinen!  Von  der  Gründlichkeit 
unserer  Untersuchung  hängt  es  ab,  ob  wir  zwei 
Stoffe  für  ungleich,  ähnlich  oder  identisch  erklären. 
Auch  unser  Urteil  ist  maßgebend,  je  nach  dem 
Wert,  den  wir  einer  Eigenschaft  zugestehen,  richtet 
sich  die  stoffliche  Klassifizierung.  So  manche 
Polemik  in  der  Chemie  erklärt  sich  daraus,  daß 
dem  einen  Forscher  die  Merkmale  seiner  von  ihm 
hergestellten  Verbindung   schon   reichen,   um  die 


Stoff  und  Eigenschaft. 

Von  Ernst   Fischer,  Leipzig. 


Existenz  eines  neuen  Stoffes  zu  behaupten,  während 
sie  dem  anderen  nicht  genügen. 

Vor  einigen  Jahren  gab  es  in  den  Apotheken 
das  echte  Aspirin  von  Bayer  &  Co.,  und  daneben, 
zum  halben  Preise,  das  Äcidum  acetosalicylicum. 
Chemisch  und  auch  therapeutisch  waren  beide 
identisch,  die  Verschiedenheit  des  Herstellungs- 
ortes war  dem  orientierten  Käufer  nicht  wesent- 
lich genug,  dem  teureren  Produkte  den  Vorzug 
zu  geben.  So  sind  die  vielen  künstlichen  Pro- 
dukte der  chemischen  Großindustrie  nicht  mehr 
verschieden  voneinander:  der  Alkohol,  der  bei  der 
Gärung  der  Kartoffel  erhalten  wird,  ist  nicht  reiner 
oder  besser  als  derjenige,  den  die  Verzuckerung 
des  Holzes  liefert.  Der  Stoff,  welcher  die  Eigen- 
schaften, auf  die  es  uns  ankommt,  in  stärkstem 
und  reinstem  Maße  besitzt,  wird  als  höchstpro- 
zentiger  gewertet,  und  deshalb  geben  wir  bei 
Riechstoffen  und  Düngemitteln  und  Farben  dem 
Fabrikprodukte  vor  dem  natürlichen  den  Vorzug. 

Nur  auf  einem  Gebiete  sind  uns  die  „Surrogate" 
in  schlechter  Erinnerung :  bei  den  Genußmitteln. 
Künstlicher  Honig  ist  eben  doch  kein  Bienenhonig, 
trotzdem  er  süß  und  gelb  und  klebrig  ist.  Die 
Übereinstimmung  der  echten  und  der  Ersatznähr- 
mittel erstreckt  sich  nur  auf  die  sekundären  Merk- 
male. Der  stoffliche  Aufbau  ist  nicht  nachge- 
macht worden,  und  gerade  mit  ihm  ist  der  Nähr- 
wert verknüpft.  Und  wie  wenig  bekannt  selbst 
die  Zusammensetzung  der  Nahrungsmittel  ist,  lernt 
die  physiologische  Chemie  erst  in  neuester  Zeit 
kennen.  Bis  vor  kurzem  hielt  man  außer  den 
anorganischen  Salzen  drei  Klassen  organischer 
Verbindungen  zur  Ernährung  für  notwendig:  Die 
Fette,  die  Kohlehydrate  und  die  Eiweiiästoffe. 
Nach  dieser  vermeintlich  restlosen  qualitativen 
Feststellung  war  man  bereits  zu  quantitativen  Ver- 
suchen übergegangen  und  bemühte  sich,  eine 
rationelle  Ernährung  auf  grund  des  Energiebedarfes 
des  Menschen  und  des  durch  Verbrennung  fest- 
stellbaren Energiegehaltes  der  Nahrungsmittel  zu 
begründen.  Bis  sich  plötzlich  zeigte,  daß  diese 
Speisekarte  noch  unvollständig  war,  und  daß  zu 
den  klassischen  Nahrungsmitteln  noch  weitere  Zu- 
taten kommen  müssen.  Diese  neuen  Bestandteile 
finden  sich  in  den  Schalen  der  Hülsenfrüchte,  im 
Salat  usw.  Werden  sie  dem  Organismus  vorent- 
halten, so  stellen  sich  Stoffwechselkrankheiten  ein, 
z.  B.  Skorbut  oder  Beri-Beri.  Diese  Ergänzungs- 
stoffe erhielten  den  bezeichnenden  Namen:  Vita- 
mine, aber  ihre  stoffliche  Natur  ist  noch  durch- 
aus unbekannt.  Ihre  Menge  steht  in  keinem  Ver- 
hältnis   zu    ihrer   Wirkung,  so  daß  sie    eher   den 


ISO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  R  XXI.  Nr.  10 


Katalysatoren  verglichen,  denn  als  energieliefernde 
Nahrungsmittel  bezeichnet  werden  können.  Der 
biologische  Wert  unserer  'Nahrungsmittel  geht 
noch  weit  über  die  chemische  Charakteristik 
hinaus,  noch  immer  hat  die  Küche  der  Hausfrau 
ihr  Recht.  Es  ist  ein  weiter  Weg,  bis  den  biolo- 
gischen Eigenschaften  Geschmack  oder  Verdau- 
lichkeit ein  stofflich  chemisches  Verhalten  zuge- 
ordnet werden  kann :  in  der  Erkennung  des  alt- 
backenen Brotes,  des  schaumigen  Bieres,  des  glasigen 
Fisches,  des  brotigen  Fleisches  ist  der  Fein- 
schmecker dem  Physiko-Chemiker  noch  immer 
überlegen,  und  der  Weinkenner  wird  noch  lange 
Blume  und  Aroma  ohne  die  Umwege  des  Ana- 
lytikers prüfen. 

Sogar  in  seinem  eigensten  Gebiete  läßt  sich 
der  Chemiker  von  dem  Biologen  helfen :  er  borgt 
sich  von  ihm  die  Ausdrucksweise  für  die  Charakteri- 
sierung des  stofflich  chemischen  Verhaltens.  Wenn 
ein  Katalysator,  der  einen  chemischen  Prozeß  be- 
schleunigt, mit  Zyankali  oder  Quecksilbersalzen 
versetzt  wird,  so  stellt  er  seine  Wirkung  ein,  er 
ist  „vergiftet".  Wird  die  gleiche  Giftmenge  in 
homöopathischen  Dosen  zugegeben,  so  „gewöhnt" 
sich  der  Katalysator  daran.  „Gesundes"  Zinn,  das 
unterhalb  -j-  20^  mit  einem  Bröckchen  des  grauen, 
pulvrigen  Zinnes,  einer  anderen  Modifikation,  „ge- 
impft" wird,  verfällt  der  „Ansteckung"  und  der 
„Zinnpest".  Oft  finden  solche  Reaktionen  nicht 
sofort  nach  der  Berührung  der  „trägen"  Kompo- 
nenten statt,  sondern  es  bedarf  einer  „Inkubations- 
zeit" bis  sie  ihre  ,, Verwandtschaft"  betätigen. 
Unterbleibt  aber  jede  Umsetzung,  dann  zeigt  das 
Metall  eine  „Passivität",  weil  es  sich  vielleicht  mit 
einer  „Haut"  seines  Oxydes  überzogen  hat. 

In  vorliegenden  Beispielen  kann  der  Fachmann 
anstelle  des  lebendigen  Ausdruckes  die  farblosere 
Beschreibung  geben,  die  das  Verhalten  auf  die 
zugrunde  liegenden  Substanzen  und  Kräfte  zurück- 
führt, und  er  wird  es  sogar  bevorzugen,  weil  die 
biologische  Terminologie  eine  Reihe  von  Neben- 
vorsiellungen  erweckt,  die  der  Prozeß  nicht  be- 
stätigt. Sonst  bliebe  verwunderlich,  daß  Gips,  der 
einmal  „totgebrannt"  worden  ist,  nach  genügend 
langer  Berührung  mit  Wasser  wieder  reagiert  und 
die  festesten  Stuckaturen  liefert. 

Aber  in  sehr  vielen  Fällen  ist  es  noch  gar 
nicht  möglich,  den  lebendigen  Ausdruck  für  das 
Totalverhalten  in  eine  Summe  von  Reaktionen 
zwischen  bestimmten  Umwandlungsprodukten  auf- 
zulösen. Das  „Umschlagen"  der  Farbe  eines  Indi- 
kators beim  Überschreiten  des  Neutralisations- 
punktes zwar  läßt  sich  erklären,  aber  die  Er- 
scheinung, daß  ein  Farbstoff  bei  wiederholtem 
Umfallen  oder  Umkristallisieren  „leidet",  hat  noch 
nicht  immer  ein  chemisches  Korrelat  gefunden. 
Die  Periodizität,  mit  der  gewisse  Metalle  von 
Säuren  angegriffen  werden,  ist  ebenso  rätselhaft, 
wie  die  „rhythmische"  Fällung  mancher  Nieder- 
schläge, wie  sie  z.  B.  die  Bänderung  der  Achate 
bewirkt  hat.  Der  „Reifungsprozeß"  der  photo- 
graphischen Schicht   läßt   das  Bromsilber    dichter 


und  empfindlicher  werden,  aber  der  gleiche  End- 
zustand kann  auch  durch  eine  Vorbelichtung  er- 
zielt werden,  ohne  daß  bekannt  wäre,  ob  die 
stofflichen  Veränderungen  beidemal  die  gleichen 
sind.  Die  „aktiven"  Formen  der  Elemente  zeichnen 
sich  durch  eine  erhöhte  Reaktionsfähigkeit  aus. 
Beim  Ozon,  dem  dreiatomigen  Sauerstoff,  ist  die 
starke  Affinität  die  Folge  einer  lockeren  Bindung 
der  drei  Atome,  die  noch  Teile  jener  Energie  frei 
haben,  welche  im  gewöhnlichen  Sauerstoff  je  zwei 
Atome  fester  aneinander  kettet.  Auch  die  stärker 
reduzierende  Wirkung  des  Wasserstoffs  im  ,, Status 
nascens"  ist  auf  den  größeren  Energieinhalt  der 
gerade  entstehenden  freien,  einzelnen  Wasserstoff- 
atome zurückzuführen,  der  beim  gewöhnlichen, 
zweiatomigen  Wasserstoff  teilweise  schon  zur  Bil- 
dung des  Moleküls  verbraucht  ist.  Die  Reaktions- 
fähigkeit vieler  Wasserstoffverbindungen,  z.  B.  die 
leichte  Ersetzbarkeit  des  darin  gebundenen  Wasser- 
stoffs durch  Metalle,  läßt  sich  meistens  begründen 
durch  den  besonderen  Zustand,  in  dem  sich  dieser 
Wasserstoff  befindet:  er  ist  gelrennt  von  den 
anderen  Atomen  der  Verbindung  und  bewegt 
sich,  mit  einer  elektrischen  Ladung  begabt,  frei 
in  der  Lösung.  Ist  denn  aber  nicht  dieses  Wasser- 
stofflon  damit  als  ein  neuer  Stoff  anerkannt,  als 
ein  Bestandteil  aller  Säuren,  dem  wir  die  Sauer- 
keit zuordnen  f  In  organischen  Verbindungen  ist 
der  Verband  im  Molekül  viel  fester,  es  ist  nicht 
angängig,  gemeinsame  Eigenschaften  der  Sonder- 
existenz eines  gemeinsamen  Bestandteiles  zuzu- 
schreiben, und  man  muß  sich  damit  begnügen, 
die  Gruppen,  deren  Einführung  in  das  Molekül 
eine  solche  Eigenschaft  in  stärkerem  Maße  hervor- 
treten läßt,  als  „reaktivierende"  zu  bezeichnen,  ohne 
diese  Wirkung  energetisch  oder  valenzchemisch 
bis  auf  die  Elemente  verfolgen  zu  können. 

Die  rationelle  Beschreibung  und  Erklärung 
einer  Erscheinung  steht  immer  vor  den  schwieri- 
gen Fragen :  liegt  der  neuen  Eigenschaft  ein  neuer 
Stoff  zugrunde,  ist  sie  nur  die  Folge  eines  be- 
sonderen, aber  ihm  eigentümlichen  Zustandes, 
oder  wird  die  Eigenartigkeit  des  Verhaltens  über- 
haupt erst  durch  die  Prüfungen  verursacht,  die 
wir  mit  ihm  vornehmen  ?  Oft  sind  die  Opera- 
tionen, die  wir  zur  Erkennung  der  Merkmale  be- 
benutzen, schon  Eingriffe,  die  das  Untersuchungs- 
objekt tiefgehend  verändern.  Die  neutralsten 
Lösungsmittel  können  zersetzend  wirken.  Um- 
kristallisationen  oder  Destillationen  den  Stoff  zer- 
stören, und  bei  besonders  empfindlichen  Substan- 
zen kann  keine  Identifizierung  zart  genug  sein,  um 
d  i  e  Eigenschaften  festzustellen,  die  ihnen  eigent- 
lich zukommen. 

Kalkspat,  der  aus  seiner  wässerigen  Lösung  in 
Rhomboedern  kristallisiert,  kommt  bei  Zusatz 
eines  Fremdkörpers,  z.  B.  von  Magnesiumsalzen, 
in  rhombischen  Säulen,  dem  Aragonit,  heraus. 
Nicht  die  Spur  einer  fremden  Beimengung  ist 
im  letzten  Niederschlag  erkennbar,  beide  Aus- 
scheidungen sind  reines  Kalziumkarbonat,  und 
nur    gegen    Kobaltsalzlösungen    zeigen    sie   einen 


N.  F.  XXt.  Nr.  lö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


tjt 


Unterschied:  der  Aragonit  wird  beim  Betupfen 
damit  violett,  der  Kalkspat  nicht.  Wie  hier  die 
bloße  Anwesenheit  eines  „Lösungsgenossen"  sich 
in  den  Eigenschaften,  und  sogar  in  einer,  wenn 
auch  nicht  sehr  wesentlichen,  stofflichen  wieder- 
spiegelt, so  zeigt  auch  die  „Vorgeschichte"  oft 
einen  Einfluß  auf  das  Verhalten  einer  Verbindung. 
Chemisch  reines  Berylliumhydroxyd  wird  von 
Lösungsmitteln  ganz  verschieden  aufgenommen, 
je  nachdem  es  vor  kürzerer  oder  längerer  Zeit 
hergestellt  worden  ist.  Aus  einer  „Jugendform" 
geht  es  in  einen  Zustand  über,  in  dem  es  weniger 
schnell  reagiert;  doch  analytisch  ist  auch  der 
„gealterte"  Stofif  noch  immer  Berylliumhydroxyd. 
Ist  denn  aber  die  stoffliche  Charakterisierung, 
welche  man  aus  den  analytischen  Fällungen  er- 
schließt, die  „feinste"  stoffliche  Beschreibung? 
Der  rote  Phosphor  ist  doch  stofflich  etwas  ande- 
res als  der  weiße,  trotzdem  der  Chemiker  bei 
beiden  dieselben  analytischen  Reaktionen  be- 
kommt. Denn  die  beiden  allotropen  Modifika- 
tionen unterscheiden  sich  nicht  nur  physikalisch 
hinsichtlich  Farbe  und  Dichte,  sondern  auch 
chemisch  physiologisch:  der  weiße  ist  giftig,  der 
rote  nicht.  Sind  nun  diese  verschiedenen  Eigen- 
schaften zwangsläufig  miteinander  verbunden,  ver- 
schwinden die  chemischen  Verschiedenheiten,  so- 
bald die  physikalischen  aufgehoben  sind,  oder 
gehen  sie  darüber  hinaus?  Es  gibt  ein  gelbes 
und  ein  rotes  Ouecksilberjodid,  beide  von  der 
Zusammensetzung  HgJ,.  Sie  lösen  sich  in  ver- 
schiedenem Maße  in  Wasser  auf,  aber  beide  Lö- 
sungen sind  farblos.  Trotzdem  zeigt  die  Lösung 
Eigenschaften,  die  je  nach  den  äußeren  Bedingun- 
gen, den  gelösten  Stoff,  bald  der  roten,  bald  der 
gelben  Form  ähnlicher,  auch  in  der  Lösung  noch 
als  weiter  existierend  erscheinen  lassen.  Eine 
Lösung,  die  durch  Auflösen  der  gelben  Form 
entstanden  ist,  scheidet  beim  Impfen  nur  mit 
einem  Körnchen  der  roten,  nicht  der  gelben  Mo- 
difikation rotes  Ouecksilberjodid  aus.  Die  Lösung 
war  also  „übersättigt"  an  roter  Form,  aber  ist 
diese  Bezeichnungsweise  nur  eine  philologische 
Bequemlichkeit.''  Wäre  denn  die  Ausscheidung 
überhaupt  erklärlich,  wenn  wir  nicht  die  Präexi- 
stenz oder  zum  mindesten  die  Prästabilisierung 
des  roten  Jodides  in  der  Lösung  annehmen  wür- 
den, dessen  Moleküle  eben  nur  durch  gleichartigen 
Stoff  zur  Sammelkristallisation  veranlaßt  werden 
können?  Wir  sind  auf  einem  Gebiete  zwischen 
Physik  und  Chemie,  und  unsere  Erkenntnis  sucht 
vergeblich  die  ineinander  verfließenden  Grenzen. 
Daß  eine  kolloide  Silberlösung,  deren  Teilchen 
sehr  klein  sind,  eine  hellere  Farbe  besitzt,  als 
eine  solche  mit  größeren  Teilen,  scheint  nicht 
befremdlich:  einen  physikalischen  Efifekt  führt 
man  leicht  auf  eine  nur  morphologische  Ver- 
schiedenheit zurück.  Wenn  aber  Salpetersäure, 
die  kompaktes  Silber  sofort  auflöst,  das  latente 
Bild  auf  einer  photographischen  Platte  nicht  an- 
greift, so  sind  wir  doch  schon  sehr  im  Zweifel, 
I  ob  wir   dem  feinverteilten  Silber,   aus   dem   das 


latente  Bild  bestehen  soll,  so  ganz  andere  Eigen- 
schaften als  dem  gewöhnlichen  Metall  zugestehen 
dürfen,  oder  ob  wir  nicht  für  dieses  neuartige 
Verhalten  auch  einen  neuartigen  Stoff  verantwort- 
lich machen  müssen.  Einen  Stofif,  der  mangels 
einer  schärferen  Charakterisierung  nur  als  „Photo- 
haloid"  bezeichnet  werden  kann.  Ein  Katalysator 
wird  eine  chemische  Reaktion  zwischen  zwei 
Stoffen  vermutlich  nur  deshalb  „auslösen",  weil, 
wenigstens  als  Zwischenstufen,  Produkte  entstehen, 
an  deren  Aufbau  er  sich  beteiligt.  Bei  einer 
Oxydation  kann  ein  „O.xydator"  nur  „übertragend" 
wirken ,  wenn  er  sich  in  erster  Phase  mit  dem 
Sauerstoffe  belädt,  den  er  dann  an  den  zu  oxy- 
dierenden Körper  abgibt. 

Es  war  das  gedankliche  Leitmotiv  der  Chemie, 
bei  jeder  neu  beobachteten  Eigenschaft  auch  nach 
einem  neuen  Träger  zu  fahnden.  Je  geringer 
sich  die  Eigenschaftsverschiedenheiten  zweier 
Stoffe  erwiesen,  desto  feinere  stoffliche  Differenzen 
wurden  erwartet.  In  den  Isomeren  bedingt  schon 
nicht  mehr  die  Art  und  Zahl  der  Atome,  sondern 
die  Variation  ihrer  Verkettung  die  unterschied- 
lichen Substanzen.  Strukturelle  und  dann  räum- 
liche Verschiedenheit  sollte  durch  einen  immer 
diffiziler  werdenden  Feinbau  die  minimalsten  Ab- 
weichungen im  Verhalten  erklären,  aber  jetzt  ver- 
mag die  Formulierung  nicht  mehr  die  immer 
wachsende  Zahl  der  Isomeren  abzubilden.  Oft 
muß  sich  die  organische  Chemie  damit  behelfen, 
die  verschiedenfarbigen  Erscheinungsformen  eines 
Stoffes  als  „Chromoisomere"  zu  registrieren,  einem 
anderen  Stoff  eine  „Pseudoform"  beizuordnen, 
oder  neben  einer  „«Modifikation"  eine  „/?■  Modi- 
fikation" bestehen  zu  lassen.  Substanzen  endlich, 
deren  Merkmale  sich  nicht  scharf  genug  mit  denen 
der  einen  oder  der  anderen  Form  decken,  werden 
als  Gleichgewichte,  als  Gemische  jener  reinen 
Extreme  angesprochen.  Selbst  in  der  anorgani- 
schen Chemie,  in  der  sich  wegen  der  Einfachheit 
der  Verbindungen  eine  solche  Variation  nicht 
entwickeln  konnte,  hat  sich  durch  die  radioaktiven 
Forschungen  eine  Differenzierung  sogar  der 
Stoffe  als  notwendig  erwiesen,  die  bisher  als  die 
einheitlichsten  und  einfachsten  galten:  der  Ele- 
mente. Das  gewöhnliche  Element  Chlor  wurde 
in  zwei  Chlorarten  gespalten,  nicht  auf  chemischen, 
sondern  auf  kompliziertem ,  elektrodynamischen 
Wege.  Die  neuen  „wahren"  beiden  Elemente 
Chlor  sind  chemisch  vollkommen  gleichartig,  nur 
in  ihrem  Atomgewicht  unterscheiden  sie  sich, 
und  nur  dieses  ermöglichte  ihre  Trennung.  Da- 
mit hat  das  Atomgewicht,  das  bisher  als  das 
schärfste  Charakteristikum  eines  Elementes  an- 
gesehen wurde  und  als  Grundlage  der  Klassifi- 
kation im  periodischen  System  galt,  seine  Be- 
deutung verloren.  Es  gibt  Elemente,  die  ein  ver- 
schiedenes Atomgewicht  besitzen  und  trotzdem 
sich  chemisch  und  weitgehend  physikalisch,  z.  B. 
bis  zum  gleichen  Licht-  und  Röntgenemissions- 
spektrum  nicht  unterscheiden:  die  Isotopen.  Ein 
solches  Paar  bilden  auch  Blei  und  das  Endprodukt 


132 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  P.  XXt.  Nr.   10 


des  Radiumzerfalls  RaF.  Will  man  solche  Sub- 
stanzen doch  noch  als  verschiedene  Stoffe  erklären, 
dann  hat  man  kein  chemisches  Kriterium  mehr, 
sie  unterscheiden  sich  nur  durch  elektrische  Ein- 
heiten, und  damit  sind  diese  als  die  einstweilen 
feinsten  Bauelemente  als  Registrierungsmerkmale 
an  Stelle  des  Atomgewichtes  getreten. 

Die  Erforschung  der  Materie  ist  eine  immer 
tiefer  gehende  Spaltung  des  Stofies.  Je  gründ- 
licher diese  Zerlegung,  desto  mehr  Eigenschaften 
werden  uns  bekannt;  und  nur  die  Eigenschaften 
überhaupt  sind  es,  die  wir  vom  Wesen  des  Stoffes 
begreifen.  Für  Dalton  waren  Wärme  und  Licht 
noch  Stoffe,  die  mit  der  wägbaren  Materie  so 
verbunden  waren,  wie  heute  in  unseren  Ionen 
Atome    und    Elektrizität.      Und    wie   jene    Hüllen 


ohne  materiellen  Inhalt  befunden  wurden,  so 
spaltet  die  gründlichste  Analyse  auch  weiterhin 
die  Substanz  in  Kräfte  und  .  .  .  einen  immer 
kleiner  werdenden  Rest.  In  den  Schalen  der 
Elektronen  ist  der  Sitz  der  physikalischen  und 
chemischen  Eigenschaften,  aus  ihnen  werden  Lös- 
lichkeiten und  Affinitäten  abgeleitet,  die  einst  die 
Eigenschaften  der  Materie  waren.  Diese  selbst 
nimmt  heute  tief  im  Inneren  des  beinahe  leeren 
Atoms  den  kleinsten  und  noch  unzugänglichen 
Platz  ein. 

Die  Kräfte  sind  es,  die  wir  in  den  Eigen- 
schaften beobachten,  der  Stoff  wird  immer  mehr 
zum  untergeordneten  Begriff  und  tritt,  so  sinnlich 
anschaulich  er  erst  auch  erschien,  als  Subjekt 
hinter  seinen  Prädikaten  zurück. 


Ein  Vorschlag  zur  genauen  Festlegung  des  Fundorts. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Leouhai'd  Liniliiiger,  Hamburg. 

(Mitteilung  aus   dem  Institut  für  angewandte  Botanik    zu  Hamburg;    Direktor; 


Prof.  Dr.  A.  Voigt.) 


Ein  Mangel  in  den  Faunen  und  Floren  ist  die 
Ungenauigkeit  der  Fundortsangabe.  Mit  der 
bloßen  Angabe  einer  Ortschaft,  in  deren  Nähe 
eine  Feststellung  gemacht  worden  ist,  kann  man 
wenig  anfangen;  das  wird  jeder  wissen,  der  ein- 
mal den  Versuch  gemacht  hat,  daraufhin  z.  B. 
eine  Pflanze  aufzufinden.  Will  man  aber  die 
Fundstelle  näher  bezeichnen ,  so  ist  eine  lang- 
atmige Beschreibung  nötig,  welche  die  in  Betracht 
kommende  Veröffentlichung  unübersichtlich  macht 
und  außerdem  große  Druckkosten  verursacht. 
Eine  Vereinfachung,  die  zugleich  eine  Verbesse- 
rung bedeutet,  ist  deshalb  gerade  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  wünschenswert. 

IMun  sind  zwar  viele  Leute  Gegner  einer  ge- 
nauen Fundortsbezeichnung,  weil  sie  fürchten,  daß 
dann  die  Ausrottung  seltener  Tiere  und  Pflanzen 
noch  schneller  vor  sich  gehen  werde  als  sie  es 
heute  annehmen.  Ich  stehe  einer  solchen  „Aus- 
rottung" im  allgemeinen  sehr  skeptisch  gegen- 
über. Daß  streng  lokal  eine  Ausrottung  möglich 
und  auch  schon  erfolgt  ist,  das  abzuleugnen,  wäre 
angesichts  der  tatsächlichen  Feststellungen  töricht. 
Soweit  es  sich  aber  nicht  um  Plätze  handelt,  die 
durch  städtische  Bebauimg  für  immer  dem  Pflan- 
zenwuchs entzogen  sind,  kann  es  sich  bei  kleinen 
Tierformen  z.  B.  aber  ebensogut  nur  um  eine 
zeitliche  Verschiebung  im  Vorkommen  handeln. 
Von  den  großen  Tierformen  ist  hierbei  durchaus 
abzusehen.  Solche  zeitlichen  Verschiebungen 
können  auch  ohne  jedes  menschliche  Zutun  in 
der  Natur  vorkommen,  ja  die  Regel  sein,  ohne 
daß  man  das  bisher  hat  nachweisen  können,  weil 
man  eben  die  Fundstellen  zu  ungenau  bezeichnet 
hatte  und  aus  diesem  Grund  ein  etwaiges  Ver- 
schwinden und  anderweitiges  Auftauchen  nicht 
bemerkte,  auch  nicht  bemerken  konnte. 

Als  ich  vor  einiger  Zeit  meinen  Aufsatz  über 
einen    neuen  Weg    der   Schädlingsforschung    ver- 


öffentlichte, war  ich  mir  hinsichtlich  der  darin 
aufgestellten  Forderungen  der  Unzulänglichkeit 
der  Fundortsbezeichnungen  klar;  ich  konnte  aber 
noch  nichts  Besseres  vorschlagen.  Unterdessen 
habe  ich  eine  neue,  kurze  Bezeichnungsart  ausge- 
dacht, die  ich  hiermit  der  Öffentlichkeit  über-, 
geben  will. 

Wie  bisher  verwende  ich  als  Anhaltspunkte, 
die  Namen  der  Ortschaften,  die  Himmelsrichtungen, 
Flüsse,  Seen,  Kanäle,  Wege  und  Eisenbahnen. 
Auch  die  Entfernungsangaben  und  die  Begriffe 
„links"  und  „rechts"  sind  allgemein  verständlich. 
Es  handelt  sich  nur  noch  darum,  alles  in  eine 
kurze,  jede  Mißdeutung  ausschließende  Formel 
zu  bringen.  Dazu  verwende  ich  einige  im  Druck 
gebräuchliche  Zeichen,  die  also  in  jeder  Druckerei 
vorhanden  sind,  den  senkrechten  und  wagrechten 
Strich,  den  doppelten  wagrechten  Strich,  den 
Doppelpunkt  und  den  einfachen  und  doppelten 
Pfeil.  Indem  ich  diese  Zeichen  mit  dem  oder  den 
Ortsnamen  in  Verbindung  bringe,  erhalte  ich  einen 
kurzen  Ausdruck.  Der  Sinn  dieser  Zeichen  ist 
folgender: 

I  bedeutet  Luftlinie; 

—  „         Fahrweg,  Straße; 

:  „         P'ußweg    (gewissermaßen    die 

Schritte  andeutend); 
^=  „         Eisenbahn; 

<-  bzw.  ->  „  einen  Flußlauf,  wenn  nötig  in 
Verbindung  mit  dem  Namen 
des  Flusses,  Baches  usw.;  gibt 
zugleich  auch  die  Richtung  an, 
indem  •e-  flußaufwärts,  -=»  fluß- 
abwärts bedeutet; 
^  ->  „         ein  Gewässer  ohne  Strömung, 

also    je    nach    der    Örtlichkeit 
einen  Kanal  oder  See ;  Namen 
nur  zu  gebrauchen,  wenn  nötig. 
Die    Abkürzungen   der  Himmelsrichtungen  N, 


N.  R  XXL  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


133 


S,  O,  W  und  ihre  Verbindungen  werden  als  be- 
kannt vorausgesetzt.  Der  kleine  Buchstabe  1  be- 
deutet „links",  ein  r  „rechts".  Böschungen  können 
bei  Straßen,  Eisenbahnen  und  Kanälen  sowohl  in 
Einschnitten  als  an  Dämmen  auftreten,  sie  werden 
mit  den  kleinen  Buchstaben  a  (aufwärts)  und  n 
(niederwärts),  von  der  Straße  usw.  aus  gerechnet, 
bezeichnet,  a  kann  auch  bei  Seen  und  Flüssen 
gebraucht  werden. 

Die  Entfernungen  gebe  ich  auf  zweifache  Art 
wieder.  Einmal  größere  in  bezug  auf  die  Ort- 
schaften in  km,  wobei  die  Buchstaben  „km"  weg- 
gelassen, Bruchteile  als  solche  geschrieben  werden. 
0,263  bedeutet  also  263  m.  Kleinere  Entfernun- 
gen in  der  Art ,  wie  sie  aus  den  Beispielen  her- 
vorgehen wird,  werden  in  m  angegeben,  z.  B. 
10  m  usw. 

Zum  besseren  Verständnis  lasse  ich  nun  Bei- 
spiele mit  Erklärung  folgen : 

Ortschaft  A  |  NO  2,3  Heide  will  heißen: 
Im  Nordosten  von  Ortschaft  A  auf  einer  in  einer 
Entfernung  von  2,3   km  gelegenen  Heide. 

Ortschaft  A  :  W  0,24  1  n  Wiese  12  m  be- 
sagt :  auf  einer  Wiese  links  am  Abhang  an  einem 
nach  Westen    führenden  Fußweg    in    240  m  Ent- 


fernung von  Ortschaft  A,  und  zwar  12  m  die 
Wiese  einwärts. 

Ortschaft  A  — Ortschaft  B  3,2  r  Kiefern- 
wald r  200  m,  an  der  Straße  von  A  nach  B  bei 
Kilometer  3,2  rechts  im  Kiefernwald  und  zwar 
200  m  rechts  am  Waldrand. 

OrtschaftA^OrtschaftB  5,9  IlLaub- 
wald r  25  m,  bei  Kilometer  5,9  an  der  Bahn 
von  A  nach  B  links  dem  Fußweg  folgend  25  m 
im  Laubwald  zur  rechten  Seite. 

Ortschaft  A  ^-  0,230  r  a,  230  m  fluß- 
abwärts von  A  rechts  am  Abhang. 

Ortschaft  A  «^  0,12  r.  1.,  120  m  flußauf- 
wärts von  A  rechts  und  links. 

Ortschaft  A  < — =»  B  r.  1.,  am  Kanal  (See; 
je  nachdem)  zwischen  A  und  B,  rechts  und  links. 

Die  hier  vorgeschlagene  Formel  läßt  sich  mit 
Vorteil  auch  bei  der  Festlegung  von  mineralogi- 
schen und  heimatkundlichen  Beobachtungen  ver- 
wenden. Bei  ihrer  Anwendung  ist  darauf  zu 
achten,  die  kürzeste  unter  mehreren  möglichen 
Formeln  zu  wählen.  Gehen  z.  B.  von  einer  Ort- 
schaft nur  wenige  Straßen  aus,  so  genügt  ein 
Ortsnamen  und  die  Himmelsrichtung.  Kommt 
nur  ein  Fluß  in  Betracht,  so  erübrigt  sich  sein 
Namen,  ijsw. 


Einzelberichte. 


Kalktulfstudieu  aus  dem  zentralen  Norwegen 

(mit  3  Abb.). 

Die  Stratigraphie  der  Quelltuffe  in  dem 
trockenen  Gudbrandsdal  im  zentralen  Norwegen 
bildete  für  Axel  Blytt  eine  Hauptstütze  für 
seine  bekannte,  zuerst  1876  ausgesprochene  Theorie 
von  einem  mehrmaligen  Wechsel  feuchter  und 
trockener  Klimate  in  postglazialer  Zeit.  Diese 
Theorie,  zuerst  auf  einem  vorwiegend  pflanzen- 
geographischen und  nur  zum  kleineren  Teil  palä- 
ontologischen Beobachtungsmaterial  aufgebaut,  hat 
mit  der  fortschreitenden  Erforschung  der  Moore 
und  Kalktufie  besonders  in  Skandinavien  zu  äußerst 
lebhaften  Kontroversen  geführt.  Während  die 
einen  Forscher  wie  Sernander  (vgl.  vor  allem 
die  Darstellung  in  „Postglaziale  Klimaverände- 
rungen", Stockholm  1910)  für  Blytt  eingetreten 
sind  und  seine  Theorie  weiter  ausgebaut  haben, 
haben  sie  andere  besonders  wegen  ihrer  „Kompli- 
ziertheit" in  z.  T.  schroffer  Form  abgelehnt,  nicht 
zuletzt  auch  in  Norwegen.  Sie  ist  so  zu  einem 
wahren  „Sturmzentrum  nordischer  Quartärgeologie" 
geworden,  und  es  ist  daher  lebhaft  zu  begrüßen, 
daß  die  wichtigen  Ablagerungen  im  Gudbrandsdal 
in  Rolf  Nordhagen  einen  überaus  gewissen- 
haften und  gründlichen  Bearbeiter  gefunden  haben 
(Kalktufstudier  i  Gudbrandsdalen.  Videnskaps- 
selskapets  Skrifter.  L  Mat.naturv.  Klasse  1921, 
No.  9,  Kristiania).  Die  in  den  Jahren  1914  bis 
1920  zunächst  auf  Sernanders  Anregung  unter- 


nommenen Untersuchungen  haben  sowohl  für  den 
Bearbeiter,  wie  u.  a.  auch  für  den  Referenten,  die 
beide  der  Blyttschen  Auffassung  sehr  skeptisch 
gegenüberstanden,  zu  ganz  überraschenden  und 
für  manche  paläoklimatologischen  Fragen  ent- 
scheidenden Ergebnissen  geführt.  Da  diese  auch 
für  Mitteleuropa  von  weittragender  Bedeutung 
sind,  wie  Verf.  und  Referent  demnächst  zeigen 
werden,  wird  ein  ausführliches  Referat  über  die 
norwegische  Originalarbeit  wohl  manchem  er- 
wünscht sein.  Hoffentlich  wird  diese  auch  eine 
gründliche  Neuuntersuchung  der  mitteleuropäischen 
Ablagerungen  (z.  B.  der  von  N  e  u  w  e  i  1  e  r  in  der 
Schweiz  und  von  Schreiber  und  Zailer  in 
den  Ostalpen  mit  so  abweichenden  Ergebnissen 
untersuchten  Torfmoore)  nach  modernen  Methoden 
(u.a.  der  pollenanalytischen  Methode  von  L.  von 
Post  und  für  die  Tuffe  der  Kollodiummethode 
von  Nathorst  und  Halle)  zur  Folge  haben. 

I.  Spezielle  Beschreibung  der  ein- 
zelnen Tufflager   im  Gudbrandsdal    (vgl. 

Fig-  i)-       . 

I.  Leine  in  Kvam.  Wo  die  Veikia  in  den 
Hauptfluß  Laagen  mündet,  liegen  um  die  alten 
Höfe  von  Leine  gewaltige  Moränenmassen  aus 
kalkhaltigem  Geschiebelehm.  In  diesen  haben 
wiederholt  —  in  besonders  katastrophaler  Form 
1876  —  große  Erdrutsche  stattgefunden,  so  daß 
der  Moränenlehm  vielfach  in  steilen,  besonders 
an  den  trockenen  Südhängen  stellenweise  völlig 
nackten  Böschungen    ansteht.      Die   ganze   Masse 


134 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  10 


wird  durch  viele,  großenteils  sicher  ganz  junge 
Erosionsrinnen  durchfurcht.  Die  heute  unbe- 
deutende Quelle,  die  die  schon  von  Blytt  und 
Öyen  untersuchten  Tuffmassen  gebildet  hat,  ver- 
dankt ihren  Kalkgehalt  namentlich  auch  dem 
darüber  anstehenden  Kalksandstein.  Die  Haupt- 
fundstelle liegt  etwa    520  m  ü.  M.,    inmitten    von 


JemHand 


-300 

■  kOO  \  ]solntjel"en 


Abb.   I.     Übersichtskarte  (nach  R.  Nordhagen). 

der  Kultur  freilich  stark  beeinflußter  Gehölze  aus 
Grauerlen  {Alii/ts  iiicana  und  Birken  [Befida 
piibcscrns  =  odorata  und  B.  pendula  =  lurnicosa). 
Letztere  und  Lomccra  Xylustcmn  sind  heute  die 
einzigen  etwas  höhere  Wärme  fordernden  Holz- 
arten der  Örtlichkeit.    Von  thermophilen  Kräutern 


seien  vor  allem  Brachypodinui  piimatum,  das  hier 
an  seiner  absoluten  Nordgrenze  noch  Bestände 
bildet,  Origamon  vulgare,  Dracocephaluju  Ruy- 
siliia?ia,  Trifolium  medium  und  ]'iola  collina  ge- 
nannt. In  den  recht  trockenen  Wiesen,  die  in 
ihrer  Zusammensetzung  z.  T.  an  mitteleuropäische 
Bromus  t77(/«.r- Wiesen  erinnern,  dominiert  Festuca 
oviiia,  auf  den  offenen  Rutschhalden  Calamagrostis 
Epigeios.  Dazu  kommen  aber  auch  eine  ganze 
Reihe  Gebirgspflanzen  wie  ^Isfragalus  alpiiius, 
Oxytropis  lappoi/ica,  Draba  iiicana,  Saxifraga 
ai::oides,  Primula  scotica  u.  a.,  an  Schieferfelsen 
höher  oben  (in  ca.  700  m)  u.  a.  auch  A)itennaria 
alpiiia,  Ceraslium  alpiiium,  Draba  hirta,  Gen/iatia 
nivalis  und  tenella,  Phyllodoce  caerulea,  Juncus 
trißdus  und  Poa  cacsia,  also  Arten,  die  sonst 
vorzugsweise  in  der  alpinen  Stufe  auftreten,  oft 
in  Gesellschaft  von  Dryas,  die  heute  der  Gegend 
vollständig  zu  fehlen  scheint.  In  850  m  Höhe 
kommen  dazu  noch  Betula  nana,  Salix  glauca, 
lappoiiica,  herbacea,  reticulafa,  Juncus  biglumis  u.  a. 
Der  Leinetuff  bedeckt  eine  15  —  20*'  geneigte, 
mindestens  20  m  breite  und  über  30  m  lange 
Halde.  Es  glückte  dem  Verfasser,  die  genaue 
Lage  der  beiden  1891  von  Blytt  untersuchten 
Profile  festzustellen.  Neben  Blytts  Hauptprofil, 
links  (südlich)  vom  Quellbach,  legte  er  eine  Serie 
von  8  Profilen,  längs  dem  Bach  einen  20  m  langen 
und  I  */., — 2  m  tiefen  Profilgraben  und  rechts  da- 
von 8  mit  ersteren  parallele  Profile  an,  ferner 
eine  Querserie  von  3  Profilen  und  2  Profile  weiter 
unten  (ca.  25  m  vom  obersten  Profil  entfernt) 
unterhalb  dem  das  Tufflager  überquerenden  Fahr- 
weg. Das  I.  von  Blytt  untersuchte  Profil  weist 
von  unten  nach  oben  folgende  Schichten  auf: 
I.  Geschiebelehm. 

II.  Eisenschüssiger  Lehm  ohne  Fossilien  bis  3  cm. 

III.  und    IV.    Moostuff    und    darüber    gelbgrauer, 

schiefriger  Birkentuff  ohne  Föhrenreste  45  cm. 

V.  Gelbgrauer,  z.  T.  erdiger  Dryastuff  (mit  Föhre) 
bis  zu  3  cm. 

VI.  Grauweißer  Föhrentuff  58—68  cm. 

VII.  iVIuUerde  10—15  cm. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  die  Schilderung 
aller  23  Profile  wiederzugeben,  trotzdem  manche 
durch  die  zunächst  schwer  verständlichen  Ab» 
weichungen  viel  Interessantes  bieten.  Die  auf 
Grund  aller  Profile  konstruierten  Profile  der  Fig.  2 
mögen  hier  genügen,  um  das  Gesamtbild  darzu- 
stellen, das  die  mühevollen  Einzeluntersuchungen 
gezeitigt  haben.  Es  lassen  sich  folgende  Schicht- 
glieder unterscheiden : 

I.  Blauer,  unverwitterter  Moränenlehm, 
wohl  aus  der  letzten  Periode  mit  Lokalver- 
gletscherung  stammend.  Zu  oberst  3  heute  all- 
gemein verbreitete  Schnecken  { 1  Y/rina  pellucida, 
Conulus  fulvus,  Limnaca  tnotcalula). 

II.  In  allen  Profilen  etwa  3 — 4  cm  lebhaft 
roter,  fossilleerer  Ton,  der  sicher  ein  Ver- 
witterungsprodukt des  Moränenlehms  darstellt.  Es 
scheint  sich  dabei  um  eine  wirklich  aride  Boden- 
bildung zu  handeln,  was  insofern  nicht  verwundern 


N.  F.  XXI.  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


135 


I<ann,  als  im  obersten  Gudbrandsdal  (Dovre  und 
Lesje)  und  in  dem  in  dasselbe  oberhalb  Leine 
einmündenden  Ottadal  (Vaage  und  Skjaak)  noch 
heute  eine  solche  vorkommt  (vgl.  Fig.  i).  Es 
handelt  sich  um  die  von  J.  Five  (Om  saltbitter- 
jorden  i  Nordre  Gudbrandsdalen.  Kristiania  191 1) 
beschriebene  Salzbittererde.  Sie  ist  in 
Skandinavien  auf  die  4  genannten  Talstrecken,  die 
sämtlich  unter  300  (Skjaak  nur  254)  mm  jährliche 
Niederschläge  aufweisen,  beschränkt  und  besteht 
hauptsächlich  aus  Gips  mit  reichlich  Magnesium- 
sulfat und  Spuren  anderer  Alkalisulfate  und  Chloride. 
Bei  trockener  Witterung  entstehen  regelrechte  Salz- 
ausblühungen. 

So  erscheint  es  verständlich,  daß  in  einem 
vielleicht  noch  etwas  kontinentaleren  Klima  eine 
geradezu  an  Terra  rossa  erinnernde  Ferrettobildung 
eintreten  konnte,  wie  wir  sie  ähnlich  in  größerem 
Maßstab  erst  in  den  Südalpen  wiederfinden. 

III.  Der  Mo  ostu  ff  komplex,  dessen  unterer 
Teil  in  allen  Profilen  wiederkehrt.  Ein  poröser, 
unreiner,  bald  schlacken-  und  bald  korallenartiger, 
dunkler,  wohl  aus  Hypjhnccit  gebildeter  Tuff  von 
etwa  3 — 25  cm  Mächtigkeit.  Der  unterste  Teil 
ist  wie  der  liegende  Ton  stark  durch  pj'sen  ge- 
rötet und  enthält  schlecht  erhaltene  J^'(?//.i-Reste. 
Im  ganzen  Moostuffe  treten  Röhrchen  von  Ütaracccii 
auf,  ferner  in  großer  Menge  im  unteren  Teil 
Equisctuiii  varifgafiiiii,  außerdem  vereinzelt  Mar- 
chautia  polyniorp/ia  und  Coiiulus  fidvits.  Darüber 
folgt  öfier  eine  hauptsächlich  von  Craiouciiron 
fakatiiiii  gebildete  Lage,  die  also  ebenfalls 
sedentär,  d.  h.  durch  fortwachsende  Pflanzen 
erzeugt  ist,  wogegen  zu  oberst  stellenweise  eine 
mehr  sedimentäre  Lage  mit  eingeschwemmten 
Blaltresten  von  Bcfiila  puhescciis,  Pupultis  tronitla 
und  Saliccs  folgt.  Die  zuerst  von  Sernander 
1916  eingeführte  Unterscheidung  von  „sedentären" 
und  „sedimentären"  Lagen  (Ref.  hat  hierfür  „bion- 
togen"  und  „nekrogen"  vorgeschlagen,  vgl.  Naturw. 
Wochenschr.  1921  S.  569)  ist  bei  allen  Kalktuff- 
untersuchungen sehr  wichtig.  —  In  einem  großen 
Teil  der  Profile  (dagegen  z.  B.  nicht  in  denen  von 
Blytt  und  in  den  untersten)  wird  der  Moostufif- 
komplex  durch  eine  dünne,  sedentäre  Lage  abge- 
schlossen, die  neben  Resten  der  genannten  Sträucher, 
von  Eqnisctiiiii  varicgaliiiii  und  einem  Lebermoos 
(Pcllia  sp.^  reichlich  Dryas  octopctahi  und  Salix 
arbusciila  enthält,  also  einen  unteren  Dryas- 
horizont  darstellt.  Blylts  Angabe,  daß  alpine 
und  subalpine  Arten  im  untersten  Teil  des  Tuffes 
fehlen,  ist  also  irrig,  und  weiter  lehrt  dieser 
Horizont,  daß  vor  der  Absetzung  der  folgenden, 
ausgesprochen  sedimentären  Schicht  eine  Unter- 
brechung der  Sedimentation,  also  wohl  eine 
vorübergehende  Versiegung  der  Quelle  stattge- 
funden hat. 

IV.  Der  Blättertuff.  Ein  meist  regelmäßig 
geschichteter  Tuff  von  8 — 25  (zu  unterst  bis  30)  cm 
Mächtigkeit  mit  übereinander  liegenden  Blättern 
von  Betula  pubescens,  Populus  tremula,  Salix 
caprea,  glaiica,  hastata  u.  a.    {nigricans  und  pky- 


lici/olia?)  in  großer  Menge.  Blytt  fand  auch 
Ribes  rubrum,  dagegen  ist  seine  Bestimmung  von 
Alniis  wohl  irrtümlich.  Von  der  Föhre  ist  nur 
Pollen  nachgewiesen,  so  daß  der  Baum  vielleicht 
erst  in  größerer  Entfernung  gewachsen  ist.  In 
der  rechten  und  in  der  Querserie  zeigt  sich  ein 
Auskeilen  des  Blättertuffs,  ebenso  wie  auch  der 
folgenden  Lagen ;  an  ihre  Stelle  tritt  Verwitterungs- 
schutt, in  dem  aber  Reste  des  Blättertuffs  dessen 
früheres  Vorhandensein  auch  hier  beweisen. 
Weder  gegen  den  liegenden  Moostuff  noch  gegen 
den  hangenden  Dryastuff  bestehen  scharfe  Grenzen. 


ms 


Humus  mit  Erlen, 
tuff 

Erlentuff  (oben  ab- 
gewittert) 

Föhrentulf 


Verwitterungsreste 
von  Föhren-,  Dryas- 
und   Blättertuff 

t-'berer  Dryastuff 

Blättertuffbank 


Moostuff  mit  unterem 
Dryashorizont 

Roter   Lehm  unterm 

Moostuff 

Blauer    Geschiebe- 
lehm 


Höhenmaßstab 


J_ 


Längenmafistab 


Abb.  2.     Längsprofil  (A)   und    Querprofil  (B)    durch    das 
Tufflager  von  Leine  (nach  R.  Nordhagen). 


V.  Der  Dryastuff.  Eine  bald  nur  ange- 
deutete oder  durch  Verwitterung  entfernte,  bald 
(besonders  in  den  oberen  Profilen)  bis  15  cm 
mächtige,  oft  aus  mehreren  verschiedenen  Lagen 
zusammengesetzte,  meist  graugrüne,  seltener  röt- 
liche Schicht  voll  von  prächtig  erhaltenen  Resten, 
auch  zahlreichen  Blüten  und  Früchten  von  Dryas 
ocfopitala,  dazu  mit  Salix  rcticnlata  und  herbacea, 


136 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  10 


Pyrola  cf.  minor,  spärlichen  Resten  von  Birken  und 
Espen,  Carex  sp.,  Equisdum  varirgatuvi,  Hypna- 
cecji  und  Cyäiiopliyccoi ;  in  den  oberen  Lagen 
reichlich  zarte,  wohl  stark  verwitterte  Föhren- 
nadeln. Als  zweifelhaft  führt  Blytt  auch  Co/o- 
ncastcr  vulgaris,  Bctula  nana  und  infcnncdia  und 
ArcfosfapJiylos  uva  ursi  an.  Von  Landschnecken 
treten  Cochlicopa  liibrica ,  Conulus  fiihiis,  Hya- 
linia  radiafula  und  Pyravüdula  riidfraia  auf. 
Die  Silberwurz  muß  damals  den  ganzen  Hügel 
und  jedenfalls  auch  die  darüber  gelegenen  Schiefer- 
felsen bekleidet  haben ,  wo  heute  noch  einige 
Gebirgspflanzen  vorkommen.  Der  Baumwuchs 
muß  damals  sehr  gering  gewesen  sein,  da  die 
ausgeprägt  xerophile  Dryas  Beschattung  sehr 
schlecht  erträgt.  Dasselbe  gilt  von  Salix  rdicii- 
lafa,  heute  einem  der  treuesten  Begleiter  der  nor- 
dischen Dryas  ■  Heiden  (ebenso  wie  Carex  rit- 
pcs/ris^  Tlialictriim  alpinuin  u.  a.).  Die  Quelle  war 
offenbar  die  meiste  Zeit  versiegt  und  überzog  nur 
von  Zeit  zu  Zeit  die  Heidevegetation  mit  einer 
Kalkkruste.  In  den  obersten  Lagen  werden 
Föhrennadeln  immer  häufiger,  ihre  Kleinheit  und 
die  kleienartige  Beschaffenheit  der  Ablagerung 
deuten  auf  starke  Zersetzung.  An  einzelnen  Orten 
ist  nicht  nur  der  Dryastuff,  sondern  auch  der 
darunterliegende  Blättertuff  gänzlich  abgewittert. 
Der  überhandnehmende  Föhrenwald  hat  offenbar 
die  Dryas  vollkommen  vernichtet. 

VI.  Der  Föhrentuff.  Ein  etwa  20—70  cm 
mächtiger  Tuffkomplex  voll  von  Resten  (großen 
Nadeln,  Zapfen,  Rindenstücken  usw.)  von  Piniis 
silvcstris,  dazu  mit  Preißelbeere  {Vacciuiuin  viiis 
idaca)  und  spärlicher  auch  Moorbeere  (f.  ulii^i- 
nosiivi).  Im  oberen  Teil  treten  da  und  dort  Reste 
von  Kräutern  auf  {Cirsii/m  hctcrophyUitm  mit 
wohlerhaltenen  Körben  und  Blättern,  ein  Blatt 
von  Fragaria  vesca,  Pyrola  minor  und  Tofiddia 
palustris),  dazu  einzelne  Laubbäume  [Bdula  p/i- 
bcsccns  und  verrucosa ,  Popiilus  trcmula,  Salix 
caprea,  Sorbits  aiiciiparid),  sowie  auf  den  Bäumen 
gewachsene  Flechten  [Partiidia  pliysodes ,  Pelti- 
gcra  canind)  und  ein  Moos  (Älniiim  pitnctatmii 
nach  Blytt),  von  Schnecken  Conuliis  fulviis, 
Ilyalinia  radiafula  und  /  ^ilrina  pdlucida.  Die 
reichliche  Tuffbildung  und  der  üppige  Pflanzen- 
wuchs sprechen  für  reichliche  Bewässerung,  das 
Auftreten  der  Warzenbirke  und  der  Erdbeere  für 
eine  entschiedene  Temperaturerhöhung  gegenüber 
den  vorhergehenden  Zeiten.  Erstere  steigt  heute 
im  mittleren  Norwegen  selten  über  400 — 500  und 
letztere  selten  über  lOOO  m.  Der  Föhrentuff  ist 
stets  von  dem  Hangenden  und  oft  auch  von 
dem  Liegenden  durch  eine  deutliche  Diskordanz 
mit  Verwitterungsprodukten  getrennt.  Da  und 
dort  tritt  Holzkohle  auf,  wohl  Anzeichen  für  durch 
Blitz  verursachte  Waldbrände.  Da  die  obere 
Diskordanz  sicher  auf  langdauernde  Verwitterung 
zurückzuführen  ist,  dürfte  die  ursprüngliche  Mäch- 
tigkeit des  Föhrentuiifs  an  den  meisten  Stellen 
größer  gewesen  sein. 

VI.  Der  Erlentuff.  Schon  kleine  Bruchstücke 
können     an    dem     reichlichen    Vorkommen    von 


Blättern  und  Kätzchen  der  noch  heute  am  Fund- 
ort wachsenden  Aliius  incana  erkannt  werden. 
Nur  stellenweise  ist  der  Erlentufif  in  größerer 
Mächtigkeit  (in  der  rechten  Serie  bis  zu  95  cm) 
erhalten ,  in  den  meisten  anderen  Profilen  aber 
bis  auf  geringe  Bruchstücke  in  der  10 — 30  cm 
mächtigen  Humusdecke  abgewittert  und  daher 
auch  von  Blytt  übersehen  worden.  Er  enthält 
weiter  Bdula  pubesccns,  Populus  trcmula,  Salix 
caprea,  Piiius  silvcstris  (spärliche  NadeJn),  Equi- 
sdum hicmalc,  Reste  von  Gramineen,  Cyperaceeti, 
Moosen,  Cyanopliyccen  und  Schnecken  [Coc/ilicopa 
lubrica,  Hyalinia  radiatula,  Pyramidula  ruderata, 
J  "crtigo  alpestris,  Hydrobia  Stcini).  Der  Tuff  ist 
jedenfalls,  wie  der  Mangel  einer  deutlichen  Schich- 
tung zeigt,  recht  rasch  gebildet  worden,  stimmt 
also  darin  mit  manchen  jungen  Tuffen  Schwedens 
überein.  Die  Fichte  hat  sich  auch  nicht  durch 
Pollen  nachweisen  lassen.  Ob  sie  zur  Zeit  des 
Absatzes  noch  nicht  so  weit  vorgedrungen  war, 
kann  aus  dem  negativen  Befund  nicht  mit  Sicher- 
heit geschlossen  werden.  Jedenfalls  bildet  der 
Erlentuff  den  Übergang  zur  Gegenwart,  in  welcher 
der  Tuffabsatz  freilich  wieder  geringer  ist.  Es 
ist  wiederum  eine  Verwitterungsphase  eingetreten, 
die  aber  an  Intensität  derjenigen  zwischen  dem 
Föhrentuff  und  dem  Erlentuff  nachsteht. 

Insgesamt  haben  wir  also  zwei  stärkere  Ver- 
witterungszeiten (oberer  Dryastuff  und  nach  dem 
Föhrentuff)  und  zwei  schwächere  (unterer  Dryastuff 
und  nach  dem  Erlentufi").  Daß  es  sich  dabei  wirklich 
nicht  nur  um  lokale  Veränderungen ,  etwa  Ver- 
schiebungen des  Quellmundes,  handelt,  lehrt  der 
Vergleich  mit  den  anderen  Tuffvorkommnissen. 

2.  Der  Kalktuff  von  Gillebu  und  der 
Schwemmkegel  von  Tingvold  in  ( )ier  (etwa 
60  km  südöstlich  von  Leine).  Von  dem  ursprüng- 
lich zusammenhängenden  Tufflager,  das  in  etwa 
240  m  ü.  M.  liegt,  haben  sich  2  Platten  zu  beiden 
Seiten  eines  Baches  erhalten,  der  etwa  50  m  tiefer 
bei  Tingvold  einen  großen  Schwemmkegel  ange- 
häuft hat.  Beide  Vorkommnisse  sind  erst  1917 
von  Oyen  und  Holme  entdeckt  worden.  In 
der  heutigen  Vegetation  herrschen  Fichten  und 
Föhren,  in  der  Bodendecke  Preißelbeere  und  Ast- 
moose. Das  Tälchen  ist  trotz  der  heute  geringen 
Wasserführung  recht  feucht.  Das  Tufflager  dürfte 
ursprünglich  etwa  90  m  lang  und  30  m  breit  ge- 
wesen sein.  Aus  einem  Profil  an  der  Ostseite 
und  dreien  an  der  Westseite  ergibt  sich  folgende 
Schichtfolge  von  unten  nach  oben  (Abb.  3): 

I.  Grober,  stark  oxydierter  Moränenschutt  mit 
großen  Blöcken. 

II.  Der  Blättertuffkomplex  von  20  bis  • 
50  cm  Mächtigkeit.  Die  unterste  Lage  ist  durch 
Eisenverbindungen  rostig  bis  schokpladenbraun 
oder  selbst  etwas  bläulich  gefärbt  und  stellt  einen 
koksschlackenähnlichen,  stellenweise  bis  30  cm 
mächtigen  „Eisentuff"  dar.  Er  ist  deutlich  ge- 
schichtet ,  aber  entsprechend  der  Unterlage  sehr 
uneben.  Schon  die  untere  Fläche  zeigt  massen- 
hafte Abdrücke  von  Blättern  des  Sanddorns 
{dlippopkacs  rhavDwides),  dazu  von  Birken  {Bdula 


N.  F.  XXI.  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'37 


fjibcscciis)  und  Weiden  (wohl  hauptsächlich  Salix 
pliylüifolia  und  caf^rca,  doch  meist  kaum  sicher 
bestimmbar).  Einige  fasrige  Strukturen  scheinen 
von  Moosen  oder  Blaualgen  herzurühren,  doch 
fehlt  eine  durchgängige  sedentäre  Schicht.  Die 
oberen  Schichten  sind  mehr  graugelb  und  ent- 
halten Laubblätter  in  allen  möglichen  Lagen,  die 
also  nicht  wie  bei  Leine  schön  geschichtet,  son- 
dern sehr  rasch  eingebettet  worden  sind.  Da 
und  dort  ist  Moostuff  eingelagert.  Die  oberste, 
oft  sehr  dünne  Schicht  ist  deutlicher  geschichtet, 
neben  den  genannten  Arten  enthält  sie  auch 
Poptdus  frevnila ;  die  früheren  Bestimmungen  von 
Preißelbeere  und  Grauerle  scheinen  nicht  haltbar 
zu  sein.  Als  eine  besondere  Ausbildungsform  ist 
ein  Tuffkonglomerat  bemerkenswert  mit  durch 
regelmäßig  geschichteten  Sinter  verkitteten  Ge- 
rollen, die  wohl  aus  der  Rinne  stärkster  Strömung 
stammen ,  ferner  eine  mehr  breccienartige  Form 
des  Eisentuffes. 


kegel,  in  dem  über  80  cm  Kies  eine  doppelte, 
20 — 25  cm  mächtige  Lage  voll  Kalktuffstücken 
liegt.  Zu  oberst  folgt  Gehängeschutt,  in  dem 
stellenweise  ein  ortsteinartiger  Horizont  bemerkbar 
ist.  O  y  e  n  und  Holme  fanden  darin  auch  einen 
Kohlenmeiler,  der  möglicherweise  aus  der  Eisen- 
zeit stammt.  Aus  der  Beschaffenheit  des  Schwemm- 
kegels ergibt  sich,  daß  auf  die  Bildung  des  Föhren- 
tuffs eine  Erosions-  und  Akkumulationsperiode  mit 
reichlicher  Wasserführung  gefolgt  ist.  Der  Bach 
war  also  ebenso  wie  die  Leinequelle  intermittie- 
rend: Blätter-  und  Föhrentuff  sind  durch  eine 
Trockenheit  andeutende  Verwitterungsschicht  ge- 
trennt, und  auch  hier  folgte  vor  der  heutigen 
Verwitterungsphase  eine  feuchtere  Periode,  aus 
der  freilich  kein  neuer  Tuffhorizont,  sondern  ein 
Schwemmkegel  stammt.  Vielleicht  ist  das  gänz- 
liche Aufhören  der  Tuffbildung  dadurch  zu  er- 
klären, daß  sich  der  Bach  bis  unter  die  den  Kalk 
liefernden  Schichten  eingeschnitten  hat.  Sicher 
ist  der  Kegel  nicht  einer 
i  ün  geren  Hoch  wasserkata- 
strophe  zuzuschreiben, 
denn  der  uralte  „Königs- 
weg" führt  über  ihn  hin- 
weg,   und    auch    der   ge- 


Abb.  3.     Halbschematisches,  doppelt  überhöhtes  Profil  durch  den   Gillebu-Tuff. 
(Nach  R.  Nordhagen). 

III.  Der  Erdstreifen.  Eine  S  bis  20  cm 
mächtige  Verwitterungsschicht,  die  nur  an  der 
Oslseite  des  Baches  gut  erhalten,  dagegen  in  den 
westlichen  Profilen  gleich  dem  hangenden  Föhren- 
tuff durch  spätere  Verwitterung  größtenteils  ab- 
getragen ist.  Dryas  fehlt  hier  im  Gegensatz  zu 
Leine  ganz,  auch  Öyens  Angabe  vox\  Salix  nii- 
culafa  scheint  sehr  zweifelhaft. 

IV.  Der  Föhrentuff.  An  der  Ostseite  noch 
etwa  30  cm  mächtig,  an  der  Westseite  bis  auf 
spärliche  Reste  abgewittert.  Die  unterste  Schicht 
ist  sehr  brüchig  und  fossilfrei,  auch  der  eigent- 
liche Föhrentuff  ist  sehr  locker,  stellenweise  zu 
einer  konglomeratartigen  Masse  verbacken.  Neben 
der  Waldföhre  kommen  Birken,  Espe,  Ulme  (durch 
Pollen  nachgewiesen),  Weiden  und  Preißelbeere 
vor;  der  Sanddorn  fehlt  dagegen  vollständig,  ist 
also  wohl  ebenso  wie  Dryas  bei  Leine  der  Be- 
schattung durch  den  Föhrenwald  erlegen.  Ur- 
sprünglich scheint  der  Föhrentuff  mindestens  so 
ausgebreitet  und  mächtig  wie  der  Blätlertuff  ge- 
wesen zu  sein,  die  obersten  Schichten  sind  aber 
überall  abgewittert,  und  eine  jüngere  Tuffbildung 
scheint  hier  möglicherweise  nie  bestanden  zu  haben. 

Der  Schwemmkegel  von  Tingvold,  den  der 
das  Tufflager  durchsägende  Bach  gebildet  hat, 
erreicht  eine  Mächtigkeit  von  3  m.  Über  Grund- 
moräne folgt  fluvioglazialer  Kies  mit  Überguß- 
schichtung,    darüber    der    eigentliche    Schwemm- 


nannte Kohlenmeiler  und 
das  Fehlen  der  Fichte 
in  der  ganzen  Ablagerung 
sprechen  für  vorge- 
schichtliches Alter. 

3.  Der  Kalktuff  bei 
Nedre  Dal  in  Faaberg. 
Dieser  liegt  unterhalb  dem 
vorigen  in  225  m  ü.  M.  und  ist  schon  von  Blytt  1892 
eingehend  beschrieben  worden.  Im  Gegensatz  zu  den 
vorigen  Vorkommnissen  handelt  es  sich  hier  nicht 
um  ein  geschichtetes  Lager,  sondern  um  einzelne 
Tuffblöcke  im  Boden  unterhalb  einer  steilen  Halde. 
Die  meisten  sind  heute  entfernt.  Auch  hier  sind 
deutlich  ein  Blättertuff  mit  Birke,  Espe,  Weiden 
und  ohne  makroskopische  Föhrenreste  und  ein 
völlig  mit  den  vorbesprochenen  übereinstimmen- 
der Föhrentuff  zu  unterscheiden.  Übergangs- 
bildungen und  Dryastuff  fehlen.  Blytt  schrieb 
beiderlei,  heute  nebeneinander  liegende  Tuffarten 
verschiedenen  Zeiten  zu,  glaubte  aber,  daß  sie 
doch  an  Ort  und  Stelle  entstanden  seien,  wogegen 
die  Neuuntersuchung  ergab,  daß  die  Blöcke  an 
sekundärer  Lagerstätte  liegen.  Sicher  handelt  es 
sich  um  Reste  eines  größeren,  abgerutschten  Tuff- 
lagers. Im  Blättertuff  fand  Blytt  u.  a.  auch 
Prunus  Padiis,  Salix  )iigricaiis  und  die  Schnek- 
ken  Vitriiia  pellucida,  Pupilla  iiiuscor/nn  und 
Arianta  arbuslonuii,  im  Föhrentuff  u.  a.  Liiitiaca 
borcalis.  Auf  jeden  Fall  entsprechen  die  beiden 
Tuffe  denen  von  Gillebu  und  Leine. 

4.  Kalktuffe  bei  O  n  s  e  t  in  Biri  am  Mjösensee. 
Blytt  hat  1S92  ein  dortiges  Tuffvorkommnis 
untersucht,  seine  Befunde  aber  bis  auf  eine  kurze 
Notiz  in  seinem  Nachlaß,  worin  er  Föhren-  und 
Birkentuff  in  getrennten  Blöcken  nennt,  nicht 
publiziert.      In    seiner   Sammlung    von   Biri   liegt 


138 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  10 


nach  seiner  eigenen  Aufzeichnung  nur  ein  Stück 
Föhrentuff  von  Undset  (Onset)  und  mehrere  von 
Eriksrud,  sowie  Blättertuff  von  Undset.  Auf  Grund 
dieses  Materials  hat  Öyen  eine  ganze  Schicht- 
folge zu  rekonstruieren  versucht,  dabei  aber  un- 
statthafterweise auch  die  wohl  viel  jüngeren  Stücke 
von  Eriksrud  mitverwandt,  und  außerdem  die 
ganze  Bildung  für  autochthon  gehalten ,  was 
ebensowenig  wie  bei  Nedre  Dal  zutrifft.  Es  han- 
delt sich  sicher  um  lauter  lose,  oberflächlich  an- 
gewitterte Brocken.  Die  Blattreste,  die  Öyen 
als  Dryas  deutete,  stellten  sich  als  Fragment 
eines  Erlenblattes  heraus.  Die  Fundstelle  selber 
(in  etwa  250  m  ü.  M.)  bietet  keine  Aufschlüsse 
mehr,  aber  darüber  lagen  im  Boden  einzelne  Tuff- 
brocken, die,  wie  Abdrücke  von  Fichtennadeln 
zeigen,  wohl  ganz  jungen  Alters  sind.  Irgend- 
welche sichere  Schichtfolge  ist  nicht  nachweisbar. 
Noch  höher  oben  finden  sich  an  den  Felswänden 
halbrezente  Tuffausscheidungen  mit  zahlreichen 
lebenden  Moosen  (vor  allem  Gyiiniosfoiiimii  ni- 
pi'sfn)  und  Blaualgen  (Scyfoiifiiia  )iiirabilc,  Pctalo- 
iicma  ala/iiin,  C/iroocow^/s-Arttn  u.  a.).  Als  re- 
zente Tuffbildner  waren  aus  Skandinavien  bisher 
nur  CrnfoncK ?-a  -  \ricn,  Distichium  capillaccion, 
Rivnlaria  liacinatiics  und  wenig  andere  Blaualgen 
bekannt.  Von  diesen  jungen  Ausscheidungen 
sind  jedenfalls  die  fraglichen  Bruchstücke  minde- 
stens zur  Hauptsache  abgestürzt.  — 

Auch  einige  kleinere  Tuffvorkommnisse  im 
oberen  Gudbrandsdal  (Kringen,  Sorem,  Pillarviken, 
Mysuholet)  erwiesen  sich  als  zu  unbedeutend  oder 
unzugänglich,  um  stratigraphische  Untersuchungen 
zu  ermöglichen. 

IL  Allgemeiner  Teil. 
I.  Der  Gletscherrückzug  im  Gud- 
brandsdal. In  diesem  Abschnitt  gibt  der  Verf. 
einen  —  bisher  in  der  Quartärliteratur  noch  fehlen- 
den —  Überblick  über  den  Rückzug  der  Vereisung 
in  Norwegen,  hauptsächlich  auf  Grund  der  zahl- 
reichen Arbeiten  von  Konservator  Öyen.  Dieser 
unterscheidet  für  das  Gebiet  des  Kristianiafjords 
folgende  Rückzugsstadien,  die  auffallend  an  solche 
der  Alpengletscher  (Penck  und  Brückner, 
Hug)  erinnern  (vgl.  auch  das  Kärtchen  Abb.  i): 
„     „     ,.  I    Smaalenene-Jarlsberg-Stufe 

Ra-Stadium  \    Moss  Horten-Stufe 

j    Aas-Stufe 

1    SkiStufe 

(Nydals  Stufe 

IMaridals-Stufe 
„  .,    „,    ,.  fSkedsmo-Stufe 

Romer.k-Stadium     IßergerStufe. 

Die  unbekannte  Zeitdauer  der  diesen  Rück- 
zugsstadien zugrunde  liegenden  Gletscherschwan- 
kungen bildet  eine  ganz  bedeutende  Fehlerquelle 
für  die  quartäre  Chronologie.  Ganz  besonders 
gilt  das  für  die  innerhalb  des  Romerikstadiums 
folgende  ,, epiglaziale"  oder  „Seenstufe",  so  genannt 
nach  der  Lage  ihrer  Moränen  vor  den  Seen  Mjö- 
sen,  Hurdalsvand,  Randsfjord,   Spirillen    und  Krö- 


Aas-Stadium 


Aker- Stadium 


deren,  die  ebenso  wie  das  ihr  möglicherweise 
entsprechende  „Bühlstadium"  der  Alpen  sehr  um- 
stritten ist.  Nach  Öyen  ist  der  Gletscher  hier 
über  marine  Ablagerungen  wiederum  vorgestoßen. 
Es  handelt  sich  um  die  in  Romerike  und  weiter 
bis  Elverum  gefundenen  Lehme  mit  der  „jüngeren 
Poitlaiidia  {=  \  'oldia)  arciica-YaMna.".  Die  Eis- 
meermuschel tritt  hier  in  einer  kleineren  Varietät 
auf,  welches  Vorkommen  De  Geer  als  Relikt 
zu  deuten  versuchte.  Dagegen  spricht,  daß  diese 
Fauna  eine  ziemliche  Ausbreitung  besitzt  und 
ihrer  ganzen  Zusammensetzung  nach  eine  tiefere 
Wassertemperatur  anzeigt  als  die  des  vorangehen- 
den ,  J/)'//7//.y-Stadiums"  (mit  J^Iytiliis  cdulis,  Mya 
tniiicala,  Saxicava  p>ioladis  u.  a.),  das  bei  Kristi- 
ania in  221  m  Höhe,  etwas  höher  als  die  Purt- 
Icuidia-FdiUndL  von  Romeiike  liegt.  Auch  Blytt 
hatte  bereits  einen  jüngeren  Gletschervorstoß  in 
manchen  Gebirgstälern  zu  finden  geglaubt.  Nach 
Öyen  entspricht  das  „J/j/Ä^i' -  Niveau"  sowohl 
der  wärmeren  „arktischen  Zeit"  Blytts,  wie  der 
Achenschwankung  Pencks,  das  jüngere  „PivA 
landia-^iwtdiU"  Blytts  „subglazialer  Zeit",  Pencks 
„Bühlvorstoß"  und  der  „Post- Wisconsin-Periode" 
der  Amerikaner.  Auch  die  neueren  Beobachtun- 
gen von  Rekstad,  Holme,  Björlykke  u.  a. 
stimmen  gut  mit  dieser  Erklärung.  Ähnliche  Be- 
obachtungen haben  Kaldhol  und  Kolderup 
auch  an  der  norwegischen  Westküste  gemacht. 
Andere  nordische  Geologen  verhalten  sich  dieser 
Auffassung  gegenüber  noch  skeptisch.  Viele 
Fragen  bedürfen  weiterer  Untersuchungen,  z.  B. 
die,  wieweit  sich  das  Eis  im  J/j/Z/^i'-Stadium 
zurückgezogen  hat,  welche  Zeitdauer  und  welche 
horizontale  Verbreitung  diesem  zukommt.  Jeden- 
falls muß  die  Ansicht  schwedischer  Geologen  ab- 
gelehnt werden,  daß  eine  größere  Gletscherzunge 
im  Gudbrandsdal  überdauert  habe. 

Für  die  Auffassung  Öyens  sprechen  auch 
einige  Beobachtungen  in  Dänemark  („Alleröd- 
Schwankung"  zwischen  der  älteren  und  der  jüngeren 
D/yas-Zt\i,  die  wohl  den  beiden  Purtlaiidia- 
Zeiten  entsprechen)  und  Schweden  (lokale  Gletscher 
nach  Enquist). 

Der  Verlauf  der  Rückzugsmoränen  im  Gud- 
brandsdal zwischen  Lillehammer  und  Olta  spricht 
auch  für  eine  nochmalige  Gletscherbewegung  tal- 
abwärts. Die  Eisscheide  lag  zwischen  Dovre  und 
Sei.  Die  letzten  großen  PJndmoränen  entsprechen 
der  jüngeren  Portlainiia  Zeit  oder  aber  • —  für  die 
eine  eine  solche  nicht  anerkennenden  Geologen  — 
dem  letzten  Rückzugsstadium  des  Inlandseises. 
Zu  diesen  Moränen  gehören  die  mächtigen  Auf- 
füllungsmassen von  Leine,  deren  Material  sicher 
von  Norden  und  Nordosten  stammt.  Endmoränen 
finden  sich  auch  noch  höher,  bis  700  m  ü.  M., 
eine  genaue  Altersbestimmung  ist  aber  noch  nicht 
durchgeführt. 

2.  Bemerkungen  über  die  erste  Flora 
und  Vegetation  nach  dem  Eisrückzug. 
Aus  dem  Vorhergehenden  ergibt  sich,  daß  von 
einer  einheitlichen,  für  ganz  Skandinavien  geltenden 


N.  F.  XXI.  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


139 


„DrjasZeh"  nicht  die  Rede  sein  kann,  wenn 
diese  Annahme  auch  für  manche  Gebiete  wie 
Südschweden  zutreffen  mag.  Anderwärts  findet 
man  oft  neben  arktischen  Arten  (z.  B.  Salix 
polaris  bei  Kristiania)  viele  subarktische.  Die 
Herkunft  der  Gebirgspflanzen  ist  recht  umstritten. 
Mehrere  Forscher  wie  schon  Blytt  und  Ser- 
nander  und  neuerdings  Hansen,  Wille, 
Th.  C.  E.  Fries  und  Tengwall  nehmen  ein 
Überdauern  der  letzten  Vereisung  sowohl  auf 
Nunatakkern  im  Gebirge,  wie  auch  auf  einem  eis- 
freien Küstenstreifen  an.  Für  letztere  Annahme 
spricht  der  Fund  arktischer  Pflanzenreste  an  der 
Westküste  und  weiter  Öyens  Parallelisierung  der 
„Örlandsbank"  an  der  Mündung  des  Trondhjemfjords 
mit  den  äußersten  Endmoränen  der  letzten  Eis- 
zeit. Daselbst  wurden  seit  1900  wiederholt  auch 
Reste  von  Sa/u  polaris  und  niiciilafa  und  von 
Dryas  gefunden,  die  aber  aus  späterer  Zeit  als 
die  genannte  Moräne  stammen.  Sehr  zu  Unrecht 
stellte  Enquist  alle  Funde  arktischer  Pflanzen 
in  eine  einzige  Periode.  Eine  sichere  Altersbe- 
stimmung ist  leider  auch  für  die  wohl  recht  alten 
Reste  arktischer  Pflanzen,  die  H.  Smith  kürzlich 
im  oberen  Jemtland  und  Herjedalen  entdeckt  hat, 
kaum  möglich.  Daß  zahlreiche  Arten  von  der 
Westküste  ins  Hochgebirge  eingewandert  sind, 
scheint  immerhin  gesichert. 

Andererseits  muß  man  bei  der  Annahme  von 
Überdauerung  sehr  vorsichtig  sein.  Fries  und 
Tengwall  sind  sicher  zu  weit  gegangen,  wenn 
sie  eine  solche  z.  B.  für  Carc.x  scirpuidea  und 
Saxifraga  Aizoon  annehmen.  Erstere  hat  in  ganz 
Europa  nur  zwei  Standorte  im  Solvaaggebirge 
beim  Junkerdal,  die  sicherlich  unter  Eis  begraben 
lagen.  Hingegen  war  das  rauhe  Klima  einem 
Überdauern  der  postglazialen  Wärmezeit,  die  ander- 
wärts durch  die  starke  Erhöhung  der  Waldgrenze 
viele  Gebirgspflanzen  vernichtet  hat,  unzweifelhaft 
günstig.  Ähnliches  gilt  für  das  kleine  Areal  der 
Saxifraga  Aizooii  um  das  Balvand  südlich  vom 
Sulitjelrna.  Woher  und  wann  beide  Arten  zu 
diesen  Örtlichkeiten  gekommen  sind,  wissen  wir 
einstweilen  nicht.  iVIanche  Gebirgspflanzen  sind 
sicher  von  Süden  und  von  Osten  gekommen,  von 
Süden  z.  B.  Kobresia  bipartita,  NigritcUa  nigra, 
Ranunciilus  platanifolius ,  Gentiana  piirpurea, 
Pedicularis  Oederi  und  Cainpaiiula  barbata. 

In  solchen  Schwankungsperioden,  wie  der  des 
„il^'/Z/z/j^-Niveaus"  und  der  „AUeröd-Gyttja"  kann 
die  alpine  Vegetation  eine  sehr  große  Ausdehnung 
erlangt  haben,  wir  wissen  jedoch  auch  hiervon 
noch  sehr  wenig. 

3.  Die  Kalktuffe  von  Gudbrandsdal 
und  Blytts  Theorie.  Blytts  Theorie,  die 
sich  u.  a.  auf  einzelne  Torf-  und  Tuffprofile  stützte, 
ist  heftig  angegriffen  worden,  ist  aber  doch  auch 
durch  die  neuesten  Untersuchungen  immer  wieder 
in  einzelnen  Punkten  bestätigt  worden.  Mindestens 
die  obere  („subboreale")  Stubbenlage  hat  sich  in 
den  skandinavischen  wie  in  den  nordeuropäischen 
Torfmooren  überhaupt  ganz  allgemein  nachweisen 


lassen.  Selbst  so  skeptische  Forscher  wie  C.  A. 
Weber  und  G.  Andersson  nehmen  für  diese 
Bildung  eine  trockene  Periode  an.  Die  neuen 
Untersuchungen  von  Sernander,  L.  von  Post 
und  ihrer  Schüler  in  Schweden,  von  Holmsen 
in  Norwegen  und  Jessen  in  Dänemark  haben 
weiter  auch  den  tiefer  liegenden  „borealen  Aus- 
trocknungshorizont" Blytts  bestätigt,  wogegen 
die  Schichtfolge  unter  diesem  noch  stärker  um- 
stritten ist.  Seinen  „subarktischen  Torf"  teilte 
Blytt  später  in  einen  „infraborealen  Torf  und 
eine  weitere  „subarktische  Stubbenlage".  Diese 
Zweiteilung  hat  sich  jedoch  bisher  an  den  meisten 
Orten  nicht  nachweisen  lassen,  weshalb  die  meisten 
Forscher  mit  Sernander  die  ganze  Folge  zwischen 
dem  Glazial  und  dem  borealen  Horizont  als  „sub- 
arktisch" bezeichnen. 

Wie  schon  1882  Blytt,  so  suchte  neuerdings 
Öyen  die  Ergebnisse  der  Torfmoorforschung  und 
derStrandterrassenuntersuchungen  zu  parallelisieren. 
Dabei  zeigt  sich,  daß  bei  letzteren  die  den  „sub- 
arktischen Torfschichten"  entsprechenden  Ablage- 
rungen zwischen  der  „marinen  Grenze"  und  dem 
„7';?/i('v-Niveau"  gerade  die  am  besten  bekannten 
sind  (Brögger,  Öyen).  Auf  das  „jüngere  y-'f/'-A 
/«//•(//rf-Niveau"  folgt  das  durch  kräftige  Muschel- 
bänke, aber  geringe  Akkumulation  eine  relativ 
trockene  Zeit  andeutende  ,Jjtturiiia-Wi.v^sxi!'  (nicht 
zu  verwechseln  mit  der  erst  viel  späteren  „Lifforii/a- 
Zeit"  in  den  Ostseeländern),  darauf  das  durch  große 
Lehmterrassen  ausgezeichnete  und  somit  starke 
Akkumulation  und  Feuchtigkeit  anzeigende  „Pholas- 
Niveau"  und  schließlich  das  „J7(/r//'fl'-Niveau"  mit 
fehlender  Akkumulation  und  reichen  Schalenbänken 
mit  wärmeliebender  Fauna.  Auf  dieses  folgte 
nach  den  vorangegangenen  Hebungen  wieder  eine 
Senkung  (die  Z/Mv/'z/^/Senkung  der  Ostseeländer), 
die  zum  eigentlichen  „7)?/(\f- Niveau"  mit  seiner 
starken  Akkumulation  überleitet.  Diese  Folge 
scheint  also  Blytts  spätere  Auffassung  durchaus 
zu  bestätigen.  Die  meisten  norwegischen  Geo- 
logen anerkennen  sie,  weniger  dagegen  die  folgen- 
den Stufen,  von  denen  Öyen  zunächst  ein  durch 
ausgesprochen  wärmeliebende,  südliche  Arten  wie 
Trivia  enropaca,  Lima  loscoutbi  und  Couitlus 
i/iilltgraiiiis  charakterisiertes  „TyvT^rt-Niveau",  ein 
unteres,  gleichfalls  Wärme  und  Trockenheit  an- 
zeigendes „  (Jsfraca-Kiwt&u"  (einen  Wasserstand  von 
II — 22  m  über  dem  heutigen  entsprechend)  und 
ein  „jüngeres  Osfraca-H'wtaM"  unterscheidet,  auf 
welches  das  „il/jw-Niveau"  der  Gegenwart  folgt. 
Offenbar  entsprechen  sich: 
il/)'//7/«-Niveau  arktisch 

jüngeres/'(7;-/'/(?//(?'^rt-Niveau  subglazial 
Lifforiiia-Kiwea.\i  subarktisch  sensu  stricto 

P/wlas-H\vt2L\i  infraboreal 

Macfra-'H\wtAü  boreal 

Tapcs-Kive&w  atlantisch. 

Weniger  einleuchtend  ist,  daß  Öyen  nur  das 
ältere  Osfraca-KivtAM  mit  subboreal  und  das 
jüngere  mit  subatlantisch  parallelisiert,  dagegen 
das  7>7i7'«-Niveau  als  „neoboreal"  vor  die  subboreale 


140 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  10 


Periode  einschiebt.  Vielleicht  gehört  es  als  die 
Zeit  mit  der  am  meisten  wärmefordernden  Fauna 
doch  auch  in  die  subboreale  Zeit.  Auf  jeden  Fall 
ist  beachtenswert,  daß  nach  Öyen  wie  nach  den 
schwedischen  Moorforschern  nicht  die  atlantische, 
sondern  die  darauf  folgende  Zeit  das  postglaziale 
Wärmemaximum  gebracht  hat.  Andererseits  hat 
z.  B.  die  Parallelisierung  mit  den  archäologischen 
Perioden  (nach  S  e  r  n  a  n  d  e  r  z.  B.  subboreal  = 
jüngeres  Neolithikum  und  Bronzezeit,  subatlan- 
tisch =  Übergang  von  der  Bronze-  zur  Eisenzeit) 
noch  zu  keiner  Einigung  geführt.  Auf  jeden  Fall 
sind  wir  nicht  berechtigt,  die  B 1  y  1 1  sehe  Theorie 
nur  deswegen  abzulehnen,  weil  sie  einen  so  kom- 
plizierten Verlauf  annimmt. 

Einen  solchen  bestätigen  durchaus  auch  die 
Kalktufifuntersuchungen,  wie  solche  besonders  in 
Schweden  (Benestad  in  Schonen,  Skultorp  in 
Västergötland ,  mehrere  Tuffe  in  Jemtland)  von 
Hulth,  Kurck,  Sernander,  Halle,  Kjell- 
mark  u.  a.  durchgeführt  worden  sind.  Besonders 
instruktiv  ist  der  Tuff  von  Skultorp,  dessen  ver- 
schiedene Lagen  Sernander  1916  unter  Be- 
nutzung der  De  Geerschen  Datierung  folgender- 
maßen bestimmt: 

Unter  der  rezenten  Humuslage  loser  Tuff: 

subatlantisch,  bis  500  v.  Chr. 
Humuslage  und  dichter  Tuff  mit  Weiden- 
blättern: subboreal,  500—3500  v.  Chr. 
Rasch    gebildeter,   loser  Tuff:    atlantisch, 

3500 — 5500  V.  Chr. 
Dichter,  wenig  mächtiger  Föhrentuff  zwi- 
schen zwei  Humuslagen:   boreal,  5500 
bis  6500  V.  Chr. 
MoostufT  und  Seekreide  mit  Zwergweiden, 
darunter   Sand:    subarktisch,    6500   bis 
7500  V.  Chr. 
Darunter  Eisseebildungen  und  Moräne. 
Auch  im  Benestadtuff  zeigen  sich  deutlich  eine 
„subboröale"    und    eine    „boreale"    Unterbrechung, 
und  mindestens  eine  solche  zeigt  auch  der  floristisch 
bemerkenswerte  Tuff   von    Botarfve    auf  Gotland 
(nach  Halle   1906). 

Bei  der  Neuuntersuchung  der  Tuffe  von  Gud- 
brandsdalen  hat  sich  überraschenderweise  heraus- 
gestellt, daß  diese  besser  zu  Blytts  Theorie 
stimmen,  als  dieser  selbst  ahnen  konnte.  Er 
kannte  nämlich  bei  Leine  weder  den  unteren 
Dryashorizont  noch  den  Erlentuff.  Zunächst  hielt 
er  deshalb  den  Blättertuff  („Birkentuff")  für  atlan- 
tisch, den  Dryastuff  und  begleitenden  Kalklehm 
für  subboreal  und  den  Föhrentuff  für  subatlantisch, 
später,  nach  der  Untersuchung  des  tieferen  Vor- 
kommnisses bei  Nedre  Dal,  den  Birkentuff  für 
infraboreal,  den  Dryastuff  für  boreal  und  den 
Föhrentuff  für  atlantisch.  Subboreale  und  sub- 
atlantische Schichten  konnte  er  also  nicht  finden, 
erklärte  aber  ausdrücklich,  daß  er  deren  Vor- 
handensein sowohl  bei  Leine  wie  bei  Nedre  Dal 
für  möglich,  wenn  auch  nicht  besonders  wahr- 
scheinlich erachte.  Beides  hat  sich  nun  30  Jahre 
später  bei   Leine    tatsächlich    nachweisen    lassen: 


der  subboreale  Verwitterungshorizont  und  der  sub- 
atlantische Erlentuff.  Damit  ist  auch  die  Ver- 
bindung mit  der  Gegenwart  hergestellt.  Daß  es 
sich  nicht  um  eine  bloß  lokale  Sukzession  handelt, 
lehren  die  Ablagerungen  von  Gillebu-Tingvold  und 
Nedre  Dal,  sowie  die  schwedischen  Kalktuffe. 
Die  Blyttsche  Deutung  zwingt  sich  mit  Not- 
wendigkeit auf,  ohne  sie  reiht  sich  Rätsel  an 
Rätsel.  Ganz  vor  kurzem  ist  übrigens  durch 
Henrik  Printz  ein  Klimawechsel  im  heutigen 
Sibirien  mit  Vordringen  der  Steppe  auf  Kosten  des 
Waldes  direkt  beobachtet  worden. 

Aus  allem  ergibt,  sich  folgende  Korrelation : 

(Siehe  Seite   141.) 

4.  Bemerkungen  Über  die  Vegetations- 
entwicklung im  Gudbrandsdal.  A.  Die 
subarktische  Zeit.  Eine  scharfe  Trennung 
in  eine  subarktische  und  eine  infraboreale  Periode 
scheint  vorerst  nicht  angängig.  Unter  der  Ab- 
schmelzung  der  letzten  Gletscher  war  das  Klima 
sicher  ausgeprägt  kontinental,  wie  die  starken 
Oxydations-  und  sonstigen  Verwitterungsvorgänge 
beweisen.  Daß  sich  die  Tufflager  infolge  des 
durch  die  Schmelzwässer  erhöhten  Grundwasser- 
standes in  wenigen  Jahrhunderten  gebildet  haben 
sollen,  wie  Andersson  und  Birger  1912  be- 
haupteten, ist  sicher  falsch.  Die  Tuffbildung  hat 
erst  nach  einer  längeren  Unterbrechung  einge- 
setzt. Die  genannten  Autoren  haben  auch  die 
Eisscheide  fälschlich  zwischen  Leine  und  Gillebu 
verlegt,  während  sie  viel  höher  als  Leine  lag 
(vgl.  Abb.  i). 

Da  das  Klima  noch  heute  in  Gudbrandsdalen 
ausgeprägt  kontinental  ist,  brauchen  wir  nicht 
anzunehmen,  daß  auch  Gebiete  mit  heute  ozeani- 
schem Klima  ebenso  starke  Klimawechsel  durch- 
gemacht haben.  Daß  aber  ein  Klimawechsel  auch 
in  der  Umgebung  von  Kristania  und  Drontheim 
stattgefunden  hat,  lehren  die  Strandablagerungen. 
Über  die  erste  Vegetation  wissen  wir  sehr  wenig. 
Als  der  Tuffabsatz  begann,  herrschte  eine  sub- 
alpine Laubholzvegetation.  Mindestens  bei  Leine 
fanden  sich  auch  Alpenpflanzen.  Der  Fund  von 
vereinzeltem  F'öhrenpollen  kann  auf  Ferntransport 
talaufwärts  beruhen.  Da  die  Föhre  heute  neben 
der  Fichte  bei  Gillebu  dominiert  und  auch  noch 
vereinzelt  in  der  weiteren  Umgebung  von  Leine 
auftritt  und  an  beiden  Orten  in  der  atlantischen 
Periode  absolut  dominierte ,  müssen  besondere 
Gründe  vorliegen,  die  sie  in  früherer  Zeit  auf 
Kosten  der  Laubhölzer  fernhielten.  Wir  müssen 
eine  Birken  -  Espenperiode  annehmen,  mit  einer 
Vegetation  ähnlich  derjenigen  in  der  heutigen 
subalpinen  Stufe.  Diese  schon  1842  von  Steen- 
strup  geäußerte  Annahme  scheint  nicht  überall 
in  Skandinavien  zuzutreffen.  Auf  Gotland,  in 
Südschweden  und  auf  Seeland,  nach  Holms  en 
auch  im  südöstlichsten  Norwegen  scheint  die 
P'öhre  gleichzeitig  mit  den  Laubhölzern  aufgetreten 
zu  sein.  Wohl  aber  scheint  die  Steenstrup- 
sche  Auffassung    für    das   zentrale    und   westliche 


N.  P.  XXt.  Nr.   lö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


141 


Klimaperiode 

Leinetuff 

Gillebu-Tingvold    '           Nedre  Dal 

Strandzonen 

Gegenwart 
(relativ  trocken) 

VerwUierung, 
schwache  Moostuff- 
bildung 

Verwitterung                  Verwitterung 

^/yrt-Niveau 

Subatlantisch 
(feucht  und  ziemlich  warm) 

Krlentuff 

Erosion,  Bildung 
eines  Schwemm- 
kegels mit  Tuff  in 
sekundärer    Lager- 
stätte 

Rutschungen? 

Jüngeres   Ostraea- 
Niveau 

Subboreal 
(trocken  und  sehr, warm) 

Verwitterungs- 
horizont 

Verwitterung 

} 

Älteres    Ostraea- 

Niveau    (und   Trivia- 

Niveau?) 

Atlantisch 
(feucht,    mäßig  warm) 

Föhrentuff 

Föhrentuff 

Föhrentuff 

Tß/fj-Niveau 

Boreal 
(trocken,   kontinental) 

Dryas-Tuff  und 
Diskordanz 

Humusstreifen 

Diskordanz 

Mactra-^vitaXi 

Subarktisch 

infraboreal 

(feucht) 

Blältertuflf 
und   Moostuff 

Blättertuff 

Blättertuff 

P/w/as-Niveixi 

s.  lat.  (kühl) 

subarktisch 

s.  sir. 

(trocken , 

kontinental) 

Roter  Lehm 

(Verwitterungsschichl 

unter  dem  Tuff) 

Stark  verwitterte 
Moräne  mit  Eisen- 
anreicherung 

• 
? 

Li/ioriria-Niveau 

Letzte    Vergletscherung:        | Blauer  Moränenlehm 
Subglazial    (sehr  kalt)         |         mit  Blöcken         |       Moränenschutt 

Moräne 

Jüngeres    Portlandia- 
Niveau, 

Arktisch  (et 

vas  wärmer) 

yJ/c^/Äij-Niveau 

Norwegen  zuzutreffen.  Die  Föhrengrenze  lag 
wohl  wesentlich  tiefer  als  heute.  Andererseits 
waren  aber  die  Gletscher  schon  stark  zurückge- 
wichen. Auf  dem  offenen  Gelände  konnten  sich 
lichtbedürftige  Arten  wie  Hippopliacs  und  höher 
oben  Dryas  ausbreiten.  Es  können  nur  lichte 
Birkenhaine  bestanden  haben,  denn  sobald  sich 
geschlossener  Nadelwald  einstellte,  starben  die 
beiden  genannten  Arten  aus. 

B.  Die  boreale  Zeit.  Diese  bedeutet  eine 
völlige  Unterbrechung  der  Tuffbiidung.  Das  Klima 
wurde  nicht  nur  trockener,  sondern  wenigstens 
im  Sommer  auch  wärmer.  Von  Wäldern  können 
nur  ganz  lichte  Birken -Föhrenhaine  bestanden 
haben,  denn  sonst  wären  die  geschlossenen  Dryas- 
Teppiche  von  Leine  unverständlich.  Ein  solcher 
bedeckte  zweifellos  auch  die  Schieferfelsen  höher 
oben,  wo  heute  Dryas  fehlt.  Von  ihren  Beglei- 
tern haben  sich  daselbst  folgende  bis  heute  zu 
behaupten  vermocht:  Cetraria  nivalis,  Selaginella 
spinulosa,  Poa  alpiiia  und  caesia,  Carex  capillaris 
und  sjiarsiflora,  Junais  Irifidus,  Polygonum  vivi- 
parum,  Cerastium  alfinurn,  Draba  Jiirta  und 
incana,  Parnassia  palustris,  Potei/tilla  Crantzii, 
Astragalus  alpinus,  Giiitiaua  nivalis  und  tenella, 
Veronica  saxatilis  und  Aiitouiaria  alpiiui.  Ein- 
zelne davon  können  natürlich  auch  später  einge- 
wandert sein.  Auf  j'eden  Fall  war  in  der  borealen 
Zeit  die  alpine  Stufe  ausgedehnter  als  heute.   Die 


Schneegrenze  lag  kaum  tiefer,  wohl  aber  die 
Waldgrenze.  Über  deren  Beschaffenheit  sind  die 
Meinungen  geteilt.  In  der  postglazialen  Wärme- 
zeit, deren  Höhepunkt  sicher  in  die  subboreale 
■  Periode  fällt,  lag  die  Föhrengrenze  im  mittleren 
Skandinavien  1 50  bis  300  m  als  heute,  es  ist  aber 
sehr  fraglich,  ob  auch  die  Birkengrenze  eine  ähn- 
liche Verschiebung  durchgemacht  hat.  Die  Föhre 
verlangt  eine  wesentlich  höhere  Sommertemperatur 
als  die  Birke,  für  welche  dafür  die  Länge  der 
Vegetationsperiode  von  ausschlaggebender  Be- 
deutung ist  (Fries,  Tengwall,  Smith).  Es 
muß  daher  für  jede  Periode  besonders  untersucht 
werden,  ob  ein  „subalpiner  Birkengürtel"  bestan- 
den hat  oder  nicht.  Für  die  subarktische  Periode 
scheint  dies  für  das  mittlere  und  westliche  Nor- 
wegen sicherzustehen,  für  die  nachfolgenden 
kontinentalen  Perioden  dagegen  nicht.  Sernander 
will  keine  größere  Ausdehnung  der  alpinen  Stufe 
in  subarktischer  und  borealer  Zeit  annehmen,  wo- 
mit aber  die  neuen  Befunde  in  Widerspruch  stehen. 
Eine  Parallelisierung  zwischen  den  Tuffen  von 
Gudbrandsdalen  und  Jemtland  ist  nur  schwer 
durchführbar,  doch  stimmen  sie  wenigstens  soweit 
überein,  daß  in  den  untersten  Schichten  die  Föhre 
fehlt  oder  doch  nur  ganz  vereinzelt  auftritt,  dafür 
Dryas  und  Hippoplia'cs  in  Menge  erscheinen,  um 
später  mit  dem  Überhandnehmen  des  Föhren- 
waldes   ganz    zu    verschwinden.      Ein    Blättertuff 


142 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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fehlt  dagegen  in  Jemtland,  wahrscheinlich  deshalb, 
weil  sich  dorten  das  Eis  erst  später  zurückgezogen 
hat  als  im  zentralen  Norwegen.  Die  Zweiteilung 
des  Eisrestes  im  schwedischen  Gebirge  hat  nach 
De  Geer  und  Sernander  wohl  in  borealer 
Zeit  stattgefunden.  Jedenfalls  war  aber  Gudbrands- 
dalen  damals  schon  eisfrei.  Sowohl  dort  wie  in 
Jemtland  bestanden  günstige  Bedingungen  für 
Alpenpflanzen,  bis  zu  ihrer  Verdrängung  durch 
den  aufrückenden  Föhrenwald. 

Ganz  besonders  interessant  ist  das  Auftreten 
des  Sanddorns,  J/ippopIiai's  rliaiinioidcs ,  dessen 
Ausbreitung  in  Fennoskandinavien  der  Verf.  ein- 
gehend schildert  und  auch  kartographisch  dar- 
stellt. Heute  ist  er  in  Skandinavien  mit  Aus- 
nahme vereinzelter  Vorkommnisse  an  dem 
Trondhjemsfjord  und  in  Saiten  streng  an  die 
Küsten  gebunden,  namentlich  an  diejenigen  Strek- 
ken,  wo  durch  stärkere  Landhebung  ständig  Neu- 
land erzeugt  wird.  Fossil  ist  die  Art  außer  bei 
Gillebu  an  7  Stellen  in  Jemtland  und  an  je  einer 
in  Äsele- Lappmark,  in  ^edelpad  und  auf  Got- 
land  nachgewiesen,  sie  war  also  sicher  in  sub- 
arktischer und  borealer  Zeit  viel  weiter  verbreitet, 
hat  aber  dann  an  den  meisten  Orten  der  Kon- 
kurrenz der  Föhre  und  wohl  auch  der  Laubhölzer 
weichen  müssen.  Die  lichtbedürftige  Art  hat  nur 
ein  sehr  geringes  Konkurrenzvermögen  und  zieht 
sich  daher  auf  schwer  besiedelbare  Felsen,  Geröll- 
halden (so  im  Junkerdal  in  Saiten),  auf  Allu- . 
vionen  und  Dünen  zurück.  Klimatisch  ist  sie  in 
hohem  Grad  indififerent,  dagegen  deutlich  etwas 
kalkhold,  namentlich  im  nördüchen  Teil  ihres 
Areals.  Ihre  Gesamtverbreitung,  die  vom  zentral- 
asiatischen Hochland  bis  Westeuropa  reicht,  und 
ihr  Massenauftreten  auf  den  Alandsinseln  hat 
Palmgren  eingehend  geschildert.  Oyen  ist 
sicher  im  Unrecht,  wenn  er  die  Verbreitung  dieser 
Art  allein  auf  klimatische  Ursachen  zurückführen 
wül. 

Ähnlich  verhalten  sich  wohl  auch  manche 
andere  Arten,  so  die  im  Gegensatz  zu  Hipf>op1ia'h 
noch  heute  in  Gudbrandsdalen  vorkommende 
Myricaria  germanica,  die  sowohl  in  Mitteleuropa 
wie  in  Hochtibet  oft  den  Sanddorn  begleitet. 
Aster  subintcgirrinius  (=  Sibiriens  L.)  reicht  von 
Sibirien  bis  Pinnland  und  hat  dann  ein  ganz  iso- 
liertes kleines  Areal  am .  offenen  Kies-  und  Sand- 
strand des  Aursundsees  bei  Röros.  Auch  Carcx 
bicolor  zeigt  solch  disj unkte  Areale,  die  vielleicht 
ähnlich  zu  erklären  sind.  Einige  östliche  Arten 
haben  ein  ganz  unvermitteltes  Areal  im  Gud- 
brandsdal  selbst,  wo  sie  wohl  kaum  (wie  Wille 
für  Atragcnc  sihirica  annahm)  erst  in  neuerer  Zeit 
eingewandert  sind,  sondern  sich  dank  günstiger 
Umstände  bis  heute  erhalten  konnten.  Von  diesen 
reicht  Alhyrium  crciiaf/an  von  Nordasien  bis  Nord- 
und  Mittelfinnland  (fehlt  im  übrigen  Europa), 
Cystopteri?.  sudctica  von  Rußland  bis  in  die  Kar- 
pathen  und  Atragenc  sihirica  von  Nord-  und  Mittel- 


asien nur  bis  Rußland  und  Südostfinnland.  Eine 
befriedigende  Erklärung  für  das  Auftreten  dieser 
Arten    im  Gudbrandsdal    steht   zurzeit   noch    aus. 

C.  Die  atlantische  Zeit.  In  dieser  Zeit 
herrschten  dichte  Föhrenwälder.  Wahrscheinlich 
waren  auch  einzelne  wärmeliebende  Laubhölzer 
weiter  verbreitet  als  heute,  so  Corylns  Avcllana, 
Uliniis  ))io)üaiia  (reicht  heute  bis  Faaberg,  durch 
Pollen  im  Föhrentuff  von  Gillebu  nachgewiesen), 
Acer  plafaiioides  und  liehila  Terriicosa  (im  Leine- 
tuff).  Das  Klima  war  also  wohl  mindestens  so 
warm  wie  heute.  Für  den  Rückgang  von  Ilippo- 
pJiaes,  Dryas  und  anderen  lichtliebenden  Arten  ist 
hauptsächlich  das  Vordringen  des  geschlossenen 
Waldes  verantwortlich  zu  machen. 

D.  Die  subboreale  Zeit.  Über  deren 
Vegetation  wissen  wir  aus  den  Tufifablagerungen 
nicht  mehr,  als  daß  es  sich  um  eine  trockene  Zeit 
mit  intensiver  Verwitterung  handelte.  Nach  den 
Befunden  in  den  Mooren  und  an  der  Küste  war 
es  die  wärmste  Periode  der  ganzen  postglazialen 
Folge.  Der  Verf.  fand  z.  B.  neben  Trivia  enropaca 
die  Muschel  Solecurtiis  eaiididns,  die  heute  nicht 
über  die  Irische  See  nach  Norden  reicht,  noch 
auf  den  Froöern  vor  dem  Trondhjemsfjord.  In 
diese  Zeit  fällt  wohl  die  Einwanderung  und  maxi- 
male Ausbreitung  zahlreicher  südlicher  Arten,  u.  a. 
Trapa  iiataiis,  Dracocephaluiii  Rnyscltiaiia  und 
Brnc/iypodiJini  pinnafum. 

E.  Die  subatlantische  Zeit.  Die  starke 
Erosion  und  Akkumulation  bei  Gillebu-Tingvold 
und  das  Überhandnehmen  der  aus  früheren 
Schichten  nicht  mit  Sicherheit  nachgewiesenen 
Grauerle  bei  Leine  deutet  auf  zunehmende 
Feuchtigkeit.  Wahrscheinlich  ist  damals  auch  die 
Fichte  (Picea  excelsa)  in  Norwegen  eingewandert, 
vielleicht  aber  noch  nicht  bis  Leine,  wo  der 
negative  Befund  freilich  nicht  beweisend  ist.  Die 
obersten  Schichten  sind  eben  auch  dorten  stark 
verwittert.  Die  Waldgrenze  rückte  abermals 
herab,  und  durch  Erdrutschungen  wurde  manchen 
Alpenpflanzen  auch  eine  Ansiedlung  in  tieferen 
Lagen  ermöglicht.  Andererseits  scheint  das 
milde ,  ozeanische  Klima  auch  manchen  wärme- 
liebenden Arten  ein  Verbleiben  gestattet  zu  haben, 
namentlich  in  so  begünstigten  Tälern  wie  Gud- 
brandsdalen. Die  letzte  Entwicklungsphase  kenn- 
zeichnen die  Ausbreitung  des  F'ichtenwaldes  und 
schließlich  die  zunehmende  Umgestaltung  von  Ge- 
lände und  Vegetation  durch  den  Menschen. 

Die  geschilderte  Entwicklung  gilt  natürlich  zu- 
nächst nur  für  das  untersuchte  Gebiet.  Ähnliche 
Untersuchungen  müssen  in  anderen  Gegenden  erst 
durchgeführt  werden. 

Verzeichnisse  der  gefundenen  Pflanzen-  und 
Schneckenarten,  der  benutzten  umfangreichen  Lite- 
ratur und  5  Tafeln  mit  wohlgelungenen  Wieder- 
gaben der  wichtigsten  Funde  von  Leine  und  Gillebu 
beschließen  die  gehaltvolle  Arbeit,  der  größte  Be- 
achtung nicht  nur  in  Skandinavien,  sondern  auch 
in  Mitteleuropa  zu  wünschen  ist.  H.  Gams, 


N.  F.  XXI.  Nr.  lö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


143 


Bücherbesprechungen. 


Diener,  K.,  Paläontologie  und  Abstam- 
mungslehre. Sammlung  Göschen,  Nr.  460, 
2.  Aufl.  137  S.  mit  9  Abb.  Berlin-Leipzig  1920, 
Vereinigung  wissensch.  Verleger.  4,20  M. 
Die  Erforschung  der  vorweltlichen  Tiere  und 
Pflanzen  hat  uns  ein  biologisches  Material  zur 
Verfügung  gestellt,  das  in  manchem  hinter  d^n 
Lebewesen  der  Gegenwart  an  Wert  zurückstehen 
muß,  mindestens  aber  quantitativ  unvergleichlich 
viel  vollständiger  ist  und  durch  die  historische 
Aufeinanderfolge  vor  allem  für  entwicklungstheo- 
retische Probleme  von  ganz  überragender  Be- 
deutung ist.  Die  Frage  nach  der  Umwandelbar- 
keit  der  organischen  Formen  steht  nicht  mehr 
zur  Diskussion.  Die  ganze  Paläontologie  ist  eine 
einzige  Bejahung,  der  es  freilich  kaum  mehr  be- 
durft hätte.  Dagegen  sind  die  Gesetzmäßigkeiten, 
nach  denen  sich  die  Wandlung  vollzieht,  ein  schier 
unübersehbares  Feld  wissenschaftlichen  Suchens 
geworden.  Die  Antworten  früherer  Zeit,  allen 
voran  diejenigen  Lamarcks  und  Darwins 
haben  an  Wert  wenig  eingebüßt,  genügen  aber 
längst  nicht  mehr  für  die  Fülle  neuer  Beob- 
achtungstatsachen. 

Die  Paläontologie  hat  ein  gewaltiges  Material 
beigebracht,  durch  das  früher  erkannte  Gesetz- 
mäßigkeiten von  neuer  Seite  her  beleuchtet  und 
bestätigt  wurden.  Darüber  hinaus  haben  sich 
nun  Erkenntnisse  gewinnen  lassen,  durch  welche 
frühere  ergänzt,  erweitert,  bereichert  wurden.  So- 
dann haben  sich  doch  auch  an  älteren  Ergebnissen 
der  Wissenschaft  sehr  bedeutsame  Abänderungen 
vollzogen  durch  das,  was  der  Überblick  über  die 
Vergangenheit  an  neuen  Gesichtspunkten  hervor- 
treten ließ.  Umformungen,  zum  Teil  sehr  durch- 
greifender Art  (es  sei  nur  an  das  Vergleichsschema 
des  „Stammbaums"  erinnert)  waren  erforderlich, 
grundlegende  Anschauungen  (z.  B.  der  Zweck- 
mäßigkeitsgedanke) mußten  fallen  oder  erheblich 
eingeschränkt  werden.  Viele  neu  aufgeworfene, 
noch  ganz  ungelöste  Probleme  (Aussterben  der 
Gruppen  u.  a.  m.)  haben  frische  Impulse  verliehen. 
Über  alles  das  ist  ein  sehr  großer  Teil  der 
Gebildeten,  selbst  in  akademischen  Kreisen  un- 
bmittelar  benachbarter  und  bewährter  Wissens- 
zweige allzu  wenig  unterrichtet.  Verf.  hat  sich 
dankenswerterweise  der  Aufgabe  unterzogen,  eine 
Fülle  von  Material  zu  solchen  Fragen  zusammen- 
zutragen und  kurz  übersichtlich  einem  größeren 
Leserkreise  zugänglich  zu  machen.  Jedes  der  zahl- 
reichen Einzelkapitel  behandelt  einheitlich  ein  be- 
stimmtes Problem  oder  einen  Problemkomplex 
mit  äußerst  zahlreichen  und  mannigfaltigen  Belegen 
aus  der  Paläozoologie.  Die  Paläobotanik  bleibt 
leider  völlig  aus  dem  Spiel,  obwohl  auch  ihr  für 
den  Stoff  viel  zu  entnehmen  wäre.  In  der  An- 
ordnung der  Kapitel  wird  eine  Gesamtdisposition 
nicht  recht  ersichtlich,  so  daß  der  Eindruck  eines 
Mosaiks  entsteht.  Doch  tut  das  dem  sachlichen 
Wert  des  Heftchens  keinen  Abbruch. 


Die  Zuverlässigkeit  der  Behandlung  des  Stoffes 
braucht  nicht  erst  hervorgehoben  zu  werden. 
Wenn  von  dem  verschiedenen  Tempo  der  Ent- 
wicklung tertiärer  Wirbellosen  und  Wirbeltiere  die 
Rede  ist  (S.  69),  so  bleibt  anscheinend  unbeachtet, 
daß  unsere  Artbegriffe  in  beiden  Fällen  gänzlich 
abweichend  geartet  sind  und  nicht  einfach  als  ver- 
gleichbare Werte  einander  gegenübergestellt  wer- 
den dürfen.  Zu  Ausstellungen  inhaltlicher  Art 
ist  im  übrigen  kein  Anlaß,  es  sei  denn,  daß  auf 
S.  51  der  „Urschildkröte"  Eunnotosaurus  hätte 
Erwähnung  getan  werden  sollen  und  Belodon 
unmöglich  als  „ältestes  Krokodil"  hingestellt  wer- 
den kann.  Dem  Werke  kann  nur  weiteste  Ver- 
breitung gewünscht  werden,  da  es  in  deutscher 
Literatur  ziemlich  vereinzelt  dasteht. 

Edw.  Hennig. 

Buchner,  Paul,  Tier  und  Pflanze  in  intra- 
zellulärer Symbiose.  462  S.,  103  Abb. 
und  2  Taf.  Berlin  1921,  Gebr.  Bornträger. 
Das  Buchn ersehe  Werk  eröffnet  eine  neue 
Disziplin  zwischen  Zoologie  und  Botanik.  Im 
wesentlichen  im  letzten  Jahrzehnt  einen  ungeahnten 
Aufschwung  nehmend,  zeigt  heute  die  Lehre  von 
der  Symbiose  ganze  große  Gruppen  des  Tierreichs 
in  engstem  und  notwendigen  Zusammenleben  mit 
verschiedenen  Klassen  niederer  Pflanzen.  Zum 
Teil  (Algen)  waren  Erscheinungen  dieser  Art 
schon  länger  bekannt,  im  volleren  Umfang  er- 
kannt und  geklärt  sind  sie  erst  durch  die  Arbeiten 
eines  Pieranto nie,  Sulc,  nicht  zum  wenigsten 
durch  Buchn  er  selbst,  der  hier  zuerst  eine  ein- 
heitliche erschöpfende  und  klare  Darstellung  gibt. 
Das  Buch  schildert  die  Algensymbiose  der 
Protozoen,  Schwämme  und  Cölenteraten,  Sym- 
biosen bei  Würmern  mit  Algen  und  Bakterien, 
bei  Bryozoen,  Echinodermen,  Mollusken  und  Turii- 
katen,  endlich  die  intrazelluläre  Pilz-  oder  Bakterien- 
Symbiose  bei  Insekten  und  die  Leuchtsymbiosen 
bei  Coleopteren,  Pyrosomen  und  Cephalopoden. 
Es  erscheint  unmöglich,  auch  in  einem  längeren 
Referat  dem  Inhalt  der  einzelnen  Kapitel  auch 
nur  annähernd  gerecht  zu  werden.  Die  meiste 
Förderung  erfuhr  durch  Buchners  eigene  Ar- 
beiten der  Teil,  der  die  Insektensymbiose  und  die 
Leuchtsymbiosen  behandelt.  Man  liest  von  den  ent- 
wicklungsgeschichtlich merkwürdigen  Zusammen- 
hängen zwischen  Symbionten  und  den  tierischen 
Organen  in  denen  sie  wohnen;  von  ihren  Be- 
ziehungen zum  Fortpflanzungsprozeß,  der  Über- 
tragung der  Symbionten  auf  die  Eier,  die  wie 
bei  den  Aleurodiden  in  ganzen  Zellen  —  Myceto- 
zyten  —  des  mütterlichen  Organismus  erfolgt,  die 
im  jungen  Tier  eine  freilich  begrenzte  Rolle 
spielen;  endlich  von  den  ungewöhnlich  kompli- 
zierten Verhältnissen  bei  den  Cikaden  —  die 
Buchner  entwicklungsgeschichtlich  zu  deuten 
versucht  —  und  hört  die  Lösung  des  alten  Problems 
vom  tierischen  Leuchten. 


144 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  10 


Eine  große  Anzahl  von  Originalen  und  anderen 
Abbildungen  ermöglicht  auch  dem  Nichtzoologen 
die  Verfolgung  der  Schicksale  der  Symbionten 
im  tierischen  Organismus,  bei  der  nur  gelegentlich 
der  Mangel  von  Angaben  über  die  verwandte  Ver-' 
größerung  störend  empfunden  wird. 

Die  physiologische  Seite  des  Problems  steckt 
freilich  noch  in  den  Anfängen.  Buchner  hat 
sorgsam  alle  Theorien  über  die  mögliche  Be- 
deutung der  Symbionten  für  den  Stoffwechsel 
und  das  biologische  Verhalten  des  Tiers  gesammelt 
und  selbst  neue  Wege  und  Möglichkeiten  aufge- 
wiesen. 

Botaniker  haben  sich  mit  der  Sache  erst  in 
sehr  geringem  Umfang  beschäftigt.  Und  doch 
ist  die  Lösung  der  physiologischen  Fragen  erst 
nach  Identifizierung,  Isolierung  und  Reinkultur 
der  betreffenden  Symbionten  möglich,  die  mehr- 
fach versucht  wurde  und  in  einigen  Fällen  ge- 
lungen sein  soll. 

Die  Einsicht  in  die  betreffenden  Original- 
arbeiten läßt  aber  bereits  erkennen,  daß  es  sich 
hier  um  zum  Teil  mit  ganz  unzureichenden 
Methoden  unternommene  Versuche  handelt  und 
daß  positiven  Resultaten  gegenüber  —  mit  sehr 
wenigen  Ausnahmen  —  die  größte  Skepsis  am 
Platze  ist.  Burgeff. 

Stra^burger,   E. ,   Das   Botanische   Prakti- 
kum.    Anleitung    zum   Selbststudium   der   mi- 
kroskopischen   Botanik    für    Anfänger    und  Ge- 
übtere.    Zugleich  ein  Handbuch  der  mikrosko- 
pischen Technik.     Sechste  Auflage,   bearbeitet 
von  M.  Ko ernicke.     XXVI   und  873  S.   mit 
247  Holzschnitten    und    3    farbigen    Bildern    im 
Text.     Gr.  S".     Jena  1921,  Gustav  Fischer.    — 
Brosch.  120  M.,  geb.  135  M. 
Das  große  botanische  Praktikum  erscheint  zum 
zweiten  Male  seit  Straßburgers  Tod,   ganz  in 
seinem    Sinne    von  Koernicke   weiter    geführt. 
Es  ist  seit  langem  nicht  nur  das  Vademekum  des 
mikroskopierenden  Botanikers,  sondern  auch  man- 
cher   Zoologe    hat    seine    Technik    im    Fixieren, 
Schneiden,    Färben    und    Mikroskopieren    an    der 
Hand    des  Altmeisters    der  botanischen  Cytologie 
ausgebildet.    Es  gibt  auch  sicherlich  kein  modernes 
Buch,  das  so  klar  und  umfassend  die  Grundlagen 
der  mikroskopischen  Technik    darstellt,    wie   der 
Straßburger- Koernicke.     Die   altbewährte  Anord- 
nung ist  dieselbe  geblieben,  dabei  wurde  aber  der 
Stoff  vollkommen   durchgearbeitet    und    mit  dem 
Stand  des  heutigen  Wissens  in  Einklang  gebracht. 
Eingehender    noch    als   in  den  früheren  Auflagen 
wurden   die   Literaturbelege   angegeben,    und  vor 
allem  eine  möglichste  Lückenlosigkeit  auf  mikro- 


skopisch-technischem Gebiete  angestrebt.  Das  ist 
bis  zu  einem  überraschend  hohem  Grade  gelungen 
und  dabei  auch  die  ausländische  Literatur  benutzt, 
soweit  das  unter  den  heutigen  Umständen  mög- 
lich ist.  Erreicht  wird  das  wie  in  den  früheren 
Auflagen  durch  ein  besonderes  umfangreiches 
Register,  in  dem  für  die  Vertreter  aller  Abteilungen 
des  Pflanzenreichs  die  empfehlenswertesten  Fixie- 
rungs-  und  Färbungsverfahren,  für  die  niederen 
zudem  noch  in  möglichster  Vollständigkeit  die 
besten  Kulturmethoden  angegeben  sind.  Zu  er- 
wägen wäre  vielleicht  gewesen,  ob  die  im  Text 
angeführten  Preisangaben  für  mikroskopische 
Utensilien,  die  sich  noch  durchweg  auf  der  Basis 
der  Vorkriegszeiten  halten,  besser  fortgelassen 
wären.  Bei  der  nächsten  Auflage  müßten  wohl 
auch  einige  der  zarteren  Klischees  erneuert  werden. 

Nienburg. 

Wolff,  Dr.  Hans,    Die  Harze,  Kunstharze, 
Firnisse    und    Lacke.      Berlin    und  Leipzig 
1921,    Vereinigung    wissenschaftlicher   Verleger 
W.  de  Gruyter  &  Co.     6  M. 
Eine  vorzügliche  Übersicht  aus  der  Feder  des 
bekannten  Fachmannes   in   diesem  analytisch  wie 
konstitutionschemisch      gleich      unübersichtlichen 
Gebiete  I     Dem   Anfänger    wird    eine    gute  Vor- 
stellung   von    der    Mannigfaltigkeit    des    Themas 
gegeben,  —  beinahe  freilich  ist  zu  viel  des  Guten 
an  Stoff  geboten.      Bei    den    dankenswerterweise 
häufigen  Literaturhinweisen  könnte  manches  Pro- 
blematische zugunsten  des  Grundsätzlichen  gekürzt 
werden.  Viele  ebenso  gute  wie  knapp  dargestellte 
analytische   Hinweise   werden    dem    Büchlein    im 
Kreise  der  Fachgenossen  Eingang  verschaffen,  und 
Berichterstatter  bestätigt,  daß  man  wirklich  danach 
„arbeiten"  kann.     Eine  Bereicherung   des    Schrift- 
tums, der  Verbreitung  dringend  zu  wünschen  ist! 

H.  H. 


Literatur. 

Vaerting,  Dr.  M.,  Die  weibliche  Eigenart  im  Männer- 
staat und  die  männliche  Eigenart  im  Frauenstaat.  Karlsruhe 
i.  B.  '21,  G.   Braunsche  Hofbuchdruckerei  und  Verlag.     25  M. 

V.  Frisch,  Karl,  Über  den  Sitz  des  Geruchssinnes  bei 
Insekten.     Jena  '21,  Gustav  Fischer.      18  M. 

Tschulok,  Dr.  S.,  Deszendenzlehre.  Jena  '22,  Gustav 
Fischer.     48  M.,  geb.  58  M. 

Das  Ftlanzenreich,  herausgeg.  von  A.  Engler,  IV,  252. 
A.Brand,  Borraginaceae-Borraginoideae  Cynoglosseae.  Leip- 
zig '21,   W.   Engelmann.      144  M. 

Vegetation  der  Erde ,  herausgeg.  von  A.  Engler  und  O. 
Drude.  IX.:  A.  Engler,  Die  Pflanzenwelt  Afrikas,  insbe- 
sondere seiner  tropischen  Gebiete.  III.  Band,  2.  Heft.  Leip- 
zig,  W.   Engclmann.     340  M.,  geb.  375   M, 

—  — ,  XIV.:  L.  Cockayne,  The  Vegetation  of  New 
Zealand.     210  M.,  geb.  250  M. 


InbBlt:  E.  Fischer,  Stoff  und  Eigenschaft.  S.  129.  L.  Lindinger,  Ein  Vorschlag  zur  genauen  Festlegung  des  Kund- 
orts. S.  132.  —  Einzelberichte:  R.  Nordhagen,  Kulktuffstudien  aus  dem  zentralen  Norwegen.  (3  Abb.)  S.  133.  — 
BUcberbesprecbungen :  K.  Diener,  Paläontologie  und  Abstammungslehre.  S.  143.  P.  Büchner,  Tier  und  Pflanze 
in  intrazellulärer  Symbiose.  S.  143.  E.  Straßburger,  Das  Botanische  Praktikum.  S.  144.  H.  Wolff,  Die  Harze, 
Kunstharze,  Firnisse  und  Lacke.  S.   144.  ^  Literatur:   Liste.  S.   144. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an   Prof.  Dr.  II.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  gaDzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  12.  März  1922. 


Nummer  11. 


Eine  elementare  Theorie  der  Gravitation. 


oder: 


Von  Stjepan  Mohorovifcli- 

[Nachdruck  verboten.]  Mit    2    Abbildurigen. 

I.  Es  ist  bekannt/)  daß  A.  Einstein  zuerst 
das  Gravitationsfeld  mit  Hilfe  seines  Coupes  er- 
klären wollte,  in  welchem  sich  eingesperrt  ein 
Beobachter  (x',  y',  z',  t')  befindet;  dieses  Coupe 
bewegt  sich  gegen  einen  „ruhigen"  Beobachter 
(x,  y,  z,  t)  mit  einer  variablen  Geschwindigkeit. 
Ein  konstantes  Gravitationsfeld  wird  der  Beob- 
achter im  Coupe  nur  dann  konstatieren,  wenn  sich 
sein  Coupe  mit  einer  gleichmäßig  beschleunigten 
Geschwindigkeit  (mit  konstanter  Beschleunigung  g) 
bewegt.  Diesen  Fall  werden  wir  hier  etwas  näher 
betrachten  und  wir  nehmen  in  erster  An- 
näherung an,  daß  die  beiden  Systeme  S'  und  S 
mittels  der  Galilei  sehen  Transformationsglei- 
chungen gebunden  sind: 

x' =  X  —  vt,  y' =  y,  z'  =  z,  t'  =  t;  (i) 
in  unserem  Falle  müssen  wir  anstatt  der  Ge- 
schwindigkeit V  die  mittlere  Geschwindigkeit  v 
annehmen,  wo 

^•=.V  =  ^^,  (2) 


X  =  o,     y  ^  +  w  t, 
und  mit  Rücksicht  auf  (3): 


X^=  t    , 

2 


I  e 


=  +  wt 


— -,.T72y 


p 

O' 


(4) 


(5) 


(6) 


und  mit  Rücksicht  auf  (i): 


z,  i'  =  t. 


(3) 


^'  —  ■a—t'',  y'  =  y, 
2 

In  der  Zeit  t'  =  t  =  o  fallen  die  beiden  Systeme 

zusammen,  so  auch  die  Anfangspunkte  O'  und  O 

[siehe  Abb.  i],  und  wir  werden  annehmen,  daß  in 

diesem  Augenblicke  der   eingesperrte  Beobachter 


2  w- 
Der  eingesperrte  Beobachter  in  O'  wird  sich 
denken,  daß  er  sich  in  einem  konstanten  Gravi- 
tationsfelde befindet,  und  daß  der  Körper  P  in 
einer  Parabel  p  hinunterfällt;  dies  zeigt  uns, 
daß  die  Beschleunigung  und  die  Gravitation  nur 
von  mathematischer  Seite  gleichwertig  sind,  wie 
ich  dies  schon  in  einer  anderen  Arbeit  betont  habe.') 
2.  Dieses  Ergebnis  der  Newtonschen  IVIechanik 
müssen  wir  hier  etwas  umändern,  da  sich  in  der 
Tat  die  Geschwindigkeit  v  nach  einem  anderen 
Gesetze  als  in  der  klassischen  Mechanik  ändert; 
sie  darf  nie  größer  als  die  Lichtgeschwindigkeit  c 
werden,  d.  h.  für  t  ^  co  ist  v  ==  c.  Wir  können 
sehr  leicht  finden,  daß:-) 


1/ 


1  + 


g-i' 


Um  den  zurückgelegten  Weg  in  der  Richtung  der 
negativen  x'- Achse  zu  finden  (Abb.  i),  müssen  wir 
das  Integral  berechnen: 


x'  =  — ,/'  V  dt. 


(II) 


wo  wir  für  v  den  Wert  aus  (7)  einsetzen  müssen, 
und  wir  finden  für  den  zurückgelegten  Weg  sofort : 


im  Coupe  einen  Körper  P  längs  der  y-Achse  mit 
einer  konstanten  Geschwindigkeit  w  geworfen  hat; 
d.  h.  wir  haben 


')  S.  Mohorovicic,  Die  Folgerungen  der  allgemeinen 
Relativitätstheorie  und  die  Newtonsche  Physik.  Diese  Zeitschr. 
20,  1921,  737—739,  Nr.  52. 

Dieses  Beispiel  habe  ich  deshalb  hier  so  ausführlich  be- 
trachtet, um  zu  zeigen,  daß  wir  auch  in  der  klassischen  Me- 
chanik auf  diese  Weise  das  Gravitationsfeld  „erzeugen",  und 
die  Erscheinungen,  welche  sich  in  ihm  abspielen,  mathematisch 
beschreiben  können.  Die  Stärke  dieses  Gravitations- 
feldes wird  hier  von  der  Zeit  unabhängig. 

'-|  Um  das  Gesetz  über  die  Änderung  der  Geschwindig- 
keit mit  der  Zeit  abzuleiten,  können  wir  aus  der  Formel  (Sg) 
in  dem  Buch  von  M.  v.  Laue,  Die  Relativitätstheorie  I.  Bd. 
S.  90  (4.  Aufl.),  nachdem  wir  sie  etwas  vereinfacht  haben, 
ausgehen: 

X-  — c-t''=  \,.  (8) 


Wenn 
oder 


')  Wegen  leichteren  Verständnisses  und  gröflerer  Klarheit 
der  Theorie  sind  wir  genötigt  in  den  §§  I — 5  einige  vorbe- 
reitende Ausführungen  durchzuführen,  welche  ganz  elementarer 
Natur  sind. 


vir  diese  Gleichung  diflferentieren,  bekommen  wir: 

xdx  —  c-tdt  =  o  (9) 

v  =  ^'.  lio) 

X 

Setzen  wir  den  Wert  von  x  aus  (8)  in  (10)  ein,  so  haben  wir 
unmittelbar  das  gesuchte   Gesetz  (7). 


146 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  II 


Da  nach  der  Voraussetzung 

y=  +  wt, 
so  finden  wir,  wegen  y' :=  y,  aus  (12): 


oder: 


(-11 


x'-^    =^.+ 


—  2  —  x'  :^  — 5  y' 


(12) 


(13) 


(14) 


(14»'^) 


und  dies  ist  eine  Hyperbel,  welche  einen 
Scheitelpunkt  in  dem  Koordinatenursprung  O' 
hat  (siehe  Abb.  2),  und  uns  wird  nur  dieser  Ast 
interessieren,  für  welchen  x'  <  o  ist.  Wir  haben 
im  voraus  eiije  hyperbciartige  Kurve  erwartet,  da 
nach  einiger  Zeit  der  Körper  P  annähernd   längs 


der  Gerade  (Asymptote)  MMoo  sich  bewegen 
möchte,  weil  seine  Geschwindigkeit,  mit  welcher 
wir  ihn  längs  der  y-Achse  geworlen  haben,  konstant 
ist  und  die  Geschwindigkeit  längs  der  negativen 
x'- Achse  wird  nach  einiger  Zeit  schon  fast  ihr 
Maximum  c  erreichen. 

Wir  können  noch  zeigen,  daß  die  Parabel  p 
der  klassischen  Mechanik  nur  die  erste  An- 
näherung unserer  Hyperbel  h  ist.  Suchen  wir 
im  Koordinatenursprung  O'  die  Näherungskurve 
unserer  Hyperbel  h,  so  finden  wir  mit  Hilfe  des 
analytischen  Dreiecks,  daß  dafür  nur  die  Glieder 
mit  x'  und  y'-'  in  Betracht  kommen;  somit  finden 
wir  als  Nährungskurve  die  Parabel  p  (6)  der 
klassischen  Mechanik,  wo  immer  g  <C  c  sein  muß. 
Dieselbe  bekommen  wir  aus  (m*"'^),  wenn  wir  sie 
mit  c"  dividieren  und  dann  c  =  ^c  einsetzen.') 


')  Für  c  =  00  nimmt  (12)  unbestimmten  Wert  an;  wir 
werden  auch  später  zeigen,  daß  in  diesem  Spezialfall  x'  den 
Wert  (i)  annehmen  wird.  Jetzt  können  wir  in  erster  An- 
näherung (12)  in  der  Form  schreiben: 

'^     gl'    r"*"2cVj       2' 

und  dies  ist  das  Gesetz  (5)  der  klassischen  Mechanik. 


Wir  werden  noch  die  große  und  kleine  Achse 
a  und  b  unserer  Hyperbel  h  (m*"'')  berechnen; 
dafür  finden  wir: 

Ma=a  =  '^,     MN=b  =  '^*^;        (15) 
g  g 

die  große  Achse  und  die  Lage  des  Hyperbel- 
mittelpunktes M  sind  unabhängig  von  der  Ge- 
schwindigkeit w  des  Körpers  P. 

3.  Wenn  der  eingesperrte  Beobachter  im  Coupe 
den  Körper  P  mit  der  Lichtgeschwindigkeit  c 
längs  der  y- Achse  geworfen  hätte,  so  wäre  dann 

b^  -==  a;   d.  h.    unsere  Hyperbel  h  wäre  eine 

g 
gleichseitige  Hyperbel,  und  gerade  dieselbe, 
welche  Born  in  der  xt- Ebene  bekommen  hat.') 
Diese  gleichseitige  Hyperbel  möchte  auch  ein 
Lichtsignal  beschreiben,  wenn  es  der  Beobachter 
im  Coupe  längs  der  y- Achse  abgesendet  hätte,  in 
dem  Augenblick  t  =  o.  Da  das  Licht  die  Energie, 
dann  auch  die  schwere  Masse  hat,  so  wird  es 
für  den  Beobachter  im  Coupe,  welcher  glaubt  in 
einem  „konstanten"  Gravitationsfelde  sich  zu  be- 
finden (welches  Feld  in  der  Wirklichkeit  immer 
schwächer  und  schwächer  wird),  dieselbe  gleich- 
seitige Hyperbel  beschreiben: 

x'"  —  2  —  x'  —  y'-  =  o.  (16) 

g 
Wenn  das  Coupe  ein  Fenster  hätte,  so  möchte 
der  eingesperrte  Beobachter  den  Siern  Moo,  bzw. 
M'oo  (Fig.  2)  in  der  Richtung  der  positiven,  bzw. 
negativen,  y'- Achse  sehen;  er  möchte  die  Hyperbel 
(16)  als  seine  y'- Achse  bezeichnen,  und  wir  möchten 
sagen,  daß  dieser  Beobachter  „natürlich"  mißt,  da 
er  die  Krümmung  des  Lichtstrahles  nicht  kon- 
statieren könnte;  für  ihn  pflanzt  sich  das  Licht 
geradlinig  fort,  gerade  so,  wie  auch  für  den 
„ruhigen"  Beobachter  in  O,  für  welchen  kein 
Gravitationsfeld  besteht.  Auf  diese  Weise  sind 
wir  gekommen  zu  dem  Satz  der  Relativität  des 
Gravitationspotential,  bzw.  der  Gravitationswir- 
kung.-) Daraus  folgt,  daß  wir  alle  diese  Erschei- 
nungen behandeln  können,  als  wenn  kein  Gravi- 
tationsfeld vorhanden  wäre,  und  wir  können  auch 
die  Loren  tzschen  Transformationsgleichungen 
benützen.  Da  wir  gerade  die  Unterschiede  finden 
wollen,  welche  im  „konstanten"  Gravhationsfelde 
bestehen,  so  müssen  wir  einige  Korrekturen  durch- 
führen, d.  h.  wir  müssen  „rationell"  messen. 

4.  Wenn  der  Beobachter  im  Coupe  ein  Licht- 
signal nach  allen  Seiten  im  Augenblicke  t'  ^  t  =  o 
aus  O'  sendet,  dann    wird    es    ihm    scheinen,  falls 

')  M.V.Laue,  I.e.;  siehe  auch  M.Abraham,  Theorie 
d.  Klektr.  11.  Bd.,  4.  Aufl.,  1920,  S.  376—377.  Dort  steht  es, 
daß  die  Geschwindigkeit  v  deshalb  nicht  großer  als  die  Licht- 
geschwindigkeit c  werden  kann,  weil  die  Beschleunigung  mit 
wachsender  Zeit  beständig  abnimmt.  Die  Stärke  des 
Gravitationsleides  wird  deshalb,  für  den  Be- 
obachter im  Coupe,  mit  der  Zeit  beständig  ab- 
nehmen. 

2)  Vgl.  z.  B.  G.  Mie,  Die  Einsteinscbe  Gravitations- 
Iheorie.  Leipzig  1921;  S.  37— 38  und  46—47.  So  sagt  er 
(S.  38) :  „Ks  scheint,  als  ob  eine  brauchbare  Gravitations- 
theorie ohne  ihn   wohl  nicht  zu  machen  ist,  .  .  .  ." 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


147 


er  „natürlich"  mißt,  daß  sich  das  Licht  als  Kugel- 
welle nach  allen  Seiten  ausbreitet: 

X'- +  y'- +  z'- =  c-t'-,  (17) 

welche   für  den    „ruhigen"  Beobachter    in   S  alle 
innerhalb  des  Asymptotenkegels 

Ax-  +  y-  +  z-  =  Ac-t-  (18) 

sich  befinden  werden.     Setzen  wir  jetzt: 


(19) 


wo  V  mit  der  Relation  (7)  gegeben  ist,  dann 
müssen  wir  v,  welche  wir  als  mittlere  Geschwin- 
digkeit bezeichnen  werden,  so  bestimmen,  daß 
(18)  gerade  den  gesuchten  Asymptotenkegel  dar- 
stellen wird.  Mit  anderen  Worten,  wir  haben  hier 
folgende  Transformationsgleichungen  benützt : 


X  —  vt 


y- 


-y,  z'  =  z,  t': 


t iX 


y^:' 


(20) 


d.h.,  daß  wir  bei  den  bekannten  Loren tzschen 
Transformationen  eine  kleine  Korrektur  durchge- 
führt haben. 

Anderseits   wird   v    auch   folgende  Bedingung 
erfüllen  müssen : 


x'  + vt' 


t'+-,x' 


y  =  y',   z  ^  z',   t  = 


f 


(21) 


Auf  den  ersten  Blick  könnte  jemand  behaupten, 
daß  die  Transformationsgleichungen  (21)  den 
Transformaiionsgleichungen  (20)  widersprechen, 
aber  wir  dürfen  nicht  vergessen,  daß  für  einen 
Beobachter  ein  Gravitationsfeld  existiert  und  für 
den  anderen  nicht;  oder  umgekehrt,  für  den  ersten 
Beobachter  existiert  kein  Gravitationsfeld,  sondern 
nur  für  den  zweiten  und  das  noch  entgegen- 
gesetzter Richtung. 

Um  die  mittlere  Geschwindigkeit  v  abzuleiten, 
gehen  wir  von  der  Relation  (7)  aus,  welche  wir,  da 


1/ 


1  + 


r^=f-^'  (") 


in  der  Form  schreiben  können: 


oder  mit  Rücksicht  auf  (21): 

v=-gt'  +  4,x'v. 

Setzen  wir  jetzt: 

v=  2v-j-k 
in  (23)  ein,  dann  bekommen  wir: 

*(2  -^ix')  =  gt'- 
oder  mit  Rücksicht  auf  (21): 


(7bi,) 


(23) 


(24) 


(25) 


|/,_y:_^,.v-i 

f  c-       c- 


(26) 


Da  wir  aus  (26)  und  aus  (24)  denselben  Wert  für 
V  bekommen  müssen,  werden  wir  annehmen: 


k==  — 4x'v, 


und  dann  wird: 


gt 


Y' 


2  —  -.,  x' 


(27) 


(26), 


bzw.  mit  Rücksicht    auf  (22)  und  (7),  oder  direkt 
aus  (27)  und  (24): 

(26), 


^,x' 


In  der  klassischen  IVlechanik  war  die  mittlere  Ge- 
schwindigkeit bei  der  gleichmäßig  beschleunigten 

V 

Bewegung  v  =    ,  welche  wir  aus  (26)3  bekommen 

können,  indem  wir  c  =  00  einsetzen,  d.  h.  in  erster 
Annäherung. 

5.  Wir  werden  wieder  unseren  horizontalen 
Wurf  betrachten,  um  ihn  mit  Hilfe  der  neuen 
Transformationsgleichungen  (20)  mathematisch  zu 
beschreiben.  Da  der  Körper  P  in  der  Richtung 
der  y- Achse  geworfen  ist,  so  muß  für  den  ,, ruhigen" 
Beobachter,  lür  welchen  kein  Gravitationsfeld 
existiert,  fortwährend  sein: 

X  :=  o,     y  =  +  w  t.  (4) 

Setzen  wir  (4)  in  (20)  ein,  dann  bekommen  wir: 


gl' 


4x' 


') 


(28)j 


(28), 


y  =  +  wt 

und  aus  (28)1  folgt,  mit  Rücksicht  auf  (28).,,  die 
gesuchte  mathematische  Beschreibung  des  hori- 
zontalen Wurfes: 


=^'y 


w 


(14'''^) 


')  Daraus  folgt  für  c  =  oo  das  Gesetz  für  den  zurück- 
gelegten Weg  der  klassischen  Mechanik  (5I.  —  Vergleichen 
wir  (,28)1  mit  112),  so  könnte  jemand  behaupten,  daß  wir  ein 
anderes  Resultat  bekommen  haben.  Aber  das  kommt  nur  auf 
den  ersten  Blick  so  vor,  da  wir  (28),  in  der  Form  schreiben 
können ; 

•  c'^ 

x''^  —  2  —  x'  =  c-t-,  (29) 

S 
und    wenn    wir    diese  quadratische    Gleichung    nach  x'  lösen, 
haben  wir  sofort: 


-t^ 


+   C-t2 


(30) 


und  dies  stimmt  für  das  negative  Vorzeichen  genau  mit  der 
Relation  (12)  überein,  welche  wir  dort  mittels  der  Integration 
gewonnen  haben. 


148 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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und  dies  ist  unsere,  schon  bekannte  Hyperbel  h. 
Zu  demselben  Resultat  sind  wir  auf  zwei  ganz 
verschiedenen  Wegen  angelangt. 

6.  Die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des 
Lichtes  längs  der  gleichseitigen  Hyperbel  (i6) 
für  den  Beobachter  im  Coupe,  welcher  glaubt  in 
einem  „konstanten"  Gravitationsfelde  sich  zu  be- 
finden, wird  gegeben  durch : 


r 


c^  + 


g-l- 


1+^ 


1 1 


2S  <■ 


g^l^ 


(31) 


1+' 


(32) 


oder  mit  großer  Annäherung: 

g-t-_5  S*l\ 

2c-  8  c*  '■ 
Betrachten  wir  jetzt  das  Licht,  welches  sich 
von  dem  Stern  IVFoo  (Abb.  2)  längs  der  Hyperbel  h 
ausbreitet;  ein  Beobachter  —  welcher  sich  gegen 
den  Koordinatenanfang  O'  längs  der  negativen 
x'- Achse  mit  der  beschleunigten  Geschwindigkeit 

(33) 


g't^ 


so  bewegt,  daß  er  den  Fokus  F,  erreicht,  wenn 
das  Licht  in  O'  ankommt  — ,  wird  nicht  nur  be- 
merken, daß  das  Licht  die  Hyperbel  h  beschrieben 
hat,  sondern  daß  es  seine  mmimale  Geschwindig- 
keit in  O'  erreicht  hat.  Für  diesen  Beobachter 
wird  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Lichtes 
längs  der  Hyperbel  h  gegeben  durch 

(34) 


"^2c''       8    c* 


oder 


l-S  +  iO  (3*' 


Dieser  Beobachter  wird  jetzt  denken,  daß  er  im 
Zentrum  eines  zentrisch- symmetrischen  Gravi- 
tationsfeldes sich  befindet,  welches  zwingt  das 
Licht  eine  Hyperbel  zu  beschreiben,  gerade  so, 
wie  wenn  dieses  ,, Lichtquantum"  ein  Komet  wäre, 
welcher  „zu  große"  Anfangsgeschwindigkeit  hätte. 
Für  diesen  Beobachter  ist  c^  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit des  Lichtes  in  unendlich  großer 
Entfernung,  wo  kein  Gravitationsfeld  existiert.  Die 
Relation  (34'''')  wird  deshalb  mit  Rücksicht  auf 
(34)  folgende  Form  übernehmen: 

Die  Lichtgeschwindigkeit  c  wird  eine  Funktion 
der  Entfernung  r  von  Fj  und  eine  Funktion  der 
IVIasse  M,  welche  um  Fj  gerade  das  betrachtete 
Gravitationsfeld  verursacht  hat,')  und  wir  können 
einsetzen : '-') 


^^^'^"(■-c^-^r-^c^r^  (35) 

wo  wir  die  Konstante  ^  nachträglich  bestimmen 
müssen.     Setzen  wir 

?  =  2  -  q,  (36) 

ein,  dann  bekommen  wir  aus  (34)1   und  (35): 

g-t-       kM    ,    /       ,     i\  k-M-  ,     , 

__2c„-c„-^r+(^  +  3)c„V--  (37) 

Für  t-  können  wir  den  Wert  aus  (28)1  einsetzen, 
wo  wir  anstatt  x'  x'  -[-  f  nehmen  müssen,  da 
jetzt  der  Koordinatenanfang  in  dem  Brennpunkte 
Fl  (Abb.  2)  sich  befindet,  und  {  =  0'b\.  So 
haben  wir: 

g-^C^  -.  _  g  (x'  +  f)  ^2  -  ^^,.  (X'  +  f)| ,       (38) 

wo  wir  c„  anstatt  c  eingesetzt  haben,  da  jetzt 
Co  die  Lichtgeschwindigkeit  im  leeren  Räume 
(unendlicher  Entfernung)  bedeutet.     Da 

r  -=-  —  x'  -  f  (39) 

ist,  (weil  wir  hier  x'  <  O  betrachtet  haben),  so 
bekommen  wir  aus  (37),  mit  Rücksicht  auf  (38) 
und  (39), 

2kMco 


r  +  2^! 


.    /       ,    i\2k-M-      ,     , 


und  daraus,  wenn  wir  wie  bis  jetzt  das   negative 
Vorzeichen  der  zweiten  Wurzel  beibehalten, 

Co- f  I        ,    2kM   .   /      ,    i\2k-M-|,     , 


oder :  ^) 


kM   ,       k-M-' 

.■2  +q„-o  .■ 


(42) 


Diese  Formel  unterscheidet  sich  von  der  Formel 
(43)  der  Newtonschen  Mechanik  dadurch,  daß 
in  ihr  noch  ein  sehr  kleines  Glied  vorkommt. 
Für  Co  =  00  geht  (42)  über  in : 


')  Auf  diese  Weise  haben  wir  nicht  nur  das  zentrisch- 
symmetrische  Gravitationsfeld ,  sondern  auch  die  Masse  M 
„erzeugt",   da  die  beiden  untrennbar  sind. 

kM 
')    Das    zweite    Glied       „      in    (35)    haben    wir    deshalb 

genommen,  um  in  erster  Annäherung  die  Newton  sehe  Theorie 
zu  bekommen  (k  ist  die  bekannte  Gravitationskonstante).  Des- 
halb darf  dieses  Glied  keine  andere  Konstante  besitzen,  wie 
dies  bei  der  E.  Wie  eher  t  sehen  Theorie  der  Fall  ist. 


^)  Aus  (34bis),  mit  Rücksicht  auf.  (28)1,  folgt: 


2  +  2 


g^f 


(32)' 


(32)" 


Wenn  wir  hier  den  Werl  für  g  aus  (42)  einsetzen,  so  bekom- 
men wir  sofort  die  Formel  (35).  Behalten  wir  in  (32)"  nur 
das  zweite  Glied,  dann  haben  wir,  mit  Rücksicht  auf  (43), 

c  =  Co(x-^^g  (44) 

und  dies  ist  die  Kortpllanzungsgeschwindigkeit  des  Lichtes  in 
transversaler  Richtung,  welche  uns  in  erster  Annäherung  die 
K  in  st  einsehe  Gravuationstheorie  gibt. 


N.  F.  XXI.  Nr.  II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


149 


und  dies  ist  die  bekannte  Formel ')  der  klassischen 
Mechanik  für  die  Beschleunigung  g,  welche  ein 
Himmelskörper  einer  Masse  in  der  Entfernung  r 
erteilt.  Wir  müssen  aber  die  genauere 
Formel  (42)  bei  der  Berechnung  der 
Planetenbahn  verwenden. 

7.  Bei  unserer  ganzen  Betrachtung  ist  sehr 
wichtig,  daß  wir  den  relativen  Zeitbegrifif  und  die 
vierdimensionale  Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit  über- 
haupt nicht  gebraucht  haben,  da  wir  die  §§  4 
und  5  auch  weglassen  könnten.  Deshalb  werden 
wir  unser  Problem  nur  in  dem  Räume  weiter 
betrachten.  Da  die  Planetenbahnen  einige  Be- 
dingungen erfüllen,  welche  bereits  auch  in  der 
klassischen  Mechanik  für  die  zentralen  Kräfte  F 
ganz  allgemein  untersucht  sind,  so  werden  wir 
bei  der  Berechnung  der  Planetenbahn  von  der 
bekannten  B  inet  sehen  Formel'-)  ausgehen: 


F  =  — 


f(7  + 


dfp-' 


(45) 


wo  r  und  (p   die  Polarkoordinaten    sind,    und   die 
Konstante  B  erfüllt  die  Bedingung 


dt 


B. 


(46) 


Hier  ist  -  B  die  Flächengeschwindigkeit  und  des- 


halb ist: 


B=:= 


2?rao-yi  — «^ 


(47) 


wo  T  die  Umlaufzeit,  a^  die  große  Achse  der 
Bahnellipse  und  £  die  nummerische  Exzentrizität 
bedeutet : 


]/■ 


(48) 


(b„  ist  die  kleine  Achse  der  Bahnellipse). 

Die  zentrale  Kraft  wird  mit  Rücksicht  auf  (42): 

„  /kM   ,       k'M-\  ,     ^ 

F     .-m(^,+q^,^J,  (49) 

und   die   Binetsche  Formel  (45)  wird  die  Form 
übernehmen: 


kjl  k-M- 

B-  "'"^B^c  --r 


^  -  + 


üff"- 


(50) 


Diese  Differentialgleichung  werden  wir  versuchen 
zu  lösea  durch 


I  -j-«cosA.f/' 

^5U 

und 

P  =  ao(i  — «') 

(52) 

')  O.  D.  Chwolson,  Lehrbuch  d.  Physik.  Bd.  1,  S.  206; 
Braunschweig  1902. 

^)  P.  Appel  et  .S.  Dautheville,  Prfcis  de  mecaniquc 
rationelle.     S.  267 ;  Paris   1910. 


ß=const.  (53) 

und  ihren  Wert  werden  wir  später  bestimmen. 

Wenn    wir  (51)  in  (50)    einsetzen,    geben    uns 
die  Koefizienten  von  cos  Ay: 

k-^M^ 


/■-=i-q. 


(54) 


Co'-B-" 

und    das  Absolutglied    wird    gleich    Null;    daraus: 

k'-'M- 
Mkp  — Mkp  +  q ^- ^  B-.  (55) 

Hier  werden  wir  zuerst  den  Wert  für  p  und  B 
aus  (52)  und  (47)  einsetzen,  und  da  wir  annehmen 
dürfen: 

47C-ao^ 


so  folgt  aus  (55) 


kM  =  ^^^,  (56) 


?  --  q  7  o .  (53''") 

worauf  wir  noch  zurückkommen  werden. 

Setzen   wir   aus   (56)    und  (47)  die  Werte   für 
kM  und  B  in  (54)  ein,  so  bekommen  wir: 
45T-ao- 


/.-=  I  —  q 


Co'T'^i— f^) 


und  daraus: 


I— q 


(57) 


(58) 


Die  Perihelverschiebung  nach  jedem  Umlauf  wird:*) 
^1=1    —2  71,  (59) 

und,  mit  Rücksicht  auf  (58): 

4  7r=*ao- 


^1 


(60) 


Co'^T-(i  —  £-)■ 
Bezeichnen   wir   mit  J  die  Dauer    eines  Erd- 
jahres, dann  werden  wir,  für  die  Perihelverschiebung 
nach   100  Erdjahren,  bekommen: 

47r»a(,"  100  J  .-  , 

und  dies  ist  gerade  die  Formel,  welche  E.  W  i  e  - 
chert'-)  als  T  isser  and  sehe  Formel  bezeichnet 
hat.  Jetzt  stellt  sich  von  selbst  die  Frage  auf, 
was  für  einen  Wert  wird  q  übernehmen,  und 
diesbezüglich  mache  ich  aufmerksam  auf  die 
zitierte  Arbeit  von  E.  Wiechert.  Hier  werden 
wir  nur  betrachten,  zu  welchem  Resultat  uns 
unsere  Theorie  führen  wird,  wenn  wir  voraus- 
setzen, daß  die  Relation 

c  =  Co(i+^J  (62) 

genau  erfüllt  ist,  wo  </>  das  Gravitationspotential 
ist,  welches  wir,  mit  Rücksicht  auf  (35),  in  der 
Form  schreiben  können : 


')  Vgl.  z.B.  E.  Reichenbächer,  Grundzuge  zu  einer 
Theorie  der  Elektrizität  und  der  Gravitation.  Ann.  d.  Physik 
(4)   52.   1917;  S.    161. 

^)  E.  Wiechert,  Die  Gravitation  als  elektrodynamische 
Erscheinung.  Ann.  d.  Physik  (4)  63,  1920;  S.  311.  Diese 
Arbeit  gibt  uns  auch  eine  schöne  Darstellung  der  älteren 
Versuche. 


ISO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  II 


^  _  _  kM  _      k^j^a 


(63) 


Wir   können    aber    <1>    noch   aus  (42)    berechnen, 
und  wir  bekommen: 

kM      qk-M2 


*  =  — 

r         2  Co^i^ 

und  daraus  sehr  wichtige  Relation: 


(63)' 

(36)' 

(64), 
(64), 


Vergleichen  wir  (36J'  mit  (36),  so  folgt: 
q  =  f  =  i.33, 
-        2  , 

C  =     =  0,67. 

'         3  ' 

Wir  haben  auf  Grund  der  Voraussetzung 
(62)  den  Wert  von  q  bestimmt,  und  aus  (61)  folgt 
für  die  Perihelbewegung  des  Planeten  Merkur  für 
100  Erdjahre: 

'/'ioo  =  ll.5",  (65) 

während  der  wahrscheinlichste  Wert  —  wenn  wir 
auch  die  Andi  n  gsche  Drehung  des  empirischen 
Koordinatensystems  von  ca.  8"  im  Jahrhundert 
berücksichtigen  —  ist  i/^jog  =  34"  +  5",  welcher 
dreimal  so  groß  ist  als  der  Wert  (65).  Den  Rest 
von  23"  können  wir  leicht  mittels  Newcomb')- 
S  ee  liger  sehen  ^)  intramerkurialen  Massen  er- 
klären, welche  im  Zusammenbang  mit  Zodiakal- 
licht  sein  dürfen.  Hier  muß  ich  aber  betonen, 
daß  die  Relation  (62)  vielleicht  in  keinem  Zu- 
sammenhang mit  der  hier  entwickelten  Theorie 
ist;  ihre  Schönheit  besteht  darin,  daß  sie  den 
relativen  Zeitbegriff  und  die  vierdimensionale  Raum- 
Zeit-Mannigfaltigkeit  nicht  notwendig  braucht,  da 
wir  die  §§  4  u.  5  auch  weglassen  können.  Es 
genügt  nur  den  Satz  zu  behalten,  daß  sich  ein 
Körper  mit  größerer  Geschwindigkeit  als  Licht- 
geschwindigkeit nicht  bewegen  kann.  Da  wir  die 
§§  4  u.  5  weglassen  könnten,  so  sehen  wir,  daß 
die  Relativitätstheorie  im  besten  Falle 
nur  einen  heuristischen  Wert  hat. 

8.  Uns  wird  nicht  nur  die  Perihelbewegung 
interessieren,  sondern  wir  wollen  auch  die  Planeten- 
bahn um  den  zentralen  Körper  M  näher  be- 
stimmen. Die  Gleichung  der  Planetenbahn  ist 
durch  (51)  gegeben,  welche  wir  noch  in  der  Form 
schreiben  können: 


r  +  R  = 


R 


I  -{-  £  COS  A  (p' 


(5, bis) 


(66) 


I  -\-  £  COi).<f 

ist.  Daraus  sehen  wir,  daß  die  Planeten  etwas 
näher  von  der  Sonne  kreisen  werden  (wegen 
größerer   zentraler   Krafi)    als    in   der   klassischen 


')  F.  Tisserand,  Traitt;  de  mecanique  Celeste.     T.  IV, 
pag.  539- 

«)  Vgl.  7..  R   K.  Wiechert,  1.   c.  S.  308. 
■')  E,  Wiechert,  1.   c.  S,  31S, 


Mechanik.      Alle  diese  Entfernungen,   wieviel   die 

Planeten  sich  jetzt  der  Sonne  näher  befinden,  sind 

Radiusvektoren  einer  Ellipse;   die  Sonne  befindet 

sich  in  einem  Brennpunkte    und  der  Parameter  q 

ist   durch   die  Relation   (53'''^)   gegeben.      Da  für 

kM 
unsere  Sonne  — 5=  1,448  km  ^)  ist,  so  haben  wir: 

Co" 

(.  =  1,448  q  km;        _  (53^=) 

auch  für  den  extremen  Wert  q  =  6  ist  der  Unter- 
schied gegen  die  klassische  Mechanik  sehr  klein. 
Die  Ellipse  (66)  hat  dieselbe  numerische  Ex- 
zentrizität wie  die  Ellipse  (si*"'^)  der  klassischen 
Mechanik,  wo  p  =  o  ist.  Wenn  wir  mit  aj  und 
bj  die  große  und  kleine  Achse  der  Ellipse  (66) 
bezeichnen,  dann  ist: 

e  =  a](i  — «').  (67) 

und  daraus,  mit  Rücksicht  auf  (48)  und  (52): 
a  -^a 

l  (68) 

Der  Parameter  p  ist  unabhängig  von 
der  Entfernung  des  Planeten  von  der 
Sonne,  d.  h.  alle  Ellipsen  (66)  für  verschiedene 
Planeten   werden  konfokal  sein  und  sie   möchten 

gehen    durch    zwei    feste  Punkte    R  =  ?,    (f  ^ 

■1 

und   R  =  —  Q,   (p  =     7t,   wenn    sich    auch    ihrer 

Perihel  nicht  bewegen  möchte.    R  wird  alle  Werte 

zwischen        .       und  — - —  annehmen,  wo  immer 
1  -f-  f  I  —  £ 

o  <;  £  <C  I  ist. 

9.  Unsere  Theorie  führt  auch  zur  Ablenkung 
des  Lichtes  in  der  Nähe  der  zentralen  Masse  M. 
Man  kann  sehr  leicht  zeigen,  daß  hier  nur  das 
erste  Glied  in  (63),  bzw.  das  erste  und  das  zweite 
Glied  in  (35)  in  Betracht  kommen,  welche  ganz 
unabhängig  von  jeder  Voraussetzung  sind;  (das 
zweite  Glied  in  (63)  ist  gegen  dem  ersten  ca. 
millionmal  kleiner),  so  daß  wir  für  die  Lichtab- 
lenkung in  der  Entfernung  r  von  dem  Mittel- 
punkte der  Masse  M  bekommen  werden: 

T^        2kM  ,,   . 

K=  -,    ,  (69) 

Cfl-r 

d.h.  wir  bekommen  nur  dieHälfte  desjenigen 
Betrages,  welchen  uns  die  allgemeine  Relativitäts- 
theorie von  A.  Einstein  gibt.')  Diesen  Betrag 
(69)  haben  schon  viele  andere  Autoren  auf  Grund 
der  Newton  sehen  Theorie  gewonnen.''')  Dieser 
Wert  ist  auch  wahrscheinlicher  als  der 
zweifache  von  A.  Einstein,^)  wenn  wir 
noch  die  jährliche  Refraktion  von  Courvoisier*) 

')  Da  bei  uns  die  Verzerrung  des  Raumes  nicht  in  Be- 
tracht kommt. 

')  Vgl.  z.  B.  S.  Mohorovicic,  1.  c. 

')  Vgl.  2.  B.  A.  Koppf,  Grundzüge  der  Einsteinschen 
KelalivitStstheorie.     S.   178  ff.     Leipzig   1921. 

*)  Th.  Banachiewicz,  Deflexione  de  radios  de  luce 
per  Sole.     Circul.  de  rObservatoire  de  Cracovie.    Nr.  10,  1921. 


N.  F.  XXI.  Nr.  II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


151 


berücksichtigen,  welche  in  der  Nähe  der  Sonne 
am  größten  ist.  Es  scheint,  daß  der  Einst  einsehe 
Wert  zu  groß  ist,')  aber  darüber  kann  man  heute 
noch  nicht  entscheiden;  wir  müssen  die  nächste 
totale  Sonnenfinsternis  abwarten  und  was  sehr 
wichtig  ist,  solange  die  Frage  der  jähr- 
lichen Refraktion  nicht  endgültig  ge- 
löst ist.-) 

10.  Unsere  Theorie  führt  uns  auch  zur  Rot- 
verschiebung der  Spektrallinien.  Es  genügt,  wenn 
wir  von  der  Formel  (35)  für  die  Fortpflanzung 
des  Lichtes  im  Gravitationsfelde  ausgehen,  welche 
wir  in  erster  Annäherung  in  der  Form  schreiben 
können: 

^  =  '^°(;-c7^r)  (44) 

und  dies  ist,  wie  wir  'schon  betont  haben,  die 
Einst  einsehe  Formel  für  die  Fortpflanzung  des 
Lichtes  in  transversaler  Richtung.  Die  Formel 
(44)  ist  genügend,  um  auch  ohne  Relativisierung 
der  Zeit  die  Rotverschiebung  der  Spektrallinien 
abzuleiten,  wie  ich  dies  auf  eine  sehr  einfache 
Weise  in  der  zitierten  Arbeit  gezeigt  habe.  Auf 
dieselbe  Weise  bekommen  wir  hier: 
Jl  kM 

T--c~^7  (70) 

d.  h.  dieselbe  Verschiebung  wie  in  der  Ein- 
st einschen  Theorie.  Hier  ist  l  die  Wellenlänge 
und  Jl  die  Differenz  der  Wellenlängen  im  Gravi- 
tationsfeld und  in  unendlich  großer  Entfernung 
(z.  B.  auf  der  Sonne  und  auf  der  Erde  usw.). 

11.  Die  hier  entwickelte  elementare  Gravi- 
tationstheorie führt  uns  noch  zu  einem  sehr  wich- 
tigen Satz,  welcher  uns  zuerst  sehr  überraschen 
wird;  aber  er  ist  auch  in  einigen  anderen  Gravi- 
tationstheorien enthalten.  Die  Beschleunigung, 
welche  die  zentrale  Masse  (Sonne)  M  dem  Planeten 
m  erteilt,  ist  durch  (42)  gegeben: 

kM    ,       k^VI^  ,     ^.  ^ 

&M  =  -^  +  q  -T73  (42*"^) 

r  "-O    ' 

daraus  folgt,  daß  die  zentrale  Masse  M  den  Planeten 
m  mit  der  Kraft 


es  ist: 


/kM   ,        k-M'n 
FM  =  -m(^+q^  (49" 


anzieht.  Dagegen  wird  der  Planet  m  der  zentralen 
Masse  M  in  der  Entfernung  r  die  Beschleunigung 
erteilen : 


km 


+  q 


k-^r 


(71) 


d.  h.  der  Planet  m  zieht  die  zentrale  Masse  M  mit 
der  Kraft  an: 

„  -,/km    ,        k-m'\  ,     , 

Fn.  =  -M(-^+q^^-^^,).  (72) 

Vergleichen  wir  die  beiden  Kräfte  (72)  und  (49'''='), 
so  sehen  wir,  daß  sie   nicht  gleich  sind,   sondern 


')  Vgl.  z,  B.  E.  Wiechert,  1.  c.  S.  319. 
^)  Vgl.  z.  B.   B.  Wanach,    Die  Polhöhenschwankungen. 
Die  Naturwissensch.  1919;  Heft  «6  u.  27. 


FM-F„|  =  q 


k-Mi 


(M-m)=5;       (73) 


d.  h.  die  Sonne  M  zieht  den  Planeten  m 
mit  größerer  Kraft,  als  der  Planet  die 
Sonne  (vorausgesetzt,  daß  M  >  m).  In 
unserer  Theorie  gilt  das  dritte  New- 
tonsche  Gesetz  von  der  Gleichheit  der 
Wirkung  und  Gegenwirkung  nicht 
mehr.')  Ü  wird  zweimal  den  Wert  Null  über- 
nehmen, und  zwar  für  m  =  o  und  m  =  M;  der 
Wert  von  2  ist  aber  sehr  klein.  Setzen  wir 
C|,  =  00,  so  bekommen  wir  ä  =  o,  d.  h.  das  N  e  w- 
tonsche  Gesetz  von  der  Gleichheit  der  Wirkung 
und  Gegenwirkung  gilt  erst  in  erster  Annäherung, 
da  auch  alle  Formel  unserer  Theorie  für  c„  =  00 
sich  auf  die  Formel  der  klassischen  Mechanik 
reduzieren.  Dieses  Resultat  (73)  darf  uns  nicht 
überraschen,  da  gerade  das  zweite  Glied  in  der 
Formel  (49^'^)  die  Perihelbewegung  verursacht. 
Es  wird  nicht  nur  der  Planet  um  den  mit  der 
Sonne  gemeinsamen  Schwerpunkt  kreisen,  sondern 
auch  die  Sonne,  und  der  Perizenter  ihrer  Bahn 
wird  mit  derselben  Winkelgeschwindigkeit  rotieren. 
Wenn  im  Gegenteil  das  Aitraktionsgesetz  gelten 
möchte : 

kmM    ,      k-m'-^M"  ,     , 

F'  =  --r-+q^27^.  (74) 

dann  hätte  auch  das  dritte  Newtonsche  Gesetz 
seine  Gültigkeit,  aber  die  Perihelbewegung  wäre 
noch  von  der  Planetenmasse  abhängig,  worüber 
wir  uns  sehr  leicht  mittels  Binetscher  funda- 
mentalen Relation  (45)  überzeugen  könnten.  Und 
gerade  deshalb  können  wir  die  Formel  (74)  nicht 
übernehmen,  sondern  nur  (49'''^)  und  (72),  welche 
gleichzeitig  bestehen.  Wir  könnten  noch  sehr 
leicht  zeigen,-)  daß  ß  ihr  Maximum  erreichen 
wird,  wenn 

m  =  ^-  M.  (75) 

Zu  dem  erwähnten  Resultat  führt  auch  die 
Wiechertsche  elektrodynamische  Theorie  der 
Gravitation,  da  sein  Potential  (80)  ^)  wird,  mit 
Rücksicht  auf  seine  Relation  (95),  die  Form  über- 
nehmen: 

kM  .   r-  +  2£  k'-M-  ,  ^, 

-^  +  -^ — ^rT72'       (76) 


<?v 


wo    wir    eine    additive    Konstante    nicht    berück- 
sichtigen werden.    .Aus  (70)  und  (63)'  folgt: 


q  =  — 2^ 


(77) 


Das    unsere    und    das   Wiechertsche    Potential 
sind  ganz  ähnlich,  und  da 

g=-,7'  (78) 


')  Vielleicht  ist  dies  die  Ursarhe  der  An  dingschen 
Drehung  des  erwähnten  eropiiischcn   Koordinatensysti  ms. 

*)  Wir  brauchen  nur  (73)  derivieren  nach  m  und  der 
Null  gleichsetzen. 

^)  E.  Wiechert,  L  c. 


152 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 1 


so  besteht  auch  in  seiner  Theorie  das  dritte 
Newtonsche  Gesetz  nicht  mehr.  Damit  werde 
ich  mich  nicht  weiter  befassen,  aber  es  wäre  sehr 
wichtig  darüber  auch  die  anderen  Gravitations- 
theorien genau  zu  prüfen.  In  der  neuesten  Zeit 
hat  O.  Wiener  ')  seine  groß  angelegte  Kinematik 
des  Äther  entwickelt,  und  er  hebt  bei  seinen 
positiven  und  negativen  Massen  hervor,  daß  dort 
auch  das  dritte  Newtonsche  Gesetz  von  der 
Gleichheit  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  viel- 
leicht seine  Gültigkeit  verliert. 

12.  Die  hier  entwickelte  elementare  Theorie 
der  Gravitation  erklärt  uns  nicht  die  Gravitation 
und  ihre  Ursache,  sondern  sie  beschreibt  uns  nur 
die  Vorgänge  im  Gravitationsfelde  ähnlich  wie 
auch  die  Einst  einsehe  Theorie;  sie  zeichnet 
sich  aber  durch  ihre  Einfachheit  und  Durch- 
sichtigkeit aus.  Sie  führt  uns  zur  Perihelbewegung 
der  Planeten,  welche  wahrscheinlich  bei  dem 
Planeten  Merkur  nicht  so  groß  ist,  wie  dies  die 
Einst  einsehe  Theorie  verlangt.  Und  gerade 
wurde  dieses  Resultat  von  den  Relativitätstheo- 
retikern am  meisten  hervorgehoben  als  besondere 
experimentelle  Bestätigung  ihrer  Theorie,'-)  obwohl 
die  erhaltenen  Werte  für  die  Erde  und  Mars  nicht 
stimmten.  Seinerzeit  hat  A.  Hall  eine  Hypothese^) 
hervorgebracht,  welche  man  fast  vergessen  hat. 
Er  versuchte  die  Perihelbewegung  der  vier  inneren 
Planeten  dadurch  erklären,  indem  er  folgendes 
Attraktionsgesetz  vorausgesetzt  hat: 

^       kMm  ,     , 

^=^^'  (79) 


N  =  2  +  ff,  (8o), 

und  für 

<7  =  o,ooo  ooo  1 5 1  (8o)., 

hat  er  folgende  Perihelverschiebungen  im  Jahr- 
hundert bekommen:  Merkur  41",  Venus  16",  Erde 
10"  und  Mars  5";  für  die  Verschiebung  des 
Perigeums  unseres  Mondes  140".  Wir  können 
ganz  offen  sagen,  daß  diese  Resultate  mit  der 
Beobachtung  vorzüglich  übereinstimmen.  Trotz- 
dem bin  ich  überzeugt,  daß  uns  solche  Versuche 
nicht  befriedigen  können,  da  sie  nicht  imstande 
sind  auch  einige  andere  Vorgänge  im  Gravitations- 
felde zu  beschreiben  oder  eventuell  erklären,  so- 
lange wir  nicht  berücksichtigen,  daß 
auch  dem  Licht  Energie  und  schwere 
Masse  zukommt.     Jetzt  könnten  wir  auch  die 

')  O.  Wiener,  Das  Grundgesetz  der  Natur  und  die 
Erhaltung  der  absoluten  Geschwindigkeiten  im  Äther.  Ab- 
handl.  d.  math.phys.  Kl.  d.  sächs.  Akad.  d.  Wiss.  XXXVIII.  Bd. 
Nr.  IV,  S.  42;  Leipzig    1921. 

-)  In  neuerer  Zeit  strüuben  sich  viele  dagegen;  so-  sagt 
z.  H.  F.  Nölke  (Das  Pioblem  der  Entwicklung  unseres  Pla- 
netensystems. S  3^q,  Berlin  1919),  wenn  er  über  das  Zodiakal- 
licht  spricht,  wörtlich:  ,,Ob  die  auf  die  Relativitätstheorie 
sich  giündende  Einsteinsche  Erklärung  der  Vorwärts- 
bewegung des  Merkurperihels  zulässig  ist,  kann  wegen  des 
problematischen  Charakters,  den  die  Theorie  selbst  noch  be- 
sitzt, vorläufig  nicht  entschieden  werden." 

')  Vgl.  z.  K.   V.  Tisserand,  1.  c.  T.  IV,  S.  539. 


Lichtablenkung  wie  in  der  Newton  sehen  Physik ') 
ableiten,  sowie  die  Verschiebung  der  Spektral- 
linien.-) Solche  Theorie  ist  aber  nicht  durch- 
sichtig und  wir  sehen  nicht  die  Ursache,  warum 
wir  ein  anderes  Attraktionsgesetz  annehmen  müssen. 
Aber  auch  unsere  Theorie  kann  uns 
vorläufig  nicht  ganz  befriedigen,  da 
sie  uns  nicht  die  Gravitation  erklärt.") 
Sie  sagt  uns  gar  nichts  darüber,  mit  welcher  Ge- 
schwindigkeit sich  die  Gravitation  ausbreitet.  In 
der  allerletzten  Zeit  sind  darüber  wichtige  Fort- 
schritte zu  bezeichnen.  Die  Gravitation  selbst 
haben  versucht  P.  Lenard,^)  E.  Wiechert'') 
und  O.  Wiener")  zu  erklären.  Schließlich  dürfen 
wir  nicht  den  interessanten  Versuch  vonH.  Fricke") 
verschweigen,  welche  eine  originelle  Idee  vorge- 
bracht hat,  „daß  die  Gravitationsfelder  den  gravi- 
tierenden Massen  dauernd  Energie  zuführen"  und 
diese  Energie  wird  von  der  Materie  in  Form  von 
Wärme  und  Licht  wieder  ausgestrahlt.  Aus  allen 
diesen  Bemühungen  tritt  eines  klar  hervor,  daß, 
wie  auch  sich  die  Physik  weiter  ent- 
wickeln wird  und  in  irgendwelcher 
Richtung  ihre  Entwicklung  gehen  wird, 
wir  ohne  den  Begriff  des  Weltäthers 
kaum  auskommen  werden  können.  So 
hat  P.  L  e  n  a  r  d  schon  den  Uräther  **)  eingeführt. 
Solange  G.  Mie  den  Äther  fast  negiert")  und 
will  die  Materie  als  Knotenstellen  der  Energie 
erklären,  negiert  H.  Poincare*")  die  Materie  und 
nicht  den  Äther ;  dagegen  trachten  O.  Wiener") 
mittels  Wirbel  zweiter  Ordnung  im  Äther  die 
Materie  zu  konstruieren,  welche  dazu  belebt  wäre. 


')  Vgl.  E.  L  i  h  o  t  z  k  y ,  Zur  Frage  der  Verschiebung  der 
scheinbaren  Fixsternorte  in  Sonnennähe.  Physik.  ZS.  1921, 
S.  69 — 71  und  dazu  die  Berichtigung  von  A.  Koppf  (ebenda 
S.  495-496). 

'-)  S.  Mohoroviöic,  Die  Rotverschiebung  der  Spektral- 
linieü  vom  Standpunkte  der  Newtonschen  Physik.  Ann.  d. 
Physik  (4)  66,  1921,  227—228.  Siehe  dann  die  zitierte  Arbeit 
in  Naturwiss.  Wochenschrift,  wo  ich  dies  ganz  einfach  ohne 
jede  Voraussetzung  abgeleitet  habe. 

')  Nach  dem  Abschluß  der  vorliegenden  Arbeit  habe  ich 
eine   mechanische  Erklärung  der  Gravitation  gefunden. 

*)  P.  Lenard:  Über  Äther  und  Materie.  Heidelberg 
191 1 ;  dann,  Über  Relalivitätsprinzip,  Äther,  Gravitation.  3.  Aufl. 
Leipzig   1921. 

■')  E.  Wiechert,  1.  c. 

")  O.   Wiener,  1.  c. 

')  H.  Fricke,  Eine  neue  und  einfache  Deutung  der 
Schwerkraft  und  eine  anschauliche  Erklärung  der  Physik  des 
Raumes.     Wolfenbüttel    1919. 

*)  P.  Lenard,  Über  Äther  und  Uräther.     Leipzig   1921. 

")  G.  Mie,  Die  Einsteinsche  Gravitationstheorie.  Leipzig 
1921.  Er  sagt  (S.  27);  ,,Auch  in  einem  leeren,  d.  h.  atom- 
freien, Raum  sind  physikalische  Ereignisse  denkbar,  d.  h.; 
Störungen  seiner  Homogenität  .  .  ."  und  weiter;  ,, Insofern  das 
Leere  physikalisch  existiert  und  Obj<-kt  der  Naturforschung 
sein  kann,  nennen  wir  es  auch  noch  heutigentags  den  Äther." 

"*}  H.  Poincare,  Die  neue  Mechanik.  Leipzig  und 
Berlin  191S  (3.  Aufl.),  wo  er  sagt  (S.  21):  ,,Man  kann  beinahe 
sagen,  es  gibt  keine  Materie  mehr,  es  gibt  nur  noch  Löcher 
im  Äther;  und  soweit  diese  Löcher  eine  aktive  Rolle  zu 
spielen  scheinen,  besteht  sie  darin,  daß  diese  Locher  ihren 
Ort  nicht  verändern  können,  ohne  den  umgebenden  .\ther  zu 
beeinflussen,  der  gegen  dergleichen  Veränderungen  eine  Reak- 
tion ausübt." 

"1   1.  r. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


153 


Die  Gravitation  wäre  eine  Eigenschaft,  welche 
der  Materie  innewohnt,  und  welche  sich  unendlich 
rasch  fortpflanzt;  es  ist  ihm  auch  gelungen  das 
Newtonsche  Attraktionsgesetz  mathematisch  ab- 
zuleiten. Seine  groß  angelegte  Kinematik  des 
Äthers  scheint  mir  als  der  bisher  wichtigste  Ver- 
such einer  einheitlichen  Weltanschauung  ') ;  wenn 
uns  ihre  weitere  Entwicklung  und  Resultate  be- 
friedigen würden,  so  möchte  sie  das  ganze  Ge- 
bäude der  heutigen  absoluten  Theorie  der  Rela- 
tivität zusammenstürzen.  Der  heutige  Stand  der 
Entwicklung  der  Physik  ist  nur  ein  Übergang,  es 
ist  wieder  die  Zeit  der  Skepsis -')  und  Solipsismus 
gekommen;  was  sich  aber  aus  allen  diesen  Be- 
mühungen auskristallisieren  wird  ist  uns  noch 
unbekannt.  Wir  können  jetzt  nur  sagen,  daß 
jede  Theorie,  welche  uns  die  anziehende,  bzw. 
abstoßende  Kraft,  und  speziell  die  Gravitation 
nicht  erklärt  —  wie  dies  auch  unsere  Theorie, 
sowie  auch  von  rein  physikalischem  Standpunkte 
die  Einst  einsehe  Theorie  nicht  tat  — ,  nur 
einen  vorübergehenden  Charakter  besitzt;  ihr 
Wert  ist  nur  heuristischer  und  erkenntnistheore- 
tischer    Natur.^)       Je     einfacher     solche    Theorie 

')  Was  z.B.  O.Wiener  von  der  Einsteinschen  Rela- 
tivitätstheorie hält,  zeigen  uns  klar  seine  folgenden  Worte  (1.  c. 
S.  36):  ,,Man  stellt  die  Relativitätstheorie  in  ein  ungünstiges 
Licht,  wenn  man  behauptet,  sie  begründe  eine  neue  Welt- 
anschauung. Denn  gerade  diese  Behauptung  ist  es,  die  ihre 
wahre  Bedeutung  verkennen  läßt  und  ihr  Verständnis  er- 
schwert hat." 

^)  Vgl.  z.B.  H.  Dingler,  Physik  und  Hypothese.  Berlin 
und  Leipzig  1921,  wo  er  fragt  (S.  196):  ,,Wie  stehen  wir 
nach  dem  Resultat,  daß  keinerlei  geformte  P'.rkenntnis  aus  der 
Realität  entnommen  werden  kann,  zu  der  Realität?"  und  er 
antwortet:  „Die  Realität  selbst  hat  keinerlei  System  in  sich, 
sie  ist  das  unendlich  vielgestaltige  unaussprechliche  Sein,  das 
durchaus  in  seiner  Eigenart  mir  gegeben  ist,  mit  dem  ich  un- 
mittelbar verknüpft  bin  als  ein  Teil  desselben." 

**)  In  einer  folgenden  Arbeit  gedenke  ich  eine  elementare 
Theorie  des  Äthers  und  eine  mechanische  Erklärung  der 
Gravitation  mathematisch   durchzuführen. 


ist,  um  so  willkommener  ist  sie  uns,  da  mit  Recht 
E.  Gehrcke')  sagt:  „Die  Wahrheit  über  das 
Wirkliche  in  der  Natur  kann  nur  eine  sein, 
während  es  logisch  denkbare,  d.  h.  widerspruch- 
freie Möglichkeiten  einer  Natur  viele  gibt." 

Zusammenfassung.  Hier  haben  wir  eine 
elementare  Theorie  der  Gravitation  durchgeführt, 
indem  wir  angenommen  haben,  daß  vom  mathe- 
matischen Standpunkte  die  Beschleunigung  und 
Gravitation  gleichwertig  sind.  Zuerst  haben  wir 
den  horizontalen  Wurf  im  „konstanten"  Gravi- 
tationsfelde betrachtet,  dann  sind  wir  übergegangen 
auf  das  zentrischsymmetrische  Gravitationsfeld, 
wo  wir  ein  neues  Attraktionsgesetz  gefunden 
haben.  Folgerungen  unserer  Theorie:  Perihel- 
bewegung,  Lichtablenkung,  Rotverschiebung  und 
die  Ungültigkeit  des  Gesetzes  von  der  Gleichheit 
der  Wirkung  und  Gegenwirkung.  Alle  Bewegungs- 
gesetze dieser  Erscheinungen  in  der  Newtonschen 
Mechanik  können  wir  aus  den  neuen  Bewegungs- 
gesetzen in  erster  Annäherung  ableiten,  indem  wir 
für  die  Lichtgeschwindigkeit  einen  unendlich 
großen  Wert  annehmen.  Um  die  Rechnung  durch- 
sichtig zu  machen,  sind  wir  ganz  elementar  vor- 
gegangen, ohne  den  Zeitbegriff  relativisieren  zu 
brauchen  und  die  vierdimensionale  Raum-Zeit- 
Mannigfaltigkeit  einzuführen,  da  wir  die  §§  4  u.  5 
auch  weglassen  könnten.  Die  einzige  Voraus- 
setzung war  gerade,  daß  sich  ein  Körper  im  Räume 
mit  größerer  Geschwindigkeit  als  Lichtgeschwindig- 
keit nicht  bewegen  kann.  Die  hier  entwickelte 
Theorie  hat  vorläufig  rein  formalen  Charakter,  da 
sie  uns  noch  nicht  die  Gravitation  erklärt  —  was 
aber  in  der  nächsten  Arbeit  gezeigt  wird  — , 
sondern  sie  beschreibt  nur  die  Vorgänge,  welche 
sich  im  Gravitationsfelde  abspielen. 


')  E.  Gehrcke,  Physik  und  Erkenntnistheorie.  S.  3. 
Leipzig  und  Berlin  IQ2I.  Gerade  dieser  Verfasser  hat  sehr 
oft  betont,  daß  jede  Relativitätstheorie  uns  notwendig  zu  phy- 
sikalischem Solipsismus  führt. 


Einzelberichte. 


Treffsicherheit. 

(Mit  2  Abbildungen.) 


Der  Augenblick  zwischen  Zielen  und  Treffen 
gehört  zu  den  verhängnisvollsten  des  menschlichen 
Lebens.  Tod  oder  Leben  können,  wie  beim  be- 
rühmten Tellschuß,  im  Kriege,  auf  der  Jagd  von 
ihm  abhängen.  Aber  auch  für  zahlreiche  lierufe, 
für  Feinmechaniker,  Gravierer,  Bildhauer,  Maler 
und  Zeichner,  ja  Schreiber,  ferner  beim  Nähen, 
Sticken,  Stricken,  kurz  bei  fast  allen  Handarbeiten 
ist  gute  Treffsicherheit  das  erste  Mittel  zum  Er- 
folge. Und  doch  sind  wir  über  ihr  Wesen  und 
ihre  Art,  ob  und  bis  zu  welchem  Grade  sie  von  dem 
oder  jenen  überhaupt  zu  erreichen  ist,  ferner  über 
die  günstigste  Zeit  und  die  Dauer  des  Treffen- 
könnens    noch    sehr    wenig    unterrichtet.      Jeder 


Fortschritt,  jede  Erkenntnis  auf  diesem  wichtigen 
Arbeitsgebiet  ist  daher  dankbar  zu  begrüßen.  Der 
Mensch  ist  nun  einmal  keine  Maschine ,  sein 
Arm,  seine  Hand  keine  Präzisionshebel,  die  nur 
gehörig  geschmiert,  d.  h.  ernährt  und  fleißig  geübt 
werden,  höchstens  Nachts  noch  ihre  ausreichende 
Ruhe  zur  Beseitigung  der  giftigen  Ermüdungs- 
stoffe  haben  müssen.  Wohl  hat  uns  die  Wissen- 
schaft durch  Erfindung  von  Ergographen-  und 
Plethysmographenapparaten  bereits  instand  ge- 
setzt, die  Größe  der  Muskeltätigkeit  und  -ermüdung 
während  einer  bestimmten  Anstrengung  zu  prüfen, 
aber  zur  Erforschung  der  Treffsicherheit  genügte 
das  nicht.  Immerhin  lieferten  die  mit  jenen 
Apparaten  von  A.  Mosso,  E.  Weber,  Blix, 
Weichard t  und  Hugo  Lindner  gemachten 
Erfahrungen    dem    Erforscher    der    Treffsicherheit, 


154 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 1 


Prof.  Ernst  Bresina  in  Wien,  die  unentbehr- 
lichen Unterlagen.  E.  Weber  fand,  daß  die  vom 
Plethysmographen  gezeichnete  absteigende  Kurve 
nach  großer  Ermüdung  eines  Körpergliedes  viel 
größere  und  gedrängter  stehende  Zacken  als  sonst 
lieferte.  Ferner  fand  er,  daß,  wenn  nun  z.  B. 
nach  einem  Dauerlauf  kräftige  Armbewegungen 
vorgenommen  wurden,  die  Kurve  wieder  normal 
ward,  d.  h.  daß  die  frisch  zu  arbeiten  beginnenden 
und  reichlich  blutdurchströmten  Armmuskeln  die 
durch  die  Ermiidungsstoffe  zusammengezogenen 
Blutgefäße  der  Beinmuskeln  "  erweiterten ,  mit 
frischem  Blut  füllten  und  so  belebten,  daß  die 
Ermüdungsstofife  hinweggespült  wurden.  Beim 
Ersinnen  seines  neuen  Apparates  ging  nun  Bre- 
sina   von    der    durch    Pelnär,    Piper  u.  a.  er- 


Abb.   I.     Der    Palmograph    von    Ernst  Bresina. 
(Aus  dem  Archiv  für  Hygiene,  Bd.  Sg,   1920.) 
In  dem  Holzbrett  a    das    Zielloch    b,    c    der    Zielstift,     d   der 
Rahmen,  e  das  Stativ,  f  die  vier  Befestigungs-itellen  des  Draht- 
kreuzes h,  g  der  Aluminiumring  darin,  i  die  Befesligungsösen, 
von  denen  aus  der  Faden  k  über  Rollen  zum  Schreibhebel  1  führt. 


wiesenen  Tatsache  aus,  daß  jene  Zackenkurven 
der  Ausdruck  von  Zitterbewegungen  sind,  in  denen 
die  Arme  und  Beine  des  Menschen  acht  bis  drei- 
zehnmal in  der  Sekunde  in  sehr  kleinen  Weilen 
schwingen.  Wodurch  dieses  Zittern  der  Muskeln 
hervorgebracht  wird,  ist  noch  nicht  ganz  erforscht, 
doch  scheinen  nicht  nur  die  Beuge-  und  Streck- 
muskelnerven daran  beteiligt  zu  sein,  sondern 
hauptsächlich  eine  im  Gehirn  oder  Rückenmark 
liegende  Zentralstelle.  Bresina  ging  ferner  da- 
von aus,  daß  sein  Apparat  unter  Benutzung  jener 
ZitterkurvenSchreibmethode  nicht  nur  die  gegen- 
wärtige   Ziel-    und    Treffsicherheit    der   geprüften 


Personen  selbst  zeigen,  sondern  daß  gleichzeitig 
und  umgekehrt  durch  die  Art  und  Weise  des 
Zielens  und  Treffens  die  veränderten  Zacken- 
kurven verraten  sollten,  ob  und  wie  sehr  den 
Prüfling  eine  kurze  Zeit  vorher  getane  Arbeit  er- 
müdet hatte. 

Prof  Bresina  taufte  seinen  Apparat  Palmo- 
graph, zu  deutsch  etwa  Zitterschreiber.  Er  be- 
stand aus  einem  quadratischen,  fensterrahmen- 
artigen Holzgestell  von  20  cm  Seitenlänge  mit 
einem  das  Treffziel  bedeutenden  Loch  in  der 
Mitte.  An  den  vier  Ecken  des  Rahmens  waren 
Haken  zum  Einhängen  eines  sonst  freischweben- 
den spiralfedernden  Drahtkreuzes,  dessen  Mittel- 
punkt, genau  dem  Rahmenloch  gegenüber,  4  cm 
von  diesem  entfernt  war.  In  diese  mittlere  Draht- 
kreuzungsstelle war  ein  Aluminiumring  eingelassen, 
durch  den  hindurch  man  das  Loch  zu  treffen 
suchen  mußte.  Als  Zielinstrument  diente  ein 
Hartgummistift,  dessen  Spitze  genau  in  das  Loch, 
dessen  Stielrund  genau  in  den  Aluminiumring 
hineinpaßte.  Hatte  man  gut  gezielt,  so  traf  der 
Stift  glatt  in  das  Loch  hinein,  der  Ring  wurde 
dabei  in  völlig  gerader  Richtung  dem  Loch  ge- 
nähert. Hatte  man  schlecht  gezielt,  so  mußte  die 
Stiftspitze  sich  erst  ihren  Weg  zu  dem  Loch 
suchen,  wobei  der  Ring  des  federnden  Draht- 
kreuzes mehr  oder  weniger  zur  Seite  gedrückt 
wurde,  um  nach  Herausziehen  des  Stiftes  wieder 
in  seine  zentrale  Lage  zurückzuschnellen.  Diese 
vorübergehende  Verschiebung  ergab  nach  den 
angestellten  Versuchen  einen  vorzüglichen  Grad- 
messer der  Treffsicherheit  eines  Stoßes  und  des 
dabei  von  der  betreffenden  Person  bekundeten 
Ermüdungszitterns.  Um  letzteres  graphisch  durch 
eine  Zackenkurve  auszudrücken,  war  oben  an  dem 
Aluminiumring  eine  Schnur  befestigt,  die  über 
Rollen  zu  einem  Schreibhebel  führte,  welch  letz- 
terer die  Bewegungen  des  Ringes  in  vergrößertem 
Maßstab  auf  einer  Drehtrommel  verzeichnete. 
Damit  das  mehr  oder  weniger  sichere  Treffen 
auch  zeitlich  wahrgenommen  und  geschätzt  wer- 
den konnte,  führte  von  dem  einen  Pol  eines 
Akkumulators  ein  Kupferdraht  von  hinten  in  das 
Zielloch,  während  von  dem  anderen  Pol  ein  Draht 
ausging,  der  über  einen  Leitungswiderstand  durch 
den  Hartgummistift  hindurch  bis  zu  dessen  Spitze 
reichte.  Bei  jedem  Treffversuch  wurde  so  der 
Stromkreis  geschlossen  und  dies  auf  der  Dreh- 
trommel durch  eine  entsprechende  Zacke  ver- 
zeichnet, die,  ins  Zeitliche  übersetzt,  von  einer 
Uhr  mit  Fünftelsekunden  -  Einteilung  abgelesen 
werden  konnte.  Der  ganze  Apparat  stand ,  von 
einem  Stativ  gehalten,  so  auf  dem  Tisch,  daß  der 
Prüfling  das  Ziel  etwas  links  in  Augenhöhe  vor 
sich  hatte,  so  daß  die  Rechte  aus  2  cm  Entfer- 
nung mit  dem  Stift  völlig  frei  und  ungezwungen 
nach  dem  vom  Ring,  wie  gesagt,  noch  4  cm  ent- 
fernten Loche  zielen  und  stoßen  konnte. 

Die  sechs  Personen,  vier  männliche  und  zwei 
weibliche,  die  Prof.  Bresina  für  seine  ersten 
Versuche  zur  Verfügung  hatte,  standen    im  Alter 


N.  F.  XXI.  Nr.  u 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»55 


von  i8  bis  44  Jahren.  Jeder  Versuch  bestand 
aus  10  bis  25  in  ununterbrochener  Reihenfolge 
ausgeführten  Stößen.  Jeder  konnte  dabei  das  ihm 
zusagende  Tempo  selbst  wählen.  Aus  den  vom 
Apparat  geschriebenen  Kurven  war  nun  deutlich 
folgendes  zu  ersehen  und  zu  vergleichen:  die 
Zeitdauer  jedes  Einzelstoßes,  seine  etwaige  Rich- 
tungsänderung, kenntlich  an  der  Zahl  seiner  Zitter- 
zacken, die  Länge  des  Weges,  den  die  Stiftspitze 
vom  Ring  bis  zum  Loch  zurückgelegt  hatte,  ferner 
die  Lage  und  Anordnung  der  Zacken  zueinander 
und  im  Vergleich  zu  einer  durch  ihre  Mitte  ge- 
legten Kurvenlinie,  endlich  die  Zahl  der  Zacken 
und  die  Länge  ihres  Weges  in  je  einer  Sekunde. 
Diese  sieben  IMerkmale  und  besonders  die  mittlere 
Kurvenlinie  waren  nicht  nur 
bei  jeder  Person  verschieden, 
sondern  von  einer  für  letz- 
tere charakteristischen  Art 
der  Zusammensetzung  und 
Richtung.  Da  aber  die  Einzel- 
stöße doch  auch  erhebliche 
Schwankungen  in  der  Treff- 
sicherheit zeigten,  wurde  zur 
summarischen  Beurteilung 
stets  die  Durchschnittszahl 
je  eines,  wie  gesagt,  nur 
aus  10  bis  25  Stößen  be- 
stehenden Versuches  genom- 
men. Bei  dieser  bescheide- 
nen Anzahl  war  auch  eine 
Ermüdung  der  Personen 
durch  das  leichte  Zielen  und 
Stoßen  selbst  ausgeschlossen ; 
die  gewonnenen  Resultate 
geben  daher  ein  getreues 
Abbild  der  inneren  Muskel- 
und  Nervenermüdung,  aus- 
gedrückt in  der  Größe  und 
Art  der  Treffsicherheit  je 
nach  der  kurz  zuvor  ge- 
leisteten Größe  und  Art  der 
Arbeit.  Als  solche  wurden 
verrichtet  Beugen  und  Strek- 
ken  bald  leichter,  bald 
schwerer  belasteter  Arme, 
Beugung  des  Schulter-  und 
Ellbogengelenkes  durch  Ge- 
wichtsziehen mittels  Schnur 
über  eine  Rolle,  Dynamo- 
meterübungen und  Holz- 
sägen. 

Ein  Beispiel  zeige,  wie  bei  einem  44jährigen 
mittelkräftigen  Arzt  das  Gewichtheben  auf  die 
Treffsicherheit  wirkte.  Vor  Beginn  betrug  die, 
immer  aus  je  8  bis  13  Stoßserien  gewonnene  Durch- 
schnittszahl der  Fehlstoßabweichungen  66,7,  nach 
400  maligem  Gewichtheben  von  4  kg  63,8,  nach 
Verdopplung  der  Hubanzahl  66,3,  nach  Verdrei- 
fachung 63,7.  Nach  10  Minuten  Ruhe  wurde  die 
Treffunsicherheit  noch  größer  und  stieg  auf  72,5 
Fehler,  aber  nach  weiteren  60  Minnten  Ruhe  wurde 


sogar  die  Anfangszahl  mit  63,6  Fehlern  unter- 
boten: es  hatte  also  eine  Einarbeitung,  eine  innere 
Festigung  stattgefunden.  Jetzt  wurde  das  Gewicht 
auf  5  kg  erhöht,  und  hier  vermehrten  sich  die 
Fehler  nach  den  ersten  400  Hebungen  auf  77,8, 
nach  den  zweiten  auf  84,1,  nach  den  dritten  auf 
92,6  Fehler.  Aber,  merkwürdig,  nach  weiteren 
300  Hebungen  von  6  kg  stieg  diese  Zahl  nicht 
weiter,  sondern  sank  auf  90,7.  An  einem  anderen 
Tage  betrugen  bei  demselben  Herrn  die  Fehl- 
stöße vor  dem  Heben  69,1,  nach  den  ersten  400 
n^i*-  5  ^S  54.6>  nach  den  zweiten  400  =  62,4  und 
nach  weiteren  200  mit  6  kg  69,8,  d.  h.  fast  genau 
so  viel  wie  vor  Beginn  des  ganzen  Hebens.  Nach 
ihm  völlig  ungewohnten  Holzsägen  stieg  die  Zahl 


Abb.  2. 

Charakteristische  Kurven  des  Ermüdungszilterns    und    der  dadurch  bedingten  Treffsicher- 
heit am  Palmographen,    links  vor  der  Arbeit,    rechts  nach  der  Arbeit;    oben  von  einem 
44jährigen  mittelkräftigen  Arzt,    mitten    von    einem  sehr  kräftigen   18jährigen  Studenten, 
unten  von  einem  54  jährigen  Schmied. 
(Aus  dem  Archiv  für  Hygiene,  Bd.  Hg,  1920,   R.  Oldenbourg  in  München.) 


der  Fehler  um  122,  sie  überstieg  auch  nach  10 
Minuten  Ruhe  die  Anfangsziffer  noch  um  69.  Bei 
jeder  Person  läßt  sich  so  für  jede  Arbeit  am 
Palmographen  das  zusagende  spezielle  Durch- 
schnittsgewicht der  zu  bewegenden  Last  ermitteln 
aus  der  Zahl  der  gemachten  Treffer  oder  Nieten. 
Erhöhung  des  Tempos  einer  Arbeit  wirkt  genau 
so,  als  wäre  das  Gewicht  entsprechend  erhöht 
worden.  In  einzelnen  Fällen  wurden  merkwürdiger- 
weise   die  Treffer    nicht   sofort    nach    Beendigung 


156 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  II 


der  Arbeit  weniger,  sondern  erst  nach  lO  Minuten. 
Ferner  kann  man  beobachten,  daß  die  nach  Ruhe 
von  einer  schweren  Arbeit  auf  das  normale  Maß 
gesunkenen  Treffehler  sogleich  sich  unverhältnis- 
mäßig zu  häufen  beginnen,  wenn  zwischendrein 
eine  kleine  leichte  Arbeit  verrichtet  wird,  eine 
Erscheinung,  die  besonders  deutlich  eine  tiefere, 
innerlich  nicht  überwundene  und  daher  ernstlich 
durch  ungestörtes  Ausruhen  zu  berücksichtigende 
Übermüdung  verrät.  Sie  zeigte  sich  z.  B.  einmal 
an  zwei  jungen  Versuchspersonen,  die  dann  trotz 
der  ganz  leichten  Zwischenbeschäftigung  plötzlich 
erklärten,  sie  jetzt  unter  keinen  Umständen  weiter 
fortsetzen  zu  können.  Ferner,  wenn  die  nach 
Muskelarbeit  gestiegene  Zahl  der  Nieten  in  der 
Ruhezeit  sinkt,  so  sinkt  sie  nicht  selten  unter  die 
vor  der  Muskelarbeit  erreichte  Zahl.  Da  nun  in 
solchen  Fällen  gerade  die  meisten  und  besten 
überhaupt  beobachteten  Treffer  vorkamen,  so  dürfte 
hier  eine  von  B  r  e  s  i  n  a  noch  nicht  näher  erforschte 
wichtige  gesetzmäßige  Erscheinung  körperlicher 
Erholung  verborgen  sein.  Die  Treffsicherheit  der 
rechten  Hand  wurde  andererseits  ganz  im  gleichen 
Maße  vermindert,  mochte  sie  selbst  die  Arbeit, 
oder  mochte  die  Linke  oder  die  Füße  z.  B.  durch 
Marschieren  oder  Treppensteigen  sie  verrichtet 
haben.  Die  an  i6  Arbeitern  und  Arbeiterinnen 
einer  Floridsdorfer  Maschinenfabrik  vor  und  nach 
der  Arbeit  beobachteten  Treffversuche  bestätigten 
durchaus  die  bisher  gewonnenen  Erfahrungen. 
Was  die  Beschäftigungsart  betrifft,  so  lieferten  an 
Durchschnittsnieten  vor  der  Arbeit  die  Schmiede 
und  Schlosser  73,7,  nach  der  Arbeit  86,3,  die 
Former  und  Gießer  78,6  bzw.  80,7,  andere  Arbeiter 
86,5  bzw.  80,8.  Auch  das  Alter  drückte  sich  im 
Ermüdungszittern  und  dadurch  bedingten  Treffen 
des  Zieles  aus:  vor  der  Arbeit  leisteten  an  Nicht- 
treffern  die  über  45  Jahre  alten  Arbeiter  88,7, 
nach  der  Arbeit  102,0,  die  zwischen  38  und  45 
Jahren  stehenden  79,5  bzw.  75,0,  die  unter  38  Jah- 
ren 75,4  bzw.  79,0  Nieten. 

Der  Palmograph  belehrt  uns  also,  wie  wir 
gesehen  haben,  im  negativen  Sinne  darüber,  welche 
Mengen  einer  bestimmten  Arbeit  unser  Ermüdungs- 
zittern mehr  oder  weniger  steigern;  im  positiven 
Sinne  darüber,  wie  wir  die  Grenzen  unserer  Treff- 
sicherheit im  allgemeinen  erkennen,  ferner  die 
günstigste  Zeit  für  unser  persönliches  treffsicheres 
Arbeiten  ermitteln  und  wie  wir  unsere  erworbene 
Treffsicherheit  durch  ein  bestimmtes  Maß  gewisser 
Muskelarbeiten  für  einen  gerade  beabsichtigten 
einmaligen  Zweck  oder  dauernd,  wenn  auch  nicht 
immer  steigern,  so  doch  auf  einer  notwendigen 
Höhe  erhalten  können. 

Beim  Prüfen  durch  den  Palmograph  war,  wie 
gesagt,  das  Zielen  und  Treffen  selbst  mit  fast 
keiner  Anstrengung  verbunden:  außer  den  wenig 
beanspruchten  Muskeln  des  rechten  Armes  waren 
nur  die  der  Augen  beschäftigt.  Das  ist  im  prak- 
tischen Leben  oft  anders,  hier  kommt  durch  die 
Art  und  Länge  der  augenblicklichen  Arbeit  meistens 
eine    sich  stetig  vergrößernde,    die  Treffsicherheit 


allmählich  herabsetzende  Anstrengung  und  Er- 
müdung aller  möglichen  Muskeln  hinzu.  Nun 
wissen  wir  ja  wohl,  daß  es  ganz  gleichgültig  ist, 
durch  welchen  Körperteil  das  Ermüdungszittern 
hervorgerufen  wird,  da  es  sich  stets  sehr  bald 
dem  ganzen  Körper  mitteilt.  Aber  da  die  Muskeln 
durch  ihre  Eigenschaft  als  Hebel  physikalischen 
Gesetzen  unterworfen  sind,  so  werden  natürlich 
größere  Neigungswinkel  beim  Bewegen  z.  B.  der 
großen  Halsmuskeln  auch  größere  Ermüdung  und 
Treffunsicherheit  hervorrufen,  als  wenn  sich  nur 
kleinere  Muskeln  anstrengen.  Ein  lehrreiches  Bei- 
spiel lieferte  Ernst  Haase,  das  er  kürzlich  in 
der  Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  be- 
schrieb, durch  sein  Studium  an  373  zehn-  bis 
vierzehnjährigen  Schülern  und  Schülerinnen  über 
deren  Treffsicherheit  im  Abzeichnen  verschie- 
dener Winkel  von  der  Wandtafel.  Die  Kinder 
sollten  von  ihren  Bankplätzen  aus  zwölf  mit 
der  Schenkelöffnung  bald  nach  oben,  bald  nach 
unten,  bald  schräg  nach  rechts,  bald  nach 
links  gerichtete  Winkel  von  45  bis  90  Grad 
mit  Lineal  und  Bleistift  nachzeichnen.  Bei  der 
Beurteilung  der  4398  gezeichneten  Winkelbilder 
auf  ihre  richtige  Schenkelöffnung  hin  wurden  die 
gemachten  Treffehler  gruppenweise  in  leichtere, 
mittlere  und  schwerere  geteilt  und  die  Entfernung 
der  Zeichenplätze  von  der  Wandtafel  berücksich- 
tigt. Diese  betrug  für  die  Abteilung  der  Vorder- 
plätze höchstens  4,20  m,  für  die  der  Hinterplätze 
mindestens  5,75  m.  Die  Treffsicherheit  im  ganzen 
war  bei  den  auf  den  vorderen  und  hinteren  Bän- 
ken sitzenden  Knaben  gleich  groß,  nämlich  38  %; 
bei  den  Mädchen  erzielten  die  auf  den  vorderen 
3i"/(,,  die  auf  den  hinteren  32  "/q  Treffer.  Be- 
trachtet man  aber  nur  die  schweren  Verschätz- 
ungen,  so  schnitten  Knaben  und  Mädchen  auf 
den  Hinterbänken  wesentlich  besser  ab:  diese 
Knaben  hatten  nur  7  "Z^,  die  Mädchen  nur  9  "/(, 
Treffehler,  während  die  auf  den  vorderen  9  "j^ 
bzw.  12  "/o  zeigten.  Es  stellte  sich  heraus,  daß 
beim  Abzeichnen  von  den  Hinterplätzen  aus  die 
Bewegung  der  größeren  Muskeln  des  Nackens  und 
Halses  z.  T.  ganz  bedeutend  kleiner  zu  sein 
brauchte  als  vorn.  Die  Quelle  des  Ermüdungs- 
zitterns  und  der  Treffunsicherheit  war  also  einerseits 
die ,  daß  jene  Großmuskeln  verschieden  lange 
Wege  zurückzulegen  hatten.  Gegen  Ende  der 
Stunde  mußten  jedoch  die  auf  den  Hinterplätzen 
andererseits  ihre  kleinen  Augenmuskeln  mehr  an- 
strengen, wodurch  ihnen  ihr  Vorsprung  vor  den 
Kameraden  der  Vorderplätze  geraubt  wurde. 

H.  Radestock. 

Sprun^hnt'te  Vergrößerung  der  geographischen 
Breite. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  192 1  hat  eine 
solche  in  Mitteleuropa  nach  übereinstimmenden  Be- 
obachtungen von  Schnauder  in  Potsdam,  Cour- 
voisier  in  Neubabelsberg  und  Boccardi  in 
Pino  Torinese  um  nahezu  eine  halbe  Bogensekunde 


N.  F.  XXI.  Nr.   1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


stattgefunden.  Sollte  auf  dem  gegenüberliegenden 
Meridian  eine  ebensogroße  Verminderung  der 
Breite  festgestellt  werden,  so  würde  damit  eine 
Verlagerung  der  Erdachse  um  rund  15  m  erwiesen 
sein,  für  die  vorläufig  eine  Ursache  nicht  ange- 
geben werden  kann.  Jedenfalls  wird  eine  Neu- 
bestimmung der  Breiten  in  verschiedenen  Längen 
zunächst  volle  Klarheit  darüber  bringen  müssen, 
ob  diese  von  der  Theorie  nicht  vorausgesehene 
Verlagerung  der  Erdachse  wirklich  stattgefunden 
hat,  oder  ob  andere  Ursachen  für  die  in  Mittel- 
europa beobachtete  Breitenzunahme  zu  suchen 
sind.  F.  Kbr. 


tiber  die  Mächtigkeit  des  uordischeu  Inland- 
eises in  Sclilesien. 

Auf  dem  letzten  internationalen  geologischen 
Kongreß  zu  Stockholm  im  Jahre  1910  wurde  auch 
über  die  Mächtigkeit  des  europäischen  Inlandeises 
verhandelt.  F.  Frech  führte  damals  aus,  daß 
die  vereinzelten  nordischen  Geschiebe,  die  sich 
am  Rande  der  Sudeten  mitunter  noch  in  Höhen 
von  555  m,  z.  B.  bei  Gottesberg  im  Waldenburger 
Gebirge  finden,  uns  durchaus  noch  nicht  berech- 
tigen, diese  Höhenlage  ohne  weiteres  der  Dicke 
des  nordischen  Inlandeises  gleichzusetzen.')  Für 
die  Bestimmung  der  Mächtigkeit  des  einstigen  In- 
landeises sind  vielmehr  vor  allem  die  sog.  Nuna- 
takkar  maßgebend.  Nach  den  Untersuchungen 
von  Frech  sollte  nun  neben  dem  Zobten  auch 
die  ungefähr  60  m  hohe  Gipfelkuppe  des  Rum- 
melsberges südlich  von  Strehlen  als  Nunatak  die 
Inlandeisdecke  überragt  haben.  P"rech  konnte 
nämlich  auf  dem  stark  verwitterten  Gipfel  dieses 
fast  400  m  hohen  Berges  keine  nordischen  Ge- 
schiebe mehr  feststellen,  wohl  aber  eine  aus  Quar- 
zitgeröUen  bestehende  Lokalmoräne.  Auch  die 
eigenartige,  nach  Norden  ziemlich  steil  abfallende 
Bergspitze  sollte  dafür  sprechen,  daß  der  Gipfel 
vom  Eisstrom  nicht  mehr  erreicht  wurde.  Auf 
Grund  dieser  Erscheinungen  schätzte  Frech  die 
Mächtigkeit  des  nordischen  Landeises  im  mittelsten 
Schlesien  auf  höchstens  200  m. 

Nun  ist  in  den  letzten  Jahren  das  Rummels- 
berggebiet geologisch  aufgenommen  worden  und 
es  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  daß  Landes- 
geologe J.  Behr  der  im  vorstehenden  dargelegten 
Ansicht  von  Frech  nicht  beipflichten  kann.-) 
Nordische  Geschiebe  beobachtete  Behr  noch  in 
einer  Höhe  von  320  m  und  große  Quarzitbiöcke 
kommen  selbst  noch  auf  dem  aus  Granit  be- 
stehenden Gipfel  vor,  wohin  sie  nur  durch  das 
nordische  Eis  gebracht  worden  sein  können. 
Außerdem  konnte  B.  in  dem  am  Ostabhange  des 

')  Vgl.  F.  Frech,  Über  die  Mächtigkeit  des  europäischen 
Inlandeises  und  das  Klima  der  Interglazialzeilen.  Congres 
geologique  intern.  Stockholm  1910.  —  Vgl.  auch  Frech  u. 
Kampers,  Schlesische  Landeskunde  I.  Bd.,  S.  86. 

'-)  Vgl.  J.  Behr,  Erläuterungen  zur  Geolog.  Karte  von 
Preuflen.     Blatt  Strehlen.     Berlin   1921. 


Berges  anstehenden  Ouarzit  in  230  m  Höhe  einen 
ganz  vorzüglich  ausgebildeten  Gletschertopf  fest- 
stellen, dessen  Bildung  bei  einem  Durchmesser 
von  12  m  und  einer  größten  Tiefe  von  4 1/,  m 
eine  ganz  gewaltige  Kraft  des  Eises  voraussetzt.  *) 
Da  im  übrigen  am  benachbarten  Zobten  die  Ober- 
kante des  Eises  sicher  bis  500  m  heraufging, 
so  wäre  es  auch  zum  mindesten  sehr  unwahr- 
scheinlich, wenn  das  Eis  am  Rummelsberg  nie- 
driger gestanden  hätte.  Behr  kommt  nach  diesen 
Beobachtungen  und  Erwägungen  zu  folgendem 
Ergebnis :  „Wenn  also  auch  die  Tätigkeit  des  In- 
landeises unmittelbar  auf  der  höchsten  Erhebung 
nicht  nachzuweisen  ist,  so  liegen  doch  Zeugen  in 
so  geringer  Entfernung  davon,  daß  kein  stich- 
haltiger Grund  zur  Annahme  eines  Nunatakers 
besteht." 

Tiergeographische  Tatsachen,  die  z.  B.  für  den 
Zobten  den  Nunatakcharakter  bezeugen,  wie  das 
vereinzehe  Vorkommen  von  Patula  solaria-) 
sind  vom  Rummelsberg  nicht  bekannt,  auch  kaum 
zu  erhoffen.  So  ist  nur  von  der  weiteren  geo- 
logischen Aufnahme  des  Vorlandes  der  Sudeten 
eine  endgültige  Klärung  dieser  nicht  unwichtigen 
hVage  zu  erwarten. 

E.  Schalow  (Breslau). 


Epithelkörpei'verplianzung  bei  postoperativer 
Tetanie. 

Bekanntlich  sind  die  nach  Kropfoperationen 
manchmal  zu  beobachtenden  krampfartigen  Zu- 
stände —  die  sog.  postoperative  Tetanie  —  auf 
den  Verlust  der  Epithelkörperchen  zurückzuführen, 
die  mit  der  Schilddrüse  zusammen  entfernt  wor- 
den sind.  Gelegentlich  treten  nach  der  Exstir- 
pation  Spannungsgefühle  in  den  Händen  oder 
auch  in  den  Füßen  auf,  die  mit  großen  Schmer- 
zen verbunden  sein  können  und  bis  zum  Starr- 
krampf führen.  Die  Anfälle  wiederholen  sich  oft 
nicht  wieder,  können  aber  auch  in  rascher  Folge 
auftreten  und  schließlich  den  Tod  herbeiführen. 
Da  man  die  Ursache  dieser  postoperativen  Er- 
scheinungen kennt,  sucht  man  möglichst  den 
Verlust  der  Epithelkörperchen  zu  vermeiden. 
Doch  stehen  dabei  dem  Kropfoperateur  große 
Schwierigkeiten  im  Wege.  Zunächst  sind  die 
Epithelkörperchen  sehr  schwer  aufzufinden;  ferner 
sind  die  winzigen  Drüsen  während  der  Operation 
leicht  Schädigungen  ausgesetzt,  vor  allem  durch 
die  Unterbindung  der  Arteria  thyreoidea  inferior, 
die  zur  Verringerung  der  Blutung  vorgenommen 
werden  muß.  Schließlich  aber  ist  die  Entfernung 
der  Epithelkörperchen  bei  Radikaloperationen  gar 
nicht  zu  vermeiden.  So  kommt  es,  daß  die  post- 
operative Tetanie  immer  noch  hier  und  da  auf- 
tritt.     Durch    die  Kenntnis    der  Ursache   ist  man 

')  Vgl.  J.  Behr,  Über  Glazialerscheinungen  am  Rum- 
melsberg in  Schlesien.  Jahrb.  Preuß.  Geol.  Landesanstalt. 
Berlin   1911. 

-)  Vgl.  F.   Fax,  Tierwelt  Schlesiens.     Jena   1921. 


158 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 1 


jedoch  in  die  Lage  versetzt,  entsprechende  Gegen- 
maßregeln zu  ergreifen. 

Immer  mehr  macht  sich  als  wirksames  Mittel 
die  Verpflanzung  der  Epithelkörperchen  geltend. 
Mit  neuen  Erfahrungen  ausgerüstet  empfiehlt 
E.  Borchers  in  einer  dieses  wichtige  Gebiet 
der  modernen  Chirurgie  eingehend  behandelnden 
Arbeit  über  „Epiihelkörperverpflanzung  bei  post- 
operativer Tetanie" ']  die  Methode  der  Organ- 
transplantation. Borchers  stützt  sich  vor  allem 
auf  fünf  Fälle  von  postoperativer  Tetanie  aus  den 
letzten  Jahren  in  der  Tübinger  Chirurgischen 
Klinik  (Prof  Perthes).  Es  wurden  darunter  ein 
Mißerfolg,  zwei  teilweise  Erfolge  und  zwei  Dauer- 
erfolge beobachtet.  Im  ersten  F"all  stellten  sich 
in  Zwischenräumen  von  ca.  i  Jahr  schwere  Rück- 
fälle ein;  in  den  beiden  weiteren  Fällen  waren 
nur  noch  leichte  Spannungsgefühle  in  den  Finger- 
muskeln und  Trübung  der  Augenlinsen,  nur  wäh- 
rend der  Menses  leichte  Krampferscheinungen  zu 
beobachten.  In  den  beiden  letzten  Fällen  wurden 
die  Patienten  als  geheilt  betrachtet.  Wenn  die 
Verpflanzung  auch  nicht  von  unbedingtem  Erfolg 
ist,  so  ist  doch  das  zeitweilige  Gelingen  der  Me- 
thode dankbar  zu  begrüßen,  zumal  man  mit  an- 
deren Methoden  ähnliche  Ergebnisse  nicht  fest- 
stellen   konnte.      Gegenüber    dem    Versagen    der 

')  Münchener  Medizinische  Wochenschrift  Nr.  50,  68.  Jahrg. 


Substitutionstherapie  bezeichnet  Borchers  die 
Epithelkörpertransplantation  „als  das 
Normal  verfahren  in  der  Behandlung 
der  postoperativen  Tetanie".  Die  bis- 
herigen Mißerfolge  anderer  Autoren  können  auf 
Irrtümer  in  der  Bestimmung  der  Epithelkörper- 
chen zurückzuführen  sein,  die  zur  Transplantation 
verwendet  wurden.  Borchers  weist  deshalb 
darauf  hin,  daß  nur  eine  genaue  histologische 
Untersuchung  der  Epithelkörperchen  vor  Ver- 
wechslungen schützen  kann.  Um  die  bei  Men- 
struation und  Gravidität  leicht  auftretenden  Rück- 
fälle zu  vermeiden,  empfiehlt  Borchers  die 
Sterilisation  aller  Frauen  mit  chronisch  exazerbie- 
render  postoperativer  Tetanie. 

Trotz  mancher  Schwierigkeiten ,  die  sich  bei 
der  Organverpflanzung  nicht  vermeiden  lassen,  ist 
gegen  die  große  Bedeutung  der  Epithelkörper- 
transplantation nichts  einzuwenden.  Sehr  treffend 
sagt  E.  Frank  in  einer  Übersicht  über  „das 
Tetaniesyndrom  und  seine  Pathogenese":*)  „Die 
neuerdings  von  Borchers  und  Eiseisberg 
gemeldeten  Erfolge,  die  wenigstens  die  Tetanie 
auf  den  Zustand  der  latenten,  nur  selten  und  dann 
milde  aufflackernden  Diathese  zurückbrachten, 
warnen  vor  übertriebener  Skepsis." 

Gustav  Zeuner. 


')  Klinische  Wochenschrift  Nr.  7,  l.  Jahrg.,   1922, 


Bücherbesprechungen. 


Nippoldt,  A.,  Erdmagnetismus,  Erdstrom 
und  Polarlicht.    Sammlung  Göschen  Nr.  175. 
Dritte,    verbesserte    Aufl.   135  S.   mit    7  Tafeln 
und   18  I'^g.  im  Text.    Berlin  und  Leipzig  1921, 
Vereinigung  wissenschaftl.  Verleger.  —  Preis  6  M. 
Das    vorliegende    Bändchen    gibt    einen    vor- 
trefflichen Einblick    in    die    außerordentlich  inter- 
essanten,     allerdings      großenteils     noch     wenig 
gelösten    Fragen    der    elektromagnetischen    solar- 
terrestrischen   Vorgänge,    die    für    uns    im    Erd- 
magnetismus und  den  verschiedenen  Arten  seiner 
Variation,    in    den    Erdströmen    der    festen   Rinde 
und    der    Atmosphäre    und    im    Polarlicht    in    die 
Erscheinung  treten. 

Als  Lamont  im  Jahre  1851  das  erste  volks- 
tümliche Werk  über  den  Erdmagnetismus  schrieb, 
mußte  er  sich  auf  die  Mitteilung  von  Beobachtungs- 
ergebnissen beschränken  und  die  P'rage  nach 
deren  physikalischen  Ursachen  und  etwaigem 
inneren  Zusammenhang  völlig  offen  lassen.  Auch 
die  I.  Auflage  dieses  Bändchens  aus  dem  Jahre 
1903  ließ  nur  in  Bezug  auf  das  Polarlicht  eine 
merkliche  Förderung  unseres  Verständnisses  des 
Erscheinungsgebiets  erkennen.  Das  in  der  neuesten 
gegenwärtigen  Auflage  gezeichnete  Bild  ist  un- 
verkennbar vollständiger.  Als  wesentliche  Ur- 
sachen der  geophysikalischen  Vorgänge  kennen 
wir  jetzt   nach  den  Untersuchungen  von  Birke- 


land und  Störmer  die  elektrische  Strahlung 
der  Sonne  und  den  von  Haie  entdeckten  Sonnen- 
magnetismus. Damit  ist  allerdings  erst  eine 
breitere  Grundlage  für  weiteres  Eindringen  ge- 
schaffen,   das    noch    der  Zukunft    vorbehalten    ist. 

A.  Becker. 

Kayser,  E.,  Lehrbuch  der  Geologie.  All- 
gemeine Geologie,  i.  u.  2.  Bd.,  6.  vermehrte  Aufl. 
Stuttgart  192 1,  F.  Enke. 
Vor  nicht  langer  Zeit  erst  wurde  die  fünfte 
Auflage  dieses  umfangreichen  und  allbekannten 
Werkes  hier  besprochen.  Dem  damals  Gesagten 
ist  nicht  viel  nachzutragen.  Das  äußerliche  Ge- 
wand des  „Großen  Kayser"  hat  sich  erheblich 
geändert;  der  ständig  anwachsende  Stoff  gab 
den  Anlaß,  ihn  nun  in  vier  Bänden  erscheinen  zu 
lassen  an  Stelle  der  bisherigen  zwei.  Die  „Allge- 
meine Geologie",  die  jetzt  in  sechster  Auflage  vor- 
liegt, ist  behandelt  im  ersten  Bande,  der  Physio- 
graphische  Geologie  und  Äußere  Dynamik,  und 
im  zweiten  Bande,  der  die  Innere  Dynamik  bringt. 
Der  Umfang  ist  wiederum  angeschwollen,  damit 
auch  der  Preis,  der  nur  für  diese  ersten  beiden 
Bände  schon  über  200  M.  beträgt. 

Verbesserungen  zeigen  der  petrographische  Ab- 
schnitt, der  eine  den  modernen  Anschauungen 
entsprechende  Umarbeitung  erfuhr;  die  geologische 


N.  F.  XXI.  Nr.  II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


159 


Bedeutung  der  Klimate,  Tiefeneruptionen  und  Erd- 
beben wurden  ausführlicher  behandelt;  als  neues 
Kapitel  wurde  die  Bodenbildung  zugefügt. 

Bei  einer  weiteren  Auflage  wäre  zu  erwägen, 
ob  nicht  an  Stelle  der  bei  einigen  Kapiteln  einge- 
streuten Referate  über  neuere  Arbeiten,  die  sich 
nicht  immer  recht  harmonisch  dem  übrigen  Texte 
einfügen,  einheitlich  gegossene  Durcharbeitungen 
nach  umfassenden  Gesichtspunkten  eintreten  sollten. 
Dann  könnten  auch  manche  Ausführungen,  die 
die  moderne  Geologie  überholt  hat,  erbarmungslos 
ausgeschaltet  werden.  Nicht  nur  Fülle  der  Einzel- 
heiten ist  erstrebenswert,  sondern  vor  allem  Hervor- 
hebung der  großen,  für  die  Zukunft  weiterführen- 
den Gedankengänge  in  der  Geologie.         Krenkel. 


Hansen,  Adolf  (f),   Die  Pflanzendecke  der 
Erde.       Eine    allgemeine    Pflanzengeographie. 
Mit    I    Karte    und    24    Abbildungen.      276   S. 
Bibliographisches  Institut    1920. 
Das  Buch  stellt  einen  Auszug  aus  dem  3.  Bande 
des      von     ihm     neubearbeiteten     Kern  ersehen 
„Pflanzenlebens"    dar,    dazu    bestimmt,    die  allge- 
mein interessierende  Pflanzengeographie  in  kurzer 
handlicher  Form    weiteren  Kreisen   von  Bildungs- 
bedürftigen zugänglich  zu  machen. 

In  einem  50  Seiten  umfassenden  einleitenden 
Teil,  der  neu  für  diese  Ausgabe  geschrieben  ist, 
werden  allgemeine  pflanzengeographische  Gesichts- 
punkte in  sehr  anziehender  Weise  erörtert.  Nach 
einem  kurzen  historischen  Abriß  werden  die  Ent- 
stehung der  Flora,  ihre  Veränderungen  im  J^aufe 
der  Zeiten,  ihre  Beeinflussung  durch  den  Boden, 
das  Klima,  den  Menschen  besprochen  —  den  Un- 
kräutern, der  Herkunft  und  Verbreitung  der  Kultur- 
pflanzen ist  ein  besonderes  Kapitel  gewidmet. 

Der  spezielle  Teil  schildert  die  einzelnen 
Florengebiete,  beschreibt  die  ihnen  eigentümlichen 
Verhältnisse,  ihre  Charakierpflanzen,  wobei  die 
anschauliche  Schilderung  von  einer  Anzahl  guter 
Vegetationsbilder  unterstützt  wird.  In  einem 
2  Seiten  umfassenden  Verzeichnis  ist  zum  Schluß 
die  wichtigste  pflanzengeographische  Literatur 
zusammengestellt. 

Einen  kurzen  Abriß  der  Pflanzengeographie 
für  weitere  Kreise  wollte  der  Verf.  schaffen,  diese 
Aufgabe  ist  ihm  glänzend  gelungen.  Ihm  selbst 
war  es  nicht  mehr  vergönnt,  das  Erscheinen  des 
Buches  zu  erleben,  so  hat  denn  G.  Funk  nach 
dem  am  24.  Juli  1920  erfolgten  Tode  Hansens 
die  letzte  Feile  angelegt.  Burret  (Berlin). 


Scherzer,    Hans,     Erd-     und    pflanzenge- 
schichtliche     Wanderungen      durchs 
F' ranken  land.      i.  Teil:     Die    Keuper-    und 
Muschelkalklandschaft.      Mit  zahlreichen  Natur- 
aufnahmen,    Profilen    und    einer    geologischen 
Tabelle.     184  S.     Wunsiedel  1920,  Gg.  Kohler. 
Geb.  42  M. 
Ein  prächtiger  „Naturführer"  durch  die  Keuper- 
und   Muschelkalklandschaft    des   bayrischen    Fran- 
kens, der  allerdings  nur  die  botanischen  und  geo- 


logischen Verhältnisse  berücksichtigt.  Besonders 
eingehend  werden  geschildert  die  Gegend  um 
Nürnberg,  um  Erlangen,  der  Zenn-  und  Bibert- 
grund,  der  Aischgrund,  die  F"rankenhöhe,  der 
Schwanberg  bei  Iphofen,  der  Maingau  (Grett- 
stadter  Wiesen  !),  die  Gegend  um  Rothenburg  o.  T. 
Überall  wird  der  enge  Zusammenhang  zwischen 
geologischer  Unterlage  und  Pflanzenwelt  hervor- 
gehoben. Gut  ausgewählte  Skizzen  von  geologi- 
schen Profilen,  sowie  Naturaufnahmen  ergänzen 
den  flüssig  geschriebenen  Text  aufs  beste.  Dem 
Botaniker,  insbesondere  dem  Pflanzengeographen, 
werden  die  langen,  ausführlichen  Pflanzenlisten 
viel  Freude  machen,  wenn  auch  ab  und  zu  die 
lateinischen  Pflanzennamen  nicht  ganz  korrekt 
wiedergegeben  sind.  Schade  ist,  daß  der  Verf. 
die  wichtigen  Arbeiten  von  Süßenguth  (Ideen 
zur  Pflanzengeographie  Unterfrankens  in  Ber. 
Bayr.  Botan.  Gesellsch.  15  [191 5].  255—294)  und 
E.  Pritzel  (Die  Grettstadter  Wiesen  in  Ber.  d. 
freien  Vereinig,  f.  Pflanzengeogr.  u.  System.  Botanik, 
1919,  83 — lOö)  nicht  benutzt  hat  bzw.  nicht  mehr 
benutzen  konnte.  Hoffentlich  erscheint  der  2.  Teil, 
der  die  jurassischen  und  nachjurassischen  Bildun- 
gen behandeln  soll,  in  nicht  allzu  ferner  Zeit. 

Marzell. 

Cloos,  H.  und  Meister,  E.,  Bau  und  Boden- 
schätze   Osteuropas.      Veröffentlichungen 
des  Osteuropa-Instituts  in  Breslau.   Leipzig  1921, 
B.  G.  Teubner. 
Die  Beschäftigung  mit  der  Geologie  Rußlands 
war  für  den  Geologen,  der  der  russischen  Sprache 
nicht     mächtig     war,    bisher     mit    den     größten 
Schwierigkeiten  verknüpft.    Vieles  aus  der  reichen 
russischen  geologischen  Literatur  mußte  ungenutzt 
bleiben.     Es  ist  deshalb  mit  F"reude  zu  begrüßen, 
daß  in  dem  vorliegenden  Werke  diesem  sehr  fühl- 
baren Mangel  abgeholfen  wird,  das  nicht  nur  Ruß- 
land, sondern  auch  Galizien,  Rumänien  und  Ungarn, 
wenn  diese  letzteren  drei  auch  in  kürzester  Form, 
behandelt. 

Nach  einem  erdgeschichtlichen  Überblick  wer- 
den die  größeren  geologischen  Regionen  (z.  B. 
Finnland,  Donetzgebiet,  Ural,  Kaukas-is)  nach  ihrem 
Bau  und  mit  ihren  Bodenschätzen  an  Erzen,  Kohlen, 
Salz,  Erdöl  dargestellt.  Vor  allem  diese  praktischen 
Angaben  machen  das  Werk  zu  einem  unentbehr- 
lichen Hilfsmittel  für  die  Beschäftigung  mit  den 
geologischen  Verhältnissen  Osteuropas.  Es  zeigt 
so  recht,  wie  reich  an  natürlichen  Hilfsquellen 
gerade  Rußland  ist,  und  welche  Möglichkeiten 
zu  einer  geologischen  und  bergmännischen  Auf- 
schließung hier  noch  vorliegen.  Eine  von 
S.  V.  Bubnoff  bearbeitete  schöne  Strukturenkarte 
von  Osteuropa  ist  beigefügt.  Krenkel. 

Walte,     Wilhelm,      Einstein,     Michelson, 

Newton,    Die    Relativitätstheorie, 

Wahrheit    und    Irrtum.     47   S.     Hamburg 

192 1,  W.  Gente. 

Der  Verf.  bemüht    sich  zu    zeigen,   daß  Ein- 


i6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  1 1 


Steins  Formeln  der  Wirklichkeit  nicht  ent- 
sprechen, daß  man  vielmehr  zu  New tons  Licht- 
theorie zurückkehren  müsse,  da  unsere  Elektronen 
dasselbe  sind,  wie  Newtons  Lichtpartikeln.  Der 
Äther  ist  demnach  nichts  anderes  als  ein  den 
Raum  füllendes  IVleer  von  Elektronen,  deren  Druck 
auch  die  Gravitation  hervorbringt.  Die  von  der 
Sonne  ausgehenden,  die  Erde  treffenden  Elektronen 
üben  aber  keine  solche  Stoßwirkung  aus,  sondern 
werden  in  Wärme  umgesetzt,  so  daß  also  diese 
Erwärmung  der  Erde  die  Erde  an  die  Sonne 
kettet,  indem  nur  die  von  außen  kommenden 
Elektronen  die  Gravitationswirkung  ausüben.  Es 
läßt  sich  auch  so  die  Entstehung  und  Lage  der 
Kometenschweife  erklären.  Es  erscheint  das 
Gravitationsgesetz  in  der  Form,  daß  die  Anziehung 
des  ersten  Körpers  von  der  Masse  des  zweiten 
abhängt.  Hieraus  vermag  der  Verf.  auch  die  Er- 
scheinungen der  Gravitationsfelder  zu  erklären, 
und  zeigt,  daß  diese  in  der  Nähe  glühender  Massen 
besondere  Eigenschaften  haben,  die  sich  z.  B.  in 
der  Bewegung  des  Merkurperihels  äußern.  Das 
Heft  ist  ein  geistvoller  Versuch  zur  Lösung  des 
Äther-  und  Gravitationsproblems  in  einer  dem 
Einst  einschen  entgegengesetzten  Sinne. 

Riem. 


Schwassmann,  Arnold,  Relativitätstheorie 
und  Astronomie.  34  S.  mit  15  Fig.  Ham- 
burg 192 1,  Henri  Grand.  Geh.  4  M. 
^  ^Das  Heft  ist  ein  Sonderabdruck  aus  der  neuen 
24.  Auflage  von  Diesterwegs  populärer 
Himmelskunde  und  behandelt  darum  die  wichtigen 
Beziehungen  der  Theorie  zur  Astronomie,  aus- 
gehend von  der  Deutung  des  Michelsonschen 
Versuches  durch  Loren  tz  und  dem  daraus 
folgenden  Einst  einschen  Prinzip  der  Konstanz 
der  Lichtgeschwindigkeit  in  bewegten  oder  ruhen- 
den Systemen,  und  weiterhin  dem  Äquivalenz- 
prinzip. Die  Darstellung  ist  sehr  klar.  Der  Verf. 
hält  diese  Theorie  für  erwiesen  auf  Grund  der 
Beobachtungen  an  der  Sonnenfinsternis  und  der 
Rotverschiebung,  sowie  der  Perihelbewegung  des 
Merkur,  ein  Material,  das  man  jetzt  anders  be- 
wertet; besonders  die  von  Schwaßmann  ange- 
führten Messungen  von  Grebe  sind  als  falsch 
von  Lenard  und  Glaser  erwiesen.  Sehr  an- 
schaulich sind  die  Darlegungen  des  Einflusses  der 
Rel.  Th.  auf  die  Raumanschauung,  auf  die  Gravi- 
tationslheorie  und  die  Kosmologie,  so  daß  sich 
das  kleine  Heft  sehr  vorteilhaft  von  den  zahllosen 
Arbeiten  anderer  über  dies  Thema  abhebt. 

Riem. 


Anregungen  und  Antworten. 


Homöopathie  und  allgemeine  Physiologie.  In  Heft  44 
der  Naturw.  Wochenschr.  1921  bricht  Herr  Dr.  med.  Tisch - 
ner  eine  Lanze  für  die  wissenschaftliche  Berechtigung  der 
Homöopathie.  Seine  Worte  sind  aber  seitens  der  Physiologie 
nicht  stichhaltig  —  von  Therapie  und  ,, Heilerfolgen"  will  ich 
nicht  reden.  T.  beruft  sich  auf  das  ,, biologische  Grund- 
gesetz", dafl  schwache  Reize  förderlich,  starke  schädlich  wir- 
ken. In  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  es  sich  dann  aber  wohl 
um  die  Häufung  bzw.  die  Übertreibung  der  Wirkung  handeln, 
nicht  um  die  von  der  Homöopathie  behauptete  ,, Umkehr  der 
Wirkung".  Essen  ist  notwendig,  Zuvielessen  ist  ungesund  — 
aber  das  ist  keine  Stütze  iür  den  Grundlehrsatz  der  Homöo- 
pathie. Nach  diesem  müßte  es  kein  besseres  Schlafmittel 
geben  als  Kaffee  oder  Tee  in  äußerster  Verdünnung,  kein 
besseres  Mittel  gegen  die  Wirkungen  des  Alkoholismus  als 
stark  verdünnten  Alkohol.  Die  Physiologie  lehrt  ja  gerade, 
daß  die  Giftwirkung  streng  quantitativ  verläuft:  x  mg 
Gift  töten  I  kg  Lebendgewicht.  Darum  ist  es  im  höchsten 
Grade  zweifelhaft,  ob  die  , .homöopathischen"  Dosen  auf  einen 
Menschen  überhaupt  wirken.  Die  Homöopathie  verwendet 
(ob  heute  noch  ?)  Kochsalz  in  starker  Verdünnung.  Nun 
frage  ich  :  da  der  Mensch  täglich  in  Speisen  und  Getränken 
etliche  Gramm  Chlornatrium  zu  sich  nimmt,  was  soll  es  hel- 
fen, wenn  er  überdies  noch  0,0000001  mg  davon  verschluckt- 
Und  weiter;  I  g  Kochsalz  hat  gar  keine  zu  verspürende  Wir. 
kung  —  wovon  soll  denn  die  ,, homöopathische"  Dosis  das 
Gegenteil  bewirken?  Die  Erfahrungen  der  Bakteriologie  und 
Schutzimpfung  passen  gar  nicht  zum  homöopathischen  Um- 
kehrsatz; denn  auch  die  Wirkung  der  Impfung  ist  quantitativ. 


ebenso  ist  es  bei  Einführung  von  Antiserum,  und  eingeführte 
Bakterien  wirken  im  Körper  nur,  wenn  sie  sich  dort  ver- 
mehren können.  —  Im  Anschluß  daran  möchte  ich  auf  ein 
überaus  gefährliches  Schlagwort  der  Neuzeit  hinweisen: 
die  „(jleichberechtigung  der  Heilmethoden".  Das  klingt  recht 
harmlos,  kommt  aber  praktisch  darauf  hinaus,  den  gewissen- 
haften Arzt,  der  sein  Fach  gründlich  studiert  und  der  ein 
Herz  für  seine  Kranken  hat,  auf  eine  Stufe  zu  stellen  mit  dem 
gewissenlosesten  Kurpfuscher.  Deutschland  ist  z.  Zt.  gesund- 
heitlich nicht  stark  genug,  um  für  solche  Zwecke  als  Ver- 
suchskaninchen zu  dienen!  Wenn  Schiller  mit  seinem 
Wort:  „Verstand  ist  stets  bei  Wenigen  gewesen"  nicht  gar 
so  sehr  recht  hätte,  die  Deutschen  müßten  wie  ein  Mann 
aufstehen  und  verlangen,  daß  nur  d  er  Arzt  sein  darf,  der  das 
Fach  in  ordnungsmäßigem  Unterricht  studiert  hat,  und  sie 
würden  die  ,, Gleichberechtigung  der  Heilmethoden"  zum 
Teufel  jagen.  —  Beiläufig  bemerkt:  auch  in  der  Politik! 
Dr.  phil.  Hugo   Fischer. 


Literatur. 

Zur  Wünschelrutenfrage  I,  herausgegeb.  von  der  preußi- 
schen geologischen  Landesanslalt.     Berlin  '21. 

Wing,  Easton,  Jr.  N.,  The  Billitonites.  Amsterdam  '21, 
Koninklijke  Akademie  van  Wetenschappen. 

Kofoid,  Charles  Atwood  and  Sezy,  Olive,  The  free- 
living  unarmored  Dino  flagellata.  Berkeley  '21,  University  of 
California  Press. 


Inlinit:  St.  MohoroviOii-,  Eine  elementare  Theorie  der  Gravitation.  (2  Abb.)  S.  145.  —  Einzelberlcbte:  15resina, 
Treffsicherheit.  (2  Abb.)  S.  153.  Sprunghafte  Vergrößerung  der  geographischen  Breite.  S.  15Ö.  J.  Behr,  Über  die 
Mächtigkeit  des  nordischen  Inlandeises  in  Schlesien.  S.  157.  E.  Borchers,  Epithelkörperverpflanzung  bei  postopera- 
tiver Tetanie,  S.  157.  —  Bücherbesprecbungen:  A.  Nippoldt,  Erdmagnetismus,  Erdstrom  und  Polarlicht.  S.  158. 
E.  Kayser,  Lehrbuch  der  Geologie.  S.  158.  A.  Hansen  (j),  Die  Pflanzendecke  der  Erde.  S.  159.  H.  Scherzer, 
Erd-  und  pflanzengeschichtliche  Wanderungen  durchs  Frankenland.  S.  159.  H.  Cloos  und  E.  Meister,  Bau  und 
Bodenschätze  Osteuropas.  S.  159.  W.  Walle,  Einstein,  Michelson,  Newton,  Die  Relativitätstheorie,  Wahrheit  und 
Irrtum.  S.  159.  A.  Schwassmann,  Relativitätstheorie  und  Astronomie.  S.  160.  —  Anregungen  und  Antworten: 
Homöopathie  und  allgemeine  Physiologie.  S.   160.  —  Literatur:  Liste.  S.   160. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band: 
der  ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  19.  März  1922. 


Nummer  12. 


Das  Problem  der  Wünschelrute. 

Von  Ferd.  Sehemin/ky,  Wien. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit  2  Abbildungen. 


In  den  letzten  Jahren,  besonders  in  der  Kriegs- 
zeit hat  sich  eine  lebhafte  Diskussion  über  die 
Wünschelrutenfrage  entwickelt.  Die  an  der 
deutschen  und  österreichischen  Front  von  der 
Heeresverwaltung  verwendeten  Rutengänger  haben 
immerhin  eine  ganz  ansehnliche  Zahl  von  Treffern 
aufzuweisen  gehabt,  so  daß  wohl  an  der  Tatsäch- 
lichkeit des  Phänomenes  nicht  mehr  zu  zweifeln 
ist.  Eine  ganz  andere  Frage  aber  ist  die,  ob  es 
zweckmäßig  ist,  bei  Bohrungen  und  ähnlichen 
Anlässen  einen  Rutengänger  zu  Rate  zu  ziehen, 
mit  anderen  Worten,  ob  das  als  tatsächlich  zu- 
gegebene Problem  auch  einer  praktischen  Ver- 
wertung fähig  ist.  Das  theoretische  Problem,  das 
allein  den  Physiologen  interessiert,  kann  ja  be- 
stehen bleiben,  auch  wenn  es  sich  herausstellen 
sollte,  daß  die  Wünschelrute  für  Terrainunter- 
suchungen nicht  brauchbar  ist. 

Unter  Wünschelrutengängern  versteht  man 
bekanntlich  Individuen,  welche  die  merkwürdige 
Eigenschaft  besitzen,  daß  sie  von  unterirdischen 
Substanzen,  wie  Wasser,  Kohle,  Erze,  Erdgas  und 
dergleichen  mehr  in  einer  eigenartigen  Weise  be- 
einflußt werden.  Diese  Beeinflussung  zeigt  sich 
entweder  darin,  daß  gewisse  in  den  Händen  ge- 
tragene und  allgemein  als  Wünschelruten  be- 
zeichnete Apparate  durch  eine  reflexartige  Muskel- 
bewegung eine  Drehung  ausführen  —  die  Wünschel- 
rute schlägt  aus  —  oder  daß  diese  besonders 
sensitiven  Individuen  eine  charakteristische,  meist 
unangenehme  Empfindung  erhalten.  Die  Eigen- 
schaft der  Wünschelrutenfähigkeit  ist  nicht  gerade 
sehr  häufig.  Immerhin  dürften  wohl  4 — 6  Proz. 
zu  brauchen  sein. 

Die  Wünschelrutenfähigkeit  scheint  sich  beim 
gleichen  Individuum  nicht  stets  in  der  gleichen 
Stärke  zu  offenbaren.  So  sehen  wir,  daß  abnorme 
Witterungsverhältnisse,  ja  schon  bedeckter  Himmel, 
Ermüdung,  freudige  und  traurige  Erregungen 
hemmend  einwirken  können.  '  Dies  ist  natürlich 
begreiflich,  da  ja  der  Rutengänger  kein  physika- 
lischer Apparat  ist,  sondern  ein  lebendes  Indi- 
viduum. Die  Tatsache,  daß  der  Rutengänger  von 
unterirdischen  Objekten  beeinflußt  wird,  und  daß 
seine  Empfindsamkeit  von  den  Witterungsverhält- 
nissen abhängig  ist,  zeigt  uns  nun,  daß  wir  das 
Phänomen  bei  den  geopsychischen  Erscheinungen 
einreihen  müssen,  jenen  Erscheinungen  unter 
denen  Hellpach^)  die  psychischen  Wirkungen 
von  Wetter,  Klima  und  Landschaft  versteht. 

Die  einfachste  Form  der  Wünschelrute  ist  eine 
Astgabel,  deren  Zinken  einfach  mit  der  Hand  er- 


griffen werden.  Die  einen  halten  sie  so,  wie  man 
einen  Turnstab  oder  ein  Hantel  erfaßt,  also  von 
oben  her,  andere  umgreifen  die  beiden  Äste  von 
unten,  wieder  andere  halten  sie  bloß  mit  einer 
Hand,  entweder  an  einem  Aste  oder  am  gemein- 
samen Stiele.  Den  gebrechlichen  Holzruten  werden 
oft  nachgeahmte  Formen  aus  Metall  vorgezogen. 
So  zeigt  uns  die  Abb.   i   eine  sog.  Schiingenrute, 


Abb.   I.     Schiingenrute  aus  Metall. 


wie  sie  bei  Wiener  Rutengängern  häufig  im  Ge- 
brauche ist.  Ihre  Dimensionen  sind  meistens  so 
bemessen,  daß  die  Höhe  (b  in  Abb.  i)  etwa  10 
bis  20  cm  beträgt,  die  Breite  hingegen  etwa  15 
bis  25  cm  (a).  Wenn  nun  einzelne  Rutengänger 
angeben,  daß  sie  zum  Aufsuchen  bestimmter  Ob- 
jekte verschiedene,  auf  diese  jeweils  abgestimmte 
Ruten  haben  müssen,  so  stellt  der  unparteiische 
Statistiker  dem  bloß  die  Tatsache  gegenüber,  daß 
es  Rutengänger  gibt,  die  für  die  gleichen  Sub- 
stanzen gerade  die  entgegengesetztesten  Formen, 
Materialien  und  Haltungen  verwenden,  ja,  daß 
viele  auf  spezielle  Wünschelruten  ganz  verzichten, 
und  entweder  stets  mit  dem  gleichen  Instrument 
arbeiten,  oder  erst  an  Ort  und  Stelle  sich  eine 
Rute  vom  nächstbesten  Baume  schneiden,  daß 
endlich  einige  wenige  die  Rute  vollständig  ent- 
behren können,  und  sich  bei  ihren  Mutungen 
lediglich  auf  ihre  subjektiven  Gefühle  verlassen. 
Aus  der  Fülle  der  sich  oft  widersprechenden  An- 
gaben zieht  der  Statistiker  nur  den  Schluß,  daß 
die  F"orm,  das  Material  und  die  Haltung 
der  Wünschelrute  ganz  belanglos  sind. 
Hat  auch  so  mancher  Rutengänger  seine  Lieblings- 
rute, so  leistet  doch  jeder  von  ihnen  das  gleiche 
mit  ihr,  soferne  er  eines  besitzt:  hinreichende 
Wünschelrutenfähigkeit. 

Zwischen  dem  wirkenden  Objekt  und  der 
Reaktion  des  Rutengängers  besteht  nun,  wie  die 
Erfahrung  gelehrt  hat  ein  Zusammenhang,  derart, 

>)  W.  Hell  p  ach,  Die  geopsychischen  Erscheinungen. 
Leipzig    191 ",   2.   Aufl.,   Kngelmann. 


l62 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i^ 


daß  der  Rutengänger  aus  der  Art  seiner  Reaktion 
auf  die  Natur  des  wirkenden  Körperss  schließen 
kann.  Der  Rutengänger  weiß,  ob  er  sich  über 
Wasser,  Kohle,  Kupfer  oder  Eisenerze  befindet. 
Die  Hochempfindlichen,  das  sind  jene,  die  auf  die 
Rutenbewegung  ganz  verzichten,  und  sich  ihren 
Gefühlen  überlassen,  haben  auch  charakteristische 
Empfindungen:  so  spürt  der  eine  über  Wasser 
ein  Stechen  in  den  Schläfen,  der  andere  über 
Kali  krampfartige  Schmerzen  in  der  Magengegend, 
über  Kohle  mehr  Herzschmerzen  und  so  fort.  Es 
sei  von  vornherein  darauf  hingewiesen,  daß  es 
sich  in  den  zuletzt  genannten  Fällen  wahrschein- 
lich auch  nicht  um  eine  direkte  Wirkung  handeln 
wird,  sondern  um  eine  Projektion  allgemeiner 
Empfindungen  in  bestimmte  Körperregionen,  eine 
Erscheinung,  welche  wir  bei  hysterischen  Indi- 
viduen und  anderweitig  erkrankten  Personen 
wiederholt  vorfinden. 

Für  die  Drehung  der  Wünschelrute  sind  noch 
bis  vor  ganz  kurzer  Zeit,  und  in  minder  kritischen 
Köpfen  auch  heute  noch,  die  verschiedensten 
mehr  oder  minder  mystische  Energien  verant- 
wortlich gemacht  worden.  Dank  der  Arbeiten 
von  H  ä  n  e  1 ')  einerseits,  von  P  o  1 1  a  k  -  R  u  d  i  n  -) 
andererseits  wissen  wir  heute,  daß  die  wiederholt 
ausgesprochene  Vermutung,  daß  die  Rutendrehung 
einfach  ein  Ergebnis  der  IVIuskeltätigkeit  des 
Sensitiven  sei,  zu  Recht  besteht.  Wir  werden 
also  sagen,  daß  der  Rutengänger  über  unter- 
irdischen Objekten  unbewußt  seine  Rute  dreht, 
und  daß  diese  Bewegung  ihn  erst  selbst  von  der 
Anwesenheit  der  wirkenden  Substanzen  unter- 
richtet. Diese  Rutendrehung  wird  als  Ausschlag 
bezeichnet. 

Nun  ergeben  sich  für  uns  zwei  wichtige  Fragen : 

1.  Welcher  Natur  ist  die  Fernwirkung,  welche 
die  Objekte  ausüben? 

2.  Welche  Vorgänge  spielen  sich  dabei  im 
Körper  des  Rutengängers  ab  ? 

Zunächst  sei  auf  das  Phänomen  der  Abbildung 
der  Flußläufe  in  den  Wolken  verwiesen,  eine  Tat- 
sache, welche  zur  Erklärung  des  Wünschelruten- 
phänomens zuerst  von  Blacher  herangezogen 
wurde. ^)  Es  wurde  nämlich  von  Astronomen 
wiederholt  die  Beobachtung  gemacht,  daß  an 
windstillen  Tagen  gewisse  Wolkenlücken  direkt 
ein  Spiegelbild  der  darunter  liegenden  Wasser- 
läufe sind.  Man  führt  diese  Erscheinung  darauf 
zurück,  daß  aus  dem  Erdinneren  kurzwellige 
Strahlen,  den  ;■  Strahlen  des  Radiums  ähnlich, 
austreten,  welche  ihrer  großen  Reichweite  wegen 
auch  als  durchdringende  Strahlung  bezeichnet 
werden.  Da  nun  diese  Strahlen  in  der  Luft  Ionen 
erzeugen  und  diese  wiederum  als  Kondensations- 
kerne für    den  Wasserdampf  dienen,    so    wäre    es 

')  Zur  physiologischen  Mechanik  der  Wünschelrute. 
.Schriften  des  deutschen  Verbandes  zur  Klärung  der  Wünschel- 
ruteufrage.     München. 

'')  Uraniavortrag  Wien,   1919. 

')  Zur  Kliirung  des  Problemcs  der  Wünschelrute.  Um- 
schau der  Chcmikerztg.      Cöthcn    1914. 


ganz  verständlich,  wenn  nur  dort  eine  Wolken- 
bildung auftritt,  wo  diese  Strahlen  die  Erdrinde 
ungehindert  verlassen  und  in  die  Lufthülle  ein- 
dringen können.  Nun  wissen  wir  aber,  daß  die 
einzelnen  Körper  diese  Strahlen  nur  in  ganz  ver- 
schiedener Weise  durchlassen.  Wasser  absorbiert 
sie  gänzlich.  Über  Flüssen  müßten  daher  Wolken- 
lücken sein.  Wenn  dieses  Phänomen  der  Ab- 
bildung der  Wasserläufe  trotzdem  nur  selten  rein 
zur  Beobachtung  gelangt,  so  liegt  es  daran,  daß 
ja  die  gebildeten  Wolken  durch  Luftbewegungen 
von  ihrer  Geburtsstätte  weggeführt  werden,  und 
andererseits  die  Luftionen  ja  nicht  die  ausschließ- 
lichen Kondensationskerne  darstellen.  Als  solche 
können  sie  nur  in  absolut  reiner  Luft  wirken,  da 
ja  sonst  sich  auch  die  Staubteilchen  an  dieser 
Aufgabe  beteiligen.  Wenn  wir  nun  die  Annahme 
machen,  daß  der  Rutengänger  auf  solche  durch- 
dringende Strahlen  empfindsam  sei,  und  daß  er 
quantitative  und  qualitative  Änderungen  wahr- 
nehmen kann,  so  haben  wir  eine  ganz  plausible 
und  brauchbare  Arbeitshypothese  gewonnen,  die 
auch  noch  durch  andere  Tatsachen  gestützt  wird. 
Es  ist  ja  bereits  früher  darauf  hingewiesen  worden, 
daß  der  Rutengänger  auch  die  chemische  Natur 
der  unterirdischen  Körper  feststellen  kann.  Es 
ist  nun  interessant,  daß  diese  durchdringenden 
Strahlen  von  den  verschiedensten  Körpern  in 
ihrer  Wellenlänge  verändert  werden,  wenn  sie  den 
Körper  auf  ihrem  Wege  zur  Erdoberfläche  durch- 
dringen müssen.  Es  treten  nämlich  Sekundär- 
strahlen auf,  welche  den  charakteristischen  Stempel 
des  durchdrungenen  Objektes  in  ihrer  Wellenlänge 
aufgeprägt  haben.  Mosely  hat  auf  Grund  dieser 
Tatsache  im  Jahre  1914  die  Elemente  nach  diesen 
Atomspektren  neu  gruppiert.  Wir  hätten  also  in 
dieser  zweiten  Tatsache  auch  eine  Möglichkeit, 
uns  das  Erkennen  der  chemischen  Natur  des  Ob- 
jektes seitens  des  Rutengängers  zu  erklären. 

Aber  auch  eine  Reihe  anderer  Feststellungen 
spricht  zugunsten  dieser  Hypothese.  So  hat 
Ambronn')  vergleichende  Feststellungen  über 
Wünschelrutenreaktionspunkte  und  sonstigen  phy- 
sikalischen Änderungen  gemacht.  Es  hat  sich 
dabei  gezeigt,  daß  die  Rutenreaktionen  immer  an 
geologisch  merkwürdigen  Punkten  auftreten  und 
daß  an  solchen  Stellen  auch  die  radioaktiven 
Zustandsgrößen  eine  ausgiebige  Veränderung  er- 
fahren. Trägt  man  beides  untereinander  in  gra- 
phischer Form  auf,  so  erhält  man  in  den  beider- 
seitigen Schwankungen  eine  sehr  schöne  Überein- 
stimmung. Auch  das  würde  auf  die  Strahlungs- 
hypothese hinweisen. 

Vor  ganz  kurzer  Zeit  sind  nun  von  H  a  s  c  h  e  k  -) 
im  II.  physikalischen  Institut  der  Wiener  Uni- 
versität eine  Reihe  interessanter  Versuche  mit 
dem  Rutengänger  Waagen,  Chefgeologe  der 
Geologischen  Reichsanstalt  zu  Wien  durchgeführt 

')  Objektives  von  der  Wünschelrute.  Die  Umschau,  1920, 
Heft   13. 

-)  Kin  Beitrag  zur  physikalischen  Erklärung  des  Wünschel- 
rutenproblems.    Die  Naturwissenschaften,   1921,   Heft  51. 


N.  F.  XXI.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


163 


worden.  Die  mit  den  nötigen  Kontrollmaßnahmen 
versehenen  Experimente  zeigten,  daß  der  Ruten- 
gänger auf  Änderungen  des  elektrischen  Feldes 
der  Erde  reagiert.  Dort  wo  die  Stromlinien  ver- 
dichtet würden,  trete  die  Reaktion  ein;  das  ist 
aber  nur  dort  der  Fall,  wo  in  einem  Gebiete 
schl'echterer  Leitfähigkeit  ein  besserer  Leiter  ein- 
geschlossen ist.  Auch  diese  Angaben  würden  mit 
den  Befunden  von  Ambron n  übereinstimmen, 
da  ja  die  radioaktiven  Zustandsgrößen  mit  dem 
elektrischen  Verhalten  des  betreffenden  Erdpunktes 
in  einem  innigen  Zusammenhange  stehen. 

Es  ist  auch  interessant,  daß  die  eigentliche 
Rutenreaktion  schon  vor  den  Grenzen  des  wirken- 
den Körpers  erfolgt.  Die  beigegebene  Abb.  2 
soll  dies  illustrieren.  A  B  sei  eine  unterirdische 
Wassermenge.  Die  Linie  C  A'  B'  D  stelle  den 
Erdboden  vor.  Der  Rutengänger  gehe  in  der 
Richtung  des  Pfeiles  von  links  nach  rechts.  Die 
Rute  befinde  sich  in  der  Höhe  der  Linie  i,  2,  3, 
...  8,  und  die  Zahlen  mögen  verschiedene  Mo- 
mente der  Begehung  darstellen,  mit  den  jeweiligen 


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Abb.  2.     Schema  zur  Wünschelrutenreaklion. 


Momentphotographien  der  Rutendrehung.  Bei  i 
ist  die  Rute  noch  horizontal,  d.  h.  sie  ist  noch 
in  der  Ausgangsstellung,  der  Rutengänger  hat 
noch  keine  Reaktion  erhalten.  Bei  2  kommt  er 
bereits  in  den  Wirkungsbereich  des  Wassers,  die 
Rute  beginnt  ihre  Aufwärtsdrehung.  Diese  schreitet 
fort,  eine  Mittelstellung  ist  3  und  endlich  bleibt 
sie  stehen.  Nun  weiß  der  Rutengänger,  daß  er 
über  der  Grenze  des  Objektes  steht.  Die  Rute 
hat  dabei  eine  Drehung  von  90"  gemacht;  aus 
der  Größe  dieses  Winkels  schließt  der  Sensitive, 
daß  er  z.  B.  über  Wasser  ist.  Die  vertikale 
Stellung  wird  von  der  Rute  so  lange  beibehalten, 
d.  h.  der  Rutengänger  hält  die  Rute  so  lange  ruhig, 
bis  er  wieder  aus  dem  Bereich  des  Wassers  kommt. 
Erst  dort,  in  unserer  Figur  Punkt  5  beginnt  wieder 
die  Bewegung. 

Es  sei  im  Anhange  erwähnt,  daß  der  Ruten- 
gänger auch  Tiefenangaben  machen  kann.  Diese 
beruhen   vielfach   darauf,   daß   der  Schwellenwert 


der  Erregung  bei  einer  bestimmten  Einfallsrichtung 
der  Strahlen  —  etwa  bei  60 "  —  liegen  dürfte, 
wie  eine  Reihe  gelungener  und  richtiger  Be- 
stimmungen zu  zeigen  scheinen.  Dadurch  kann 
die  Entfernung,  die  vom  Beginn  der  Ruten- 
reaktion bis  zu  ihrer  Vollendung  durchschritten 
wurde,  zu  der  Tiefe  in  eine  bestimmte  Relation 
gesetzt  werden.  Wir  sehen  auch  hier  theoretisch 
noch  nicht  ganz  klar,  wenn  auch  die  Tatsachen 
nicht  mehr  geleugnet  werden  können. 

Den  Ausschlag,  welchen  die  Rutengänger  über 
den  unterirdischen  Objekten  erhalten,  nennt  man 
auch  natürlichen  Ausschlag,  im  Gegensatze 
zum  suggestiven,  der  auftritt,  wenn  sich  der 
Rutengänger  einbildet  über  einem  solchen  zu  sein. 
Dieser  suggestive  Ausschlag  tritt  gerne  bei  minder 
geübten  und  sehr  unkritischen  Rutengängern  auf. 
Und  diese  Erscheinung  lenkt  unsere  Aufmerksam- 
keit auf  die  psychischen  Einflüsse  hin.  Suggestive 
Einflüsse  sind  es  auch,  welche  dem  Rutengänger 
ein  bestimmtes  Material,  eine  bestimmte  Ruten- 
form und  eine  bestimmte  Haltung  vorschreiben. 
_  Wenn  er  glaubt,   nur   mit   einer  Holz- 

g  rute,    an   der   eine    Kugel    hängt,    und 

-•-— 0--        nur  bei  Haltung  im  Untergriff  Wasser 
■  zu  finden,  so  wird   er  auf  dieses  nicht 

reagieren,  wenn  er  sie  anders  erfaßt, 
oder  die  Kugel  fehlt.  Und  so  wie  eine 
Hysterische  unter  dem  Einflüsse  ihrer 
Suggestionen  die  unglaublichsten  Krank- 
heitserscheinungen produziert,  so  kann 
auch  der  Rutengänger  allerlei  aufführen, 
wenn  er  einer  entsprechenden  Vorstel- 
lung gegenübersteht. 

Wir  haben  früher  festgestellt,  daß  es 
unter    der  Einwirkung   der  Substanzen 
beim  Rutengänger  zu   einer  charakte- 
ristischen     Muskelbewegung     kommt. 
Die  Verknüpfung  des  unbewußt  bleiben- 
den   Reizes  mit   der  Muskelbewegung 
ist   schon   ein  psychischer   Akt.     Dies 
erkennen  wir   daraus,   daß   der   Sensi- 
tive   nicht    alle    Substanzen    erkennen    kann,  son- 
dern   nur    solche,    über    denen    er    geübt.       Mit 
anderen    Worten :     soll     ein     Rutengänger     zum 
Wassersucher  ausgebildet  werden,  so  muß  er  vor- 
her   öfters    über  Wasser    gegangen   sein  und  den 
Ausschlag  probiert    haben.     Die    wiederholte  Be- 
einflussung hat  endlich  in  irgendwelchen  Nerven- 
zellen   eine    Veränderung   zurückgelassen    —    ein 
Engramm  im  Sinne  S  e  m  o  n  s  —  welches  zusam- 
men mit    dem  Bilde    der   Muskelbewegung  fixiert 
wird.     Kommt   der   so   vorbereitete  Rutengänger 
neuerlich  über  Wasser,    tritt  also  ein  für   ihn  be- 
reits bekannter  Reiz  auf,   so  tritt   auch    die  zuge- 
ordnete   Muskelbewegung    in    Erscheinung.      Ob 
diese  das  erstemal  zufällig  bestimmt  war,    oder 
aber  eine  bewußte  oder  unbewußte  Nachahmung 
der  Bewegung  anderer  war,    mag  wohl  in  jedem 
einzelnen  Fall   speziell    zu  untersuchen  sein.     Übt 
sich  der  Sensitive  so  auf  verschiedene  Substanzen 
ein,    so    wird    er    sie    im    Terrain    unterscheiden 


i64 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   12 


können.  Und  so  wie  etwa  ein  Hund  dressiert 
werden  kann  auf  einen  bestimmten  Ton  durch 
einen  Reifen  zu  springen,  auf  einen  anderen  aber 
eine  Leiter  zu  ersteigen,  so  dressiert  sich  der 
Rutengänger  durch  Übung  auf  verschiedene,  aller- 
dings meist  unbewußt  bleibende  Reize  mit  ver- 
schiedenen Bewegungen  zu  antworten. 

Da  nun  diese  mit  dem  Reiz  in  keinem  ursäch- 
lichen Zusammenhang  stehen,  sondern  mit  diesem 
nur  durch  Assoziation  künstlich  verknüpft  erschei- 
nen, so  wird  es  uns  verständlich,  daß  die  Drehung 
auch  realisiert  werden  kann,  wenn  der  Original- 
reiz fehlt.  Wird  eben  durch  die  Erwartung  das 
Engramm  ekphoriert,  so  kommt  auch  die  Zu- 
ordnung zum  Vorschein. 

Eine  weitere  Stütze  dieser  Auffassung  ist  es, 
daß  der  Ausschlag  in  seiner  Größe  willkürlich 
geändert  werden  kann.  Wenn  der  Sensitive  sich 
vornimmt,  bei  Wassernähe  eine  andere  Bewegung 
auszuführen,  die  frühere  dafür  zu  unterlassen,  und 
dieses  über  Wasser  einübt,  so  kommt  eine  neue 
Assoziation  zustande,  welche  dazu  führt,  daß  in 
Hinkunft  nur  mehr  die  neue  Bewegung  realisiert 
wird. 

Gerade  aber  die  psychischen  Komponenten 
zeigen  uns  Fehlerquellen,  die  in  der  Praxis  schwer 
zu  meiden  sind.  Und  die  Tatsachen  bestätigen 
diese  Skepsis.  Speziell  die  im  vergangenen  Jahre 
vom    internationalen   Verein    der   Wünschelruten- 


forscher in  Bad  Pyrmont  veranstaltete  Tagung 
hat  für  die  Rutenverwendung  ein  Fiasko  ergeben. 
Es  gibt  bestimmt  einzelne  sehr  verläßliche  Ruten- 
gänger, aber  im  allgemeinen  können  wir  schließen, 
daß  die  Rutenfrage  wohl  ein  den  Theoretiker, 
nicht  aber  den  Praktiker  interessierendes  Gebiet 
darstellt. 

Rekapitulieren  wir,  was  wir  momentan  von 
der  Wünschelrute  eigentlich  wissen,  so  ergibt  sich 
herzlich  wenig.  Es  existieren  einzelne 
Individuen,  welche  von  unterirdischen 
Objekten  in  einer  eigenartigen  W eise 
beeinflußt  werden.  Diese  Tatsache  ist 
uns  heute  nicht  mehr  wunderbar.  Hat 
uns  doch  die  Forschung  der  letzten 
Jahre  gezeigt,  daß  unser  Leben  viel 
mehr  unter  dem  Einfluß  von  Wetter, 
Klima  und  Boden  steht,  als  wir  es  bis 
jetzt  glauben  wollten.  Diese  Beein- 
flussung äußert  sich  in  einer  assoziativ 
verknüpften  Muskelbewegung,  oder 
bei  Hochsensitiven  in  einer  Empfin- 
dung. Ein  Ausschlag  kann  aber  auch 
durch  Suggestion  seitens  des  Ruten- 
gängers entstehen  und  dieser  sugges- 
tive Ausschlag  bildet  eine  der  schwer- 
sten Fehlerquellen  für  die  Praxis.  Die 
Natur,  die  Art,  und  der  Ort  der  Beein- 
flussung des  Rutengängers  ist  aber 
noch  unbekannt. 


Über  «las  Vorkonnnen  von  Trypauosonieu  bei  unsereu  heiinischeu   Wirbeltiereu  und  etwas 
über  ihre  Kultur  auf  küustliclien  Nährböden. 

Von  cand.  zool.  Otto  Nleschlllz. 
Mit  4  Abbildungen. 


Fast  allgemein  trifft  man,  vielfach  auch  in 
zoologischen  Kreisen,  auf  die  Ansicht,  daß  die 
Trypanosomen  fast  ausschließlich  Blutparasiten 
tropischer  und  subtropischer  Tiere  sind  und  bei 
uns  nur  ganz  ausnahmsweise  auftreten.  Für  die 
pathogenen,  wirtschaftlich  wichtigen  Arten  (Er- 
reger der  Schlafkrankheit,  Ngana,  Surra,  des  Mal 
de  Caderas  usw.)  trifft  dies  zwar  zu,  aber  neben 
diesen  findet  man  noch  nicht- pathogene  Vertreter 
der  Gattung  auch  bei  unseren  Wirbeltieren  in 
weiter  Verbreitung.  Auf  das  Vorkommen  dieser 
interessanten  Parasiten  in  unserer  Heimat  auf- 
merksam zu  machen  und  etwas  über  die  neueren 
Ergebnisse  der  Züchtung  mitzuteilen,  soll  der 
Zweck  dieser  Zeilen  sein. 

Aus  Deutschland  selbst  liegen  bisher  nur  wenige 
Beobachtungen  über  Trypanosomen  vor,  aus  anderen 
europäischen  Ländern  teilweise  erheblich  mehr. 
Aber  auch  unter  Berücksichtigung  dieser  Befunde 
läßt  sich  nur  ein  sehr  lückenhaftes  Bild  von  ihrer 
wirklichen  Verbreitung  gewinnen,  da  noch  kaum 
systematische  Untersuchungen  an  einem  größeren 
Material  unternommen  sind,  sondern  es  sich  meist 
nur  um  Gelegcnheitsbeobachtungen  handelt.  Immer- 


hin werden  auch  schon  die  angeführten  Beispiele 
zeigen,  daß  bei  uns  diese  Parasiten  recht  häufig 
vorkommen. 

Wie  bereits  erwähnt,  sind  die  pathogenen 
Trypanosomen  meist  auf  die  wärmeren  Gegenden 
beschränkt.  Die  einzige  Ausnahme  bildet  das 
'l^rypaiiosonia  r(j/iipcniin/i  Doflein,  der  Er- 
reger der  Beschälseuche  oder  Dourine  der  Pferde. 
Durch  die  großen  Pferdeverschiebungen  der  Kriegs- 
und Nachkriegszeit  wurde  diese  Krankheit  auch 
in  unsere  Heimat  und  einige  Nachbarländer  ver- 
schleppt, wo  sie  zurzeit  glücklicherweise  nur 
regional  verbreitet  ist.  Da  die  Übertragung  nur 
durch  den  Koitus  ohne  Vermittlung  eines  Zwischen- 
wirts geschieht,  so  läßt  sich  die  Seuche,  wenn  sie 
richtig  erkannt  ist,  durch  Ausschluß  der  erkrankten 
Tiere  von  der  Zucht  verhältnismäßig  leicht  unter- 
drücken. 

Die  nicht-pathogenen  Trypanosomen  treten  im 
Blut  ihrer  Wirte  nie  in  solcher  Menge  auf  wie 
die  pathogenen  Arten,  meist  lassen  sie  sich  über- 
haupt nur  schwer  nachweisen.  Im  Nativpräparat 
kann  man  die  lebenden  I'^lagellaten  durch  ihre 
schlängelnde  Bewegung   und   die  Unruhe,  die  sie 


N.  F.  XXI.  Nr.  i: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschritt. 


165 


unter  den  Blutkörperchen  hervorrufen,  noch  ver- 
hältnismäßig leicht  erkennen;  man  muß  aber  trotz- 
dem häufig  eine  ganze  Anzahl  Präparate  durch- 
sehen, bevor  man  einen  Parasiten  zu  Gesichte 
bekommt.  Gewöhnliche  Blutausstriche,  bei  denen 
ein  Tropfen  Blut  in  dünner  Schicht  auf  einen 
ganzen  Objektträger  verteilt  wird,  sind  bei  der 
Suche  nach  Trypanosomen  im  allgemeinen  recht 
ungeeignet,  während  bei  der  sog.  Dickentropfen- 
methode, nach  welcher  man  einen  großen  Tropfen 
Blut  einfach  auf  einem  Objektträger  gut  antrocknen 
läßt  und  das  Hämoglobin  der  Blutkörperchen  vor 
dem  Färben  mit  destilliertem  Wasser  auszieht,  die 
Wahrscheinlichkeit,  Parasiten  zu  finden,  natürlich 
bedeutend  größer  ist.  Die  günstigsten  Erfolge 
werden  zweifelsohne  erzielt,  indem  man  ähnlich 
wie  in  der  Bakteriologie  von  dem  Blute  auf  ge- 
eigneten Nährböden  Kulturen  anlegt;  doch  hier- 
von unten  Näheres. 

Von  unseren  Haustieren  sind  mit  nicht- patho- 
genen  Trypanosomen  Rind  und  Schaf  recht  häufig 
infiziert,  dieses  mit  dem  Trypaiivsoina  uiclophagium 
Flu,  jenes  mit  T.  tJicikri  Bruce;  von  den 
kleinen  Säugern  besonders  die  Nagetiere  und  unter 
diesen  vor  allem  die  Haus-  und  Wanderratten  — 
mit  Tryp.  Icnusi  Kent  — ,  bei  denen  sie  fast 
überall  und  meist  in  beträchtlicher  Anzahl  vor- 
kommen. Ferner  sind  als  Wirtstiere  bekannt  ge- 
worden: Feld-  und  Waldmäuse,  Garten-  und  Sieben- 
schläfer, Hamster,  Kaninchen,  Ziesel,  dann  noch 
Dachs  und  Maulwurf  und  schließlich  verschiedene 
Fledermausarten. 

Die  Vögel  scheinen  noch  häufiger  infiziert  zu 
sein  als  die  Säugetiere.  Über  1 50  Arten  sind  bis- 
lang als  Wirtstiere  bekannt,  aber  trotzdem  stellt 
diese  Zahl  sicher  nur  einen  kleinen  Prozentsatz 
der  wirklich  infizierten  Vögel  dar,  wie  sich  schon 
daraus  ersehen  läßt,  daß  von  neun  Vogelarten, 
bei  denen  ich  während  eines  Studienaufenthaltes  auf 
der  Biologischen  Anstalt  Helgoland  diese  Parasiten 
fand,  sechs  als  Trypanosomenträger  noch  nicht 
bekannt  waren  (Nieschulz,  O.,  Tijdschr.  v. 
Diergeneeskd.,  Bd.  48,   1921). 

Unter  den  Vögeln  hat  man  bei  den  Sängern 
die  meisten  Trypanosomen  gefunden,  in  Europa  bis- 
her bei  etwa  40  Arten.  So  bei  einer  Anzahl  F"inken, 
Drosseln,  Rotschwänzen,  Rotkehlchen,  Würgern, 
Meisen,  Bachstelzen,  Grasmücken,  Fliegenfängern, 
Schwalben,  Zaunkönig,  Steinschmätzer,  Sperling, 
Häher,  Rabe  u.  a.  m.  Aus  anderen  Ordnungen 
z.  B.  ferner  noch  bei  Eulen,  Falken,  bei  der  Nacht- 
schwalbe, dem  Wiedehopf  und  der  Schnepfe.  Im 
Blut  unseres  Hausgeflügels  hat  man  noch  keine 
Trypanosomen  angetroffen,  obwohl  sie  in  tro- 
pischen Gegenden    mehrfach  beobachtet    wurden. 

Unsere  heimischen  Reptilien  haben  sich,  wie 
bereits  erwähnt,  bis  jetzt  noch  als  trypanosomen- 
frei  erwiesen.  Bei  ihnen  ist  allerdings  auch  in 
den  Tropen  nur  vereinzelt  eine  Infektion  vorge- 
funden worden. 

Von  den  Amphibien  findet  man  beim  braunen 
Grasfrosch  seltener,   beim    grünen  Grasfrosch  fast 


immer  Trypanosomen.  In  manchen  Gegenden 
ist  es  überhaupt  kaum  möglich,  von  diesem 
parasitenfreie  Exemplare  für  Infektionsversuche 
zu  erlangen.  Sonst  hat  man  noch  beim  Laub- 
frosch —  in  Portugal  —  Trypanosomen  nachge- 
wiesen. 

Die  Fische  endlich  beherbergen  wieder  recht 
häufig  Trypanosomen.  Diese  sind  im  Gegensatz 
zu  denen  der  Vögel  und  mancher  Säugetiere 
wegen  ihrer  verhältnismäßig  großen  Anzahl  im 
Blut  im  allgemeinen  leicht  aufzufinden. 

Bei  Untersuchungen  im  Hamburger  Hafen  fand 
ich  dort  ungefähr  die  Hälfte  der  Flußbarsche,  die 
meisten  Aale,  eine  Anzahl  Flundern  und  zwei  von 
drei  Hechten  infiziert.  Außer  diesen  sind  noch  als 
Trypanosomenträger  bekannt  geworden  :  Karpfen, 
Goldfisch,  Karausche,  Schleie,  verschiedene  Weiß- 
fische, Schlammpeitzger,  Bartgrundel,  Quappe  u.  a.  m. 

Aus  Meeresfischen  sind  ebenfalls  zahlreiche 
Trypanosomen  beschrieben  worden.  Merkwürdiger- 
weise habe  ich  auf  Helgoland  bei  einem  großen 
Material  von  Pleuronektiden,  Rochen  und  Haien, 
das  mir  dort  zur  Verfügung  stand  und  bei  denen 
sonst  recht  häufig  Trypanosomen  gefunden  sind, 
kein  einziges  infiziertes  Exemplar  angetroffen. 

Bereits  oben  ist  schon  darauf  hingewiesen,  daß 
sich  die  Trypanosomen,  ähnlich  wie  es  von  den 
Bakterien  bekannt  ist,  auf  künstlichen  Nährböden 
leicht  züchten  lassen.  Dies  gilt  jedoch  nur  für 
die  nicht-pathogenen  Arten,  während  man  bei 
den  pathogenen  Formen  hierbei  auf  große 
Schwierigkeiten  stößt.  Immerhin  liegen  auch  für 
diese  schon  einige  günstige  Resultate  vor. 

Als  Nährmedium  benutzt  man  zunächst  meist 
entweder  sog.  Blutbouillon,  ein  Gemisch  von  etwa 
gleichen  Teilen  einer  Nährbouillon  und  defibri- 
nierten  Blutes,  oder  Blutschrägagarkulturen,  bei 
denen  zu  der  Nährbouillon  noch  ungefähr  2  Proz. 
Agar-Agar  hinzugefügt  sind.  Um  den  Agar  zu 
lösen,  wird  dieser  letzte  Nährboden,  bevor  man 
das  Blut  dazu  gießt,  erwärmt.  Das  Ganze  läßt 
man  dann  in  schräger  Schicht  in  einem  Reagenz- 
glas erstarren  und  wartet  mit  dem  Impfen,  bis 
sich  reichlich  Kondenswasser  ausgeschieden  hat. 
Hierin  wachsen  dann  die  Trypanosomen.  Bei 
den  Blutbouillonkulturen  vermehren  sich  die 
Flagellaten  auf  der  Oberfläche  der  Blutkörperchen- 
schicht und  zwar  so  schnell,  daß  man  sie  bereits 
nach  einer  Woche  vielfach  schon  makroskopisch 
als  feinen,  weißlichen  Belag  erkennen  kann. 

Nöller  gebührt  der  Verdienst,  durch  Ein- 
führen des  sog.  Plattenverfahrens  die  Züchtungs- 
technik erheblich  vervoUkomnuiet  zu  haben 
(Nöller,  W.,  Arch.  für  Schiffs-  und  Trop.-Hyg. 
Bd.  21,  1917).  Er  verwandte  einen  festen  Nähr- 
boden von  ähnlicher  Zusammensetzung  wie  bei 
den  erwähnten  Blutschrägagarkulturen,  mit  wel- 
chem der  Boden  einer  hohen  Petrischale  bedeckt 
wird,  während  in  die  Deckelschale,  nachdem  das 
Gefäß  natürlich  vorher  umgekehrt  ist,  eine  Subli- 
matlösung gegossen  wird ,  welche  die  Kultur 
gegen  Verdunsten  schützt   und    zugleich    ein  Ein- 


166 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  12 


dringen  von  Keimen  verhindert.  Auf  der  Unter- 
fläche des  Nährmediums  wird  eine  dünne  Schicht 
Kondenswasser  ausgeschieden ,  in  der  die  Trypa- 
nosomen günstige  Wachstumsbedingungen  vor- 
finden. Wenn  man  für  ein  rechtzeitiges  Über- 
impfen  der  allmählich  degenerierenden  Kultur  auf 
eine  neue  Platte  sorgt,  kann  man  die  Trypano- 
somen auf  diese  Weise  unbegrenzt  halten;  ich 
selbst  züchte  einige  Stämme  so  schon  beinahe 
zwei  Jahre  lang  fort. 

Wenn  man  die  Trypanosomenmasse  in  Form 
eines  geraden  Striches  auf  die  Kulturplatte  auf- 
trägt, so  sieht  man  bei  vielen  Arten  bald  Aus- 
läufer von  dieser  Mittellinie  hervortreten,  die,  da 
ihre  Gestalt   konstant    ist,    für    die    systematische 


Abbildungen  die  IVIannigfaltigkeit  der  Wachstums- 
formen demonstrieren. 

Manche  Trypanosomen  wachsen  überhaupt 
ohne  jede  Ausläuferbildung,  so  z.  B.  das  aus  dem 
Frosch  und  vom  Hühnerhabicht  (Stamm  Mayer). 
Auch  einige  Fischtrypanosomen ,  deren  Platten- 
kultur mir  bei  Verwendung  einer  leichten  Modi- 
fikation des  Po n  seileschen  Nährbodens  ge- 
lungen ist,  bilden  keine  Ausläufer. 

Die  Ausläufer  selbst  können  nun  ihrerseits 
beim  Rindertrypanosom  {'fryp.  fkdkri)  beispiels- 
weise sehr  fein,  dichtstehend  und  verhältnismäßig 
kurz  sein  (Abb.  i),  beim  Kreuzschnabeltrypanosom 
(Stamm  Nöller)  sind  sie  auch  kurz,  dafür  aber 
ganz    plump.      Das    Singdrossel-    und    das    Ring- 


Abb.    I. 

Kultur  des    Tyypanosoina  theikri. 

-';',-,  nat.  Gr.     Orig. 


Abb.  2. 
Kultur  des  Kreuzschnabeltrypanosomas. 
%  nat.  Gr.     Nach  Nieschulz  (1921). 


Abb.  3. 

Kultur   des  Singdrosseltrypanosomas. 

'-/.;  nat.   Gr.     Nach  Nieschulz  (1921), 


Abb.  4.     Kultur  des  Kingdrossellrypanosomas. 
-/.r,  nat.  Gr.     Nach  Nieschulz  (1921). 

Unterscheidung  verschiedener  Spezies  von  großer 
Bedeutung  sind  und  dies  um  so  mehr,  als  mor- 
phologische Unterschiede  nur  selten  vorhanden 
sind.  An  anderer  Stelle  habe  ich  dies  für  einige 
Vogeltrypanosomen  dargelegt  (Arch.  f.  Protisten- 
kunde;  im  Druck),  hier  möchte  ich  nur  ^n  einigen 


drosseltrypanosom  (Abb.  3  und  4)  zeigen  lange 
schlanke  Ausläufer  in  verschiedener  Gestalt. 

Nöller  hat  bereits  von  der  Wachstumsform 
Gebrauch  gemacht,  um  zwei  Trypanosomen  zu 
identifizieren.  Es  gelang  ihm  nämlich,  aus  Ta- 
baiii/s  glaiicopis  ein  IVypanosom  zu  züchten, 
dessen  Kulturform  der  des  nicht  -  pathogenen 
Rindertrypanosoms  völlig  glich.  Hieraus  folgerte 
er,  daß  die  Tabanide  der  Überträger  des  Para- 
siten sei,  ein  Schluß,  der  um  so  berechtigter  war, 
als  die  beiden  Flagellaten  auch  morphologisch  in 
der  für  das  Iryp.  tlicilcri  typischen  knöpfchen- 
förmigen  Verdickung  des  freien  (jeißelendes  über- 
einstimmten. 

Ich  habe  hier  nur  die  Bedeutung  des  Plattcn- 
züchtungsverfahrens  für  die  Trypanosomensyste- 
matik  hervorgehoben.  Durch  die  Möglichkeit,  reine 
P'lagellatensubstanz  fast  ohne  Beimengung  von 
Sera  zu  gewinnen,  wird  ihm  eine  große  vielseitige 
Bedeutung  zukommen.  Doch  hierüber  liegen  bis- 
lang noch  kaum  Untersuchungen  vor. 


Bücherbesprechungen. 


Laue,  Dr.  M.  v.,  Die  Relativitätstheorie. 
2.  Band,  276  S.  Braunschweig  1921,  Fr.  Vie- 
weg  &  Sohn.  Preis  geb.  23  M.  und  Tcucrungs- 
zuschlag. 


Dieser  zweite  Band  behandelt  die  all  ge- 
rn eineRelativitätstheorie  und  Einsteins 
Lehre  von  der  Schwerkraft.  Er  will  eine 
streng  wissenschaftliche  Darstellung    des   Themas 


N.  F.  XXI.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


167 


vom  Standpunkte  des  Physikers  aus  geben, 
denn  der  Verf.  glaubt  mit  Recht,  daß  nur  dieser 
die  Schwierigkeiten  ganz  nachempfinden  kann, 
die  die  große  Mehrzahl  seiner  Fachgenossen  zur- 
zeit noch  von  der  allgemeinen  Relativitätstheorie 
fernhält.  Besonderer  Wert  ist  auf  die  Zusammen- 
stellung der  mathematischen  Hilfsmittel  gelegt, 
da  die  Ursache  für  die  zögernde  Haltung  der 
Physiker  vor  allem  in  der  ungenügenden  Bekannt- 
schaft mit  nichteuklidischer  Geometrie  und  der 
zugehörigen  Tensorrechnung  erblickt  wird.  Sollte 
sie  aber  nicht  viel  mehr  in  der  unzureichen- 
den Begründung  der  dem  normalen  Denken  zu- 
widerlaufenden Prinzipien  und  Postulate  Ein- 
steins, insbesondere  seiner  allzu  kühnen  Deutung 
des  Michelsonschen  Versuchs  zu  suchen  sein? 
Was  v.  Laue  an  einer  Stelle  über  Gerber  sagt 
(der  bekanntlich  die  auch  von  Einstein  benutzte 
Formel  für  die  Perihelbewegung  des  IVIerkurs  be- 
reits lange  vorher  aufgestellt  hat),  daß  nämlich 
„die  physikalischen  Vorstellungen,  mit  denen 
Gerber  seinen  Potentialansatz  begründen  will, 
soweit  sie  nicht  überhaupt  gänzlich  verschwom- 
men sind,  vollständig  falsch  angewandt  sind",  ist 
ein  Urteil,  das  der  Physiker  m.  E.  vor  allem  über 
Einstein  selbst  fällen  müßte.  Denn  die  sog. 
allgemeine  Relativitätstheorie  Einsteins  ist 
durchaus  nicht  als  systematische  Weiterentwick- 
lung der  speziellen  Relativitätstheorie  aufzufassen. 
Sie  bedeutet  vielmehr  die  Erkenntnis  der  Un- 
durchführbarkeit  der  letzteren  und  einen  Rückzug 
ins  Unfaßbare  und  Verschwommene.  —  Sehr  ge- 
ring denkt  v.  Laue  über  die  älteren  mechani- 
schen Deutungen  der  Schwere.  „Seit  freilich  die 
Relativitätstheorie  uns  gelehrt  hat,  daß  der  leere 
Raum  von  allem  Substantiellen,  auch  vom  „Äther", 
völlig  frei  ist,  müssen  alle  diese  mechanischen 
Theorien  als  überholt  gelten."  Wie  ein  Physiker 
so  etwas  schreiben  kann,  ist  mir  nicht  recht  faß- 
lich. In  Wirklichkeit  ist  der  Zusammenhang  doch 
wohl  ein  gänzlich  anderer.  Die  Relativitätstheorie, 
namentlich  das  etwas  voreilig  aufgestellte  „Prinzip 
von  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  relativ 
zu  beliebig  bewegten  Beobachtern",  das  lediglich 
mathematisch,  aber  nicht  physikalisch  denkbar  ist, 
war  allerdings  mit  dem  Äther  nicht  vereinbar. 
Da  der  substantielle  Charakter  des  „leeren" 
Raumes  sich  aber  doch  in  allerlei  Kraftwirkungen 
offenbarte,   die   sich  nicht  gut  wegleugnen  ließen 

—  man  denke  nur  an  den  Versuch  von  Sagnac 

—  führte  Einstein  das  Schwerkraft  -  Trägheits- 
feld ein.  Hierbei  scheint  ihm  nun  allerdings  eine 
wirklich  wertvolle  Entdeckung  gelungen  zu  sein, 
die  jedoch  im  Grunde  mit  der  Relativität  nichts 
zu  tun  hat  und  die  die  etwas  dunkle  Bezeichnung 
des  „Äquivalenzprinzips"  erhalten  hat.  „Es  ist 
dieselbe  Eigenschaft  der  Körper,  welche  sich  ent- 
weder als  Trägheit  oder  als  Schwere  äußert." 
Dieser  Satz  enthält  einen  gewiß  recht  wertvollen 
Gedanken,  der  aber  mit  der  Relativität  nichts  zu 
tun  hat.  Wenn  v.  Laue  nun  weiter  sagt :  „Darin 
besteht    Einsteins    Lösung  für  das  „Rätsel  von 


der  Schwerkraft",  so  erkennt  man  darin  doch 
wohl  eine  allzu  große  formalistische  Genügsam- 
keit. Mir  scheint  die  Ein  st  einsehe  Idee  über- 
haupt erst  fruchtbar  zu  werden,  wenn  man  sie 
nicht  aus  abstrakten,  relativistischen  Ideen  über 
Beobachterstandpunkt  und  Betrachtungsart  ab- 
leitet, sondern  anschaulich  aus  der  verachteten 
Ätherwirbeltheorie  deutet.  Die  Masse  als  Zentrum 
einer  wirbelartigen  Ätherströmung  kann  man  dann 
nämlich  als  einen  in  den  Fluß  des  Äthers  einge- 
schalteten Widerstand  auffassen.  Ist  nun  die 
Schwere  (wie  ich  auf  dem  Jenaer  Physikertage 
näher  ausgeführt  habe,  vgl.  die  Physikalische 
Zeitschrift  1921,  S.  636)  eine  irgendwie  geartete 
Strömung  im  Äther,  so  wird  sie  durch  den  Wider- 
stand der  Masse  merkbar;  umgekehrt  ist  bei  Be- 
wegung der  Masse  der  Ätherwiderstand  als  Träg- 
heitswiderstand fühlbar.  Trägheit  und  Schwere 
haben  also  tatsächlich  die  gleiche  Ursache:  den 
Widerstand  der  Masse  im  Äther.  So  vermag 
gerade  der  von  v.  Laue  verachtete  substantielle 
Äther  das  neue  Prinzip  Einsteins  anschaulich 
zu  deuten.  Man  erkennt  auch,  warum  die  neue 
Schwerkrafttheorie  Einstein  etwas  aus  der  Ver- 
legenheit helfen  konnte.  Er  hatte  in  der  spezi- 
ellen Relativitätstheorie  den  Äther  einfach  ver- 
gessen und  konnte  ihn  nun  unter  dem  Namen 
„Schwerkraft-Trägheitsfeld"  wieder  einführen,  ohne 
einen  Fehler  eingestehen  zu  müssen.  Die  neue 
Schwerkrafttheorie  Einsteins  scheint  sich  dabei 
an  die  Äthertheorie  viel  besser  anschließen  zu 
lassen,  als  die  alte  Schwerkrafttheorie  New- 
tons, die  der  Äthervorstellung  geradezu  wider- 
spricht; sie  scheint  Newton  gegenüber  also 
vielleicht  einen  Fortschritt  zu  enthalten.  Nur 
die  falschen  Grundpostulate  der  beschränkten 
Relativitätstheorie  hindern  Einstein  noch  an 
der  Anerkennung  des  substantiellen  Äthers.  — 

In  dieser  Weise  müßte  ein  Physiker  m.  E. 
Einsteins  Schwerkrafttheorie  behandeln.  In 
der  Darstellung  v.  Laues  dagegen  vermag  ich 
nichts  Physikalisches  zu  erkennen.  Der  Physiker 
hat  vor  dem  Mathematiker  und  F"ormalisten  die 
Waffen  gestreckt.  Ich  vermute  daher,  daß  der 
Verf.  mit  diesem  Werke  sein  Ziel,  die  noch 
zögernden  Physiker  der  Relativitätstheorie  zu  ge- 
winnen, nicht  erreichen  wird.  Fricke. 

Lehmann,  Ernst,  Experimentelle  Abstam- 
mungs-    und   Vererbungslehre.      Zweite 
Auflage.    1 22  S.  mit  27  Abb.  im  Text.  (379.  Band 
der   Sammlung    „Aus  Natur   und   Geisteswelt".) 
Leipzig  und  Berlin   192 1,  B.  G.  Teubner. 
Lehmanns     vor    dem    Kriege    erschienene 
kleineEinführung  in  die  experimentelle  Vererbungs- 
lehre liegt    in  zweiter  Auflage  vor.     Die  großen, 
in  den   letzten  Jahren  trotz   des  Krieges  auf  dem 
Gebiete  erzielten  Fortschritte  bringen  es  mit  sich, 
daß    das  Büchlein    in  völlig    neuem  Gewände    er- 
scheint.     Auf  wenig  mehr  als   100  Seiten  das  im 
Titel  genannte  umfangreiche  Thema  in  allgemein 
verständlicher  Form    zur  Darstellung    zu   bringen, 


i68 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  12 


ist  nicht  leicht.  IVIan  darf  behaupten,  daß  es  dem 
Verf.  treffHch  gelungen  ist.  Das  Büchlein  kann 
als  erste  Einführung  bestens  empfohlen  werden. 
In  einer  leicht  faßlichen,  sehr  ansprechenden  Form 
werden  wir  in  großen  Zügen  mit  der  modernen 
Genetik  bekannt  gemacht^  Daß  der  Verf.  fast 
immer  da,  wo  eine  Frage  besonders  interessant 
wird,  die  Darstellung  abbrechen  muß,  ist  bei  dem 
beschränkten  zur  Verfügung  stehenden  Räume 
nicht  anders  möglich.  Das  Gebiet  ist  heute  be- 
reits so  umfangreich,  daß  es  sich  wohl  verlohnen 
würde,  einzelne  Teilgebiete,  wie  z.  B.  den  Mechanis- 
mus der  Vererbung  oder  die  Bestimmung  des 
Geschlechtes,  in  der  viel  gelesenen  Sammlung 
gesondert  zu  behandeln.  Mancher,  der  Leh- 
manns Büchlein  zur  ersten  Einführung  benutzt 
hat,  wird  freilich,  davon  bin  ich  überzeugt,  gleich 
zu  einem  unserer  bewährten  Lehrbücher,  zu  dem 
von  B a u  r  oder  Goldschmidt,  greifen,  um  sich 
mit  den  fesselnden  Problemen  weiter  zu  be- 
schäftigen. Nachtsheim. 

Wien.  W.,  Die  Relativitätstheorie  vom 
Standpunkte  derPhysik  undErkennt- 
nis lehre.  Vortrag  gehalten  im  Verwaltungs- 
gebäude der  P'irma  Siemens  u.  Halske,  Siemens- 
stadt. 36  S.  Leipzig  192 1,  Johann  Ambrosius 
Barth.  6  M. 
Das  Buch  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  dafür, 
daß  die  Kritik  an  der  Relativitätstheorie  auch  in 
den  führenden  Kreisen  der  F'achphysiker  immer 
weitere  Fortschritte  macht.  So  wendet  sich  der 
Verf.  u.  a.  gegen  die  voreilige  Abschaffung  des 
Äthers.  „Der  Äther,  welcher  als  Träger  der 
elektromagnetischen  Wellen  zu  gelten  hatte,  er- 
scheint ausgeschaltet.  Es  sollen  sich  abstrakte 
Größen,  wie  elektrische  oder  magnetische  Kräfte 
mit  Lichtgeschwindigkeit  im  Räume  fortbewegen. 
Es  scheint  mir  sehr  fraglich,  ob  hiermit  das  letzte 
Wort  gesprochen  wurde.  Die  Neigung,  den  Äther 
wieder  einzuführen,  ist  durch  die  Theorie  der 
Strahlung  wieder  wachgerufen.  Ist  aber  einmal 
der  Äther  wieder  da,  so  werden  die  Zweifel,  ob 
nicht  doch  eine  Bewegung  relativ  zu  ihm  eine 
physikalische  Bedeutung  hat ,  nicht  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen  sein."  Die  Bedenken  des 
Verf.s  richten  sich  allerdings  zunächst  haupt- 
sächlich gegen  die  allgemeine  Relativitätstheorie, 
während  die  spezielle  Relativitätstheorie  noch 
wohlwollend  besprochen  wird.  Auf  einem  ähn- 
lichen Standpunkt  befand  sich  auch  ursprünglich 
Lenard;  er  hat  ihn  jedoch  neuerdings  zugunsten 
einer  völligen  Zurückweisung  der  Relativitäts- 
theorie  aufgegeben.      In    der  Tat  scheint  mir  der 


Grundgedanke  Einsteins  mit  der  Äthervor- 
stellung nicht  vereinbar.  Vielleicht  nimmt  der 
Verf.  in  einer  späteren  Auflage  seines  Buches  zu 
dieser    Kernfrage    noch    etwas    schärfer    Stellung. 

Fricke. 

Warburg,  Prof.  Dr.  O.,  Die  Pflanzenwelt. 
3.  Bd.  Mit  10  farbigen,  18  schwarzen  Tafeln 
und  278  Textabbildungen.  Leipzig  1922,  Biblio- 
graphisches Institut. 
Mit  diesem  Bande  hat  Warburg  sein  Werk 
beendet.  Er  enthält  den  Rest  der  Dikotyledonen, 
von  den  Myrtifloren  bis  zu  den  Kampanulaten, 
und  die  Monokotylen.  Die  systematischen  Zu- 
sammenhänge sind  überall  durch  knappe  Kenn- 
zeichnungen der  Reihen  und  Familien  hervorge- 
hoben. Innerhalb  der  Familien  sind,  meist  wieder- 
um nach  ihren  Unterabteilungen  gesondert,  die 
wichtigsten  Gattungen  herausgehoben  und  an 
wichtigen  Arten  charakterisiert.  Dabei  ist  für  die 
Auswahl  das  allgemeine  Interesse  in  biologischer, 
pflanzengeographischer  und  vor  allem  wirtschaft- 
licher Hinsicht  maßgebend  gewesen.  Eine  große 
Zahl  von  Bildern,  die  die  vegetativen  Teile,  den 
Blüten-  und  Fruchtbau  und  die  Samen  wieder- 
geben, sowie  zahlreiche  Habitusdarstellungen  und 
Standortsaufnahmen,  darunter  prächtige  farbige, 
unterstützen  das  eingehende  Studium  und  ergän- 
zen den  Text.  Das  Werk,  das  nunmehr  fertig 
vorliegt,  reiht  sich  würdig  an  die  übrigen  allbe- 
kannten Sammelwerke  des  Verlages  an  und  ist 
auf  das  wärmste  zu  begrüßen,  da  es  die  einzige, 
für  einen  großen  gebildeten  Leserkreis  berechnete 
Schilderung  der  gesamten  Pflanzenwelt  ist. 

Miehe. 


Rusch,   F.,    Himmelsbeobachtungen    mit 
bloßem    Auge.      2.    Aufl.    mit    30   Textabb. 
und  einer  Sternkarte.    Leipzig  und  Berlin  1921, 
B.  G.  Teubner.     20  M. 
Die  F'reunde    der  Astronomie,    die    keine  Ge- 
legenheit haben,  den  gestirnten  Himmel  mit  einem 
guten  Instrument  zu  studieren    —   und  das  ist  ja 
die  große  Mehrzahl  — ,  finden  in  diesem  Büchlein 
eine    Anleitung,    wie    man    die    Sternenwelt    mit 
bloßem  Auge  beobachten  kann.     Der  Verf.  führt 
dabei  auf  bequemem  Wege  —  nur  die  mathema- 
tischen Kenntnisse  eines  Primaners  werden  voraus- 
gesetzt —  in  die  Himmelskunde  überhaupt  hinein 
und    gibt    namentlich    eine  Vorstellung    von    den 
Methoden    der    Astronomie.      Gute    Abbildungen 
und  eine  Sternkarte  erhöhen  den  Wert  des  faßlich 
und  anziehend  geschriebenen  Buches.         Miehe. 


Inhalt:  r.  ScheminsUy,  Das  Problem  der  Wünschelrute.  (2  Abb.)  S.  161.  O.  Nieschulz,  Über  das  Vorkommen  von 
Tryp.^nosomcn  bei  unseren  heimischen  Wirbeltieren  und  etwas  über  ihre  Kultur  auf  künstlichen  Nährböden.  (4  Abb.) 
S.  164.  —  BUcberbesprecbungen :  M.  v.  Laue,  Die  Relativitätstheorie.  S.  166.  E.  Lehmann,  Experimentelle  Ab- 
stammungs-  und  Vererbungslehre.  S.  167.  W.  Wien,  Die  Relativitätstheorie  vom  Standpunkte  der  Physik  und  Er- 
bcnntnislehre.  S.  168.  O.  Warburg,  Die  Pflanzenwelt.  S.  168.  F.  Rusch,  Himmelsbeobachtungen  mit  bloßem 
Auge.  S.    16S. 

Manuskripti-   und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21 
der  ganzen  Reihe 


Band; 
37.  Band. 


Sonntag,  den  26.  März  1922. 


Nummer  13» 


[Nachdruck  verboten.; 


Zur  Klärung  des  Ätherproblems. 

Von  Dr.  phil.  H.  Fricke. 
Mit  I   Abbildung. 


Der  große  Streit  um  die  sog.  Relativitäts- 
theorie Einsteins  hat  in  immer  weiteren  Kreisen 
das  Interesse  für  das  Problem  des  Weltäthers 
erweckt.  Einstein  wollte  diesen  bekanntlich 
kurzerhand  abschaffen,  ist  dabei  aber  doch  auf 
einen  allmählich  stärker  werdenden  Widerstand 
gestoßen.  Die  Schwierigkeiten  der  alten  Äther- 
theorie, die  in  der  Einsteinliteratur  meist  in 
sehr  einseitiger  Weise  übertrieben  dargestellt 
werden,  haben  mich  nun  bereits  vor  17  Jahren  auf 
einen  neuen  Weg  zur  Behandlung  des  Problems 
geführt,  der  sich  bisher  aufs  beste  bewährt  hat 
und  überall  den  einfachsten  Überlegungen  des 
gesunden  Menschenverstandes  entspricht.  Nach- 
dem ich  auf  dem  Physikertage  in  Jena  1921  einen 
für  engere  Fachkreise  bestimmten  Überblick  über 
meine  Arbeiten  gegeben  habe  (Physikalische  Zeit- 
schrift 192 1,  S.  6361—639),  sollen  hier  die  ein- 
fachen leitenden  Gedanken  in  ganz  allgemeinver- 
ständlicher Form  kurz  dargelegt  und  ein  bisher 
noch  wenig  beachteter  aber  allgemein  gangbarer 
Weg  zur  Lösung  des  Problems  vom  Weltäther 
gezeigt  werden. 

Um  eine  Reihe  von  physikalischen  Erschei- 
nungen, wie  Licht,  elektrische  und  magnetische 
Fernkräfte  zu  erklären,  hat  man  bekanntlich  die 
Annahme  gemacht,  auch  der  scheinbar  leere  Raum 
sei  mit  einer  wirksamen  Substanz,  die  man  den 
„Äther"  nannte,  erfüllt.  Diese  Substanz  tritt  uns 
also  bald  fühlbar  als  „Kraftfeld",  bald  unfühlbar 
als  „leerer  Raum"  entgegen,  und  dieser  Umstand 
war  die  Veranlassung  dafür,  daß  man  dem  Äther 
in  der  Theorie  widersprechende  Eigenschaften 
gab.  Man  führte  zwar  den  Äther  als  Substanz 
—  etwa  als  Flüssigkeit,  gelegentlich  auch  als 
elastischen  festen  Körper  —  in  die  Physik  ein, 
behauptete  aber  von  ihm,  er  müsse  „reibungslos" 
sein,  denn  er  setze  den  Bewegungen  der  Massen 
im  Räume  keinen  Widerstand  entgegen.  Auf 
dieser  Annahme  beruht  ja  bekanntlich  die  New- 
tonsche  Himmelsmechanik.  Der  Äther  sollte 
also  gleichzeitig  Substanz  und  leerer  Raum,  Stoff 
und  unfühlbares  Nichts  sein.  Darin  aber  steckt 
von  vorne  herein  ein  Widerspruch,  an  dem  die 
Physik  seit  den  Tagen  Newtons  krankt. 

Man  muß  also  die  Frage  aufwerfen,  ob  man 
nicht  mit  einer  der  beiden  Eigenschaften  für  den 
Äther  auskommen  kann.  Nun  liest  man  allge- 
mein, selbst  bei  den  Vorkämpfern  der  Äihertheorie, 
man  dürfe  dem  Äther  natürlich  nicht  die  gewöhn- 
lichen Eigenschaften  eines  Stoffes  zuschreiben. 
Aber  gerade   hier   scheint   die  Quelle   aller  Miß- 


verständnisse zu  liegen.  Der  Äther  zeigt  nämlich 
offenbar  alle  Eigenschaften  einer  ganz  gewöhn- 
lichen Substanz,  besonders  diejenigen  einer  nor- 
malen Flüssigkeit  mit  innerer  Reibung.  Man 
braucht  nur  einmal  die  Veranschaulichung  der 
magnetischen  Kraftlinie  um  einen  elektrischen 
Strom  zu  betrachten  (jeder  Magnet  ist  ja  ein 
Wirbel  elektrischer  Kraft),  wie  es  die  Abbildung 
zeigt,  um  zu  erkennen,  daß  der  geheimnisvolle 
Zusammenhang  zwischen  „elektrischer"  und  „mag- 
netischer" Kraft,  der  angeblich  jeder  mechanischen 
Deutung  spottet  und  dessen  Verständnis  sich  nur 
dem  Mathematiker  mit  Hilfe  der  „Maxwell- 
Lorentzschen  Grundgleichungen"  erschließen 
soll,  offenbar  nichts  anderes  ist,  als  die  allgemein 
bei  Flüssigkeiten  bekannte  innere  Reibung,  Zähig- 
keit oder  Viskosität.  Denn  man  kann  die  zur 
Veranschaulichung    der     magnetischen    Kraftlinie 


Magnetische  Kraftlinie  um  einen  elektrischen  Strom. 
(Nach  Ebert.) 


verwendete  Figur  mit  gleichem  Recht  auch  zur 
Veranschaulichung  von  Rauchringen  oder  von 
Wellenkreisen  um  einen  ins  Wasser  fallenden 
Stein  benutzen.  In  der  Tat  hat  Maxwell  seine 
Gleichungen  ursprünglich  vermittels  eines  aus 
lauter  Friktionsrädern,  also  Reibungskuppelungen, 
bestehenden  Modells  abgeleitet.  Die  mathematische 
Physik  hat  diese  einfachen  Zusammenhänge  jedoch 
verdunkelt,  da  ihr  nichts  unsympathischer  ist,  als 
die  Beschäftigung  mit  der  Reibung.  Diese  wird 
gewohnheitsmäßig  vernachlässigt,  obgleich  in  ihr 
im  Grunde  nichts  anderes  als  der  stoffliche  Zu- 
sammenhang, die  Kontinuität,  der  Widerstand  der 
Substanz,  also  allgemein  die  Eigenschaft  des 
„Substantiellen"    zum    Ausdruck    kommt.      Nicht 


170 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XXI.  Nr.    13 


ganz  mit  Unrecht  meint  R  i  e  d  1  e  r  (Wirklichkeits- 
blinde; Berlin  1919):  „Richtige  Erkenntnis  der 
Reibung  muß  in  ein  Urbrachfeld  eindringen, 
das  seit  IVIenschengedenken  kein  Forscher  betreten 
hat.  Die  Physiker  betreten  dieses  Riesenfeld  über- 
haupt nicht,  weil  ihnen  der  schwankende,  ver- 
änderliche Boden  nicht  paßt,  der  mit  ihren  ver- 
meintlich „strengen"  Verfahren  unfruchtbar  scheint." 

Neuerdings  hat  aber  doch  ein  Theoretiker  das 
Problem  in  der  hier  angedeuteten  Weise  in  An- 
griff genommen.  Fr.  Sla-te  (California  Univer- 
sity)  hat  in  den  Philos.  Mag.  1920  und  1921  eine 
Reihe  von  Untersuchungen  veröffentlicht.  Er 
zeigt  darin  (vgl.  auch  Phys.  Ber.  1921),  daß  ein 
weitgehender  Parallelismus  besteht  zwischen  den 
Gleichungen  der  Elektronentheorie  von  Loren tz 
und  der  Relativitätstheorie  einerseits  und  den 
Gleichungen  der  klassischen  Mechanik,  nach  wel- 
chen die  Bewegung  einer  Masse  unter  dem  Ein- 
fluß einer  konstanten  äußeren  Kraft  und  einer  dem 
Quadrat  der  Geschwindigkeit  proportionalen 
Reibungskraft  erfolgt.  Hier  sind  also  die 
Grundlagen  einer  Reibungstheorie  des  Elektro- 
magnetismus gegeben.  Bemerkenswert  ist,  daß 
die  quadratische  Funktion  der  Geschwindigkeit 
sowohl  bei  der  Flüssigkeitsreibung  wie  bei  der 
Trägheitsenergie  auftritt. 

Außer  der  Reibung  muß  man  dem  Äther  aber 
noch  eine  zweite  Eigenschaft  zuschreiben,  die  die 
Grundlage  zum  Verständnis  der  ganzen  Physik 
bildet,  nämlich  eine  innere  ewige,  unzerstörbare 
Eigenbewegung.  Diese  Bewegung  ist  nur  zu  einem 
Teil  fühlbar  und  sichtbar,  zum  größten  Teil  ver- 
läuft sie  unsichtbar  in  feinen  und  feinsten  Wirbel- 
bildungen. Fortwährend  verwandelt  sich  sicht- 
bare Bewegung  in  unsichtbare,  grobe  in  feine, 
und  umgekehrt  unsichtbare  in  sichtbare  zurück. 
Newton  lehrte,  die  Ursache  der  Bewegung  sei 
die  „Kraft";  jetzt  sehen  wir,  daß  die  Bewegung 
offenbar  nur  ihre  Form  ändert,  die  Kraft  nicht 
die  „Ursache"  der  Bewegung  an  sich  sein  kann. 
Wir  können  uns  den  Raum  stetig  mit  dem  dem 
fließenden  Wasser  vergleichbaren  Äther  erfüllt 
denken,  die  gröberen  Strömungsfiguren  mit  ver- 
wickelter atomistischer  Struktur  erscheinen  uns 
dann  als  Stoff  und  Materie,  die  feineren  bei  ober- 
flächlicher Betrachtung  zunächst  als  leerer  Raum. 
Das  ist  die  berühmte  Ätherwirbeltheorie  des 
Lord  Kelvin,  dargestellt  u.  a.  in  dem  Buche 
von  Lodge,  der  Weltäther  (Braunschweig  191 1), 
hier  aber  noch  mit  einer  wesentlichen  Erweiterung. 
Indem  man  nämlich  die  allen  physikalischen  Er- 
scheinungen zugrunde  liegende  Ätherbewegung 
als  unveränderlich  betrachtet,  gelangt  man  zu 
einer  viel  einfacheren  Ätherkinematik,  als  bei  An- 
wendung der  Newtonschen  Mechanik,  in  der 
die  Bewegungsgröße  noch  für  veränderlich  ge- 
halten wird.  I3as  einfachste  ist  offenbar,  einem 
jeden  punktförmigen  Teilchen  des  Äthers  die 
gleiche  absolute  Eigenbewegung,  die  von  der 
Größenordnung  der  Lichtgeschwindigkeit  sein  muß, 
zuzuschreiben,  und  man  erhält  so  eine  Anschauung, 


aus  der  man  alle  diejenigen  Erscheinungen  ab- 
leiten kann,  zu  deren  Begründung  Einstein  das 
logisch  unhaltbare  Gesetz  von  der  Konstanz  der 
Lichtgeschwindigkeit  relativ  zu  beliebig  bewegten 
Beobachtern  und  Minkowski  das  vierdimensio- 
nale  Raumzeitkontinuum  erfunden  hat.  Daß  es 
sich  bei  dem  Gedanken,  die  Physik  aus  einer 
gleichartigen  unzerstörbaren  und  unveränderlichen 
Urbewegung  des  Äthers  oder  aller  Raumpunkte 
abzuleiten,  um  einen  gangbaren  Weg  handelt, 
zeigt  eine  neue  Arbeit  O.  Wieners  über  „Das 
Grundgesetz  der  Natur  und  die  Erhaltung  der 
absoluten  Geschwindigkeiten  im  Äther",  die  kürz- 
lich in  den  „Abhandlungen  der  sächs.  Akademie 
d.  Wissenschaften"  Bd.  38,  H.  4  erschienen  ist.  — 
Eine  sehr  interessante  und  ausbaufähige  anschau- 
liche Ableitung  der  elektromagnetischen  Erschei- 
nungen aus  der  Ätherwirbeltheorie  hat  neuerdings 
C.  Westphal  in  einer  kleinen  Schrift  „Wirbel- 
kristall und  elektromagnetischer  Mechanismus", 
Braunschweig  1921,  gegeben. 

Wir  schreiben  der  Ursubstanz  der  Welt  also 
zwei  Eigenschaften  zu.  Erstens  soll  sie  eine 
ewige  unzerstörbare  innere  Bewegung  be- 
sitzen, also  die  kinetische  Energie  eines  jeden 
Raumpunktes  soll  konstant  bleiben.  Zweitens 
soll  sie  einen  inneren  Zusammenhang,  eine  Art 
Zähigkeit,  Viskosität  oder  innere  Reibung  be- 
sitzen. Wie  hier  im  einzelnen  nicht  weiter  aus- 
geführt werden  kann  (ich  verweise  zur  eingehen- 
den Begründung  auf  meine  älteren,  vor  allem  die 
bei  Heckner  in  Wolfenbüttel  erschienenen  Ar- 
beiten über  Äther  und  Schwerkraft,  besprochen 
u.  a.  in  dieser  Zeitschrift,  Jahrg.  1920,  S.  158), 
genügen  diese  beiden  Grundannahmen  tatsäch- 
lich, ein  anschauliches  Bild  der  ganzen  Äther- 
physik einschließlich  der  als  Ätherwirbel  aufge- 
faßten wägbaren  Atome  und  Substanzen  zu  geben. 
Es  scheint  aber  in  der  ganzen  theoretischen 
Physik  das  Vorurteil  zu  bestehen,  Reibung  und 
Erhaltung  der  Geschwindigkeit  seien  nicht  mit- 
einander vereinbar.  Und  doch  lehrt  schon  das 
Energieprinzip  das  Gegenteil.  Wir  beobachten 
allerdings,  daß  beispielsweise  beim  Bremsen 
durch  Reibung  Bewegung  großer  sichtbarer  Kör- 
per verzögert  oder  vernichtet  wird.  Wir  wissen 
aber  längst,  daß  in  demselben  Umfang  die  innere 
Bewegung  der  Atome  wächst.  Wenn  also  die 
Reibung  eine  Eigenschaft  der  ewig  bewegten 
Weltsubstanz  ist,  so  bedeutet  das  nichts  weiter, 
als  daß  diese  Bewegung  ständig  ihre  Form  wech- 
selt. Haben  sich  also  größere  sichtbare  Strömungs- 
figuren, Wirbel  od.  dgl.  gebildet,  so  werden  diese 
sich  allmählich  in  immer  feinere  Bewegungs- 
formen auflösen,  die  sich  nach  allen  Seiten  im 
Räume  ausbreiten  oder  wie  man  sagt  „ausge- 
strahlt" werden.  Das  ergibt  dann  die  allmähliche 
Entwertung  der  Energie,  die  die  Entropielehre 
behauptet,  und  die  wir  auch  tatsächlich  in  vielen 
Fällen  beobachten  können.  Wenn  nun  aber  der 
Äther  wirklich  eine  kontinuierliche  Substanz  mit 
überall  unveränderlicher  Bewegung   ist,  so  ergibt 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


171 


sich  ganz  von  selbst,  daß  diese  Entwicklung  nicht 
so  einseitig  vor  sich  gehen  kann,  wie  es  meist 
dargestellt  wird.  In  demselben  Maße,  wie  die 
Strömungsfiguren  zerfließen,  müssen  sich  auch 
wieder  neue  bilden.  Diese  energiesammelnden, 
aufbauenden  Kräfte  oder  Ätherströmungen  sind 
im  physikalischen  Weltbilde  bisher  unbeachtet 
geblieben.  Nun  scheint  aber  die  Schwerkraft 
nichts  weiter  zu  sein,  als  eine  feine  durchdringende 
Ätherströmung,  die  an  einzelnen  Stellen  im  Räume 
zusammenfließt  und  dort  scheinbare  Quellpunkte, 
die  Massen,  bildet.  Sowohl  die  atomistische 
Schwerkraftlehre  des  Le  Sage  wie  auch  die  An- 
schauung des  gerade  von  den  Relativitätstheore- 
tikern besonders  geschätzten  Mathematikers  R  i  e  - 
mann  stimmen  mit  dieser  Auffassung  überein. 
Man  erhält  so  das  Weltbild  nicht  als  reibungslose 
Bewegung  von  unwandelbaren,  ewigen  Massen, 
sondern  als  ein  fortgesetztes  Entstehen,  Umwan- 
deln und  Vergehen  von  Strömungsgebilden,  die 
uns  als  Massen  erscheinen.  Wir  beobachten  einen 
ewigen  Kreislauf  der  Dinge,  bei  dem  das  Einzelne 
vergeht,  das  Ganze  aber  bleibt.  Diese  Anschau- 
ung knüpft  die  Physik  der  Materie  in  viel  natür- 
licherer Weise  an  die  Lebenserscheinungen  an, 
als  die  alte  mechanistische  Auffassung.  Aber  auch 
die  unhaltbare  Lehre  von  der  fortwährenden  Er- 
kaltung aller  Gestirne  findet  endlich  ihre  Wider- 
legung. Schon  1869  hatte  Leray  die  Konstanz 
der  Sonnenwärme  aus  der  Schwerkrafttheorie  des 
Le  Sage  abgeleitet.  Neuerdings  ist  auch  E.  Wi e^- 
chert  auf  dem  Potsdamer  Astionomentage  für 
eine  Erwärmung  der  Massen  durch  den  Äther 
eingetreten  (Vierteljahrsschrift  der  Astronomen- 
Gesellschaft,  1921,  S.  187 — 191).  Er  nimmt  an, 
daß  die  Gestirne  mit  zunehmender  Masse  nicht 
kälter,  sondern  immer  heißer  werden,  nach  ihm 
erfolgt  die  Entwicklung  der  Weltkörper  gerade 
im  umgekehrten  Sinne,  als  wie  man  bisher  an- 
nahm. 

Die  „Kräfte"  sind  also  nicht  die  Ursachen 
eines  Entstehens  und  Vergehens,  sondern  nur  der 
Umformung  der  Bewegungen.  Es  gibt  im 
Grunde  nur  noch  eine  formende  und  zerstörende 
Kraft,  die  sich  aus  dem  „Zusammenhange"  des 
Weltganzen,  aus  seiner  „inneren  Reibung"  ergibt. 
Daß  die  magnetischen  Kräfte  als  Reibung  zu 
deuten  sind,  war  schon  erwähnt.  Aber  auch  die 
Trägheit  kann  als  Reibungswiderstand  des  Äthers 
gedeutet  werden.  Geht  man  zum  hinteren  Aus- 
gang eines  Straßenbahnwagens,  während  dieser 
seine  Bewegung  verzögert,  so  hat  man  deutlich 
das  Gefühl,  sich  durch  ein  widerstehendes  Mittel 
zu  bewegen  —  oder  der  Schwerkraft  entgegen, 
„bergauf"  zu  gehen.  Denn  auch  die  Schwerkraft 
läßt  sich  ohne  weiteres  als  eine  feine,  sehr  durch- 
dringende Strömung  im  Äther  auffassen,  die  uns 
durch  eine  Art  von  Reibung  mitzureißen ,  gegen 
die  Erde  zu  pressen  sucht.  So  lassen  sich  alle 
Kraftlinien  in  Strömungslinien  des  zusammen- 
hängenden Äthers  auflösen,  alle  Kraftfelder  wer- 
den Ätherströmungs-  und  Wirbelfelder. 


Die  Quelle  aller  Mißverständnisse  ist  aber  die 
Idee  der  Theoretiker,  der  Vorgang  der  Reibung 
sei  mit  dem  der  ewigen  Bewegung  nicht  verein- 
bar, obgleich  wir  beide  Erscheinungen  doch  un- 
mittelbar in  der  Natur  beobachten,  und  ihre  Ver- 
bindung auch  der  Vorstellung  bei  näherer  Über- 
legung keine  Schwierigkeit  bereitet. 

Die  Wissenschaft  des  18.  Jahrhunderts  hat 
uns,  auf  Newton  fußend,  die  seltsame  Welt- 
anschauung des  Materialismus  beschert,  die  die 
Welt  als  ein  reibungsloses  mechanisches  Uhrwerk, 
von  Trägheit  und  Schwere  gelenkt,  auffaßt.  Un- 
veränderlich sollen  die  Massen  sein,  deren  uner- 
bittliche Gesetze  die  Welt  regieren  und  sich  in 
mathematische  Formeln  fassen  lassen.  Für  Geist 
und  Leben  war  kein  Raum  mehr  in  der  Welt. 
Jetzt  sehen  wir,  daß  jene  Anschauung  von  der 
Materie  und  ihren  mechanischen  Gesetzen  nur 
als  ein  erster  Versuch  zu  bewerten  ist.  Den 
leeren,  reibungslosen  Raum,  auf  dessen  Vorhan- 
densein die  mathematischen  Formulierungen 
Newtons  beruhten,  kann  es  gar  nicht  geben, 
wir  müssen  die  Erscheinungen  anders  erklären. 
Die  einfache  Lösung  ist  die,  daß  ein  „leerer" 
Raum  dort  vermutet  wird,  wo  Bewegungen  von 
Massen  keinen  Widerstand  finden.  Diese  Er- 
scheinung kann  man  nun  aber  auch  dadurch  er- 
klären, daß  man  um  die  bewegte  Materie  herum 
ein  feines  Strömungs-  und  Wirbelfeld  annimmt, 
in  dem  gleichviel  hemmende  wie  beschleunigende 
Bewegungen  vorhanden  sind.  Zu  jedem  Körper 
gehört  daher  noch  eine  besondere  Ätherströmung, 
sein  „Kraftfeld".  Jede  Änderung  der  Bewegung 
bedingt  eine  Umformung  dieses  F"eldes  und  seiner 
Strömungen,  die  wir  als  Arbeitsleistung  und  Träg- 
heitswiderstand empfinden.  Die  Atome  der  Ma- 
terie sind,  dabei  als  Wirbel  im  Äther,  richtiger 
als  Zentren  der  Wirbelfelder,  aufzufassen.  Von 
den  Luftwirbeln  wissen  wir,  daß  sie  durch  eine 
scheinbar  ruhende  Umgebung  fortschreiten,  so 
daß  eine  Windhose  oft  auf  der  einen  Seite  eines 
Baumes  die  stärksten  Zweige  zerbricht,  auf  der 
anderen  Seite  alles  unberührt  läßt.  Gleichwohl 
ist  in  der  umgebenden  Luft  eine  „Spannung",  die 
dem  Wirbel  die  Kraftströme  zuführt,  die  ihn 
scheinbar  widerstandslos  durch  die  Luft  fort- 
schreiten läßt.  In  ähnlicher  Weise  bleibt  auch 
der  größte  Teil  des  Äthers  in  der  Umgebung 
der  Wirbelatome  in  Ruhe,  nur  ein  feines  Kraft- 
oder Spannungsfeld  begleitet  sie,  erst  im  Zentrum, 
im  „Wirbel",  von  fühlbarer  Gewalt. 

Der  Äther  ist  als  Trägheitswiderstand  also 
überall  im  Räume  fühlbar,  der  „leere"  Raum  ist 
nirgends  vorhanden.  Der  Eindruck  der  Leere 
entsteht  dort,  wo  sich  die  beschleunigenden  und 
hemmenden  Kräfte  im  Äther  das  Gleichge- 
wicht halten.  Es  ist  eben  ein  naiver  Irrtum, 
daß  der  Äther  stets  nur  als  Widerstand  fühlbar 
sein  müßte.  Er  kann  uns  ja  auch  Kraft  zuführen, 
uns  beschleunigen.  Dann  muß  es  aber  auch 
einen  Zwischenzustand  geben,  wo  wir  den  Äther 
nicht    mehr   fühlen   und   er   uns  als  leerer  Raum 


172 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


erscheint.  Das  sind  die  besonderen  Fälle,  an  die 
die  Theoretiker  von  Newton  bis  Einstein 
anknüpfen,  wenn  sie  ihre  Theorien  unter  Ver- 
nachlässigung oder  Ableugnung  des  substantiellen, 
realen,  fühlbaren  Äthers  aufbauen.  Äther  und 
Materie  sind  in  Wirklichkeit  gar  keine  getrennten 
Substanzen,  sondern  stehen  in  engster  Verbindung 
miteinander,  so  daß  es  gar  nicht  ohne  weiteres 
möglich  ist,  eine  Relativbewegung  gegen  den 
Äther  willkürlich  zu  erzeugen.  Alle  angeblichen 
Experimente  über  den  Äther  enthalten  willkür- 
liche Annahmen  —  wie  z.  B.  diejenigen  von 
Lorentz,  wonach  der  Äther  in  absoluter  Ruhe 
verharren  soll  —  und  entbehren  daher  der  Be- 
weiskraft. Wer  den  Äther  nicht  im  Licht,  in 
Elektrizität  und  Magnetismus,  in  Schwerkraft  und 
Trägheitswiderstand  unmittelbar  zu  fühlen  vermag, 
dem  ist  auch  mit  dem  Mich  eis  onschen  Ver- 
such nicht  zu  helfen,  dem  wird  er  ewig  „hypo- 
thetisch" bleiben. 

Die  Gegner  des  Äthers  haben  eben  alle  fühl- 
baren Ätherwirkungen  mit  anderen  Namen  belegt; 
so  hat  Einstein  ihn  vor  allem  als  Schwerkraft- 
Trägheitsfeld  eingeführt.  Bei  Newton  waren 
Schwerkraft  und  Trägheit  unveränderliche  Eigen- 
schaften der  Materie,  auf  denen  sich  seine  ab- 
strakte, ätherlose  Himmelsmechanik  gründete. 
Seine  Ansichten  über  die  Schwerkraft  widerstrebten 
dem  gesunden  Menschenverstände,  aber  der 
mathematische  Erfolg  war  zunächst  auf  seiner 
Seite.  Man  überschätzt  aber  dessen  Beweiskraft; 
eine  Rechnung  kann  nämlich  auch  dann  ein 
richtiges  Ergebnis  liefern,  wenn  in  ihr  derselbe 
Fehler  zweimal  mit  entgegengesetztem  Vorzeichen 
gemacht  wird.  Das  scheint  nun  bei  Newton 
tatsächlich  geschehen  zu  sein.  Bekanntlich  wird 
bei  allen  astronomischen  Bewegungen  die  Wir- 
kung der  Schwerkraft  durch  die  Trägheit  ausge- 
glichen. Newton  hat  nun  einerseits  die  Träg- 
heitsenergie als  unveränderliche,  also  zeitlose 
Masseneigenschaft  angenommen,  die  nirgends  auf 
Widerstand  (Reibung)  stoßen  soll,  zweitens  auch 
die  Ausbreitung  der  Schwerkraft  als  widerstands- 
und  zeitlos  betrachtet.  Beides  muß  vom  Stand- 
punkt der  Ätherphysik  aus  falsch  sein,  aber  der 
Fehler  hebt  sich  ungefähr  heraus.  Ich  habe  den 
grundsätzlichen  F"ehler  der  abstrakten  Newton- 
schen  Betrachtungsweise  kürzlich  in  der  „Astro- 
nomischen Zeitschrift"  (Hamburg;  Märzheft  1921) 
systematisch  aufzudecken  versucht.  In  der  Tat 
geben  die  Newt onschen  Annahmen  nur  ein 
ganz  unvollständiges  Bild,  es  ist  eben  nur  ein 
mathematisches  Gerippe,  dem  die  substantielle 
Ausfüllung  durch  den  Äther  fehlt,  und  das  uns 
die  auffallendsten  Wirkungen  übersehen  läßt,  wie 
ich  in  dieser  Zeitschrift  (Jahrg.  1921  ,  S.  97)  in 
dem  Aufsatz  „Wind  und  Wetter  als  Feldwirkungen 
der  Schwerkraft"  zu  zeigen  versucht  habe.  Die 
Idee  der  Relativitätsthcoretiker,  ein  dem  elektro- 
magnetischen Krafifelde  nachgebildetes  „Schwer- 
kraft-Trägheitsfeld" einzuführen,  scheint  mir 
Newton  gegenüber  einen  Fortschritt  zu  bedeuten. 


ist  aber  noch  längst  keine  Lösung  des  Schwer- 
kraftproblems. 

Die  Frage,  ob  der  Formalismus  Newtons 
oder  derjenige  Einsteins  richtiger  ist,  braucht 
hier  also  vorläufig  nicht  entschieden  zu  werden. 
Beide  befinden  sich  mit  der  Äthervorstellung  im 
Widerspruch.  Es  liegt  vielleicht  in  der  Natur  der 
Sache,  daß  eine  mathematische  Theorie  vor  allem 
an  diejenigen  Erscheinungen  anknüpft,  bei  denen 
sich  die  Ätherwirkungen  das  Gleichgewicht  halten 
und  herausheben.  Und  da  die  Welt  als  Ganzes 
im  Gleichgewicht  ist,  müssen  sich  schließlich  alle 
Ätherwirkungen  herausheben.  Der  Theoretiker 
ist  somit  der  geborene  Feind  des  Äthers,  dessen 
Einflüsse  seine  Gesetze  dauernd  stören.  Man  hat 
die  Ätherphysik  daher  frühzeitig  als  unbequeme 
Störung  aus  der  Mechanik  ausgeschieden  und  sie 
in  das  Sondergebiet  der  Elektrizitätslehre  ver- 
wiesen, ein  Verfahren,  das  für  den  Formalismus 
bequem,  aber  doch  wohl  nicht  allzu  befriedigend  ist. 

Wie  verhält  es  sich  nun  mit  dem  Hauptein- 
wand gegen  den  Weltäther,  den  auch  Möller  in 
seinem  Überblick  „Vom  hypothetischen  Weltäther" 
(Naturw.  Wochenschr.  Jg.  192 1,  S.  577)  hervor- 
hebt, daß  nämlich  die  Lichtschwingungen  trans- 
versaler Natur  seien,  solche  aber  nur  in  fest- 
elastischen Körpern  möglich  wären.  Hier  handelt 
es  sich  ganz  einfach  um  ein  durch  einseitige 
theoretische  Betrachtungsweise  entstandenes  Miß- 
verständnis. Transversale  Schwingungen  sind  in 
allen  Flüssigkeiten  und  Gasen  möglich,  wenn 
diese  nur  innere  Reibung  besitzen.  (Vgl.  Schäfer, 
Theoretische  Physik  i.  Bd.,  S.  893—894.)  Indem 
man  dem  Äther  die  Reibung  nahm,  nahm  man 
ihm  alle  Widerstandskraft  gegen  seitliche  Ver- 
schiebung, alle  Festigkeit.  Mit  dem  unglück- 
seligen Begriff  der  „reibungslosen"  Flüssigkeit 
konnte  man  natürlich  nichts  anfangen.  Zwischen 
einem  festen  Körper  und  einer  Flüssigkeit  mit 
innerer  Reibung  bestehen  aber  gar  keine  grund- 
sätzlichen Unterschiede.  Festigkeit  ist  nichts  anderes 
als  sehr  große  innere  Reibung.  So  schnellen  Kraft- 
wirkungen gegenüber,  wie  sie  bei  den  elektromagne- 
tischen Schwingungen  auftreten,  verhält  sich  jede 
Substanz  wie  ein  fester  Körper.  Hier  liegt  also 
ein  vollständiges  Mißverständnis  vor.  Im  übrigen 
behauptet  die  Ätherwirbeltheorie  auch  gar  nicht, 
daß  es  sich  beim  Licht  um  elastische  Schwingungen 
handelt.  Vielmehr  nimmt  man  eine  aus  der  un- 
zerstörbaren Eigenbewegung  folgende  innere 
Wirbelstruktur  der  Ätherströmungen  an,  die  rhyth- 
misch wechselt  und  die  —  wie  man  schon  beim 
fließenden  Wasser  beobachten  kann ,  mit  den 
Schwingungen  eines  festelastischen  Körpers  die 
größte  Ähnlichkeit  besitzt.  Wahrscheinlich  beruht 
die  ganze  Elastizität  festerKörper  auf  einer  Bewegung 
der  Wirbelatome  in  ihren  scheinbar  elastischen 
Strömungsfeldern.  Daher  erscheinen  auch  die 
Kraftfelder  und  Kraftlinien,  obgleich  sie  als 
Strömungs-  und  Wirbelfclder  und  -fäden  des 
Äthers  aufgefaßt  werden,  uns  als  elastisch  ge- 
spannte   und    tordierte    feste    Körper.      Die   Ein- 


N.  F.  XXI.  Nr.   13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»73 


führung  besonderer  „elektrischer"  Kräfte  ist  im 
Gegensatz  zu  den  mechanischen  offenbar  über- 
flüssig. Das  ist  alles  bei  ruhiger  Überlegung  ganz 
selbstverständlich  und  es  ist  nicht  recht  einzu- 
sehen, warum  immer  wieder  in  der  ganzen  deut- 
schen physikalischen  Literatur  die  Legende  von 
den  unlösbaren  Widersprüchen  in  den  Annahmen 
über  die  substantielle  Beschaffenheit  des  Äthers 
aufgewärmt  wird.  Der  Äther  ist  eben  keine 
ideale,  theoretische,  mathematische,  sondern  eine 
ganz  gewöhnliche  wirkliche  Substanz.  Was  wir 
als  Substanz  in  der  Welt  fühlen,  ist  stets  ein  Teil 
des  Äthers. 

Die  größte  Verwirrung  ist  nun  neuerdings 
durch  die  mathematische  Theorie  von  Loren tz 
hervorgerufen,  die  den  Äther  als  absolut  ruhenden 
festen  Körper  betrachtete  und  den  —  an  sich 
ganz  interessanten  —  Versuch  machte,  ihn  dem 
absoluten  Räume  Newto  ns  gleichzusetzen.  Von 
dieser  Theorie  ging  Einstein  aus,  sie  scheint 
das  einzige  gewesen  zu  sein,  was  er  von  der 
Physik  gekannt  hat.  Indem  er  nun  —  vielleicht 
mit  Recht  —  den  absoluten  Raum  Newtons 
bekämpfte,  schüttete  er  das  Kind  mit  dem  Bade 
aus,  und  wollte  den  Äther  überhaupt  abschaffen. 
Daß  man  dem  Äther  nur  die  ihm  von  Loren  tz 
unberechtigterweise  genommene  Beweglichkeit 
zurückgeben  muß,  um  die  Widersprüche  in  den 
Ergebnissen  der  optischen  Versuche  von  Fizeau 
und  Michelson  zu  beseitigen,  scheint  den  Ver- 
tretern der  Relativitätstheorie  bis  zum  heutigen 
Tage  nicht  klar  geworden  zu  sein.  Sonst  würden 
sie  längst  erkannt  haben,  daß  der  alte  substantielle 
Äther  dasselbe  und  viel  mehr  leistet,  als  das  an 
seine  Stelle  gesetzte  ,,Raum-Zeitkontinuum". 

Denn  die  Behauptung  von  Lorentz,  der 
Äther  müsse  im  Weltraum  als  absolut  ruhend  be- 
trachtet werden,  entbehrt  jedes  Beweises.  Aller- 
dings hat  Lorentz  unter  dieser  Voraussetzung 
brauchbare  Formeln  •  für  die  Aberration  ent- 
wickelt; er  hat  aber,  worauf  vor  allem  Gehrcke 
hingewiesen  hat,  gar  nicht  behauptet,  daß  eine 
Erklärung  der  Aberration  bei  Annahme  eines  teil- 
weise mit  der  Erde  bewegten  Äthers  nicht  auch 
möglich  sei.  Andere — z.B.  Stokes,  Lenard, 
Devantier,  Silberstein,  neuerdings  auch 
Vogtherr   in   dieser   Zeitschr.   Jg.    1922,   S.  20 


—  haben  die  Erscheinung  auch  unter  dieser  Vor- 
aussetzung abgeleitet.  Der  Umstand,  daß  die 
Formeln  von  Lorentz  vielleicht  einfacher  sind, 
beweist  natürlich  nicht  das  Geringste  für  ihre 
Richtigkeit.  Die  Aberration  scheidet  als  Beweis 
für  die  absolute  Ruhe  des  Äthers  daher  aus. 

Was  Lorentz  für  den  absolut  ruhenden 
Äther  gehalten  hat,  ist  wahrscheinlich  das  Schwer- 
kraft-Trägheitsfeld der  Erde,  das  mit  seinen 
feinsten  inneren  Gegen-  und  Wirbelströmungen 
die  scheinbar  fest  elastische  Struktur  des  Äthers 
darstellt.  Da  sich  dieses  Feld  einerseits  mit  der 
Erde  bewegt,  andererseits  an  den  Bewegungen 
der  Massen  auf  der  Erde  nur  in  geringem  Maße 
teilnimmt,  klärt  sich  der  angebliche  Widerspruch 
in  den  Versuchen  von  Michelson  und  Fizeau 
sehr  einfach  auf. 

Die  Einführung  des  Schwerkraft  -  Trägheits- 
feldes in  die  Optik  erfolgt  daher  viel  besser  im 
Anschluß  an  die  Äthertheorie  als  auf  Grund  der 
problematischen,  in  sich  widerspruchsvollen  Rela- 
tivitätspostulate  Einsteins. 

Es  war  der  Zweck  meiner  Darlegungen,  da- 
rauf hinzuweisen,  daß  die  angeblichen  Wider- 
sprüche in  der  Lehre  vom  substantiellen,  realen, 
fühlbaren  Weltäther  nur  in  der  Einbildung  der 
Theoretiker  vorhanden  sind  und  einer  ruhigen 
sachlichen  Kritik  auf  der  Grundlage  des  gesunden 
Menschenverstandes  nirgends  standhalten.  Es 
wäre  wichtig,  wenn  diese  Auffassung  in  immer 
weiteren  Kreisen  bekannt  würde,  denn  das  Äther- 
problem ist  keine  Spezialfrage  der  mathematischen 
Physik,  sondern  gehört  allen  Wissenschaften,  be- 
sonders auch  der  Philosophie,  der  Biologie,  der 
Medizin  und  der  Theologie  an.  Der  Streit  zwischen 
Ätherphysik  und  Relativitätstheorie  beleuchtet 
nicht  nur  eine  einmalige  gelegentliche  Entgleisung 
der  theoretischen  Physik,  sondern  er  zeigt,  wie 
diese  beim  Ätherproblem  seit  Jahrhunderten  ver- 
sagt hat,  wie  sie  mit  unhaltbaren  Prinzipien 
arbeitet.  Sobald  man  sich  darüber  klar  wird,  daß 
der  Satz  der  Theoretiker :  „Die  Weltsubstanz  muß 
reibungslos  sein,  da  sie  sich  in  ewiger  Bewegung 
befindet"  ein  verhängnisvoller  Trugschluß  ist,  ist 
auch  die  einfache  Lösung  des  scheinbar  so  ver- 
wickelten Ätherproblems  klar  gegeben. 


[Nachdruck  verbotea.] 


PflanzenTerbreitung  und  vorgeschichtliche  Besiedlung. 

Von  E.   Schalow,  Breslau. 


Das  Vorkommen  von  steppenähnlichen  Pflan- 
zengemeinschaften in  Deutschland  hat  von  jeher 
die  Aufmerksamkeit  der  Pflanzengeographen  auf 
sich  gelenkt.  Obwohl  diese  charakteristischen 
Pflanzenverbände  in  ihrem  Aussehen,  ihrer  Zu- 
sammensetzung und  in  ihren  Ansprüchen  an  Bo- 
den und  Klima  eine  große  Übereinstimmung 
zeigen,  sind  sie  in  der  Literatur  doch  mit  den 
verschiedensten  Namen  belegt  worden,  von  denen 
ich   hier  nur   die   bekanntesten  anführen  möchte: 


Heidewiese  (Südbayern),  Steppenheide  (Schwäbi- 
sche Alb),  trockene  Hügelformation  (Mitteldeutsch- 
land), Grastrift  (Eibhügelgebiet),  Formation  der 
pontischen  Hügel  (Norddeutschland),  Federgrasflur 
(Niederösterreich)  u.  a.  ^)  Allen  diesen  Pflanzen - 
beständen    ist    vor    allem    gemeinsam,    daß    ihre 

')  Vgl.  J.  Eichlei,  R.  Gradmann  und  W.Meigen, 
Die  pflanzengeographische  Durchforschung  von  Württemberg. 
Jahreshefte  des  Ver.  f.  vaterländische  Naturkunde  in  Württem- 
berg.    70.  Jahrg.,  1914. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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eigentlichen  Leitpflanzen  ganz  vorwiegend  eine 
im  allgemeinen  südöstliche,  also  mehr  kontinen- 
tale Gesamtverbreitung  besitzen ;  es  sind  sog. 
„Steppenpflanzen"  oder  pontische  Gewächse.  Auf 
die  schwierige  Frage  nach  der  Einwanderung 
unserer  Steppenpflanzen  kann  hier  nur  ganz  kurz 
eingegangen  werden.  Nach  den  Untersuchungen 
von  K.  Bertsch^)  sind  die  zahlreichen  Wärme- 
pflanzen des  oberen  Donaugebietes  als  Relikte 
der  letzten  Interglazialzeit  aufzufassen.  Dagegen 
muß  die  Besiedlung  Norddeutschlands  mit  Steppen- 
pflanzen in  eine  postglaziale  Trockenzeit  verlegt 
werden,  die  durch  die  gründlichen  Moorunter- 
suchungen C.  A.  Webers*)  mit  einiger  Sicher- 
heit erwiesen  ist.  Während  dieser  Zeit  fanden 
die  Steppenpflanzen  selbst  noch  im  norddeutschen 
Flachlande  geeignete  Wohnplätze.  Einige  von 
ihnen  konnten  selbst  noch  bis  Südschweden  vor- 
dringen. Es  soll  damit  jedoch  keineswegs  gesagt 
sein,  daß  das  gesamte  deutsche  Tiefland  während 
dieser  Trockenzeit  einen  allgemeinen  Steppen- 
charakter angenommen  hatte.  Weite  Strecken 
deutschen  Bodens  waren  auch  damals  mit  dichten 
Wäldern  bedeckt  und  in  den  Niederungen  wird 
es  an  Sümpfen  und  Mooren  nicht  gefehlt  haben. 
Die  Steppenpflanzen  hatten  sich  namentlich  auf 
kalkreicheren  Böden,  in  den  Lößlandschaften,  im 
niederen  Berglande  und  an  den  steilen  Ufern  der 
Hauptströme  zu  eigenartigen  Pflanzenverbänden 
zusammengefunden ,  die  an  die  weiten  Steppen- 
fluren Südrußlands  erinnerten. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  erscheint  nun  die 
Frage  nach  der  PLrhaltung  der  licht-  und  wärme- 
bedürftigen Steppenpflanzen  während  der  Folge- 
zeit mit  ihrem  kühleren  und  feuchteren  Klima, 
durch  welches  vor  allem  der  Waldwuchs  noch 
mehr  begünstigt  wurde.  Der  Wald  ergriff  nun 
stellenweise  auch  von  den  bisher  freien  und  offe- 
nen Landstrichen  Besitz  und  drängte  die  Steppen- 
pflanzen zurück.  In  diesem  Kampfe  mit  dem  er- 
folgreich vordringenden  Walde  erhielten  nun  die 
Steppenpflanzen  an  vielen  Orten  eine  wirksame 
Unterstützung  durch  den  vorgeschichtlichen  Men- 
schen, der  nach  der  übereinstimmenden  Ansicht 
zahlreicher  Forscher  ■')  während  der  Trockenzeit 
als  Neolithiker  eingewandert  war  und  sich  auf 
offenem  und  waldfreiem  Gelände  niedergelassen 
hatte.  Durch  die  Tätigkeit  der  vorgeschichtlichen 
Bevölkerung  blieben  diese  Landstriche  selbst  wäh- 
rend der  feuchteren  Zeit  vor  einer  allgemeinen 
Waldbedeckung  bewahrt,  so  daß  sich  hier  zahl- 
reiche Steppenpflanzen  bis  auf  die  Gegenwart  er- 
halten konnten.  Im  folgenden  soll  nun  näher 
geprüft  werden,  inwieweit  auch  der  vorgeschicht- 

')  Vgl.  K.  liertsch,  Wärmepflanzen  im  oberen  Donau- 
tal.     Engl.  bot.  Jahrb.  55.  lid.,   1919. 

')  Vgl.  C.A.Weber,  Aufbau  und  Vegetation  der  Moore 
Norddeutschlands.     Engl.  bot.  Jahrb.  40.  Bd.,   1908. 

')  Vgl.  A.  Penck  in  Kirchhoffs  Länderkunde  von  Euro- 
pa 1,  1887,  S.  441.  —  M.  C.  Jerosch,  Geschichte  und 
Herkunft  der  Schweizerischen  Alpenflora.  Leipzig  1903.  — 
H.  Hausrath,  Pflanzengeographische  Wandlungen  der  deut- 
schen Landschaft.     Leipzig  u.  Berlin  191 1. 


liehen  Bevölkerung  ein  Anteil  in  der  Erhaltung 
unserer  Steppenpflanzen  zuerkannt  werden  muß. 
R.  Gradmann  ^)  hat  m.  W.  zuerst  einen 
deutlichen  Zusammenhang  zwischen  der  Verbrei- 
tung unserer  Steppenpflanzen  und  den  ältesten 
menschlichen  Siedlungsstätten  angenommen.  Ein- 
gehende Arealstudien  im  Gebiete  der  Schwäbischen 
Alb  lehrten  ihn,  „daß  die  Verbreitungsbezirke  der 
südosteuropäischen  Steppenheidegenossenschaften 
zugleich  die  Stätten  uralter  Kultur  sind"  (S.  355). 
Ausgesprochene  .Steppenpflanzen  wie :  Allmm  fal- 
lax,  Alyssuni  montaniim,  Anemone  silvestris,  As- 
perula  glauca,  A.  tincloria,  Aster  Amellus ,  A. 
Ltnosyris,  Rosa  gallica,  *)  Inula  hirta ,  Libanotis 
moniana,  Melica  ciliata,  Orobanche  cervartae, 
Seseli  Hippomarathrum,  Stipa  capillafa,  SL  pennata, 
Thesium  intermedium  u.  a.  bilden  den  Haupt- 
bestandteil dieser  Pflanzengemeinschaft,  welche  die 
sonnigen  Hänge  und  Lehnen  der  Schwäbischen 
Alb  wie  mit  einem  bunten  Teppich  überzieht. 
Nach  Gradmanns  Auffassung  haben  diese 
steppenähnlichen  Fluren  noch  niemals  Wald  ge- 
tragen, „weil  die  menschliche  Kultur,  Karst  und 
Pflug,  die  Sense  und  der  Zahn  der  Weidetiere 
ihn  daselbst  nie  hat  aufkommen  lassen"  (S.  358). 
An  anderer  Stelle')  kennzeichnet  Gradmann 
die  Einwirkung  des  vorgeschichtlichen  Menschen 
auf  das  heimatliche  Landschaftsbild  folgender- 
maßen :  „Die  erste  Bevölkerung  Mitteleuropas  hat 
sich  daselbst  niedergelassen  zu  einer  Zeit,  als  die 
alten  Steppenbezirke  mindestens  noch  sehr  wald- 
arm waren;  sie  hat  diese  Bezirke  bald  so  dicht 
besetzt,  daß  auch  unter  dem  später  wieder  feuchter 
werdenden  Klima  der  Waldwuchs  daselbst  nie- 
mals überhand  nehmen  konnte.  .  .  .  Indem  jede 
nachfolgende  Bevölkerung  sich  der  waldfreien 
Bezirke  bemächtigte  und  sie  allein  besiedelte, 
konnte  es  geschehen,  daß  die  Züge  der  alten 
Steppenlandschaft  ...  bis  zum  Beginn  des  Mittel- 
alters erhalten  blieben"  (S.  -nd).  „Die  Herden 
des  vorgeschichtlichen  Menschen  sorgten  schon 
von  selbst  dafür,  daß  auf  den  Weideplätzen  kein 
Waldwuchs  aufkam;  dann  und  wann  mag  auch 
die  Axt  nachgeholfen  haben,  um  etwaigen  Wald- 
anflug wieder  zu  beseitigen,  er  diente  ja  zugleich 
zur  Feuerung."  „Die  alte  Ursteppe  wurde  so 
ganz  unmerklich  zur  Kultursteppe"  (S.  436).  Auf 
diesem  lichten  und  freien  Gelände  inmitten  dich- 
ten Urwaldes  soll  nun  die  südosteuropäische 
Steppenheidegenossenschaft  eine  Zufluchtsstätte 
gefunden  haben.  Um  diesen  Zusammenhang  im 
einzelnen  beurteilen  zu  können,  ist  vor  allem  auch 
eine  eingehende  Kenntnis  der  örtlichen  Verhältnisse 
notwendig;    doch    auch    dann    bliebe    der  Anteil, 


')  Vgl.  K.  Gradmann,  Das  Pflanzenlcben  der  Schwä- 
bischen Alb.     1.  Bd.,   1900. 

-)  Nach  J.  Seh  Werts  c hl ager  (Die  Rosen  des  Franken- 
jura.  München  1910)  ist  diese  Rose  durchaus  den  pontischen 
Gewächsen  zuzurechnen. 

")  Vgl.  R.  Gradmann,  Das  mitteleuropäische  Land- 
schaftsbild nach  seiner  geschichtlichen  Entwicklung.  Geogr. 
Zcitschr.  VII  (1901). 


N.  F.  XXI.  Nr.   13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»75 


den  die  vorgeschichtliche  Bevölkerung  an  der 
Erhaltung  der  Steppenheidegenossenschaft  haben 
soll,  recht  schwer  einzuschätzen  in  einem  Gelände, 
das  schon  von  Natur  aus  das  Vorkommen  von 
Steppenpflanzen  ungemein  begünstigt.  Außerdem 
ist  stets  zu  bedenken,  daß  sich  an  geeigneten 
Örtlichkeiten  Steppenpflanzen  auch  ganz  selb- 
ständig ohne  jedes  Zutun  des  Menschen  erhalten 
haben.  Ich  erinnere  z.  B.  an  das  märkische 
Oderbruchgebiet,  für  das  E.  Wähle  i)  keine 
dichtere  neolithische  Besiedlung  angibt.  An  den 
mergeligen  Steilufern  des  märkischen  Oderbruches 
hat  sich  eine  reichhaltige  Steppenflora  bis  auf 
den  heutigen  Tag  erhalten  können,  ohne  daß 
man  eine  Mitwirkung  des  prähistorischen  Men- 
schen anzunehmen  braucht.  -)  Deshalb  wird  es 
in  vielen  Fällen  recht  schwer  halten,  den  erhal- 
tenden Einfluß  der  frühesten  Bevölkerung  auf  die 
einstige  Pflanzendecke  überzeugend  nachzuweisen. 

In  einer  späteren  Arbeit^)  hat  Gradmann 
noch  andere  Landstriche  namhaft  gemacht,  die 
sich  nicht  nur  durch  einen  reichen  Flor  von 
Steppenpflanzen,  sondern  auch  durch  eine  frühe 
und  dicht  gedrängte  dauernde  vorgeschichtliche 
Bevölkerung  auszeichnen,  nämlich:  das  Wiener 
Becken,  das  Marchfeld,  die  Wachau,  die  Welser 
und  Garchinger  Heide,  das  Lechfeld,  die  ober- 
rheinische Tiefebene,  das  Nahe-  und  Moselgebiet. 
Kritischen  Einzeluntersuchungen  muß  es  jedoch 
noch  vorbehalten  bleiben,  einen  direkten  Zusam- 
menhang zwischen  der  vorgeschichtlichen  Besied- 
lung und  dem  Vorkommen  der  Steppenpflanzen 
für  diese  einzelnen  Gebiete  zu  erweisen. 

Für  das  mittelste  Schlesien  dürfte  dieser  Nach- 
weis schon  erbracht  sein.^)  Wie  die  zahlreichen 
Altertumsfunde  erkennen  lassen,  war  das  mittelste 
Schlesien  (Silingien)  im  Gegensatz  zu  den  benach- 
barten Landstrichen  von  der  jüngeren  Steinzeit 
an  bis  in  die  geschichtliche  Zeit  ununterbrochen 
dicht  besiedelt.  Das  lehrt  überzeugend  das  zu- 
verlässige Kartenwerk,  welches  Oberlandmesser 
Hell  mich  im  Auftrage  des  Schlesischen  Alter- 
tumvereins in  nächster  Zeit  herausgeben  wird.*) 
Beim  Einzüge  des  Neolithikers  hatte  unsere 
Silingische  Landschaft  noch  nahezu  Steppen- 
charakter. Durch  die  Siedlungstätigkeit  des  vor- 
geschichtlichen Menschen  blieb  nun  unser  Gebiet 
auch  während  der  F'olgezeit  vor  einer  allgemeinen 
Waldbedeckung  verschont,  so  daß  sich  Reste  der 
einstigen  Steppenvegetation  bis   auf  den  heutigen 

')  ^g'.  ^'  Wähle,  Ostdeutschland  in  jungneolithischer 
Zeit.     Würzburg  igiS. 

')  Vgl.  Roman  Schulz,  Eine  floristische  und  geologi- 
sche Betrachtung  des  märkischen  unteren  Odertales.  Verh. 
bot.  Ver.  Prov.  Brandenburg   1916. 

^)  Vgl.  R.  Gradmann,  Beziehungen  zwischen  Pflanzen- 
geographie und  Siedlungsgeschichie.  Geographische  Zeitschrift 
1906. 

*)  Vgl.  E.  Schalow,  Über  die  Beziehungen  zwischen 
der  Pflanzenverbreitung  und  den  ältesten  menschlichen  Sied- 
lungsstätten im  mittelsten  Schlesien.     Engl.    bot.  Jahrb.   1921. 

'')  Über  die  Besiedlung  Schlesiens  während  der  jüngeren 
Steinzeit  Tgl.  auch  die  vortreffliche  Übersichtskarte  bei  E. 
Wähle  a.  a.  O. 


Tag  erhalten  konnten.  Infolgedessen  hat  die 
natürliche  Pflanzendecke  dieses  alten  Siedlungs- 
landes selbst  heute  noch  trotz  der  starken  Beein- 
trächtigung durch  die  neuzeitliche  Kultur  einen 
ganz  eigenen  Charakter.  Für  die  Hügellandschaft 
der  oberen  Lohe  (Silingische  Hügel)  sind  u.  a. 
bezeichnend:  Carex  Michclü,  Fcstiica  vallcsiaca, 
Verbascum  phoeniceuni,  Avena  pratensis,  Aspenda 
tinctoria,  A.  cynanchica,  Thesium  intermedium, 
Peiicedanum  Cervaria.  Andere  Arten  sind  nament- 
lich dem  flachen,  fruchtbaren  Schwarzerdgebiet 
eigentümlich.  Nach  V.  Hohenstein')  stellt 
unsere  Silingische  Schwarzerde  eine  dem  russischen 
Tschernosem  gleichartige  Bildung  dar,  die  jedoch 
in  der  jüngsten  Vergangenheit  unter  einem  kühleren 
und  feuchteren  Klima  mancherlei  Umwandlungen 
erfahren  hat.  Zu  den  Charakterpflanzen  unserer 
Schwarzerde  gehören  deshalb  neben  echten  Steppen- 
pflanzen {Asfrugalas  daiiiciis,  A.  cicer,  Lavatcra 
thiiriiigiaca,  Salvia  pratensis,  Lithospermum  offi- 
ciiiale,  Onobrychis  viciaefolia,  Stachys  germanica 
u.  a.)  auch  zahlreiche  Hygrophyten  {Lotus  sili- 
(juos/is,  Euphorbia  villosa,  Orchis  laxifiora,  Gen- 
tiana  idigiiwsa,  Carex  aristata),  denen  sich  früher 
auch  etliche  Halophyten  {Glaux  inaritiiiia,  Triglo- 
ihin  maritima,  Mclilotns  dciifatus,  Lotus  temdfolius) 
hinzugesellten.'-)  Selbst  noch  das  angrenzende 
Silingische  Odertal  ist  durch  das  Vorkommen 
mancher  anspruchsvoller  Stromtalpflanzen  ausge- 
zeichnet, wie  Carex  Bueki,  Cerastiuvi  anomahim, 
Viola  pumila,  V.  elatior,  Iris  muiicaulis,  Hicro- 
cliloa  odorata  u.  a.,  von  denen  nicht  wenige 
enge  Beziehungen  zum  Schwarzerdgebiet  be- 
sitzen.^) Ich  wüßte  nicht,  wie  man  sich  die 
hier  kurz  dargelegten  Verbreitungstatsachen  er- 
klärlich machen  wollte,  ohne  auch  auf  die  be- 
siedlungsgeographischen Verhältnisse  zurückzu- 
greifen, da  die  Übereinstimmung  zwischen  der 
Pflanzenverbreitung  und  den  ältesten  Siedlungs- 
stätten gar  zu  auffällig  ist.  Ja,  wir  können  wohl 
feststellen,  daß  im  mittelsten  Schlesien  die  Ab- 
hängigkeit zwischen  floristischen  und  besiedlungs- 
geographischen Tatsachen  noch  klarer  zutage  tritt, 
als  im  Gebiete  der  Schwäbischen  Alb.  Die  flache 
Landschaft  des  zentralen  Schlesiens  hätte  sich 
ohne  die  wirksame  Tätigkeit  des  vorgeschicht- 
lichen Menschen  sicherlich  mit  einer  zusammen- 
hängenden Walddecke  überzogen  und  von  der 
einstigen  Silingischen  Steppe  wäre  kaum  etwas 
erhalten  geblieben.  Wichtig  ist  noch  die  Tat- 
sache, daß  alle  nur  während  der  Bronzezeit  vor- 
übergehend besiedelten  Landstriche  keinen  nennens- 
werten Pflanzenbestand  zeigen,  wie  sich  überhaupt 
die  Flora  der  einst  mit  dichten  Laubwäldern  be- 

')  Vgl.  V.  Hohenstein,  Die  ostdeutsche  Schwarzerde. 
Internationale  Mitteilungen  für  Bodenkunde  1919.  Vgl.  auch 
E.  Schalow,  Zur  Entstehung  der  schlesischen  Schwarzerde. 
Beihefte  z.  bot.  Zentralbl.   1 921,  II. 

")  Ähnliche  Verhältnisse  dürften  auch  in  den  übrigen  ost- 
deutschen Schwarzerdgebieten  herrschen,  wie  ich  an  anderer 
Stelle  nachweisen  werde. 

')  Vgl.  E.  Schalow,  Die  Verbreitung  der  schlesischen 
Stromtalpflauzen.     Verh.  bot.  Ver.  Prov.  Brandenburg.    1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


deckten  Teile  der  schlesischen  Ackerebene  durch 
ihre  Charakterlosigkeit  auszeichnet  im  Gegensatz 
zu  der  reicheren  Pflanzendecke  der  alten  Siedlungs- 
gebiete. 

Für  das  sächsische  Elbhügelland  hat  O.  D  r  u  d e  *) 
gleichfalls  eine  deutliche  Übereinstimmung  zwischen 
den  Wohnplätzen  der  vorgeschichtlichen  Bevölke- 
rung und  dem  Verbreitungsgebiet  der  Steppen- 
pflanzen nachgewiesen.  Vor  allem  sind  es  hier 
die  Hügel  um  Meißen,  welche  noch  gegenwärtig 
eine  reichhaltige  Sleppenvegetation  aufweisen.  Im 
allgemeinen  sind  es  uns  schon  bekannte  P"ormen, 
die  im  FJbgebiet  wiederkehren.  Als  neu  treten  u.  a. 
hinzu :  Ranimcidus  illyricits, Euphorbia  Gerardiana, 
Campanula  bo?io)iiaisis,  Lachica  viminea,  Draba 
muralis.")  Auch  Drude  betont,  daß  sich  infolge  der 
frühen  Besiedlung  der  offene  und  freie  Zustand  der 
Landschaft  erhalten  konnte.  Selbstverständlich  ist 
es  unmöglich,  den  Anteil  der  vorgeschichtlichen 
Menschen  an  der  Erhaltung  der  einstigen  Pflanzen- 
decke im  einzelnen  genau  festzulegen.  Dazu 
müßte  zunächst  die  Frage  allseitig  geprüft  werden, 
in  welchem  Umfange  die  natürlichen  Einflüsse 
ausreichen,  um  das  heutige  Vorkommen  steppen- 
ähnlicher Pflanzengenossenschaften  zu  erklären. 

Ganz  unabhängig  von  Grad  mann  hat  Han- 
sen^) auch  für  Norwegen  Beziehungen  zwischen 
der  Pflanzenverbreitung  und  der  vorgeschichtlichen 
Besiedlung  des  Menschen  aufgedeckt.  In  Nor- 
wegen sind  die  ältesten  Siedlungen  durch  Namen 
mit  den  Endungen  „vim"  und  „heim"  charakterisiert. 
Diese  Siedlungen  decken  sich  auffallenderweise 
mit  der  Verbreitung  einer  ganz  bestimmten  Pflanzen- 
genossenschaft. Hansen  nennt  sie  Origanum- 
Formation.  Dazu  gehören :  Origanum  vulgare, 
Libanotis  montana,  Campanula  Cerzncaria,  Aqui- 
legia  vulgaris,  Artemisia  Absinthium,^)  Avena 
praietisis  u.  a.  Es  ist  mithin  eine  Gruppe  wärme- 
liebender Gewächse  vorwiegend  südlicher  Ver- 
breitung, die  auf  sonnigen  licht  bewaldeten  oder 
waldfreien  Südhängen  besonders  der  Silurformation 
Reliktstandorte  besitzen.  Eine  Beurteilung  dieser 
Verhältnisse  ist  freilich  ohne  allseitige  Kenntnis 
der  Sachlage  nicht  gut  möglich. 

Auch  noch  andere  Forscher  nehmen  einen 
bestimmenden  Einfluß  des  prähistorischen  Menschen 
auf  die  heimatliche  Pflanzendecke  an.  Ich  nenne 
nur  noch  E.  H.  L.  KrauiC,^)  welcher  schon  vor 
Gradmann  einen  Zusammenhang  zwischen  der 
Verbreitung   der   Steppenflora    und    den    ältesten 


')  Vgl.  O.  Drude,  Die  Entstehungsgeschichte  des  hei- 
matlichen Landschaftsbildes.  Heimatschulz  in  Sachsen  I. 
1909. 

')  Vgl.  O.Drude,  Die  Verteilung  und  Zusammensetzung 
östlicher  Pflanzengenossenschaflen  in  der  Umgebung  von 
Dresden.  Isis  1885.  Derselbe,  Die  Verteilung  östlicher 
Pflanzengenossenschaften  in  d.  sächsischen  Eibtalflora.  Isis 
1895. 

')  Vgl.  Andr.  M.Hansen,  Landnäm  i  Norge.  Christi- 
ania   1904. 

*1  In  Norwegen  wohl  kaum  einheimisch. 

')  Vgl.  Ernst  H.  L.  Krause,  Die  natürliche  Pflanzen- 
decke Norddeulschlands.     Globus  Bd.  61  (1892). 


menschlichen  Siedlungen  angedeutet  hat.  So 
schreibt  er  bei  der  Besprechung  des  Saalegebietes: 
„Es  ist  schwer  anzunehmen,  daß  die  Steppen- 
pflanzen Thüringens  erst  nach  Rodung  des  Ur- 
waldes wieder  eingewandert  seien,  es  ist  noch 
weniger  wahrscheinlich,  daß  sie  eine  Periode  ge- 
schlossenen Waldwuchses  an  ihren  jetzigen  Stand- 
orten überdauert  haben.  Hier  scheint  bis  jetzt 
keine  andere  Erklärung  möglich  als  die,  daß  näm- 
lich der  Mensch  sich  in  der  Steppe  niedergelassen 
hat,  ehe  sie  so  dicht  bewaldet  war,  wie  sie  nach 
Boden  und  Klima  gegenwärtig  sein  könnte"  (S.  107). 
In  seinen  späteren  Arbeiten  mißt  Krause  der 
Tätigkeit  der  frühesten  menschlichen  Bewohner 
eine  noch  viel  größere  Bedeutung  bei.  Er  ver- 
sucht sogar,  die  Bildung  des  Grenzhorizontes  in 
den  nordwestdeutschen  Mooren  auf  Kultur-  und 
Siedlungseinflüsse  zurückzuführen  und  die  Ursachen 
der  Vegetationsänderungen,  wie  sie  Sernander 
in  Schweden  für  die  postglaziale  Zeit  festgestellt 
hat,  sucht  er  auch  in  menschlichen  Einflüssen.  ^) 
Nichts  berechtigt  uns  jedoch,  der  Kultur  des  vor- 
geschichtlichen Menschen  eine  derartig  tiefgehende 
Beeinflussung  unserer  heimatlichen  Natur  einzu- 
räumen. Ebenso  geht  auch  wohl  Gradmann 
neuerdings  entschieden  zu  weit,  wenn  er  in  seiner 
höchst  anregenden  Studie  über  Wüsten  und 
Steppen  das  Bestehen  der  Grassteppen  haupt- 
sächlich auf  die  durch  den  Menschen  verursachten 
regelmäßigen  Grasbrände  zurückführt.") 

Hiermit  wäre  das  wichtigste  für  unsere  Frage 
in  Betracht  kommende  Tatsachenmaterial  erschöpft. 
Wenn  es  zunächst  auch  noch  keine  endgültige 
Lösung  der  angeschnittenen  F"rage  zuläßt,  so 
wird  es  vielleicht  doch  dazu  beitragen,  das 
Verständnis  der  gegenwärtigen  Pflanzenverteilung 
zu  fördern.  Von  einem  völlig  klaren  Einblick  in 
die  Entwicklungsgeschichte  unserer  heimatlichen 
Pflanzendecke  sind  wir  freilich  noch  weit  entfernt; 
denn  es  sind  zu  vielerlei  Kräfte,  die  an  dem  Zu- 
standekommen unserer  Pflanzendecke  mitgewirkt 
haben.  Unter  gewissen  Bedingungen  kann  auch 
der  Siedlungstätigkeit  des  vorgeschichtlichen  Men- 
schen eine  Mitwirkung  an  der  Gestaltung  der 
heutigen  Pflanzenverteilung  nicht  ohne  weiteres 
abgesprochen  werden. 

Ergebnisse: 

1.  Es  besteht  eine  weitgehende  Übereinstim- 
mung zwischen  den  ältesten  menschlichen  Sied- 
lungsstätten und  der  Verbreitung  der  Steppen- 
pflanzen in  Deutschland. 

2.  Die  vorgeschichtliche  Bevölkerung  hat  ohne 
Zweifel  viel  dazu  beitragen,  den  offenen  steppen- 
ähnlichen Charakter  mancher  Landstriche  zu  er- 
halten. 


')  Vgl.  E.  H.  L.  Krause,  Das  europaische  Klima  im 
letzten  vorchristlichen  Jahrtausend.  Naturvfiss.  Wochenschrift 
1913,  N.  44. 

^)  Vgl.  R.  Gradmann,  Wüste  und  Steppe.  Geograph. 
Zeitschr.  1916. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


177 


3.  Eine  ausschlaggebende  Beteiligung  der 
vorgeschichtlichen  Besiedlung  an  der  Erhaltung 
unserer  Steppenpflanzen   ist   im   allgemeinen   nur 


bei  dauernder  und  dichter  Besiedlung  flacher  oder 
schwach  hügeliger  Landstriche  anzunehmen. 


Einzelberichte. 


Die  Tiefen  des  Weltmeeres. 

Unter  diesem  Titel  erschien  kürzlich  eine 
Arbeit  von  E.  Koßinna  in  den  Veröffentlichun- 
gen des  Instituts  für  Meereskunde  an  der  Univ. 
Berlin,  N.  F.  A.  Geogr.  naturw.  Reihe,  Heft  9 
(Berlin  1921),  welche  auf  Grund  der  bekannten 
Tiefenkarten  der  Ozeane  von  H.  Groll  (ebenda, 
Heft  2,  Berlin  191 2),  sowie  des  gesamten  seitdem 
bekannten  IVIessungsmaterials  seitens  der  verschie- 
denen neuesten  Forschungsexpeditionen  eine  neue 
Berechnung  des  Inhalts  sämtlicher  Ozeane  und 
ihrer  Randmeere  vornahm.  Gegenüber  den 
letzten  Berechnungen  von  JohnMurray,  welche 
sich  auf  einer  Höhen-  und  Tiefenkarte  der  Erde 
von  Bartholomew  stützte,  haben  die  Messun- 
gen von  Koßinna  den  großen  Vorteil,  daß 
Grolls  Karten,  soweit  dies  überhaupt  bei  dem 
gewählten  Maßstab  möglich  ist,  flächentreu  sind, 
während  dies  bei  den  Karten  von  B.  durchaus 
nicht  der  Fall  war!  Außerdem  konnte,  wie  ge- 
sagt, das  gesamte  umfassende  Beobachtungs- 
material verwertet  werden,  das  sich  seit  der  13e- 
rechnung  Murrays  im  Jahre  1888  angehäuft 
hatte. 

Leider  sind  in  großen  Teilen  der  Ozeane  die 
bisher  ausgeführten  Lotungen  noch  sehr  spärlich 
vorhanden,  namentlich  in  den  südlichen  IVIeeren, 
so  daß  von  irgendwelcher  Exaktheit  der  Resultate 
noch  immer  nicht  gesprochen  werden  kann,  doch 
schätzt  Koßinna  den  wahrscheinlichen  Fehler 
seiner  Berechnung  der  mittleren  Tiefe  des  Welt- 
meeres —  abgerundet  3800  m  —  nicht  höher 
als  100  m  ein. 

Diese  Zahl  ist  um  1 14  m  größer  als  die  letzte 
Berechnung  durch  K  r  ü  m  m  e  1 ,  welche  nur  368 1  m 
ergab.  Das  Mehr  ist  nur  zum  allergeringsten 
Teil  in  der  Verschiedenheit  der  angewandten 
Methode  begründet  —  bathometrische  Methode 
bei  Koßinna,  Feldermethode  bei  K  r  ü  m  m  e  1  — , 
es  rührt  vielmehr  in  der  Hauptsache  daher,  daß 
große  Teile  der  Weltmeere,  besonders  der  Süd 
zone,  tatsächlich  tiefer  sind,  als  man  bis  vor  kur- 
zem angenommen  hatte.  So  ist  der  Atlantische 
Ozean  um  68,  der  Indische  um  34,  der  Pazifische 
aber  um  185  m  im  Mittel  tiefer  als  nach  Krüm- 
me 1.  Da  aber  der  letztere  fast  die  Hälfte  des 
ganzen  Weltmeeres  ausmacht,  so  ist  sein  Einfluß 
auf  die  mittlere  Tiefe  besonders  groß.  Sieht  man 
von  den  Randmeeren  ab,  so  erhöht  sich  die 
mittlere  Tiefe  der  eigentlichen  Weltmeere  auf 
4117  m;  für  die  Nordhalbkugel  allein  steigt  sie 
auf  4322  m,  für  die  Südhalbkugel  sinkt  sie  auf 
4000  m. 


Dem  Volumen  nach  kommen  auf  den  Pazifi- 
schen Ozean  rund  707,  den  Atlantischen  Ozean 
323,  den  Indischen  Ozean  291  Mill.  cbkm;  von 
den  Randmeeren  steht  weit  voran  das  arktische 
Mittelmeer  mit  17  Mill.  cbkm,  ihm  folgen  das 
asiatische  mit  10,  das  amerikanische  mit  9,5  und 
endlich  das  europäische  mit  nur  4.2  Mill.  cbkm. 
An  mittlerer  Tiefe  übertrifft  aber  das  amerikani- 
sche Randmeer  mit  2214  m  die  übrigen  bei 
weitem.  Indischer  und  Atlantischer  Ozean  haben 
nahezu  die  gleiche  mittlere  Tiefe  (3950  m),  der 
Pazifische  Ozean  ist  durchschnittlich  350  m  tiefer 
als  sie. 

Von  dem  Gesamtareal  der  Ozeane  (361  Mill.qkm) 
treffen  27,5  auf  den  Kontinentalschelf  (0—200  m); 
38,7  auf  den  Kontinalabhang  (200— 2440  m); 
283,7  ^^^  ^^^  Tiefseeboden  (2440 — 5758  m)  (das 
sind  mehr  als  ^/j),  endlich  11,2  Mill.  auf  das  Tief- 
seegesenke (unter  5750  m).  Ein  Viertel  des 
Ozeans,  also  mehr  als  Asien  und  beide  Amerika 
zusammengenommen  liegt  unter  5000  m;  das 
Areal  der  Tiefen  von  mehr  als  6000  m  ist  nahezu 
so  groß  wie  halb  Europa  und  selbst  unter  7000  m 
liegen  noch  fast  500  000  qkm,  also  mehr  als  Deutsch- 
land nach  dem  Vertrag  von  Versailles  umfaßt. 

Von  besonders  bekannten  und  vielgenannten 
Mittelmeeren  hat  die  Ostsee  (einschließl.  Kattegat) 
eine  mittlere  Tiefe  von  nur  55  m,  das  ist  erheb- 
lich weniger  als  z.  B.  der  Bodensee,  auch  der 
irische  und  englische  Kanal  stehen  in  mittlerer 
Tiefe  diesem  Binnensee  nach,  der  es  ungefähr 
mit  der  Nordsee  (94  m)  aufnimmt.  Das  Japanische 
und  das  Behringsmeer  dagegen  haben  ungefähr 
die  gleiche  mittlere  Tiefe  wie  die  Maximaltiefen 
der  tiefsten  Binnenseen  (Baikal  und  Tanganyika). 

Die  Berechnungen  vernachlässigen  übrigens 
die  Tatsache,  daß  die  Tiefenstufen  um  so  mehr 
von  der  Wirklichkeit  abweichen,  je  tiefer  sie  sind, 
weil  sie  ja  kleineren  Rotationsellipsoiden  ange- 
hören, das  Volumen  des  Meeres  muß  also  in 
Wirklichkeit  etwas  geringer  sein.  Bei  der  be- 
deutenden Größe  des  Meeres  macht  die  Vernach- 
lässigung der  Erdkrümmung  immerhin  einen 
Fehler  von  —  1  Mill.  cbkm  im  Vol.  und  von 
—  3  m  in  der  mittleren  Tiefe  aus,  doch  wird  die 
mittlere  Tiefe  nicht  verändert,  insolern  sie  das 
Mittel  aus  allen  gleichmäßig  über  das  Meer  ver- 
teilten Tiefen,   wohl  aber,   wenn   sie  einfach  den 

^      •         Vol.    ^  ^ 

(Juotient r  bedeutet. 

Areal 

Um  das  mittlere  Niveau  der  starren  Erdkruste 
festzustellen,  unterzog  Koßinna  auch  die  mitt- 
lere Höhe  der  Kontinente  einer  Nachprüfung,  bis 
auf  Europa,   Afrika  und  Südamerika,   für   welche 


178 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


die  früheren  Berechnungen  von  L  e  i  p  o  1  d  t , 
Heide  rieh  und  Haack  beibehalten  wurden. 
Danach  ist  die  mittlere  Höhe  von  Europa  297, 
von  Afrika  671,  von  Südamerika  582  m,  von 
Asien  970  (Penck),  von  Australien  346  (Penck), 
von  Nordamerika  nach  Gannett  715m,  endlich 
von  Antarktika  nach  Meinardus  2000  m.  Der 
mögliche  Fehler  dieser  letzteren  Zahlenangabe  ist 
aber  200  m,  was  bei  einem  Areal  von  über  i4Mill. 
qkm  einen  Fehler  von  fast  3  Mill.  cbkm  bedeutet, 
gleich  dem  Volumen  von  ganz  Europa  (!)  Es 
ergibt  sich  hieraus  eine  mittlere  Höhe  der  Land- 
fläche zu  840  +  40  m.  Für  die  Nordhalbkugel 
erhalten  wir  745  m,  für  die  Südhalbkugel  dagegen 
1029  m,  also  nahezu  300  m  mehr,  bedingt  durch 
den  sehr  hohen  antarktischen  Kontinent. 

Kombinieren  wir  nunmehr  die  Werte  für  die 
mittlere  Tiefe  des  Weltmeeres  und  der  Landhöhe, 
so  ergibt  sich  als  mittlere  Höhe  der  gesamten 
Erdoberfläche  —  2440  m ,  oder  für  Nord-  und 
Südhalbkugel  getrennt  — 1890  und  — 2990  m, 
d.  h.  die  starre  Oberfläche  der  Nordhalbkugel  ist 
durchschnittlich  um  i  loo  m  höher  als  die  der 
Südhalbkugel,  die  starre  Oberfläche  ersterer  über- 
trifft also  letztere  um  rund   100  000  qkm. 

Berücksichtigen  wir  noch  die  Böschungsver- 
hältnisse, so  fällt  der  Unterschied  beider  Halb- 
kugeln noch  größer  aus,  denn  die  Nordhalbkugel 
hat  ein  viel  reicheres  Relief  als  die  Südhalbkugel. 
Stellen  wir  die  Landhalbkugel  mit  einem  Punkt 
bei  Nantes  als  Pol  der  Wasserhalbkugel  gegen- 
über, so  finden  wir,  daß  die  starre  Erdkruste  auf 
ersterer  sogar  mehr  als  2000  m  höher  liegt  als 
auf  letzterer.  Endlich  liegen  42  v.  H.  des  Kon- 
tinentalblattes über  dem  mittleren  Krustenniveau, 
58  V.  H.  unter  demselben.  Das  Volumen  dieser 
Blätter  beträgt  rund  600  Mill.  cbkm,  '/jj  liegt 
oberhalb  des  Meeresniveaus,  ^^12  unterhalb  des- 
selben. Nehmen  wir  das  Volumen  des  Welt- 
meeres zu  rund  1370  Mill.  cbkm  an,  seine  durch- 
schnittliche Dichte  zu  1,037,  so  ergibt  sich  sein 
Gesamtgewicht  zu  1,42  Trillionen  Tonnen  oder 
^!^2vo  ^^^  ganzen  Erdkugel,  wenn  wir  ihr  spez. 
Gewicht  zu  5,52  annehmen.  Bei  einem  mittleren 
Salzgehalt  von  34,8  "/qq  beträgt  die  in  Meerwasser 
gelöste  Salzmenge  4,95- 10*®  t,  was  einem  Vo- 
lumen von  22,3  Mill.  cbkm  entspricht.  Auf  den 
als  eben  gedachten  Meeresboden  ausgebreitet, 
würde  das  Salz  eine  Schicht  von  62  m  Mächtig- 
keit bilden. 

Endlich  geht  Koßinna  auch  auf  eine  Schät- 
zung der  in  den  Binnenseen  und  den  Flüssen 
enthaltenen  Wassermenge,  sowie  des  Gletscher- 
eises und  des  Wasserdampfes  der  Atmosphäre 
ein.  In  bezug  auf  den  zuletzt  genannten  Posten 
akzeptiert  er  die  Berechnungen  von  Meinardus, 
welcher  ihn  zu  1 2  300  cbkm ,  also  zu  einer  sehr 
unbedeutenden  Mächtigkeit  bestimmt.  Unter 
der  Voraussetzung,  daß  die  Eisdecke  in  Grönland 
und  Antarktika  rund  1000  m  sei,  was  mir  sehr 
reichlich  vorkommt,  berechnet  K.  das  Vo- 
lumen   des    gesamten    Eises    der    Erde    zu    rund 


16  Mill.  cbkm.  Das  Volumen  aller  Seen  der 
Erde  soll  nach  ihm  120000  cbkm  nicht  über- 
steigen, wovon  die  Hälfte  auf  den  Kaspisee  ent- 
fallen soll.  Diese  Zahlen  sind  unstreitig  zu  niedrig 
gegriffen.  Nach  meiner  Berechnung  faßt  allein 
der  Kaspisee  rund  90  000  cbkm,  die  darauf  volumen- 
größten Seen  Baikal,  Superior,  Tanganyika,  Nyassa, 
Huron  und  Michigan  zusammen  etwa  rund  64000 
cbkm.  Das  Volumen  aller  Seen  der  Erde  beläuft 
sich  nach  meinen  Berechnungen  auf  rund  2  50  000 
cbkm,  das  der  Flüsse  habe  ich  jüngst*)  auf 
1 5  000  cbkm  geschätzt,  also  auf  etwas  mehr  als 
das  des  Wasserdampfes  der  Atmosphäre.  Dazu 
kamen  noch  Sümpfe,  Moore,  Schnee,  Tau,  endlich 
das  Grundwasser. 

Immerhin  leidet  es  nicht  den  geringsten  Zweifel, 
daß  das  Süßwasser  der  Erde  gegenüber  dem 
Meerwasser  nur  eine  verschwindend  geringe  Menge 
ausmacht,  nach  meiner  Rechnung  etwa  3  "/(,(,  des 
Gesamtvolumens.  W.  Halbfaß. 


Brüsseler  Geologeukougreß. 

Dem  XII.  internationalen  Geologenkongreß  in 
Toronto  hat  infolge  des  Weltkrieges  im  üblichen 
Zeitraum  von  3  bis  4  Jahren  ein  weiterer  nicht 
folgen  können.  Ein  mit  Ausarbeitung  bestimmter 
Vorschläge  beauftragter  Ausschuß  hat  am  20.  Juli 
1921  in  London  Beratungen  gepflogen.  Der  Ver- 
treter Deutschlands,  Stei  n  mann -Bonn  hatte 
nicht  rechtzeitig  eintreffen  können,  denjenigen 
Österreichs,  Tietze-Wien,  hatte  die  Einladung 
nicht  erreicht  (vgl.  die  Berichte  in  „Geolog.  Rund- 
schau" Bd.  XII,  H.  3—5,  1921,  S.  234—236),  auch 
andere  Mitglieder  waren  entschuldigt.  Unter  an- 
derm  beschloß  man  hier,  die  Internationalen  Kon- 
gresse fortzusetzen  „den  heutigen  Verhältnissen 
entsprechend  abgeändert". 

Vom  10.— 19.  August  1922  sollte  nun  der 
normale  Kongreß  in  Brüssel  stattfinden.  Das 
belgische  Organisationskomitee  hat  es  aber  fertig 
gebracht  von  vornherein  den  normalen  Charakter 
zu  vereiteln.  Es  gibt  sich  den  Anschein,  ver- 
mutlich im  Hinblick  auf  den  zitierten  Wortlaut, 
der  schon  mit  ähnlichen  Hintergedanken  unter- 
geschoben sein  mag,  in  London  Vollmacht  er- 
halten zu  haben,  Angehörige  der  Mittelmächte  fern- 
zuhalten und  hat  tatsächlich  dementsprechend  be- 
schlossen (Geologiska  föreningens  i  Stockholm 
Förhandlingar  Bd.  43,  Heft  6— 7,  1921—22,  S.  673 
bis  674). 

Für  neutral  gesinnte  Fachgenossen  entsteht 
nach  dem  sehr  würdigen  schwedischen  Bericht, 
dem  die  Mitteilung  entnommen  ist,  auf  diese 
Weise  „en  bögst  beklagig  Situation".  Denn  der- 
artige Taktlosigkeiten  stellen  sie  immer  wieder 
vor  das  Dilemma  einer  indirekten  einseitigen 
Stellungnahme.  Man  sucht  dem  von  ihrer  Seite 
nun  recht  geschickt  dadurch  vorzubeugen,  daß 
man   derartigen    noch    immer    unter    französischer 


')  Naturwiss.  Monatshefte   1921,  NoTcmberhcft. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


179 


Kriegspsychose  stehenden  Kongressen  zwar  die 
internationale  Zusammensetzung  natürlich  nicht 
abspricht,  aber  sie  als  mehr  private  Veranstaltungen 
gelten  zu  lassen  und  dementsprechend  nicht  zahlen- 
mäßig in  die  Reihe  der  wirklich  gemeinsamen 
Tagungen  aufzunehmen  wünscht.  Der  XIII.  Geo- 
logenkongreß würde  nach  diesem  Vorschlag  also 
noch  einmal  auf  eine  geistig  schon  weiter  ge- 
sundete Zeit  vertagt  werden. 

Für  uns  Deutsche  erscheint,  abgesehen  von  der 
auch  für  uns  tief  schmerzlichen  unverantwortlichen 
Schädigung  der  übernationalen  Wissenschaft,  die 
französisch  belgische  Tölpelei  viel  weniger  unbehag- 
lich. An  Teilnahme  wäre  bei  der  wirtschaftlichen 
Enge,  in  der  die  beteiligten  Kreise  leben,  und  ange- 
sichts der  Valutaschwierigkeiten  in  Deutschland 
einschl.  Deutsch-Österreich  wohl  kaum  oder  nur  in 
ganz  seltenen  Fällen  zu  denken  gewesen.  Dann 
hätten  es  unsere  Neider  leicht  gehabt,  uns  als  die  noch 
Schmollenden  hinzustellen  oder  gar  unser  reines 
Gewissen  zu  verdächtigen,  die  Gründe  solchen 
„Selbstausschlusses"  in  sattsam  bekannter  Weise 
vor  der  Welt  zu  verdrehen.  Dieser  Gefahr  ist 
nun  ein  nicht  ganz  unerwünschter  Riegel  vorge- 
schoben. Im  übrigen  können  wir  geruhig  ab- 
warten, ob  und  bis  sie  uns  selbst  wieder  in  ihre 
Mitte  bitten. 

Es  gibt  noch  immer  keinen  besseren  Bundes- 
genossen als  einen  mit  Blindheit  geschlagenen 
Feind  I  '  Hennig. 

Znr   Einwanderiingsgeschichte    von    Matri- 
caria  discoidea  D.  C. 

Zu  den  ausländischen  Pflanzen,  die  sich  in  den 
letzten  Jahrzehnten  mit  erstaunlicher  Schnelligkeit 
bei  uns  ausgebreitet  und  völlig  eingebürgert  haben, 
gehört  vor  allem  Matricaria  discoidea  D.  C,  die 
strahlenlose  Kamille  und  es  dürfte  deshalb  von 
Interesse  sein,  ihre  Einwanderungsgeschichte,  wenn 
auch  nur  in  allgemeinen  Umrissen,  kennen  zu 
lernen.') 

Bis  zum  Jahre  18 14  war  die  strahlenlose  Ka- 
mille noch  völlig  unbekannt.  In  diesem  Jahre 
wurde  sie  zum  ersten  Male  von  dem  aus  Deutsch- 
land stammenden  und  nach  Nordamerika  ausge- 
wanderten Botaniker  Friedrich  Traugott 
Pur  seh  in  seiner  „Flora  Americae  borealis"  unter 
dem  Namen  Santolina  suaveolens  beschrieben.  Er 
hatte  die  Pflanze  selbst  an  FJußufern  in  Kali- 
fornien entdeckt.  Schon  in  den  nächsten  Jahren 
wurde  sie  auch  an  anderen  Stellen  Nordamerikas 
sowie  im  nördlichen  Teile  von  Ostasien  (Kamt- 
schatka, Ostsibirien)  wildwachsend  gefunden. 
1837  gab  ihr  der  bekannte  französische  Systema- 
tiker De  Candolle  den  noch  heute  meist  ge- 
bräuchlichen Namen  Matricaria  discoidea.     Doch 


')  Vgl.  K.  R.  Kupffer,  Einiges  über  Herkunft,  Ver- 
breitung und  Entwicklung  der  ostbaltiscben  Pflanzenwelt. 
Arbeiten  des  1.  Baltiscben  Historikertages  zu  Riga  1908.  — 
Hier  auch  genauere  Literatur  über  die  Ausbreitung  unserer 
Pflanze  in  Osteuropa. 


blieb  ihre  systematische  Stellung  noch  lange  Zeit 
ungeklärt.  Das  geht  schon  daraus  hervor,  daß  sie 
in  nicht  weniger  als  10  verschiedenen  Gattungen 
untergebracht  wurde,  wie  z.  B.  auch  bei  Tanace- 
f/iin,  Oirysanfhevmm,  Cotula,  Artcmisia  u.  a.  So 
fand  die  Pflanze  unter  den  verschiedensten  Be- 
zeichnungen Eingang  in  die  europäischen  bota- 
nischen Gärten,  von  denen  sie  ihren  Sieges- 
zug durch  die  meisten  Kulturländer  angetreten 
hat.  In  den  40  er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
wurde  sie  im  botanischen  Garten  zu  Petersburg 
kultiviert  und  bald  zeigte  sie  sich  auch  in  der 
Umgebung  des  Gartens  verwildert.  Bereits  1872 
war  sie  im  Gouvernement  Petersburg  gemein. 
1885  hatte  siedle  russischen  Ostseeprovinzen  und 
1889  auch  den  größten  Teil  von  Finnland  be- 
siedelt. Die  Besitzergreifung  Deutschlands  ging 
nicht  so  rasch  von  statten.  Die  Ausgangspunkte 
der  Ausbreitung  waren  auch  hier  vielfach  die 
botanischen  Gärten.  1845  und  46  wurde  unsere 
Kamille  unter  der  fragwürdigen  Benennung  Pyre- 
thrum  defloratuni  Hort,  im  Berliner  botanischen 
Garten  gezogen  und  1852  fand  sie  A.  Braun 
recht  zahlreich  auf  der  Dorfstraße  in  Schöneberg 
nicht  allzu  weit  vom  botanischen  Garten  in  Ge- 
sellschaft von  Xanthium  strm/iariutn,  Coronofus 
Kuelli,  Sisymbrium  Trio,  Impatiens  f>arvißora  u.  a. 
eingeschleppten  Fremdlingen.')  1866  wurde  ihr 
Erscheinen  aus  Magdeburg,  1872  aus  Flensburg, 
1877  aus  Hamburg  gemeldet.  Seit  1861  ist  sie 
auch  aus  Schlesien  bekannt.^)  R.  v.  Üchtritz 
fand  sie  hier  in  der  Nähe  des  Breslauer  botanischen 
Gartens.  Auch  sonst  tauchte  sie  noch  an  den 
verschiedensten  Stellen  in  Deutschland  auf,  zuletzt 
anscheinend  in  Süddeutschland.  Erst  seit  1890 
hat  sie  sich  lebhafter  ausgebreitet  und  dann 
in  überraschend  kurzer  Zeit  von  ganz  Deutsch- 
land Besitz  ergriffen.  Heute  ist  sie  überall  eine 
ganz  bekannte  Erscheinung.  Mit  Vorliebe  folgte 
sie  zunächst  den  Eisenbahnlinien.  Von  dem 
Bahnhofsgelände  ging  sie  dann  auch  bald  auf 
andere  Ruderalsteilen,  Schuttplätze  und  Wegränder 
über.  In  natürlichen  Formationen  hat  sie  noch 
nirgends  festen  Fuß  fassen  können  und  ihr 
weiteres  Schicksal  bleibt  abzuwarten.  Jedenfalls 
hat  sie  schon  heutzutage  nahezu  kosmopolitische 
Verbreitung,  da  sie  auch  bereits  aus  Australien 
bekannt  ist. 

Über  die  Art  der  Samenverbreitung  von 
Matricaria  discoidea  liegen  m.  W.  noch  keine 
näheren  Beobachtungen  vor,  doch  teilt  A.Braun 
mit,  daß  sich  aus  der  völlig  glatten  Oberfläche 
der  Achänen  bei  Befeuchtung  äußerst  feine  durch 
Gallerte  verbundene  Fädchen  entwickeln.  Viel- 
leicht heften  sich  die  Samen  mit  Hilfe  dieser 
Fädchen  an  anderen  Gegenständen  fest  und  wer- 
den auf  diese  Weise  weiter  verschleppt. 

E.  Schalow  (Breslau). 


')  Vgl.  A.  Braun,  Cliamomilla  discoidea  Gay,  eine  neue 
Wanderpflanze  in  Deutschland.     Bot.  Zeitung  1852. 

')  Vgl.  die  betreffenden  Jahrgänge  der  Verhandlungen 
des  bot,  Vereins  der  Prov.  Brandenburg. 


i8o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


Neue  Forschungen  über  die  Fixsterne. 

Über  die  Beziehungen  zwischen  den  Farben, 
den  Temperaturen  und  den  Durchmessern  der 
Sterne  handelt  eine  Untersuchung  von  Wilsing 
(Astron.  Nachr.  Nr.  5124).  Zunächst  stellt  er 
darin  fest,  daß  bei  den  Fixsternen  nur  diejenigen 
Farben  angetroffen  werden,  die  in  der  natürlichen 
Abkühlungsreihe  der  Metalle  vorkommen.  Daher 
gestatten  die  Farben,  wenn  auch  mit  ziemlicher 
Unsicherheit,  einen  Schluß  auf  die  Temperatur. 
Unter  der  wohl  angenähert  zutreffenden  Voraus- 
setzung, daß  die  Sterne  ähnlich  wie  ein  schwarzer 
Körper  strahlen,  kann  man  dann  auf  Grund  des 
Planckschen  Strahlungsgesetzes  den  Winkel  wert 
des  Sterndurchmessers  ermitteln,  der  bekanntlich 
durch  direkte  Beobachtung  nicht  meßbar  ist,  weil 
wir  im  Fernrohr  das  durch  das  Sternlicht  erzeugte 
Beugungsscheibchen  sehen ,  das  natürlich  viel 
größer  ist,  als  dem  wirklichen  scheinbaren  Durch- 
messer des  Sterns  entspricht.  Auch  auf  der 
photographischen  Platte  entstehen  infolge  des 
Zitterns  des  Sternbildchens  scheibenförmige 
Schwärzungen,  aus  deren  Größe  wir  wohl  auf  die 
Helligkeit,  nicht  aber  auf  den  Durchmesser  des 
Sterns  schließen  können.  Wenn  wir  von  Sternen 
erster  oder  zweiter  Größe  usw.  sprechen,  so 
drücken  wir  damit  bekanntlich  nur  die  Helligkeit 
der  betreffenden  Sterne  aus. 

Auch  Russell,  Haie,  Pease  und  Ander- 
son haben  nach  verschiedenen  Methoden  Winkel- 
werte von  Sterndurchmessern  ermittelt.  Für 
Beteigeuze  ergab  sich  nach  Michelsons  Inter- 
ferenzmethode 0,045",  während  Wilsing  und 
Russell  aus  dem  Strahlungsgesetz  Werte  zwi- 
schen 0,032"  und  0,040"  fanden.  Dabei  ist 
Beteigeuze  von  den  bisher  in  dieser  Richtung  be- 
handelten Sternen  noch  der  scheinbar  größte, 
denn  Wilsing  und  Russell  fanden  z.  B.  für 
Sirius  0,004"  bis  0,007" 

Vega  0,003    bis  0,004. 

Aldebaran  0,024  bis  0,034 
Arktur  0,019  bis  0,031. 
Die  bekanntlich  zuerst  von  Elster  und 
Geitel  in  die  beobachtende  Astronomie  einge- 
führte lichtelektrische  Zelle  ist  in  den  letzten 
Jahren  zu  einem  außerordentlich  feinfühligen  Meß- 
instrument ausgestaltet  worden.  Auf  dem  Pots- 
damer Astronomentag  gab  Rosenberg  an,  daß 
bei  der  Bestimmung  einer  Sternhelligkeit  mit  der 
Photozelle  eine  Genauigkeit  bis  auf  ein  Zehn- 
tausendstel einer  Größenklasse  keine  unerreich- 
bare Grenze  mehr  ist.  Ferner  berichtete  Bott- 
linger  über  die  in  Babelsberg  vorgenommenen 
Farbenindexbestimmungen  mit  der 
lichtelektrischen  Zelle.  Der  „Farben- 
index" wurde  dadurch  ermittelt,  daß  eine  Hellig- 
keitsmessung mit  Blaufilter  verglichen  wurde  mit 
einer  solchen  bei  vorgeschaltetem  Gelbfilter. 
Natürlich  erscheint  ein  gelber  Stern  bei  letzterem 
Filter  heller,  ein  blauer  bei  ersterem.  Beobachtet 
wurden  die  Sterne  bis  zur  5.  Größe  und  es  ergab 


sich  für  die  Pickeringschen  Spektralklassen  F 
bis  M,  daß  die  Zwergsterne  erheblich  weißer  sind 
als  die  Riesen  und  daß  bei  den  letzteren  erheb- 
liche Verschiedenheiten  im  Farbenindex  vorkom- 
men, während  die  Zwerge  mehr  übereinstimmende 
Farbenindizes  aufweisen.  Bei  den  Sternen  der 
Klasse  Ma  ist  die  Rotfärbung  am  stärksten,  die 
späteren  Typen  sind  wieder  weißer. 

Eine  Beziehung  zwischen  der  absoluten  Größe 
der  Sterne  und  ihrer  räumlichen  Geschwindigkeit 
haben  Adams,  Strömberg  und  Joy  aufge- 
deckt (Astrophys.  Journal,  Juli  1921).  Der  be- 
treffenden Untersuchung  wurden  1350  Sterne, 
meist  von  den  Pickeringschen  Spektraltypen 
F,  G,  K  und  M  zugrunde  gelegt.  Trägt  man  die 
räumlichen  Geschwindigkeiten  als  Funktion  der 
absoluten  Größen  graphisch  auf,  so  ergibt  sich 
nahezu  eine  schräg  aufsteigende,  gerade  Linie, 
die  für  die  Größe  —  3  bei  etwa  20  km/sec  be- 
ginnt und  bei  Größe  10  ungefähr  65  km/sec  er- 
reicht, so  daß  einer  absoluten  Helligkeitsabnahme 
von  einer  Größenklasse  eine  Geschwindigkeits- 
zunahme von  rund  3  km  entspricht.  Unter  allen 
Fixsternen  sondern  sich  die  Riesensterne  als  eine 
Klasse  für  sich  ab,  da  sie  verhältnismäßig  frei 
von  starken  individuellen  Bewegungen  sind. 

Eine  statistische  Untersuchung  über  die  Mas- 
sen der  Fixsterne  verdanken  wir  v.  Zeipel 
(Upsala).  Er  fand,  daß  in  den  Sternhaufen  die 
schwereren  Sterne  hauptsächlich  nahe  der  Mitte 
zu  finden  sind,  während  die  leichteren  weiter  zer- 
streut sind,  wie  es  dem  sog.  Verteilungsgesetz 
von  Maxwell,  das  für  aus  Molekeln  aufgebaute 
Gasmengen  ausgesprochen  wurde,  entspricht.  Die 
gelben  Riesensterne  sind  nach  v.  Zeipel  etwa 
sechsmal,  die  weißen  dagegen  nur  dreimal  so 
schwer  wie  unsere  Sonne. 

Als  eine  untere  Grenze  für  die  Entfernung 
der  Milchstraßensterne  glaubt  S e e  300 000 
Lichtjahre  angeben  zu  können. 

Auf  dem  Gebiet  der  veränderlichen 
Sterne  stellt  das  Erscheinen  der  ersten  zwei 
Bände  der  „Geschichte  und  Literatur  der  ver- 
änderlichen Sterne",  die  im  Auftrage  der  astro- 
nomischen Gesellschaft  von  Müller  und  Hart- 
w  i  g  herausgegeben  wird  ,  einen  wichtigen  Fort- 
schritt dar.  Erst  durch  diese  zusammenfassende 
Arbeit  ist  das  bis  dahin  in  zum  Teil  schwer  er- 
häklichen  wissenschaftlichen  Schriften  verstreute 
Material  der  bisher  vorliegenden  Beobachtungen 
so  übersichtlich  vereinigt,  daß  sich  Untersuchun- 
gen über  einzelne  Klassen  dieser  interessanten 
Gestirne  ohne  allzu  große  Schwierigkeiten  aus- 
führen lassen.  Den  Anfang  mit  dieser  Ausnutzung 
des  Werkes  hat  Ludendorff  gemacht,  dessen 
in  den  Astronom.  Nachrichten  veröffentlichten 
Arbeiten  wir  nachstehend  einige  Ergebnisse  ent- 
nehmen. Zunächst  wurde  von  Ludendorff  die 
Frage  behandelt,  ob  zwischen  den  d  ■  Cephei- 
Sternen  und  den  Mira-Sternen  eine  scharfe  Grenze 
besteht.  Diese  P>age  läßt  sich  zwar  vorläufig 
noch  nicht  entscheiden,  aber  soviel   konnte   doch 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


181 


auf  Grund  der  Verteilung  der  Perioden  und  der 
bei  ö  Cephei-Sternen  niedrigen  galaktischen  Breiten 
festgestellt  werden,  daß  die  Grenze,  falls  sie  über- 
haupt vorhanden  ist,  bei  Perioden  von  50  bis 
60  Tagen  zu  suchen  ist,  so  daß  die  der  d  Cephei- 
Sterne  unter  dieser  Grenze  liegen.  Die  Werte 
der  Amplituden  andererseits  zeigen,  daß  auch  bei 
der  Periode  von  90  Tagen  eine  gewisse  Abgren- 
zung stattfindet,  hier  beginnen  die  Spektra  der 
Klasse  Md.  Vielleicht  könnten  die  lichtstarken, 
amerikanischen  Fernrohre  auf  spektrographischem 
Wege  eine  scharfe  Abgrenzung  nachweisen  in  dem 
Umstände,  daß  die  typischen  ö  Cephei-Sterne  den 
Perioden  entsprechend  veränderliche  Radial- 
geschwindigkeit zeigen,  während  die  echten  Mira- 
Sterne  solche  Veränderungen  der  Bewegungen  in 
der  Gesichtslinie  nicht  aufweisen.  Jedenfalls  wer- 
den weitere  Beobachtungen  der  hierher  gehörigen 
14  Sterne  mit  Perioden  zwischen  35  und  90  Tagen 
für  die  Erkenntnis  des  Wesens  dieser  Gruppen 
Veränderlicher  besonders  wichtig  sein. 

Ludendorff  untersuchte  ferner  noch  die 
Veränderlichen  der  Gruppen  RV  Tauri  und  U  Ge- 
minorum.  Bei  den  ersteren  liegt  zwischen  zwei 
Hauptminima  in  der  Regel  ein  sekundäres  Mini- 
mum. Sowohl  die  Abstände  der  Hauptminima 
als  auch  die  Lichtkurven ,  die  bald  an  ß  Lyrae, 
bald  an  (J  Cephei  erinnern,  sind  stark  veränder- 
lich. Alle  Perioden  liegen  unter  200  Tagen,  die 
Amplituden  sind  bis  auf  R  Scuti  gering,  ebenso 
die  galaktischen  Breiten.  Es  gehören  hierher 
folgende  Sterne,  bei  denen  die  in  Klammern 
stehenden  Zahlen  die  Amplituden  in  Größen- 
klassen angeben:  R  Sagittae  (1,8),  V  Vulpeculae 
(0,1),  RV  Tauri  (2.5).  N  Monocerotis  (1,5),  TV 
Andromedae  (1,7),  R  Scuti  (4.5),  BM  Scorpii  (0,9). 

Für  die  U  Geminorum-Gruppe  ist  charakte- 
ristisch das  lange  Verweilen  im  Minimum  bei 
nahe  konstanter  Helligkeit,  sowie  das  in  unregel- 
mäßigen Intervallen  erfolgende,  plötzliche  Empor- 
schnellen derselben,  dem  dann  ein  rasches,  wenn 
auch  langsameres  .^bnehmen  folgt.  Am  rasche- 
sten folgen  die  Aufhiellungen  bei  X  Leonis  (durch- 
schnittlich alle  16  Tage),  am  langsamsten  bei 
UV  Persei  (etwa  alle  200  Tage).  Es  gehören  zu 
dieser  die  nicht  auf  die  Nähe  der  Milchstraße  be- 
schränkten Sterne  UV  Persei  (A  >■  5"),  SS  Aurigae 
(4,2),  U  Geminorum  (5,0),  X  Leonis  (3,9),  TW 
Virginia  (>  3,5),  SS  Cygni  (3,9),  RU  Pegasi  (1,3). 

F.  Kbr. 


Die  Tätigkeit  des  Popocatepetl. 

Unter  diesem  Titel  hat  Dr.  L  Friedländer, 
der  zurzeit  auf  einer  vulkanologischen  Forschungs- 
reise in  Südamerika  weilt,  in  der  Deutschen  Zeitung 
von  Mexiko  (7.  Dez.  192 1)  einen  Artikel  gebracht, 
dessen  hohes  vulkanologisches  Interesse  mich  ver- 
anlaßt, eine  kurze  Mitteilung  einiger  darin  ent- 
haltener wertvoller  Beobachtungen  nebst  einigen 
Bemerkungen  zu  geben,  was  mir  um  so  mehr 
erleichtert  ist,   als  mir  ein  Brief  und  eine  Anzahl 


vorzüglicher  ergänzender  Photographien  des  be- 
kannten Vulkanologen  soeben  von  ihm  zuge- 
gangen sind. 

Die  letzten  größeren  bekannten  Ausbrüche  des 
Popocatepetl  hatten  in  den  Jahren  1539 — 40, 
wiederholt  im  17.  Jahrhundert  und  vielleicht  noch 
einmal  im  Jahre  1720  statt.  Seitdem  ruhte  der 
Berg,  und  wurde  nur  im  Zustand  ruhiger  Solfa- 
tarentätigkeit  beobachtet.  Der  in  seinem  Krater 
abgesetzte  Schwefel  wurde  noch  im  Jahre  1919 
abgebaut.  Den  Kraterboden  erfüllte  nach  einer 
1906  von  Friedländer  bei  einer  früheren 
Expedition  aufgenommenen  Photographie  ein 
kleiner  von  Schutthalden  umgebener  See.  Im 
Juni  192 1  erschienen  die  ersten  starken  Dampf- 
wolken über  dem  Krater.  Zeitlich  steht  diese 
Erscheinung  dem  Januarerdbeben  1920  am  Ori- 
zaba  nahe. 

Dr.  Waitz  lieferte  nach  Beobachtungen  vom 
II.  Okt.  1920  den  ersten  eingehenden  Bericht 
über  den  neu  erwachten  Berg  (American  Journal 
of  Science).  Damals  bereits  hatte  sich  ein  flacher, 
napfkuchenartiger  Lavahügel  auf  dem  Kraterboden 
gebildet,  den  er  als  den  Kopf  der  unterlagernden, 
aufstrebenden  Lavasäule  deutete.  Starke  Solfa-. 
tarentätigkeit,  begleitet  von  Explosionen  aus  der 
Lavamasse  selbst,  wurde  besonders  an  der  Fuge 
zwischen  Kraterwand  und  Pfropfen  beobachtet. 

Dr.  Atl  gab  weiter  Nachricht  über  den  Zu- 
stand des  Berges  am  23.  und  24.  Nov.  1920,  an 
welchen  Tagen  die  Auswürflinge  der  Eruptionen 
den  Rand  des  ca.  500  m  hohen  Kraters  erreichten. 
Ferner  berichtet  er  das  Erscheinen  einer  hell 
leuchtenden,  hohen  Flamme  über  der  Mitte  der 
Kuppel.  In  der  zweiten  Märzhälfte  1921  fand 
Dr.  Atl  das  Volumen  der  Lavakuppe  verdoppelt 
und  von  glühenden  Spalten  durchsetzt. 

Alles  deutet  jedenfalls  in  der  Richtung  lang- 
sam aber  nicht  ganz  gleichmäßig  zunehmender 
Tätigkeit. 

Am  15.  Febr.  1921  erreichte  Friedländer  den 
Vulkankrater.  Fast  der  ganze  Kraterboden  war 
von  der  Quellkuppe  erfüllt,  eine  Erscheinung,  die 
Friedländer  in  mehreren  klaren  Photographien 
festgehalten  hat,  was  um  so  wertvoller  erscheint, 
als  Quellkuppen  in  statu  nascendi  noch  außer- 
ordentlich selten  beobachtet  wurden;  es  ist  mir 
kein  Fall  bekannt,  in  dem  eine  solche  im  Boden 
des  Kraters  eines  Stratovulkans  in  ihren  Anfangs- 
stadien —  um  ein  solches  dürfte  es  sich  hier 
handeln  —  im  Bilde  festgehalten  ist.  Man  wird 
mit  Friedländer  auf  Grund  vielfacher  Er- 
fahrungen solche  Quellkuppen  als  eine  Alterser- 
scheinung eines  Vulkans  deuten  dürfen,  dem  in 
diesem  Zustande  der  Quellkuppenbildung  in  vielen 
Fällen  überhaupt  nicht  mehr,  in  anderen  erst  nach 
längerer,  vorbereitender  Anstrengung  noch  die 
Kraft  zur  Verfügung  steht  seinen  Vulkanschlot 
und  damit  den  Weg  zu  unbehinderter  Eruption 
frei  zu  halten. 

Die  aufwärts  strebende  Kuppe  trennte  ein 
schmaler  Ringgraben  von  den  Schlotwänden.    Es 


lS2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


dürfte  dieser  die  Folge  der  Zurückhaltung  der 
Massen  durch  Reibung  an  den  Kraterwänden  sein. 
Im  Krater  umgab  ein  Kranz  stark  dampfender 
Fumarolen  und  Solfataren  die  zentrale  Kuppe. 
Über  der  Kuppe  selbst  lag  kein  Dampf,  doch 
zeigte  die  zitternde  Luft  über  ihr  deutlich,  daß 
dort  offenbar  ebenso  Gase  aufstiegen,  die  nur 
noch  nicht  zu  sichtbarer  Form  kondensiert  waren. 
Friedländer  nennt  Wasserstoff  das  die  erste 
Rolle  spielende  Gas.  Es  scheint  mir  danach,  daß 
die  Dampfbildung  des  Randgrabens  nur  als  Ab- 
kühlungsfolge von  den  Kraterrändern  her  zu  deuten 
ist,  und  daß  durch  die  Masse  der  Kuppe  selbst 
nicht  weniger,  sondern  nur  heißere  Gase  auf- 
stiegen. Dies  Aufsteigen  ist  erleichtert  und  kon- 
zentriert an  den  die  Kuppe  durchsetzenden  Spalten 
und  Spaltengruppen.  Sie  scheinen  auch  den 
Hauptweg  der  größeren  Explosionen  darzustellen, 
deren  Friedländer  einige,  besonders  aus  den 
zentralen  Teilen  der  Kuppe  entspringende,  be- 
obachten konnte,  die  Steine  bis  zur  Kraterrand- 
höhe auswarfen.  Die  Explosionswolke  selbst  er- 
hob sich  weit  über  den  Krater,  zeitweise  bis  zu 
ca.  2000  m. 

Gesteine  der  Kuppe  konnte  FriedländeT 
nicht  sammeln,  doch  glaubt  er  mit  Bestimmtheit, 
daß  ihr  Material  nach  dem  allgemeinen  Habitus 
dasselbe  andesitische  Gestein  darstellt,  das  die 
Hauptmasse  des  Berges  aufbaut.  Von  besonderem 
Interesse    ist,    daß   im   NW   wie   SO   der   Kuppe 


dunkle,  schlackige  Oberfläche  beobachtet  wurde, 
so  daß  an  beiden  Stellen  Andesitblocklava  am 
Fuß  seitlich  der  Kuppe  ausgetreten  sein  muß. 
Dies  und  die  vorwiegend  zentralen  Gasexplosionen 
veranlassen  Friedländer  zur  Annahme  eines 
zentralen  Kraterrohres  auch  in  der  Quellkuppe. 
Ich  will  der  Möglichkeit  und  selbst  Wahrschein- 
lichkeit dieser  Annahme  gern  beitreten,  glaube 
aber  doch,  daß  ein  zwingender  Beweis  hierfür 
erst  noch  zu  erbringen  wäre.  Denn  bei  dem 
völlig  zerrütteten  Zustande  des  Quellkuppen- 
materials, das  außer  durch  die  Spalten  auch  durch 
die  vielen  kleineren,  in  ihrer  Lage  offenbar  nicht 
konstanten  Gasaustrittstellen  bewiesen  wird,  wäre 
m.  E.  auch  die  spontane  Öffnung  und  Schließung 
der  Masse,  also  ein  lokales,  wieder  ausheilendes 
Durchbrechen  von  unten  ohne  Entwicklung  eines 
konstanten  Eruptivschlotes  denkbar.  —  Die  vor- 
liegenden Nachrichten  scheinen  allerdings  darauf 
hinzuweisen,  daß  diese  Durchbrüche  mit  Vorliebe 
zentral  (die  großen  Gasexplosionen),  vielleicht 
auch    randlich   (die   Lavaaustriitstellen)    auftreten. 

Jedenfalls  wird  man  den  weiteren  Nachrichten 
Friedländers  und  seinen  in  der  Zeitschrift  für 
Vulkanologie  zu  erwartenden  Arbeiten  und  Ab- 
bildungen mit  Spannung  entgegen  sehen  müssen. 

Geologisch-paläontologisches  Institut  und  Mu- 
seum  der   Universität  Berlin.     Im  Februar  1922. 

Hans  Reck. 


Bücherbesprechungen. 


Schweinfurth,    Georg,    Auf    unbetretenen 
Wegen    in    Ägypten.       Aus    eigenen    ver- 
schollenen Aufzeichnungen    und  Abhandlungen. 
XXXII  und  330  S.     Zahlreiche  Tafeln  und  Text- 
abbildungen.    Hamburg  und  Berlin  1922,  Hoff- 
mann und  Campe. 
Mit   erstaunlicher   Frische   hatte   vor   wenigen 
Jahren  zur  Zeit  seines  80.  Geburtstages  der  Nestor 
der  deutschen  Afrikaforschung  GeorgSchwein- 
furth  eine  Neuauflage  seines  Werkes  „Im  Herzen 
von    Afrika"    in    einer    wahrhaft    würdigen    und 
monumentalen    Form    herausgebracht.     Mit    der- 
selben Frische  legt  uns  heute  der  greise  Gelehrte 
anläßlich    seines    85.    Geburtstages    einen    neuen 
stattlichen    Band     mit    dem    glücklich    gewählten 
Titel  „Auf  unbetretenen  Wegen  in  Ägypten"  vor. 
Der  rührige  Verlag  Hoffmann  und   Campe   hatte 
ihn    aufgefordert,    für    die  Reihe    der    in    diesem 
Verlage   erscheinenden  „Lebenswerke"   eine   Dar- 
stellung   seiner    Lebensarbeit     niederzuschreiben. 
Schw.    hatte    sich    dieser  Aufforderung  nicht  ent- 
ziehen können.     Seiner  schlichten  und  bescheide- 
nen, jedem   lauten   Hervortreten   völlig  abholden 
Gelehrtennatur  entsprechend  vermochte  er  jedoch 
nicht,    sich    eine    zusammenfassende    Darstellung 
seines  Lebens  abzuringen.     Mit  geschicktem  Griff 
suchte  er   vielmehr   aus   alten   früher  gedruckten 


Abhandlungen  das  heraus,  was  am  besten  uns 
einen  Einblick  in  seine  Lebensarbeit  gewähren 
konnte.  So  vereinigte  er  7  ausgewählte  Abhand- 
lungen, die  an  versteckter  Stelle  bereits  früher 
erschienen,  dort  aber  nur  dem  engsten  Fachkreise 
zugänglich  waren,  zu  dem  vorliegenden  Bande. 
Einen  kurzen  Lebenslauf  fügte  er  ihnen  an;  ebenso 
eine  kurze  Skizze  über  seine  Erlebnisse  mit  dem 
Verlagsbuchhandel.  Den  Abhandlungen  selbst 
wiederum  sind  zahlreiche  Anmerkungen  und  Zu- 
sätze angefügt,  die  uns  erkennen  lassen,  mit  wel- 
cher Liebe  der  alte  Gelehrte  auch  noch  heute  an 
den  Fragen  weiterarbeitet,  die  seinem  Leben  den 
Inhalt  gaben.  Außerdem  ist  das  Buch  reich  mit 
Abbildungen  geschmückt,  die  in  der  Mehrzahl  auf 
eigenen  Photographien  und  Zeichnungen  beruhen. 
Auch  die  äußere  Form  des  Werkes  entspricht 
seinem  Inhalt;  gleichwie  das  Werk  „Im  Herzen 
von  Afrika"  wird  es  deshalb  seinen  Weg  zu  dem 
Publikum  finden.  Noch  ein  paar  Worte  über  seinen 
Inhalt.  Die  ersten  beiden  Abhandlungen,  im 
Jahre  1865  geschrieben,  bilden  ein  zusammen- 
hängendes Ganze,  obwohl  sie  dazumal  an  ver- 
schiedenen Stellen  veröffentlicht  sind.  Die  erste 
von  ihnen  behandelt  Schw.s  „Reise  an  die  Küste 
des  Roten  Meeres  von  Kosser  bis  Suakin",  die 
zweite  die  im  Anschluß  an  diese  Reise  gemachten 


N.  F.  XXi.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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„Ausflüge  um  Kosser".  Beide  zeigen  uns  Schw. 
in  voller  Tätigkeit  eines  Forschungsreisenden  auf 
im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  unbetretenen 
Wegen.  Wohl  waren  diese  Reisen  in  erster  Linie 
auf  die  botanische  Erforschung  der  betr.  Gebiete 
eingestellt.  Aber  gleich  vom  Beginn  der  Reisen 
an  beschränkt  Schw.  seine  Beobachtungen  nicht 
auf  dieses  Gebiet,  sondern  greift  auf  die  Geo- 
graphie, Geologie,  Ethnologie  und  Archäologie 
über.  Der  nachfolgende  Abschnitt  zeigt  uns,  wie 
ein  Forschungsreisender  manchmal  zu  ganz  anders- 
artigen Studien  veranlaßt  werden  kann,  als  sie 
ihm  seinem  Studiengange  nach  zunächst  liegen. 
Dreimal  hatten  Schw.  seine  Reisen  zu  den  beiden 
ältesten  Klöstern  der  Christenheit,  die  etwa  200  km 
südöstlich  von  Kairo  weitab  von  den  gemeinhin 
üblichen  Reisewegen  liegen  und  deshalb  auch  nur 
von  wenigen  Europäern  bisher  besucht  waren,  zu 
den  Klöstern  St.  Antonius  und  St.  Paulus  geführt. 
Beiden  widmet  er  nun  ein  Erinnerungsblatt,  indem 
er  in  frischer  Weise  die  Lage  der  Klöster,  ihre 
Umgebung,  gleichzeitig  aber  auch  das  Leben  und 
Treiben  der  Mönche  in  ihnen  beschreibt  und  auch 
Einblicke  in  die  Geschichte  ihrer  Gründer  ver- 
mittelt. Die  folgenden  vier  Arbeiten  geben  uns 
Ausschnitte  aus  den  Arbeiten  Schw.s  auf  dem 
Gebiete  der  Ägyptologie.  Sie  behandeln  ein  „altes 
Stauwerk  aus  der  Pyramidenzeit"  (bei  Heluan), 
die  „Steinbrüche  am  iVIons  Claudianus  in  der  öst- 
lichen Wüste  Ägyptens"  und  die  „Begagräber". 
Das  letzte  Kapitel  endlich  „Die  Wiederaufnahme 
der  alten  Goldminenbetriebe  in  Ägypten  und 
Nubien"  zeigt  uns,  wie  auch  auf  ägyptischem 
Boden  Altertum  und  Gegenwart  eng  miteinander 
verknüpft  sind. 

Berlin.  Hugo  Mötefindt. 


Pummerer,  Prof.  Dr.  R.,  Organische  Chemie. 
(Wissenschaftliche  Forschungsberichte  Bd.  IIL) 
Dresden  u.  Leipzig  1921,  Theodor  Steinkopfif. 
36  M. 
Die  „Wissenschaftlichen  Forschungsberichte" 
sollen  „eine  Auswahl  des  Wichtigsten,  was  In- 
und  Ausland  seit  1914  in  jedem  einzelnen  Zweig 
der  Naturwissenschaften  geleistet  hat"  zur  Dar- 
stellung bringen.  Der  vorliegende  Band  präzisiert 
diese  Aufgabe  dahin,  dem  angehenden  Chemiker 
in  vorgeschrittenen  Semestern  „das  intensive  Ein- 
leben in  sein  organisches  Arbeitsgebiet"  zu  er- 
leichtern. Dieser  Zweck  erscheint  voll  erreicht. 
Keine  einigermaßen  wichtige  Arbeit  ist  unerwähnt 
geblieben,  die  in  den  Kriegsjahren  und  später  ent- 
stand. Vieles  davon  ist  den  Lesern  dieser  Zeit- 
schrift aus  unseren  Referaten  bekannt,  in  denen 
wir  uns  allerdings  bemühten,  auch  für  Nichtche- 
miker  verständlich  zu  sein.  Das  vorliegende  Buch 
ist  nur  dem  Chemiker  voll  verständlich.  Man 
darf  also  auch  den  strengeren  Maßstab  des  Che- 
mikers bei  der  Beurteilung  anlegen.  Diesem  wird 
die  Bevorzugung  der  Arbeiten  aus  der  Münche- 
ner Schule  auffallen.  Verständlich  bei  dem  sach- 
lichen Wert   der   gerade   in   München   geleisteten 


Arbeit  einer-  und  aus  der  Person  des  in  München 
tätigen  Verf.s  andererseits,  beeinträchtigt  dieser 
Umstand  doch  zuweilen  das  Urteil  über  Arbeiten, 
die  einem  anderen  Geiste  entstammen.  So  tritt 
beispielsweise  die  Theorie  der  Karbonsäuren  von 
Hantzsch  nicht  in  das  rechte  Licht.  Ein  ohne- 
hin lohnendes  Eingehen  auf  die  umfassenden  Ar- 
beiten dieses  Forschers  wäre  erwünscht  und  dem 
vollen  Verständnis  der  Säuretheorie  (mag  man  in 
Einzelheiten  zu  ihr  stehen  wie  man  will)  förder- 
lich gewesen.  Wie  breit  erscheint  demgegenüber 
das  Kapitel  über  die  Gallenstoffe  und  das 
über  die  Zucker.  Und  eigentlich  überflüssig 
sind  die  Abschnitte  über  Enzyme,  denn  „Er- 
gebnisse" haben  auch  die  Arbeiten  Willstätters 
noch  nicht  gebracht.  Unzureichend  hinwiederum 
ist  das,  was  über  Zellulose  gesagt  ist. 

Im  einzelnen  fiel  mir  dieses  auf:  S.  3  ist 
Essigester  als  „enolisierbare  Verbindung"  aufge- 
führt. Gemeint  sind  offenbar  Stoffe  vom  Typ 
des  A  c  e  t  essigesters.  —  S.  37  wird  die  Aufstellung 
„präziser  Koordinationsformeln"  gefordert.  Ein 
schwer  erfüllbares  Verlangen!  In  der  Wern er- 
sehen Schreibweise  hört  ja  gerade  die  Präzision 
unserer  alten  Strukturformeln  auf.  Das  Ziel  ist, 
die  „Sphären"  im  Molekül,  die  Werner  klüglich 
offen  ließ,  mittels  'Kauffmann scher  Kraftfeld- 
symbole zu  dem  zu  machen  was  sie  sind:  kraft- 
erfüllte Räume.  —  Die  Formel  XII  auf  S.  39  ist 
kein  Hydroxyd,  wie  der  Text  S.  40  angibt.  — 
S.  41  fehlt  die  Literaturangabe  der  Arbeiten  von 
Lee  her.  —  Ungemein  zu  bedauern  ist  die  jetzt 
leider  immer  allgemeiner  werdende  Schreibweise 
wissenschaftlicher  Namen  nach  ihrer  deutschen 
Aussprache.  Zumal  da  sie,  vielleicht  in  besserer 
Einsicht  des  Verf  s,  nicht  immer  durchgeführt  ist. 
Wenn  man  schon  Karbon  sagt,  warum  dann  nicht 
auch  Naf talin?  Das  auch  sachlich  Bedenkliche 
der  Schreibweise  des  Verf.s  erhellt  aus  einem 
Wort  wie  Zinnamyl,  das  sowohl  die  Zinn- 
verbindung  wie  den  Cinnamylrest  bedeuten  kann. 

Im  ganzen  sind  die  angeführten  Bemerkungen 
ohne  Belang.  Zur  raschen  Unterrichtung  über 
die  in  den  letzten  Jahren  gemachten  Fortschritte 
der  organischen  Chemie  ist  das  Buch  wohl  zu 
empfehlen.  H.  H. 

Böhmig,    Ludwig,    Die    Zelle.      (Morphologie 
und  Vermehrung.)     138  S.  mit  73  Abb.     Berlin 
und  Leipzig   1920,  Verlag  Vereinigung  wissen- 
schaftlicher  Verleger.     (818.  Band   der  Samm- 
lung Göschen.)     Preis  geh.  2,10  M.  und  100  "'„ 
Verlegerteuerungszuschlag. 
In  knapper  Form  werden  die  wichtigsten  Ka- 
pitel der  Zellenlehre   behandelt,   wobei   der  Verf. 
sich  fast  ausschließlich  auf  die  tierische  Zelle  be- 
schränkt.    Die  Darstellung  ist  leicht  lesbar,  doch 
hat  man  den  Eindruck,    als    sei   das  Büchlein  be- 
reits  vor   etwa  8  Jahren   geschrieben.     Jedenfalls 
geht    der   Verf.,    was    die    Berücksichtigung    der 
Literatur  anbelangt,    nicht  über  Buchners  1915 
erschienenes,  ausgezeichnetes  Praktikum  der  Zellen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  13 


lehre  und  über  Brüels  im  gleichen  Jahre  im 
Handwörterbuch  der  Naturwissenschaften  veröffent- 
lichten, ebenfalls  vortrefflichen  Aufsatz  über  Zelle 
und  Zellteilung  hinaus.  Und  es  ist  doch  manches 
Wertvolle  auf  zytologischem  Gebiete  im  In-  und 
Auslande  seither  erschienen  1  Daß  die  neuere  aus- 
ländische Literatur  nicht  berücksichtigt  wurde, 
mag  mit  der  Schwierigkeit  ihrer  gegenwärtigen 
Beschaffung  entschuldigt  werden.  Schwerer  wiegt 
es  aber,  wenn  z.  B.  noch  von  der  vermeintlichen 
„Merogonie  der  Oenolhera-Bastarde"  eine  Schilde- 
rung gegeben  wird.  Der  Hinweis  darauf,  daß  es 
„Biologen  gibt,  die  gegen  die  Konstruktion  eines 
Zusammenhanges  zwischen  Geschlecht  und  Idio- 
Chromosomen  sind",  erscheint  ebenfalls  reichlich 
veraltet.  Auch  die  Angaben  über  die  künstliche 
Parthenogenese  stimmen  nicht  mehr  ganz. 

Nachtsheim. 

Bürger,  Prof.  Dr.  O.,  Venezuela.  Ein  Führer 
durch  das  Land  und  seine  Wirtschaft.  Mit 
einer  mehrfarbigen  Karte.  Leipzig  1922,  Diete- 
richsche  Verlagsbuchhandlung.  50  M. 
Das  Land,  das  jetzt  von  den  Vereinigten 
Staaten  von  Venezuela  eingenommen  wird,  ist 
der  Teil  der  neuen  Welt,  mit  dem  Deutschland 
zuerst  in  Berührung  trat,  und  auch  lange  nach 
dieser  ersten  durch  die  Welser  angebahnten  Be- 
ziehung haben  Deutsche  in  den  Freiheitskämpfen, 
sowie  bei  der  wissenschaftlichen  und  wirtschaft- 
lichen Erschließung  des  Landes  eine  nicht  unbe- 
deutende Rolle  gespielt.  Noch  heute  ist  das 
deutsche  Element,  wenn  auch  zahlenmäßig  nicht 
besonders  stark,  doch  ein  recht  bedeutungsvoller 
Faktor  im  Lande.  Die  Deutschen  sind  nämlich 
die  Vertreter  des  Hochhandels  in  Venezuela  und 
sind  dementsprechend  besonders  geachtet;  sie 
leben  auch  im  besten  Einvernehmen  mit  der  ein- 
heimischen Bevölkerung,  die  sich  durch  Regsam- 
keit, Intelligenz  und  innere  Veranlagung  vorteil- 
haft auszeichnet.  Außerdem  sind  Vertreter  des 
Handwerks,  namentlich  Hutmacher  und  auch  aka- 
demische Berufe  im  Lande  tätig.  Besonderes 
Interesse  beansprucht  eine  deutsche  Bauernsied- 
lung, die  Kolonie  Tovar,  lOO  km  westlich  von 
Caracas  und  70  km  nördlich  von  La  Victoria  in 
einer  Höhe  von  1700— 2000  m,  die  1843  von 
Badener  Landleutcn  gegründet  wurde.  Sie  hat 
sich  durch  schwere  Zeiten  hindurch  bis  heute 
gehalten,  war  aber  drauf  und  dran,  im  Spanier- 
tum  aufzugehen,  als  der  Weltkrieg  eine  erfreu- 
liche Selbstbesinnung  bewirkte.  Wir  entnehmen 
diese  Angaben  dem  oben  genannten  Buche,  das, 
ähnlich  wie  das  neulich  von  uns  angezeigte  Buch 


des  gleichen  Verfs  über  Chile  seine  Entstehung 
dem  besonderen  Interesse  verdankt,  das  bei  uns 
dem  Auswanderungsproblem  entgegengebracht 
wird.  Erst  vor  wenigen  Jahren  hat  die  venezoe- 
lanische  Regierung  durch  Bestimmungen  die  Ein- 
wanderung erneut  anzuregen  versucht.  An  ge- 
eignetem Siedlungsland  ist  kein  Mangel.  In  Frage 
kommen  allerdings  nur  die  hochgelegenen  Land- 
striche, als  besonders  geeignet  werden  die  Kor- 
dillere  von  Mörida  und  die  westliche  Hälfte  der 
karaibischen  Ketten  genannt.  Einer  geschlossenen 
Siedlung  von  Landwirten  und  Handwerkern  wird 
das  Wort  geredet. 

Das  Buch  kommt  den  oben  gekennzeichneten 
Interessen  ausgezeichnet  entgegen.  Es  gibt  eine 
zum  Teil  aus  eigener  Erfahrung,  im  übrigen  aus 
den  besten  Quellen  geschöpfte,  lebendige,  knappe 
aber  sehr  reichhaltige  Schilderung  der  bunten  Be- 
völkerung, der  staatlichen  Entwicklung,  der  Vege- 
tation und  Tierwelt  und  namentlich  der  Wirt- 
schaft dieses  interessanten,  von  der  Natur  ver- 
schwenderisch bedachten  Landes.  Miehe. 


Lampert,  Das  Leben  der  Binnengewässer. 
3.  vermehrte  u.  verbesserte '  Auf  läge,  bearbeitet 
von  Lauterborn.  Lieferung  2 — 6.  Leipzig, 
Tauchnitz. 
Von  diesem  ausgezeichneten  Werke,  dessen 
erste  Lieferung  wir  schon  anzeigten,  sind  jetzt  die 
Lieferungen  2 — 6  erschienen.  Sie  bringen  den 
Schluß  der  Mollusken,  die  Insekten,  die  Spinnen- 
tiere, und  von  den  Crustaceen  die  höheren  Krebse, 
die  Kopepoden,  die  Ostrakoden  und  ein  Teil  der 
Phyllopoden.  Überall  hat  der  Herausgeber  das 
Buch  mit  dem  Stande  des  heutigen  Wissens  in 
Einklang  gebracht.  Bei  den  Insekten  sind  be- 
sonders die  grundlegenden  Arbeiten  vom  Wesen- 
berg-Bund gebührend  zur  Geltung  gekommen.  Die 
Abbildungen  sind  wesentlich  die  allen  geblieben. 
Erwähnt  muß  werden,  daß  einige  Mängel  im  Druck 
der  Abbildungen,  die  bei  der  ersten  Lieferung 
auffielen,  bei  den  neueren  Lieferungen  glücklich 
vermieden  sind.  Nienburg. 

Lassar-Cohn,    Prof.   Dr.,  Einführung   in   die 
Chemie    in    leicht  faßlicher    Form.     6., 
verb.  Aufl.     Leipzig   1921,  Leopold  Voß. 
Ein    gutes    Buch    auf    mäßigem    Papier    mit 
äußerst  schlechten  Abbildungen.    Einzelnes  ist  für 
eine  „Einführung"  zu  schwer,  so  z.  B.  der  Begriff 
des  asymmetrischen  Kohlenstoffatoms,   das   Peri- 
odische System  und  der  Anhang.  Für  Volkshoch- 
schulen warm    zu    empfehlen!     Stil  und  logischer 
Aufbau  sind  mustergültig.  H.  H. 


InllHlt :  II.  Frickc,  Zur  Klärung  des  Älherproblems.  (l  Abb)  S.  169.  E.  Schalow,  Pflanzenverbreitung  und  vorge- 
schichtliche liesiedlung.  S.  173.  —  Einzelberichte:  K.  Kofiinna,  Die  Tiefen  des  Weltmeeres.  S.  177.  Brüsseler 
Geologonkongrefl.  S.  178.  Zur  Einwanderungsgesehichte  von  Matricaria  lihcoidea  D.  C.  S.  179.  Wilsing,  Neue 
Forschungen  über  die  Fixsterne.  S.  180.  I.  Friedländer,  Die  Tätigkeit  des  Popocatepetl.  S.  181.  —  Bücher- 
besprechungen: G.  Schwein furth,  Auf  unbetretenen  Wegen  in  Ägypten.  S.  182.  R.  Pummerer,  Organische 
Chemie.  S.  183.  L.  Böhmig,  Die  Zelle.  S.  183.  O.  Bürger,  Venezuela.  S.  184.  Lampert,  Das  Leben  der 
Binnengewässer.  S.   184.     Lassar-Cohn,  Einfuhrung  in  die  Chemie  in  leichtfaßlicher  Form.  S.   184. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  II.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lipperl  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.   Band: 
der  ganzen  Reihe  37.   Hand. 


Sonntag,  den  2.  April  1922. 


Nummer  14. 


Das  Donautal  in  Österreich. 


[Nachdruck  verboten.  1 

In  dem  an  die  350  km  langen  Laufe  der 
Donau  in  Österreich  sind  fünf  Weitungen,  die  mit 
mio-  und  pliozänen  Meeres-  und  Seenschichten 
wie  noch  späteren  Flußaufschüttungen  bedeckt 
sind,  zwischen  sechs  Engtäler  eingeschaltet,  in 
denen  der  Strom  von  Norden  oder  Süden  vor- 
wallendes Gebirge  durchbricht.  Berühmt  ist  ja 
die  bildhafte  Kennzeichnung  durch  Ed.  Sueß, 
der  die  Donau  mit  einem  an  den  Gebirgsdurch- 
brüchen  als  Aufhängepunkten  befestigtem  Seil 
verglich ,  daß  zwischen  ihnen  im  Bogen  herab- 
hängt; und  dieses  Herabhängen  wird  gewöhnlich 
auf  ein  (hauptsächlich  durch  die  Erdrotation  be- 
wirktes) Ausbiegen  der  Donau  nach  rechts  zurück- 
geführt, wobei  „meilenweite  Alluvialniederungen 
als  linksseitiges  Ufer  zurückgelassen"  werden 
(5  i  1057).')  Der  Lauf  der  Donau  ist  verhältnis- 
mäßig alt :  ihre  allgemeine  Nordwest  •  Südost- 
Richtung  hält  sich  wahrscheinlich  sowohl  im 
Böhmischen  Massiv  (der  „herzynischen  Richtung" 
der  deutschen  Mittelgebirge)  wie  innerhalb  des 
alpin  -  karpathischen  Bogens  (14;  169  f.)  an  eine 
tektonisch  vorgezeichnete  Linie  und  die  Talge- 
schichte des  Stromes  läßt  sich  in  den  meisten 
Teilen  an  den  ihn  beiderseits  begleitenden,  zeit- 
lich überwiegend  fixierbaren  Terrassen  (Gehänge- 
stufen) ablesen,  die  freilich  infolge  nachträglicher 
Störungen  an  manchen  Stellen  Unregelmäßigkeiten 
im  Gefälle,  d.  h.  Abweichungen  von  einem  paral- 
lelen Verlaufe  zum  Strome  zeigen  ;  es  gab 
schon  eine  Donau ,  als  die  jüngste  zusammen- 
hängende Meeresbedeckung  in  unserem  Gebiete 
bereits  die  Verbindung  mit  dem  offenen  Ozeane 
verloren  hatte  (2;  10),  wobei  unsere  Urdonau  in 
Binnenseen  mit  wechselnder  Spiegelhöhe  mündete, 
die  sich  —  den  Strom  nach  sich  ziehend  —  immer 
weiter  in  den  tiefer  liegenden  Südosten  zurück- 
zogen :  schon  im  Oberpliozän  verließ  bei  Linz 
(14;  185),  noch  früher  (Obermiozän,  Altpliozän?) 
in  380  m  Höhe  bei  Krems  eine  Donau  das 
Böhmische  Massiv  (10 ;  12).  Jedenfalls  aber  ist 
die  Anlage  des  Durchbruchstales  hier  überall 
präglazial;  während  der  Eiszeit  erfolgte  nur  eine 
Tieferlegung  des  Flusses,  eine  Tieferlegung,  die 
jedoch  nach  der  Lage  der  ältesten  Eiszeitterrasse 
über  dem  heutigen  Strom  den  Betrag  von  durch- 
schnittlich 30  m  nicht  überschritten  haben  dürfte. 
Die    Entstehung   der   Donau    muß   zu    einer    Zeit 


Von  Oskiir  Keude. 


')  Die  wichtigste  Literatur  ist  am  Eude  des  Aufsatzes 
zusammengestellt;  wo  im  Text  Literaturbelege  gegeben  sind, 
weist,  in  Klammern  gesetzt,  eine  erste  Ziffer  auf  die  ent- 
sprechende des  Literaturverzeichnisses,  eine  zweite  auf  die 
Seitenzahl  des  betreffenden  Werkes  hin. 


begonnen  haben,  als  die  Landschaft  ganz  andere 
Formenzüge  trug  als  gegenwärtig.  Mit  deutlichem 
Fuße  hebt  sich  heute  der  Südrand  der  Böhmischen 
Masse  gegen  das  Alpenvorland  ab.  Dem  war 
früher  nicht  so:  als  die  letzte  Meeresbedeckung 
schwand,  war  das  Alpenvorland  bis  zu  solcher 
Höhe  mit  ihren  Ablagerungen  erfüllt,  daß  diese 
auch  über  den  Abfall  des  Urgebirges  hinüber- 
griffen. An  der  damaligen  tiefsten  Stelle  (4;  105), 
aber  in,  gegenüber  dem  heutigen,  weit  höheren 
Niveau  setzte  die  Arbeit  der  Urdonau  zunächst 
in  den  leicht  zerstörbaren  tertiären  Schichten  ein; 
ein  breites  Tal  war  schon  geschaffen,  ehe  der 
Fluß  auf  den  widerstandsfähigeren  Rücken  des 
Urgesteins  traf,  in  den  er  sich  dann  in  engem 
Tale  einsägte,  während  die  Denudation  die  lockeren 
Auflagerungen  der  Gehänge  entfernte.  Das  gibt 
das  heutige  Bild  der  Donaudurchbrüche  durch 
den  österreichischen  Anteil  am  Böhmischen  Mas- 
sive und  es  besteht  die  auffällige  Tatsache,  daß 
man  den  Strom  mehrmals  felsumgürtet  im  Ge- 
birge eingesenkt  findet,  während  ihm  heute  um 
das  Gebirge  herum  ein  bequemerer  Weg  offen 
stünde.  Aber  wir  wissen  ja:  der  F"luß  folgt  gar 
nicht  der  heutigen,  sondern  der  anders  gerichteten 
Abdachung  einer  früheren  geologischen  Epoche: 
man  nennt  so  entstandene  Täler  epigenetische. 
Einzelheiten  des  Laufes  mögen  dann  von  jungen 
Verbiegungen  (i;  478)  oder  der  Gesteinsstruktur 
(4;  106)  mitbestimmt  worden  sein.  —  Über  die 
gewöhnlich  anders  angenommene  Entstehung  des 
Durchbruchs  der  Donau  durch  die  Sandsteinzone 
der  Alpen  oberhalb  Wiens  zwischen  Leopoldsberg 
und  Bisamberg  und  ihren  Durchbruch  zwischen 
den  Ausläufern  der  Alpen  und  den  Kleinen  Kar- 
pathen  oberhalb  Preßburgs  sprechen  wir  dann  an 
gegebener  Stelle. 

Kurz  unterhalb  von  Fassau,  wo  die  Fluten  des 
breiteren  Inn  sich  der  Donau  vermengen,  wird 
das  rechte  Ufer  unseres  Flusses  österreichisch, 
erst  rund  25  km  davon  entfernt  bei  Engelhartszell 
auch  das  linke.  Bis  gegen  Aschach,  also  auf  bei- 
nahe 70  km  Lauf  länge,  ist  das  „Passauer  Tal" 
genannte  Stromstück,  zumal  zwischen  Engelharts- 
zell und  der  Mündung  der  Gr.  Mühl  ganz  eng. 
Aus  80  bis  100  m  Höhe  gleiten  aus  fast  geradem 
First  sanft  die  Gehänge  zum  Strome  nieder,  nur 
gelegentlich  lugt  nackter  Fels  aus  dem  stillen 
Gleichmaß  der  Waldbedeckung  hervor,  selten  ver- 
mag das  Auge  aus  der  erzwungenen  Beschränkung 
des  Vor-  und  Rückwärts  tiefer  seitlich  in  ein 
Nebental,  wie  das  der  Gr.  Mühl  einzudringen;  die 
schluchtartigen   Gräben    der   wenigen   und    meist 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kurzen  Nebenflüsse,  die  mit  ungleichmäßigem  Ge- 
fälle den  Weg  zum  Hauptstrom  finden,  öffnen  die 
Wände  kaum.  Ruhe  und  Einsamkeit  atmet  die 
Landschaft,  in  die  sich  gar  nicht  häufig  Einzel- 
gehöfte und  kleine  Dörfer,  wie  Engelhartszell  und 
Wesenufer  auf  der  rechten ,  Niederranna,  Ober- 
mühl,  wo  eine  aus  dem  Mühlviertel  kommende 
Straße  die  Donau  übersetzt,  und  Neuhaus  auf  der 
linken  Seite  belebend  drängen.  Gering  ist  ja  der 
Raum  für  Wohnstätte  und  Landbau  am  Flusse, 
bloß  auf  kleine  Strecken  kann  ihn  eine  Straße 
rechtsseitig  begleiten;  Siedlungen,  Felder  und  Ver- 
kehr mußten  sich  auf  die  Höhen  ziehen,  die  im 
Norden  als  Bayrischer  Wald  bis  zur  Staatsgrenze, 
im  Süden  etwa  gleich  weithin  als  Sauwald  (gipfelnd 
875  m  im  Haugstein)  bekannt  sind,  darüber  hinaus 
aber  keine  zusammenfassende  Bezeichnung  führen. 
Und  doch  hat  auch  hier,  dem  Verkehrsbande  des 
Stromes  geltend,  sich  manches  wichtige  Stück 
Geschichte  zugetragen.  Schon  die  Römer  besaßen 
hier  Befestigungen,  an  die  zehn,  noch  heute  sicht- 
bare Burgen  waren  die  Mitnutznießer  eines  leb- 
haften mittelalterlichen  Donauhandels,  in  Aschach 
hatte  Stephan  Fadinger,  der  Führer  des 
oberösterreichischen  Bauernaufstandes  von  1626, 
das  Hauptquartier.  Im  ganzen  ist  der  Lauf  der 
Donau  durch  das  Passauertal  nicht  allzustark  ge- 
wunden. Nur  bei  Schlögen,  bei  Ober-  und  Unter- 
mühl  finden  sich  größere  Schlingen.  Bei  Schlögen 
hemmt  eine  scharfe  Beuge  die  sonst  eingehaltene 
(tektonische)  Südostrichtung,  der  Strom  wendet 
sich  jäh  nach  Nordwesten  zurück;  in  der  Fort- 
setzung gegen  Südosten  aber  zieht  erst  der  kleine 
Adlersbach,  dann  (jenseits  des  Fadingersattels)  der 
Unterlauf  der  (bis  dahin  nach  Nordosten  ge- 
richteten) Aschach:  liegt  hier  ein  altes  Donautal 
vor,  geht  die  im  Verhältnis  zu  den  Flüssen  größere 
Breite  dieser  Furche  auf  die  Gesteinsstruktur 
zurück  (4;  106),  hat  bei  Schlögen  eine  junge  Auf- 
biegung dem  südöstlich  weiter  eilenden  Flusse 
den  Weg  verlegt  und  ihn  zum  Ausweichen  und 
Einschneiden  an  anderer  Stelle  genötigt  (i ;  478)?  ^) 
Oder  handelt  es  sich  bei  den  Mäandern  dieses 
Laufstückes  um  ursprünglich  natürliche  Schlingen 
einer  auf  der  alten,  fast  ebenen  und  wenig  ge- 
neigten Landoberfläche  träge  dahinschleichenden 
Urdonau,  die  durch  das  spätere  Einschneiden  des 
Flusses  in  die  Urgebirgsmasse  von  dieser  aufge- 
nommen wurden  und  sich  so  erhielten  (7;  105)? 
—  Bei  Aschach,  hinter  dem  wir  im  Aschach- 
Brandstätter  Kachlet  (G'  hachlet  —  Hackmesser) 
eine  steinige  Untiefe  passieren,-)  weitet  sich  die 
Landschaft  zum  Ef erdinger  Becken.  Zunächst 
verfängt  sich  noch  der  Blick  zur  Rechten  in  den 


')  Auch  Brust  (7;  105)  glaubt  im  Anschlufl  an  A.  Penck 
an  eine  Hebung  um  rund  100  m  und  er  nennt  einige  Be- 
obachtungen, die  dafür  sprechen  (Höhe  der  Heibacher  Eben- 
heit bei  Schlögen,  die  außerordentliche  Steilheit  und  Glätte 
der  Talwände  in  diesem  Gebiete,  Stufenmündungen  der  kleinen 
Seitenbäche,  Gefällsknicke  im  Unterlaufe  der  größeren). 

*)  Die  Fahrwassertiefe  beträgt  hier  (225 — 231  km  ober- 
halb Wiens)  bei  kleinstem  Schiflfahrtswasserstande  nur   1,25  m. 


Resten  der  einst  so  starken  Schaumburg  auf  vor- 
geschobenem Gneisfelsen,  aber  schon  über  das 
alte,  einst  am  Strome,  heute  weit  von  ihm  ab- 
liegende Eferding  hinweg,  dem  Everdingen  des 
Nibelungenliedes,  wo  Kriemhild  mit  Günther  und 
Giselher  auf  der  Fahrt  ins  Heunenland  genächtigt 
hat,  kann  man  südwärts  an  klaren  Tagen  bis  zu 
den  Alpenspitzen  schauen  und  gegen  Norden  ruht 
das  Auge  weithin  auf  freundlichem,  von  Streifen 
Ackerlandes  und  zahlreichen  Ortschaften  über- 
sponnenem  Gelände  des  Mühlviertels.  Rund  15  km 
bloß  vermag  sich  die  mannigfach  verästelte  erste, 
für  alle  Stromweitungen  schon  typische  Donau- 
girlande mit  ihren  lichtgrünen  Auenwäldern, 
den  vegetationsfreien  Kies-  und  Sandhaufen  zu 
schlingen;  Pesenbach  und  Gr.  Rotel  nimmt  der 
Strom  von  Norden,  den  Innbach  von  Süden  auf. 
Dort  aber,  wo  am  linken  Ufer  Schloß  Ottensheim 
hoch  über  dem  gleichnamigen  Markt  sich  erhebt 
und  rechts  von  fern  der  prächtige  Barockbau  der 
Zisterze  Wilhering  herüber  grüßt,  beginnt  schon 
das  zweite,  allerdings  viel  kürzere  Durchbruchs- 
tal der  Donau ;  sie  hat  hier  von  dem  gegen  Süden 
vorstehenden  Granitrücken  desMühlviertlerPlateaus 
den  Kirnberger  Wald  (525  m)  losgeschnitten. 
Nicht  mehr  so  einsam  ist  es  hier  wie  im  Passauer 
Tal.  Links  folgt  dem  Ufer  die  Mühlkreisbahn,  ins 
rechtsseitige,  von  zahlreichen  Kapellen  belebte 
Gehänge  ist  die  von  Wels  heraufziehende  Land- 
straße eingelassen  und  —  Linz,  die  den  Verkehr 
sammelnde  und  ausstrahlende  oberösterreichische 
Landeshauptstadt  ist  bereits  nahe;  auch  das  alte, 
die  Umgebung  beherrschende  Wahrzeichen  der 
Stadt  auf  dem  linken  Donauufer,  der  Pöstlingberg 
(537  m)  mit  seiner  barocken  Wallfahrtskirche  hat 
uns  dies  schon  längst  verraten. 

Unterhalb  der  auf  der  Niederterrasse ')  des 
Stromes  erbauten  Doppelstadt  Linz-Urfahr,  deren 
Emporkommen  als  Brückenort  durch  eine  Kreuzung 
von  Landwegen  und  Wasserstraße  mitbedingt 
war  und  deren  Bedeutung  für  den  Flußverkehr 
durch  Lagerhäuser,  Werfte  und  Hafenanlagen  der 
Donaudampfschiffahrtsgesellschaft  augenfällig  mar- 
kiert ist,  tritt  die  Donau  neuerdings  in  eine  Allu- 
vialebene ein,  das  Linz-Ardagger-Becken, 
das  man  wohl  auch  durch  den  bei  Mauthausen 
rechts  an  den  Strom  herantretenden  Urgebirgs- 
sporn  in  eine  westliche  und  östliche  Hälfte,  das 
eigentliche  Linzer  und  das  Wallseer  Becken  zer- 
legen kann.  Rund  4  km  breit  ist  das  wieder 
vielfach  zerteilte,  inselreiche  Strombett,  Auen- 
wälder und  Geröllbänke  erheben  sich  zwischen 
den  verwilderten  Armen,  deren  unmittelbare  Nähe 
bis  auf  das  zwischen  den  Fluß  und  den  Granit 
der  Böhmischen  Masse  malerisch  eingezwängte 
Mauthausen  (Steinbrüche!)  größere  Siedlungen 
gemieden  haben,  was  der  Landschaft,  die  auch 
genügenden  Ackerboden  entbehrt,  ein  fast  melan- 
cholisches Aussehen  gibt.    Erst  hält  sich  der  Fluß 


')  Die  Niederterrasse  entspricht  der  jüngsten  (vierten)  oder 
WUrmeiszeit. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ganz  am  Massivrande,  dann  schwingt  die  Girlande 
schärfer  gegen  Süden  ab  und  die  Wogen  bespülen 
die,  mehrfach  als  ausgesprochener  Steilabfall  ent- 
wickelte Nordgrenze  des  Alpenvorlandes  (l ;  474  f-. 
477),  dessen  tertiärer  Untergrund  von  der  Traun- 
mündung  bis  über  die  Enns  hinaus  mit  diluvialen 
Schottern  bedeckt  ist  (Traun-Enns  Platte)  und  nur 
östlich  davon  als  stärker  zertaltes  (Schlier)  Hügel- 
land zutage  tritt.  Auf  der  etwa  50  km  langen 
Strecke  zwischen  Linz  und  Ardagger  läßt  sich 
nach  alledem  nicht  allzuviel  erschauen.  Künst- 
lerische Formen  der  Baudenkmäler  und  historische 
Erinnerungen  von  der  Römerzeit  über  Nibelungen- 
und  Kreuzzugsfahrten  bis  in  die  Tage  Napoleons  I. 
müssen  ersetzen,  was  das  rein  Landschaftliche 
häufig  schuldig  bleibt.  Von  den  Granitausläufern 
unterhalb  von  Linz  sieht  Schloß  Steyregg  herab, 
gegenüber  wirft  die  Traun  ihr  Wasser  in  die 
Donau  und  rechts  blicken  von  den  Tertiärhügeln 
am  südlichen  Beckenrande  Schloß  Ebelsberg  und 
die  wundervollen  barocken  Türme  von  St.  Florian 
herüber.  Vor  Mauthausen,  nachdem  die  Gr.  Gusen 
aus  dem  Granitplateau  zur  Donau  durchgebrochen 
ist,  äugt  zwischen  lichten  Baumbeständen  die  alte 
Wasserburg  Spielberg  durch,  zur  Rechten  gemahnt 
die  Kirche  von  Lorch,  daß  hier  als  Laureacum 
eine  römische  Lagerstadt  (Hauptort  der  Provinz 
Ufernorikum)  die  Donaugrenze  schützte;  erhob  sich 
das  eigentliche  Lager  über  einem  auf  die  Nieder- 
terrasse geschütteten  Flußschwemmkegel,  so  liegt 
das  heutige  Enns  mit  seinem  mächtigen  Stadtturm 
unmittelbar  dahinter  auf  einer  höheren  Terrasse, 
der  steil  abfallenden  Hochschotterterrasse.')  Als 
bayrische  Grenzfeste  gegen  die  Magyaren  (Anesi- 
purch)  ist  es  im  Mittelalter  an  Lorchs  Stelle  ge- 
,  treten  und  war  lange  Zeit  auch  eine  wichtige 
Handelsstadt,  die  erst  durch  die  Verlegung  der 
Verkehrswege  vereinsamte  (8;  185  f.).  Unterhalb 
von  Mauthausen,  dessen  Name  die  wenig  gern 
erstatteten  Gebühren  für  die  Befahrung  des  Stromes 
verewigt  und  kurz  nachdem  die  Donau  rechts  die 
Enns  an  sich  gezogen  und  von  diesem  Punkt  an, 
freilich  bloß  auf  der  rechten  Seite,  niederöster- 
reichischen Boden  betreten  hat,  unterfährt  man 
die  einzige  Eisenbahnbrücke  zwischen  Linz  und 
Krems.  War  bisher  das  linke  Ufer  das  nähere, 
so  schiebt  sich  nunmehr  durch  das  Rechtsdrängen 
des  Stromes  das  Tertiärhügelland  enger  heran. 
Aist  und  Naarn  kommen  von  links  herzu,  die 
Naarn  muß  erst  eine  Zeitlang  der  Donau  parallel 
fließen,  ehe  sie  sich  ihr  verbindet ;  die  Donau  hat 
wohl  ihre  Mündung,  wie  sie  das  auch  mit  anderen 
Nebenflüssen  getan  hat,  verschleppt.  Rechts  ist 
es  eigentlich  nur  Schloß  Wallsee,  das,  auf  alt- 
historischem Posten  errichtet,  den  Blick  für  länger 
fesselt. 

Hinter  Ardagger  treten  schnell  die  Berge  beider- 
seits wieder  zusammen,  doch  nicht  das  Tertiär- 
hügelland   begleitet   rechts    den    Strom ,    sondern 


')    Die    Hochterrasse    gehört    der    dritten    oder    Rißeis- 
zeit an. 


das  dritte  Durchbruchstal  der  Donau  durch  das 
Massiv  hat  begonnen,  die  zwischen  Grein  und 
Ybbs  verlaufende  Greiner  Enge.  (Aber  auch 
unterhalb  von  Ybbs,  was  gleich  vorausbemerkt 
sei,  wo  in  der  weiteren  Umgebung  von  Pöchlarn 
das  südliche  Gehänge  zurückweicht  und  einer  im 
Mittel  2  km  breiten  Alluvialebene  Raum  gibt, 
bleibt  die  Donau  innerhalb  des  Massivs,  dessen 
Gneishügel  über  den  Fluß  stark  nach  Süden  vor- 
springen.) Die  Greiner  Enge  ist  bei  aller  Ähn- 
lichkeit mit  dem  Passauer  Tal  doch  freundlicher 
als  dieses.  Gewiß  auch  diese  Landschaft,  der  mit 
ihren  nah,  gelegentlich  auf  V2  ^"^  zusammenge- 
rückten, waldüberkleideten  Talwänden  an  manchen 
Stromstellen  jeder  Fernblick  so  sehr  genommen 
ist,  daß  man  auf  einem  gebirgsumschlossenen 
Alpensee  zu  weilen  vermeint,  ist  herb;  aber  der 
Eindruck  wird  wenigstens  auf  der  linken  Seite 
gemildert  durch  die  schneller  nebeneinander  ge- 
setzten Siedlungen  und  durch  den  diesem  Ufer 
folgenden,  tunnelreichen  Schienenstrang,  der  doch 
einen  Weg,  der  aus  der  Enge  hinausführt,  sinn- 
fällig werden  läßt.  Was  aber  dieses  Talstück  in 
früherer  Zeit  berühmt  und  berüchtigt  machte, 
waren  die  einst  so  gefährlichen  natürlichen  Hemm- 
nisse, die  hier  kurz  hintereinander  der  Schiffahrt 
erstanden.  Die  scharfe,  durch  einen  Felsvorsprung 
hervorgerufene  Strombeuge  bei  dem  malerisch  ihr 
eingeschmiegten  Örtchen  Grein  erzeugte,  wo 
links  der  Kreuzner  Bach  breiter  seine  Mündung 
weist,  die  wildschäumenden  Wirbel  des  „Greiner 
Schwall".-  Und  wenige  Kilometer  unterhalb,  da 
eben  der  Strom  mit  einem  stark  versandeten  Arm 
(dem  „Hößgang")  die  sagenübersponnene,  Ruinen 
gekrönte  Insel  Wörth  umschlungen  hat,  beginnt 
der  „Greiner  Struden".  Besonders  widerstands- 
fähiges, durch  die  Wogen  geglättetes  Gestein 
ragte  hier  als  „Kugeln"  klippenartig  auf,  rasend 
schnell  in  starkem  Gefalle  (Stromgeschwindigkeit 
in  der  Strudenausfahrt  noch  heute  bis  3,5  m  in 
der  Sekunde,  Niederwassergefälle  0,771  pro  "/oo)» 
stürzt  der  zwischen  den  Waldgehängen  eng  zu- 
sammengepreßte, mehrfach  gekrümmte  Fluß  über 
sie  hinweg  und  noch  gegenwärtig,  nachdem  sich 
schon  das  18.  Jahrhundert  um  die  Sprengung  der 
Felsen  bemüht,  doch  erst  das  Ende  des  19.  Jahr- 
hunderts eine  durchgreifende  Regulierung  gebracht 
hatte,  erfordert  die  hier  bei  Niederwasser  nicht 
größere  Tiefe  als  1,36  m  Vorsicht  für  die  Schiff- 
fahrt. Die  Enge  ist  gerade  verlassen,  es  bleibt 
kaum  Zeit,  Burg  Werfenstein  und  die  zu  ihren 
Füßen  an  den  Fels  gehängten  Häuser  des  Ört- 
chens Struden  zur  Linken  gebührend  zu  bewundern, 
da  gleiten  wir  auch  bereits  am  dritten  einstigen 
Hindernis  vorbei,  dem  „Wirbel";  die  Wassermassen 
stauten  sich  zu  heftig  kreisendem  Wogenprall,  wo 
links  der  gewaltige,  quer  dem  Strome  sich  vor- 
legende „Hausstein"  die  an  ihm  gebrochenen 
Wogen  der  gegenüberliegenden  Landspitze  des 
„Langen  Steins"  zuwarf;  erst  in  der  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  hat  man  durch  Sprengung  des 
Haussteins  den  „Wirbel"  für  die  Schiffahrt  gefahr- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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los  gemacht.^)  Links  eilen  wir  am  alten  Schiffer- 
dörfchen St.'  Nikola,  am  malerischen  Sarmingstein 
vorüber,  in  dessen  Rücken  sich  das  Tal  des  Sar- 
mingbaches  öffnet;  unfern,  beim  kleinen  Hirschenau, 
ist  nun  auch  das  linke  Ufer  niederösterreichisch 
geworden.  Tauchten  bisher  zur  Rechten  die 
Waldgehänge  (Schwarze  Wand,  Schlöglberg  — 
4S0  m  — )  fast  ohne  Uferknick  ins  Wasser  nieder, 
so  kann  hinter  Freyenstein  schon  eine  (gegen 
Ybbs  ziehende)  Straße  Platz  finden  und  auch 
links,  noch  vor  Ispersdorf,  das  die  Mündung 
der  Isper  hütet ,  treten  die  Berge  etwas  zurück. 
Haben  wir  links  Ort  und  Schloß  Persenbeug  in 
bevorzugter,  von  den  Römern  gegen  die  Ger- 
manen, von  den  Deutschen  gegen  die  Magyaren 
genützter  Lage  hinter  uns  (die  nicht  ernstlich 
„böse  Beuge"  des  F'lusses  liegt  südöstlich  davon), 
sind  wir  an  dem  ihm  gegenüber  breit  gelagerten, 
altertümlichen  Ybbs  vorüber  (römisches  Kastell 
»ad  pontem  Ises«),  so  haben  wir  auch  das  dritte 
Engtal  verlassen;  es  ist  klar,  daß  Ybbs,  der  seit 
Linz  größte  Ort  an  der  Donau  (3800  E.)  nicht  in, 
sondern  am  Ausgang  der  Enge  erwuchs.  Die 
(wenn  Linzer  und  Ardagger  Becken  als  eines  ge- 
nommen werden,  dritte)  Donauweitung  bis  Melk 
umfait  eine  Strecke  von  rund  22  km;  die  Donau 
folgt  hier  einem  „alten,  von  tertiären  Sanden  ver- 
schütteten und  wieder  ausgeräumten  Tal"  (i;  476). 
Wir  wissen  bereits,  daß  hier  auch  das  südliche 
Gelände  dem  Massiv  angehört.  Es  ist  meist 
niedrig  und  steigt  erst  südlich  von  Melk  im  Hies- 
berg  5 58  m  an.  Schon  bald  nachdem  die  Ybbs 
in  vorgeschobenem  Delta  ihre  grünen  Wasser  der 
Donau  von  Süden  zugeführt  hat,  schweift  der 
Blick  ungehemmt  über  die  niedrigen  Hügel  bis 
zum  in  40  km  Entfernung  aufragenden  Ötscher 
(1892  m),^)  er  ist  im  Auenlande  nicht  begrenzter, 
wo  die  Erlauf,  nachdem  sie  den  Gneiswänden 
entronnen,  vor  Pöchlarn  (dem  Bechelarn  des  Nibe- 
lungenliedes) auf  breiter  Niederung  der  Donau 
sich  hingibt  und  noch  von  Weitenegg,'')  dessen 
Burgruine  den  Ort  am  Ausgang  des  Weitenbaches 
überschattet,  schaut  man  gegen  Süden  jenseits  der 
von  einem  versandeten  Donauarm  umfaßten  großen 
Insel  über  Alpenvorland  und  einen  breiten  Ge- 
birgsstrcifen.  Ostwärts  aber  bleibt  das  Auge  be- 
reits am  mächtigen  Barockbau  des  Melker  Stiftes 
hängen,  das  vom  57  m  hohen,  schroff  abfallenden 
Gneisfelsen  ins  Donautal  hinausträumt.     Der  Ort 

')  Die  gerundeten  Steine,  die  man  während  der  Regu- 
lierungsarbeilen in  mehreren  Kiesenkesseln  oberhalb  des  heu- 
tigen Wasserspiegels  fand,  bezeugen  eine  wichtige  Seite  der 
erosiven  Tätigkeit  des  Flusses. 

'■')  Die  kurze  neuerliche  Knge  bei  Säusenstein ,  die  sich 
nach  dem  Verlassen  des  Ybbsfeldes  5  km  abwärts  von  Ybbs 
auftut,  glauben  wir  nicht  besonders  erwähnen  zu  müssen. 
Hier  auf  dem  nördlichen  Ufer  das  hübsche  Örtchen  Marbach, 
hinter  dem  deutlich  die  diluviale  Nieder-  und  Ilochterrasse 
der  Donau  zu  sehen  ist,  während  die  weiter  rückwärts  vom 
hohen  Berge  ins  Land  lugende  alte  Wallfahrtskirche  von 
Maria  Taferl  auf  einer  (durch  Meeresbrandung  entstandenen) 
Tertiärterrasse  sich  erhebt  {17;  58). 

^)  Bei  Weitenegg  sind  bei  Niedrigwasser  größere  Untiefen 
vorhanden. 


Melk  ist  das  Medelike  des  Nibelungenliedes,  es 
war  vor  Wien  die  ostmärkische  Residenz  der 
Bebenberger;  ')  und  hier,  wo  oberhalb  die  Melk, 
unterhalb  die  Pielach  in  die  Donau  fallt, ^)  beginnt 
die  „Wach au",  das  vierte  bis  Krems  reichende 
Durchbruchstal  des  Stromes,  der  hier  im  Süden 
den  Dunkelsteiner  Wald  (höchster  Punkt  Mühl- 
berg 730  m)  vom  Jauerling  (959  m)  lostrennt. 
Als  ganzes  ist  die  Wachau  viel  heiterer  als  die 
früheren  Durchbrüche.  Die  Enge  der  an  die  500  m 
hohen  Wände  drückt  nicht  so  stark,  denn  selbst 
an  den  Lehnen  sind  Siedlungen  emporgeklettert 
und  hinter  Spitz,  wo  auch  das  Tal  breiter,  seine 
Gehänge  weniger  steil  werden,  beleben  Häuser- 
zeilen beständig  den  Landschaftsausdruck;  selbst 
die  Dorfbilder  wirken  in  der  Wachau  freier.  Der 
Ernst  des  Waldes  aber  wird  besonders  in  den 
östlichen  Teilen  von  den  Weinkulturen  unter- 
brochen, die  im  Löß  der  Sonnenseiten  guten 
Boden  finden;  und  im  Frühjahr  zur  Zeit  der 
Baumblüte  lacht  es  aus  den  Obsthainen,  die  zu- 
mal das  linke  Ufer  des  auch  klimatisch  bevor- 
zugten Tales  begleiten,  in  voller  Lust  entgegen. 
Auch  die  Bahn  fehlt  nicht;  sie  zieht,  unter  man- 
chem Berg  hindurch,  auf  der  Nordseite  und  nicht 
bloß  auf  einem,  sondern,  auf  beiden  Ufern  konn- 
ten Straßen  geführt  werden.  ^)  Bei  Melk  hat  sich 
der  Strom,  für  eine  kurze  Weile  noch  im  breiteren 
Tale,  scharf  gegen  Norden  gewendet.  ■*)  Links 
gehts  an  Emmersdorf,  einer  der  frühesten  ost- 
märkischen Gründungen,  rechts,  nach  langem  ein- 
drucksvollen Vorblick  auf  sein  hochtürmiges 
Schloß,  am  Orte  und  dem  Servitenkloster  Schön- 
bühel vorüber;  jetzt,  zwischen  Hochkogel  rechts 
(536  m)  und  dem  Reith  links  (523  m)  betreten 
wir  erst  die  eigentliche  Enge,  jenen  bis  Aggsbach  , 
reichenden  Teil,  der  in  einsamer  Geschlossenheit 
am  meisten  an  Passäuer  und  Greiner  Tal  gemahnt; 
im  Herbste  ist  der  Gehänge  dichtes  Waldkleid  in 
der  berauschenden  Leuchtkraft  seiner  Farben  am 
schönsten.  Bald  erscheint  zur  Rechten  Aggsbach- 
Dorf,  der  Ort  weit  Gebirgs  einwärts  gelegen,  zur 

')  In  der  Höhe  der  im  Niveau  des  älteren  —  der  älte- 
sten oder  GüDseiszeit  entsprechenden  —  Deckenscbotters  lie- 
genden Stiftsterrasse  befand  sich  bereits  eine  prähistorische 
Siedlung,   die  Römer  errichteten  hier  das  Kastell  „ad  Mauros". 

^)  Auch  die  untersten ,  ins  Massiv  eingeschnittenen  Tal- 
stücke der  Erlauf,  Melk  und  Pielach  sind  epigenetischen  Ur- 
sprungs (l  ;  466). 

■'')  Für  die  Wachau  betont  Penck  (10;  5,  12)  ihr  sehr 
hohes  Aller  als  Talfurche.  Im  mittleren  Tertiär  wird  sie  vom 
Alpenvorland  her  mit  einem  guten  Stück  des  nördlichen  Gneis- 
geländes zugeschüttet,  nur  einige  Kuppen  ragen  hervor.  Gegen 
Ende  des  Tertiärs  nimmt  die  Urdonau  ihren  Weg,  eiszeitliche 
Talterrassen  folgen  dem  Strom  auf  beiden  Seiten.  Frz.  Ed. 
Sueß,  der  auch  zur  Erklärung  von  einzelnen  Laufstellen  an 
Dislokationen  denkt,  will  daraus,  daß  gerade  die  höchsten 
Erhebungen  im  Norden,  nahe  dem  Donautale  liegen  (bei 
Arnsdorf  712  m)  schließen,  daß  die  iüntiefung  ,,in  den  oberen 
leilen  einer  vom  Waldviertel  her  gegen  St.  Polten  ziemlich 
gleichmäßig  abfallenden  Fläche  eingeschnitten  wäre"  (4;   107). 

■*)  Die  bei  Melk  beiderseits  im  Gehänge  sichtbaren  Fels- 
massen in  rund  220  m  Höhe  gehören  der  ältesten  Eiszeit  an; 
die  älteren  Deckenscholter  liegen  hier  30  m  über  dem  Strome 
(■3;  53)- 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Linken  am  Ausgang  des  Aggsbaches  auf  der 
Niederterrasse  gelegen,  Aggsbach  -  Markt,  hinter 
dem  Wiesen  und  Felder  langsam  den  Eichberg 
hinanklimmen.  Hier  und  auch  weiter  Stromab- 
wärts finden  sich  am  Nordgehänge  mächtige,  (wie 
die  Kremser  Vorkommnisse)  der  letzten  Inter- 
glazialzeit  entstammende  (10;  10)  Lößlager,  in 
denen  man  interessante  prähistorische,  dem  Jung- 
paläolithikum,  und  zwar  dem  Aurignacien  zuge- 
rechnete Kulturschichten  entdeckte. ')  Rechts 
ist,  lange  den  Blick  fesselnd,  auf  hoher  Fels- 
terrasse thronend,  die  Feste  Aggstein  aufgetaucht, 
von  wo  die  mächtigen,  ob  ihres  Übermutes  ge- 
fürchteten Kuenringer,  die  „Hunde  von  Kuenring", 
zur  Babenbergerzeit  den  Donauhandel  unsicher 
machten.  Links  folgen  auf  breiterem  Strande 
Willendorf  (wo  1908  die  dem  Aurignacien  ange- 
hörende „Venus  von  Willendorf"  ausgegraben 
wurde)  und  Schwallenbach,  sodann,  wieder  un- 
mittelbar zum  Strome  abstürzend,  die  vielfach 
zerklüftete  F"elsmasse  der  „Teufelsmauer",  der  auf 
dem  rechten  Ufer  das  alte  Kirchlein  von  St.  Jo- 
hann gegenüberliegt.  Und  da  wir  schon  links 
hinter  dem  Schloßberg  (656  m)  die  schöne  Ruine 
Hinterhaus,  einst  auch  eine  starke  Kuenringerfeste, 
erspähen,  ist  Spitz  nicht  mehr  fern.  Der  um  das 
rebenbedeckte  Gelände  des  bezeichnenderweise 
Tausendeimerberg  genannten  Spitzer  Hügels 
(314  m)  gelagerte  Ort,  der  sich  in  den  erweiterten 
Talausgang  des  Spitzer  Baches  (Mühldorfertal), 
doch  auch  gegen  den  Mießlinggraben  hinein- 
schmiegt und  so  zwei  für  das  niederösterreichische 
„Waldviertel"  wichtige  Zugänge  beherrscht,  macht 
einen  recht  stattlichen  Eindruck  (über  1700  E.).-) 
Hinter  Spitz  verläßt  die  Donau  die  Nordrichtung, 
läuft  erst,  in  der  Fortsetzung  des  Spitzer  Baches, '') 
nach  Nordosten,  links  zu  Füßen  des  Atzberges 
an  der  befestigten  Kirche  von  St.  Michael  mit 
ihren  figurengeschmückten  Zinnen  auf  dem  Turme 
vorbei ,  vorbei  auch  an  Wösendorf.  Erst  unter- 
halb von  Weißenkirchen,  das,  einst  Hauptort  der 
Wachau  (im  engeren  Sinne)  im  stark  verbreiterten 
Ausgang  des  Machtales  auf  einer  von  älterem 
Deckenschotter  bedeckten  Terrasse  liegt  und  mit 
seiner    Fülle    malerischer   Motive    in    Straßen  und 

')  Näheres  bei  H.  Obermeier,  Der  Mensch  der  Vor- 
zeit (München   1912)  S.  290  ff. 

-)  Der  Spitzer  Hügel  ist  erst  im  Tertiär  durch  den  Spitzer 
Bach  von  einem  Ausläufer  des  Jauerling  losgetrennt  worden; 
früher  umfloß  er  ihn  im  Westen  und  Norden ;  das  alte  Tal- 
bett ist  heute  wasserleer  (10;  10,  12).  Die  Frage,  ob  der 
durch  die  Orte  Isper,  Pöggstall,  Mühldorf  und  Spitz  gekenn- 
zeichnete Talzug,  der  heute  in  den  drei  Teilstücken  von  Isper, 
Weiten-  und  Spitzerbach  drei  verschiedene  Flußläufe  enthält, 
einst  als  einziger  westösdicher  Fluß  bestand,  ist  noch  nicht 
klargestellt;  hat  er  bestanden,  so  wurde  er  jedenfalls  früh 
durch  die  von  der  Donau  zurückgreifenden  Gewässer  des 
Isper-  und  Weitenbaches  erobert  und  außer  Funktion  gesetzt. 
(M.  Michl  im  Geogr.  Jahresbericht  aus  Österreich,  Bd.  X, 
1912,  S.  225). 

^)  Der  Spitzer  Bach  und  seine  Donaufortsetzung  werden 
hier  als  Unterlauf  eines  alttertiären  Flusses  aufgefaßt,  dessen 
Oberlauf  die  entsprechenden  Teile  des  heutigen  Isper-  und 
des  Weitenbaches  bildeten  (Rusch-Vetters-König-Pa- 
bisch,  Landeskunde  von  Niederösterreich  {Wien  190S)  S.  36. 


Höfen  schon  manches  Künstlerauge  lockte  (9; 
201  f),  wendet  sich  der  Strom  dann,  unter  Schwan- 
kungen, seiner  Hauptrichtung  nach  Osten  wieder 
zu.  Auf  den  alten,  hier  gut  hervortretenden 
Stromterrassen  liegt  meist  Löß ;  deutlich  ist  auch 
rechts  in  bereits  verbreitertem  Tale  („Rührsdorfer 
Au")  über  der  rebenbedeckten  Terrasse  von  Ros- 
satz, wo  sich  die  Donau  für  eine  kurze  Strecke 
nach  Südosten  wendet,  der  präglaziale  Talboden 
zu  sehen.  Steil  fallen  zur  Linken  die  zerklüfteten 
Hänge  des  Vogelberges  (530  m)  und,  durch  den 
unwegsamen  Talgraben  getrennt,  des  Schloßberges 
(540  m)  zur  Donau  ab;  die  unterste  Felsstufe 
über  dem  Strom  trägt  die  Reste  der  berühmten 
Feste  Dürnstein,  einst  auch  eine  stolze  Kuenringer- 
burg.  Die  wenigen  Häuser  des  Ortes  Dürnstein 
(460  Einw.)  steigen  mauerumgürtet  hart  vom  Strome 
auf  die  Felsen  hinan :  prächtig  das  Renaissance- 
schloß der  Starhemberg  und  der  Barockturm  der 
Stiftskirche :  das  Ganze  vom  Strome  aus  ein  Bild 
von  unvergeßlicher  Schönheit.  Links  unterhalb 
der  Talweite  von  Loiben  noch  eine  kleine  nord- 
westliche Talstrecke  und  wir  stehen  am  Ausgang 
der  Wachau,  in  den  buchtartig  Tertiärschichten 
sich  eingezwängt  haben.  *)  Bloß  rechts  erreicht  die 
Donau  etwas  stromabwärts  (bei  Hollenburg)  einen 
Ausläufer  des  Massivs;  im  übrigen  hat  sie  bereits 
links  bei  Stein  und  Krems,-)  rechts  bei  Mautern 
das  gegenüber  einer  Länge  von  48  km  und  einer 
größten  Breite  von  14  km  im  Westen  und  Osten 
(am  Nordrand  des  Wiener  Waldes)  schmal 
endende  Kremser  Becken^)  betreten,  das 
einerseits  (in  Fortsetzung  des  schon  bei  Rührs- 
dorf  sichtbaren  Stückes)  Niederterrasse,  anderer- 
seits Alluvialboden  ist.  Mautern  ist  die  älteste 
Siedlung;  als  römisches  Kastell  Favianis  war  es 
mit  dem  gegenüberliegenden  Stein  durch  eine 
hölzerne  Jochbrücke  verbunden.  Dieses,  ohne 
viel  Raum  zur  Entwicklung  zwischen  Fels  und 
Fluß  gesperrt,  war  für  den  mittelalterlichen  Donau- 
handel wichtiger  und  ist  auch  heute  der  größere 
Ort  (über  4400  Einw.) ;  doch  ist  es  längst  von 
Krems  (14  400  Einw.)    überholt   worden,    das    mit 


')  Güttenberger  (9;  212)  hat  besonders  auf  die  ver- 
schiedenaltrigen  Talstücke  der  Wachau  hingewiesen ;  älter  ist 
das  Talstück  Spitz-Krems,  es  ist  tertiär,  aber  im  Oberoligozän 
bereits  verschüttet  worden;  jünger,  doch  natürlich  jedenfalls 
präglazial,  die  Talfurche  Melk-Spitz. 

-)  Bei  Krems  sind  drei  tertiäre  Talböden  mit  Ablagerun- 
gen von  Donauschottern  in  verschiedener  Höhenlage  zu  er- 
kennen: der  Goldbergterrasse  oberhalb  von  Stein  in  365  m 
Höhe  (175  m  über  der  Donau)  entspricht  eine  Plattform  bei 
Mautern,  360  m  hoch ;  eine  zweite  Terrasse  südlich  von  Mau- 
tern in  320  m  Höhe  (130  m  über  der  Donau)  hat  ihr  Gegen- 
stück am  linken  Ufer  im  Kremsfelde  und  zwischen  beiden  in 
rund  335  m  Höhe  (145  m  über  der  Donau)  liegt  eine  als 
Maisbergniveau  bezeichnete  Terrasse.  Alle  drei  stellen  Tal- 
böden dar,  die  aus  dem  Donau-Schuttkegel  der  ,,pontischen 
Stufe'*  (dem  Unterpliozän)  herausgeschnitten  sind,  so  daß  das 
Kremsfeld  eine  Erosions-  und  keine  Akkumulationsform  be- 
deutet (13;  34  u.  50  f.).  Das  diluviale  Wagram-Niveau  be- 
findet sich,  entsprechend  der  älteren  Deckenschotterterrasse, 
in  etwa  220  m  Höhe  (30  ni  über  dem  Strome). 

'')  Das  ganze  erste  Kapitel  der  Ilassi  nge  rschen  Mono- 
graphie (13;  31 — 55)  ist  dem  Kremser  Hecken  gewidmet. 


igo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


ihm  die  Vorteile  der  Lage  am  Ausgange  der 
Wachau  teilend  sich  leichter  ausdehnen  kann  und 
zugleich  dem  Eingang  ins  Kremstal  näher  gerückt 
ist.  Auch  ist  es  selbst  für  die  weiter  östlich  aus 
Kamp-  und  Traisental  heranziehende  Straße 
Brückenstadt.  Auf  den  bis  20  m  mächtigen,  oft 
(künstlich)  terrassierten  Lößschichten  seiner  Um- 
gebung gedeiht  viel  Wein.  —  Im  Kremser  Becken, 
dessen  nördlich  der  Donau  gelegener  Teil  oft 
auch  als  Wagram,  dessen  südlicher  als  Tullner 
Feld  bezeichnet  wird,  durchfahren  wir  nun  die 
vierte  Donauweitung.  Im  Norden  von  ihr  „legen 
sich  an  einen  deutlich  ausgeprägten  Steilrand,  die 
diluviale  Donauterrasse  des  »Wagram«,  noch 
höhere  Diluvialterrassen,  im  Süden  scheidet  ein 
scharfer  Rand  die  fruchtbare  Anschwemmungs- 
ebene von  dem  (aus  tertiären  Schichten  bestehen- 
den und  von  jungtertiären  Schottern  und  Sanden 
überlagerten)  Hügel-  und  Bergland. ^)  Trotz  teil- 
weiser Regulierung  umfaßt  der  von  Flußarmen 
durchzogene  und  naturgemäß  meist  unproduktive 
Auengürtel  gelegentlich  5  km  Breite"  (i ;  477,  479). 
Das  Streben  der  Donau  in  der  Gegenwart,  nach 
rechts  zu  drängen,  ist  im  Kremser  Becken  weniger 
auffällig  (5;  1060);  immerhin  lag  Krems  wohl 
einst  am  Strome  selbst  und  ist  die  noch  im 
Jahre  890  als  lapidea  platea  erwähnte  Römer- 
straße, die  von  Favianis  nach  der  Limesstation 
Trigisamum  (Traismauer)  zog ,  von  dem  rechts 
rückenden  Strom  zerstört  worden  (9;  200).  Wir 
haben  Krems  Donau  abwärts  fahrend  verlassen, 
links  den  Blick  auf  die  lößüberkleideten  Wände, 
rechts  über  das  Auengebiet  der  Fladnitzmündung-) 
hin  auf  das  wunderschöne,  einen  Urgebirgspfeiler 
krönende  Stift  Göttweig  (449  m).  Aber  dann 
heißt  es  für  den  Entsagung  üben,  der  eine  ab- 
wechslungsreiche Gegend  liebt.  Reizlos  ist  ja  die 
Fahrt  zwischen  den  von  zahlreichen  Stromarmen 
durchsetzten  Auen  durchaus  nicht,  zumal  Wasser- 
geflügel aller  Art  uns  vors  Auge  kommt;  auch 
der  wissenschaftliche  Beobachter  findet  genügend 
Stoff  durch  Verfolgung  der  geneigten  Flußterrassen, 
die  vom  Kremsfeld  bis  Wien  als  in  die  Land- 
oberfläche (die  pontische  Stromebene)  einge- 
schnittene, bzw.  wieder  aufgeschotterte  Donautal- 
böden ziehen  (14;  184).*)      Aber    die  Bilder   sind 

')  Hassinger  findet  als  die  auffälligsten  Formen  des 
Kremser  Beckens  ,,eine  zerschnittene  pontische  Stromebene 
mit  nordöstlichem  Verlauf,  westöstlich  verlaufende  Erosions- 
terrassen am  Südrande  derselben  (der  ganze  Südrand  ist  mehr 
oder  weniger  durch  seitliche  —  aber  nicht  gleichzeitige  — 
Stromerosion  modelliert),  endlich  jüngere,  teils  pliozäne,  teils 
diluviale  Akkumulationsterrassen,  insbesondere  auf  der  Nord- 
seite der  heutigen  Alluvialebene  der  Donau"  (13;  55). 

^)  Das  heutige  Tal  der  Kladnitz,  die  in  ihrem  Unterlaufe 
das  Urgebirge  durchbricht  und  den  Göttweiger  Kücken  im 
Westen  umfließt,  wird  als  epigenetisch  entstandenes  Teilstück 
eines  einst  gröfieren  Tales  erltlärt,  dessen  Oberlauf  an  die 
Traisen  verlorengegangen  ist  (13;  31,  33  ff.). 

•'')  Zurzeit  als  die  tertiäre  Donau  bei  Wien  die  (mittel- 
pliozäne)  Laaerbergterrasscn  in  rund  loo  m  über  dem  heuti- 
gen Strome  erodierte,  war  das  Donautal  im  Kremser  Becken 
bereits  50 — 60  m,  zurzeit  der  (oberpliozänen)  Arsenaltcrrasse, 
die  bei  Wien  ungefähr  55  m  hoch  liegt,  mehr  als  100  m  in 
die  alle  Landoberfläche  {pontische  Schotterplattc)  eingeschnitten 


ruhiger,  gleichmäßiger  und  wechseln  langsam. 
Und  die  50  km  von  Krems  bis  Greifenstein  er- 
fordern eine  Weile  1  Hinter  Hollenburg  und 
gegenüber  Grafenwörth  rechts  die  Mündung  der 
Traisen,  an  der  unfern  landeinwärts  das  schon 
erwähnte  Traismauer  liegt,  von  dem  auch  das 
Nibelungenlied  zu  erzählen  weiß.  Fast  unmittelbar 
darauf  tritt  von  links  der  Kamp  in  die  Donau 
ein.  Viel  weiter  unterhalb  (nach  27  km)  kommt 
von  Süden  die  Perschling  in  den  Strom,  nach 
weiteren  8  km  haben  wir  zwischen  den  Mün- 
dungen der  Gr.  und  der  Kl.  Tulln  den  Ort  Coma- 
genae,  das  Tulne  des  Nibelungenliedes,  wo  Etzel 
mit  Kriemhilde  zusammentraf,  und  der  wichtige 
mittelalterliche  Handelsplatz,  wo  „die  böhmische 
Heerstraße  den  Strom  berührte,  die  durch  die 
Gmünder  Pforte  längs  des  Manhartsberges  verlief 
und  ein  Bündel  von  Verkehrswegen  sich  vereinigte, 
die  entlang  den  Gerinnen  des  Tertiärhügellandes 
und  über  die  Paßfurchen  des  Wiener  Waldes 
heranziehen"  (9;  214);  heute  ist  Tulln  eine  stille 
Landstadt  mit  etwas  über  4300  Einwohnern. 
Unter  den  Donaubrücken  hindurch ;  lange  bleibt 
wieder  die  Landschaft  die  gleiche.  Zeiselmauer, 
das  man  früher  für  das  Aelium  Cetium  der  Römer 
hielt,  hat  sich  hinter  Bäumen  versteckt  und  schon 
bauen  sich  rechts  die  weichen  Formen  des  Wiener 
Waldes  immer  näher  gegen  den  Strom  vor,  bis 
wir  zu  Füßen  der  Ruine  Greifenstein  so  hart  an 
ihm  vorbeiziehen,  daß  zwischen  Gebirge  und  Fluß 
nur  für  Bahn  und  Straße  noch  Raum  bleibt.  Zur 
Linken  wird  jenseits  der  Auen  auf  dem  südlichsten 
Ausläufer  des  Rohrwaldes  die  geschmackvoll  er- 
neuerte Burg  Kreuzenstein  sichtbar.  Stets  wieder 
zweigen  zur  Linken  Stromarme  ab,  Schmida  und 
Göllersbach  werden  von  solchen  Seitenarmen  auf- 
genommen, in  einem  anderen  sehen  wir  die  An- 
lage einer  Werfte  der  Donaudampfschiffahrts- 
gesellschaft. Jetzt,  da  wir  links  Korneuburg  (mit 
seinem  alten  Rathausturm)  verlassen  haben  ')  und 
rechts  über  einer  wasserreichen  Au  den  gewal- 
tigen Barockbau  des  Klosterneuburger  Stiftes  auf 
höherem  Felsplateau  erblicken,  merken  wir  erst, 
daß  nun  auch  links  das  (niedrige)  Gebirge  an  den 
Strom  herangekommen  ist:  wir  sind  in  die  kurze 
fünfte  Durchbruchsstrecke  zwischen  dem  sanfteren, 
rebenüberkleideten  Bisamberg  (links)  und  dem 
von  der  Donau  zur  jüngsten  Eiszeit  stark  unter- 
schnittenen  Leopoldsberg  (rechts)  eingetreten, 
beide  der  alpinen  Flyschzone  angehörend,  die  der 
Strom  hier  auseinander  reißt.  Folgendermaßen 
denkt  man  sich  die  Entstehung  dieses  Durch- 
bruchs (13;  68  ff.  und  ganz  ähnlich  18;  7  f.). 
Zu    Beginn    des    Unterpliozäns,    der    pontischen 


{14;  185);  die  Bezeichnung  nach  Arsenal  und  Laaerberg  sind 
der  Wiener  Topographie  entnommen. 

')  Korneuburg  lag  früher  auf  einer  Insel  der  Donau;  bei 
einem  starken  Hochwasser  ixi8  zerstört,  erstand  die  Stadt 
1212  aufs  neue.  Etwas  weiter  östlich  der  „alte  Donaugraben", 
das  Überbleibsel  eines  diluvialen  Stromarmes  und  der  letzte 
Rest  eines  .Mtwassers,  das  ein  heutiger  Fluß  (der  Loibach) 
am  Leben  erhielt  (i8;  8). 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


191 


Epoche,  floß  die  damalige  Donau,  nachdem  sie 
die  Wachau  hinter  sich  hatte,  in  dem  weiten 
Raum  zwischen  dem  Rande  des  Böhmischen  Mas- 
sivs und  jener  Reihe  von  Einzelbergen ,  die  sich 
von  Stockerau  oberhalb  Wiens  bis  zum  südmähri- 
schen Nikolsburg  in  der  Fortsetzung  der  Alpen 
hinziehen  (Rohrwald,  Ernstbrunnerwald  und  Leiser- 
berge, Polauerberge)  wenigstens  mit  dem  größten 
Teil  ihrer  in  zahlreiche  Arme  verästelten  Wasser- 
masse  nicht  in  der  heutigen  Richtung,  sondern 
nach  Nordosten  gegen  eine  Lücke  bei  Nikolsburg 
hin,  durch  die  sie  dann  nach  Osten  in  den  pon- 
tischen  Binnensee  sich  ergoß.  Sie  schüttete  gleich- 
zeitig einen  gewaltigen  Schuttkegel  (von  etwa 
385  m  Scheitelhöhe)  auf,  über  den  sie  im  Laufe 
der  langen  Zeit  in  vielfachen  Mäandern  hin  und 
herpendelte,  dabei  wie  die  heutige  Donau  rechts 
drängend  und  vielleicht  im  Südwärtsrücken  über- 
dies durch  eine  Hebung  und  Schrägstellung  der 
von  ihr  angehäuften  Schotterfläche  unterstützt; 
so  mußte  sie  ihr  östliches  Stromufer,  die  vorhin 
genannten  Berggruppen ,  annagen  und  zerstören 
und  schließlich  soweit  gegen  Südosten  kommen, 
daß  sie  die  Greifensteiner  Berge  und  den  Rohr- 
wald erreichte ;  diese  werden  bis  zum  Stromspiegel 
eingeebnet,  wobei  die  nach  der  entgegengesetzten 
Seite,  also  gegen  Westen  wirkende  Brandung  des 
pontischen  Binnensees  vom  Wiener  Becken  her 
bei  der  Abflachung  und  Zerstörung  mitgeholfen 
haben  mag,  und  zuletzt  kann  der,  hinter  der  mit 
jungtertiären  Schichten  hoch  angefüllten  Korneu- 
burger  Senke  liegende  (nicht  hohe)  Sandsteinzug 
im  Niveau  des  Bisamberges  überflössen  werden. 
Die  Urdonau  hat  damit  ihre  Mündung  in  den 
pontischen  Binnensee  (Spiegelhöhe  etwa  340  m) 
in  die  Gegend  von  Wien  verlegt.  Da  aber  dieser 
Binnensee  allmählich  sank,  wobei  er  in  das  Rand- 
gebirge deutliche  Terrassen  einkerbte, ')  und  da 
der  Weg  zu  ihm  jetzt ,  wo  er  nicht  mehr  über 
Nikolsburg  führte,  kürzer  geworden  war,  mußte 
der  Strom  sich  in  den  Flysch  eingraben ;  die 
Fortdauer  einer  in  den  verschiedensten  Teilen 
deutlich  kenntlichen,  schon  im  Obermiozän  be- 
ginnenden ,  nordwestlich  -  südöstlich  gerichteten 
Senkung  während  der  pontischen  Zeit  mag  den 
Durchbruch  begünstigt  haben  (14;  170).  Auf 
diese  Weise  ist  hier  gegen  Ende  der  pontischen 
Epoche  ein  sog.  Überflußdurchbruch  entstanden.") 
Die  Donau  durchzieht  nun  den  (höchstwahrschein- 
lich aus  tektonischen  Gtünden)  zutiefst  liegenden 


')  Hassinger  hat  diese  alten,  in  je  15—3001  Abstand 
zwischen  540  und  265  m  Höhe  gelegenen  Strandlinien  als 
Niveaus  I — XII  unterschieden  und  bezeichnet.  Bequemste 
Übersicht  bei  Fadrus  (16;  34  f.). 

')  Schon  aus  dem  bisherigen  ersieht  man  leicht,  daß  die 
Donau  ein  polygenelischer  Strom  ist,  der  sich  allmählich  bil- 
dete. Das  österreichische  Alpenvorland  war  bereits  landfest, 
als  die  Donau  bei  Krems  noch  in  360  m  Höhe  in  das  unter 
Wasser  liegende  Kremser  Becken  mündete  und  es  bis  zu  dieser 
Höhe  verschüttete.  Das  Kremser  Becken  wieder  war  bereits 
ausgetrocknet  als  der  pontische  See  noch  das  Wiener  Becken 
erfüllte,  dieses  war  früher  landfest  als  das  Oberungarische 
Becken:  an  die  Urdonau  wuchsen  also  immer  neue  Stücke  in 
den  landfest  werdenden  Teilen  an. 


Teil  des  inneralpinen  Wiener  Beckens.') 
Vom  Fuße  des  Leopoldsberges  an  ist  der  Strom 
auf  etwa  25  km  hin  (im  „Wiener  Durchstich": 
Kahlenbergerdorf — Fischamend)  reguliert,  die  Orte 
zur  Linken  schützt  der  sog.  Inundationsdamm 
vor  der  Gewalt  des  Hochwassers  (StromgesChwin- 
digkeit  bis  zu  3  m,  Wassermenge  bis  zu  loooo  cbm, 
in  der  Sek.).-)  Das  Häusermeer  der  Großstadt 
tritt  zur  Rechten  immer  sichtbarer  hervor,  links 
der  Fabriksort  Floridsdorf;  rechts  bei  Nußdorf 
öffnet  sich  der  Donaukanal  (Wehranlage  mit 
Brücke).  Unter  vier  Brücken  müssen  wir  hindurch, 
rechts  sind  wir  an  Verladeanlagen  der  Donau- 
dampfschiffahrtsgesellschaft, an  Mühlen  und  Fa- 
briken vorbeigekommen,  dann  haben  wir  den 
Hauptlandungsplatz  Wien  (Praterkai)  erreicht.  Wir 
unterbrechen  die  Fahrt  nicht.  Nach  einem  letzten 
Blick  auf  Kahlen-  und  Leopoldsberg  hinter  uns, 
widmen  wir  uns,  auch  die  fünfte  Wiener  Brücke 
über  den  Strom,  die  wir  bald  unterfahren,  be- 
achtend, den  weiteren  Anlagen  der  Donaudampf- 
schiffahrtsgesellschaft entlang  des  rechten  Ufers 
(Krane,  Verladebrücken,  Speicher),  auch  die  Stadt 
Wien  hat  hier  ihre  großen  Vorratshäuser  und 
andere  Schiffahrtsgesellschaften  mit  den  Anlagen 
ihrer  Umschlagplätze  folgen.  Links  hinter  dem 
Inundationsdamm  die  typische  Auenlandschaft 
mit  zahlreichen  Stromarmen ;  der  längste  ist  der 
Stadlau-Enzersdorfer,  der  die  aus  den  Napoleoni- 
schen Kämpfen  des  Jahres  1809  berühmte  Lobau 
einschließt,  der  die  Schlachtorte  von  Aspern  und 
Eßlingen  ganz  nahe  sind.  Heute  werden  aller- 
dings diese  von  der  Donau  abgesperrten  Altwässer 
nur  durch  Grundwasser,  nicht  vom  Strome  her 
gespeist.  Hinter  den  Auen  die  weite  F"läche  des 
Marchfeldes,  zur  letzten  Eiszeit  von  der  Donau 
mit  (Niederterrasse)Schottern  erfüllt,  während  sie 
gleichzeitig,  einstmals  soweit  im  Norden  fließend, 
die  ältere  (Hoch-)Terrasse  weithin  (bis  zum  heu- 
tigen Steilrand  dieser  Terrasse  Stammersdorf — 
Deutsch  Wagram)  zerstörte.  Hinter  der  Einmün- 
dung des  Donaukanales  tritt  auch  rechts  ein 
Auengürtel  heran;  das  ist  aber  noch  nicht  viel 
über  ein  Menschenalter  her  und  wohl  die  Folge 
der  früher  erwähnten  Stromregulierung.    Bis  dahin 

')  Tektonische  Linien  nordwest-südöstlicher  Richtung  sind 
nicht  bloß  für  die  erste  Anlage  des  Donaulaufes  hier  gerade 
in  der  ,, Mittellinie  der  großen  Einbiegung  zwischen  alpinem 
und  karpathischem  Gebirge"  maßgebend  gewesen  (14;  l6g), 
sondern,  wie  schon  erwähnt,  auch  sonst  für  die  landschaftliche 
Gestaltung  dieser  Gebiete  von  großer  Bedeutung;  eine  hat  ja 
Alpen  und   Karpathen  als  Ganzes  voneinander  getrennt. 

-)  Die  erste  Regulierung  zwischen  1S68  und  iS8l  war 
auf  Mittelwasser  gestellt  worden,  steuerte  aber  nur  der  Strom- 
verwilderung und  bannte  durch  Sicherung  eines  raschen  Ab- 
flusses des  Hochwassers  die  Überschwemmungsgefahr  für  Wien 
und  seine  Umgebung;  dagegen  bildeten  sich  jetzt  bei  Nieder- 
wasser in  dem  zu  großen  Bette  Untiefen,  der  Fluß  schlängelte 
von  einem  Ufer  zum  anderen,  Gefällsunregelraäßigkeiten  zeigten 
sich  u.  a.  m.  Deshalb  wurde  die  1S90  begonnene  neue  Re- 
gulierung auf  Niederwasserstand  gestellt;  in  die  Mittelwasser- 
bahn wurde  eine  290  m  breite  Niederwasserrinne  gelegt,  die 
für  Schifte  mit  2  ra  Tiefgang  stets  passierbar  bleiben  soll. 
Über  die  Donauregulierung  bei  Wien  z.  B.  Hoernes  (5; 
1062  ff.). 


192 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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floß  sie  rechts  auch  zwischen  Schwechat  und 
Kroatisch  Haslau  an  einem  Steilufer,  längs  dem 
man  auch  gegenwärtig  sehr  hübsch  die  früheren 
Stromterrassen  beobachten  kann,  zunächst  die 
diluvialen, ')  später  (unterhalb  von  Kroatisch  Has- 
lau) auch  die  Arsenalterrasse;  eine  Wirkung  der 
starken  Seitenerosion,  welche  die  Donau  durch 
ihr  uns  bekanntes  Rechtsdrängen  ausübt.  Links 
also  schüttet  sie  auf,  rechts  gräbt  sie  sich  immer 
tiefer  ein  und  zerstört  so  nacheinander  die  jüngeren 
Terrassen  durch  Untergrabung,  wodurch  immer 
ältere  an  den  P'luß  zu  liegen  kommen.  -)  Durch 
das  Auenland  zur  Rechten  ist  etwa  16  km  unter- 
halb Wiens  die  Schwechat  der  Donau  zugeflossen, 
nachdem  sie  ihr  ein  gutes  Stück  (rund  7  km) 
parallel  gezogen  ist ;  die  einst  sicherlich  oberhalb 
des  heutigen  Ortes  Schwechat  gelegene  Mün- 
dung des  nordöstlich  gerichteten  Plüßchens  ist 
durch  die  Schotteranhäufungen  der  Donau 
davor  zurückgestaut  und  gegen  Osten  (viel- 
leicht in  einen  älteren  Donauarm)  abgedrängt 
worden.  Bei  Fischamend  erwarten  wir  den  Ein- 
tritt der  Fischa  in  die  Donau;  auch  sie  ist  aber 
durch  Anschüttungen  des  Hauptstromes  mindestens 
auf  8  km  hin  gegen  Osten  verschleppt  worden. 
—  Schon  vor  Fischamend  hat  uns  der  Ausblick 
auf  ein  niedriges  Hügelland  im  Süden  (257 — 276  m) 
etwas  Abwechslung  gebracht:  es  wird  als  ein 
früher  mit  dem  Wiener-  und  Laaerbergzuge  zu- 
sammenhängendes'^) und  aus  einer,  wohl  pon- 
tischen  Schotterfläche  durch  stärkere  Erosion 
herausgestaltetes  und  durch  Dislokation  noch  im 
Pliozän  etwas  gehobenes  Gelände  aufgefaßt 
(19;  471).  Während  zur  Rechten  die  Orte  mit 
dem  Steilufer  meist  nahe  an  den  Strom  heran- 
treten, bleiben  die  Siedlungen  links  jenseits  des 
Auen-  und  Anschwemmungsgürtels;  so  Orth  mit 
seinem  alten  Schloß  gegenüber  Kroatisch  Haslau, 
so  Eckartsau  mit  dem  prächtigen  Barockbau  seines 
Jagdschlosses  u.  a.  15  km  unterhalb  von  Kroa- 
tisch Haslau  sind  wir  bereits  in  Deutsch  Alten- 
burg angekommen,  zwischen  dem  und  Petronell 
(südwestlich  von  Deutsch- Altenburg)  das  römische 
Standlager  Carnuntum  mit  anschließender  Zivil- 
stadt lag.^)  Links  vom  Fluß,  der  sich  gegen  Nord- 
osten zu  wenden  beginnt,  das  Schlachtfeld  von  1 265 
(Sieg    Przemysl    Ottokars  IL    von    Böhmen    über 

')  Bei  Mannswörth  (am  Strome  nahe  von  Schwechat)  sind 
noch  drei  Terrassen  übereinander  zu  sehen  (19;  468). 

'^)  Diesem  Kechtsdrängen  sind  auch  in  unserer  Donau- 
weitung schon  in  historischer  Zeit  Ortschaften  wie  ein  Teil 
der  hier  verlaufenden  Römerstrafle  zum  Opfer  gefallen  (19; 
469). 

')  Die  Erosion  von  Donau,  Schwechat  und  Fischa  dürfte 
die  Trennung  bewirkt  haben  (19;  471). 

*)  Beste  kurze  Übersicht  über  die  interessanten  Kunde  von 
Carnuntum  im  „Exkursionsbuch"  (Wien  1913)  S.  325  ff.  Die 
Zivilstadt  breitete  sich  auf  einer  Fläche  von  über  10  qkm 
aus.  „Die  glänzende  römische  Provinzialstadt  (in  der  Nähe 
von  heißen  (luellen)  war  wiederholt  durch  Kaiserhesuche  aus- 
gezeichnet." Die  Stürme  der  Völkerwanderung  fegten  die 
Stadt  hinweg;  zahlreiche  Kämpfe  spielten  sich  damals  zwischen 
Römern,  Germanen  und  Slawen  ab,  an  die  wohl  die  eigen- 
urligen  Grabstätten  einiger  „tumuli"  norli  gemahnen  (19;  480  1.). 


König  Bela  IV.  von  Ungarn).  Die  Berge,  die 
nun  rechts  an  den  Strom  heranreichen,  sind  die 
Ausläufer  der  Alpen,  die  (auch  durch  NW — SO 
verlaufende  Querbrüche  in  einzelne  Horste  ge- 
schieden) zu  den  Kl.  Karpathen  jenseits  der  Do- 
nau hinüberleiten;  so  ist  das  Rosaliengebirge  bei 
Wiener  Neustadt  vom  Leithagebirge  durch  die 
Senke  von  Ödenburg  (oder  Ebenfurter  Pforte)  ge- 
sondert, das  Leithagebirge  im  Spitzer  Berg  (265  m) 
vom  476  m  erreichenden  Hundsheimer  Berg,  an 
dessen  Fuß  Deutsch  -  Altenburg  angeschmiegt  ist, 
durch  die  Brucker  oder  Karnuntische  Pforte,  der 
Hundsheimer  Berg,  der  im  Gelände  des  nur 
327  m  aufragenden  Pfaffenberges  zum  Strom  her- 
niedersteigt, vom  kahlen,  unmittelbar,  ohne  auch 
nur  einer  Straße  Raum  zu  geben,  in  die  Donau 
abfallenden  *)  Braunsberg  (344  m)  durch  die  Hain- 
burger Pforte;  in  sie  hinein  hat  sich  das  alte, 
schöne  Hainburg  gebaut,  auf  dessen  Schloßberg 
(290  m)  das  Nibelungenlied  in  Etzels  Burg  das 
Brautpaar  übernachten  läßt.  Deutlich  sind  die 
gleichen  Abrasionsterrassen  der  wechselnden 
Größenphasen  des  pontischen  Sees  wie  am  West- 
rand des  Wiener  Beckens  hier  an  den  genannten 
Bergen  an  seinem  Ostrande  zu  erkennen,'-)  in  den 
Senken,  deren  miozäne  Auffüllungen  vielfach  schon 
im  Pliozän  ausgeräumt  sind,  finden  sich  Schotter- 
massen pontischer  Ströme,  die  darauf  hinweisen, 
daß  damals  die  Donau  durch  die  heute  in  ihrem 
Südteile  von  der  Leitha  benützte  karnuntische, 
die  March  durch  die  Hainburger  Pforte  floß.'') 
Hinter  Hainburg  auf  den  Ausläufern  des  Brauns- 
berges Ruine  Rötheistein,  links  fällt  der  Blick  auf 
das  Hügelgelände  des  Thebener  Kogels  (314  m),  in 
den  der  pontische  See  eine  Reihe  sehr  schöner 
Strandterrassen  eingekerbt  hat  und  den  auch  die 
stark  links  andrängende  March  im  Westen  ange- 
nagt hat;*)  4  km  unterhalb  Hainburgs  wendet 
sich  die  Donau,  knapp  ehe  die  dunkleren,  lang- 
samer fließenden  Wasser  der  March  von  links  den 
lichter  grünen  der  schnelleren  Donau  sich  zu  ver- 
mischen trachten,  plötzlich  gegen  Osten,  ihr 
sechstes    Durchbruchstal     hat    sie    aufgenommen, 


')  Durch  die  starke  Unterschneidung  der  hier  aus  Lias- 
kalken  aufgebauten  Gehänge  des  Braunsberges  sind  ,,hoch 
hinaufreichende  Unterhöhlungen  des  Ufers"  entstanden  (19; 
473). 

-)  Der  Hundsheimer  Berg  verschwand  gelegentlich  ganz 
unter  dem  Spiegel  des  pontischen  Sees. 

■')  Das  merkwürdige  scharfe  Knie,  mit  dem  die  Leitha  in 
der  Nähe  von  Rohrau  (Niederösterreich),  ihre  bisherige  nord- 
östliche Laufrichtung  verlassend,  gegen  Südosten  umschwenkt, 
wird  (14;  175  fr.)  entweder  als  Anzapfungsknie  oder  als  Ver- 
schleppungsknie gedeutet.  Die  jungpliozäne,  durch  die  Brucker 
Pforte  gehende  Donau,  welche  über  die  Parndorfer  Heide  floß 
und  ungefähr  20  km  unterhalb  der  Pforte  sich  mit  einem 
scharfen  Knie,  ähnlich  dem  heutigen  Donauknie  bei  Waitzen, 
nach  Süden  gewendet  haben  muß,  hat  die  Leitha,  wie  wir 
dies  jetzt  noch  im  Schwechat-  und  Fischa-Unterlauf  finden, 
parallel  zu  sich   verschleppt. 

•*)  Wahrscheinlich  haben  der  Stempfeibach  und  der  früher 
in  die  March  mündende,  jetzt  zur  Donau  abgeleitete  Rußbach 
auf  die  March  einen  Druck  in  der  gleirhen  Richtung  ausge- 
übt (ly;  479). 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'93 


die  Senke  der  Porta  hungarica')  zwischen 
dem  Braunsberg  und  dem  Thebner  Kogel,  der 
jenseits  einer  kleinen,  früher  wohl  von  einem 
pliozänen  Marcharm,  jetzt  vom  Orte  Theben  aus- 
gefüllten (tektonisch  vorgezeichneten)  Tiefenfurche, 
den  sog.  Thebener  Schloß-  (oder  Burg-)berg  an 
den  Strom  vorschiebt.'-)  Die  Burgruine  auf  ihm 
(212  m  Höhe,  79  m  über  der  Marchmündung) 
wird  wohl  den  Schloßberg  länger  krönen  als  die 
Arpadsäule,  die  bis  zum  Weltkriegsende  hier  stolz 
den  Eingang  in  ungarisches  Machtbereich  ver- 
kündete; die  Tschechoslowakei  hat  nunmehr  wohl 
als  Nachfolgerin  des  Großmährischen  Reiches,  das 
unter  Svatopluk  bis  hierher  seine  Grenzen  vor- 
getragen hatte,  diesen  Platz  wieder  in  Besitz  ge- 
nommen: die  Grenze  der  Tschechoslowakei  gegen- 
über Österreich  zieht  heute  inmitten  der  March 
und  greift  nach  deren  Mündung  auch  auf  das  süd- 
liche Donauufer  über  — ,  wie  auch  einst  die  The- 
bener Au  auf  dem  rechten  Ufer  zu  Ungarn  ge- 
hört hatte.  Die  Enge  der  Porta  hungarica  ist, 
wenngleich  durch  die,  von  der  Donau  schon  im 
Durchbruch  selbst  gebildete  Thebener  Au  auf  dem 
einen  Ufer  gemildert,^)  nicht  weniger  reizvoll, 
doch  freilich  viel  kürzer  als  ihre  Geschwister  an 
der  oberen  Donau.  Der  seltsam  zerklüftete,  steil 
zu  March  und  Donau  abfallende  Thebener  Schloß- 
berg gibt  den  Grundton  an,  ein  kleiner  Wacht- 
turm  über  dem  Strom  raunt  von  Sage  wie  irgend 
ein  Felsennest  der  Wachau,  die  deutlich  am  Burg- 
berg sichtbaren  Befestigungen  lassen  gleich  Dürn- 
steins  Mauern  Bilder  längst  vergangener  Tage 
neu  erstehen.*)  Die  wohl  ebenfalls  durch  eine 
tektonische  Quersenke  vorgebildete  Porta  hunga- 
rica (19;  476 f)  ist  eigentlich  ein  jungpliozänes 
March-Durchbruchstal.*)  Die  March  hatte  bereits 
ihren  Bogen  um  den  Braunsberg  herum  und  durch 
die  karnuntische  Pforte  durch  Einschneiden  in  die 
weichen  Schichten  der  Porta  hungarica  an  der 
schmälsten  Stelle,  dem  „Halse"  dieses  Bogens  auf- 
gegeben ,  also  die  Porta  hungarica  durchflössen, 
ehe  die  stärkere  und  höher  fließende  Donau  von 
ihrem  Wege  durch  die  karnuntische  Pforte  über 
ihre  bisherige,  wohl  nur  niedrige,  aus  leicht  zer- 
störbaren Gesteinen  bestehende  Wasserscheide 
zur  Stelle  der  heutigen  Mündung  der  damals  lang- 
samer, aber  tiefer  strömenden  March  abgelenkt 
wurde. ") 


*)  Die  ,, ungarische"  Pforte  wird  wohl  ihren  Namen  än- 
dern müssen. 

')  Über  dieses  Gebiet  auch  Schaffer  (15-;   17  ff.). 

*)  Durch  die  Thebener  Au  zieht,  den  Braunsberg  im 
Nordosten  umklammernd,  ein  schmaler  Donauarm,  der  sich 
erst  einige  Kilometer  weiter  abwärts  mit  dem  Hauptstrora  ver- 
einigt;  wahrscheinlich  war  er  früher  der  Hauptstrom  (19;  475) 

*)  Wertvolles  historisches  Material  bei  Götzinger  und 
Leiter  {19;  479 ff.  u.  497  ff.).  Der  Mündungswinkel  zwischen 
March  und   Donau  sah  bereits  eine  keltische  Siedlungsanlage. 

')  Eine  weitere  Quersenke  gleich  etwas  weiter  nördlich 
hinter  dem  Thebener  Kogel  bei  Blumenau. 

")  Eine  andere  Ansicht  äuflert  Hassinger  (14;  195). 
Er  hält  die  tektonisch  angelegte  Porta  hungarica  für  die  Ein- 
trittspforte der  pliozänen  March  nach  Ungarn,  die  Hainburger 
Pforte  aber  nicht  lür  ein  Marchtal,  sondern  für  den  untersten 


Wir  sind  an  der  Grenze  der  Tschechoslowakei 
und  damit  am  Ende  unserer  Donaureise.  Viele 
Fragen,  die  dem  Strome  gelten  müßten,  konnten 
kaum  angedeutet  werden:  seine  physiogeographi- 
schen  Eigenschaften  (Farbe,  Wassermenge,  Ge- 
schiebeführung, Gefälle),  seine  Rolle  in  der  Ge- 
schichte, seine  Verkehrsbedeutung.  Aber  auch 
die  Probleme,  die  wir  berührten,  sind  noch  nicht 
überall  zu  völliger  Durchsichtigkeit  gediehen ;  es 
mangelt  vielfach  (z.  B.  beim  Passauertal)  an  ge- 
nügenden Beobachtungen  und  gelegentlich  wider- 
sprechen sich  auch  die  Lösungsversuche,  so  daß 
sich  noch  genügend  oft  ein  Fragezeichen  erhebt. 
Über  allem  aber  liegt  mit  sonniger  Klarheit  die 
Schönheit  der  von  unserem  Strome  durchzogenen 
Landschaften.  Freilich,  die  Donau  ist  nun  einmal 
gegenüber  dem  Rheine  ein  Stiefkind,  nicht  der 
Natur,  wohl  aber  der  Menschen.  Ihre  Reize  sind 
um  nichts  geringer,  in  ihrer  Unberührtheit  viel- 
leicht sogar  anziehender  als  die  des  westlichen 
berühmteren  Bruders.  Der  Strom  teilt  das  Schicksal 
des  gesamten  Deutsch  Österreichertums:  seltener 
als  die  deutschen  Kernlande  den  Sänger  für  seine 
stillere  Eigenart  und  den  verständnisvollen  Be- 
trachter gefunden  zu  haben,  der  nicht  laut  herbei- 
gerufen, doch  gekommen  wäre. 

Übersicht  der  wichtigsten  Literatur. 

1.  Norb.  Krebs,  Länderkunde  der  österreichischen 
Alpen  (Bibliothek  länderkundlicher  Handbücher,  herausgeg. 
von   A.  Penck,   Bd.   i).     Stuttgart   1913. 

2.  A.  Penck,  Die  Donau  (Schriften  des  Vereins  zur 
Verbreitung  naturwissenschaftlicher  Kenntnisse  in  Wien,  3 1 .  Bd., 
1891,  S.   I  —  loi). 

3.  Ed.  SueiS,  Über  die  Donau  (Vortrag,  gehalten  in 
der   Akademie  der  Wissenschaften).     Wien   191 1. 

4.  Franz  Ed.  S  u  e  Ö ,  Bau  und  Bild  der  Böhmischen 
Masse  (Bau  und  Bild  Österreichs,  Teil  i).  Wien  und  Leipzig 
1903. 

5.  R.  Hoernes,  Bau  und  Bild  der  Ebenen  Österreichs 
(Bau  und  Bild  Österreichs,  Teil  4).     Wien  und  Leipzig   1903. 

6.  R.  H  ö  d  1 ,  Die  Landschaftsformen  an  der  Grenze 
zwischen  der  Böhmischen  Masse  und  dem  Alpenvorland  in 
Niederösterreich  (Jahrbuch  für  Landeskunde  von  Niederöster- 
reich, Neue   Folge   III,    1904,  S.   261 — 298). 

7.  M.,  Brust,  Die  Exkursion  des  geographischen  Insti- 
tuts der  Wiener  Universität  ins  österr.  Alpenvorland  und 
Donautal  (Geographischer  Jahresbericht  aus  Österreich,  Bd.  IV, 
Wien  1906,  S.  86  ff.). 

8.  Ferd.  Schnabl,  Die  Exkursion  d.  geogr.  Inst.  d. 
Wien.  Universität  nach  Enns,  Linz  und  Krems  1908  (ebenda, 
Bd.  Vlll,  Wien   1910,  S.   181  ff.). 

9.  Heinr.  Güttenberger,  Exkursion  des  Seminars  für 
historisch-politische  Geographie  der  Wiener  Universität  in  die 
Wachau  (ebenda,  Bd.  X,  Wien   1912,  S.    199  ff.). 

10.  A.  Penck,  Das  Durchbruchstal  der  Wachau  und  die 
LöÖlandscbaft  von  Krems  (Exkursionsführer  für  den  9.  inter- 
nationalen Geologenkongreß  in  Wien  =  Führer  für  die  geo- 
logischen Exkursionen  in  Osterreich).     Wien   1903. 

11.  Herm.  Grab  er,  Geomorphologische  Studien  aus  dem 
oberösterreichischen  Mühlviertel  (Petermanns  Mitteilungen  1903). 

12.  Der  Dunkelsteiner  Wald  (bearbeitet  von  jungen  Wiener 
Geographen;  Geogr.  Jahresber.  aus  Österr.  Bd.  XI,  191 5, 
S.  66  ff.). 

13.  H.  Hassinger,  Geomorphologische  Studien  aus 
dem    inneralpinen    Wiener  Becken    und    seinem    Randgebirge 

Abschnitt  eines  Rufibaches,  den  er  sich  zur  Zeit,  als  die  Do- 
nau durch  die  Brucker  Pforte  ging,  erst  innerhalb  des  Panno- 
uischcn  Beckens  mit  der  March  vereinigen   läßt. 


194 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


(Geographische  Abhandlungen,    herausgegeben  von  A.  Penck, 
Bd.  VIII/3).     Leipzig   1905. 

14.  Derselbe,  Beiträge  zui  Physiogeographie  des  inner- 
alpinen Wiener  Beckens  und  seiner  Umrandung  (Festband, 
A.  Penck  zur  Vollendung  des  60.  Lebensjahres  gewidmet, 
S.  160 — 197).     Stuttgart   1918. 

15.  Franz  X.  Schaffer,  Geologischer  Führer  für  Ex- 
kursionen im  Wiener  Becken  (Sammlung  geologischer  F'ührer, 
12,  13  u.  iS).  Bd.  I;  Das  inneralpine  Becken  der  nächsten 
Umgebung  von  Wien,  I.  Teil  (1907);  Bd.  2:  Das  inneralpine 
Becken,  2.  Teil  (1908);  Bd.  3:  Eggenburg  und  Umgebung 
(1913).     Berlin. 

16.  V.  Fadrus,  Die  Wiener  Bucht  (Studien  zur  Heimat- 
kunde von  Niederösterreich,  herausgeg.  v.  A.  Becker,  Bd.  2, 
S.  8 — 159).     Wien   1913. 

17.  Derselbe,  Das  Alpenvorland  und  seine  nördlichen 
Randlandschaften  (ebenda,  Bd.   I,  S.  56—75).     Wien  1910. 

18.  G.  Götzinge  r  und  H.  Leiter,  Geographische  Ex- 
kursion auf  den  Michelberg  und  Waschberg  bei  Stockerau 
(Geographischer  Exkursionsführer  für  die  Umgebung  von  Wien, 
l).     Wien   1914. 


19.  Dieselben,  Zur  Landeskunde  des  Donaudurch- 
bruches der  Porta  Hungarica  und  ihrer  Umgebung  (Mitteilun- 
gen der  Geographischen  Gesellschaft  in  Wien  1914,  S.  466  ff. 
und  497  ff.). 

20.  H.  Beck  und  H.  Vetters,  Zur  Geologie  der  Klei- 
nen Karpathen  (Beiträge  zur  Paläontologie  und  Geologie 
Österreich-Ungarns  und  des  Orients,  Bd.  XVI,  1903,  S.  7  ff.); 
mit  lehrreicher  geologischer  Karte  der  Umgebung  der  Porta 
hungarica. 

21.  R.Reich,  Die  österreichische  Donau  als  Schiffahrts- 
strafle  (Die  freie  Donau,  Bd.  VI,   1921,  S.  555  fr.). 

22.  Das  Donautal  von  Passau  bis  Preßburg  (illustr.  Reise- 
führer);  bearbeitet  von  Othm.  v.  Leixner.    Wien   1918. 

23.  Donaufahrt  Passau — Linz — Melk — Wien  (Hendschels 
Luginsland,  28;  illustr.  Reiseführer);  bearb.  von  J.  A.  Lux. 
Frankfurt  a.  M.   1912. 

34.  Karte  der  Donau  von  Ulm  bis  zur  Mündung 
I  :  125000.  Nach  amtlichen  Quellen  bearbeitet.  Wien  (Ver- 
lag der  Ersten  Donaudampfschifiahrtsgesellschaft)  o.  J.  (1920). 


Axiom  nnd  Erfahrung. 


Zu  1''  r  i  e  d  r.  D  a  h  1  s    „Krit.  Betrachtungen    über    d 

[in  Heft  3 

[Nachdruck  verboleo.]  Von  Dr.    B. 

Wenn  in  Kreisen  von  Nichtphysikern  immer 
noch  für  oder  gegen  die  Relativitätstheorie  ge- 
schrieben wird,  so  halte  ich  dieses  Vorgehen  für 
ganz  unnötig.  Denn  die  Relativitätstheorie  ist 
letzten  Endes  eine  rein  physikalische  Angelegen- 
heit und  der  Streit  um  sie  wird  also  wohl  am 
besten  unter  Physikern  zum  Austrag  kommen. 
Daher  sollen  uns  hier  Dahls  philosophische  Aus- 
führungen nicht  weiter  beschäftigen;  ich  wende 
mich  hier  lediglich  gegen  die  im  zitierten  Auf- 
satz von  Dahl  vertretene  Anschauung,  wonach 
die  Axiome  der  Geometrie  Erfahrungssätze  dar- 
stellen sollen,  eine  Anschauung  aus  der  Zeit  des 
von  Dahl  selbst  zitierten  Buches  von  1874.  Sie 
läßt  alle  neueren,  so  wichtigen  Erkenntnisse  un- 
berücksichtigt. In  einer  Zeit  aber,  in  der  auf 
allen  Gebieten  über  Erkenntnistheorie  diskutiert 
wird,  scheint  Klarheit  über  den  Axiombegriff  für 
jeden  naturwissenschaftlich  Interessierten  nicht 
wertlos  zu  sein. 

Ich  darf  wohl  als  allgemein  anerkannt  fest- 
stellen, daß  die  geometrischen  Sätze  sich  zurück- 
führen lassen  auf  eine  Reihe  logisch  einfachster 
Sätze,  eben  die  .'\xiome.  Als  Beispiele  nenne  ich 
das  Parallelenaxiom,  das  Axiom  von  der  Winkel- 
summe im  Dreieck,  das  Geradenaxiom  (von  der 
kürzesten  Verbindung  zweier  Punkte).  Nehmen 
wir  diese  Axiome  einmal  als  gegeben  an,  so  läßt 
sich  aus  ihnen  auf  rein  deduktivem  Wege  die 
ganze  Geometrie  entwickeln.  Bleibt  also  zu  er- 
örtern, welchen  Ursprung,  welchen  erkenntnis- 
theoretischen Charakter  diese  Axiome  selbst  be- 
sitzen. Offenbar  existieren  nur  3  Möglichkeiten: 
Entweder 

1.  die    Axiome    sind    synthetische    Urteile    a 

priori  im  Sinne  Kants;  oder 

2.  die    Axiome    stellen    Erfahrungssätze    dar; 

oder 


ie  Grundlagen  der  Relativitätstheorie  Einsteins" 
lfd.  Jahrg.]. 
de  ßudder. 

3.    die  Axiome  sind  „Setzungen",  „freie  Schöp- 
fungen des  menschlichen  Geistes"    (Ein- 
stein   [il),    „Uhbunt -  Sätze"    (=    „unbe- 
weisbar    hingestellte     Beweisunterlagen" 
(Isenkrahe  [2])). 
ad  I.    Wären  die  Axiome  synthetische  Urteile 
a   priori    im    Sinne    Kants,    so    wäre    es,    wie 
Poincare    bereits    betont    hat,    undenkbar,    daß 
durch  Leugnen  eines  solchen  Urteils  logisch  völlig 
widerspruchsfreie     „theoretische    Gebäude"     kon- 
struiert   werden    könnten.      Solche    Gebäude,    in 
denen  z.  B.  das  Dreieckswinkelsummenaxiom  oder 
das  Parallelenaxiom  geleugnet  werden,  stellen  aber 
die  „Metageometrien"  dar,    d.  h.    Geometrien    für 
Räume  mit  innerer  Krümmung,  wie  sie  v.  Helm- 
holtz  (4)    so    anschaulich    in    seinen    klassischen 
Vorträgen  beschrieben    hat;    nämlich  die  Gau  fi- 
sche  Geometrie    der    Sphäre    und    die    Lobat- 
schewski sehe  Geometrie  der  Pseudosphäre. 

Nach  Ablehnung  dieser  ersten  Möglichkeit 
kommen  wir  somit 

ad  2.  Es  hat,  oberflächlich  betrachtet,  zunächst 
den  Anschein,  als  ob  die  Geometrie  sich  als  eine 
Erfahrungswissenschaft  darstelle.  Daß  dies  hin- 
gegen nicht  zutrift't,  sondern  auf  einen  immer 
wiederholten  logischen  Fehler  zurückzuführen  ist, 
werden  wir  sehen.  (Daß  Dahl  denselben  Fehler 
beging,  wird  dann  klar  sein.)  Nach  Aufstellung 
genannter  Metageometrien  lag  es  nahe,  zwischen 
den  nun  logisch  möglichen  und  logiscli  gleich- 
wertigen Geometrien  von  Euclid  (ohne  „Raum- 
krümmung"), Gauß  (mit  -]~  Krümmung)  und 
Lobatschewski  (mit  —  Krümmung)  das  Ex- 
periment entscheiden  zu  lassen.  Da  in  jeder  der 
Metageometrien  die  Dreieckswinkelsumme  größer 
bzw.  kleiner  als  180"  sein  muß,  schlug  man  dieses 
Axiom  z.  B.  zur  Prüfung  vor.  (Lobatschewskis 
Dreieck    aus    dem    größten    Erdbahndurchmesser 


N.  F.  XXI.  Nr.   14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


19s 


und  den  Abständen  der  Endpunkte  dieses  Durch- 
messers vom  Sirius  als  Seiten  [vgl.  bei  Helm- 
holtz  1.  c.]).  Noch  der  große  Helmhol tz 
(1.  c.)  hatte  den  Fehler  dieser  Schlußweise  mit- 
gemacht. Aber  schon  Poincare  (3)  (ob  als 
erster,  entzieht  sich  meiner  Kenntnis)  wies  darauf 
nachdrücklichst  hin.  In  neuerer  Zeit  hat  Dingler 
(5)  (NB.  I  ein  Gegner  der  Relativitätstheorie)  die 
Verhältnisse  sehr  anschaulich  dargelegt.  Nämlich  : 
Ein  grundlegendes  Axiom  bei  E  u  c  1  i  d  besagt 
die  Gleichwertigkeit  aller  Raumpunkte;  mit 
anderen  Worten,  es  setzt  fest,  daß  ein  gegebenes 
mathematisches  (nicht  physisches)  Raumgebilde 
seine  Form  nicht  ändert,  wenn  es  sich  im  Räume 
(oder  in  der  Zeit)  bewegt.  Dieses  Axiom  bildete, 
worauf  J.  Schneider  (6)  aufmerksam  macht, 
sozusagen  die  Klippe  für  Heimholt  z.  Er  defi- 
nierte es  nämlich  als  den  Satz  vom  „Starren 
Körper",  er  sprach  also  damit  das  Erfülltsein 
diese?  Satzes  für  ein  physisches,  starres  Gebilde 
aus.  Man  definierte  einen  Körper  als  starr,  wenn 
er  bei  Verbringung  von  einem  Ort  des  Raumes 
an  einen  anderen  Ort  keine  weitere  Gestaltsver- 
änderungen erleide,  als  die  uns  bekannten  (durch 
Temperatur,  Druck  usw.)  insbesondere  also  keine, 
welche  nur  durch  die  veränderte  Lage  im  „Räume" 
und  in  der  „Zeit"  bedingt  sei.  Als  in  diesem 
Sinne  „starre"  Körper  war  man  aber  gewohnt, 
unsere  Materialien  für  Instrumente  zu  betrachten. 
Mit  diesen  Instrumenten  ging  man  dann  an  die 
Prüfung  der  Gültigkeit  der  Euclidschen  Geo- 
metrie in  unserer  Erscheinungswelt,  ohne  sich 
bewußt  zu  werden,  daß  man  eben  dieser  Prüfung 
ganz  unbewußt  bereits  eines  der  Hauptaxiome 
Euclids  zugrunde  legte,  daß  man  sozusagen  mit 
dem  Instrument  das  Axiom  in  das  Experiment 
hineintrug  —  um  es  hocherfreut  dann  bestätigt 
zu  finden;  eine  Bestätigung,  die  man  bei  logischer 
Prüfung  der  Methode  hätte  vorhersagen  können, 
die  also  keine  Bestätigung  war.  Man  unterscheide 
doch  endlich  zwischen  der  ganz  abstrakt  defi- 
nierten Linie  in  der  Geometrie  und  zwischen  der 
Linie  als  Grenze  zweier  Flächen  eines  physischen 
Körpers.  Erstere  kann  sich  definitionsgemäß  im 
Räume  Euclids  nicht  ändern,  letztere  dagegen 
sehr  wohl  in  einem  Räume  (uns  keineswegs  ge- 
gebener Struktur)  und  diese  Änderung  würde  uns 
in  aller  Ewigkeit  entgehen,  da  ja  alle  unsere  In- 
strumente dieselbe  Änderung  erfahren  müßten. 
|Es  ist  daher  streng  genommen  auch  falsch,  zu 
sagen  Einsteins  Raum  sei  „gekrümmt",  sondern 
man  müßte  sagen,  es  lassen  sich  gewisse  physi- 
kalische Vorgänge  durch  Gleichungen  aus  einer 
gewissen  Art  von  Metageometrie  (welche  bei 
Einstein  durch  die  Energiedichte  definiert  wird) 
besser  beschreiben  oder  darstellen,  i  Ganz  analog 
ging  es  mit  Versuchen,  durch  Lichtexperimente 
Euclids  Axiome  zu  verifizieren  (vgl.  hierzu  Ding- 
ler 1.  c).  Man  ermittelte  optische  Gesetze  unter 
der  (z.  T.  stillschweigenden)  Annahme  geradliniger 
Lichtausbreitung  im  Raum,  also  unter  Zugrunde- 
legung der  Axiome  Euclids    und  die  folgenden 


Physikergenerationen  nahmen  diese  optischen  Ge- 
setze (ohne  an  ihre  Ableitung  zu  denken)  und 
bewiesen  mit  ihnen  umgekehrt,  daß  Licht  sich 
geradlinig  fortpflanze,  daß  unser  Raum  also 
„euclidisch"  sei.  Wir  müssen  wohl  merken: 
Experimente  liefern  uns  niemals  „Beziehungen 
der  Körper  zum  Räume"  oder  „wechselseitige 
Beziehungen  von  Raumteilen"  sondern  nur  „Be- 
ziehungen der  Körper  zueinander".  („Wenn  Sie 
alle  Holzstücke  eines  Schiffes  gemessen  haben, 
so  haben  Sie  viele  Gleichungen,  aber  das  Alter 
des  Kapitäns  kennen  Sie  deshalb  doch  nicht." 
Poincare  1.  c.) 

Wenn  aber  die  historische  Entwicklung  diesen 
falschen,  unlogischen  Weg  gegangen  ist,  d.  h. 
wenn  sie  unserer  Erscheinungswelt  die  Geometrie 
Euclids  zugrunde  legte ,  so  beweist  das  aber 
doch  gar  nichts  für  oder  gegen  Axiome  als  Er- 
fahrungstatsachen, wie  Dahl  glaubt.  Vielmehr 
ist  der  Grund  zur  Wahl  der  Euclidschen  Geo- 
metrie in  dem  Umstände  zu  suchen,  daß  die 
Axiome  Euclids  uns  einfacher  erscheinen  als 
die  von  Gauß  und  Lobatschewski.  Diese 
„größere  Einfachheit"  zu  untersuchen,  liegt  aber 
außerhalb  des  Rahmens  unseres  heutigen  Themas. 
Wer  sich  dafür  interessiert,  den  verweise  ich  u.  a. 
auf  die  Ausführungen  von  Poincare  (1.  c.)  und 
Cassirer  (7). 

Mußten  wir  somit  auch  die  zweite  Möglich- 
keit, zu  Axiomen  zu  gelangen,  nämlich  die  Prüfung 
an  der  Erfahrung,  als  nicht  zutreffend  erkennen, 
so  bleibt  uns  per  exclusionem  nur  die  Feststellung, 
daß  Axiome  willkürliche  Setzungen  darstellen  und 
daß  für  die  Entscheidung  für  oder  gegen  ein 
Axiom  niemals  ein  Zwang  vorliegen  kann.  Isen- 
krahe  (1.  c.)  hat  dieser  Tatsache  sehr  treffend 
in  den  Worten  Ausdruck  gegeben ;  „Wenn  jemand 
einen  axiomatischen  Satz  als  wahr,  richtig,  zu- 
treffend hinnimmt,  so  beruht  diese  Fähigkeit  — 
da  ja  den  „Axiomen"  keine  Beweise  beigefügt 
sind  —  lediglich  einerseits  auf  dem  Eigenlicht, 
der  Leuchtkraft,  der  Apparenz  dieses  Axioms, 
andererseits  auf  der  Einsicht,  der  Perspizienz,  der 
Auffassungskraft  des  betreffenden  Intellekts.  Das 
Zusammentreffen  bzw.  Zusammenwirken  dieser 
beider  Faktoren,  des  objektiven  und  subjektiven, 
ist  erforderlich  für  die  „Evidenz"  des  Axioms. 
Und  so  ist  es  möglich  und  oft  genug  der  Fall, 
daß  ein  und  dasselbe  Axiom  für  den  einen  Men- 
schen evident,  für  den  anderen  nicht  evident  ist. 
Daher  kann  prinzipiell  jedes  Axiom  eine  Trennungs- 
stelle bedeuten  und  wenn  dabei  die  begriffliche 
Trennung  in  einer  scharfen,  kontradiktorischen 
Form  geschieht,  so  liegt  stets  klar  vor  Augen  ein 
Scheideweg,  an  dem  Jasager  und  Neinsager  aus- 
einandergehen." 

Literatur. 

1.  Ein  stein,  Alb.,  Geometrie  und  Erfahrung.  Berlin 
1921. 

2.  Isenkrahe,  Zur  Elementaranalyse  der  Relalivitäts- 
iheorie.     Braunschweig. 

3.  Poincare  ,  H.,  Wissenschaft  und  Hypothese.  Deutsch 
bei  Teubner,  Leipzig. 


196 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


4.  Helmhultz,  H.   v.,  Vorträge  und  Reden. 

5.  Dingler,    Hugo,    Ein  Grundproblem    der  moderne 
Physik.     Annal.   d.  Naturphil.  XIV/2. 


6.  Schneider,    J.,    Das    Raumzeitproblem    bei    Kant 
und  Einstein.     Berlin   1921. 

7.  C  a  s  s  i  r  e  r ,    Ernst ,    Zur  Einstein  sehen  Relativitäts- 
theorie.     Erkenntnistheoretische  Betrachtungen.      Berlin   1921. 


Einzelberichte. 


Zur  Theorie  der  Licsegaiigscheu  Ringe. 

Versetzt  man  eine  mit  etwas  Kaliumchromat 
getränkte  Gelatineschicht  mit  einem  Tropfen 
Silbernitratlösung,  so  diffundiert  dieser  allmählich 
in  die  Schicht  hinein,  wobei  eine  Ausfällung  des 
unlöslichen  starkfarbigen  Silberchromats  entsteht, 
die  bei  geeigneten  Versuchsbedingungen  nicht 
stetig,  sondern  periodisch  ist.  Die  Ausfällung 
findet  in  Zonen  statt,  die  von  fällungsfreien 
Zwischenräumen  unterbrochen  sind.  Der  im  all- 
gemeinen runden  Form  des  aufgebrachten  Trop- 
fens entsprechend  haben  die  Fällungszonen  ring- 
förmige Gestalt:  nach  ihrem  Entdecker  Liese- 
gangsche  Ringe  genannt.')  In  neuerer  Zeit 
haben  Hatschek  und  Holmes  andere  Be- 
dingungen angegeben,  unter  denen  die  Liese - 
gangschen  Schichtungen  in  besonders  auffallen- 
der Weise  entstehen.  -)  Die  Theorie  dieser  Er- 
scheinung ist  noch  nicht  befriedigend.  Wilh. 
Ostwald  begründete  sie  damit,  daß  der  ausge- 
fällte Stoff,  also  beispielsweise  das  Silberchromat, 
zunächst  in  übersättigter  Lösung  sei,  die  infolge 
ihrer  Instabilität  oberhalb  gewisser  Konzentrationen 
auskristallisiere.  Inzwischen  ist  diese  Lösung  dif- 
fundiert, also  vom  ursprünglichen  Ort  wegge- 
wändert,  so  daß  eine  niederschlagsfreie  Zone  von 
einer  farbigen  gefolgt  ist.  Holmes  ergänzte 
diese  Auffassung  damit,  daß  er  auf  die  Verminde- 
rung der  Konzentration  der  Reagentien  infolge 
der  Ausfällung  hinwies.  Infolgedessen  werden 
die  Reagentien  nach  der  Ausfällungszone  hin- 
diffundieren,  so  daß  diese  wächst,  von  ihr  ent- 
fernt jedoch  tritt  eine  Konzentrationsarmut  ein, 
so  daß  eine  niederschlagsfreie  Zone  hinterbleibt. ^J 

Nunmehr  macht  M.  H.  F'ischer  (Cincinnati) 
gegen  diese  Deutungen  den  berechtigten  Einwand, 
daß  sie  wohl  die  Entstehung  einer  Zone  er- 
klären, nicht  aber  die  einer  ganzen  Reihe  von  oft 
nach  Dutzenden  zählenden  Ringen  verständlich 
machen.*)  Denn  Li  esegangsche  Ringe  werden 
in  guter  Form  nur  von  solchen  Niederschlägen 
gebildet,  die  sog.  „halbdurchlässige  IMembranen" 
darstellen,  wie  sie  aus  osmotischen  Versuchen 
bekannt  sind,  z.  B.  das  von  Pfeffer  benutzte 
Kupferferrocyanid.  Nun  sind  diese  Wände  zwar 
für  gewisse  molekular  gelöste  Stoffe  durchlässig, 
nicht  aber  für  die  membranbildenden  Substanzen  1 
Wenn  also  ein  Silberchromatring  gebildet  ist,    so 

')  ^g'-  »Kinigcs  über  Liesegan  gsche  Ringe",  v.  Verf., 
Prometheus  30,  S.  409,   19 19. 

'')  „Abnorme  Li  esegangsche  Schichtungen",  Ref.  v. 
Verf.,  Naturw.  Wochcnschr.  N.  V.  20,  S.  92,   1921. 

')  Journ.  üf  thc  Americ.  Chcm.    Soc.  40,    S.   1187,   1918. 

■*)  KoUoid-Zcitschr.   30,  .S.    13,    1922. 


ist  er  undurchlässig  für  die  hochkonzentrierte 
Silbernitratlösung,  so  daß  mithin  diese  nicht  noch 
einen  zweiten  Ring  ausfällen  könnte.  Fischer 
bestreitet  nicht,  daß  zunächst,  also  in  der  Zeit 
unmittelbar  nach  der  ersten  Ausfällung  wirklich 
eine  undurchlässige  Membran  entsteht.  Diesem 
Primärvorgang  folgt  aber  ein  sekundärer,  darin 
bestehend,  daß  die  IVIembran  durchlässig  wird. 
Zur  Begründung  dieser  Auffassung  wird  daran 
erinnert,  daß  Li  esegangsche  Schichtungen  bis- 
her nur  beobachtet  wurden,  wenn  eine  Flüssig- 
keit vorhanden  war.  Die  zuerst  sich  bildende 
Membran  stellt  eine  hy  dratisierte,  oder 'allge- 
meiner, sol  vat  isierte  Membran  dar,  d.h.  eine 
solche,  an  deren  Aufbau  das  Lösungsmittel  einen 
innigen,  wenn  im  einzelnen  auch  noch  nicht  völ- 
lig erklärten  Anteil  hat.  Solche  frisch  darge- 
stellten, mit  dem  Lösungsmittel  noch  bis  in  feinste 
Partien  durchsetzte  Membranen  sind  amorph, 
strukturlos.  Während  ihres  Bestehens  diffundiert 
nun  der  in  geringerer  Konzentration  befindliche 
Stoff  (im  angezogenen  Beispiel  das  Chromat  in 
der  Gelatine)  gegen  die  undurchlässige  Membran, 
so  daß  diese  also  verdickt  wird,  der  Ring  wird 
breiter;  zugleich  aber  entsteht  unter  der  Membran 
eine  von  dem  diffundierten  Stoff  weitgehend  freie 
Zone.  Nun  aber,  und  das  ist  der  zweite  Vorgang, 
,,altert"  die  Membran,  sie  desolvatisiert  sich,  d.h. 
der  Niederschlag  befreit  sich  aus  dem  innigen 
Gewebe  mit  der  Flüssigkeit,  indem  er  Struktur 
bekommt,  kristallin  wird.  Im  kristallinen  Zustand 
aber  nimmt  der  Niederschlag  nicht  den  gleichen 
Raum  ein  wie  amorph.  Die  Membran  wird  also 
Löcher  bekommen,  sie  wird,  wenn  auch  nur  in 
beschränktem  Maße  durchlässig  werden.  Nun- 
mehr kann  die  konzentrierte  (hier:  die  Silber- 
nitrat)lösung  durch  die  Membran  treten.  Anfangs 
wird  sie  nichts  ausfällen,  da  zu  wenig  von  dem 
niedrig  konzentrierten  Stoff  vorhanden  ist,  so  daß 
das  zur  Ausfällung  nötige  Löslichkeitsprodukt  des 
Niederschlags  nicht  erreicht  wird.  Es  hinterbleibt 
also  eine  freie  Zone;  erst  in  einer  gewissen  Ent- 
fernung vom  ersten  Ring,  wo  die  Konzentration 
des  zweiten  Stoffes  ausreichend  ist,  wird  ein  neuer 
Ring  sich  bilden,  worauf  die  ersten  Stufen  des 
Umsatzes  sich  wiederholen. 

Diese  Auffassung  Fischers  erklärt  aufs  Beste 
die  Tatsache,  daß  manche  Fällungen  niemals, 
andere  nur  unvollkommen,  eine  Anzahl  Fällungen 
vorzügliche  Liesegangschichtungen  bilden.  Im 
ersten  Fall  (z.  B.  Barium-  oder  Calciumsulfat) 
handelt  es  sich  um  Niederschläge,  die  nur  geringe 
Hydratationsfähigkeit  besitzen  oder  schnell  kri- 
stallisieren. Andererseits  gelingt  die  Darstellung 
selbst  der  klassischen    Li  escgan  g ringe    oft    nur 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


197 


bei  ganz  bestimmten  Versuchsbedingungen.  Dies 
ist  nunmehr  ebenfalls  verständlich,  denn  alle  Um- 
stände, die  auf  die  Struktur  der  Niederschlags- 
membranen einwirken,  wie  Konzentration ,  Tem- 
peratur, Neutralsalze  usw.  beeinflussen  notwendiger- 
weise die  Art  der  Fällungen.  Insbesondere  ihr 
Rhythmus  wird  durch  die  mitgeteilten  kolloid- 
chemischen Erwägungen  gut  begründet. 

H.  Heller. 


Rohrzucker  im  Schilfrohr. 

Insbesondere  in  französischen  Fachzeitschriften 
wird  immer  wieder  behauptet,  die  Wurzeln  des 
gewöhnlichen  Schilfrohres  enthielten  25  —  30%(!) 
Rohrzucker,  die  man  in  Deutschland  zu  isolieren 
und  zur  Grundlage  einer  gewinnbringenden  Indu- 
strie zu  machen  suche.  Sämtliche  Behauptungen 
sind  frei  erfunden.     Sabalitschka')   nahm    im 


November  mehrere  Proben  aus  den  Wurzeln  und 
stellte  darin  im  Höchstfalle  5  '%  Saccharose  und 
I  %  reduzierende  Zucker  fest.  Nunmehr  teilt 
auch  E.  O.  V.  Lippmann')  eine  Untersuchung 
an  im  Frühsommer  gewonnenen  Wurzeln  mit. 
Ihr  Ergebnis  lautet  dahin,  daß  in  einigen  wenigen 
Wurzeln  3 — 3,5  %  Rohrzucker  gefunden  wurde, 
in  der  überwiegenden  Mehrzahl  jedoch  nur  i — 3  "/„ 
neben  ganz  unbedeutenden  Mengen  reduzierenden 
Zuckers.  Wurzeln  von  Pflanzen,  die  schon  geblüht 
und  Kolben  angesetzt  hatten ,  waren  zuckerfrei. 
Einen  Rohstoff  für  die  Zuckergewinnung  stellen 
die  Schilfrohrwurzeln  in  keinem  Fall  dar. 

Man  kann  angesichts  dieser  durchaus  ver- 
trauenswürdigen Befunde,  denen  analytische 
Belege  von  französischer  Seite  nicht  entgegen- 
gestellt worden  sind,  nur  annehmen,  daß  die  mit 
entsprechenden  Kommentaren  versehenen  französi- 
schen Meldungen  auf  —  politischen  Phantasien 
berulien.  H.  H. 


')  Chemiker-Zeitung  45,  Repert.  <S2,   1921. 


')  Berichte  d.  d.  Chem.  Gesellsch.   54,  S.  31 13,   19ZI. 


Bücherbesprechungen. 


Hörnes,  Moriz,  Das  Gräberfeld  von  Hall- 
statt, seine  Zusammensetzung  und 
Entwicklung.  45  S.  80  Textabb.  Leip- 
zig 1921,  Kurt  Kabitzsch.  Brosch.  30  M. 
Bei  dem  Orte  Hallstatt  im  Salzburgischen 
wurde  im  Jahre  1846  ein  großes  Gräberfeld  auf- 
gedeckt, dessen  reiche  Funde  so  wertvolle  Auf- 
schlüsse für  die  Vorgeschichte  ergaben,  daß  nach 
diesem  Gräberfelde  eine  ganze  vorgeschichtliche 
Periode  ihren  Namen  erhielt.  Leider  fiel  jedoch 
die  Ausbeutung  dieses  Gräberfeldes  in  eine  Zeit 
in  der  die  Gesichtspunkte,  welche  die  moderne 
Forschung  bei  der  Ausgrabung  eines  solchen 
Gräberfeldes  zu  beachten  pflegt,  noch  nicht  er- 
kannt waren.  So  wurden  denn  die  Funde  aus- 
einander gerissen,  zerstreut,  nur  ein  Teil  in  Wien 
geborgen.  Wohl  wurden  fast  alle  auf  dem  Gräber- 
felde aufgedeckten  Funde  bereits  damals  von  einem 
Archäologen  von  Weltruf,  von  Ed.  von  Sacken, 
bearbeitet;  sein  Buch  über  diese  Funde  stellte 
auch  für  damals  —  vor  bald  50  Jahren  —  eine 
sehr  bedeutende  Leistung  dar,  kann  aber  den 
heutigen  Ansprüchen  unserer  Wissenschaft  selbst- 
verständlich nicht  mehr  genügen.  Schon  längst 
hätte  es  deshalb  das  Gräberfeld  verdient,  noch 
einmal  unter  besonderer  Berücksichtigung  der 
heute  die  Forschung  interessierenden  Gesichts- 
punkte neu  veröffentlicht  zu  werden.  Wieviel  aus 
dem  Gräberfelde  bei  sorgfältigen  Studien  noch 
immer  herauszuholen  war,  hat  H.  in  mehreren 
kleinen,  in  verschiedenen  Zeitschriften  veröffent- 
lichten Studien  gezeigt.  Vor  allem  galt  es  die 
Fundprotokolle  zu  den  in  dem  Wiener  Hofmuseum 
geborgenen  Gräbern  zu  veröffentlichen,  weil  uns 
diese    Fundberichte    wertvolle    Anhaltspunkte    für 


die  Chronologie  des  Gräberfeldes  bieten.  Hand 
in  Hand  hätte  dabei  das  ganze  Material  noch  ein- 
mal durchgearbeitet  werden  müssen,  wobei  sich 
auch  weitere  Anhaltspunkte  für  chronologische 
Untersuchungen  ergeben  haben  würden.  Für  eine 
derartige  Arbeit  hat  jedoch  die  Direktion  des 
Hofmuseums  in  Wien  bislang  kein  Verständnis 
gezeigt;  so  ist  sie  bis  heute  unterblieben.  Um 
so  willkommener  wird  in  den  Fachkreisen  die 
vorliegende  posthume  Arbeit  von  H.  sein,  die 
wenigstens  einem  Teil  des  dringenden  Bedürf- 
nisses entgegenkommt,  indem  sie  uns  die  Fund- 
protokolle zugänglich  macht,  und  an  der  Hand 
derselben  das  gesamte  von  dieser  Fundstelle  be- 
kannte Material  auf  seine  Chronologie  hin  durch- 
zuarbeiten versucht.  Diese  Bearbeitung  hat  H. 
dazu  geführt,  in  dem  Gräberfelde  zwei  verschiedene 
Stufen  festzustellen,  eine  weitere  Stufentrennung 
jedoch  abzulehnen.  Wenn  man  auch  in  manchen 
Punkten  von  der  Hörnesschen  Darstellung  ab- 
weichender Ansicht  sein  wird,  so  wird  doch  das 
Werk  wegen  der  sorgfältigen  Publikation  der 
Fundberichte  für  immer  zu  den  grundlegenden 
Arbeiten  über  das  Gräberfeld  von  Hallstatt  sowohl 
wie  für  die  gesamte  europäische  Vorgeschichte 
gehören.  Leider  ist  der  Preis  des  Werkes  außer- 
ordentlich hoch  gegriffen.  Außerdem  sind  auch 
die  Abbildungen  sehr  wenig  dem  Inhalt  angepaßt. 
Berlin.  Hugo  Mötefindt. 


Mahr,  Adolf,  Die  prähistorischen  Samm- 
lungen des  Museums  zu  Hallstatt. 
Materialien  zur  Urgeschichte  Österreichs.  Heraus- 
gegeben   von    der    Wiener    prähistorischen    Ge- 


198 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Seilschaft.  Redigiert  von  Georg  Kyrie.  Leip- 
zig 192 1,  Kurt  Kabitzsch.  63  S.  8  Taf. 
Die  vorliegende  Schrift  von  Adolf  Mahr  bietet 
eine  wertvolle  Ergänzung  zu  der  oben  besprochenen 
Abhandlung  von  Moritz  Hörne s.  M.  hat  sich 
der  Mühe  unterzogen,  die  1015  Inventarnummern 
umfassende  Sammlung  des  kleinen  Hallstätter 
Ortsmuseums  einmal  systematisch  aufzunehmen 
und  in  zusammenfassender  Darstellung  zu  verar- 
beiten. Das  Museum  in  Hallstatt  ist  erst  verhältnis- 
mäßig spät  gegründet  (1884).  Zu  diesem  Zeit- 
punkt war  die  bereits  durch  nahezu  vier  Jahr- 
zehnte fortgeführte  Ausgrabungen  ausgebeutete 
Nekropole  so  gut  wie  erschöpft.  Trotz  allem  ge- 
lang es  noch,  sehr  viele  interessante  Funde  von 
dort  zusammenzubringen.  Darunter  befinden  sich 
immerhin  noch  26  intakte  Gräber,  die  von  dem 
Hallstätter  Museumsverein  ausgegraben  sind  und 
deren  Inventar  hier  erstmalig  in  einwandfreier 
Form  veröffentlicht  wird.  Außerdem  gelang  es 
dem  Museum,  einen  Teil  der  auf  dem  Gräberfelde 
in  früheren  Jahren  gemachten  Funde  wieder  an 
sich  zu  ziehen,  die  durch  private  Grabungen, 
Raubgräbereien  usw.  in  den  Besitz  von  Privat- 
leuten gelangt  und  dadurch  der  Wissenschaft  so 
gut  wie  entzogen  waren.  Daneben  enthält  das 
Museum  auch  einige  interessante  Funde  aus  dem 
Salzbergwerk  sowie  einige  Ansiedlungs-  und  Streu- 
funde aus  der  Umgegend,  von  der  Steinzeit  bis 
zur  Römerzeit.  Die  römischen  Funde  werden 
freilich  —  entsprechend  der  österreichischen  Auf- 
fassung von  der  Abgrenzung  der  Vorgeschichte  — 
leider  nicht  mit  berücksichtigt.  Die  wissenschaft- 
liche Verarbeitung  der  Funde  durch  M.  befriedigt 
alle  Ansprüche,  und  die  beigegebenen  Abbildungen 
sind  hervorragend,  direkt  mustergültig,  ausgeführt. 
Der  Verf.  sowohl  wie  auch  die  Wiener  Prä- 
historische Gesellschaft  haben  sich  mit  der  vor- 
liegenden Veröffentlichung  entschieden  ein  großes 
Verdienst  erworben;  denn  solche  kleinen  Museen 
bleiben,  selbst  trotz  der  in  ihnen  enthaltenen 
schönen  Funde,  den  Fachgenossen  zumeist  unbe- 
kannt, wenn  nicht  ausführliche  Veröffentlichungen 
über  sie  erfolgen.  Wir  möchten  deshalb  am 
Schluß  unserer  Besprechung  dem  Wunsche  Aus- 
druck geben,  daß  es  der  Wiener  Prähistorischen 
Gesellschaft  die  Verhältnisse  recht  bald  wieder 
gestatten  möchten,  weitere  Hefte  derselben  Serie 
bearbeiten  und  herausgeben  zu  können. 

Berlin.  Hugo  Mötefindt. 

Das  Pflanzenreich.    Regni  vegetabilis  conspectus. 
Herausgegeben  von  A.  Engler.    Leipzig   192 1, 
W.    Engelmann.      75.  Heft    128    M.;    76.    Heft 
136  M.;  -]-].  Heft  124  M.;  78.  Heft   144  M. 
Die  neuen  Hefte  des  großen  Werkes  begrüßen 
wir  freudig  als  Zeichen,  daß  dies  riesige  literarische 
Unternehmen    des  Altmeisters    der    Pflanzensyste- 
matik   in    rüstigem    Weiterschreiten    begriffen   ist. 
K.  H.  Zahn  behandelt  in  den  Heften  75  —  77  die 
ungeheuer  formenreiche  Kompositengattung  Hiera- 
cium    und    zwar    die    Sektionen    Glauca,    Villosa, 


Barbata,  Cerinthoidea,  Oreadea,  Stelligera,  Vulgata, 
Lanatella,  Lanata,  Pannosa,  Heterodonta,  Alpina, 
Amplexicaulia,  Intybacea,  Prenanthoidea  und  den 
Anfang  der  Sectio  Tridentata.  A.  Brand  be- 
handelt die  Formen  innerhalb  der  Familie  der 
Borraginaceae,  die  sich  um  die  Gattung  Cyno- 
glossum  ordnen  lassen.  Alle  Hefte  sind  mit  einer 
großen  Zahl  von  Originalzeichnungen  versehen. 
Möge  auch  fürder  das  „Pflanzenreich"  der  Not 
der  Zeiten  erfolgreich  trotzen  und  die  Hoffnung 
aufrecht  erhalten,  daß  es  eines,  wenn  auch  wohl 
noch  recht  entfernten,  Tages  vollendet  dastehen 
wirdl  Miehe. 


Molisch,  Prof.  Dr.  H.,  Mikrochemie  der 
Pflanze.  2.  Aufl.  mit  135  Textabb.  Jena  192 1, 
G.  Fischer.  58  M. 
Molisch  hat  ganz  recht,  wenn  er  in  der  Ein- 
leitung zu  diesem  Buche  die  Mikrochemie,  an 
deren  Ausbau  er  selber  mit  zahlreichen  Einzel- 
untersuchungen erfolgreich  gearbeitet  hat,  preist. 
In  der  Tat  sind  durch  die  Vereinigung  mikrosko- 
pischer und  chemischer  Methoden  noch  Einzel- 
heiten in  der  chemischen  Beschaffenheit  der  Or- 
ganismen aufzudecken,  an  die  der  Chemiker  allein 
nicht  hoffen  kann,  heranzukommen.  Dazu  ge- 
sellt sich  der  weitere  Vorteil,  daß  der  Mikroche- 
miker  nicht  nur  Aufschluß  über  das  Vorkommen 
winziger  Stoffmengen  geben  kann,  sondern  viel- 
fach auch  über  den  Ort  des  Vorkommens.  Frei- 
lich haften  den  mikrochemischen  Reaktionen  auch 
Mängel  an,  manche  sind  nicht  deutlich  genug, 
andere  nicht  hinreichend  eindeutig.  Was  aber 
an  sicheren  Daten  durch  diese  überaus  anziehende 
Wissenschaft  zu  erzielen  ist,  das  zeigt  das  vor- 
liegende Werk,  das  kurz  vor  dem  Kriege  zuerst 
erschien  und  nunmehr  seine  zweite  Auflage  er- 
lebt. In  der  Zwischenzeit  hat  die  Mikrochemie 
der  Pflanzen,  nicht  zum  wenigsten  durch  die  Ar- 
beiten des  Verf.s  und  seiner  Schüler,  manche 
Förderung  erfahren.  Die  neue  Auflage  ist  infolge- 
dessen auch  ziemlich  beträchtlich  umgearbeitet 
und  erweitert.  In  dem  allgemeinen  Teile  werden 
die  Arbeitsweise  und  die  Hilfsmittel  des  Pflanzen- 
mikrochemikers  genauer  geschildert.  Dann  werden 
im  speziellen  Teile  in  chemisch -systematischer 
Anordnung  die  Stoffe  behandelt,  deren  mikro- 
chemischer Nachweis  im  Pflanzenkörper  möglich 
ist.  Zahlreiche  Abbildungen,  die  meisten  nach 
eigenen  Präparaten  angefertigt,  erläutern  P'äilungs- 
bilder,  Kristallformen,  zum  Teil  auch  anatomische 
Einzelheiten.  Erwähnung  verdienen  noch  die  aus- 
führlichen Literaturnachweise  am  Ende  der  Haupt- 
abschnitte, sowie  zum  Schluß  ein  Autoren-  und 
Sachregister.  Es  ist  kaum  notwendig,  darauf  hin- 
zuweisen, wie  nützlich,  ja  unentbehrlich  das 
Molisch  sehe  Buch  ist,  für  den  Botaniker  sowohl 
wie  für  alle,  die  sich  mit  Pflanzenstoffen  be- 
schäftigen müssen,  also  für  den  Apotheker,  den 
Nahrungsmitteluntersucher  und  den  Chemiker. 

Miehe. 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


199 


Neumayr,  M.,  Erdgeschichte.  3.  Aufl.,  be- 
arbeitet von  F.  E.  Sueß.  I.Band:  Dynamische 
Geologie.  Mit  132  Textabb.,  6  Farbentafeln, 
24  meist  doppelseitigen  schwarzen  Tafeln  und 
2  farbigen  Kartenbeilagen.  Leipzig  u.  Wien  1920, 
Bibliographisches  Institut. 
Das  bekannte  Buch  Neumayrs,  der  die  Geo- 
logie in  volkstümlicher  Form  aber  auf  streng 
wissenschaftlicher  Grundlage  darstellte,  hatte  schon 
in  seiner  zweiten  Auflage  durch  B.  Uhlig  eine 
weitgehende  Umarbeitung  erfahren.  In  der  vor- 
liegenden neuesten  Auflage  ist  die  Umgestaltung 
noch  weiter  fortgeführt,  sie  ist  unter  den  ge- 
schickten Händen  F.  E.  Sueß'  zu  einem  neuen 
Buche  geworden,  neu  in  der  Anordnung  und  Aus- 
wahl des  Stoffes,  neu  auch  vor  allem  infolge  der 
Berücksichtigung  der  Fortschritte  der  Geologie, 
die  gerade  in  den  letzten  Jahrzehnten  bedeutend 
waren.  Dabei  ist  der  Geist  des  klassischen  N  e  u  - 
mayr sehen  Werkes  lebendig  geblieben.  Das  gilt 
auch  für  jene  anziehende  Form  der  Darstellung, 
die  den  Leser  an  der  Entwicklung  der  Ideen  teil- 
nehmen läßt  und  die  durch  anschauliche  Schilde- 
rungen belebt  wird,  dabei  sich  aber  überall,  wie 
es  bei  der  Person  des  Herausgebers  selbstver- 
ständlich ist,  auf  wissenschaftlicher  Höhe  hält.  In 
diesem  ersten  Bande,  dem  der  zweite  hoffentlich 
bald  folgen  wird,  werden  die  Kräfte  und  die 
Wirkungen  auf  die  Ausgestaltung  der  Erdkruste 
behandelt,  der  Vulkanismus,  die  Einflüsse  von 
Wasser    und  Licht,    die  Gebirgsbildung,    die  Erd- 


beben und  die  Metamorphose  der  Gesteine.  Viele 
Tafeln,  darunter  eine  ganze  Anzahl  farbiger,  so- 
wie zahlreiche  Textbilder,  Skizzen  und  Kärtchen 
seien  besonders  hervorgehoben,  sowie  die  gute 
Ausstattung   des  vortrefflichen  Buches   überhaupt. 

Miehe. 


Stra^burger,    E.,    Das    kleine    Botanische 
Praktikum  für  Anfänger.     Anleitung  zum 
Selbststudium  der  mikroskopischen  Botanik  und 
Einführung  in  die  mikroskopischeTechnik.  Neunte 
verbesserte  Auflage,   bearbeitet  von  M.  Ko er- 
nicke.    272  S.    mit    138  Holzschnitten   und  3 
farbigen   Bildern.      Jena  1921,    Gustav   Fischer. 
Brosch.  40  M.,  geb.  50  M. 
Das  kleine  botanische  Praktikum  ist  im  wesent- 
lichen   ein    Auszug    des    großen    Praktikums.     Es 
führt  deshalb  nicht  nur  wie  manche  ähnliche  Werke 
in    die  Anatomie   der    höheren  Pflanzen,    sondern 
auch  in  den  Bau  und  die  Fortpflanzungsverhältnisse 
der  Algen  und  Pilze    ein.      Auch  die  Grundlagen 
der     Fixierungs-,     Mikrotom-     und    Färbetechnik 
werden    dargestellt.      Seine    Benutzung    empfiehlt 
sich    für   jeden,    der    eine    möglichst    umfassende 
praktische  Einführung  in  die  Botanik  erfahren  will, 
also  nicht  nur  für  den  diese  als  Hauptfach  wählenden 
Studierenden,  sondern  vor  allem  auch  für  den  zu- 
künftigen Lehrer   an  höheren  Schulen.     Daß  sich 
das  Buch  in  dieser  Beziehung  bewährt  hat,  beweist 
die  rasche  Folge  der  Auflagen.  Nienburg. 


Anregungen  und  Antworten. 


Augenlose  Höhlentiere,  Mutationstheorie  und  Lamarckis- 
mus.  An  einen  Bericht  über  die  „Rückbildung  der  Augen 
durch  Mutation  bei  Drosophila"  (diese  Zeitschrift  1921,  H.  45, 
S.  648  ff.)  knüpft  der  Referent  Nachtsheim  einige  theore- 
tische Betrachtungen  über  den  Ursprung  der  augenlosen 
Ilöhlentiere,  die  nicht  unwidersprochen  bleiben  können. 

Nach  Meinung  des  genannten  Referenten  gibt  es  3  Mög- 
lichkeiten für  die  Entstehung  einer  blinden  Höhlenform : 
I.  Das  Auftreten  einer  dominanten  augenlosen  Mutation,  die 
(bei  Indifferenz  der  Merkmale  Augenlosigkeit  im  Dunkeln: 
,,das  Auge  hätte  dann  keinen  Selektionswert  mehr"  [S.  649, 
Sp.  II,  Z.  24J)  ohne  Selektion  allein  , .infolge  der  Domi- 
nanzverhältnisse die  Stammrasse  bald  verdrängen"  soll, 
so  daß  ,,das  Resultat  das  Verschwinden  der  Augen  bei  den 
im  Dunkeln  lebenden  Tieren  innerhalb  verhältnismäßig  kurzer 
Zeit"  wäre  (Z.  28 — 33).  2.  Das  mutative  Auftreten  eines 
augenlosen  Tieres,  bei  dem  das  Merkmal  Augenlosigkeit  mit 
einem  anderen  Merkmal  (z.  B.  vergrößerte  Tast-  und  Geruchs- 
organe bei  Niphargus  putaneus)  korrelativ  verknüpft  ist,  welch 
letzteres  der  Mutation  durch  Selektionswirkung  das  Über- 
gewicht über  die  Stammrasse  verschaffen  würde,  ,,auch  wenn 
jene  nicht  über  die  Stammform  dominant  wäre  (S.  650,  Z.  16). 
3.  Die  Lamarcksche  Annahme  der  Rückbildung  der  Augen 
durch  den  direkten  Einfluß  der  Dunkelheit. 

Die  erste  Möglichkeit  ist  offenbar  nur  ein  Niederschlag 
der  Anschauung,  als  müßten  innerhalb  einer  Population  die 
dominanten  Formen  (ohne  Beteiligung  der  Selektion)  eben 
wegen  der  Dominanz  ganz  von  selbst  an  Zahl  fortgesetzt  zu- 
nehmen und  im  Laufe  mehrerer  Generationen  die  rezessiven 
schließlich  völlig  zum  Verschwinden  bringen,  eine  Ansicht, 
die  bei  oberflächlicher  Betrachtung  zunächst  ja  auch  recht 
plausibel  erscheint.  Wenn  man  jedoch  die  Rechnung  für 
einige  Generationen   wirklich  durchführt,  so  erkennt  man  den 


Irrtum  bald.  Es  gilt  hier  nämlich  der  schon  1908  von  Hardy 
formulierte  Satz,  daß  die  Nachkommen  der  Stammform  und 
der  Mutante  während  aller  Generationen  immer  in  demselben 
Zahlenverhältnis  zueinander  bleiben,  vorausgesetzt,  daß  keine 
Sorte  im  Kampfe  ums  Dasein  bevorzugt  ist.  Über  Punkt  i 
ist  demnach  weiter  kein  Wort  zu  verlieren. 

Was  nun  die  2.  Möglichkeit  anbelangt,  so  ist  sie  zwar 
logisch  einwandfrei,  steht  und  fällt  aber  einmal  mit  der,  ab- 
gesehen von  einigen  kümmerlichen  Gelegenheitsbeobachtungen, 
leider  noch  immer  (genau  wie  nach  N.s  Meinung  der  La- 
marckismus)  ohne  direkten,  experimentellen  (oder,  wie  N. 
sagt,  „wissenschaftlichen")  Beweis  dastehenden  Selektionstheorie. 
Außerdem  erfordert  aber  diese  2.  Möglichkeit  noch  eine  Hilfs- 
hypothese, die  sich,  beiläufig  bemerkt,  die  Nurselektionisten 
für  alle  Fälle,  wo  bisher  die  Selektionstheorie  zu  versagen 
drohte,  als  Universalhilfsmittel  merken  sollten.  Die  Augen- 
losigkeit siegt  nämlich  nach  dieser  Ansicht  gar  nicht  aus 
eigener  Kraft  im  Kampfe  ums  Dasein,  sondern  schmuggelt 
sich  sozusagen,  als  im  Dunkeln  indifferentes  Merkmal,  mit 
Hilfe  eines  anderen  selektionswertigen  Merkmals  (im  ange- 
führten Beispiel  der  vergrößerten  Tastwerkzeuge),  das  durch 
den  gleichen  Erbfaktor  bedingt,  also  mit  ihm  verkoppelt  sein 
soll,  mit  durch.  Wenn  uns  nun  auch  der  Mendelismus  mit 
einer  Reihe  von  Fällen  bekannt  gemacht  hat,  wo  möglicher- 
weise (einwandfrei  zu  erweisen  ist  es  kaum  !)  mehrere  sonst 
ganz  beziehungslose  Eigenschaften  durch  dasselbe  Gen  hervor- 
gerufen werden,  so  stellt  doch  bei  der  auch  von  N.  (wie  an- 
gesichts der  Talsachen  auch  nicht  anders  möglich)  betonten 
Kichtungslosigkeit  der  Mutationen  jene  Annahme  recht  große 
Anforderungen  an  den  , .Zufall".  Man  denke  doch,  es  soll 
nicht  nur  zufällig  im  Dunkeln  ein  Tier  mit  vergrößer- 
ten Tast-  und  Riechwerkzeugen  auftreten  (die  es 
gerade  dringend  nötig  hat!),  sondern  diese  erbliche  Mutation 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  14 


soll  auch  noch  (ebenfalls  zufallig I)  reduzierte  Augen  be- 
sitzen (womöglich  gar  noch,  wie  viele  Höhlentiere,  rückge- 
bildetes Pigment),  von  der  auffälligen  (aber  nur  biologi- 
schen) Beziehung  zwischen  jenen  Eigenschaften  ganz  zu 
schweigen.  Durch  N.s  Annahme,  daß  jener  Vorgang  In  meh- 
reren Etappen  stattgefunden  habe,  wird  er  natürlich  auch 
nicht  gerade  wahrscheinlicher.  Und  an  alledem  wird  eben 
auch  nichts  durch  die  simple  Tatsache  geändert,  daß  bei  der 
Fliege  Drosophila  nach  vielen  anderen  auch  einmal  (oder 
richtiger  zweimal)   ein  Augenkrüppel  aufgetreten  ist. 

Einer  Entstehung  der  blinden  Höhlenforraen  durch  Muta- 
tion glattweg  widerspricht  übrigens  Kammerers  experi- 
mentelle Feststellung  beim  blinden  Grottenolm ,  der  sich  in 
einer  Generation  durch  direkte  Lichtwirkung  in  ein  sehendes 
Tier  mit  fast  normalen  Augen  verwandeln  ließ.  Von  Erblich- 
keit (wie  bei  jenen  Drosophilamutanten)  ist  also  mindestens 
in  diesem  Falle  eines  blinden  Höhlenbewohners  keine  Rede, 
also  auch  nicht  von   Entstehung  durch   Mutation. 

Wohl  aber  paßt  dieser  Befund  durchaus  zu  der  überhaupt 
viel  einfacheren  und  (nicht  nur  dem  Laien,  wie  N.  meint) 
einleuchtenderen,  aber  vom  Referenten  abgelehnten  Lamarck- 
schen  Annahme,  wonach  Augenlosigkeit,  vergrößerte  .\ntennen, 
Pigmentreduktion  u.  dgl.  bei  Höhlentieren  durch  dasselbe 
Milieu  (Lichtraangel  resp.  dadurch  verursachter  Gebrauch  oder 
Nichtgebrauch)  geprägte  Modifikationen  sind.  Denn  für  solche 
milieugeprägten  Abänderungen  ist  logischerweise  unbedingt  zu 
fordern,  daß  sie  bei  eintretender  schwächerer  oder  stärke- 
rer Gegeninduktion  oder  schon  beim  Aufhören  der  Induktion 
allmählich  (in  kürzerer  oder  längerer  Zeit,  in  einer  oder  meh- 
reren Generationen)  abklingen  müssen.  Natürlich  ist  es  anderer- 
seits ziemlich  ausgeschlossen,  daß  jene  Modifikationen  ihren 
jetzigen  Höhepunkt  in  eine  r  Generation  erreicht  haben,  da  in 
einem  so  kurzen  Zeitraum  die  Augen  z.  B.  von  Krebsen  durch 
Dunkelheit  nur  schwach  affiziert  werden.  Daß  solche  Steige- 
rungen von  Modifikationen  im  Laufe  mehrerer  Generationen 
vorkommen,  beweisen  die  bekannten  Versuche  Kamme- 
rers (insbesondere  mit  Alyter  und  Salamandra)  und  eine 
Reihe  anderer  Beobachtungen.  Natürlich  ist  eine  solche 
Steigerung  über  2  oder  mehr  (bei  Alyter  mindestens  4)  volle 
Generationen  nur  möglich,  weil  in  jeder  Generation  dem 
Grade  der  äußeren  Merkmale  (dem  ,,Phänotypus" ,  dem 
„Explicitum")  die  Beschaffenheit  des  „Implicitum"  in  den 
Keimzellen  (mindestens  in  diesen  vermutlich  natürlich  auch  in 
den  Somazellen)  entspricht  (wobei  wir  davon  ganz  absehen, 
was  denn  eigentlich  das  primär  vom  Milieu  veränderte  ist), 
es  handelt  sich  hier  also  nicht  um  ,,rein  phänotypische"  Mo- 
difikationen (also  ,, reine  Phänovariationen"  im  Sinne  Johann- 
sens),  sondern  um  Modifikationen  der  Anlagen,  des  ,,Geno- 
typus"  (wenn  wir  diesen  Begriff  nicht  nur  die  Summe  der 
Mendelfaktoren  umfassen  lassen),  alsoum,,Genomodifikalionen", 
wie  man  sagen  könnte.  Bei  der  Augenreduktion  der  Höhlen- 
tiere scheint  übrigens  die  .Steigerung  dieses  Merkmals  sogar 
viele  Jahrhunderte  gedauert  zu  haben,  wie  durch  die  Mittei- 
lungen Schneiders  und  Vires  (zit.  nach  S  e  m  o  n  „Vererbung 
erworbener  Eigenschaften")  über  Formen  von  AscUus  aqua- 
ticus  (und  Gammarus  pulex)  nahegelegt  wird,  die  sich  etwa 
■  entsprechend  der  vermutlichen  Länge  ihres  Uunkellebens  (in 
einem  etwa  400  Jahre  alten  Freiberger  Schacht,  in  den  Quellen 
der  Pariser  Katakomben  und  in  den  unterirdischen  Gewässern 
der  Seine)  in  der  Reduktion  der  Augen  immer  mehr  dem 
völlig  blinden  Asellus  cavaticus  (resp.  Niphargus  putaneus) 
natürlicher  Höhlengewässcr  annähern,  Tatsachen,  die  nach 
Nachtsheims  zweiter  Annahme  wohl  auch  noch  auf  Konto 
des  Zufalls  kämen. 


Wenn  der  Referent  übrigens  am  Schlüsse  seiner  Betrach- 
tungen sagt,  die  Lama  rck  sehe  Theorie  entbehre  jedes  wissen- 
schaftlichen Beweises,  so  muß  man  dem  ganz  entschieden  ent- 
gegentreten. ,,Denn  es  heißt  (einmal)  die  Bedeutung  vgl. 
entwicklungsgeschichtlicher  und  vgl.  morphologischer  Unter- 
suchung gründlich  verkennen,  ihre  Ergebnisse  in  dieser  Hin- 
sicht als  bedeutungslos  hinzustellen"  (D  ü  r  k  e  n  ,  ,,Experimental- 
zoologie")  oder  sie  gar  als  unwissenschaftlich  zu  bezeichnen, 
zumal  sich  ja  übrigens  auch  die  Selektionstheorie  und  die 
ganze  Abstammungslehre  fast  ausschließlich  auf  solches  nicht- 
experimentelles Material  stützt.  Denn  was  bisher  experimen- 
tell an  Mutationen  zutage  gefördert  worden  ist,  ist  doch 
wahrhaftig  eher  geeignet,  die  Deszendenztheorie  zu  diskredi- 
tieren, indem  die  Stammesentwicklung  der  Organismen  doch 
unmöglich  —  um  es  kraß  auszudrücken  —  über  lauter  Krüppel 
gegangen  sein  kann.  Zum  anderen  fehlt  es  aber  auch  an 
experimentellem  Beweismaterial  für  die  Lamarcksche  Theorie 
(d.  h.  Artveräuderung  durch  die  sog.  ,, Vererbung  erworbener 
Eigenschaften")  durchaus  nicht,  wenn  es  auch  (wegen  des 
Fehlens  planmäßiger  Versuche!)  nicht  gerade  sehr  umfang- 
reich ist.  Aber  es  genügt  ja  schließlich  prinzipiell,  wenn  auch 
nur  in  einem  Falle  die  Übertragung  von  milieugeprägten  Mo- 
difikationen durch  die  Keimzellen  auf  eine  oder  (besser)  meh- 
rere Generationen  (nach  .'\banderung  des  Milieus  natürlich) 
sicher  nachgewiesen  wird,  zumal  dann  zweifelhafte  Fälle  mit 
Recht  am  einfachsten  im  gleichen  Sinne  gedeutet  werden 
können.  Dieser  Nachweis  erscheint  aber  durch  einen  Teil  der 
Versuche  Kammerers  mit  Amphibien  und  Wolterecks 
mit  Daphnien  (in  parthenogenetischen  ,, reinen  Linien"!)  er- 
bracht. Von  ,, Nachwirkung"  einer  Modifikation  oder  von 
,, Dauermodifikation"  (statt  der  unzweckmäßigen  Bezeichnung 
„Vererbung  erworbener  Eigenschaften")  mag  man  in  diesen 
Fällen  immerhin  reden,  wenn  nur  damit  der  Kernpunkt  der 
Sachlage,  die  Existenz  von,  den  phänotypischen  Modifikationen 
(den  ,, Phänovariationen"  also)  entsprechenden  Modifikationen 
im  ,,impliciten"  Zustande  und  die  dadurch  ermöglichte  Über- 
tragung durch  die  Keimzellen  auf  die  nächsten  Generationen 
trotz  Auf  hörens  der  induzierenden  Milieureize  nicht  verschleiert 
wird.  Denn  um  eine  größere  oder  geringere  Menge  von 
totem  Nährplasma  oder  um  sonstwie  passiv  übertragene  Stoffe 
kann  es  sich  bei  so  spezialisierten  Merkmalen  und  bei  mehr- 
maligem Passieren  der  Keimzellen  unmöglich  handeln,  sondern 
um  vermehrungsfähige  Substanzen,  also  „Anlagen",  so  daß  es 
zweifellos  berechtigt  ist,  von  Modifikationen  der  Anlagen, 
des  ,,Genotypus",  oder  kurz  und  deutlich  von  ,,Genomodifika- 
tionen"  zu  reden  (wobei  es,  zurzeit  wenigstens,  ein  ganz  mü- 
ßiger Streit  ist,  ob  sie  ihren  Sitz  im  Kern  oder  Zytoplasma 
haben).  Solche  „Genomodifikationen"  mit  verhältnismäßig 
langer  Nachwirkung  (auch  über  Konjugationszuslände  hinaus) 
sind  übrigens  in  großer  Zahl  bei  Protisten  nachgewiesen  wor- 
den (,, Dauermodifikationen",  Jollos).  Bezeichnenderweise 
betrachtete  man  diese  wegen  der  langen  Nachwirkung  (unge- 
achtet ihrer  erwiesenen  Milieugeprägtheit)  bis  vor  kurzem 
zumeist  als  Mutationen,  ein  Schicksal,  das  auch  Kamm  er  er  s 
nicht  brutpflegenden  Alytes  von  Seiten  Johannsens  (Erblich- 
keitslehre 1913)  widerfuhr,  obgleich  doch  eigentlich  die 
Milieugeprägtheit  (d.  h.  die  Möglichkeit  ihrer  stets  gleichen 
Erzeugung  durch  das  gleiche  Milieu)  bislang  nicht  als  Cha- 
rakteristikum der  Mutationen  galt. 

Auf  alle  Fälle  steht  es  also,  wie  wir  in  den  vorstehenden 
Zeilen  nur  kurz  andeuten  konnten ,  durchaus  nicht  so  ver- 
zweifelt um  den  Lamarckismus,  sicherlich  nicht  schlechter  als 
um   Mutations-    und   Seicktionstheorie. 

W.   l'eter,  Zittau. 


Inhalt:  (J.  Ken  de.  Das  Donautal  in  Österreich.  S.  185.  B.  de  Ruddcr,  Axiom  und  Erfahrung.  S.  194.  —  Binzel- 
berlcbte:  M.  H.  Fischer,  Zur  Theorie  der  Liesegangschen  Ringe.  S.  190.  Sabalilschka  und  E.  O.  v.  Lipp- 
mann, Rohrzucker  im  Schilfrohr.  S.  197.  —  Bücherbesprechungen:  M.  Hörnes,  Das  Gräberfeld  von  Hallstatt, 
seine  Zusammensetzung  und  Entwicklung.  S.  197.  A.  Mahr,  Die  prähistorischen  Sammlungen  des  Museums  zu  Hall- 
slatt.  S.  197.  Das  Pflanzenreich.  S.  19S.  11.  Molisch,  Mikrochemie  der  Pflanze.  S.  19S.  M.  Neumayr,  Erdge- 
schichte. S.  199.  E.  Straßburge  r ,  Das  kleine  Bot.aniscbe  Praktikum  für  Anränger.  S.  199.  —  Anregungen  und 
Antworten :    Augenlose  Höhlenticre,  Mutationstheorie  und   Lamarckismus.  S.   199. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schcn  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  9.  April  1922. 


Nummer  15. 


[Nachdruck  verboten.; 


Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen. 

I.  Versuche  mit  Seesternen. 

Von  Dr.  W.  Goetsch,  München,  Zool.  Institut. 
Mit  3  Abbildungen. 


Jeder  höhere  biologische  Organismus  ist  nicht 
die  Einheit,  die  er  zu  sein  scheint.  Er  ist  nicht 
nur  zusammengesetzt  aus  einzelnen  Bausteinen, 
den  Zellen ,  welche  eine  gewisse  Selbständigkeit 
besitzen ;  auch  die  einzelnen  Organkomplexe 
können  normalerweise  ganz  unabhängig  vonein- 
ander funktionieren,  so  daß  wirklich  „die  rechte 
Seite  nicht  weiß,  was  die  linke  tut".  Je  größer 
die  Differenziertheit  der  Abschnitte  und  je  straffer 
die  Zusammenfassung  durch  ein  Zentralnerven- 
system ist,  um  so  weniger  tritt  in  Erscheinung,  daß 
die  tierische  Persönlichkeit  nichts  absolut  Einheit- 
liches ist,  sondern  sich  aus  der  rhythmischen  Zu- 
sammenfassung vieler  Einzelheiten  ergibt.  Deut- 
lich hervor  tritt  dies  besonders  bei  Wesen,  welche 
aus  einer  Vielheit  von  Einzelabschnitten  bestehen, 
und  besonders  dann,  wenn  diese  Einzelabschnitte 
durch  den  Besitz  von  sämtlichen  lebenswichtigen 
Organen  ausgezeichnet  sind.  Dies  ist  z.  B.  der 
I'all  bei  den  Ringelwürmern ,  deren  serienweis 
aufgereihte  Segmente  deshalb  schon  als  selbstän- 
dige Individuen  aufgefaßt  worden  sind  ;  oder  aber 
bei  den  radiär  gebauten  Tieren,  wie  z.  B.  bei  den 
Echinodermen,  wo  die  strahlenförmig  von  einem 
Punkte  ausgehenden  Teile  eine  große  Selbständig- 
keit besitzen  können.  IMit  den  Formen,  welche 
die  radiäre  Anordnung  am  ausgeprägtesten  zeigen, 
wollen  wir  uns  hier  etwas  näher  beschäftigen. 
Es  sind  dies  die  Seesterne,  die  allen  Badegästen 
der  Nordsee  wahrscheinlich  schon  zu  Gesicht  ge- 
kommen sind. 

Für  gewöhnlich  bietet  ein  Seestern  einen 
ziemlich  stupiden  Anblick;  man  hat,  wenn  man 
die  Tiere  am  Strande  findet,  meist  nicht  einmal 
den  Eindruck ,  ein  lebendiges  Tier  vor  sich  zu 
haben,  und  noch  dazu  eines,  das  in  der  Mehrzahl 
der  voraussehbaren  Fälle  äußerst  zweckmäßig 
handelt  und  dabei  eine  Beweglichkeit  und  Ge- 
schicklichkeit aufbringt,  die  man  ihm  niemals 
zutrauen  würde.  Werden  Seesterne  z.  B.  durch 
eine  Woge  ans  Land  geschleudert,  so  glückt  es 
ihnen  meistens,  das  Wasser  wieder  zu  erreichen 
und  ihr  Leben  zu  retten,  das  sie  wie  alle  Wasser- 
tiere am  trockenen  Gestade  nach  kurzer  Zeit 
verlieren  würden. 

Wie  bewegt  sich  nun  ein  solches  Tier  über- 
haupt? Wie  alle  Stachelhäuter  oder  Echino- 
dermen, besitzt  auch  der  Seestern  als  hauptsäch- 
lichstes Lokomotionsorgan  das  Wassergefäßsystem. 
Es  sind  dies  röhrenartige  Kanäle,  die  den  ganzen 
Körper  durchziehen    und   mit  Seewasser  angefüllt 


sind.  Der  Eintritt  des  Seewassers  wird  gewähr- 
leistet durch  eine  Kalkscheibe  mit  feinen  Öffnungen, 
die  sog.  Madreporenplatte.  Diese  liegt  bei  See- 
sternen und  Seeigeln  auf  der  Oberseite  der  Tiere, 
und  zwar  nicht  in  der  JVlitte,  sondern  exzentrisch 
(vgl.  Abb.  1).  Von  dieser  Platte  führt  nach  ab- 
wärts ein  Kanal,  der  wegen  der  häufig  zu  finden- 
den Verkalkung  Steinkanal  genannt  worden  ist. 
Von  da  gelangt  das  Seewasser  in  den  Ringkanal, 
der  den  an  der  Unterseite  befindlichen  Mund  um- 
gibt, und  von  da  aus  dann  in  die  Radiärkanäle 
welche  die  Arme  durchziehen.  Die  Radiärkanäle 
wiederum  geben  rechts  und  links  noch  Seitenäste 
ab,  die  in  die  Ambulacralfüßchen  endigen;  und 
mit  diesen  Füßchen  bewegen  sich  die  Tiere  nun 
vorwärts,  in  dem  sie  sich  mittels  ihrer  Saug- 
scheiben anheften  und  dann  den  Körper  nach- 
ziehen. Bei  umgewendeten  Seesternen  sieht  man 
diese  Füßchen  in  mehreren  Reihen,  entweder 
ausgestreckt  oder  mehr  oder  weniger  zurückge- 
zogen, je  nachdem  sie  durch  das  Einpumpen  mit 
Seewasser  prall  gefüllt  oder  durch  Muskelkontrak- 
tion entleert  sind. 

Die  strahlige  Anordnung  des  Wassergefäß-  oder 
Arribulacralgefäßsystems  bestimmt  nun  die  Anord- 
nung der  übrigen  Organe,  die  fast  alle  in  strahliger 
Ausbildung  auftreten.  Auch  das  Nervensystem 
beginnt  mit  einem  den  Mund  umziehenden  Ring 
und  setzt  sich  in  die  Arme  strahlenförmig  fort. 
In  ähnlicher  Weise  sind  auch  die  anderen  Organ- 
systeme verteilt,  wie  z.  B.  die  Sinnesapparate,  die 
ebenfalls,  als  Augenflecke,  Taster  und  ähnliche 
Organe,  an  den  Armspitzen  zu  finden  sind.  Trifft 
nun  ein  Reiz  den  einen  oder  anderen  Arm,  so 
genügt  das,  um  dem  ganzen  Nervensystem  die 
Richtung  anzugeben,  nach  welcher  sich  die  Be- 
wegung der  Füßchen  einzustellen  hat. 

Vielfache  Versuche  haben  diese  Verhältnisse 
gezeigt,  und  ich  möchte  einige  derselben  hier 
anführen,  da  man  aus  ihnen  sehen  kann,  wie  es 
einem  Tier  manchmal  möglich  ist,  sich  zu  helfen 
—  und  wie  es  ihm  in  anderen  ganz  einfach  er- 
scheinenden Fällen  auf  Grund  seiner  Organisation 
versagt  bleibt,  sein  Leben  zu  retten. 

Die  einfachste  Versuchsanordnung  ist  die,  bei 
der  ein  frisch  aus  dem  Meere  geholter  Seestern 
aufs  Trockene  gelegt  wird  so  daß  nur  eine  Arm- 
spitze das  Wasser  berührt.  In  solchen  Fällen 
zogen  sich  bei  meinen  Experimenten  die  Tiere 
immer  zunächst  zusammen,  wobei  die  Arme  sich 
nach  oben  einrollten.    Nach  dieser  ersten  Reflex- 


202 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   1 5 


bewegung  begannen  dann  die  Tiere  ihre  Füßchen 
so  zu  orientieren,  daß  der  ganze  Stern  dem  Wasser 
zugeschoben  wurde;  nach  einiger  Zeit  berührten 
dann  auch  andere  Arme  das  Wasser,  und  nach 
wenigen  IVIinuten  befand  sich  das  ganze  Tier 
wieder  in  seinem  Element. 

Auf  den  Rücken  gelegte  Exemplare  benahmen 
sich  in  dieser  Situation  ebenso ;  die  Arme  angelten 
einige  Zeit  herum,  bis  der  zunächst  mit  dem 
Wasser  in  Berührung  kommende  Arm  die  Rich- 
tung angab. 

i3ei  der  ersten  Reflexbewegung  der  Tiere  und 
dem  Zusammenziehen  und  Aufwärtskrümmen  der 
Arme  kann  es  nun  vorkommen,  daß  die  Be- 
rührung mit  der  Wasserfläche  aufgegeben  wird. 
Trotzdem  beginnt  dann  das  Tier  in  der  Richtung 
des  Wassers  hin  zu  kriechen;  durch  die  erste 
Berührung  mit  dem  Wasser  ist  also  ein  Impuls 
gegeben,  und  die  Richtung,  in  der  die  Bewegung 
gehen  soll,  ein  für  alle  Male  bestimmt,  solange 
kein  zweiter  Reiz  den  ersten  aufhebt.  Etwaige 
Hinternisse  spielen  dabei  keine  Rolle  und  bringen 
das  Tier  keinesfalls  aus  der  einmal  eingeschlagenen 
Richtung.  In  einem  Fall  verhinderte  z.  B.  die 
vorstehende  Kante  des  Gefäßes,  in  dem  der  auf 
dem  Trockenen  liegende  Seestern  das  Wasser  ge- 
spürt hatte,  längere  Zeit  das  Wiederfinden  des 
rettenden  Nasses.  Die  Folge  davon  war,  daß  das 
ganze  Tier  sich  zunächst  mit  allen  Körperteilen 
unmittelbar  an  das  Gefäß  herandrängte  und  dort 
mit  den  Armen  herumfühlte,  bis  dann  eine  neue 
Berührung  mit  dem  Wasser  erfolgte  und  das 
Hindernis  genommen  wurde.  Wir  sehen  schon 
an  diesem  Beispiel,  daß  bei  den  so  niedrig 
stehenden  Tieren  ein  Eindruck  längere  Zeit 
remanent  und  haftend  bleiben  kann.  Ein 
solches  Haften  eines  Eindrucks,  d.  h.  eine  niedere 
Art  von  Gedächtnis,  ist  für  das  Tier  natürlich  von 
großem  Vorteil:  Der  Kontakt  der  einen  Seite 
mit  dem  Wasser  kann  wieder  aufgehoben  werden, 
und  das  Tier  kriecht  doch  in  der  dadurch  ge- 
gebenen Richtung.  Berührt  z.  B.  eine  Woge  das 
durch  die  Brandung  ans  Ufer  geschleuderte  Tier, 
oder  tritt  die  Flut  beim  Einsetzen  der  Ebbe  zu- 
rück, so  wird  der  Seestern  auf  Grund  dieser  Ein- 
richtung sich  doch  immer  wieder  ins  Meer  zu- 
rückfinden. 

Dazu  kommt,  daß  auch  schon  ganz  kurze  Be- 
rührungen mit  Wasser  genügen,  um  den  Impuls 
und  die  Richtung  anzugeben.  Ein  großer  See- 
stern z.  B.,  den  ich  auf  eine  Holzplatte  legte  und 
an  einer  Armspitze  dreimal  leicht  mit  Wasser 
betupfte,  kroch  sofort  in  dieser  Richtung;  und 
als  ich  ihn  dann  auf  trockenen  Sand  tat  und  einen 
anderen  Arm  sechsmal  mit  einem  Tropfen  be- 
feuchtete, nahm  er  seinen  Weg  nach  dieser 
Seite. 

Interessant  und  amüsant  zugleich  ist  es,  zu 
beobachten,  wie  beim  Weg  ins  Wasser  die  Tiere 
sich  verhalten,  wenn  man  ihnen  enge  Öffnungen 
oder  andere  Hindernisse  dabei  in  den  Weg  stellt. 
Da  kommt    eine  Beweglichkeit  und  Geschicklich- 


keit an  den  Tag,  die  manchmal  ganz  verblüffend 
wirkt.  Ein  Seestern,  dessen  Armlänge  4  cm  be- 
trug, kroch  beispielsweise  durch  eine  elliptische 
Röhre,  deren  größter  Durchmesser  3^.,  cm  be- 
trug; er  knickte  die  heraushängenden  Arme  ein 
und  war  in  kurzer  Zeit  durch  die  gegenüber- 
liegende Öffnung  wieder  ins  Freie  gelangt. 

Ein  anderer,  dessen  größter  Arm  4  '/g  cm  maß, 
versuchte  aus  der  Trockenheit  in  ein  kleines  mit 
Wasser  gefülltes  Likörglas  zu  kriechen ;  da  seine 
Gesamtmasse  viel  größer  war  als  der  Inhalt  des 
Gefäßes,  gelang  ihm  dies  nicht  ganz.  Er  zwängte 
aber  trotzdem  beinahe  den  gesamten  Körper  in 
das  Gläschen  hinein,  bis  auf  zwei  Armspitzen, 
die  oben  noch  hinausragten. 

Zwei  andere  Tiere  krochen  sogar  vollkommen 
in  Flaschen  hinein,  deren  Hals  über  viermal  so 
klein  war  als  ihr  Durchmesser.  Das  eine  Exem- 
plar wurde  dann  von  mir  innerhalb  der  Flasche 
abgetötet,  nachdem  es  sich  darin  ausgebreitet 
hatte  (Abb.  i).  Alle  derartigen  Versuche  beruhen 
auf  der  Beharrlichkeit  der  Seesterne,  in  der  Rich- 
tung weiterzukriechen,  in 
der  sie  das  Wasser  gespürt 
haben.  Man  braucht  dem- 
nach nur  ein  Tier  auf  eine 
mit  Seewasser  gefüllte  Fla- 
sche zu  legen  und  den  einen 
Arm  hineinzustecken.  Sofort 
krümmt  es  die  Arme  zu- 
sammen bis  auf  den,  wel- 
cher das  Wasser  berührt, 
und  versucht  dann  auf  jede 
Weise,  den  gesamten  Kör- 
per in  die  Flüssigkeit  hinein 
zu  bekommen. 

Alle  diese  Versuche  legen 
dar,  daß  der  Reiz  auf  den 
einen  Arm  das  Tier  nötigt, 
in  dieser  Richtung  sich  vor- 
wärts zu  bewegen,  und  diese 
Bewegung  geht  so  lange 
weiter,  als  der  Reiz  andauert 
oder  die  Reizwirkung  rema- 
nent bleibt  oder  aber  ein 
anderer  stärkerer  Reiz  ent- 
gegen wirkt. 

Was  wird  nun  geschehen,  wenn  nicht  nur  e  i  n 
Arm  und  eine  Seite  gereizt  wird,  sondern  wenn 
zwei  entgegengesetzte  Körperabschnitte  gleich- 
zeitig einer  Reizung  unterliegen?  Wird  dann  der 
Seestern  wirklich  umkommen,  wie  der  Esel 
zwischen  zwei  Heubündeln  ?  Die  Versuche  be- 
wiesen, daß  dies  in  der  Tat  möglich  ist,  wenn 
die  Bedingungen  wirklich  auf  beiden  Seiten  voll- 
kommen gleich  sind. 

Einen  frisch  gefangenen  Seestern  legte  ich 
beispielsweise  über  ein  Stöckchen,  balanzierte  ihn 
gut  aus  und  ließ  zwei  gegenüberliegende  Arme 
das  Wasser  berühren  (Abb.  2).  Die  benetzten 
Armspitzen  zogen  sich  nach  beiden  Seiten  ins 
Wasser  hinein,  begannen  lebhaft  mit  den  Füßchen 


Abb.  I.  Seestern,  der  in 
eine  Flasche  gekrochen 
ist.  M  =  Madreporen- 
platte  zum  Eintritt  für 
das  Seewasser,  a  —  e  Be- 
zeichnung der  Arme 
nach    Jennings. 


N.  F.  XXI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


203 


zu  spielen  und  faßten  zuletzt  beide  den  Grund 
des  Gefäßes.  So  zogen  sie  kräftig  nach  beiden 
Seiten,  und  da  die  übrigen  Arme  das  Wasser 
nicht  erreichen  konnten,  so  mühte  sich  das  Tier 
vergeblich  ab,  und  war  nach  einer  Stunde  voll- 
kommen schlapp  und  halb  vertrocknet. 

Ein  anderer  vollkommen  ausgeruhter  Seestern 
wurde  so  ins  Wasser  gelegt,  daß  zwei  Arme  ins 
Wasser  ragten.  Zwischen  diese  beiden  Arme 
wurde  ein  Strohhalm  gesteckt.  Der  übrige  Teil 
lag  außerhalb  des  Wassers,  und  die  beiden  Arme, 
die  den  eingetauchten  benachbart  waren,  wurden 
durch  Halme  gehindert,  bei  etwaigen  Bewegungen 
ihrerseits  das  Wasser  zu  berühren  und  dadurch 
den  Zug  nach  der  einen  Seite  zu  verstärken.  Daß 
ein  solches  zurückhalten  das  Tier  nicht  behindert 
hätte,  geht  aus  den  früheren  Versuchen  hervor; 
außerdem  lehrte  ein  gleichzeitiges  Kontrollexperi- 
ment mit  noch  enger  gesteckten  Halmen,  daß  ein 
solches  Tor  ohne  weiteres  genommen  wird. 


einiger  Zeit  die  übrigen  unter.  Werden  normaler- 
weise mehr  als  ein  Arm  gereizt,  so  beeinflußt  die 
stärker  davon  betroffene  Seite  die  andere  in 
ihrem  Sinne  und  zieht  sie  in  ihrer  Richtung 
mit  fort;  es  ließen  sich  hierbei  förmlich  quanti- 
tative Bestimmungen  feststellen. 

Aus  diesem  Grunde  müssen  auch  die  Versuche, 
zwei  Seiten  gleichzeitig  zu  beeinflussen,  sehr  ge- 
nau ausgeführt  werden.  Die  Arme  müssen  gleich- 
lang sein,  die  Tiere  müssen  gut  ausbalanziert 
werden  und  vor  allem  muß  man  verhindern,  daß 
nicht  ein  dritter  Arm  vom  Wasser  benetzt  wird. 
Denn  jedes  geringste  Plus  auf  der  einen  Seite 
zieht  nach  und  nach  den  ganzen  Seestern  auf  die 
eine  Seite  hinüber,  und  damit  ist  dann  die  ein- 
heitliche Bewegungsrichtung  gegeben,  und  der 
Seestern  zeigt  uns,  daß  er  doch  etwas  mehr  ist 
als  eine  fünfstrahlige  Maschine. 


Abb.  2.     Seestern,    der  so    auf  einem  Stock  ausbalanziert  ist, 
dafl  zwei  herunterhängende  Arme  das  Wasser  berühren.     Der 
Seestern  kann  nicht  in  das  Wasser  gelangen,  da  die  gegen- 
überliegenden Reize  die  Wirkung  aufheben. 


Auch  bei  diesem  Versuche  konnte  der  See- 
stern nicht  das  Wasser  erreichen  und  mühte  sich, 
nach  beiden  Seiten  gewaltig  ziehend,  über  drei- 
viertel Stunden  ab,  bis  ich  ihn  aus  der  unange- 
nehmen Lage  befreite. 

Derartige  Versuche  wurden  noch  oftmals  unter- 
nommen, und  sie  hatten  immer  denselben  Erfolg, 
wenn  wirklich  auf  beiden  Seiten  genau  dieselben 
Bedingungen  herrschten. 

Die  Ursache  zu  diesen  eigenartigen  Erschei- 
nungen liegt  in  der  Organisation  begründet.  Jeder 
Seesternarm  besitzt  in  sich  alle  Teile,  die  zum 
Leben  nötig  sind,  auch  die  Nerven  und  die  Sinnes- 
organe; und  dadurch  besitzt  er  eine  so  große 
Selbständigkeit,  daß  sogar  ein  einzelner  Arm  das 
ganze  Tier  wieder  aus  sich  hervorgehen  lassen 
kann,  wenn  man  ihn  abschneidet. 

Da  eine  straffe  zentrale  Überordnung  durch 
ein  Gehirn  hier  fehlt,  ist  die  Folge,  daß  bei  der 
gleichmäßigen  Organisation  der  Einzelteile  jeder 
Arm  für  sich  reagiert,  und  eine  Doppelreizung 
an  entgegengesetzten  Polen  die  Wirkung  aufhebt, 
die  eine  einseitige  Beeinflussung  hervorrufen 
würde.  Eine  solche  einseitige  Beeinflussung,  wie 
sie  z.  B.  die  Benetzung  eines  Armes  darstellt,  läßt 
diese  eine  Seite  zunächst  in  Tätigkeit  treten;  ist 
dann  eine  Bewegung  nach  dieser  Richtung  einmal 
in    Gang    gekommen,    so    ordnen    sich    ihr    nach 


Abb.  3.     Seestern,  der  mit  zwei  nebeneinanderliegenden  Armen 

das  Wasser  berührt.     Er  kann  nicht  ins  Wasser  gelangen,  da 

zwischen  beiden  Armen  ein  Stöckchen  befestigt  ist. 


Ein  solches  Plus,  das  die  koordinierte  Be- 
wegung nach  der  einen  Seite  bedingt,  ist  z.  B. 
die  Berührung  des  einen  Armes  mit  der  Boden- 
fläche des  Gefäßes;  schon  rein  mechanisch  kann 
der  Arm,  der  sich  mit  seinen  Füßchen  anheftet, 
einen  größeren  Zug  ausüben  und  damit  dann  die 
Bewegungsrichtung  beeinflussen.  Ein  solches  Plus 
kann  aber  auch  in  nichtmechanischen  Ursachen 
liegen,  wie  ich  feststellen  konnte. 

Mir  war  bei  diesen  Versuchen  aufgefallen,  daß 
die  Tiere  leicht  eine  Tendenz  zeigten,  immer 
nach  einer  Seite  zu  kriechen  oder  zu  fallen.  Ich 
probierte  zunächst  einmal  aus,  ob  vielleicht  orga- 
nisch bestimmte  Arme  bevorzugt  würden,  bei 
sonst  gleichmäßiger  Reizung.  Vielleicht  die, 
welche  der  Madreporenplatte  zunächst  lagen 
(Arm  a  u.  e  der  Abb.  i),  da  diese  auch  bei  den 
Umdrehversuchen  von  Jennings*)  eine  beson- 
dere Rolle  spielten.  Alle  meine  Untersuchungen 
gaben  keinen  Anhaltspunkt  für  eine  organisch 
bedingte  Bevorzugung  der  Kriechrichtung  bei 
gleichmäßiger  Reizung;  auch  die  Größe  machte 
nichts  dabei  aus. 

Hatte  ich  dagegen  einen  vollkommen  ausge- 
ruhten Seestern  erst  einmal  nach  einer  bestimmten 

Jennings,    das  Verhalten    der    niederen  Organismen. 


204 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   15 


Richtung  kriechen  lassen,  so  wurde  diese  Seite 
bei  einem  zweiten  Versuch  bevorzugt,  wenn  zwei 
Seiten  gleichzeitig  gereizt  wurden.  So  hatte  ich 
beispielsweise  einen  kleinen,  ganz  regelmäßigen 
Stern  mit  dem  einen  Arm  (a  der  Abb.  i)  in 
Wasserberührung  gebracht,  worauf  er,  wie  erwartet, 
sofort  in  dieser  Richtung  sich  in  Bewegung  setzte 
und  ins  Wasser  gelangte.  Als  ich  ihn  nun  her- 
ausholte und  über  einen  Stock  genau  ausbalan- 
zierte,  so  daß  der  Arm  a  und  der  gegenüber- 
liegende das  Wasser  berührte,  begann  er  nach 
ganz  kurzer  Zeit  sich  nach  der  Seite  zu  neigen, 
an  welcher  sich  der  beim  früheren  Versuch  ge- 
reizte Arm  befand.  Der  Versuch  wurde  erneuert 
und  das  Tier  dabei  auf  den  Rücken  gelegt.  Der 
Erfolg  war  derselbe.  Zum  dritten  Male  wieder- 
holt, zeitigte  der  Versuch  dasselbe  Ergebnis;  das 
Tier  kroch  wiederum  in  dieser  Richtung,  nur 
etwas  langsamer,  da  es  augenscheinlich  ermüdet 
war. 

Bei  einem  anderen  Versuch  derselben  Art 
streckte  der  aus  dem  Wasser  genommene  See- 
stern sofort  den  Arm  aus,  der  beim  vorherge- 
gangenen Befeuchten  die  Richtung  angegeben 
hatte;  der  benachbarte  Arm  schlug  sofort  in  der 
gleichen  Richtung  um  und  berührte  damit  das 
Wasser.  Damit  war  natürlich  das  ursprüngliche 
Plus  erhöht  und  die  Richtung  entschieden.  Als 
das  Tier  vollkommen  ins  Wasser  gelangt  war, 
holte  ich  es  heraus  und  legte  es  so  über  einen 
Napf,  daß  alle  Arme  gleichmäßig  in  der  Luft 
schwebten.  Der  früher  gereizte  Arm  begann  sa- 
fort  stärkere  Bewegungen  auszuführen  und  sich 
nach  unten  zu  krümmen.  Das  Tier  bewegte  sich 
nun  in  dieser  Richtung  ein  wenig  vorwärts,  und 
als  dann  der  bevorzugte  Arm  als  erster  die 
Wasseroberfläche  berührt  hatte,  glitt  das  Tier 
nach  ganz  kurzer  Zeit  in  das  Becken  hinein. 

In  einer  ganzen  Anzahl  weiterer  Fälle  krochen 
die  Tiere,  die  doppelseitig  einem  Reiz  ausgesetzt 
worden  waren,  stets  nach  der  Richtung  des  Arms, 
der  zum  ersten  Male  das  Wasser  berührt  hatte, 
trotzdem  sonst  alle  Vorsichtsmaßregeln  getroffen 
waren.  Man  muß  also  bei  der  Versuchsanordnung 
auch  diese  remanent  gebliebenen  Eindrücke  berück- 
sichtigen und  nur  solche  Tiere  auswählen,  die 
vollkommen  ausgeruht  sind  und  nicht  schon  auf 
eine  bestimmte  Richtung  eingestellt  waren. 

Darauf  mag  es  auch  beruhen,  daß  Preyer') 
bei  derartigen  Versuchen  zu  dem  Resultat  kam, 
ein  Seestern,  der  sich  nicht  zu  helfen  weiß  in 
solch  fataler  Lage,  sei  psychisch  minderwertiger 
als  andere,  die  trotz  genauer  Versuchsanordnung 
schließlich  doch  die  Hindernisse  beseitigten  und 
das  Wasser  erreichten.  Preyer  wußte  nichts 
von  der  Einstellung  auf  bestimmte  Bewegungs- 
richtung, die  durch  das  Haftenbleiben  früherer 
Reize  zustande  kommt. 

Auf  diesem  Remanentbleiben  von  früheren  Ein- 


drücken beruht  wohl  auch  die  von  Jennings') 
unternommenen  und  neuerdings  von  Mangold  ^j 
nachgeprüften  Untersuchungen  über  das  Wenden 
der  Seesterne.  Legt  man  nämlich  das  Tier  auf 
den  Rücken,  so  krümmen  sich  zunächst  die  Arme 
alle  etwas  ein  und  tasten  hin  und  her,  bis  dann 
durch  ein  Übergewicht  auf  der  einen  Seite  eine 
gemeinsame  koordinierte  Aktion  eintritt:  einige 
Arme  heften  sich  fest,  während  die  übrigen  los- 
lassen, und  schließlich  schwingt  das  ganze  Tier 
herum  und  kommt  wieder  auf  die  Bauchseite. 
Jennings  „dressierte"  nun  die  Seesterne  und 
brachte  sie  nach  zwei  Wochen  „täglichen  Unter- 
richts" soweit,  daß  sich  „eine  Gewohnheit  heraus- 
bildete, deren  Wirkungen  noch  eine  Woche  lang 
nach  dem  Aufhören  der  Abrichtung  deutlich  be- 
stehen blieb".  Durch  10 — 12  maliges  tägliches 
Wenden  auf  ganz  bestimmten  Armen  bei  Be- 
hinderung der  anderen  Arme  gewöhnten  sich  die 
Tiere  daran,  immer  nach  derselben  Seite  herum- 
zuschlagen, und  sie  behielten  dann  auch  eine  Zeit- 
lang diese  Richtung  bei,  wenn  die  Behinderung 
aufgehoben  wurde. 

Zu  ähnlichen  Ergebnissen  kommt  auch  Ven, 
der  mittels  komplizierter  Versuchsanordnung  eben- 
falls die  Ausbildung  bestimmter  Gewohnheiten 
fördern  konnte;  sie  sind  ebenso  wie  die  Angaben 
'  Mangolds  über  die  Bevorzugung  des  einen  Arms 
bei  bestimmten  Individuen  meiner  Ansicht  nach 
immer  darauf  zurückzuführen,  daß  frühere  Ein- 
drücke mehr  oder  weniger  remanent  bleiben. 

Daß  eine  solche  Einstellung  auf  eine  bestimmte 
Richtung  auch  nach  Aufhören  des  eingetretenen 
Reizes  für  die  Tiere  von  Vorteil  sind,  wurde 
schon  früher  erwähnt ;  der  Seestern  wird  dadurch 
befähigt  sein  Ziel  zu  erreichen  und  wieder  ins 
Wasser  zu  gelangen,  falls  er  nicht  gar  zu  weit 
ans  Ufer  geschleudert  worden  ist.  Da  er  nor- 
malerweise wohl  niemals  in  die  Situation  kommen 
wird,  daß  genau  dieselben  Reize  in  gleicher  Stärke 
auf  beiden  Seiten  einwirken,  reicht  seine  Organi- 
sation in  allen  natürlichen  Lagen  vollkommen  aus, 
trotz  Selbständigkeit  der  Einzelteile  eine  koordi- 
nierte Bewegungsrichtung  herzustellen.  Die  Teil- 
reaktionen  der  einzelnen  Abschnitte  sind  bei  einem 
Seesternindividuum  deshalb  so  auffällig,  weil  bei 
ihm  alle  Organe  so  gleichmäßig  gebaut  sind. 
Dadurch  werden  diese  Tiere  ein  gutes  Beispiel 
dafür,  daß  die  individuelle  Persönlichkeit  nichts 
absolut  Einheitliches  ist,  sondern  sich  aus  vielen 
Einzelteilen  zusammensetzt.  Diese  Relativität  der 
Individuen ,  wie  diese  Erscheinung  an  anderer 
Stelle  bereits  bezeichnet  worden  ist,'')  tritt  bei 
anderen    Organismen   deshalb    nicht    so    deutlich 


')  Preyer,    Über  die  Bewegungen  der  Seesterne.     Mitt, 
d.  Zool.  Stal.  Neapel.     Bd.   7. 


')  Jennings,  Das.  Verlialten  der  niederen  Organismen. 
Leipzig    1910. 

*)  Mangold,  E.,  Arch.  f.  ges.  Physiol.   1921. 

')  Goetsch,  W.,  Nahrungsaufnahme  bei  Hydra.  Biol. 
Zentralbl.   1921. 

Goetsch,  W.,  Hermaphroditismus  und  Gonocliorismus. 
Zool.  Am.   1921/22. 


N.  F.  XXI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


205 


hervor,  weil  ihre  Teile  entweder  nicht  einander 
gleichgeordnet  sind  und  deshalb  eine  koordinierte 
Reaktion  rascher  zustande  kommt;  oder  aber 
dies  „Wir  im  Ich"  wird  dadurch  beeinflußt,  daß 
ein  zentrales  Nervensystem  als  Schaltwerk  zwischen 


Reizaufnahme  und  Reizbeantwortung  eingeschoben 
ist,  welches  diese  Relativität  zwar  nicht  ganz  auf- 
hebt, aber  doch  so  einheitlich  gestaltet,  daß  sie 
für  gewöhnlich  nicht  in  Erscheinung  tritt. 


[Nachdruck  verboten.' 


Beiträge  zur  Höhlenkunde. 
Von  Dr.  Hans  Karl  Becker. 


Die  Einteilung  der  Höhlen  wird  ganz  ver- 
schieden sein,  je  nachdem  wir  die  Entstehung 
der  Höhlen,  oder  ihren  jetzigen  Zustand,  ob  wir 
einzelne  Teile  eines  Systems  oder  dieses  vollständig 
ins  Auge  fassen.  Läßt  z.  B.  Fraas  seine  Höhlen 
schon  als  natürliche  Lücken  in  Riffkalken  vor- 
handen sein,  oder  sie  daraus  entstehen,  und  im 
Gegensatz  zu  ihm  Neischl  lediglich  durch 
Spaltenauslaugung,  so  kann  ich  selbst,  nachdem 
ich  die  Arbeiten  beider  Forscher  wenigstens  zum 
Teil  an  Ort  und  Stelle  nachgeprüft  habe,  zu  dem 
Schlüsse  kommen,  daß  je  nach  Lage  der  Dinge 
und  der  Gegend  jeder  von  beiden  Forschern  recht 
hat.  Die  Verhältnisse  liegen  nun  einmal  im  vor- 
liegenden Beispiel  in  Schwaben  gänzlich  anders 
als  in  Franken. 

Ganz  verschiedene  Höhlen  können  auf  gänzlich 
anders  geartete  Weise  entstanden  sein,  und  doch 
können  alle  erzeugenden  und  umgestaltenden 
Kräfte  zusammengenommen  ganz  gleiche  End- 
ergebnisse vorführen. 

P'ranz  Kraus  teilt  seine  Höhlen,  soweit  die 
Kalkgebiete  in  Betracht  kommen  (und  nur  solche 
wollen  wir  hier  besprechen)  ein  in: 

A.  Erodierte  Klüfte  und  Spaltenhöhlen, 

B.  Erosionshöhlen, 

C.  Trockene  Grotten, 

D.  Korosionshöhlen. 

Neischl  vereinfacht  dieses  System,  indem  er 
nur  von  Spalten-  und  Zerklüftungshöhlen  spricht, 
was  auch  Knebel  ohne  weiteres  gut  heißt. 
Letzterer  möchte  sogar  besonders  scharf  betont 
haben,  daß  bei  den  Höhlenbildungsvorgängen  der 
Begriff  „Erosion"  auszuschalten  sei,  welcher  Schluß- 
folgerung ich  mich  nicht  ohne  weiteres  an- 
schließen möchte,  wenigstens  scheint  mir,  die 
Erosion  zum  mindesten  bei  der  Umbildung  von 
Höhlen  einen  ganz  wesentlichen  Faktor  zu  bilden. 
Und  dürfen  wir  schließlich,  wenn  eine  Höhle  mit 
Hilfe  von  Strudellöchern  eines  Höhlenflusses  er- 
schlossen wird,  dann  ohne  weiteres  die  mahlenden 
und  somit  erodierenden  Steine  ausschalten,  die 
wir  doch  von  Gletschermühlen  her  kennen? 

Meines  Erachtens  werden  die  Höhlenflüsse  und 
Bäche  als  bildende  und  umgestaltende  Faktoren 
viel  zu  sehr  außer  Acht  gelassen.  Hierbei  möchte 
ich  noch  den  Fall,  daß  der  Fluß  zwischen  Ein- 
und  Austritt  in  und  aus  der  Höhle  in  das  Grund- 
wasser übergeht,  also  dieses  Grundwasser  und 
nicht  ein  zusammenhängender  Fluß  die  Aus- 
laugung und  Ausnagung,  d.h.  Korosion  und  Erosion 


des  Höhlensystems  übernimmt,  für  unsere  Frage 
nur  insofern  für  bedeutend  halten,  als  er  ver- 
zweigtere Systeme  liefert.  Hier  liegt  aber  dann 
schon  wider  ein  die  Systematisierung  erschwerender 
Fall  vor. 

Sehen  wir  uns  nämlich  eine  derartige  Höhle 
genauer  an,  so  kann  ihre  hallenartige  auf  Zer- 
klüftung beruhende  Erscheinung  wohl  durch  ein 
derartiges  Grundwasser  verursacht  worden  sein. 
Bei  einer  Reihe  von  Höhlen,  die  ich  als  Heeres- 
geologe während  des  Krieges  in  Belgien  zu  durch- 
forschen Gelegenheit  hatte,  scheinen  mir  derartige 
Fälle  der  Grundwassertätigkeit  vorgelegen  zu  haben. 
Es  wäre  aber  auch  möglich  und  in  vielen  Fällen 
wahrscheinlich,  daß  ein  unter  der  heutigen  Höhle 
liegendes  System  zerstört  worden,  d.  h.  daß  Zwischen- 
wände einzelner  Gänge  vernichtet  und  so  ein  ge- 
meinsamer hallenartiger  Raum  geschaffen  worden 
wäre.  Drittens  aber  ist  ja  noch  der  Fall  möglich, 
daß  die  uns  heute  vorliegende  Höhle  nicht  durch 
einen  dieser  Faktoren  direkt  geschaffen  worden 
wäre,  sondern  daß  ihr  heutiger  Boden  die  ehe- 
malige, jetzt  niedergebrochene  Decke  eines  anderen 
Systemes  darstellte,  welches  von  ihr  ausgefüllt  ist, 
und  so  die  neuentstandene  Höhle  also  im  Niveau 
wesentlich  höher  liegt  als  das  ursprüngliche  System, 
ein  Fall  also,  den  E.  Fraas  für  eine  große  Anzahl 
schwäbischer  Höhlen  angenommen  hat,  bei  denen 
der  Einbruch  in  eine  darunterliegende  Rifflücke 
stattgefunden  haben  soll. 

Haben  sich  nun  in  ein  solches  auf  die  eine 
oder  andere  Art  entstandenes  Höhlensystem  neue 
Bäche  und  Sickerwasser  einen  neuen  Weg  ge- 
bahnt, so  resultiert  die  uns  vorliegende  Höhle  gar 
aus  drei  ganz  verschiedenen  und  zeitlich  nach- 
einander einsetzenden  Faktoren.  Wenn  wir  z.  B. 
die  durch  Neischl  bekannt  gewordenen  Höhlen 
der  fränkischen  Schweiz  ins  Auge  fassen,  so  kann 
ich  nach  deren  eigener  Durchforschung,  ergänzt 
durch  die  Erkundung  einer  Reihe  anderer  von 
Neischl  nicht  beschriebenen  Höhlen  und  Löcher, 
diese  nicht  so  ohne  weiteres  wie  Neischl  in  das 
Schema  Spalten-  und  Zerklüftungshöhlen  einteilen, 
sondern  muß  bei  den  meisten  mehrere  verschiedene 
Stadien  annehmen,  welche  die  uns  vorliegenden 
Systeme  nacheinander  geschaffen  haben. 

Wollen  wir  die  von  Neischl  aufgestellten 
und  in  seinem  Sinne  zu  erweiternden  Grundsätze 
für  die  „fortschreitende  Höhlenbildung  und  Zer- 
störung" zugrunde  legen,  so  müssen  wir  folgende 
Einteilung  annehmen : 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  15 


(N.  hinter  dem  Höhlennamen  bedeutet  von 
Neischl  durchforscht,  B.  von  mir  erkundet.) 

I.  Spaltenhöhlen:  Binghöhle,  B.,  Moggaster- 
höhle,  N.  B.,  Schönsteinhöhle  (Eingang),  N.  B., 
Brunnsteinhöhle  (hinterer  Teil),  N.  B.,  Rosen- 
müllershöhle, N.  B.,  Wundershöhle,  N.  B.,  Kling- 
lochEsperhöhle,  N.  B.,  Heinrichsgrotte,  B.,  Neideck- 
höhlen, B.,  Zahnloch,  B.  (hierher  gehört  auch 
wahrscheinlich  die  noch  nicht  durchforschte  Ver- 
zweiflungshöhle). 

II.  Zerklüftungshöhlen:  Klausstein-Sophien- 
höhle, N.  B.,  Maximiliansgrotte,  N.  B.,  Witzen- 
höhle, N.  B.,  Oswaldhöhle,  N.  B.,  Hauptteil  der 
Schönsteinhöhle,  N.  B.,  Zoolilhenhöhle,  N.  B., 
Wassergrotte,  N.  B.,  Ludwigshöhle,  N.  B.,  Schneider- 
löcher, N.  B.,  Gaiskirche,  B. 

Anhang  unterirdische  Flußläufe  (z.  T. 
aus  I  und  II).  Binghöhle,  Oswaldhöhle,  Riesen- 
burg, Schwingbogen,  Quackenschloß,  Klingloch, 
Heinrichsgrotte,  Ludwigshöhle,  Schneiderlöcher, 
Teufelshöhlen ,  das  ganze  obere  Ailsbachtal ,  das 
Püttlachtal  und  Teile  des  Wiesenttales. 

III.  Einsturz  einzelner  Teile  (meist 
der  Eingänge):  Riesenburg,  N.  B. ,  und  Gais- 
kirche, B. 

IV.  Tunnels:  Oswaldhöhle,  N.  B.,  Quacken- 
schloß, N.  B.,  Teufelshöhle,  N.  B. 

V.  Naturbrücken:  Schwingbogen,  B.,  eine 
kleine  Brücke  bei  Burggailenreuth ,  B.,  Felsentor 
bei  Gösweinstein,  B.,  und  (mit  schon  zerstörtem 
Bogen)  der  Grottenseerturm  bei  Neuhaus,  B. 

Anhang : 

a)  Dolinen  und  Erd fälle:  Riesenburg 
Klingloch-Esperhöhle,  Vorderteil  der  Heinrichs- 
grotte, der  alte  Eingang  der  Maximiliansgrotte. 

b)  besonders  deutliche  Deckenstürze: 
Sophienhöhle,  Moggasterhöhle. 

Man  sieht  schon  hier,  daß  mancher  Höhlen- 
name wiederholt  zu  erwähnen  ist,  statt  nur  ein- 
mal, wie  es  in  einem  einwandfreien  Schema  der 
Fall  sein  müßte.  Tatsächlich  lassen  sich  auch 
diese  Höhlen  nie  in  ihrer  Gesamtheit  derartig  ein- 
gliedern. Allein  schon  der  Begriff  „Spaltenhöhle" 
ist  ein  für  die  Entstehung  der  Höhle  sehr  unge- 
nauer. Hier  ist  z.  B.  die  Frage  aufzuwerfen,  ob 
wir  in  ihr  (sofern  es  nicht  nur  eine  einzige  das 
Gesamtsystem  darstellende  Spalte  ist,  z.  B.  „Rosen- 
müllers- und  Binghöhle")  den  durch  Sicker- 
wasser geschaffenen  Höhleneingang  in  ihr  zu 
sehen  haben  (wie  es  die  Schönstenhöhle  vor- 
täuscht), oder  ob  sie  nicht  vielleicht  nur  ein  ver- 
hältnismäßig junger,  d.  h.  noch  nicht  erodierter, 
korrodierter  oder  eingestürzter  Ausläufer  des  Sy- 
stems ist,  der  infolge  der  an  dieser  Stelle  abstür- 
zenden Felswand  das  Freie  erreicht  (Binghöhle), 
ein  Fall,  der  sich  in  geologischer  Zeit  bei  den 
tiefsten   Teilen   der   Sophienhöhle    ereignen  wird. 

Welch  verschiedene  Stadien  uns  durch  die 
hauptsächlichsten  Höhlen  der  fränkischen  Schweiz 
repräsentiert  werden,  möchte  ich  an  dieser  Stelle 
nach  meinen  Begehungsnotizen  anführen. 

Binghöhle:     Reine     Spaltenhöhle     (saiger- 


stehende  Spalten)  deutliche  Reste  eines  unter- 
irdischen Flusses  (Flutmarken). 

Rosenmüllershöhle:  Sehr  breite  mit  etwa 
25  Grad  einfallende  Spaltenhöhle,  die  zum  Teil 
schon  Deckensturz  deutlich  zeigt. 

Oswaldhöhle:  Typischer  tunnelartiger 
Oberrest  eines  Höhlenflusses  mit  Strudellöchern 
am  vorderen  Eingang. 

Wundershöhle:  Eingang:  Einsturzhalle; 
Verbindung:  zu  durchkriechende  Spalte;  Haupt- 
teil: zerklüftete  und  durch  Deckenstürze  zerstörte 
Spaltensysteme. 

Witzenhöhle:  Bei  ihr  paßt  der  von  Neischl 
geprägte  Ausdruck  „Zerklüftungshöhle",  in  wel- 
chem nur  leider  nicht  die  zahlreichen  Decken- 
stürze ausgedrückt  sind. 

Riesenburg:  Mit  ziemlich  großen  Winke! 
einfallendes  Bett  eines  Höhlenflusses,  das  an  der 
Austrittsstelle  aus  dem  Gebirgsabhang  eine  Doline 
und  zwei  Naturbrücken  zeigt. 

Schönsteinhöhle:  Der  typische  Fall  einer 
Zerklüftungshöhle,  welche  bei  weiterem  Fort- 
schreiten der  zerstörenden  Kräfte  in  ihrem  jetzi- 
gen Hauptteile  zu  einer  reinen  Einsturzhöhle  um- 
gebildet wird,  während  der  an  Gänge  gebundene 
Zerklüftungsvorgang  sich  nach  der  Teufe  zu  fort- 
setzen kann. 

Brunnsteinhöhle:  Der  vordere  Teil  ein 
durch  Einsturz  hallenartig  erweitertes  und  mit 
einem  kleinen  dolinenartigen  Fenster  versehenes 
Spaltensystem,  dessen  hinterer  Teil  noch  deutlich 
zwei  Einzelspalten  erkennen  läßt,  deren  eine  in 
einen  Absturz  endet,  während  der  andere  in  eine 
mit  vorzüglichem  Wasser  versehene  ballonartige 
Brunnenkammer  mündet.  Nebenbei  bemerkt  er- 
scheint mir  diese  Höhle  in  ihrem  jetzigen  Erhal- 
tungszustande wie  keine  andere  geeignet  gewesen 
zu  sein ,  dem  vorgeschichtlichen  Menschen  als 
Wohnung  gedient  zu  haben. 

Schwingbogen:  Er  ist  der  Überrest  eines 
ehemaligen  unterirdischen  Flußlaufes.  Hierfür 
spricht  die  gleichmäßige  Glättung  der  Wände 
und  die  Strudellöcher. 

Quackenschloß:  Ebenfalls  der  Überrest 
eines  ehemaligen  unterirdischen  Flußlaufes,  genau 
wie   bei   dem   eben  besprochenen  Schwingbogen. 

Zoolilhenhöhle:  Durch  Einsturz  stark 
veränderte  ehemalig  weit  zerklüftete  Spaltenhöhle 
die  Neischels  Bezeichnung  Zerklüftungshöhle 
mit  Recht  trägt. 

Heinrichsgrotte  mit  Kanzel:  Zerstörte 
Reste  einer  ehemaligen  Doline,  von  welcher  sich 
anscheinend  durch  Flüsse  ausgeglättete  Spalten 
in  das  Berginnere  erstrecken,  ähnlich  wie  bei  der 
nun  anzuführenden: 

Esperhöhle  oder  Klingloch:  Typischer 
Fall  einer  großen  Doline,  die  dadurch  entstanden 
ist,  daß  die  Decke  einer  Halle  einstürzte,  die 
ihrerseits  ihren  Ursprung  der  Kreuzung  mehrerer 
Spaltensysteme  verdankte. 

Wasscrgrotle:  Typische  Zerklüftungshöhle, 


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von  welcher  zwei  Spalten  in  ein  gemeinsames 
Wasserbecken  einmünden. 

Moggasterhöhle:  Mit  einem  Winkel  von 
etwa  30  Grad  einfallende  Spalte,  die  etwa  in  ihrer 
Mitte  nach  entgegengesetzter  Himmelsrichtung, 
aber  trotzdem  weiter  in  die  Teufe  umbiegt.  (Ich 
möchte  etwaige  Besucher  dieser  Höhle  ausdrück- 
lich vor  ihrer  ungeheuerlichen  Gefährlichkeit  war- 
nen, weil  in  ihr  andauernd  Deckenstürze  zu  be- 
obachten sind). 

Neideckhöhlen:  Unbedeutende  kleine  Spal- 
ten auf  halber  Höhe  des  von  der  Ruine  Neideck 
gekrönten  Felsmassivs. 

Klausstein— Sophienhöhle:  Dieser  Kom- 
plex besteht  aus  zwei  früher  getrennten  Höhlen- 
gebieten, deren  Veibindung  erst  später  durch 
Menschenhand  geschaffen  worden  ist.  Der  vor- 
dere Teil,  die  Klaussteinhöhle,  ganz  in  einer 
Horizontale  verlaufend,  ist  meines  Erachtens  der 
Überrest  eines  alten  Höhlenflußsystems,  während 
die  danebenliegende  Sophienhöhle  sich  mehr  in 
vertikaler  Richtung  nach  der  Tiefe  zu  erstreckt. 
Sie  ist  als  ein  Gewirre  vieler  sich  kreuzender 
Spalten  aufzufassen,  die  an  den  Kreuzungsstellen 
hallenartig  eingebrochen  sind.  Unter  dem  System 
der  Klaussteinhöhle  erstreckt  sich  das  noch  gänz- 
lich unerforschte  Gewirre  der  Verzweiflungshöhle, 
welche  möglicherweise  ihrerseits  nur  eine  Spalte 
der  Sophienhöhle  ist.  Ich  behalte  mir  vor  im 
Laufe  der  nächsten  Zeit  diese  Frage  noch  näher 
zu  bearbeiten. 

Ludwigshöhle:  Meiner  Meinung  nach  han- 
delt es  sich  bei  dieser  Höhle  um  die  Überreste 
eines  unterirdischen  Flußlaufes,  wie  solche  in  der 
Umgebung  von  Rabenstein  zahlreich  vorhanden 
sind. 

Schneiderloch:  Außer  der  von  Neischl 
als  Zerklüftungshöhle  bezeichneten  haben  wir  hier 
noch  eine  weitere  tunnelartige  Höhle  zu  berück- 
sichtigen. Zahlreiche  Strudellöcher,  besonders  an 
der  soeben  erwähnten  kleineren  Höhle,  weisen  auf 
den  P'lußursprung  hin. 

Gaiskirche:  Ähnlich  der  Heinrichsgrotte 
haben    wir    hier  die    letzten    Reste    eines   hallen- 


artigen Raumes  vor  uns,  dessen  nach  der  Teufe 
zu  einfallenden  ponorartige  Sauglöcher  ebenfalls 
die  Zugehörigkeit  zu  einem  Höhlenflusse  andeuten. 

Die  drei  letzterwähnten  Höhlen  bilden  in  ihrer 
Gesamtheit  in  Verbindung  mit  einer  Menge  anderer 
im  Ailsbachtale  zu  beobachtender  Erscheinungen, 
das  nunmehr  zerstörte  und  durch  Einbruch  in  ein 
offenes  schluchtartiges  Tal  verwandelte  System  des 
ehemaligen  Ailsbachhöhlenflusses. 

Zahn  loch:  Das  durch  seine  zahlreichen 
Knochenfunde  bekannte  Zahnloch  ist  als  eine 
horizontale  Spalte  aufzufassen. 

Teufelshöhlen:  Die  große  und  die  kleine 
Teufelshöhle  gehören  beide  zu  dem  Höhlenfluß- 
system  der  Püttlach,  welche  ebenfalls  in  dem  Ver- 
laufe ihres  heute  schluchtähnlichen  Tales  zahl- 
reiche Strudellöcher  aufzuweisen  hat.  Bei  der 
großen  Teufelshöhle  sind  meines  Erachtens  die 
Flußerscheinungen  wesentlich  bedeutender  und 
überwiegender,  als  die  einer  reinen  „Zerklüftungs- 
höhle". 

Maximiliansgrotte:  Diese  von  Neischl 
mit  Recht  als  „Zerklüftungshöhle"  bezeichnete 
Grotte  hat  ihren  überaus  wilden  Charakter  nicht 
nur  dem  Zusammenbruch  einzelner  Spaltensysteme 
zu  verdanken.  Bei  ihr  haben  wir  vielmehr  3 — 4 
ursprünglich  ganz  getrennte  stockwerkartig  über- 
einanderliegende Systeme  vor  uns,  die  ihrerseits 
dann  wieder  durch  Deckenstürze  vor  allem  aber 
durch  einen  in  seinen  Wirkungen  deutlich  er- 
kennbaren, mit  elementarer  Gewalt  niederstürzen- 
den Höhlenfluß  verbunden  wurden. 

Zuletzt  möchte  ich  noch  erwähnen,  daß  von 
den  Einwohnern  der  Muggendorfer  Gegend  auch 
noch  eine  kleine,  die  sog.  Doktorsgrotte  erwähnt 
wird,  die  ich  aber  als  deutlich  erkennbare  künst- 
liche Schöpfung  hier  außer  acht  lassen  möchte. 
Ihre  eigenartige  Sinterbildungen  werde  ich  an 
anderer  Stelle  zu  besprechen  haben. 

Aus  obigen  Ausführungen  würde  also  der 
Schluß  zu  ziehen  sein,  daß  eine  Systematisierung 
der  Höhlen  unmöglich  ist,  und  somit  jeweils  von 
Fall  zu  Fall  die  einzelnen  Faktoren  zu  analysieren 
sind. 


Einzeiberichte. 


Neue  Fuude  aus  der  älteren  Steinzeit. 

In  der  „Umschau"  veröffentlichte  vor  kurzem 
Otto  Hauser  einen  Aufsatz  über  die  „Ent- 
deckung von  zwölf  neuen  Fundstätten  der  älteren 
Steinzeit  in  Mitteldeutschland"  (S.  604,  Heft  41 
vom  8.  X.  21).  In  diesem  Aufsatz  berichtete 
Häuser,  daß  er  in  dem  Gebiet  von  Halle  a.  S. 
bis  zum  Kyffhäuser  und  Unstruttale  zwölf  wich- 
tige Fundstellen  der  Altsteinzeit  entdeckt  habe. 
„Interesselosigkeit  ist  Schuld  daran ,  wenn  Eisen- 
bahndämme, Chausseen  und  Straßen  mit  den 
schönsten  Feuersteinwerkzeugen  belegt  und  wenn 


seit  mehr  als  15  Jahren  von  den  herrlichsten 
Fundplätzen  solche  Stücke  waggonweise  abge- 
fahren werden.  Die  Bahndämme  von  Halle  bis 
Kassel  und  alle  Seitenwege  bergen  zerstreute 
Schätze  altsteinzeitlichen  Materials,  wie  sie  in 
Frankreich,  in  der  Dordogne  nicht  besser  und 
nicht  wichtiger  zu  finden  waren.  Die  Kiesgrube 
„Feldbahn"  bei  Teutschental  (Halle  a.S.i  ist  m.  E. 
eine  Paläolithsiedlung  von  allergrößter  Bedeutung, 
sie  stellt  sich  würdig  den  mir  entrissenen  F'und- 
plätzen  Südwestfrankreichs  an  die  Seite." 

Über  diese  Entdeckung  und  die  von  Hauser 
daraus    gezogenen  Schlußfolgerungen    standen  so- 


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fort  in  der  gesamten  deutschen  Presse  ausführliche 
Referate,  und  kurze  Zeit  danach  brachte  Haus  er 
selbst  in  der  Vossischen  Zeitung  noch  einmal 
einen  Originalartikel  (16.  XI.  21),  in  dem  er  von 
47  neuen  Fundstellen  in  Thüringen  sprach,  die  er 
innerhalb  Jahresfrist  entdeckt  haben  wollte.  Ein 
ganz  ungeahnter  Reichtum  an  altpaläolithischen 
Funden  tat  sich  damit  vor  unseren  Augen  auf  — 
und  hätte  er  vor  der  wissenschaftlichen  Kritik 
Stand  gehalten,  so  würde  ohne  Zweifel  Thüringen 
durch  die  Hauserschen  Entdeckungen  zu  der 
paläolithfundreichsten  Landschaft  Deutschlands 
geworden  sein. 

Jedoch  die  Sache  kam  anders.  Auf  Grund 
der  Zeitungsberichte  erhielt  der  Geologe  Berg- 
rat Dr.  Wiegers  -  Berlin  von  dem  Vorstande 
der  Preußischen  geologischen  Landesanstalt  den 
Auftrag,  nach  Sangerhausen  und  Hettstedt  zu 
gehen  und  über  die  Hauserschen  Funde  zu  be- 
richten. Etwa  zur  selben  Zeit  hatte  sich  auch 
Haus  er  persönlich  an  Wiegers  gewandt,  den 
er  von  seinen  französischen  Arbeiten  her  kannte 
und  den  Hauser  in  seinem  Buche  „Ins  Paradies 
des  Urmenschen"  (Hamburg-Berlin  1920)  S.  80 
als  einen  trefflichen  Diluvialgeologen  bezeichnet 
hatte,  und  ihn  um  eine  Untersuchung  der  Fund- 
stellen hauptsächlich  vom  geologischen  Standpunkt 
aus  gebeten.  Wiege  rs  ist  dann  auch  in  Sanger- 
hausen und  Hettstedt  gewesen,  hat  die  Fund- 
stätten einwandfrei  untersucht,  das  an  diesen 
Fundstätten  aufgesammelte  Material  eingehend 
studiert  und  eingehende  Proben  davon  zur  näheren 
Bearbeitung  und  Untersuchung  durch  Fachgenossen 
nach  Berlin  mitgebracht,  und  über  die  Ergebnisse 
dieser  Untersuchungen  in  der  Berliner  Anthropo- 
logischen Gesellschaft  am  19.  XI.  21  einen  aus- 
führlichen Bericht  erstattet.  Nach  diesem  Bericht, 
von  dem  mir  Wiegers  freundlicherweise  auch 
noch  sein  Manuskript  zur  Einsichtnahme  zur  Ver- 
fügung stellte,  liegen  die  Verhältnisse  folgender- 
maßen : 

In  Sangerhausen  bzw.  Hettstedt .  haben  sich 
seit  längerem  zwei  Privatsammler  für  Prähistorie 
lebhaft  interessiert,  der  Tischlermeister  G.  A. 
Spengler  und  der  Kaufmann  Erich  F"rey- 
gang.  Beide  wurden  dann  von  Hauser  auf 
die  Paläolithfunde  aufmerksam  gemacht.  Darauf 
haben  sie  systematisch,  Z'um  Teil  mit  Unter- 
stützung von  Haus  er,  gesucht,  und  ein  größeres 
P'undmaterial  in  ihren  Sammlungen  geborgen. 
Die  Funde  des  Herrn  Spengler  stammen  aus 
II  Fundstellen,  die  des  Herrn  Freygang  von 
10  P'undstellen.  Die  Fundstellen  des  Herrn  Frey- 
gang waren  zwar  von  i — 17  numeriert,  ent- 
hielten aber  nur  die  ungeraden  Zahlen  und  die 
Ziffer  2 ,  der  P'undort  Teutschental  war  bei 
beiden  Sammlern  einbegriffen.  Die  Angaben 
Hausers  sind  also  zunächst  einmal  in 
der  Zahl  der  Fundstellen  bedeutend 
einzuschränken,  und  zwar  auf  19  (statt 
47!  Sic!),  da  eine  P'undstcUe  zwar  diluviale 
Knochen,  aber   keine  Steinwerkzeuge  enthält. 


Von  diesen  11  Fundstellen  Spenglers 
enthielten  nur  2  wirklich  einwandfreie 
Artefakte.  Es  sind  dieses  die  folgenden  beiden 
Stationen : 

I.  Der  Taubenberg  bei  Sangerhausen. 

Nordöstlich  von  Sangerhausen  erhebt  sich  der 
Taubenberg  zu  einer  Höhe  von  238  m.  Auf  seiner 
flachen  Kuppe  hatte  Spengler  Feuersteine  von 
mattem,  grauem  Aussehen  gesammelt,  die  Be- 
arbeitung zeigen.  Die  besten  Stücke  sind  Klingen, 
die  entweder  in  eine  Spitze  oder  in  einen  Kratzer 
endigen,  sofern  nicht  die  eine  Schmalseite  mit 
dem  Schlagkegel  auf  der  Rückseite  unbearbeitet 
blieb.  Die  Retusche  ist  auf  der  einen  Seite  steil, 
auf  der  anderen  flach.  Diese  Klingen  sind  bis  zu 
7,3  cm  lang  und  2,5  cm  breit.  Daneben  fanden 
sich  kurze  Klingenkratzer,  eine  Gravettespitze  und 
einige  andere  weniger  gut  bearbeitete  Stücke. 
Soweit  diese  Artefakte  typische  Formen  dar- 
stellen, weisen  sie  alle  auf  die  Periode  des 
Aurignacien  hin.  Die  Einreihung  der  Funde 
in  diese  Periode  wird  außerdem  noch  durch  eine 
andere  Beobachtung  von  Wiegers  sichergestellt. 
Bekanntlich  finden  sich  die  Mehrzahl  der  Aurignac- 
fundstellen  im  Lößboden.  Auch  auf  dem  Tauben- 
berg hat  Löß  nicht  gefehlt.  Er  ist  nur  durch  die 
Atmosphärilien  abgetragen  und  nur  noch  Löß- 
kindel  liegen  auf  der  Kuppe  des  Berges,  wie 
Wiegers  festgestellt  hat.  Die  Angaben,  die 
Hauser  selbst  über  diese  Fundstücke  und  ihre 
Fundstätte  veröffentlicht  hat,  erwiesen  sich  in  mehr 
als  einem  Punkte  als  irreführend.  Hauser  sagt 
nämlich  von  der  Fundstelle:  „Die  Kulturschichten 
und  ihre  primitive  Lagerung  sind  freilich  erst 
noch  durch  Tiefergrabungen  festzustellen."  Nach 
den  Feststellungen  von  VViegers  ist  die  eigent- 
liche Kulturschicht  auf  dem  Taubenberge  jedoch 
längst  verschwunden.  Heute  liegen  die  Fund- 
stücke auf  dem  Liegenden  des  Lößes,  auf  dem 
mittleren  Bundsandstein.  Wollte  man  in  diesen 
hineingraben,  so  würde  man  vielleicht  Cheiro- 
therium  finden,  aber  niemals  Menschenspuren. 
Außerdem  finden  sich  aber  auch  bei  der  Beschrei- 
bung der  Fundstücke,  die  Haus  er  gibt,  Unklar- 
heiten, die  zu  Irrtümern  Veranlassung  geben.  So 
bezeichnet  Haus  er  entgegen  dem  allgemeinen 
Sprachgebrauch  dauernd  die  Kratzer  (grattoir)  als 
Schaber,  ebenso  auch  die  racloir. 

2.  Kalktuff  bei  Bilzingsleben  bei 
Kindelbrück. 

In  der  geologischen  sowohl  wie  prähistorischen 
Literatur  ist  der  Kalktuff  vom  rechten  Wipper- 
ufer bei  Bilzingsleben  seit  etwa  ^-j  Jahren  als 
diluviale  Fundstelle  bekannt.  Es  handelt  sich  also 
eigentlich  um  keine  neue  Fundstelle,  sondern 
lediglich  die  Funde,  die  jetzt  von  hier  vorgelegt 
werden,  sind  neu.  In  dem  Kalktuff  von  Bilzings- 
leben hat  jetzt  nämlich  Spengler  neben  Zähnen 
bzw.  Geweihstücken  von  El.  antiquus,  Rhin. 
Merckii,  Cervus  Elaph.  auch  einige  Feuersteine 
gefunden,  die  nur  auf  künstliche  Weise  in  den 
Tuff  geraten  sein  können.    Eins  von  diesen  P'und- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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stücken  weist  deutlich  eine  retuschierte  Kante  auf. 
Im  übrigen  sind  freilich  irgendwelche  Formen  an 
den  wenigen  Stücken  nicht  zu  erkennen,  und  vom 
archäologischen  Standpunkt  aus  läßt  sich  dem- 
nach über  die  Einreihung  der  Funde  weiter  nichts 
aussagen,  als  daß  sie  sicher  paläolithisch  sind. 
Erfreulicherweise  kann  in  diesem  Falle  die  geo- 
logische Untersuchung  der  Fundstelle  etwas  weiter 
helfen.  Von  dem  fraglichen  Kalktuff  wird  die 
nahe  gelegene  Wipperterrasse  überlagert.  Diese 
Terrasse  gehört  in  ihren  unteren  Schichten  in  die 
erste  Zwischeneiszeit,  in  ihren  oberen  in  die 
zweite  Eiszeit.  Der  Kalktuff  dürfte  dement- 
sprechend in  die  zweite  Zwischeneiszeit  fallen, 
und  die  Fundstelle  als  solche  etwa  gleichalt 
mit  Taub  ach — Weimar — Ehr  in  gsdorf  sein. 
Auch  bei  der  Beschreibung  dieser  Fundstelle  ist 
Hauser  ein  Irrtum  unterlaufen.  Er  spricht  näm- 
lich in  dem  schon  weiter  oben  erwähnten  Auf- 
satz in  der  Vossischen  Zeitung  davon,  daß  Spengler 
in  dem  Kalktuff  das  Bruchstück  eines  mensch- 
lichen Schädeldaches  gefunden  habe,  und  gibt 
dabei  der  Hoffnung  Ausdruck,  daß  dieser  Fund 
der  deutschen  Altsteinzeitforschung  nach  der  an- 
thropologischen Seite  hin  eine  breitere  Basis 
geben  werde.  Demgegenüber  weist  Wiegers 
darauf  hin,  daß  dieser  Schädel  gar  kein  diluvialer 
Schädel  sei,  denn  der  Schädel  stammt  gar  nicht 
aus  dem  Kalktuff,  sondern  aus  der  Ackerkrume, 
und  Spengler  hat  ihn  auf  dem  Boden  des  Bruchs 
aufgelesen.  Ein  weiterer  Irrtum  Hausers  ist  es, 
wenn  er  bei  dieser  Gelegenheit  von  paläolithischen 
Skelettfunden  zu  Oberkassel  in  Thüringen  spricht-, 
Oberkassel  liegt  nicht  in  Thüringen,  sondern  in 
der  Nähe  von  Bonn  in  der  Rheinprovinz!  — 

Die  übrigen  17,  von  Spengler  und  Frey- 
gang unter  der  Mitwirkung  von  Hauser  ent- 
deckten und  von  Wiegers  nunmehr  einwandfrei 
untersuchten  Fundstellen  liegen  in  der 
Gegend  zwischen  Sangerhausen  und 
Hettstedt  zerstreut.  Drei  dieser  Fundstellen 
befinden  sich  in  der  goldenen  Aue.  Eine  von  ihnen, 
eine  bei  Bennungen  gelegene  Lehmgrube,  enthielt 
an  Tierresten :  Hyäna,  Bison  priscus  oder  primi- 
genius,  Rhinoceros  tichorhinus,  Riesenhirsch.  Auf 
einem  der  von  hier  stammenden  Knochen  befand 
sich  angeblich  eine  Zeichnung  eines  Mammuts. 
Bei  näherer  Untersuchung  dieses  Stückes  in  Berlin 
stellte  sich  jedoch  heraus,  daß  die  Zeichnung  voll- 
ständig ein  Naturprodukt  ist,  indem  die  Umriß- 
linien durch  Wurzelfraß  und  die  Behaarung 
durch  Nagespureii  gebildet  wurden.  Zwei  weitere 
Fundstellen  liegen  im  Wippertal.  Die  wichtigste 
Fundstätte  endlich  liegt  bei  dem  Orte 
Teutschental.  Nördlich  des  Bahnhofes  T. 
zieht  sich  nach  Langenbogen  zu  eine  Hügelkette 
hin,  die  eine  charakteristische  Stillstandslage  des 
Eises  darstellt.  Dicht  vor  dieser  Hügelkette  liegt 
eine  Kiesgrube  (zwischen  Teutschental  und  Langen- 
bogen), die  zahlreiche  angebliche  Artefakte  lieferte. 
Berücksichtigt  man  die  morphologische  Gestalt 
der  Langenbogener  Hügelkette,    die  nur  als  End- 


moräne gedeutet  werden  kann,  so  unterliegt  es 
keinem  Zweifel,  daß  die  Langenbogener  Sande 
und  Kiese  in  allernächster  Nähe  des  Eises  abge- 
lagert sind.  In  dieser  Nähe  des  Eises  aber  können 
wir  wohl  keine  Besiedlung  annehmen  1  — 

Die  aus  diesen  letzten  Fundstellen 
stammenden  Artefakte  geben  sämtlich  ein 
ganz  einheitliches  Bild.  Sie  stellen  grobe  Splitter 
dar,  an  denen  einzelne  Kanten  retuschiert  sind. 
In  ihren  Formen  und  in  ihrem  ganzen  Habitus 
decken  sie  sich  im  übrigen  jedoch  völlig  mit  dem 
„Artefakt"material,  das  aus  dem  norddeutschen 
Diluvium  in  den  ersten  Jahrzehnten  nach  der 
letzten  Jahrhundertwende  so  oft  beschrieben  wor- 
den ist;  mit  den  sog.  Eolithen.  Herr  Dr.  Wie- 
gers hat  die  Stücke  selbst  eingehend  geprüft, 
und  hat  sie  dann  weiter  Herrn  Prof.  Dr.  Hubert 
Schmidt  und  mir  zur  weiteren  Prüfung  über- 
geben. Schmidts  Urteil  sowie  auch  mein 
eigenes  deckten  sich  dabei  völlig  mit  dem  von 
Wiegers.  Auch  als  Wiegers  die  Artefakte 
in  der  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft 
vorlegte,  fand  sich  unter  den  zahlreich  versam- 
melten Prähistorikern  kein  einziger,  der  den  Ge- 
danken an  ihre  Artefaktnatur  zu  verteidigen  ge- 
wagt hätte. 

An  und  für  sich  hätte  bei  der  Betrachtung 
dieser  „Artefakte"  ja  auch  schon  das  Moment 
stutzig  machen  müssen,  daß  es  sich  teils  um 
Oberflächenfunde  unbestimmten  Alters,  teils  um 
Funde  aus  fluviatilen  oder  fluvioglazialen  oder 
auch  glazialen  Ablagerungen  der  zweiten  oder 
dritten  Eiszeit,  vielleicht  auch  der  Alluvialzeit 
handelte  —  und  daß  all  diese  Funde,  obwohl  sie 
also  demnach  ganz  verschiedenen  geologischen 
Perioden  angehörten,  in  ihrem  Charakter  ein  voll- 
kommen einheitliches  Bild  boten. 

Nach  dem  gegenwärtigen  Stande  unserer  For- 
schung kann  das  Material  aus  den  letzten 
Fundstellen  ganz  unmöglich  als  Beweis- 
material für  die  Anwesenheit  des  pa- 
läolithischen Menschen  verwertet  werden. 
Für  den  rein  sachlich  urteilenden  Fachmann  bleibt 
es  vielmehr  völlig  unverständlich,  wie  Hauser 
angesichts  dieses  Materials  von  den  „schönsten 
Feuersteinwerkzeugen"  und  von  den  „herrlichsten 
Fundplätzen"  sprechen  kann,  wo  er  selbst  nicht 
in  der  Lage  ist,  auch  nur  bei  einem  einzigen 
Stück  die  Zugehörigkeit  zu  einer  der  bekannten 
Kulturperioden  zu  erkennen.  Eine  Erklärung  für 
dieses  Verhalten  Hausers  kann  uns  vielmehr 
lediglich  das  persönliche  Moment  bieten  (vgl. 
diese  Zeitschrift  XX,  1921,  S.  503).  In  dieselbe 
Richtung  weist  uns  auch  die  weitere  Diskussion 
der  F"unde.  Noch  in  seinem  Buche  „Ins  Paradies 
des  Urmenschen"  hatte  Hauser  Wiegers  als 
einen  trefflichen  P'orscher  auf  dem  Gebiete  der 
Diluvialprähistorie  hingestellt  und  seine  voraus- 
setzungslose Gewissenhaftigkeit  gelobt.  Dann 
hatte  er  ihn  s.  Zt.  selber  gebeten,  sich  der  Funde 
anzunehmen.  Sobald  W.  jedoch  die  Funde  anders 
beurteilte,  als  H.  selbst,  griff  ihn  dieser  unter  völ- 


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ligem  Verzicht  auf  sachliche  Widerlegung  in  einer 
persönlichen  Weise  an,  wie  sie  unter  Gebildeten 
nicht  üblich  ist,  und  wandte  sich  dann  weiter  in 
derselben  Weise  gegen  die,  die  selbständig  nach 
Prüfung  der  Funde  zu  derselben  Auffassung  wie 
W.  gekommen  waren.  Ob  ein  derartiges 
Vorgehen  geeignet  ist,  eine  wissen- 
schaftliche Diskussion  zu  fördern,  über- 
lasse ich  gern  dem  Urteil  der  Leser. 
Hugo  Mötefindt. 

Die  Veränderung  der  Häniolymphe  durch 
Mutation  bei  einem  Schmetterling. 

Bei    Colias     philodice,    einer     amerikanischen 
Spezies    des    Gelblings,   gibt   es   zwei    Varietäten, 
Weibchen     mit    weißen    und    solche    mit    gelben 
Flügeln.      Im  Verlaufe    von  Untersuchungen  über 
die  Vererbung  dieses  Dimorphismus  der  Weibchen 
erhielt    Gerould')    eine    Mutation,    die    in    ver- 
schiedener Hinsicht  besonderes  Interesse  verdient. 
Die  Raupen  dieses  Schmetterlings  sind  normaler- 
weise   grasgrün    gefärbt    und    dadurch    ganz    vor- 
trefflich   an    ihre    Futterpflanze,    den  Klee,    ange- 
paßt.  Im  August  1920  traten  nun  in  einem  Stamm, 
der  in  engster  Inzucht    fortgepflanzt  worden  war, 
unter  normal  grasgrün  gefärbten  Raupen  44  blau- 
grüne Individuen  auf.     Wie  die  Heidelbeeren  am 
Busch  hoben  sich  die  blaugrünen  Tiere  von  ihrer 
Unterlage,    der   Futterpflanze,    ab.      Die    44  Tiere 
stammten    von    drei  Weibchen,    die   außer  diesen 
noch  eine  größere  Anzahl  normaler  Tiere  hervor- 
brachten.    Eine  Auszählung  ergab,  daß  grasgrüne 
und  blaugrüne  Tiere   ungefähr  im  Verhältnis  3 :  i 
standen.      Das  mußte  schon  den  Gedanken  nahe 
legen,    daß  es  sich  bei  der  blaugrünen  Farbe  der 
Raupen  um  ein  erbliches  Merkmal  handelt,  welches 
sich   gegenüber    der    normalen    grasgrünen    Farbe 
rezessiv    verhält.      Die    Prüfung    bestätigte    diese 
Vermutung.      Und    es    ergab   sich  fernerhin,    daß 
bei  den  Mutanten  nicht  nur  die  Raupenfarbe  ver- 
ändert  ist,    sondern    alle  Entwicklungsstadien  des 
Insektes    sind    mehr    oder  weniger   beeinflußt,    so 
die  Farbe  der  Eier,  die  Farbe  des  Blutes  und  des 
Integumentes  der  Raupe  und  Puppe  und  die  Blut- 
und  Augenfarbe  der  Imago.     Die  primäre,  durch 
den  Mutationsschritt   hervorgerufene  Veränderung 
ist   ein  vom    normalen    abweichender  Verlauf  des 
Verdauungsprozesses   des    Chlorophylls.      Daraus 
folgt  eine  veränderte  Zusammensetzung  der  Hämo- 
lymphe,    und    diese    hat   dann    die   verschiedenen 
bereits    angedeuteten    besonderen    Merkmale    der 
einzelnen    Entwicklungsstadien    des    Insektes    im 
Gefolge. 

Zunächst  noch  einiges  über  den  Ursprung  der 
Mutation.  Es  mag  auffällig  erscheinen,  daß  gleich 
44  Mutanten  auftraten.  U'enn  Mutationen  auch 
nicht  so  selten  sind,  wie  man  noch  vor  wenigen 
Jahren  ohne  die   an    Drosophila  und  Antirrhinum 

')  Gcrould,  J.  H.,  Bluc-grecn  caterpillars :  thc  urigin 
and  ccolog)-  of  a  mutation  in  hemolymph  color  in  Colias 
(l'Airynius)  philodice.     Journ.    of   expcr.  Zool.,  Vol.  34,   1921. 


gesammelte  Erfahrung   glaubte,   so   kann   man  es 
doch  auf  Grund    unserer   heutigen  Kenntnisse  als 
Regel    bezeichnen,   daß    eine    bestimmte  mutative 
Veränderung    nicht    gleichzeitig    in    einer    ganzen 
Reihe  von  Individuen  vor  sich  geht,  ja  wir  dürfen 
sogar    annehmen,    daß    meist    nur    das    eine    der 
beiden    homologen    Gene    von    der    Veränderung 
betroffen  wird.      Es    wird    im  allgemeinen  immer 
nur  ein  einziger  Mutant  beobachtet,  von  dem  aus 
dann     eine    Mutationsrasse    gezüchtet    wird.      Im 
vorliegenden  Falle  kann  es  unter  Berücksichtigung 
der  Herkunft    der  Mutanten    als   sehr  wahrschein- 
lich   gelten,    daß    auch    hier    die    Mutation    nicht 
wiederholt  erfolgt  ist.     Alle  mutierten  Individuen 
gehen  auf  ein  Tier  zurück,  und  in  diesem  ist  ver- 
mutlich   die     mutative    Veränderung    des    Keim- 
plasmas   vor   sich  gegangen.      Daß    in    der  Gene- 
ration, in  der  die  Mutanten  zuerst  auftraten,  diese 
sich    zu    den    normal    gefärbten    Tieren    wie    i :  3 
verhielten,    weist  darauf  hin,    daß    alle  Elterntiere 
—  drei  Weibchen  und  drei  Männchen  —  hetero- 
zygot   waren.      Jedes    von    ihnen  besaß,    wie    wir 
einmal    kurz   sagen    wollen,    den  Faktor    grasgrün 
und    den  Faktor    blaugrün.      Da    grasgrün    domi- 
nant   ist  über  blaugrün,    waren  alle  sechs  Eltern- 
tiere grasgrün.    Von  den  sechs  Elterntieren  waren 
fünf  Schwestern  und  Brüder,  eines  (ein  Männchen) 
ein  Geschwisterkind.    Die  Mutanten  und  ihre  nor- 
malen   Geschwister    hatten    also    vier   Großeftern 
(zwei    Paare),    und    diese    wieder    waren    alle    Ge- 
schwister.    Wahrscheinlich   war   eines  der  beiden 
urgroßelterlichen     Tiere     das.   erste     heterozygot 
grasgrüne    Individuum,     in     ihm     ist    vermutlich 
bereits    der     Mutationsschritt     erfolgt.       Da     in- 
dessen   das  mutierte  Gen  rezessiv    ist    gegenüber 
seinem    normalen    Allelomorph,   konnte    das    Mu- 
tationsmerkmal    zunächst    nicht     in    Plrscheinung 
treten,   und    nur   auf  die  fortgesetzte  extreme  In- 
zucht ist  es  zurückzuführen,  daß  nach  drei  Gene- 
rationen infolge  der  Vereinigung  je  zweier  Hetero- 
zygoten   eine    größere  Anzahl   Mutanten    erhalten 
wurde.     Die  Mutanten  unter  sich  gepaart  züchten 
rein,    d.    h.    liefern    nur    blaugrüne    Nachkommen. 
Aus  der  Paarung  grasgrüner  Heterozygoten  erhält 
man  wieder  grasgrüne  und  blaugrüne  Nachkommen 
im  Verhältnis  3:1.    Ein  Rezessivenüberschuß,  den 
Gerould    beobachtete,    ist    vielleicht    darauf  zu- 
rückzuführen,   daß    die    Mutanten    lebenskräftiger 
und  widerstandsfähiger  gegen  Infektionen  sind  als 
die    Ursprungsform.      Im    Nachteil    sind    die    Mu- 
tanten   allerdings    wieder  insofern,    als    sie    träger 
und    weniger    kopulationsluslig    sind    als    die    Ur- 
sprungsform.     In  der  freien  Natur  —  im  Experi- 
ment spielt  dieser  Faktor  keine  Rolle  —  sind  die 
blaugrüncn    Raupen    den    grasgrünen    gegenüber 
aber  vor  allem  deshalb  stark  unterlegen,  weil  sie 
weit    weniger    an    ihr    Milieu    angepaßt    sind    als 
diese.      Sehr    schön    illustriert    dies   ein    Freiland- 
versuch.   Eine  größere  Anzahl  Raupen,  von  denen 
ungefähr  ',3  — Vi  blaugrün  waren,  wurde  im  Freien 
ausgesetzt^     Nach   12  Tagen  waren  fast  alle  blau- 
grünen Raupen    von    den  Spatzen    gefressen,    nur 


N.  F.  XXI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


zwei  kleine  kümmerliche  Individuen  konnten  noch 
gefunden  werden,  während  die  grasgrünen  Raupen 
großenteils  ihren  Feinden  entgangen  waren. 

Es  wurde  schon  hervorgehoben,  daß  bei  den 
Mutanten  alle  Entwicklungsstadien  irgendwie  ver- 
ändert sind.  Die  Eier  der  Mutantenweibchen 
sind  rein  weiß,  alabasterfarben,  die  der  Ursprungs- 
form gelblichweiß,  cremefarben.  Es  fehlt  den 
Eiern  der  Mutanten  ein  gelbes  Pigment,  das  nor- 
malerweise aus  dem  Blute  der  Mutter  übernommen 
wird.  Die  Eier  der  grasgrünen  Heterozygoten  unter- 
scheiden sich  nicht  von  denen  der  Homozyoten, 
erstere  bleiben  cremefarben,  auch  wenn  ^  was 
ja  in  50  "/o  der  Fälle  zu  erwarten  ist  —  nur  der 
Faktor  für  blaugrün  bei  der  Reifungsteilung  im 
Ei  verbleibt  und  das  Ei  durch  ein  Spermium  mit 
dem  Faktor  für  blaugrün  befruchtet  wird.  Erst 
im  Larvenstadium  macht  sich  der  Einfluß  der 
beiden  Mutationsgene  geltend,  wenn  das  Ei  von 
einer  heterozygoten  Mutter  stammt.  Kurz  vor 
der  zweiten  Häutung,  wenn  die  alte  Haut  durch 
das  Wachsen  der  Raupe  gespannt  wird,  beginnt 
die  blaugrüne  Farbe  durchzuschimmern,  und  wenn 
die  alte  Haut  abgeworfen  ist,  erscheint  die  Raupe 
schön  leuchtend  blaugrün.  Die  Färbung  variiert 
nur  sehr  wenig,  intermediäre  Färbung  zwischen 
blau-  und  grasgrün  kommt  nicht  vor.  Ein  wei- 
teres Charakteristikum  der  Mutanten-Raupen  ist 
das  Fehlen  einer  rosa  gefärbten  Linie,  die  bei 
der  Ursprungsform  regelmäßig  vorhanden  ist  und 
in  einem  weißen,  in  der  Höhe  der  Stigmen  ver- 
laufenden Seitenbande  hinzieht.  Die  Puppe  der 
Mutanten  ist  etwas  schwächer  blau  gefärbt  als 
die  Raupe,  die  abgeworfene  Puppenhülle  ist  weiß 
statt  gelb.  Auch  das  hat  wieder  seine  Ursache 
im  F'ehlen  des  gelben  Pigmentes  in  der  Hämo- 
lymphe  der  Mutanten.  Wie  bei  Raupe  und  Puppe 
ist  auch  bei  der  Imago  die  Hämolymphe  der 
Mutanten  blaugrün  statt  grasgrün,  und  die  gleiche 
Veränderung  zeigt  die  Augenfarbe.  Hingegen  ist 
die  Flügelfärbung  bei  den  Mutanten  unverändert. 
Es  war  eingangs  von  dem  Dimorphismus  der 
Weibchen  —  die  einen  haben  weiße,  die  anderen 


gelbe  Flügel  —  die  Rede;  diese  Merkmale  be- 
ruhen auf  Faktoren,  die  von  denen  für  grasgrün- 
blaugrün  gänzlich  unabhängig  sind. 

Alle  Besonderheiten  der  Mutanten  gehen,  wie 
schon  aus  dem  Gesagten  entnommen  werden 
kann,  auf  eine  Veränderung  der  Farbe  der  Hämo- 
lymphe zurück.  Bei  den  normalen  Individuen 
enthält  das  Blut  zwei  Pigmente,  die  sich  ohne 
starke  Umwandlung  von  dem  mit  der  Nahrung 
aufgenommenen  Chlorophyll  herleiten,  ein  gelbes 
Pigment,  Xanthophyll,  und  ein  als  Chlorophyll  a 
bezeichnetes  blaugrünes  Pigment.  Das  mutierte 
Gen  (bzw.  ein  von  ihm  ausgehendes  Enzym)  wirkt 
auf  das  Xanthophyll  katalysatorisch  ein,  muß  aber, 
um  in  Funktion  treten  zu  können,  homozygot, 
also  doppelt  vorhanden  sein  (wobei  wahrschein- 
lich nicht  die  Quantität  das  Wesentliche  ist,  son- 
dern das  Fehlen  einer  Gegenwirkung  durch  das 
normale  Allelomorph).  Nach  Gerould  müssen 
wir  uns  die  Enzymwirkung  der  beiden  mutierten 
Gene  so  vorstellen,  daß  primär  durch  die  Kerne 
des  Darmepithels  der  Verdauungsprozeß  des 
Chlorophylls  beeinflußt  wird.  Das  hat  dann 
sekundär  die  Veränderung  in  der  Zusammen- 
setzung der  Hämolymphe  zur  Folge ,  und  die 
veränderte  Hämolymphe  beeinflußt  wieder  direkt 
oder  indirekt  gewisse  Merkmale  der  verschiedenen 
Entwicklungsstadien. 

Ein  hübsches  Beispiel  dafür,  wie  durch  eine 
Mutation  wie  die  vorstehend  beschriebene  sogar 
ein  anderer  Organismus  in  seinem  Phänotypus 
verändert  werden  kann,  bietet  eine  in  Colias  phi- 
lodice  schmarotzende  Schlupfwespe,  Apanteles 
flaviconchae.  Normalerweise  spinnen  die  ausge- 
wachsenen Larven  des  Parasiten  goldgelbe  Kokons. 
Kommen  die  Tiere  aber  in  einer  blaugrünen 
Raupe  zur  Entwicklung,  so  spinnen  sie  —  weiße 
Kokons.  Das  gelbe  Pigment  im  Sekret  der  Spinn- 
drüsen geht  auch  wieder  zurück  auf  das  Xantho- 
phyll in  der  Hämolymphe  des  Wirtes  der  Schlupf- 
wespen, und  wird  das  Xanthophyll  abgebaut,  so 
fehlt  auch  das  gelbe  Pigment  der  Spinndrüsen. 

Nachtsheim. 


Bücherbesprechimgen. 


Einführungsliteratur  in  den  wissenschaftlichen 
Okkultismus.       R.    Baerwald,     Okkultismus 
und    Spiritismus.     (Aus    Natur   und  Geisteswelt 
Nr.  560.)  Leipzig  1920,  Teubner.  —  R.  Tischner, 
Einführung  in  den  Okkultismus  und  Spiritismus. 
München  und  Wiesbaden  1921,  J.F.Bergmann. 
—  T.  K.  Oesterreich,  Der  Okkultismus  im 
modernen   Weltbild.     Dresden    192 1,    Sibyllen- 
verlag.  —  R.  Lambert,    Geheimnisvolle  Tat- 
sachen.    Stuttgart  1921,  Süddeutsches  Verlags- 
haus G.  m.  b.  H. 
Nicht  weniger  als  vier  binnen  ganz  kurzer  Zeit 
mir    zur    Besprechung    zugegangene    Einführungs- 
schriften in  den  Okkultismus    —  ein  Zeichen  der 


Zeit!  Es  scheint  doch  nun  endgültig  mit  dem 
Ignorieren  des  Gebiets  in  Deutschland  vorbei  zu 
sein,  das  uns  leider  in  der  ganzen  so  wichtigen 
Materie  arg  ins  Hintertreffen  gebracht  hat. 

Jedes  der  vier  Bücher  ist  in  seiner  Art  be- 
achtenswert. Vorsichtiger  und  nüchterner  zu  dem 
gesamten  Problemkomplex  stellen  sich  die  Ar- 
beiten Baerwalds  und  Tischners.  Besonders 
der  erstere  arbeitet  für  mein  Gefühl  etwas  allzu 
reichlich  mit  der  Möglichkeit  taschenspielerischen 
und  verwandten  Betrugs.  Gewiß  ist  viel  betrogen 
worden  und  wird  viel  betrogen  in  diesen  Dingen : 
jeder  Unte  rsucher  eines  konkreten  Falles  wird 
sich  diesen    betrüblichen  Umstand  bei  Anstellung 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  15 


und  Bewertung  seiner  Versuche  stets  gegenwärtig 
zu  halten  haben.  Etwas  anderes  ist  es  jedoch 
bei  einer  Einführung,  welche  es  naturge- 
mäß in  erster  Linie  mit  dem  gesicherten  oder 
doch  bis  auf  weiteres  als  gesichert  anzunehmenden 
tatsächlichen  Bestände  und  seiner  theoretischen 
Bedeutung  und  Verwertung  zu  tun  hat.  Da 
wirkt  es  denn  nicht  eben  vorteilhaft,  im  Anschluß 
an  sorgfältige  Untersuchungen  wiederholt  in  all- 
gemeiner Weise  von  Taschenspielerkunststücken 
reden  zu  hören.  Es  wird  ein  Gefühl  von  Un- 
sicherheit erzeugt,  das  sich  schließlich  auf  das 
ganze  Gebiet  zu  erstrecken  droht,  was  doch  wohl 
kaum  die  Absicht  des  Autors  gewesen  sein  dürfte. 
Denn  er  erkennt  von  dem  okkulten  Problemkom- 
plex zum  mindesten  die  Telepathie  anscheinend 
rückhaltlos  an,  und  das  ist  immerhin  ein  Fort- 
schritt, besonders  da  das  Büchlein  aus  dem  fast 
durchaus  ablehnenden  Berliner  Kreise  stammt, 
dem  auch  Moll  und  Dessoir  angehören.  Der 
Gesamteindruck  des  im  übrigen  ohne  Ausfälle 
geschriebenen  kleinen  Buches  ist  der  einer  aus- 
gesprochenen, eher  negativ  gestimmten  Zurück- 
haltung, die  gerade  nur  soviel  zuzugeben  bestrebt 
ist,  als  sie  unbedingt  muß.  Die  Phänomene 
der  Bewußtseinsspaltung  und  die  Telepathie  sind 
nach  Baerwald  genügend,  sämtliche  Leistungen 
der  Medien,  soweit  sie  überhaupt  als  sichergestellt 
gelten  können,  zu  erklären. 

Wesentlich  positiver  in  seiner  Stellung  und 
auch  inhaltreicher,  vor  allem  die  jüngst  er- 
schienenen deutschen  Arbeiten  des  Gebiets  nicht 
nur  berücksichtigend,  sondern  sogar  bevorzugend, 
ist  das  Buch  Tischners.  Leider  konnte  er 
mein  eignes  Buch  „Telepathie  und  Hellsehen", 
das  auch  in  der  N.  W.  (durch  Prof.  v.  Buttel- 
Reepen)  gewürdigt  wurde,  nur  noch  ziemlich 
flüchtig  bei  schon  abgeschlossenem  Manuskript 
berücksichtigen,  was  aber  in  einer  Neuauflage 
leicht  ausgeglichen  werden  kann.  Tischners 
wesentlich  positive  Stellung  erklärt  sich  zur  Ge- 
nüge daraus,  daß  er,  zum  mindesten  für  die 
psychisch-okkulten  Erscheinungen,  sich  auf  eigene 
Erfahrungen  und  Untersuchungen  stützen  kann. 
Aber  auch  den  paraphysischen  Untersuchungen 
Schrenck-Notzings  und  anderer  Forscher 
widmet  er  ausführlichere  _  und  in  ihrem  Ergebnis, 
im  Gegensatze  zu  Baerwald,  wesentlich  positiv 
lautende  Erörterungen.  Im  allgemeinen  darf  man 
von  Tischners  Buch  sagen,  daß  es  als  Lehr- 
buch durch  übersichtliche  Einteilung,  gute  Aus- 
wahl und  Beschränkung  auf  das  hauptsächlich 
Wichtige  und  Besterwiesene,  unvoreingenommene 
Haltung  dem  Gebiet  gegenüber,  und  knappe  sach- 
liche Behandlung,  die  es  vermeidet,  sich  ins 
Spekulative  oder  Phantastische  zu  verlieren,  als 
eine  sehr  brauchbare  Einführung  in  das  Gebiet 
des  wissenschaftlichen  Okkultismus  unbedenklich 
empfohlen  werden  kann.  Natürlich  wird  man  bei 
der  Ausdehnung  und  dem  sehr  verschiedenen 
Forschungszustand  des  (jcbiets  im  einzelnen  viel- 
f.ich    abweichende    .Ansichten    vertreten    können, 


wie  gerade  hier  selbstverständlich  und  sogar 
nützlich  ist,  da  alles  Für  und  Wider  schließlich 
nur  zur  Klärung  beitragen  kann.  Dies  gilt  ins- 
besondere auch  für  so  umstrittene  Dinge  wie 
Spukphänomene  oder  den  Spiritismus,  denen 
Tischner  je  ein  Kapitel  gewidmet  hat.  Ein 
Eingehen  auf  manchen  interessanten  Streitpunkt 
des  letzteren  Gegenstandes  würde  uns  hier  zu 
weit  führen.  Während  Baerwald  als  erstes 
Schlußergebnis  seiner  Arbeit  den  Zusammenbruch 
des  Spiritismus  vor  unseren  Augen  verkündigt, 
drückt  sich  Tischner  bei  aller  Zurückhaltung 
doch  ganz  wesentlich  vorsichtiger  aus  und  läßt 
den  mühevollen  jahrzehntelangen  Untersuchungen 
der  englischen  und  amerikanischen  Forscher,  die 
fast  sämtlich  allmählich  zur  spiritistischen  Auf- 
fassung sich  bekehrt  haben  (die  Tatsache  gibt  als 
solche  immerhin  zu  denken,  wenn  sie  natürlich 
auch  keinen  Beweis  darstellt),  größere  Gerechtig- 
keit widerfahren.  Er  hält  die  Partie  für  bisher 
unentschieden  und  glaubt  nicht,  daß  sie  auf  Er- 
fahrungsgrundlage zu  entscheiden  ist,  da  man 
wenigstens  bisher  die  Erklärungen  aus  Telepathie 
und  Hellsehen  nicht  hat  ausschalten  können. 

Auf  ähnlichem  Standpunkt,  den  Spiritismus 
betreffend,  steht  das  mittlerweile  schon  in  zweiter 
Auflage  erschienene  kleine  Buch  des  Tübinger 
Universitätsprofessors  T.  K.  Oesterreich:  „Der 
Okkultismus  im  modernen  Weltbild".  Oester- 
reich erklärt  sogar  einen  Beweis  der  spiritistischen 
Hypothese  für  grundsätzlich  unmöglich,  da 
man  stets  mit  Telepathie  und  Hellsehen  aus- 
kommen könne.  Dabei  muß  er  allerdings,  um 
den  schon  berichteten  Tatsachen  gerecht  zu 
werden,  der  Telepathie  eine  derartige  (räumliche 
wie  zeitliche)  Ausdehnung  und  Verknüpfung  zu- 
weisen, daß  sich  mancher  Leser  geradezu  phan- 
tastisch dadurch  berührt  finden  wird.  Jedenfalls, 
das  muß  betont  werden,  gehen  die  diesbezüg- 
lichen Konstruktionen  des  Autors  weit  über  alles 
das  hinaus,  was  als  Telepathie  bisher  wirklich  be- 
kannt geworden  und  festgestellt  ist.  Eine  ähn- 
liche kühne  Phantasie  macht  sich  noch  an  anderen 
Stellen  bemerkbar,  so  wenn  die  Materialisationen 
(deren  Nachweis  Oesterreich  für  unanfechtbar 
betrachtet)  als  ein,  wenngleich  entfernter,  Abglanz 
der  göttlichen  Schöpferkraft  bezeichnet  werden. 
Hierüber  wäre  mancherlei  zu  sagen :  das  bloß 
Frappante  eines  Gedankens  genügt  jedenfalls 
nicht,  ihn  wissenschaftlich  zu  legitimieren.  Im 
übrigen  wird  Oesterreichs  Arbeit  durch  der- 
artige Ausblicke  anregend  und  interessant  zu  lesen. 
Man  weiß  auch  nie,  was  alles  aus  einem  geäußerten 
Einfalle  entspringen  kann. 

Die  Anlage  von  Oeste  rr  eich  s  Buch  ist  von 
der  der  beiden  eben  besprochenen  verschieden: 
er  gruppiert  seine  Ausführungen  im  wesentlichen 
um  die  Betrachtung  einzelner  berühmter  Fälle 
medialer  Betätigung:  die  u.  a.  von  Flournoy 
untersuchte  Helene  Smith,  die  Amerikanerin 
Mrs.  Piper  (wohl  der  bestuntersuchte  und  viel- 
leicht folgenreichste  Fall    aller    bisher    vorgekom- 


N.  R  XXI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'ii3 


menen),  die  ItaUenerin  Eusapia  Fall adino  und 
schließlich  das  bekannte  Materialisationsmedium 
Eva  C.  Auf  Einzelheiten  einzugehen  ist  hier 
unmöglich.  Diese  zusammenfassenden  kurzen,  das 
Wesentliche  betonenden  Darstellungen  O  e  s  t  e  r  - 
reichs  sind  um  so  dankenswerter,  als  das  Ori- 
ginalmaterial der  ausländischen  Fälle  jetzt  kaum 
zugänglich  ist.  Auch  ist,  wie  jeder  weiß,  der  sie 
kennt,  das  Studium  dieser  z.  T.  äußerst  weit- 
schichtigen Dokumentsammlungen  ebenso  zeit- 
raubend wie  ermüdend  und  darf  nur  denen  zuge- 
mutet werden,  die  eigenes  fachliches  Urteil  in 
diesen  Dingen  zu  haben  und  zu  vertreten  be- 
rufen sind.  Prof.  Oesterreich  hat  kürzlich 
einem  seiner  Kritiker  ziemlich  drastisch  klarge- 
macht, daß  ein  solches  eigenes  Urteil  heute  be- 
reits recht  mühevoll  erarbeitet  werden  muß. 

Somit  ist  das  Oesterreich  sehe  Buch  gerade 
in  seiner  Sonderart  zu  begrüßen.  Sein  letztes 
Kapitel  beschäftigt  sich  in  stark  ablehnender  Art 
und  Weise  mit  der  Theosophie  und  Rudolt 
Steiner.  Meiner  Auffassung  nach  handelt  es 
sich  dort  um  etwas  ganz  anderes  als  die  experi- 
mentelle Medienforschung,  und  auch  die  Ergeb- 
nisse berühren  sich  einstweilen  kaum.  Es  wird 
zu  den  Aufgaben  zukünftiger  Forschung  gehören, 
die  Beziehungen  und  Verbindungen  aufzudecken, 
die  hier  zweifellos  verborgen  sind.  Daß  Steiner 
geisteskrank  ist,  wie  Oesterreich  vermutet, 
halte  ich  für  ganz  unwahrscheinlich. 

Das  Buch  des  Stuttgarter  Studienrates  R  u  - 
dolfLambert  endlich  möchte  ich  der  Beachtung 
und  Lektüre  zunächst  deshalb  empfehlen,  weil  es 
alle  bestuntersuchten  und  bislang  wichtigsten  Er- 
scheinungen des  okkulten  Gebietes  auf  Grund 
einer  umfassenden  sorgfältigen  Kenntnis  der  aus- 
ländischen wie  der  deutschen  älteren,  neueren 
und  neuesten  Literatur  zusammenstellt.  So  bietet 
er  uns  eine  Sammlung,  wie  sie  in  dieser  Voll- 
ständigkeit, dabei  doch  in  handlichem  Umfange 
(220  Seiten)  meines  Wissens  in  Deutschland  noch 
nicht  vorhanden  war.  Für  eine  zusammenhängende 
Vergegenwärtigung  des  Wichtigsten  an  Fällen  und 
Untersuchungen  wüßte  ich,  gerade  weil  das  Buch 
sich  nicht  ins  Uferlose  verliert,  nichts  Besseres. 
Auch  glaube  ich,  daß  ein  jeder,  der  ohne  Vor- 
eingenommenheit diese  geordnete  Fülle  auf  sich 
einwirken  läßt  und  den  einzelnen  Abschnitten 
nachdenkt,  zu  einer  grundsätzlichen  Anerkennung 
des  Gebiets  kommen  wird,  mag  er  auch  über 
vieles  Einzelne  sein  Urteil  zurückhalten.  Das  gilt 
z.  B.  für  die  spiritistische  Hypothese,  als  deren 
Anhänger  sich  Lambert  bekennt.  (Bekanntlich 
befindet  er  sich  hiermit,  soweit  ausländische  Ge- 
lehrte in  Frage  kommen,  nicht  in  schlechter  Ge- 
sellschaft.) Lambert  neigt  auch  sonst  zu  einer 
weitgehenden  Fruchtbarmachung  der  okkulten 
Tatsachen  in  philosophischer  und  anderer  Hin- 
sicht und  verliert  hierbei  wohl  auch  gelegentlich 
die  Fühlung  mit  rein  wissenschaftlicher  Denk- 
weise, z.  B.  wenn  er  die  Materie  schlankweg  als 
Produkt  des  Geistes  oder  des  göttlichen  Denkens 


kennzeichnet.  Doch  wird  durch  solche  Einzel- 
heiten der  allgemeine  Wert  der  sorgfältigen  Tat- 
sachensammlung,_  sowie  auch  ihrer  Erörterung 
nicht  berührt.  Über  den  letzteren  Punkt  ist  noch 
zu  sagen,  daß  Lambert  als  überzeugter  Okkultist 
und  sogar  Spiritist,  sich  naturgemäß  gerade  der 
Fälle  mit  Vorliebe  annimmt,  die  von  skeptischer 
Seite  entweder  nur  flüchtig  gestreift  oder  — 
meistens  —  einfach  ignoriert  bzw.  mit  allge- 
meinen abfälligen  Redensarten  beiseite  gebracht 
wurden.  Den  Naturwissenscliaftler  interessieren 
in  dieser  Hinsicht  besonders  die  alten  Zolin  er- 
sehen Untersuchungen  mit  dem  Amerikaner  S lade, 
denen  Lambert  etwa  20  Seiten  widmet.  Seine 
Behauptung,  daß  Zöllners  stärkste  Versuche 
systematisch  (von  Lehmann  usw.,  neuerdings 
wieder  in  Baerwalds  oben  besprochenem  Buche) 
ignoriert  worden  sein,  scheint  nach  dem  von  ihm 
erörterten  Material  tatsächlich  zutreffend.  Jeden- 
falls muß  man  beipflichten,  daß  diesem  sehr  be- 
denklichen Zustand  durch  einen  Neudruck  der 
gesamten  Untersuchungen  Zöllners  mit  Slade 
ein  Ende  gemacht  werden  sollte.  Die  von  Lam- 
bert gegeißelte  Kampfesart  —  Hervorhebung  ge- 
legentlicher Schwächen  oder  Betrügereien,  Unter- 
drückung der  besten,  entscheidendsten,  auch  best- 
kontrollierten Versuche  —  ist  ja  leider  gerade 
auf  diesem  Gebiete  auch  sonst  nur  allzu  beliebt. 
Lambert  bietet  auch  für  alle  einzelnen  von  ihm 
besprochenen  Fälle  und  Erscheinungsgruppen  ein 
ausführliches,  sehr  dankenswertes  Verzeichnis  der 
einschlägigen  Literatur  (auch  in  umfassendem 
Maße  ausländische).  So  sei  das  Buch  zur  Orien- 
tierung zunächst  über  die  Tatbestände  bestens 
empfohlen.  W.  v.  Wasielewski. 


Walte,  Prof.  Dr.  Wilhelm,  Einstein,  Michel- 
son,  Newton.  Die  Relativitätstheorie.  Wahr- 
heit und  Irrtum.  47  Seiten.  Hamburg  1921, 
W.  Gente,  wissensch.  Verlag. 
Der  Verf.  hat  den  schwachen  Punkt  der  E  i  n  - 
st  einschen  Argumentation,  die  allzu  kühne  Um- 
deutang  der  optischen  Versuche,  besonders  des- 
jenigen von  Mich  eis  on,  richtig  erkannt.  Ein 
„Gesetz  von  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindig- 
keit", wieLorentz  und  Einstein  es  entwickelt 
haben,  gibt  es  offenbar  gar  nicht;  die  optischen 
Beobachtungen  zwingen  gar  nicht  zu  so  wider- 
sinnigen Schlüssen,  wie  sie  Einstein  für  „unab- 
weisbar" erklärt  hat.  Weiterhin  stellt  Walte  seine 
Anschauungen  über  Elektronen  dem  Äther  gegen- 
über und  glaubt  den  letzteren  ablehnen  zu  müssen. 
Er  meint  die  Elektronen  müßten  beim  Zusammen- 
stoß mit  dem  Äther  ihre  Energie  allmählich  an 
diesen  abgeben.  Der  Gedankengang  der  Äther- 
wirbeltheorie, nach  der  die  Elektronen  eben  Teile 
des  Äthers  sind,  Elektronen  und  Äther  sich  also 
einheitlich  bewegen,  ist  ihm  noch  völlig  fremd. 
Doch  ist  das  Büchlein  ein  erfreuliches  Zeichen 
dafür,  daß  die  Einst  einschen  Ideen  ihre  Sug- 
gestivkraft allmählich  verlieren.  Fricke. 


214 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  15 


Kukuk,  P.,  Unsere  Kohlen.  2.  Auflage.  Aus 
„Natur  und  Geisteswelt",  Bd.  396,  1920. 

Der  nun  in  zweiter  Auflage  erschienene  Band 
„Unsere  Kohlen"  der  Sammlung  „Aus  Natur  und 
Geisteswelt"  von  P.  Kukuk  zeigt  in  allen  seinen 
Teilen  wiederum  die  voUkommeneStoffbeherrschung 
und  die  sorgsame  Bearbeitung,  die  schon  die  erste 
Auflage  auszeichnete  und  sie  wohl  zum  besten 
kurzgefaßter  Werke  über  die  Kohlen  der  Erde 
machte.  Den  schnellen  Fortschritten,  die  Wissen- 
schaft und  Technik  der  Kohlen  zeigen,  wurde  in 
einer  großen  Reihe  von  Verbesserungen  und  Nach- 
trägen Rechnung  getragen.  Vor  allem  zeigen 
das  die  Abschnitte  über  Entstehung  und  technische 
Verwertung  der  Kohle  und  über  Kohleersatz.  Die 
Kohlenvorräte  der  einzelnen  Kohlengebiete  wurden 
nach  den  Kenntnissen  bis  1914  ergänzt;  bis  zu 
diesem  Jahre  sind  auch  alle  statistischen  Angaben 
weitergeführt. 

Es  ist  wirklich  erstaunlich,  welche  Fülle  von 
IMaterial  in  diesem  kurzen  Bande  klar  und  zuver- 
lässig verarbeitet  wurde.  Krenkel. 


Geley,  Dr.  Gustave,  Materialisations-Ex- 
perimente mit  IVI.  Franek  Kluski.  In 
deutscher  Übersetzung  herausgegeben  und  mit 
einem  Anhang  versehen  „Die  neuere  Okkultis- 
musforschung im  Lichte  der  Gegner"  von 
Dr.  Freiherrn  v.  Schrenck-Notzing.  Mit 
15  Tafeln.  115  S.  Leipzig  1922,  Osw.  Mutze. 
t)ie  Lektüre  dieses  Bändchens  wird  jeden  leb- 
haft interessieren,  der  an  den  Materialisations- 
Erscheinungen  positiven  oder  negativen  Anteil 
nimmt.  Ob  auch  überzeugen,  ist  eine  andere 
Frage.  Selbstredend  sind  positive  Sitzungen  unter 
anscheinend  sehr  weitgehenden  Vorsichtsmaß- 
nahmen, unter  Leitung  in  diesen  Dingen  erfahrener, 
bedeutender  Gelehrter  (Richet,  Flammarion) 
an  sich  von  Gewicht.  Insbesondere,  wenn  die 
Ergebnisse  in  auffälliger  Weise  sich  mit  denen 
früherer  (Aksakow)  und  neuerer  Untersucher 
(Schrenck-Notzing,  Mad.  Bisson,  Craw- 
ford  usw.)  decken.  Von  einer  solchen  Häufung 
erwarte  ich  geradezu  die  endliche  Entscheidung: 
sollte  wirklich  jede  eingehende  Untersuchung  zu 
positiven  Ergebnissen  kommen,  wird  die  Gegner- 
schaft allmählich  von  selber  aufhören.  Andrer- 
seits handelt  es  sich  um  so  absonderliche,  in  ihren 
Konsequenzen  auf  jeden  F"all  derart  weitreichende 
Erscheinungsgruppen,  daß  man,  beim  besten  Willen 
zur  Unvoreingenommenheit,  instinktiv  nach  etwa 
übersehenen  Betrugsmöglichkeiten,  Lücken  in  den 
getroffenen  Maßnahmen  usw.  sucht.  Es  ist  sicher, 
daß  die  bloße  Lektüre  nie  die  überzeugende 
Kraft  der  eigenen  Erfahrung  haben  kann.  Erstlich 
an  und  für  sich  nicht,  hier  wie  in  allen  Dingen. 
Zweitens  weil  viele  Einzelpunkte,  die  dem  Lesen- 
den Anlaß  zu  Zweifeln  und  Unklarheit  geben, 
dem  Teilnehmer  in  befriedigender  Weise  von 
vornherein  klar  sind.  Es  handelt  sich  oft  um 
Imponderabilien,  so  zart,  daß  sie  in  Worte  gefaßt 


schon  etwas  anderes  werden,  und  die  in  ihrer  Ge- 
samtheit doch  von  großem  Gewicht  sind.  Ge- 
wiß soll  niemand  der  Teilnehmer  gekränkt  oder 
beargwöhnt  werden,  aber  warum  bestanden  sie 
z.  B.  nicht  selbst  auf  Untersuchung  ihrer  Kleidung 
(oder  Umkleiden  usw.)  vor  jeder  Sitzung?  Wenn 
gegenüber  den  Experimentatoren  selbst  diese  Be- 
anstandung innerlich  sinnlos  erscheint,  so  ist  es  doch 
nicht  dasselbe  mit  den  anderen  Zirkelteilnehmern  1 
Die  Forderung  ist  doch,  daß  für  jeden  Leser  objektiv 
feststeht,  daß  keine  Gußformen  usw.  einge- 
schmuggelt werden  konnten  1  Wer  garantiert  uns, 
den  Lesern,  hierfür  bei  einer  wechselnd  zusam- 
mengesetzten, auch  wohl  zahlenmäßig  wechselnden 
(protokollarische  Angaben  fehlen  leider!)  Ver- 
sammlung von  Sitzungsteilnehmern  ?  Daß  gar  das 
Medium  selbst  nicht  untersucht  wurde  (S.  21) 
halte  ich  für  einen  schweren  methodologischen 
Fehler.  Ganz  einerlei,  welche  weiteren  Kontrollen 
dies  für  die  Experimentatoren  scheinbar  oder 
vielleicht  gar  wirklich  überflüssig  machten.  Die 
Anordnungen  müssen  einander  unterstützen  und 
nicht  gegeneinander  arbeiten!  Ferner  muß  es 
zweifelsohne  irgendwie  und  irgendwann  einmal 
glücken,  das  Medium,  wenn  schon  fast  völlige 
Dunkelheit  in  den  entscheidenden  Phasen  herrschen 
muß,  in  objektiv  unanfechtbarer  Weise  zu  kon- 
trollieren und  außerdem  die  Hervorbringungen  in 
einer  keinen  Zweifel  mehr  offen  lassenden  Ent- 
fernung stattfinden  zu  lassen.  Ein  bloßes  Fest- 
halten der  Hände  rechts  und  links,  ein  Abstand 
des  Gefäßes  mit  flüssigem  Paraffin  (für  die  Ab- 
güsse der  materialisierten  Formen)  von  nur 
60  cm  (S.  37)  konnten  ersichtlich  wohl  den 
Sitzungsteilnehmern  genügen,  werden  aber  ;bei 
bloßen  Lesern  kaum  jeden  Zweifel  aufheben.  Und 
so  wäre  noch  mehr  zu  erwähnen. 

Es  würde  eine  Tat  bedeuten,  wenn,  sei  es  mit 
Kluski,  sei  es  mit  einem  anderen  Medium, 
positive  Ergebnisse  in  Sitzungen  erzielt  werden 
könnten,  bei  denen  alle  Kontrollen  in  objektiv 
sicherer  Weise,  nach  vorheriger  Erprobung  (auch 
Gewöhnung  des  Mediums!)  durchgeführt  worden 
sind.  Ein  wirklicher  objektiver,  nicht  nur  für 
die  Teilnehmer  überzeugender  Erfolg  erscheint 
durchaus  möglich,  wenngleich  das  Ganze  ziemlich 
umständlich  ausfallen  wird  —  aber  es  lohnt  wahr- 
haftig jede  Unbequemlichkeit,  der  sich  die  Be- 
teiligten zu  unterziehen  haben  würden !  Vielleicht 
tragen  diese  Zeilen  dazu  bei,  mit  Herrn  Kluski 
derart  einmal  ein  experimentum  crucis  vorzube- 
reiten und  derart  durchzuführen,  daß  ein  rein 
objektives  Ergebnis  erzielt  wird,  das  bei  abermals 
positivem  Erfolg  von  weitesttragender  Bedeutung 
sein  müßte! 

Nach  alledem  bleibt  noch  zu  sagen,  daß  die 
geschilderten  Ergebnisse  der  Versuche,  denen  eine 
kurze  Mitteilung  über  Vorleben  und  Eigentümlich- 
keiten des  Mediums  vorausgeht  —  in  allen  Punkten 
die  früheren  Ergebnisse  bestätigen  und  zum  Teil 
erweitern.  Absonderung  einer  unbekannten, 
leuchtenden,      lichtempfindlichen,      rauchartigen, 


N.  F.  XXI.  Nr    15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Ü5 


plastischer  Formannahme  und  temporärer  Ver- 
steifung fähigen  Halbmaterie,  die  unter  dem  psy- 
chischen Einfluß  des  JVlediums  wie  der  Versuchs- 
leiter zu  stehen  scheint,  ist  das  Grundphänomen. 
Produziert  wurden  meist  Hände  (auch  P'üße  und 
Gesichter)  die  sichtbar,  tastbar  —  und  in  Paraffin 
abformbar  waren.  Es  fehlt  weder  an  Gutachten 
über  diese  Formen  noch  an  Kontrollmaßregeln 
gegen  Täuschung  (Färbung  und  chemische  Kenn- 
zeichnung des  verwendeten  Paraffins),  so  daß  die 
Arbeit  —  wir  möchten  darüber  nicht  mißver- 
standen werden  —  zweifelsohne  einen  wertvollen, 
ins  Gewicht  fallenden  Beitrag  zu  den  Problemen 
der  Materialisationen  darstellt.  Möge  es  gelingen, 
auf  dieser  Grundlage  eine  klassisch- einwandfreie 
Versuchsreihe  aufzubauen ! 

Im  Anhang,  der  direkt  nichts  mit  dem  Gegen- 
stande der  Schrift  zu  tun  hat,  setzt  sich  Schrenck- 
Notzing  in  geschickter  und  temperamentvoller 
Weise  mit  neueren  Gegnern  der  physikalisch- 
mediumistischen  Erscheinungen  auseinander,  so 
mit  Sommer,  Kolb,  Dessoir,  Moll  u.  a.  m. 
Ein  Eingehen  auf  die  Streitfragen  selbst  ist  an 
dieser  Stelle  unmöglich.  v.  Wasielewski. 


Wiesners  Rohstoffe  des  Pflanzenreiches.  3.  Aufl. 
fortgesetzt  von  J.  Möller.  3.  Band  mit  332 
Textfiguren.  Leipzig  1921,  W.  Engelmann. 
108  M. 

Mit  Befriedigung  werden  alle,  die  an  pflanz- 
lichen Rohstoffen  interessiert  sind,  die  Kunde  ver- 
nehmen, daß  es  der  aufopferungsvollen  Arbeit 
J.  Möllers  gelungen  ist,  die  3.  Auflage  des 
Lebenswerkes  Wiesners,  über  deren  Erscheinen 
er  selber  ebenso  wie  sein  Mitarbeiter  Hanau sek 
hinstarb,   zu  vollenden. 

Der  rund  lOOO  Seiten  starke  Schlußband  be- 
handelt zunächst  den  wichtigen  Abschnitt  der 
Pflanzenfasern,  der  schon  von  Wiesner  und 
Zeisel  geschrieben  war,  aber  für  die  Veröffent- 
lichung durch  Weese  ergänzt  wurde.  Gerade 
auf  diesem  Gebiete  hat  ja  die  Forschung  der 
letzten  Jahre,  angetrieben  durch  die  Erfordernisse 
der  Zeit,  mancherlei  neue  Erfahrungen  gebracht. 
Hier  finden  auch  die  zur  Herstellung  von  Papier 
benutzbaren  Fasern  Berücksichtigung.  Bemerkens- 
wert ist  auch  eine  systematische  Übersicht  über 
sämtliche  für  Fasergewinnung  überhaupt  in  Be- 
tracht kommende  Pflanzen.  Dann  schließt  sich 
J.  Möller  mit  einem  Abschnitt  über  unterirdische 
Pflanzenteile,  also  Wurzeln,  Rhizome  und  Knollen, 
an,  dem  F.  Krasser  ein  kurzes  Kapitel  über  die 
Zuckerrübe  hinzugefügt  hat.  Dann  kommen  die 
Blüten  und  Blütenteile,  die  Linsbauer  bear- 
beitete, die  Samen  in  der  Bearbeitung  von  Ha- 
naus ek  mit  Ergänzungen  von  Weese  und  die 
Früchte,  welche  ebenfalls  von  den  letzt  genannten 
Autoren  behandelt  worden  sind.  Zum  Schluß  hat 
Lafar  noch  ein  kleines  Kapitel  über  die  Hefe 
beigesteuert.     Es  ist  unmöglich,  eine  Vorstellung 


von  dem  Inhalt  der  oben  genannten  Kapitel  zu 
geben.  Erwähnt  sei  nur,  daß  überall  die  Herkunft 
des  Rohstoffes  erörtert,  d.  h.  der  genaue  botanische 
Name  und  die  Heimat  der  Stammpflanzen  ange- 
geben wird,  daß  ferner  die  Handelsbezeichnungen 
der  Stoffe,  ihre  besonderen  technischen  Eigen- 
schaften, ihre  Verwendung  und  Aufbereitung,  ihre 
Bedeutung  für  den  Handel  geschildert  werden. 
Das  Schwergewicht  ruht  dann  auf  der  genauen 
Beschreibung  der  Rohstoffe,  wie  sie  mit  Hilfe 
botanischer  Untersuchungsmethoden,  namentlich 
mit  Hilfe  des  Mikroskops  erzielbar  ist.  Dabei 
wirken  die  zahlreichen  Abbildungen  erfolgreich 
mit.  Diese  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  auf- 
gebaute Rohstofflehre  ist  ein  schlechthin  unent- 
behrliches Hilfsmittel  für  den  Botaniker  sowohl 
wie  für  den  Techniker,  in  vielen  Teilen  auch  für 
den    Produzenten,   den  Fabrikanten    und  Händler. 

Miehe. 


Tischner,  Rudolf,  Monismus  und  Okkul- 
tismus. 103  S.  gr.  8".  Leipzig  192 1,  Verlag 
von  Osw.  Mutze. 
Der  Titel  der  Schrift  erscheint  insofern  nicht 
ganz  glücklich ,  als  volle  zwei  Drittel  derselben 
von  einer  populären  Einführung  in  psychophysi- 
sche  Grundprobleme  (Erkenntnistheoretisches, 
Materie,  Psychische  Energie,  Eigenart  des  Seeli- 
schen, Leib  und  Seele)  eingenommen  werden.  Da 
es  an  brauchbaren  allgemeinverständlichen  Schrif- 
ten dieser  Art  nicht  mangelt,  wäre  vielleicht  eine 
knappe  Zusammenfassung  des  Gegebenen  ange- 
zeigt gewesen.  Doch  verdient  Hervorhebung,  daß 
Tischners  Darstellung  sich  wesentlich  auf  Ar- 
beiten von  Becher  und  Driesch  stützt,  die 
gerade  in  naturwissenschaftlichen  Kreisen  noch 
keineswegs  ihrer  großen  Bedeutung  entsprechend 
gekannt  und  gewürdigt  sind.  —  In  den  folgen- 
den Abschnitten  erörtert  T  i  s  c  h  n  e  r  die  Frage, 
ob  Telepathie  und  Hellsehen,  deren  Tatsächlich- 
keit hier  nicht  zur  Diskussion  steht,  auf  monisti- 
scher Basis  zu  erklären  sind  —  monistisch  im 
modern  naturwissenschaftlichen  Sinne  genommen. 
Auch  in  okkultistischen  Kreisen  wird  dies  vielfach 
geglaubt;  dagegen  kommt  Tischner  meines 
Erachtens  zutreffend  zu  einem  negativen  Er- 
gebnis. Das  Schlußkapitel  behandelt  kurz  die 
wichtigsten  philosophischen  Fragen,  für  die  die 
Kenntnis  oder  Anerkennung  okkulter  Erscheinun- 
gen von  Bedeutung  ist,  als:  Erfahrung  jenseits 
der  Sinne,  transzendentales  Subjekt,  Unsterblich- 
keit der  Seele,  vierte  Dimension,  Materialisationen, 
sowie  manche  philosophischen  Anschauungen  der 
Vergangenheit.  Zweifelsohne  zeigen  sich  eine 
ganze  Reihe  Berührungspunkte,  die  dem  Philo- 
sophen eine  Beschäftigung  mit  dem  Okkultismus 
nahelegen.  Diese  hat  übrigens  offenbar  bereits 
hier  und  da  begonnen  und  dürfte  sich  demnächst 
fortdauernd  verstärken. 

W.  v.  Wasielewski. 


2i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  IS 


Anregungen  und  Antworten. 


Gegen  die  Kontraktiunstheorie.  Die  Ausführungen  zur 
Kontralitionstheorie  von  l'rot.  Nölke  in  Nr.  6  des  Jahrg. 
1922  dieser  Zeitschrift  können  m.  E.  nicht  ganz  unwider- 
sprochen bleiben.  Ich  möchte  hier  nur  ganz  kurz  auf  einige 
schwache  Punkte  seiner  Beweisführung  hinweisen. 

Die  Erde  stellt  sich  uns  heute  als  ein  Körper  dar,  der 
unter  einer  festen  Gesteinshülle  eine  mehr  oder  weniger 
plastische,  vermutlich  sehr  heiße  Masse  enthält,  die  nach  dem 
Innern  zu  aber  anscheinend  wieder  fest  und  von  stahlartiger 
Beschaffenheit  wird.  Nach  der  Theorie  von  Wegener  ver- 
schiebt sich  nun  die  äußere  Hülle  dauernd  unter  dem  Einfluß 
kosmischer  Kräfte ,  wodurch  sich  die  fortgesetzte  Auffaltung 
der  Gebirge  erklärt.  Die  Ansicht  Nölkes,  die  Gezeiten- 
kräfte des  Mondes  und  die  bei  der  Erdrotation  auftretenden 
Zentrifugalkräfte  seien  zu  schwach,  um  die  Verschiebung  zu 
bewirken,  mag  zutreffen.  Außer  diesen  Kräften  scheinen  aber 
viel  gewaltigere  kosmische  Spannungen  auf  den  Erdkörper 
einzuwirken ,  die  noch  unerforscht  und  unerkannt  sind.  Die 
tägliche  Doppelschwingung  des  Barometers  läßt 
uns  hier  Kräfte  ahnen,  die  die  der  Gezeiten  vielleicht  um  das 
Hundertfache  übertreffen  und  die  mir  die  bisher  unbeachtete 
Ursache  der  meisten  geophysikalischen  Erscheinungen  zu  sein 
scheinen,  wie  ich  in  dem  Artikel  ,,Wind  und  Wetter  als  Feld- 
wirkungen der  Schwerkraft"  (diese  Zeitschrift,  Jahrg.  1921, 
Heft  7)  näher  ausgeführt  habe. 

Ein  Beweis  dafür,  daß  die  Erdoberfläche  früher  erheblich 
heißer  als  jetzt,  womöglich  gar  glühend-flüssig  oder  gasförmig 
gewesen  sei,  ist  nicht  vorhanden.  Allerdings  befinden  sich 
auf  der  Erde  viel  Gesteine,  die  einst  glühend-flüssig  gewesen 
sind ,  diese  sind  aber  bei  den  fortwährenden  Verschiebungen 
der  Kruste  aus  der  Tiefe  herausgekommen,  wo  es  auch  noch 
heute  sehr  heiß  ist. 

Auch  die  sog.  ,, Entwicklung"  der  Sterne,  die  nach  neue- 
ren astronomischen  Forschungsergebnissen  als  ,, Riesensterne" 
beginnen  und  allmählich,  durch  Wärmeausstrahlung  ihr  Vo- 
lumen verkleinernd,  in  den  Zustand  der  ,, Zwergsterne"  über- 
gehen und  verlöschen  sollen,  ist  nichts  weniger  als  erwiesen. 
Auf  dem  letzten  Potsdamer  Astronomentage  hat  E.  Wiechert 
(Vierteljahrsschrilt  der  Astronomischen  Gesellschaft,  1921, 
3.  Heft,  S.  1S5  — 191)  die  entgegengesetzte  Ansicht  vertreten, 
daß  nämlich  die  Entwicklung  gerade  umgekehrt  verlaufe, 
daß  aus  dem  Zwerge  allmählich  ein  Kiese  werde,  bis  schließ- 
lich eine  Explosion  des  Gestirnes  erfolge.  Daraus  werden 
dann  wieder  kleinere  Weltkörper  entstehen  und  die  Entwick- 
lung kann  von  neuem  beginnen.  Wiechert  nimmt  in  Über- 
einstimmung mit  der  auch  von  mir  auf  dem  Jenaer  Physiker- 
tage vertretenen  Ansicht  (Physikalische  Zeitschrift,  1921, 
S.  636 — 639)  an,  daß  die  Massen,  je  größer  sie  werden  ,  um 
so  mehr  Wärmeenergie  aus  dem  Äther  ziehen.  Diese  An- 
schauung gestattet,  die  Entwicklung  der  Gestirne  als  einen 
ewigen  Kreislauf  aufzufassen.  Auch  N  ernst  scheint  sich 
neuerdings  einer  ähnlichen  Ansicht  zuzuneigen. 

Die  Kontraktionshypothese  dagegen  geht  von  der  Idee 
der  allmählichen  Erkaltung  der  Gestirne  aus,  die  alle  als 
Gasbälle  ihre  Geschichte  begonnen  haben  und  als  finstere 
kalte  Massen  endigen.  Eine  Kraft,  die  die  kalten  Massen 
wieder  in  Gasbälle  zurückverwandelt,  gibt  es  nicht.  Die  Er- 
kaltungstheorie, aus  der  die  Kontraktionshypothese  abgeleitet 
ist,  führt  daher  zu  wissenschaftlich  unhaltbaren 
Folgerungen ,  die  mit  der  Existenz  des  Weltalls  in  Wider- 
spruch stehen.  Wahrscheinlich  sind  sehr  große,  dichte,  kalte 
Massen  überhaupt  eine  physikalische  Unmöglichkeit,  da  Schwere 
und  Wärme  voneinander  abhängig  zu  sein  scheinen.  Das  ist 
der  wichtigste  theoretische  Einwand  gegen  die  Kontraktions- 
hypothese. 


Die  Meteoriten-  und  Aufsturztheorie  ist  für  die  Bildung 
der  Weltkörper  daher  das  Gegebene.  Die  Gründe  gegen 
diese  Theorie  scheinen  mir  nicht  so  ,,unwidersprechlich"  zu 
sein,  wie  Herr  Nölke  annimmt.  Die  aufstürzenden  Massen 
können  bei  der  fortwährenden  kosmischen  Durchknetung  der 
Überfläche  der  Erde  allmählich  in  die  Tiefe  gedrängt  werden 
und  dort  einen  vollständigen  Umwandlungsprozeß  durchmachen, 
bei  dem  sie  verflüssigt  urjd  wieder  verfestigt  werden,  so  daß 
schließlich  dieselbe  Struktur  des  Erdkörpers  entstehen  wird, 
wie  wir  jetzt  beobachten. 

Bei  der  Gestaltung  der  Weltkörper  sind  wahrscheinlich 
ganz  andere  Naturkräfte  tätig,  als  wie  wir  sie  im  Laboratorium 
kennen  gelernt  und  bisher  allein  beachtet  haben.  Gerade 
die  Erkaltungs-  und  Schrumpfungstheorie  mit  ihren  unwahr- 
scheinlichen, trostlosen  Zukunftsaussichten  scheint 
lediglich  dem  gar  zu  engen  Erfahrungskreis  des  Laboratoriuni- 
physikers  und  des  einseitigen  Theoretikers  ihre  Herrschaft  zu 
verdanken.  Es  ist  daher  ein  großes  Verdienst  Wegeners, 
daß  er  die  Aufmerksamkeil  auf  neue  Möglichkeiten  hinge- 
lenkt hat.  Fricke. 


Literatur. 

Goebel,  Prof.  Dr.  H.,  Organographie  der  Pflanzen. 
2.  Aufl.,  111.  Bd.,  Teil  i.     Jena '22,  G.Fischer.  Brosch.  54  Mk. 

Hcrtwig,  Geh. -Rat  Prof.  Dr.  O.,  Der  Staat  als  Orga- 
nismus.     Jena  '22,    G.  Fischer.      Brosch.  30  M. ,  geb.  45  M. 

Soergel,  Prof.  Dr.  W. ,  Die  Jagd  der  Vorzeit.  Jena 
'22,  G.  Fischer.     Brosch.  24  M.,  geb.  34  M. 

Hauser,  Prof.  Dr.,  Die  Daraaster-Coptolabrus-Grup]ie 
der  Gattung  Carabus.  Sonderabdruck  aus  ,, Zoologische  Jahr- 
bücher", 45.  Bd.  Abt.  Systematik.  Jena '22,  G.  F'isclier.   140  M. 

Abel,  Prof.  O.,  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt  der  Vor- 
zeit.    Jena  '22,  G.  Fischer.     Brosch.   120  M.,  geb.   150  M. 

Fitting,  Prof.  Dr.,  Aufgaben  und  Ziele  einer  verglei- 
chenden Physiologie  auf  geographischer  Grundlage.  Jena  '22, 
G.  Fischer.     Brosch.  6  M. 

Molisch,  Prof.  Dr.  H.,  Anatomie  der  Pflanze.  2.  Aufl. 
Jena   '22,  G.  Fischer.     Brosch.  24  M.,  geb.  34  M. 

Newcomb,  Simon,  Astronomie  für  Jedermann.  4.  Aufl. 
Jena  '22,   G.  F'ischer.     Brosch.  33  M.,  gek.  42  M. 

Stoklasa,  Prof.  Dr.  J.,  Über  die  Verbindung  des  Alu- 
miniums in  der  Natur.     Jena  '22,  G.  Fischer.     Brosch.  80  M. 

Petronievics,  Dr.  Ph.  Br. ,  Über  das  Becken,  den 
Schultergürtel  und  einige  andere  Teile  der  Londoner  Archäo- 
pteryx.    Genf  '21,  Buchhandlung  Georg  &  Co. 

Janet,  Charles,  Considerations  sur  l'etre  vivant.  I.Teil. 
Beauvais  '20,  A.  Dumonlier. 

Janet,  Charles,  Consideralions  sur  l'etre  vivant.  11.  Teil. 
Beauvais  '21,  A.  Dumontier. 

Muc.kermann,  Herm.,  Um  das  Leben  der  Ungeborenen. 
2.  Aufl.  1922.  Berlin,  Ferd.  Dümmlers  Verlagsbuchhandlung. 
9  M. 

Bavink,  Bernh.,  Grundriß  der  neueren  Atomistik.  Leip- 
zig '22,  S.  Hirzel.     Brosch.  25  M.,  geb.  37   M. 

Lingenberg,  E.,  Das  Weltgebäude.  Bad  Kissingen '21. 
Brosch.  20  M. 

Jollos,  V.  u.  v.  Prowazek,  Taschenbuch  der  mikro- 
skopischen Technik  der  Protistenuntersuchung.  3.  Auflage. 
Leipzig  '22,  J.  A.  Barth.      18  M. 

Zander,  Prof.  Dr.  E.,  Obstbau  und  Bienenzucht.  Stutt- 
gart '22,   E.  Ulmer.     10  M. 

Register  zum  Zoologischen  Anzeiger:  Bd.  XVIll — XXII. 
Leipzig  '22,  W.  Engelmann.     280  M. 


Inhalt:  W.  Goelsch,  Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen.  (3  Abb.)  S.  201.  P.  Becker,  Beiträge  zur  Höhlenkunde. 
S.  205.  —  Einzelberichte:  Wiegers,  Neue  Funde  aus  der  älteren  Steinzeit.  S.  207.  Gerould,  Die  Veränderung 
der  Hämolymphe  durch  Mutation  bei  einem  Schmetterling.  S.  210.  —  Bücberbesprechungen:  Einführungsliteratur  in 
den  wissenschaftlichen  Okkultismus.  S.  211.  W.  Walte,  Einstein,  Michelson.  Newton.  S.  213.  P.  Kukuk,  Unsere 
Kohlen.  S.  214.  G.  Geley,  Materialisations-Experimente  mit  M.  Franek  Kluski.  S.  214.  Wiesners  RohstofTe  des 
Pflanzenreiches.  S.  215.  R.  Tischner,  Monismus  und  Okkultismus.  S.  215.  —  Anregungen  und  Antworten :  Gegen 
die  Kontraklionstheorie.  S.  2l6.  —  Literatur:  Liste.  S.  216. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miche,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  N.-iumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  i6.  April  1922. 


Nummer  16. 


[N«chdruck  verboten.]  Von   Dr.  phil.  et  med. 

Alle  die  vielen  Lebewesen,  welche  unsere  Erde 
heute  bevölkern ,  sind  die  Nachkommen  langer, 
Ahnenreihen.  Der  Zeitraum,  welchen  die  Kette 
der  Generationen  schon  durchmessen  hat,  über- 
steigt unser  Vorstellungsvermögen. 

Wir  wissen ,  daß  die  Erdrinde  tiefgreifeade 
Veränderungen  durchgemacht  hat:  es  hat  Zeiten 
gegeben,  zu  welchen  das  heutige  Europa  auf  dem 
Grunde  eines  weiten  Meeres  lag  und  wieder  andere, 
da  an  gleicher  Stelle  tropische  Wälder  und  unge- 
heure Gletscherjnassen  einander  ablösten  in  jahr- 
tausendelangem Rhythmus. 

Einen  solchen  Wandel  der  Daseinsbedingungen 
haben  die  Ahnen  der  heutigen  Lebewesen  über 
sich  ergehen  lassen  müssen.  Manche  der  Tier- 
und  Pflanzenformen,  welche  die  Meere  und  Wälder, 
die  Steppen  und  Eisregionen  früherer  Erdperioden 
belebt  haben,  sind  dem  Wechsel  der  Zeiten  auf 
die  Dauer  nicht  gewachsen  gewesen.  Sie  sind 
ausgestorben,  und  nur  ihre  versteinerten  Reste 
erzählen  in  günstigen  Fällen  von  jenen  Wesen, 
deren  merkwürdige  Gestalten  und  Bewegungen 
nie  eines  Menschen  Auge  schauen  durfte.  Uner- 
bittlich hat  das  kosmische  Geschehen  alles  Leben 
zerstört,  das  sich  seinem  Wechsel  nicht  unter- 
worfen hat,  das  nicht  die  Fähigkeit  gehabt  hat, 
sich  immer  wieder  den  neuen  Lebensbedingungen 
anzupassen. 

„Anpassung"  lautet  die  Parole,  welche  die 
lebendige  Natur  beherrscht.  Wer  nicht  mitmacht, 
der  geht  zugrunde.  Das  große  kosmische  Ge- 
schehen, welches  doch  letzten  Endes  alles  be- 
herrscht, kennt  keine  Rücksicht  auf  das  Gewimmel 
des  Lebens. 

Und  so  sehen  wir  denn,  daß  sich  die  Lebens- 
formen verändern  mit  den  Lebensbedingungen; 
daß  Tier  und  Pflanze  von  Generation  zu  Gene- 
ration diese  und  jene  Eigentümlichkeit  ihrer  Or- 
ganisation verändern,  ebenso  allmählich  und  kaum 
erkennbar  für  den  beobachtenden  Menschen,  wie 
das  „Milieu",  die  äußeren  Daseinsbedingungen, 
sich  umgestalten. 

Je  öfter  und  vollkommener  sich  ein  Organis- 
mus im  Laufe  seiner  Stammesgeschichte  den 
Veränderungen  des  Milieus  angepaßt  hat,  um  so 
komplizierter  ist  er  geworden,  um  so  mehr  unter- 
scheidet sich  seine  heutige  Form  von  der  ihrer 
Ahnen. 

Die  paläontologische,  vergleichend  anato- 
mische und  entwicklungsgeschichtliche  Forschung 
hat  der  Lehre  von  der  stammesgeschichtlichen 
Umgestaltung   der   Organismen   so   viele   Stützen 


Probleme  der  Artveränderung. 

(Nach  einer  Vorlesung.) 

Haas  Krieg,  Tübingen. 


geliefert,  daß  sie  den  Charakter  einer  Theorie 
verloren  hat  und  zum  wichtigsten  Leitgedanken 
der  biologischen  Forschung  geworden  ist.  Die 
Vorstellung  von  der  Unbeständigkeit  und  der 
fließenden  Umgestaltung  der  Lebensformen  hat 
für  uns  nichts  Befremdendes  mehr  und  wir 
wenden  sie  mit  guter  Begründung  in  vollem  Um- 
fange auf  den  Menschen  an.  Es  hat  Zeiten  ge- 
geben, zu  welchen  sich  die  Wissenschaft  unter 
dem  Banne  der  Darwinschen  Gedankengänge 
mit  Vorliebe  in  stammesgeschichtüchen  Speku- 
lationen über  die  Entwicklung  des  Menschenge- 
schlechts erging.  Solche  Spekulationen  werden 
auch  heute  noch  angestellt,  und  wir  möchten  auf 
ihre  belebende  Wirkung  nicht  verzichten.  Aber 
man  ist  ruhiger  und  sachlicher  geworden;  denn 
je  größer  die  Zahl  der  exakt-wissenschaftlichen 
Feststellungen  wird,  um  so  geringer  wird  die 
Rolle  der  Phantasie  bei  ihrer  Deutung. 

Was  ich  in  dieser  Vorlesung  im  besonderen 
besprechen  möchte,  das  sind  die  Momente,  welche 
der  Artveränderung  zugrunde  liegen  können.  Die 
hier  dargestellten  Anschauungen  sind  in  letzter 
2eit  des  öfteren  Gegenstand  lebhafter  Diskussion 
gewesen ,  und  sie  sind  zum  Teil  in  den  von 
O.  Hertwig,  Roux,  Haecker,  Braus  und 
vielen  anderen  geäußerten  Ansichten  irgendwie 
enthalten.  Vor  kurzem  haben  sie  in  einer 
eingehenden ,  sehr  lesenswerten  Schrift  von 
Weidenreich  eine  Besprechung  erfahren  ( W e i - 
denreich,  Das  Evolutionsproblem  und  der  in- 
dividuelle Gestaltungsanteil  am  Entwicklungsge- 
schehen, Springer  192 1).  Naturgemäß  kann  im 
Rahmen  dieses  Vortrags  auf  die  reiche  Literatur 
nicht  eingegangen  werden.  Ebensowenig  können 
die  zahlreichen  von  den  Autoren  zur  Debatte  ge- 
stellten Beispiele  besprochen  werden. 

Man  pflegt  —  in  unberechtigt  scharfer  Alter- 
native —  bei  stammesgeschichtlichen  Erwägungen 
zwei  Theorien  einander  gegenüberzustellen:  Dar- 
winismus und  Lamarekismus;  entsprechend  den 
mancherlei  Abänderungen  und  Ergänzungen, 
welche  die  ursprünglichen  Fassungen  dieser  Theo- 
rien erfahren  haben,  pflegt  man  wohl  auch  von 
einem  Neodarwinismus  und  einem  Neolamarckis- 
mus  zu  reden.  Sie  seien  hier  in  wenigen  Worten 
charakterisiert. 

Die  Lehre  Darwins  fußt  auf  der  Tatsache 
der  Variabilität  der  Erscheinungsformen  in  der 
lebenden  Natur,  d.  h.  auf  der  Tatsache,  daß  die 
Individuen  gleicher  Art  in  bezug  auf  irgendeine 
ihrer  Eigenschaften,  welche  man  nun  gerade  näher 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


ins  Auge  zu  fassen  beliebt,  eine  gewisse  Ungleich- 
mäßigkeit  erkennen  lassen.  Und  in  ähnlicher 
Weise,  wie  der  Tier-  oder  Pflanzenzüchter  durch 
entsprechende  Auswahl  der  zur  Zucht  verwandten 
Individuen,  durch  Bevorzugung  ihm  zweckmäßig 
erscheinender  Varianten,  sein  Tier-  oder  Pflanzen- 
material im  Laufe  einiger  Generationen  in  ge- 
wünschter Richtung  abzuändern  vermag,  so  voll- 
zieht sich  eine  Abänderung  auch  in  der  freien 
Natur.  Der  „Kampf  ums  Dasein"  scheidet  die 
im  Sinne  der  Arterhaltung  günstigen  Varianten 
von  den  ungünstigen.  Ein  strenger  Winter  etwa 
tötet  alle  weniger  widerstandsfähigen  Individuen, 
eine  Infektionskrankheit  rafft  sie  hinweg  oder  ein 
anderer  Feind.  Dazu  kommt  noch  die  auslesende 
Wirkung  des  Konkurrenzkampfes  gleichartiger 
Tiere  untereinander,  z.  B.  der  Kampf,  welchen 
bei  manchen  Tierarten  die  Männchen  mit  ihres- 
gleichen zu  bestehen  haben,  ehe  sie  zur  Kopu- 
lation gelangen. 

Die  Leitgedanken  des  Darwinismus  sind  (erb- 
liche) Variabilität  —  Ungleich  Wertigkeit  — 
der  Individuen  in  bezug  auf  irgendeine  in  Be- 
tracht kommende  Eigenschaft  und  Selektion  — 
Auslese. 

Demgegenüber  geht  der  Lamarekismus  von 
der  Voraussetzung  aus,  daß  die  Organisation  der 
Lebewesen  sich  automatisch  umgestalte  ent- 
sprechend den  Ansprüchen,  welche  die  Umwelt 
an  sie  stellt.  Daß  während  des  individuellen 
Lebens  der  Grad  und  die  Art  der  Inanspruch- 
nahme eines  Organs  von  Einfluß  ist  auf  Grad 
und  Art  seiner  Ausbildung,  ist  bekannt.  Soll  nun 
eine  solche  „funktionelle  Anpassung"  von  Einfluß 
sein  können  auf  die  Umgestaltung  der  Art  im 
Laufe  der  Generationen,  so  muß  eine  solche  An- 
passung, eine  solche  „Reaktion  auf  einen  Milieu- 
reiz", in  Gestalt  einer  erblichen  Anlage  auf  die 
Nachkommen  übertragen  werden  können.  Mit 
anderen  Worten :  man  muß  von  der  Voraussetzung 
ausgehen,  daß  zur  Entwicklung  eines  höheren 
Ausbildungsgrades  schließlich  nicht  mehr  der 
Milieureiz  selbst  als  auslösendes  Moment  nötig 
ist,  sondern  daß  dieses  auslösende  Moment  in  das 
Erbgut  des  Individuums  beziehungsweise  der  Art 
übergehen  kann.  Dies  hat  trotz  vielfacher  Ver- 
suche noch    nicht   nachgewiesen    werden  können. 

Man  sieht:  der  Darwinismus  findet  positive 
Belege  in  der  Naturbeobachtung  selbst  und  in 
der  Analogie  der  künstlichen  Zuchtwahl.  Der 
Lamarekismus  ist  nur  eine  einleuchtende  Hypo- 
these und  entbehrt  zwingender  Belege. 

Beide  Theorien  sind  miteinander  verknüpft 
durch  folgende  Überlegung: 

Der  Lamarekismus  geht  aus  von  der  Beobach- 
tung, daß  ein  Organ  auf  einen  bestimmten  äußeren 
Reiz,  eine  bestimmte  von  außen  an  das  Individuum 
herantretende  Anforderung,  in  typischer  Weise 
reagiert.  Diese  Reaktion  besteht  in  dem  Be- 
streben, die  Reizwirkung  als  solche  zu  beseitigen, 
also  einen  Gleichgewichtszustand  zwischen  An- 
forderung und  Leistungsfähigkeit  herzustellen.    Die 


Voraussetzung  einer  solchen  Reaktion  ist  aber 
die  Reaktionsfähigkeit.  Diese  Reaktions- 
fähigkeit ist  individuell  verschieden,  sie  variiert 
wie  jede  andere  Eigenschaft  eines  lebenden  Or- 
ganismus. Und  als  variierende  Eigenschaft  unter- 
liegt sie  logischerweise  der  Selektion. 

Wenn  man  will,  kann  man  also  zwei  Arten 
von  Variabilität  unterscheiden :  erstens  eine  echte 
oder  primäre,  d.  h.  von  Milieureizen  unabhängige 
Variabilität  erkennbarer  Eigenschaften;  zweitens 
eine  sekundäre  Variabilität  oder  „Modifizierbar- 
keit". Sie  bedarf  eines  spezifischen  Milieureizes, 
um  überhaupt    in  Erscheinung   treten  zu  können. 

Ein  beliebiges  Beispiel  möge  diesen  zweiten 
Fall  illustrieren. 

Würde  man  eine  bestimmte  Anzahl  von  Pfer- 
den eines  gut  ausgeglichenen,  also  in  seinen  erb- 
lichen Eigenschaften  im  wesentlichen  einheitlichen 
Schlages,  sagen  wir  Belgier  oder  Ardenner,  in 
eine  Gegend  bringen,  wo  sie  starker  Winterkälte 
ausgesetzt  sind,  so  würde  man  beobachten  können, 
daß  sie  dank  einer  ihnen  innewohnenden  Reak- 
tionsfähigkeit auf  den  Kälteieiz  eine  stärkere 
Winterbehaarung  bekommen,  als  in  ihrer  Heimat. 
Die  genauere  Beobachtung  würde  nun  ergeben, 
daß  diese  Reaktionsfähigkeit  nicht  bei  allen  Indi 
viduen  gleich  groß  ist,  sondern  in  zwar  geringem, 
aber  doch  erkennbarem  Grade  schwankt.  Dabei 
wären  die  Ursachen  dieser  Verschiedenheit  in  der 
Reaktionstüchtigkeit  vermutlich  ähnlicher  Art,  wie 
diejenigen  anderer  individueller  Verschiedenheiten: 
Alter,  Ernährungszustand,  Aufwuchsbedingungen, 
Kombinationsmodus  gewisser  Erbfaktoren  bei  der 
Befruchtung,  quantitative  Wertigkeit  eines  Erb- 
faktors. 

Noch  größer  würden  natürlich  die  Unterschiede 
sein,  wenn  wir  Pferde  verschiedener  Abstammung 
in  ihrer  Reaktionsfähigkeit    vergleichen  würden. ') 

Diese  Reaktionstüchtigkeit  kann  sich  zweifellos 
durch  eine  über  viele  Generationen  hin  erfolgende 
Reizwirkung  verstärken  oder  umgekehrt  schwächer 
werden,  wenn  der  Reiz  schwach  wird  oder  in 
Wegfall  kommt.  Sehen  wir  doch,  daß  beispiels- 
weise ein  russisches  Bauernpferd  sich  einen  stär- 
keren Winterpelz  zulegt,  als  etwa  ein  Pferd  süd- 
deutscher Herkunft,  welches  in  dasselbe  Milieu 
gebracht  worden  ist.  Dabei  kann  man  annehmen, 
daß  die  Fähigkeit,  eine  besonders  starke  Winter- 
behaarung zu  bilden,  bei  den  einer  künstlichen 
Zuchtwahl  noch  nicht  unterworfenen  Vorfahren 
dieser  Pferde  auf  dem  Wege  natürlicher  Zucht- 
wahl entstanden  ist,  wo  eben  das  Milieu  sie  ver- 
langte und  daß  künstliche  Zuchtwahl  und  in  an- 
derer Richtung  gehende  Differenzierung  sie  bei 
anderen  Rassen  oder  Schlägen  unterdrückt  hat 
oder  nicht  hat  zur  Ausbildung  gelangen  lassen. 
Daß  es  sich  gerade  bei  der  Winterbehaarung 
keinesfalls    nur    um    eine  Reaktionsfähigkeit  han- 


')  Verf.  hatte  im  Kriege  Gelegenheit,  derartige  Beobach- 
tungen zumachen  (vgl.  Krieg,  Beobachtungen  an  deutschen 
Pferden  in  Ruflland,  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  15.  Band, 
Nr.  26). 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


219 


delt,  sondern  mindestens  teilweise  um  eine  regel- 
rechte Erbeigenschaft,  geht  übrigens  aus  der  Be- 
obachtung hervor,  daß  beispielsweise  ein  in 
Deutschland  akklimatisierter  Panther  zwar  ein 
Winterfell  bekommt,  daß  aber  dieses  Winterfell 
niemals  die  Ausbildung  erreicht,  wie  dasjenige 
eines  im  selben  zoologischen  Garten  gehaltenen 
Schneeleoparden.  Man  sieht,  wie  eng  verknüpft 
erbliche  Anlage  einer  Eigenschaft  und  Fähigkeit, 
diese  Eigenschaft  als  Reizreaktion  zu  bilden,  mit- 
einander sind. 

Von  den  zahlreichen  Beispielen  für  das  enge 
Verknüpftsein  dieser  beiden  scheinbar  so  ver- 
schiedenartigen Ursachen  der  Gestaltung  sei 
noch  eines  erwähnt.  Bordage  hat  beobachtet, 
daß  Pfirsichbäume  europäischer  Herkunft,  welche 
in  tropischem  Milieu  (Reunion)  ausgesät  worden 
waren,  in  den  ersten  Jahren  etwa  i  V»  Monate 
lang  die  winterliche  Kahlheit  zeigten,  im  Lauf 
der  Jahre  eine  allmähliche  Anpassung  durch- 
machten und  nach  etwa  20  Jahren  nahezu  im- 
mergrün waren.  Es  handelt  sich  hier  zweifellos 
um  eine  Reizreaktion,  deren  langsamer  Ablauf 
wohl  so  zu  erklären  ist,  daß  eine  wesentliche 
reaktive  Umstellung  der  ganzen  Konstitution  not- 
wendig war,  um  die  nahezu  zum  rein  erblichen 
Engramm  gewordene  Reaktion  des  rhythmischen 
Laubverlustes  zu  beseitigen.  Wie  intensiv  diese 
Veränderung  in  der  Konstitution  war,  geht  aus 
der  merkwürdigen  Beobachtung  hervor,  daß  die 
Sämlinge  dieser  Pfirsichbäume  schon  von  vorn- 
herein angepaßt  waren  und  auch  im  Bergland 
immergrün  blieben,  wo  aus  Europa  stammende 
Pfirsichbäume  stets  periodisch  kahl  werden.') 

Wo  liegt  nun  die  Grenze  zwischen  erblicher 
Anlage  und  Reaktionsfähigkeit  ?  Sie  dürfte  kaum 
wirklich  existieren.  Die  schroffe  Alternative  be- 
steht nur  in  den  Begriffen,  nicht  in  den  Tatsachen. 

IL 

Damit  kommt  man  zu  einer  schärferen  Fassung 
des  Kernproblems  des  Lamarekismus.  Es  gipfelt 
in  der  Frage:  kann  aus  einer  bloßen  erblichen 
Reaktionsfähigkeit,  welche  bei  Einwirkung 
eines  bestimmten  Reizes  eine  bestimmte,  sinn- 
lich faßbare  Eigenschaft  eines  Organteiles,  Organs 
und  damit  eines  ganzen  Individuums  auslöst,  eine 
erbliche  Anlage  werden,  welche  automatisch 
—  etwa  auf  Grund  endokriner  Reize,  jedenfalls 
aber  ohne  äußeren  Reiz  —  diese  selbe  bestimmte, 
sinnlich  faßbare  Eigenschaft  zur  Entwicklung  bringt? 

Kann  an  Stelle  der  Reaktionsfähig- 
keit die  Reaktion  selber  treten? 

Es  ist  nicht  möglich,  diese  Frage  klipp  und 
klar  zu  beantworten.  Aber  es  gibt  Bei>piele, 
welche    für    eine  positive  Beantwortung  sprechen. 

Die  äußere  Haut,  sowie  die  Schleimhaut  der 
Mundhöhle,  Speiseröhre  und  Scheide  des  Men- 
schen tragen  an  der  Oberfläche  eine  vielschichtige 
Zellenlage,  ein  „geschichtetes  Plattenepithel".    Die 

')  Besteht  hier  nicht  eine  gewisse  Parallele  mit  Immuni- 
tät und  Anaphylaxie? 


tiefsten  Zellschichten  dieses  Epithels  sind  von 
weicher,  plasmareicher  Beschaffenheit  und  haben 
die  Fähigkeit,  neue  Zellen  zu  produzieren.  Die 
hier  gebildeten  Zellen  werden  nun  gegen  die 
Oberfläche  hin  weitergeschoben.  Sie  verlieren 
auf  diesem  Wege  ihre  Vermehrungsfähigkeit  und 
wandeln  sich  in  typischer  Weise  um :  sie  platten 
sich  immer  mehr  parallel  zur  Oberfläche  ab, 
bilden  an  ihrer  Peripherie  eine  derbe  Rinde 
(Crusta)  aus,  welche  sich  zum  Zellinnern  etwa 
verhält  wie  die  Rinde  eines  Brotlaibs  zu  dessen 
inneren  Teilen;  und  je  näher  die  einzelne  Zeile 
der  Oberfläche  kommt,  um  so  derber  und  flacher 
wird  sie,  so  daß  diese  Oberfläche  letzten  Endes 
gebildet  wird  von  lauter  kleinsten,  verhornten ' 
Schüppchen,  den  Endstadien  der  Epithelzellen. 

Ohne  Zweifel  liegt  hier  eine  zweckmäßige 
Organisation  vor,  welche  eine  gewisse  Geschmeidig- 
keit mit  einer  derben  Widerstandsfähigkeit  ver- 
bindet. Diese  Eigenschaften  stehen  in  deutlicher 
Proportion  zu  den  Insulten,  welchen  die  betreffende 
Epithelregion  ausgesetzt  ist.  Sie  sind  beispiels- 
weise in  der  Speiseröhre,  welche  normalerweise 
nur  der  verhältnismäßig  schwachen  Reizung  durch 
eingespeichelte  Speisenteile  ausgesetzt  ist,  geringer 
als  an  der  äußeren  Haut,  bei  welcher  neben  der 
Gefahr  grober  Insulte  diejenige  der  Austrocknung 
vorliegt.  Und  an  der  äußeren  Haut  sind  wie- 
derum Stellen  mit  besonders  starker  Insultwirkung, 
die  Handfläche  und  vor  allem  die  Flußsohle,  mit 
einem  besonders  erheblichen  Polster  von  ge- 
schichtetem Plattenepithel  ausgestattet.  Eine 
ganz  spezielle  Gestaltung  des  Epithels  finden  wir 
am  Zungenrücken,  wo  papillenartige  und  teilweise 
stark  verhornte  Gebilde  die  mechanische  Zungen- 
wirkung unterstützen. 

Es  liegt  kein  logisch  zwingender  Grund  vor, 
derartige  Bildungen  nicht  als  Ergebnisse  einer 
selektiven  Steigerung  ursprünglich  richtungsloser 
Varianten  zu  erklären.  Aber  mancher  dürfte  das 
Unbefriedigende  einer  solchen  Erklärung  empfin- 
den, gerade  in  F"ällen  wo  —  wie  hier  —  die  Er- 
scheinungen den  Stempel  funktioneller  Anpassung 
recht  deutlich  an  sich  tragen. 

Es  ist  zunächst  die  Frage  zu  stellen :  kann  ein 
geschichtetes  Plattenepithel  als  Reaktion  auf  einen 
bestimmten  Reiz  entstehen?  —  Diese  Frage  dürfte 
zu  bejahen  sein. 

An  Schleimhäuten,  welche  normalerweise  kein 
Plattenepithel  tragen,  kann  auf  Grund  experimen- 
teller oder  pathologischer  Reize  eine  Umbildung 
anderer  Epitheltypen  zu  Plattenepithel  erfolgen. 
B.  Fischer  hat  Scharlachöl  in  die  Milchdrüsen 
von  Kaninchen  eingespritzt  und  daraufhin  eine 
Umwandlung  des  Drüsenepithels  zu  einem  Platten- 
epithel mit  regelrechter  Verhornung  festgestellt. 
Kawamura  hat  durch  mechanische  Reizung  ähn- 
liches an  der  Schleimhaut  der  Luftröhre  erzeugt, 
Fütterer  an  der  Magenschleimhaut;  im  ersteren 
Fall  (Kawamura)  ist  also  an  Stelle  eines  einschichti- 
gen, mit  Flimmerhaaren  ausgestatteten,  zylindrischen 
Epithels,   im  letzteren    aus   einem  ebenfalls  zylin- 


226 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XXI.  Nr.  \6 


drischen  Epithel  mit  drüsigen  Adnexen  ein  Platten- 
epithel entstanden.  Auf  chronische  Reize  ver- 
mag das  Epithel  der  Gebärmutter,  der  Eileiter, 
der  Gallenblase,  der  Nase,  der  Luftröhre,  der 
Bronchien ,  ebenso  dasjenige  von  Nierenbecken, 
Harnleiter,  Harnblase,  Harnröhre,  Vorsteherdrüse, 
Paukenhöhle  und  IVlastdarm  durch  eine  epidermis- 
artige  Umgestaltung  zu  reagieren  (Borst).  Zweifel- 
los handelt  es  sich  in  diesen  Fällen  nicht  um 
eine  Umgestaltung  schon  differenzierter,  sondern 
um  eine  andersartige  Differenzierung  junger  Zellen 
des  betreffenden  Epithels  (indirekte  Metaplasie). 
Diese  Zellen  erweisen  sich  demnach  als  pluri- 
potent. 

Von  dieser  Erscheinung,  bei  welcher  eine  Epi- 
thelform entsteht,  welche  nicht  nur  grob-morpho- 
logisch, sondern  auch  in  feineren  Details  (Proto- 
plasmafaserung,  Interzellularbrücken,  Verhornung ')) 
das  Bild  eines  regelrechten  geschichteten  Platten- 
epithels zeigt  (echte  Metaplasie),  sind  jene  F"älle 
zu  trennen,  in  welchen  es  sich  nicht  um  eine 
wirklich  funktionelle,  sondern  nur  um  eine  grob- 
mechanisch bedingte  Veränderung  handelt,  für 
deren  Erklärung  eine  pluripotente  Reaktionsfähig- 
keit nicht  angenommen  zu  werden  braucht,  sondern 
etwa  nur  Zug-  und  Druckanomalien  oder  Aus- 
trocknung. Sie  werden  die  feineren  typischen 
Merkmale  des  geschichteten  Plattenepithels  ver- 
missen lassen  (falsche  Metaplasie).  Aber  ich  glaube 
kaum,  daß  sich  eine  scharfe  Grenze  zwischen 
echter  und  falscher  Metaplasie  wird  ziehen  lassen. 
Vielleicht  liegen  hier  nur  graduelle  Unterschiede 
vor,  welche  mit  der  Verschiedenheit  der  Qualität 
und  Quantität  des  Reizes  einerseits  und  anderer- 
seits mit  der  Verschiedenheit  der  Reaktionsfähig- 
keit zusammenhängen,  deren  Minimum  gleich  Null 
ist,  deren  Maximum  dagegen  sich  nicht  ohne 
weiteres  angeben  läßt,  aber  jedenfalls  genügt,  um 
den  funktionellen  Ausgleich  zwischen  Reiz  und 
morphologischer  Struktur  herbeizuführen. 

Man  könnte  einwenden,  daß  auch  jene  Er- 
scheinungen, welche  ein  auf  Grund  einer  Reiz- 
reaktion entstandenes  getreues  Bild  eines  ge- 
schichteten Plattenepithels  darstellen,  in  Wirklich- 
keit kein  solches  seien.  Das  wäre  aber  gleich- 
bedeutend mit  der  F"orderung,  daß  unter  diesem 
Begriff  nur  solche  Bildungen  zu  verstehen  seien, 
deren  Spezifität  erblich  festliegt.  Und  das  wäre 
wiederum  gleichbedeutend  mit  der  Ignorierung 
unseres  Problems;  denn  dieses  Problem  läuft  ja 
gerade  auf  die  Beantwortung  der  Frage  hinaus, 
ob  eine  morphologische  Bildung  als  Folge  eines 
Reizes  einerseits  und  eine  gleichartige  Bildung 
auf  Grund  erblicher  Veranlagung  andererseits 
vollkommen  heterogene  Dinge  sind  oder  ob  sie 
nur  verschiedene  stammesgeschichtliche  Stadien 
darstellen. 

Es  muß  uns  interessieren,  ob  die  Umgestaltung 


')  Siehe  die  .Arbeil  von  Teutschländer  im  Centralbl. 
f.  allg.  Pathologie  und  Path.  Anal.  Bd.  XXX,  Nr.  I6  (De- 
cember  1919). 


irgendeines  anderen  Epitheltypus  in  geschichtetes 
Plattenepithel  auch  ohne  einen  Reizimpuls  vor- 
kommt, ob  sie  sich  auch  rein  automatisch  voll- 
ziehen kann.  Es  kann  sich  hier  naturgemäß  nur 
um  ontogenetische  Vorgänge  handeln. 

Die  allmähliche  ontogenetische  Ausbildung  des 
Zustandes  der  Mehrschichtigkeit  aus  demjenigen 
der  Einschichtigkeit  läßt  sich  in  der  Genese  jedes 
Plattenepithels  feststellen.  In  der  Speiseröhre  be- 
steht ursprünglich  sogar  ein  richtiges  Zylinder- 
epithel. 

Es  liegt  nahe,  etwa  die  strukturellen  Besonder- 
heiten der  Epidermis,  besonders  die  sehr  starke 
Abplattung  und  Verhornung  ihrer  Zellen  an  der 
Oberfläche,  als  eine  funktionelle  Anpassung  an  die 
spezifischen  Oberflächenreize  (Zug,  Druck,  Aus- 
trocknung) aufzufassen  und  anzunehmen,  daß  es 
ursprünglich  derartige  Reize  waren,  welche  die 
Abflachung  der  Zellen  bewirkt  haben  und  ebenso 
den  einer  Verdorrung  vergleichbaren  Verhornungs- 
vorgang  und  die  Ausbildung  der  Vielschichtig- 
keit, welche  aus  einer  festen  Verbindung  zwischen 
den  einzelnen  Zellen  resultiert.  Und  es  fällt  auf, 
daß  alle  diese  Erscheinungen  nicht  nur  in  den 
verschiedenen  Gebieten  der  Epidermis  verschiedene 
Grade  der  Ausbildung  zeigen,  welche  der  Inten- 
sität der  dort  wirksamen  Insulte  entsprechen, 
sondern  daß  z.  B.  in  der  Mundhöhle  und  Speise- 
röhre, wo  die  Insultwirkung  eine  andere  und  die 
Austrocknung  eine  erheblich  geringere  ist,  weder 
die  Abplattung,  noch  die  Verhornung,  noch  die 
Anzahl  der  Zellschichten  denselben  Grad  erreicht. 
Eine  Ausnahme  machen  die  Papillen  der  Zunge 
mit  ihrer  starken  regionären  Verhornung,  welche 
aber  ebenfalls  als  P'olgen  funktioneller  Anpassung 
aufgefaßt  werden  können. 

Und  doch  entstehen  diese  Eigentümlichkeiten 
schon  während  des  intrauterinen  Lebens  und 
zeigen  schon  um  diese  Zeit  spezifische  Verschie- 
denheiten je  nach  ihrer  späteren  funktionellen 
Aufgabe  (Fußsohle  des  Menschen,  Schwielen  bei 
Phacochoerus). 

Ganz  ähnliche  Schlüsse  ergeben  sich  aus 
stammesgeschichtlichen  Betrachtungen. 

Wir  stellen  also  am  Beispiel  des  geschichteten 
Plattenepithels  eine  weitgehende  Parallelität  fest 
zwischen  rein  reaktiver  und  erblich  festliegender 
Gestaltungsfähigkeit  des  Organismus.  Ich  erinnere 
daran,  daß  eine  gleiche  Parallelität  sich  bei  der 
erwähnten  Ausbildung  des  Winterpelzes  ergeben 
hat.  Wir  ziehen  daraus  den  Schluß,  daß  diese 
beiden  F"ähigkeiten  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
eine  gemeinsame  Wurzel  haben.  Sie  stellen  zwei 
gleichgerichtete  Verwirklichungsmöglichkeiten  dar, 
welche  sich  mehr  graduell  als  prinzipiell  vonein- 
ander unterscheiden.  Es  erscheint  uns  in  hohem 
Maße  wahrscheinlich,  daß  der  erste  F"all  im  Laufe 
einer  mehr  oder  weniger  langen  Reihe  von  Gene- 
rationen fließend  in  den  zweiten  überzugehen  ver- 
mag, d.  h.  daß  im  Laufe  der  stammesgeschicht- 
lichcn  Entwicklung  aus  einer  Reaktionsfähigkeit 
auf  äußere  Reize  eine  scheinbar  automatisch  ab- 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


laufende  ontogenelische  Reaktion  werden  kann. 
Wie  dieser  Übergang  sich  vollziehen  mag,  ist 
noch  ein  Rätsel.  Es  wäre  etwa  an  eine  Ver- 
schiebung im  endokrinen  Gleichgewichtszustand 
zu  denken,  welcher  den  ganzen  Organismus,  also 
auch  die  Keimzellen,  betrifft,  eine  Verschiebung, 
welche  über  einen  Zustand  endokriner  Schwan- 
kungen hinweg  zu  einem  neuen,  mehr  oder  wenig 
konsolidierten  Gleichgewichtszustand  führt.  Daß 
Hormone  die  Wachstumsvorgänge  regulieren,  ist 
ja  bekannt. 

Meiner  Ansicht  nach  liegt  in  diesem  Problem 
auch  der  Schlüssel  zur  Erklärung  des  biogeneti- 
schen Grundgesetzes. 

Über  die  Folgen  einer  derartigen  „Induktion" 
der  Reaktionsfähigkeit  für  die  Erhaltung  der  Art 
lassen  sich  etwa  folgende  Überlegungen  anstellen: 

Ist  die  reaktive  Anpassungsfähigkeit  eines  Or- 
gans —  sagen  wir  des  geschichteten  Platten- 
epithels —  vollkommen  in  das  Erbgut  überge- 
gangen, also  zu  einer  endogenen  Reaktion  gewor- 
den, so  tritt  eine  gewisse  phylogenetische  Starr- 
heit der  Erscheinungsform  dieses  Organs  ein. 
Diese  Starrheit  kann  für  die  Art  möglicherweise 
letale  Folgen  haben,  weil  von  nun  an  eine  Um- 
gestaltung im  Sinne  eines  Abbaues  des  Differen- 
zierungsgrades, nur  noch  auf  dem  langfristigen 
Umweg  über  die  Selektion  möglich  ist.  Gleich- 
wohl kann  eine  Umdifferenzierung  in  anderer 
Richtung  noch  möglich  sein,  wenn  eine  in  dieser 
neuen  Richtung  führende  Reaktionsfähigkeit  vor- 
liegt, welche  ja  ihrerseits  nicht  ebenfalls  erschöpft 
zu  sein  braucht.  (Daß  eine  Erschöpfung  der  Re- 
aktionstüchtigkeit überhaupt  als  Begleiterscheinung 
des  individuellen  Seniums  eintritt,  ist  ja  bekannt 
und  sei  hier  in  Parenthese  erwähnt.) 

Eine  solche  „Starrheil"  als  Folge  totaler  In- 
duktion besteht  bei  unserem  Beispiel,  dem  Platten- 
epithel, nicht  (auch  nicht  im  Beispiel  des  Winter- 
pelzes). Wohl  liegt  die  regionär  spezifische  Er- 
scheinungsform des  Epithels  erblich  fest.  Aber 
es  besteht  noch  ein  Plus  von  Reaktionsfähigkeit: 
zwar  wird  die  Epidermis  der  Fußsohle  schon  em- 
bryonal dicker  angelegt  als  die  anderer  Regionen 
der  Körperoberfläche;  aber  schließlich  wird  sie 
auf  Grund  der  ihr  doch  noch  innewohnenden 
Reaktionsfähigkeit  bei  einem  mit  bloßen  Füßen 
gehenden  Bauernkind  wesentlich  derber  und  wider- 
standsfähiger sein  als  bei  einem  Stadtkind,  das 
nie  barfuß  gegangen  ist.  Auch  an  der  Speise- 
röhre des  Menschen  läßt  sich  beobachten,  daß 
ihr  Epithel  die  Fähigkeit  hat,  stark  zu  verhornen 
und  sogar  Papillen  zu  bilden,  welche  den  ,, faden- 
förmigen" Papillen  der  Zunge  ähnlich  sind,  eine 
Tatsache,  welche  auch  beim  Versuch  einer  ur- 
sprünglich funktionellen  Erklärung  des  Entstehens 
der  Zungenpapillen  Beachtung  verdient.  Ein 
weiteres  Beispiel  für  die  morphologische  Labilität 
der  Epidermis  sei  hier  noch  angeführt:  die  Epi- 
dermis in  der  Umgebung  eines  kurativ  angelegten 
Anus  praeternaturalis  an  der  unteren  Ileumschlinge 
zeigte  nach  12  Monaten  eine  von   der  Norm   ab- 


weichende Struktur.  „Das  Stratum  granulosum 
und  corneum"  (zwei  für  die  Epidermis  typische 
Schichten)  „sind  nicht  besonders  entwickelt.  Die 
Oberhaut  hat  sich  in  ihrem  Aussehen  derjenigen 
einer  Schleimhaut  genähert,  —  zu  fast  ähnlicher 
Gestalt  wie  die  Zona  intermedia  (Annulus  haemo- 
rrhoidalis)  der  Analregion.  Gleichzeitig  scheinen 
die  zugehörigen  Schweißdrüsen  sich  in  ihrem 
allgemeinen  Habitus  modifiziert  zu  haben,  wobei 
sie  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  zirkumanalen 

Drüsen    zeigen." „Die   offenbar   reichliche 

Sekretion  dieser  Drüsen  hat  wahrscheinlich  zu 
der  schleimhautähnlichen  Veränderung  der  Bauch- 
haut beigetragen"  (H  o  1  m  g  r  e  n ,  Anat.  Anz.  54.  Bd.) 
Der  andere  Milieureiz,  vermutlich  die  Durchfeuch- 
tung, hat  hier  also  die  spezifische  Gestaltung  der 
Epidermis  verändert. 

Ich  habe  versucht,  an  Hand  eines  Beispiels 
daraufhinzuweisen,  daß  es  doch  recht  einleuchtend 
ist,  die  Möglichkeit  erblicher  Fixierung  einer 
ursprünglichen  Reaktion  auf  äußeren  Reiz 
anzunehmen.  Beweisen  läßt  sich  die  Richtig- 
keit einer  solchen  Annahme  nicht,  wenig- 
stens nicht  im  Sinne  eines  mathematischen  Be- 
weises. 

Wenn  es  noch  nicht  gelungen  ist,  experimen- 
tell aus  einer  Reizreaktion,  einer  Modifikation, 
eine  „Erbeigenschaft"  zu  machen,  so  sagt  dies 
meiner  Ansicht  nach  nicht  eben  viel.  Denn  für 
unsere  menschlichen  Zeitbegriffe  mag  ein  phylo- 
genetischer Übergang  von  der  Reaktionsfähigkeit 
über  ein  ,, gemischtes"  Stadium  (und  vielleicht  auch 
ein  Stadium  des  gestörten  endokrinen  Gleichge- 
wichts) zur  erblichen  Fixierung  einer  Eigenschaft 
ein  außerordentlich  langsam  fließender  sein.  Man 
hat  sich  ja  längst  daran  gewöhnt,  im  Vorgang  der 
natürlichen  Artveränderung  ein  so  langsames  Ge- 
schehen zu  erblicken,  daß  die  Dauer  eines  Men- 
schenlebens eine  vergleichsweise  unbedeutende 
Zeitspanne  darstellt.  Stellen  wir  im  Experiment 
eine  —  vielleicht  pluripotente  —  Reaktionsfähig- 
keit fest  und  erzielen  wir  auch  nur  einen  geringen, 
schwankenden  Ansatz  zu  einer  erblichen  Fixierung 
der  Reaktion,  so  ist  damit  viel  gewonnen.  Es 
ist  ganz  willkürlich,  zu  verlangen,  daß  die  erb- 
liche Fixierung  als  sprunghafte  Alternative  zu- 
stande kommt.  Unter  diesem  Gesichtspunkt 
scheint  mir  manches  der  scheinbar  mit  Achsel- 
zucken ad  acta  gelegten  Experimente  durchaus 
diskutabel. 

III. 

Es  ist  jetzt  eine  weitere  Frage  zu  besprechen : 
Können  alle  erblichen  Eigenschaften  als  erblich 
fixierte  Milieureaktionen  aufgefaßt  werden?  — 
Diese  Frage  ist  ohne  Zweifel  mit  „nein"  zu  be- 
antworten; doch  wird  sich  aus  dem  Folgenden 
ergeben,  daß  die  Antwort  sehr  wesentlich  von 
der  Definition  des  Eigenschaftsbegriffes  abhängig  ist. 

Für  die  Genese  sehr  vieler  Eigenschaften  ist 
der  Begriff  der  funktionellen  Anpassung,  oder  — 
besser  und  zugleich  allgemeiner  gesagt  —  der 
Reizreaktion   anwendbar;    d.  h.    sie    können    ihre 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   i6 


tiefste  Ursache  haben  in  einer  zuerst  nicht  indu- 
zierten, später  vielleicht  induzierten  Reaktions- 
fähigkeit, welche  sowohl  in  nicht  induziertem,  wie 
in  induziertem  Zustande  dem  verstärkenden  Ein- 
fluß der  Selektion  unterworfen  ist.  F'ührt  man 
diesen  Gedankengang  konsequent  durch,  so  ge- 
langt man  zu  der  Anschauung,  daß  der  —  rein 
fiktive  —  Zustand  einer  pluripotenten,  richtungs- 
losen Reaktionsfähigkeit  auf  äußere  Reize  über- 
haupt die  stammesgeschichtlich  ursprünglichste 
Stufe  darstellt.  Ein  Beispiel  für  diese  Stufe  gibt 
es  nicht.  Einen  gewissen  „Annäherungswert" 
könnte  man  sich  etwa  in  der  Gestalt  einer  denk- 
bar einfachsten  Amöbe  vorstellen  (einen  nicht 
weniger  falschen  „Annäherungswert"  repräsentiert 
—  als  Beispiel  für  induzierte  Pluripotenz  —  die 
Geschlechtszelle  oder  undifferenzierte  Somazelle 
eines  Meiazoons).  Es  ist  nun  ohne  weiteres  klar, 
daß  schon  bei  den  Lebewesen  dieser  Stufe  die 
Reaktionsfähigkeit  individuell  verschieden  ist,  denn 
die  Art  und  Wertigkeit  ihrer  Konstitution  ist 
vom  Milieu  abhängig.  Schon  hier  kann  die  Selek- 
tion einsetzen,  indem  sie  die  reaktionstüchtigsten 
Individuen  bevorzugt.  Eine  bestimmte  Rich- 
tung kann  die  stammesgeschichtliche 
Weiterentwicklung  aber  erst  bekom- 
men auf  Grund  dauernder  Wirkung 
gleichartiger  Reize.  Dann  erst  kann 
auch  die  Selektion  immer  wieder  gleich- 
sinnig wirken.  Erst  so  kann  eine  Spezialisie- 
rung der  Organisation  erfolgen. 

Je  mehr  nun  die  spezifische  Reaktionsfähigkeit 
als  spezifi-.che  endogene  Reaktion  in  das  Erbgut  über- 
geht —  induziert  wird  — ,  um  so  prägnanter  wird 
die  Wirkung  der  Selt-ktion,  denn  um  so  größer 
wird  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  das  Znchtmaterial, 
welches  von  der  Selektion  erfaßt  wird,  auch  tat- 
sächlich seine  Wertigkeit  vererben  wird  und  nicht 
etwa  nur  besser  scheint,  weil  zufällig  ein  be- 
sonders starker  Reiz  eine  besonders  starke  Reak- 
tion ausgelöst  hat. 

Als  Folge  totaler  Induktion  muß  so  eine  Po- 
pulation oder  sonstige  Individuengruppe  entstehen, 
welche  in  bezug  auf  die  betreffende  Eigenschaft 
keine  individuelle  Reaktionsfähigkeit,  also  keine 
funktionelle  Anpassungsfähigkeit  mehr  besitzt. 
Dann  beherrscht  die  Selektion  allein  die  weitere 
Differenzierung  dieser  Eigenschaft.  Und  wenn 
diese  Eigenschaft  individuelle  Verschiedenheiten 
zeigt,  so  sind  dies  keinesfalls  Modifikationen  reak- 
tiver Art,  sondern  es  sind  Varianten  im  strengen 
Sinne  der  Vererbungslehre,  deren  Ursache  auf 
der  dem  Gesetz  des  Zufalls  folgenden  Verschieden- 
heit der  Kombination  der  Erbfaktoren  beruht. 
Selbstverständlich  hat  jedoch  dieses  Gesetz  nicht 
nur  im  extremen  I-'all  einer  totalen  Induktion 
Geltung,  sondern  spielt  schon  bei  den  ersten  An- 
fängen induktiver  Vorgänge  eine  Rolle.  Exakt 
faßbar  wird  es  aber  um  so  eher  sein,  je  vollstän- 
diger die  Induktion  ist,  je  größer  die  erbliche 
„Starrheil"  der  Eigenschaft. 

Es  kann  also  die  Summe  der  induzierten  An- 


lagen oder  Potenzen  als  das  Material  betrachtet 
werden,  welches  durch  Umgruppierung  zu  neuen 
Erscheinungsformen  führen  kann,  welche  selbst- 
verständlich   der   natürlichen  Auslese   unterstehen. 

Eine  gesonderte  Erwähnung  verdienen  alle 
jene  Eigentümlichkeiten  der  Organisation,  welche 
keinesfalls  als  induzierte  Reaktionen  (richtige  erb- 
liche Anlagen)  aufgefaßt  werden  können,  ebenso- 
wenig aber  als  nicht  induzierte  Folgen  irgend- 
welcher Reaktionsfähigkeit.  Ich  meine  die  Eigen- 
tümlichkeiten, welche  als  mechanisch  bedingte 
Begleit-  oder  Folgeerscheinungen  irgendwelcher 
Wachstumsvorgänge  zu  deuten  sind.  Hierher  ge- 
hört beispielsweise  die  Gestalt  der  Leber,  welche 
auch  Weidenreich  in  den  Kreis  seiner  Be- 
trachtung gezogen  hat.  Sie  ist  zweifellos  nur 
abhängig  von  den  räumlichen  Verhältnissen  in 
der  oberen  Bauchregion  und  für  die  Funktion 
nicht  von  Belang.  Die  Zahl  der  korrelativ  be- 
dingten Besonderheiten  der  Organisation  ist  sicher- 
lich enorm.  Man  denke  nur  etwa  an  die  Um- 
wege, welche  viele  Nerven  und  Blutgefäße  machen, 
um  zu  ihrem  Arbeitsgebiet  zu  gelangen.  Viele 
solcher  Fälle  lassen  sich  mühelos  entwicklungs- 
mechanisch erklären.  Ich  erinnere  an  die  letzten 
Gehirnnerven.  Auch  die  Streifen-  und  Flecken- 
zeichnungen des  Felles  bei  vielen  Säugetieren  mag 
hier  angeführt  werden ,  für  welche  ich  wahr- 
scheinlich machen  konnte,  daß  sie  mechanisch- 
korrelative Begleiterscheinungen  der  in  einer  be- 
stimmten Wachstumsphase  bestehenden  Zug-  und 
Druckverhältnisse  in  den  äußeren  Bedeckungen  sind. 

Hier  kann  also  von  einer  funktionellen  Be- 
wirkung  oder  Reaktion  nicht  gesprochen  werden. 
Daß  solche  Erscheinungen  „erblich"  sein  können, 
liegt  auf  der  Hand;  denn  sie  sind  es,  sobald  die 
Eigenschaften  erblich  sind,  deren  Folge-  oder 
Begleiterscheinungen  sie  sind.  Den  Namen  von 
Erbeigenschaften  verdienen  sie  nicht. 

Endokrin -korrelativ  bedingte  Erscheinungen 
mit  mechanisch  korrelativ  bedingten  ohne  weiteres 
gleichzusetzen,  geht  nicht  an;  eine  Kritik  findet 
hier  noch  keinen  Boden,  ehe  die  Beziehungen 
endokriner  Vorgänge  zum  Vereibungsgeschehen 
und  zum  Verwirklichungsgeschehen  besser  be- 
kannt sind. 

IV. 

Es  ist  vorhin  gesagt  worden,  daß  dauernd 
gleichartiger  Milieureiz  und  Selektion  eine  richtende 
Wirkung  auf  die  Veränderung  eines  Organs  — 
und  damit  eines  Organismus  —  haben  können. 
Es  bleibt  jetzt  noch  der  Fall  zu  erwägen,  daß  die 
Ansprüche  der  Umwelt,  also  auch  die  Mittel  zur 
Anpassung,  Reiz  und  Selektion,  eine  Veränderung 
erfahren. 

Es  wird  eine  Umdififerenzierung  erfolgen,  für 
welche  zwei  Hilfsmittel  zur  Verfügung  stehen, 
welche  entweder  getrennt  oder  in  graduell  ver- 
schiedener Kombination  in  Funktion  treten  wer- 
den, je  nach  den  gegebenen  Voraussetzungen. 

Das  erste  Mittel  ist  eine  spezifische  Reaktions- 
fähigkeit  auf  den   neuartigen  Reiz,    welche   trotz 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


223 


der  einseitigen  SpeziaHsierung  erhalten  geblieben 
sein  kann;  das  zweite  ist  die  Selektion,  weichein 
jenen  Fällen  als  einzige  Möglichkeit  übrig  bleibt, 
wo  infolge  einseitiger  Spezialisierung  die  Pluri- 
potenz  der  Reaktionsfähigkeit  verloren  gegangen  ist. 

Die  bisherige  Form  der  Spezialisierung  wird 
automatisch  nicht  mehr  erfolgen,  soweit  sie  den 
Charakter  einer  Reizreaktion  hatte;  sie  wird  all- 
mählich durch  negative  Auslese  reduziert  werden, 
soweit  sie  erblich  festlag  und  durch  Variabilität 
■  der  Selektion  Angriffspunkte  bietet.  So  vollzieht 
sich  an  dem  nicht  mehr  zweckmäßigen  Organ 
eine  regressive  Umgestaltung,  welche  entweder 
als  einfache  Reduktion  oder  Rudimentierung  oder 
als  Funkiionswechsel  in  Erscheinung  tritt. 

„F'unktionswechsel"  ist  ein  Begriff,  welcher  für 
ganz    verschiedenartige  Vorgänge  Anwendung    zu 


denke  an  die  Erhöhung  der  Variabilität  ver- 
schiedenster Art  als  Domestikationsfolge.  Doch 
scheint  mir  gerade  bei  der  Reduktion  von  an 
sich  noch  reaktionsfähigen  Eigenschaften  der  Weg- 
fall des  richtenden  Milieureizes  von  großer  Be- 
deutung zu  sein. 

Hierfür  spricht  meine  Beobachtung,')  daß  die 
funktionslosen  Rudimente  des  Brustschultergürtels 
der  Blindschleiche  eine  geradezu  enorme  asym- 
metrische Variabilität  zeigen  gegenüber  den  homo- 
logen Elementen  des  Brustschultergürtels  bei  einer 
gewandt  laufenden  Eidechse  (Lacerta  serpa),  ja 
sogar  gegenüber  jenen  einer  Erzschleiche,  bei 
welcher  die  Extremitäten  zwar  sehr  schwach  ent- 
wickelt,   aber    immerhin  noch  funktionsfähig  sind. 

Es  seien  hier  die  Variationskoeffizienten  der 
untersuchten  Knochen  zusammengestellt: 

Chal  cides 
tridactylus         Anguis  fragilis 


L 

ace 

rta  sei 

■pa 

(Erzschleiche) 

(Blindschleiche] 

Schlüsselbein 

4.3 

4.1 

8,6 

Episternum 

vorderer   Fortsatz 

12,9 

6.5 

fehlt  bei  42  <>/„ 

hinterer   Fortsatz 

7.7 

9,o 

25,9! 

Seitenforlsätze  (Durchschnitt) 

11,4 

4,7 

23,6! 

Stern 

um 

längs 
quer 

7.0 

7.8 

8,2 
6,7 

nicht  meßbar 
nicht  meßbar 

finden  pflegt.  Ein  Funktionswechsel  kann  da- 
durch vorgetäuscht  werden,  daß  ein  „Organ"  mit 
ursprünglich  mehreren  Funktionen  diese  teils  auf- 
gibt, teils  beibehält.  Die  bleibenden  Funktionen 
können  dabei  eine  sekundäre  quantitative  Steige- 
rung erfahren  (lymphatische  Funktion  des  Wurm- 
fortsatzes). Es  liegt  also  kein  Funktions Wechsel 
vor,  sondern  eine  F"unktionseinschränk  ung 
oder  Funktionsspezialisierung.  Der  regelrechte 
Funktionswechsel  fällt  unter  den  Begriff  der  „Um- 
differenzierung"  (Kiemenderivate).  Im  übrigen  ist 
gerade  hier  wieder  einmal  die  Ungenauigkeit  des 
Organbegriffs  besonders  störend. 

Was  die  echte  Rudimentierung  betrifft,  so  ist 
für  sie  ein  wirklich  eindeutiges  Beispiel  kaum  zu 
finden:  absolute  Funktionslosigkeit  ohne  irgend- 
welchen Funktionsreiz  und  ohne  positiven  Se- 
lektionswert. Eine  Selektion  muß  zwar  auch  in 
diesem  Falle  wirken;  aber  ihre  Wirkung  ist  re- 
gressiv und  betrifft  weniger  einen  bestimmt  ge- 
richteten Abbau  der  spezifischen  Struktur,  als 
einen  solchen  der  Masse,  welche  in  ihrer  Gesamt- 
heit als  lästiger  Fremdkörper  wirkt. 

So  stellt  sich  eine  merkwürdige  Erscheinung 
ein:  ein  asymmetrisches,  quantitatives  Schwanken 
der  Eigenschaft  bzw.  des  Organs,  eine  Form  der 
Variabilität,  welche  entweder  gar  keine  oder  eine 
regressive  Richtung  erkennen  läßt,  weil  kein 
Funktionsreiz  und  keine  positive  Selektion  sie 
mehr  richten  und  „bei  der  Stange  halten".  Das 
Bild  verlockt  zur  Anwendung  des  Vergleichs  mit 
einer    ohne   rechte  Ordnung    weichenden  Truppe. 

Es  ist  denkbar,  daß  der  Mangel  einer  positiven 
Selektion  allein  schon  eine  gewisse  Richtungs- 
losigkeit   der  Variabilität    mit   sich   bringt.     Man 


Noch  eindringlicher  sind  die  Beobachtungen 
nicht  meßbarer  Art.  Sie  ergeben  eine  stark  bi- 
laterale Asymmetrie  der  Teile  bei  der  Blindschleiche 
mit  Ausnahme  des  Schlüsselbeins,  welches  auch 
bei  ihr  noch  eine  besondere  funktionelle  Bedeu- 
tung hat.  Und  ebenso  läßt  sich  eine  starke 
Asymmetrie  bei  der  Erzschleiche  gerade  an  den 
hinteren  Teilen  des  Sternalapparates  feststellen, 
welche  zweifellos  in  ursächlichem  Zusammenhang 
steht  mit  der  Reduktion  der  Pars  posterior  des 
großen  Brustmuskels.^)  Bei  der  Eidechse  fällt  die 
ziemlich  straffe  Symmetrie  sogar  extremer  Vari- 
anten auf. 

Alles  in  allem  scheint  mir  aus  diesen  Be- 
obachtungen die  gestaltende  und  richtende  Be- 
deutung des  Funktionsreizes  zu  sprechen.  Es 
wäre  Straußenpolitik,  wenn  man  diese  Bedeutung 
ignorieren  würde  und  als  Gestaltungsursachen  nur 
irgendeine  primäre  Variabilität  und  die  Selektion 
betrachten  wollte. 

Die  wesentlichste  Absicht  dieser  Ausführungen 
war,  zu  zeigen,  wie  die  Begriffe,  welche  wir  den 
Vorgängen  der  Entwicklung  zugrunde  legen  oder 
—  besser  gesagt  —  welche  wir  auf  diese  Vor- 
gänge projizieren,  nirgends  scharf  begrenzbar  sind, 
sondern  einander  teilweise  überdecken  und  inein- 
andergreifen. 


')  Krieg,  Beiträge  zur  Rudimentierungsfrage  nach  Be- 
obachtungen an  Anguis  fragilis,  Chalcides  tridactylus  und 
Lacerta  serpa.     Arch.  f.   Entw.-Mech.  XLV.   Bd.,   1919. 

-)  Natürlich  sind  in  derartigem  Smne  nur  Asymmetrien 
zu  erklären  resp.  auszuwerten,  welche  das  Bild  einer  fluktu- 
ierenden Variabilität  zeigen.  Vgl.  Stieve:  Bilaterale  Asym- 
metrien im  Bau  des  menschlichen  Rumpfskelettes.  Zeitschr. 
f.  Anat.  u.  Entw.  I.  Abt.,  60.  Bd.,  Heft  1/2. 


224 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


Die  Vorgänge  in  der  lebenden  Natur  laufen 
zwangläufig  auf  allen  Wegen,  welche  Milieu  und 
eigene  Struktur  in  ihrer  tausendfältigen  Wechsel- 
wirkung zulassen  oder  vorschreiben. 

Die  Gegenstände  unserer  Forschung  richten 
sich  nicht  nach  unseren  Mitteln  der  Erkenntnis. 
Sondern  unsere  Erkenntnis  rankt  sich  an  ihnen 
empor  und  durchdringt  sie,  soweit  ihre  Mittel 
dazu  ausreichen.  Analogieschlüsse,  Hypothesen, 
Fiktionen  bilden  ihre  vorläufigen  Ergänzungen, 
und  diese  können  nur  schrittweise  durch  exakte 
Feststellungen  ersetzt  werden.  —  Dabei  sind 
F"ormulierungen  mit  klarer  Alternative  zwar  didak- 
tisch zweckmäßig  und  begrifflich  leichter  zu 
handhaben    als    solche    elastischer    und    unscharf 


begrenzter  Art.  Sie  werden  deshalb  leichter  zum 
Allgemeingut.  Aber  mehr  als  die  anderen  sind 
sie  Kunstprodukte. 

Freilich  können  wir  ohne  scharf  begrenzte 
Begrifife  und  Vorstellungen  nicht  auskommen;  die 
Organisation  unseres  Denkorgans  ist  dazu  nicht 
fein  genug.  Aber  wir  müssen  wenigstens  diese 
Kunstprodukte  als  solche  erkennen  und  jede 
Starrheit  auf  hypothetischem  Gebiet  zu  vermeiden 
suchen.  Diese  Tendenz  scheint  mir  in  der  mo- 
dernen Biologie  glücklicherweise  zu  bestehen  und 
einen  Ausdruck  zu  finden  in  der  mehr  quantita- 
tiven und  korrelativen  Fassung  der  Arbeitshypo- 
thesen in  der  Vererbungslehre,  Konstitutionslehre, 
Psychologie  und  Entwicklungsgeschichte. 


Einzelberichte. 


Eine   neue  Theorie   der   Elektroljtlösungen. 

Vor  rund  einem  halben  Jahrhundert  übertrug 
van'tHoff  die  Gesetze  des  Gasdruckes  auf  die 
osmotischen  Erscheinungen.  Er  fand,  daß  die 
Lösungen  von  Elektrolyten  einen  abnormen,  meist 
beträchtlich  höheren  Druck  besitzen  als  die 
Theorie  verlangt.  Für  Elektrolytlösungen  mußte 
die  bekannte  Zustandsgieichung  der  Gase  mit 
dem  berühmten  Faktor  i  versehen  in  der  F'orm 
PV  =  iRT  geschrieben  werden.  Arrhenius 
sprach  dann  den  Gedanken  aus,  daß  Elektrolyte 
in  Lösung  teilweise  „dissoziieren",  d.  h.  in  „Ionen" 
zerfallen.  Die  Anzahl  der  osmotisch  wirksamen 
Teilchen  war  damit  vergrößert,  und  der  Faktor  i 
bedeutete  nicht  mehr  eine  prinzipielle  Einschrän- 
kung der  van  t'Hoffschen  Gesetze.  Insbesondere 
Ostwald  hat  in  seinem  Verdünnungsgesetz 
dieser  Theorie  der  elektrolytischen  Dissoziation 
zu  ihrer  heute  allgemeinen  Anerkennung  ver- 
holfen.  Allerdings  galt  sein  Verdünnungsgesetz 
nur  für  schwache,  also  wenig  dissoziierte  Elektro- 
lyte. Die  starken,  zu  denen  aber  gerade  einige 
unserer  wichtigsten  Stoffe  gehören,  wie  Schwefel- 
und  Salzsäure,  viele  anorganische  Salze  usw., 
fügten  sich  dem  Gesetz  ganz  und  gar  nicht.  Seit- 
dem sind  eine  große  Reihe  von  Versuchen  ge- 
macht worden,  die  „Anomalie  der  starken  Elek- 
trolyte" zu  erklären.  Auch  die  nachstehend  wie- 
dergegebene Arbeit  geht  von  dieser  Anomalie 
aus,  überwindet  sie  aber  dadurch,  daß  sie  zum 
normalen  Zustand  und  nun  umgekehrt  die  ver- 
dünnten Lösungen  zu  Sonderfällen  gemacht  werden. 

Nach  J.  Chandra  Ghosh')  spaltet  sich 
jedes  Salz  bei  der  Auflösung  in  einem  beliebigen 
Lösungsmittel  völlig  in  Ionen.  Aber  die  Be- 
weglichkeit dieser  Ionen  ist  bedingt  durch  die 
elektrischen  Anziehungskräfte,  die  entgegengesetzt 
geladene  Ionen  aufeinander  ausüben.  Infolge- 
dessen   können    sich    die  Ionen    nicht    willkürlich 


')  Zeitschr.  f.  physikal.  Chemie  98,  S.  2Ii,   1921. 


bewegen,  sondern  die  Arbeit  A,  die  zur  völligen 
Trennung  eines  Mols  erforderlich  ist  und  die  mit 
der  Natur  des  Elektrolyten  wechselt,  bestimmt 
die  Beweglichkeit.  Die  Arbeit  A  ist  mithin  der 
grundlegende  Faktor  der  lonenbeweglichkeit  und 
damit  also  der  osmotischen  und  verwandten  Er- 
scheinungen. Sie  läßt  sich  als  ein  Potential  im 
Innern  der  Lösung  auffassen  und  durch  den 
Ausdruck 

A 

nRT 

e 

darstellen.  Andererseits  kann  man  die  absolute 
Größe  von  A  berechnen,  wenn  man  die  Größe 
der  Entfernung  zwischen  den  Ionen  eines  jeden 
Neutralteilchens,  von  Ghosh  „Dublett"  genannt, 
kennt.  Überträgt  man  die  aus  den  Lau  eschen 
Röntgenphotogrammen  gewonnenen  Vorstellungen 
auf  die  Lösungen,  so  ergibt  sich  als  wahrschein- 
lichste Anordnung  der  Ionen  die  eines  würfel- 
förmigen Raumgitters,  dessen  Ecken  von  ent- 
gegengesetzt geladenen  Ionen  besetzt  sind.  Als- 
dann   aber   ist    die  Entfernung    r  zwischen  diesen 

2N  ' 

wobei    N    die    Dublettenzahl ,    2  N    also    die    der 

Ionen  bedeutet.     V  ist  das  Volumen  der  Lösung, 

in    dem    ein    Mol    gelöst    ist.      Die    zur    völligen 

Trennung   der  Ionen  zu  leistende  Arbeit  ist  nach 

E^ 
bekanntem  Gesetz  ^i^  ,  wo  E  das  Elementarquan- 
Dr 

tum,  D  die  Dielektrizitätskonstante  des  Lösungs- 
mittels ist.  Nun  sind  N  Dubletten  vorhanden, 
die  zur  Trennung  aller  Ionen  nötige  Arbeit  A 
ist  mithin 

A       NE^ 

A  =  ^   • 
Dr 

Hierin  sind  nun  alle  Glieder  auf  der  rechten  Seite 
zu  errechnen,  man  bekommt  also  den  gesuchten 
A-Wert.  Ohne  weiteres  ist  zu  ersehen,  daß  er 
mit   steigender  Verdünnung    sinkt    und   sich  Null 


f- 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


225 


nähert,  der  Erfahrung  entsprechend.  Ganz  analog 
dieser  Ableitung  ist  diejenige  für  ternäre  Elektro- 
lyte,  wie  CdCI.,  und  andere. 

Die  Richtigkeit  dieser  Grundgleichung  und  da- 
mit der  gesamten  Theorie  läßt  sich  daran  prüfen, 
daß  ihre  Folgerungen  mit  der  Erfahrung  mög- 
lichst quantitativ  übereinstimmen.  Eine  Wieder- 
gabe aller  hierzu  nötigen  rechnerischen  Ableitungen, 
sowie  ein  Vergleich  der  gemessenen  und  be- 
rechneten Werte  verbietet  sich  hier.  ..Wir  be- 
gnügen uns  daher  mit  einer  qualitativen  Übersicht. 

Das  Gesetz  von  Ohm  gilt  bekanntlich  auch 
für  Elektrolyte.  Wir  sahen  bereits,  daß  A  bei 
unendlicher  Verdünnung  Null  ist.  Dann  aber 
leiten  alle  Ionen.  Die  molare  Leitfähigkeit  muß 
also  ihren  höchsten  Wert  erreichen.  Ein  Ver- 
gleich der  dazwischenliegenden  Werte  der  Leit- 
fähigkeit bei  endlichen  Verdünnungen  mit  den 
nachGhosh  berechneten  zeigt  vorzügliche  Über- 
einstimmungen ,  so  daß  in  der  Tat  die  Grund- 
gleichung allgemein  gilt  und  die  bei  der  bis- 
herigen Form  der  Theorie  auftretenden  Ano- 
malien in  Wegfall  komme'n.  Ferner  nimmt  mit 
steigender  Temperatur  die  Dielektrizitätskonstante 
des  Wassers  ab.  Dementsprechend  muß  auch  A 
abnehmen.  Gleichzeitig  aber  nimmt  die  kine- 
tische Energie  mit  der  Temperatur  zu,  was  eine 
Vergrößerung  von  A  zur  Folge  haben  muß.  Die 
Resultante  aus  beiden  Einflüssen  muß  eine  gelinde 
Abnahme  des  Dissoziationsgrades  mit  wachsen- 
der Temperatur  sein,  was  die  Messungen  von 
Noyes')  in  der  Tat  ergaben. 

Nernst  sprach  zuerst  den  Gedanken  aus,  daß 
die  Dielektrizitätskonstante  eines  Lösungsmittels 
sein  Dissoziationsvermögen  bedinge.  Nach  der 
Grundgleichung  ist  in  der  Tat  die  Dielektrizitäts- 
konstante die  einzige  Eigenschaft  des  Lösungs- 
mittels, die  den  Wert  von  A,  also  die  Dis- 
soziationsgröße bestimmt.  Wiederum  zeigt  sich 
beste  Übereinstimmung  zwischen  Erfahrung  und 
JVIessung.  Gleichzeitig  aber  konnte  gefolgert 
werden,  was  auch  von  anderer  Seite  schon  ge- 
schehen ist,  daß  ein  anscheinend  binärer  Elektrolyt 
wie  Tetraäthylammoniumjodid  N(C2H5)jJ  sich  zu- 
nächst zum  Doppelmolekül  polymerisierl  und  dann 
nach  dem  Schema 

[N(CH,)J],  =  2N(C,H,)/  +  J,' 
dissoziiert. 

Endlich  gestattet  die  neue  Theorie  eine  Ab- 
leitung für  das  oben  erwähnte  Verdünnungsgesetz 
O  s  t  w  a  1  d  s.  Nach  diesem  gilt  für  schwache 
Elektrolyte  die  Gleichung 


(I  — a)V 

Hierin  ist  ß  der  dissoziierte  Anteil,  (i  — «)  also 
das  Nichtdissoziierte,  V  die  Verdünnung.  Nach 
Ghosh  hat  man  nun  für  schwache  Elektrolyte 
ein  Gleichgewicht  zwischen  einer  nichtpolaren, 
undissoziierbaren  Form  des  Elektrolyten  (das  sog. 


')  Zeitschr.  f.  pbysikal.  Chemie  46,  S.  323,   1903. 


Dublett)  und  einer  polaren,  völlig  dissoziierten 
Form  anzunehmen.  Zwar  bleibt  dann  in  Ost- 
walds Gleichung  (i  — «)  bestehen,  denn  es  be- 
deutet nunmehr  die  Konzentration  der  nichtpolaren 
Form.  Dagegen  tritt  zu  ic  ein  Koeffizient  x,  der 
den  Dissoziationsgrad,  besser  den  „Aktivitätskoef- 
fizienten" der  völlig  dissoziierten  Ionen  bei  der 
V.erdünnung  V  ausdrückt.  Die  Gleichung  für  das  Ver- 

dünnungsgesetz  wird  also  nunmehr:    .  ^  r^^is.. 

Für  sehr  schwache  Säuren  ist  x,  also  auch  ^  sehr 

klein,  kann  also  vernachlässigt  werden,  so  daß  a 
für  alle  Verdünnungen  fast  gleich  i  wird,  was 
Übereinstimmung  mit  der  Ostwald  sehen  Form 
des  Gesetzes  bedeutet.  Für  mittlere  und  starke 
Elektrolyte  aber  ist  der  Faktor  x  zu  berück- 
sichtigen. Wiederum  muß  gesagt  werden,  daß 
Ghosh  eine  Rechnung  gelingt,  die  wirklich  auch 
für  stärkste  Säuren  K-Werte  ergibt.  Damit  ist 
denn  zum  ersten  Male  die  sog.  Anomalie  der 
starken  Elektrolyte  dem  allgemeinen  Prinzip  der 
Dissoziationstheorie  untergeordnet  worden. 

Wenn,  was  wahrscheinlich  genannt  werden 
muß,  die  hypothetische  Voraussetzung  der  ange- 
deuteten Theorie,  nämlich  die  durch  den  Wert  A 
ausgedrückten  Verhältnisse  experimentell  erhärtet 
werden  können,  so  stellen  die  Ausführungen  von 
Ghosh  in  der  Tat  einen  bedeutenden  Fortschritt 
in  der  Theorie  der  elektrolytischen  Dissoziation 
dar.  H.  Heller. 

Parasiten  in  Bakterien? 

Der  französische  Bakteriologe  F.  d'Herelle 
hat  im  Jahre  1917  in  den  Compt.  rend.  de  la 
societe  des  sciences  (lO,  XI)  erstmalig  Mitteilung 
von  ganz  merkwürdigen  Beobachtungen  gemacht, 
die  weiterhin  fortgesetzt  und  auch  neuerdings  im 
Institut  für  Infektionskrankheiten  zu  Berlin  mit 
dem  Erfolg  nachgeprüft  worden  sind,  daß  an  den 
wesentlichsten  Tatsachen,  so  eigenartig  sie  auch 
zu  sein  schienen,  kaum  noch  gezweifelt  werden 
kann.  Obwohl  sich  naturgemäß  hauptsächlich 
die  medizinische  Bakteriologie  für  die  Entdeckungen 
d' Her  eil  es  interessiert,  haben  sie  doch  eine  all- 
gemein naturwissenschaftliche  Bedeutung,  so  daß 
sich  ein  kurzer  Bericht  rechtfertigen  würde.  Wir 
schließen  ihn  an  eine  Darstellung,  die  d'Herelle 
selber  in  der  Presse  medicale  (Nr.  47,  1921)  ge- 
liefert hat,  und  die  ausführlich  in  der  Zeitschrift 
für  ärztliche  Fortbildung  (18.  Jahrg.,  Nr.  23,  1921) 
wiedergegeben  ist.  Die  Beobachtungen  wurden 
an  Ruhrbazillen  gemacht.  Die  Ausleerungen 
eines  Ruhrkranken  wurden  in  Bouillon  aufge- 
schwemmt, worauf  diese  Emulsion  durch  ein 
bakteriendichtes  Filter  (und  zwar  eine  Porzellan- 
kerze) filtriert  wurde.  Von  diesem  Filtrat  wurden 
10  Tropfen  einer  dicht  durchwachsenen  Rein- 
kultur des  Ruhrbazillus  in  Bouillon  hinzugesetzt. 
Nach  12  Stunden  war  diese  vorher  naturgemäß 
stark    getrübte    Kulturflüssigkeit    vollständig    klar 


226 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


geworden,  alle  darin  befindlichen  Bakterien  waren 
vollständig  zerfallen  und  aufgelöst.  Das  wäre 
nach  dem,  was  man  von  spezifischen  Bakterien- 
lysinen  weiß,  noch  nicht  wunderbar.  Merkwürdig 
ist  nun  aber  das  folgende.  Wird  ein  Tropfen 
dieser  aufgelösten  Kultur  einer  neuen  Ruhrbazillen- 
kultur hinzugesetzt,  so  wird  diese  ebenso  wie 
jene  klar,  d.  h.  die  Bakterien  werden  in  ihr  auf- 
gelöst. Impft  man  von  dieser  Flüssigkeit  wieder 
eine  Spur  in  eine  neue  Kultur,  so  wird  sie  eben- 
falls klar,  und  diese  Überimpfung  kann  man  von 
Gläschen  zu  Gläschen  mit  immer  gleichem  Er- 
folge fortsetzen.  Diese  unbegrenzte  Weiterimpf- 
barkeit  schließt  den  Gedanken  aus,  daß  etwa  die 
ursprüngliche  Impfmenge  noch  nachwirke,  man 
muß  vielmehr  annehmen,  daß  das  lytisch  wirkende 
Agens  sich  vermehrt  hat.  Vermehrungsfähigkeit 
ist  bislang  nur  lebenden  Organismen  zugeschrieben, 
und  d' Her  eile  zögert  denn  auch  nicht,  als  Ur- 
sache der  Auflösung  der  Ruhrbazillen  ein  Klein- 
lebewesen anzusprechen,  das,  da  es  durch  ein 
Porzellanfilter  hindurchgeht,  zu  den  uliravisiblen 
Mikroben  gehören  müsse.  Ein  unsichtbarer  Parasit 
befällt  die  Ruhrbazillen  und  vernichtet  sie.  Die 
Wirkung  des  von  d' Her  eile  als  bakteriophages 
Virus  bezeichneten  Impfstoffes  zeigt  sich  auch  auf 
Plattenkulturen.  Wird  auf  einer  Ägarplatte  etwas 
Flüssigkeit  aus  einer  Ruhrbazillenkultur  ausge- 
strichen, so  entsteht  der  übliche  dichte  Bakterien- 
rasen. Wird  aber  der  Reinkultur  etwas  von  dem 
lytischen  Agens  hinzugefügt,  und  werden  dann 
von  ihr  in  gewissen  Zeitabständen  Plattenausstriche 
gemacht,  so  zeigen  sich  von  einem  bestimmten 
Alter  der  infizierten  Ausgangskultur  an  die  Aus- 
striche als  von  leeren  Flecken  durchsetzt,  und 
schließlich  ergibt  ein  Ausstrich  überhaupt  keine 
Rasen  mehr.  Die  leeren  Flecke  sollen  nun  nach 
d' Herelle  Kolonien  des  Bakterienfressers  sein, 
die  mit  dem  Ausstrich  hierher  gepflanzt  sich  ver- 
mehrten und  die  Bakterien  aufzehrten.  Diese 
erstaunliche  Wirkung  soll  sich  nicht  nur  den  Ruhr- 
bazillen gegenüber  zeigen,  sondern  gegenüber 
zahlreichen  anderen  Bakterien,  z.  B.  Typhus-, 
Paratyphus-,  Pestbakterien  u.  a.  Das  Virus  soll 
sich  im  Darm  sehr  verschiedener  Tiere,  vom  Men- 
schen bis  zur  Seidenraupe,  finden.  Es  ist  ein 
obligater  Parasit.  Denn  wenn  das  Filtrat  in  un- 
bewachsene Bouillonröhrch'en  sukzessive  übertragen 
wird,  so  nimmt  seine  Wirkung  sehr  schnell  ab. 
Auch  müssen  die  Bakterien,  die  das  Virus  ver- 
nichtet, lebend  sein,  tote  Bazillenaufschwemmungen 
werden  nicht  aufgelöst.  Eine  Vermehrung  des 
Virus  findet  also  nur  in  Berührung  mit  lebenden 
Bakterien  statt.  Nun  weisen  aber  spätere  Be- 
funde, wie  wir  einem  Sammelbericht  von  U.  Friede- 
mann in  den  „Naturwissenschaften"  (S.  1012, 
9.  Jahrg.,  192 1)  entnehmen,  auch  auf  andere  Er- 
klärungsmöglichkeiten hin.  Das  Virus  soll  ein 
fermentartiger  Körper  sein.  Es  soll  nämlich  ziem- 
lich resistent  gegen  Erwärmung  und  Antiseptica 
sein,  und  Bordct  und  Mitarbeiter  fanden,  daß  auch 
in  der  vorher  doch  sterilen  Bauchhöhle  eines  Ver- 


suchstieres sich  dann  ein  wie  oben  vermehrungs- 
fähiges Virus  entwickelte,  wenn  vorher  Kolibazilien 
eingespritzt  worden  waren.  Bord  et  stellt  sich 
demgemäß  die  Vorgänge  folgendermaßen  vor. 
Das  Tier  scheidet,  wie  das  ja  durch  andere  Be- 
obachtungen längst  erwiesen  ist,  ein  gegen  die 
eingeführten  Bakterien  gerichtetes  spezifisches 
Vernichtungsmittel  ab,  eine  Art  Ferment.  Dieses 
aber  veranlaßt  im  Kontakt  mit  lebenden  Bakterien 
diese  letzteren  zur  Produktion  des  gleichen  Fer- 
mentes, so  daß  dessen  Menge  immer  wieder  an- 
wächst. Es  sollen  nämlich  immer  einzelne  Indi- 
viduen dem  Auflösungsprozeß  entgehen,  da  sie 
gegen  das  Ferment  immun  geworden  sind,  gleich- 
wohl aber  in  der  induzierten  F'ermentproduktion 
fortfahren.  Sobald  solche  Trotzer  der  Bakterien- 
aufschwemmung zugefügt  werden,  lösen  sie  diese 
auf.  Man  kann  nicht  sagen,  daß  dadurch  der 
Vorgang  völlig  klar  wird,  ebensowenig  wie  man 
die  Auffassung  d'Herelles  selber  schon  als  be- 
friedigend ansehen  kann.  Miehe. 

Zur  Relativitätstheorie. 

Einstein  gründet  seine  etwas  kühnen  Ideen 
über  die  Abhängigkeit  der  Zeit  von  der  Be- 
wegung im  Räume  bekanntlich  auf  angebliche 
Widersprüche  in  den  optischen  Experimenten, 
die  mit  dem  Vorhandensein  eines  substanüellen 
Äthers  unvereinbar  sein  und  die  Relativität  von 
Raum  und  Zeit  zur  „unabweisbaren  Konsequenz" 
haben  sollen.  Demgegenüber  weist  der  bekannte 
Optiker  Prof.  Strehl  in  Hof  im  Anschluß  an  die 
auch  von  mir  vertretene  Ätherwirbeltheorie  in 
der  „Zentralzeitung  für  Optik  und  Mechanik" 
(42.  Jg.,  S.  377)  darauf  hin,  daß  die  optischen 
Versuche  sich  offenbar  gar  nicht  widersprechen, 
wie  allgemein  behauptet  wird,  sondern  sich  viel- 
mehr zu  einem  klaren  Bilde  vom  Bewegungszu- 
stande des  Äthers  ergänzen.  Strehl  schreibt: 
„Der  Äther  im  Weltenraum  als  Ganzes  ruht 
(Aberration  der  Fixsterne).  —  Bewegte  Sonnen 
(spektroskopische  Doppelsterne)  und  Planeten 
(Mich  elson)  nehmen  den  Oberflächenäther  mit 
(die  Wellenlänge  bleibt  invariant;  die  Lichtge- 
schwindigkeit in  bezug  auf  den  mitbewegten 
Äther  c,  in  bezug  auf  den  ruhenden  Raum  c-j-a; 
beim  Übergang  in  den  ruhenden  Weltäther  ändert 
sich  die  Wellenlänge  und  wird  die  Lichtge- 
schwindigkeit c).  —  Bewegtes  Gas,  Wasser  u.  dgl. 
nehmen  den  Zwischenäther  verzögert  mit  (Fizeau). 
—  Bewegte  Luft  oder  leere  Zwischenräume  nehmen 
den  Äther  gar  nicht  mit  (Sagnac,  d.  i.  Versuch 
mit  kreisförmigem  Lichtweg  und  schneller  Rotation); 
bewegte  irdische  Lichtquellen  nur  in  ganz  dünner 
Schicht  (vgl.  spektr.  Doppclsterne).  Vermögen 
diese  annehmbaren  Vorschläge  das  Rätsel  nicht 
zu  lösen?"  Die  angeblichen  Widersprüche  in  den 
optischen  Versuchen,  auf  denen  Einstein  seine 
selbst  in  sich  höchst  widerspruchsvolle  Theorie 
aufgebaut  hat,  existieren  offenbar  nur  in  der 
Phantasie  einiger  Theoretiker.     Bei   der  lebhaften 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


227 


Diskussion  über  Einsteins  Theorie  scheint  mir 
dieser  Punkt  viel  wichtiger  als  die  philosophischen 
Streitigkeiten  über  relativ  und  absolut,  die  mit 
den  Experimenten  nur  in  einem  sehr  lockeren 
Zusammenhange  stehen  und  von  Einstein  sozu- 
sagen an  den  Haaren  herbeigezogen  sind. 

Fricke. 


Zum  psyclio-inkretorischen  Parallelisinus. 

Im  folgenden  sei  über  zwei  Mitteilungen  be- 
richtet, die  beide  auf  einen  Zusammenhang 
zwischen  Psyche  und  Inkretion  eingehen,  wenn 
auch  der  Ausgangspunkt  der  in  den  beiden  Ar- 
beiten geschilderten  Untersuchungen  ein  ver- 
schiedener ist. 

Der  Verf.  der  vortrefflichen  Einführung  in 
„Die  innere  Sekretion"  (Springer,  1921)  A.  Weil 
teilt  in  der  Deutschen  medizinischen  Wochen- 
schrift (Nr.  6,  48.  Jahrg.,  1922)  über  die  Be- 
ziehung zwischen  Geschlechtstrieb  und 
innerer  Sekretion  neue  Beobachtungen  mit. 
Aus  den  bisherigen  klinischen  Erfahrungen  ist 
zu  ersehen,  daß  ein  auffälliger  Zusammenhang 
zwischen  den  Keimdrüsen  und  den  Körperpro- 
portionen besteht.  Zunächst  ist  für  Eunuchoide, 
also  für  solche  Menschen,  deren  Keimdrüsen  unter- 
entwickelt sind  und  nur  geringen  inkretorischen 
Einfluß  auf  den  Körper  ausüben.  Hochwuchs 
charakteristisch.  Vor  allem  aber  weichen  die 
Körperproportionen  von  solchen  normaler  Per- 
sonen ab.  Während  in  der  Regel  das  Verhältnis 
von  Ober-  zu  Unterlänge  100:100  (bei  Frauen 
100:96)  ist,  besteht  bei  Eunuchen  oder  Eunucho- 
iden das  Verhältnis  von  etwa  100:  125.  Hier 
scheinen  die  wachstumfördernden  Drüsen  (Schild- 
drüse, Hypophysis,  Thymus)  besonders  stark  ent- 
wickelt zu  sein;  sie  wirken  zugleich  hemmend 
auf  die  Ausbildung  der  Keimdrü-^en,  die  ihrer- 
seits nur  einen  mangelhaften  Einfluß  auf  die  Ent- 
wicklung der  sekundären  Geschlechtscharaktere 
ausüben  können.  Weil  teilt  zwei  Fälle  mit,  die 
die  bisherigen  Erfahrungen  erneut  bestätigen.  Es 
handelt  sich  um  einen  weiblichen  Eunuchen  und 
einen  männlichen  Eunuchoiden.  Weil  ging  bei 
seinen  Untersuchungen  vor  allem  auf  den  psy- 
chischen Zustand  der  Personen  ein  und  stellte 
fest,  daß  in  dem  einen  Fall  jeder  Geschlechtstrieb 
fehlte,  im  anderen  Fall  nur  schwache  sexuelle 
Empfindungen  vorübergehend  vorhanden  waren. 
Im  ersten  Fall  waren  die  Längenproportionen 
100:121,  im  zweiten  Fall  100:112.  Diese  neuen 
Feststellungen  bestärken  Weil  in  der  Ansicht, 
daß  aus  d  en  Körperproport  ionen  aufdie 
Stärke  und  Richtung  des  Geschlechts- 
triebes zu  schließen  sei  und  daß  ein  Längen- 
verhältnis über  100:105  hinaus  stets  mit  einem 
von  der  Norm  abweichenden  Geschlechtstrieb  ver- 
bunden sei.  Die  Hirschf eldsche  Anschauung 
vom  psycho  -  inkretorischen  Parallelismus  findet 
also  hier  eine  erneute  Bestätigung.  Abgesehen 
vom   Geschlechtstrieb,    handelte    es   sich  in   den 


beiden  vorliegenden  Fällen  um  vollkommen  nor- 
male Charaktere. 

Über  den  Zusammenhang  zwischen  psychi- 
schen Erkrankungen  und  Inkretion  teilen 
A.  P'auser  und  E.  Heddaeus  Befunde  in  der 
Klinischen  Wochenschrift  mit  (Nr.  8,  i.  Jahrg., 
1922),  Sie  untersuchten  bei  25  Geisteskranken 
die  endokrinen  Drüsen  histologisch.  Dabei 
stellten  sie  häufig  strumöse  Entartung  der  Schild- 
drüse fest,  ferner  Altersveränderungen  an  der 
Nebenniere  und  schließlich  Basophilie  des  Vorder- 
lappens der  Hypophysis.  Dagegen  waren  Keim- 
drüsen, Thymus  und  Epiphysis  stets  unverändert. 
Die  Verf  vermuten,  daß  neben  den  (verhältnis- 
mäßig wenigen)  histologischen  Veränderungen 
„chemisch-physikalische  Zustandsände- 
rungen"  in  Betracht  kommen.  Es  würden  sich 
aus  diesen  ursprünglichen  Veränderungen  die  be- 
obachteten histologischen  Abweichungen  erst 
später  entwickeln.  Vorerst  sind  aber  umfassendere 
Untersuchungen  abzuwarten.         Gust.  Zeuner. 

Die  Bedeutung  der  Linaceen 
für  die  Systematik. 

Hall  i er  gehört  zu  den  besten  Kennern  des 
Pflanzensystems;  manche  seiner  Reformideen  haben 
sich  schon  Anerkennung  errungen,  viele  werden 
sich  noch  Bahn  brechen.  Wie  die  meisten  seiner 
Arbeiten,  so  ist  auch  die  kürzlich  erschienene 
über  die  Linaceen  ^)  nicht  zu  „lesen",  sie  muß 
langsam  studiert  und  verarbeitet  werden ,  da  sie 
mit  einer  Fülle  von  Einzelangaben  geladen  ist. 
Dadurch,  daß  die  madagassische  Gattung  Astcro- 
pcia  trotz  ihrer  in  jedem  Fruchtknotenfach  noch 
zahlreichen  Samenanlagen  von  den  Ternstroemia- 
cccn  zu  den  Linaceen,  als  nahe  Verwandte  der 
H//goiueeii-Ga.\.\ux\^cn  Diirandea  und  PJiilboriiea, 
versetzt  wird,  fällt  ein  einschränkendes  Unter- 
scheidungsmerkmal der  letzten  F"ami!ie  weg:  daß 
die  Zahl  der  Samenanlagen  in  jedem  Fruchtknoten- 
fach höchstens  2  beträgt.  Durch  diese  Verände- 
rung des  Familiencharakters  wird  es  möglich  und 
durch  andere  Merkmale  notwendig,  noch  zahl- 
reiche andere  Gattungen  und  Familien  zu  den 
Linaceen  zu  versetzen,  darunter  6.\t  Ancisfrocladiis 
eng  verwandten  Symploeaceeii  und  die  Brexieeii. 
Daraus  ergibt  sich  die  Anschauung,  daß  viel  mehr 
Familien  als  bisher  auf  ausgestorbene  Linaceoi 
zurückzuführen  sind,  z.  B.  Violaceen,  Flacourtia- 
ceen ,  R/ianinaceen,  Ampelidaceen,  Columniferen 
(-j-  Dipterocarfaceeii  und  Enplwrbiaceen) ,  Thy- 
melaeineen  (+  Gonostylaceen) ,  Myrtinen^  Poly- 
galinen  (-\-  Llalpighiaceeu  und  Clirysobalaiiaceen), 
Giiitalcn  (-f-  Nepeiithalcn.  Ebenaceeu,  Caryocara- 
eceii,  Ciinon'taceeii,  Rhizopltoraceeii)^  Pritnulinen, 
Biconics,  Santalalen  (-(-  Styracaceen,  Celastralen, 
Umbellifloren),  Sapotaceen,  Tubiflorcn  (-{-  Con- 
torteii,  Rubiaceeii,  Personateit),  Caprialeii,  Loasa- 

')  Hans  Hallier,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Linaceen 
(DC.  1819)  Dumort.  (Beihefte  z.  Botan.  CentralbiaU,  Bd.  39, 
2.  Abt.,  1921,  178  S.) 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i6 


ceen,  Campamdaten ,  Caryophyllinen  usw.  Die 
Linaceen  sind  danach  ein  „genetisches 
Explosionszentru m",  aus  dem  sich  zahlreiche 
Familien  und  Reihen  der  Dikotylen  nach  allen 
Seiten  entwickelt  haben.  Dieses  Ergebnis  be- 
deutet eine  Fortführung  der  Ansichten,  die  Hallier 
schon  in  seinem  Buch  über  Jidiania  (1908)  ge- 
äußert hatte.  Ein  Eingehen  auf  weitere  Einzel- 
heiten der  Arbeit  wird  durch  ihre  konzentrierte 
Tatsachenhäufung  unmöglich  gemacht.  Erwähnt 
sei  nur,  daß  einer  großen  Reihe  von  Gattungen 
und  Familien  „incertae  sedis"  ihr  Platz  ange- 
wiesen, und  daß  die  Verbreitung  von  Alaun  bei 
den  Dikotylen  in  weitgehendem  Umfange  festge- 
stellt wird.  Sieben  neue  Gattungen,  eine  Anzahl 
neuer  Sektionen  und  Arten  werden  aufgestellt.  — 
Über  einige  sprachliche  Auseinandersetzungen 
kann  ich  kein  Urteil  lallen.  Aber  wenn  auch 
diese  Ausführungen  ebenso  wie  einige  gelegent- 
liche über  Nebenwirkungen  bei  der  Befruchtung, 
die  mit  dem  Hauptthema  nur  in  ganz  losem  Zu- 
sammenhange stehen,  den  Sachverständigen  un- 
annehmbar erschienen ,  würde  man  dem  großen 
systematischen  Hauptthema  nicht  gerecht  werden, 
wenn  man  seine  Beurteilung  von  diesen  Dingen 
beeinflussen  lassen  wollte. 

Eine  allgemeinere  Bemerkung  sei  hier  noch 
gestattet.  An  mehreren,  für  meinen  Geschmack 
etwas  zu  persönlich  gehaltenen  Stellen  der  Schrift 
erkennt  man  den  Gegensatz  zwischen  dem  Verf. 
und  Engler  samt  seiner  Schule.  Hallier  ist 
gewiß  manchmal  auch  von  seinen  Gegnern  nicht 
allzu  sanft  angefaßt  worden;  aber  er  ist  so  ver- 
dient um  seine  Wissenschaft,  daß  er  Empfindlich- 
keit nicht  nötig  hat.  Für  das  sachliche  Verhalten 
der  Berliner  Systematiker  Schule,  besonders  ihres 
Hauptes  Engler,  kann  man  doch  gewisse  psycho- 
logische Gründe  gelten  lassen:  Englers  zahl- 
reiche systematische  und  pflanzengeographische, 
von  den  Botanikern  der  ganzen  Welt  benutzte 
Arbeiten     sind     auf     das    von     ihm    ausgebaute 


Eichlersche  System  gegründet,  so  daß  ein  vom 
wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  vielleicht  etwas 
starr  erscheinendes  Festhalten  an  diesem  System 
vom  praktischen  Gesichtspunkt  gerechtfertigt  er- 
scheint. Wenn  jetzt  in  den  nächsten  Jahren  die 
„Natürlichen  Pflanzenfamilien"  neu  aufgelegt  wer- 
den, könnte  man  freilich  den  Zeitpunkt  für  ge- 
kommen halten,  die  wissenschaftlichen  Motive  vor 
die  praktischen  zu  stellen.  Aber  ich  halte  es  doch 
für  fraglich,  ob  selbst  Hallier  es  unternehmen 
könnte,  für  ein  solches  Handbuch  der  Systematik 
ein  neues,  bis  ins  einzelne  ausgeführtes  Schema 
zu  entwerfen,  das  die  Zustimmung  der  Mehrzahl 
der  Systematiker  fände.  Dazu  sind  die  meisten 
Fragen  noch  zu  sehr  im  Fluß.  Auch  schei- 
nen sich  die  Grenzen  der  großen  Gruppen  der 
Angiospermen  durch  Hai  Hers  Untersuchungen 
so  zu  verwischen,  daß  das  Halliersche  System 
einem  praktischen  Handbuch  der  Angiospermen- 
systematik nur  schwer  zugrunde  gelegt  werden 
kann.  Was  man  verlangen  könnte  und  müßte, 
wäre,  daß  in  den  Abschnitten  über  die  verwandt- 
schaftlichen Verhältnisse  d^r  Familien  und  un- 
sicheren Gattungen  die  vom  Eichler-Engler- 
schen  System  abweichenden  Anschauungen  mit 
den  für  sie  vorgebrachten  Gründen  ausführlich 
dargestellt  würden.  Damit  wäre  beiden  Stand- 
punkten so  Genüge  geschehen,  wie  es  bei  der 
heute  noch  herrschenden  Meinungsverschiedenheit 
in  außerordentlich  zahlreichen  systematischen 
Fragen  möglich  ist.  Auch  wäre  es  sehr  erwünscht, 
daß  in  den  allgemeinen  Beschreibungen  der  Fa- 
milien die  Knospenlage  der  Blätter,  der  Bau  der 
Pollenkörner  und  Samenschalen  und,  einer  von 
Warming  1913  gegebenen  Anregung  gemäß, 
Stellung  und  Bau  der  Samenanlagen  noch  mehr 
als  in  der  i.  Auflage  berücksichtigt  würden; 
ebenso  die  in  den  Pflanzen  enthaltenen,  systema- 
tisch oft  wohl  nicht  bedeutungslosen,  chemischen 
Stoffe.  Hubert  Winkler. 


BücherbesprechungcD. 


Abel,  O.,  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt 
der  Vorzeit.    643  S.  -507  Abb.     i  färb.  Titel- 
bild.    Jena    1922,    G.   Fischer.     Geh.    120   M., 
geb.   150  M. 
Dem  z.  Z.  wohl  fruchtbarsten  paläontologischen 
Autor  verdanken  wir  abermals  ein  umfangreiches 
Werk  von  eigenartigem  Gepräge.    Den  toten  und 
oft    für    einen    ungeübten  Blick    kaum    als   solche 
erkennbaren     Zeugen     vorweltlicher    Organismen 
den  Odem  des  Lebens  einzuhauchen,    statt  sie  in 
den  Schubfächern  eines  klassifizierenden  Schemas 
vollends   erstarren    und  verstauben    zu    lassen,    ist 
dem  Schöpfer  des  Paläobiologischen  Lehrapparats 
in  Wien  eine  ausgesprochene  Lebensaufgabe.    Alle 
Deutung    geht    über   die  Grenzen  des  bloßen  Be- 
obachtens  hinaus  und  so  ist  wohlverstandene  Natur- 


wissenschaft ohne  Mitarbeit  schöpferischer  Phan- 
tasie nicht  möglich,  berührt  sich  also  bei  anderer 
Erfahrungsgrundlage  und  abweichender  Schwer- 
gewichtslage mit  dichterischem  Schaffen.  Darum 
wird  die  Grenze  wahrer  Wissenschaft  oft  so  un- 
versehens überschritten. 

Warum  den  Verf  seine  Neigungen  in  solche 
Grenzregionen  der  Paläontologie  geführt  haben, 
geht  aus  der  neuen  Schöpfung  noch  klarer  her- 
vor: Hier  kommt  neben  dem  verdienten  viel- 
seitigen F'orscher  der  Künstler  zu  Worte.  Die 
Grenze  aber  bleibt  unverwischt.  Schon  in  den 
früheren  Werken  fiel  die  große  F"ül!e  selbstge- 
fertigter Zeichnungen  von  Knochenfunden  und 
Skelettrekonstruktionen  auf  Auch  diesmal  ist  die 
Mehrzahl  der  reichlichst  beigegebenen  Illustrationen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


ii^ 


eigenhändige  Beigabe,  z.  T.  aus  älteren  Arbeiten 
wiedergegeben.  Dabei  ist  nun  aber  erstmals  nicht 
nur  zeichnerische  Technik,  sondern  auch  künstle- 
rische Gestaltungskraft  in  den  Dienst  der  Wissen- 
schaft gestellt.  Aquarelle  bzw.  Schwarzdruck- 
wiedergaben solcher  gereichen  dem  Buch  zur 
Zierde.  (Besonders  hervorheben  möchte  ich 
Komposition  und  Ausführung  der  Bilder  eines 
miozänen  Sumpfwaldes  in  Österreich  und  eines 
Steppenbrandes  im  pliozänen  Attika.) 

Solche  Veranschaulichungen  unterstützen  text- 
liche z.  T.  poetisierende  Darstellungen  vorzeitlicher 
Landschaften  und  ihrer  Bewohnerschaft,  mit  denen 
mehrere  Kapitel  abschließen.  Wendet  sich  der- 
artige Verlebendigung  erstorbener  Zeiten  aber  an 
die  Empfänglichkeit  weiterer  Kreise,  so  kann  das 
Buch  doch  keineswegs  populär  genannt  werden. 
Denn  dem  synthetischen  Schlußbilde  geht  stets 
eingehendste  Analyse  der  geologischen  und  palä- 
ontologischen Befunde  voran,  die  nur  dem  ge- 
übteren Leser  zugänglich  ist,  die  aber  den  eigent- 
lichen Kern  und  Wert  des  Buches  ausmacht. 

Mit  glücklichem  Griff  hat  Verf.  in  der  Erd- 
geschichte rückwärts  schreitend  eine  Zahl  be- 
sonders günstiger  Fossilfundorte  oder  -gebiete 
herausgegriffen,  deren  Durchforschungsstand  ihm 
ein  tieferes  Eindringen  in  die  Lebensumstände  und 
Lebensäußerungen  der  betreffenden  Periode  ge- 
stattet. (Niederösterreichische  prähistorische  Löß- 
station, attisches  Unterpliozän  der  Pikermifauna, 
Mittelmiozänmeer  des  Wiener  Beckens,  Eocän 
der  nordamerikanischen  Bridger-beds,  nordameri- 
kanisches jüngeres  Kreidemeer,  dinosaurierführen- 
der Wälderton  der  belgischen  Unterkreide,  Dino- 
saurierfundstätten Nordamerikas  und  Deutsch-Ost- 
afrikas, Oberjura-Strandablagerungen  der  Soln- 
hofener  lithographischen  Plaitenkalke,  Württem- 
bergische Ölschiefer,  südafrikanische  Wirbeltier- 
fauna der  Permzeit.)  Aus  der  fossilen  Tierwelt 
besaßen  wir  derartige  Versuche  nur  vereinzelt, 
während  die  Kohlenablagerungen  gelegentlich  in 
ähnlicher  Weise  durch  Wort  und  Bild  schon  aus- 
gedeutet worden  waren. 

Die  morphologische  und  biologische  Bewertung 
der  Funde  und  Fundumstände  ist  in  behaglicher 
Breite  gehalten  und  wiederholt  verständlicherweise 
vieles  aus  früheren  Darstellungen  des  Verf.  Sie 
enthält  aber  doch  so  viel  neue  treffliche  Be- 
obachtungen und  Gedanken,  daß  keineswegs  etwa 
nur  von  neuem  Gewände  die  Rede  sein  kann. 
Das  verarbeitete  literarische  und  Tatsachenmaterial 
ist  bewundernswert.  Exkurse  in  andere  ähnliche 
Fundgebiete  oder  zu  verwandten  Tiergruppen, 
auch  aus  der  Gegenwart  finden  sich  reichlich 
eingestreut,  drohen  zuweilen  fast  den  eigentlichen 
Stoff  zu  sprengen.  Auch  in  der  bildlichen  Aus- 
schmückung herrscht  ähnliche  Weitherzigkeit. 

Daß  die  Deutung  ins  Dickicht  der  Probleme 
mehr  als  einen  gangbar  scheinenden  Weg  schlagen 
kann,  ist  nicht  verwunderlich.  In  mancher  Einzel- 
heit wird  der  akademische  Leser  andere  Richtungen 
vorschlagen  und  aussichtsreicher  finden  können.  Es 


sei  hier  darauf  nicht  näher  eingegangen.  Ein 
Prinzip  aber  geht  einheitlich  durch  alle  Versuche: 
Die  begriffliche  Unterscheidung  von  Lebens-, 
Sterbe-  und  Einbettungsraum ,  deren  nur  mög- 
liches Zusammenfallen  nie  von  vornherein  einfach 
vorausgesetzt  werden  darf. 

Es  besteht  kein  Zweifel,  daß  Methode  wie  Er- 
gebnisse neue  fruchtbare  Anregungen  ausstreuen 
werden.  Edw.  Hennig. 


Oskar  Paret,  Urgeschichte  Württem- 
bergs. 226  S.,  49  Abb.,  4  Taf. ,  2  Karten. 
Stuttgart  1921,  Strecker  u.  Schroeder.  Geh. 
22  M.,  geb.  30  M. 

Wir  sind  wieder  einmal  aus  der  Außenwelt 
zurückgeworfen  in  grausamst  beschnittene  Heimat- 
grenzen. Sie  sind  noch  stets  der  Mutterboden  ge- 
wesen, der  zu  neuem  Aufstieg  Kraft  verlieh!  Deut- 
scheste Art  ist  es,  in  der  tiefsten  längsten  kalten 
Winternacht  das  Fest  des  Lichts  und  der  Behag- 
lichkeit zu  feiern.  So  ist  denn  auch  allenthalben  ein 
eifriges  Ringen  und  Werden  zu  spüren ,  das  uns 
vorerst  einmal  wieder  die  zweite,  die  innere  Welt 
erschließt.  Im  Pcndelgang  zwischen  beiden  um- 
faßt das  deutsche  Volk  vielseitigere  Lebenswerte 
als  irgendein  anderes.  Beide  Welten  sind  uns 
vertraut  und  wert. 

Die  geistige  Neueinstellung  kommt  naturgemäß 
auch  der  engsten  Nachbarschaft  und  somit  in 
besonderem  Maße  der  Heimatforschung  zugute. 
Der  Südwestwinkel  unseres  Vaterlandes  regt  vor 
allem  dazu  an.  Uralte  Kultur  führt  nicht  allein 
bis  ins  Altertum  zurück  und  hat  fast  jedem  F"lecken 
irgendein  Mal  aufgedrückt.  Nein  der  liebevollst 
durchforschte  Boden  führt  uns  von  historischen 
zu  archäologischen,  von  ihnen  weiter  zu  prähisto- 
rischen Funden  in  ganz  ungewohnt  alte  Zeiten. 
Ohne  große  Lücken  schließt  sich  hier  Geschehen 
an  Geschehen,  Volk  an  Volk  noch  weit,  weit  über 
jene  Zeiten  hinaus,  in  denen  vor  rund  6000  Jahren 
im  alten  Ägypten  die  eigentliche  „Geschichte" 
der  Miitelmeervölker  beginnt. 

Zurzeit  des  trojanischen  Krieges  ist  hier  soeben 
schon  die  Jahrtausende  alte  Pfahlbaukultur  be- 
endet, die  noch  jüngst  in  oberschwäbischen  Torf- 
lagern so  wunderbare  Zeugnisse  offenbarte.  Aus 
allen  Himmelsrichtungen  waren  bereits  Wander- 
züge immer  neuer  Völkerscharen  durch  württem- 
bergisches Land  gekommen,  jede  mit  andersartigen 
Lebensformen,  aus  deren  vergrabenen  Spuren  wir 
eben  jetzt  jene  ferne,  aller  schriftlichen  oder  münd- 
lichen Überlieferung  bare  Zeit  wieder  auferstehen 
lassen  können.  Einen  schier  undurchdringlichen 
Vorhang  haben  entsprechend  ausgebaute  Methoden 
der  Wissenschaft  fortzuziehen  vermocht  und  lebens- 
vollste, mannigfaltigste  Bilder  spielen  sich  vor 
uns  ab. 

Weiter  und  weiter  sehen  wir  uns  zurückgeführt 
in  ursprünglichstes  Leben  einfacher  Naturvölker. 
Sechs-  bis  siebenmal  so  weit  rückwärts,  wie  die 
Gegenwart  sich  vom  Beginn  unserer  Zeitrechnung 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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vorwärts  eiufernt  hat,  stehen  wir  am  Lager  der 
Rentierjäger  an  der  Schussenquelle,  nächst  benach- 
bart jenen  späteren  Pfahlbauten.  Klima,  Pflanzen- 
und  Tierwelt,  auch  der  Mensch  selbst  in  seiner  Ge- 
staltung erscheinen  uns  fremdartig:  Zieht  sich 
doch  eben  erst  die  mächtige  Inlandeisdecke  in 
ihre  Ausgangsgebiete  zurück.  Einige  weitere 
tausend  Jahre  früher,  unmittelbar  im  Anschluß  an 
die  letzte  große  Vereisung  wird  uns  eine  geradezu 
unbegreifliche  Kunstblüte  zum  wahren  Erlebnis, 
die  in  unserem  Gebiete  freilich  nur  sehr  spärliche 
Spuren  hinterlassen  hat. 

Und  immer  noch  ferner,  in  die  volle  Eiszeit 
hinein  führen  uns  älteste,  vereinzelte  und  doch 
so  ungeheuer  eindringlich  sprechende  Funde  zu- 
rück zu  ungeschlachten  Höhlenbewohnern  und 
ihrer  Hände  Werk.  Nehmen  wir  noch  das  unterste 
Neckargebiet  (Mauer)  hinzu,  so  fällt  in  den  Rahmen 
der  früheste  Fund  aller  sicher  echten  Menschen  auf 
der  Erde ,  der  vor  mehr  als  einer  Eiszeit  lebte 
und  schon  nicht  mehr  prähistorisches,  sondern 
bereits  paläontologisches  Objekt  genannt  werden 
muß. 

Wen  könnte  solche  Aufhellung  urheimatlichen 
Dunkels  unberührflassen!  „Rulaman"  und  „Kuning 
Hartfest"  waren  einst  erste  prächtige  Entwürfe 
zu  dem  gigantischen  Gemälde,  das  Jahrzehn- 
tausende überspannte.  Die  Forschung  hat  seither 
nicht  gerastet  und  an  dem  Entwurf  begreiflicher- 
weise manches  durchgreifend  zu  ändern  gehabt. 
Jetzt  bietet  Paret  (vom  Museum  vaterländischer 
Altertümer  in  Stuttgart)  eine  auf  der  Höhe  des 
Augenblicks  stehende  Behandlung  des  schönen 
Stoffes  dar.  Sie  konnte  in  der  Form  kaum  glück- 
licher ausfallen.  Aus  einem  Gusse,  lebensvoll, 
weil  liebevoll,  gemeinverständlich  atmet  sie  doch 
in  jedem  Worte  ernsthafteste  Wissenschaft  selbst 
wo  sie  sich  einmal  zu  dichterischer  Erzählungs- 
form fortreißen  läßt.  Mit  bemerkenswerter  Fertig- 
keit sind  bis  auf  wenige  Lichtbildwiedergaben  alle 
buchschmückenden  Beigaben  von  eigener  Hand 
des  Verfassers. 

Ur-,  Früh-  und  auch  Vorgeschichte  erscheinen 
noch  immer  als  begrifflich  gleichbedeutend.  Es  ist 
bedauerlich,  daß  noch  keine  einheitliche  Abgrenzung 
sich  hat  durchsetzen  können.  Das  Buch  legt  den 
Hauptakzent  auf  die  Frühgeschichte.  Schon  die 
jüngere  Steinzeit  erscheint  zwar  in  all  ihrer 
Mannigfaltigkeit,  wird  aber  doch  wesentlich  weni- 
ger eingehend  geschildert.  Vollends  vermißt  man 
eine  Behandlung  der  älteren  so  gut  wie  ganz. 
Und  doch  hat  gerade  Württemberg  für  ihr  Ver- 
ständnis und  ihre  Eingliederung  in  die  Strati- 
graphie  des  Diluviums  allerbedeutsamste  Befunde 
gezeitigt.  Weitaus  am  eingehendsten  ist  die  uns 
fremdeste,  wenn  auch  höchste  der  für  Deutschland 
urgeschichtlichen  Kulturen,  die  römische  berück- 
sichtigt, freilich  durchaus  unter  heimatlichem  Ge- 
sichtswinkel, in  ihren  Beziehungen  zur  keltisch  ger- 
manischen Welt  und  in  der  gegenseitigen  Durch- 
dringung aller  dieser  F'aktoren.  Die  Darstellung 
greift  weiter  bis  ins  8.  nachchristliche  Jahrhundert 


hinauf,  wo  füglich  von  „Urgeschichte"  kaum  mehr 
die  Rede  sein  sollte,  wenn  auch  noch  immer 
archäologische  Methoden  den  Hauptanteil  an  der 
Aufhellung  jener  Zeiten  zu  tragen  haben.  Es 
scheint  somit  der  Titel  des  Werks  den  darum 
nicht  minder  begrüßenswerten  Inhalt  nicht  in 
seinem  Umfange  wiederzugeben. 

Wenn  besonders  das  mittlere  Neckarland  als 
Paradigma  der  Kulturabwicklungen  gewählt  ist, 
andere  Landesteile  mehr  vergleichsweise  gestreift 
werden,  so  ist  darin  eine  weise  Beschränkung  zu 
erblicken.  Die  Gefahr,  im  Allzuviel  des  Stofflichen 
zu  ersticken,  ist  so  aufs  glücklichste  vermieden. 
Ein  großer  Teil  der  tatsächlichen  Angaben  ist 
obendrein  in  den  ausführlichen  Anhang  verwiesen, 
wo  er  übersichtlicher  zur  Geltung  kommt  und 
den  textlichen  Fluß  der  Berichterstattung  nicht 
sprengt. 

Das  Buch  gehört  zu  denen,  die  sich  den  Pfad 
aus  eigener  Kraft  bahnen.  Möchte  ihm  reichste 
Anregung  entströmen  und  Mitarbeiter  im  ganzen 
Volke  erwachsen,  auch  zugunsten  der  staatlichen 
Sammlungen  (Stuttgart,  Tübingen),  aus  denen 
dann  der  Rohstoff  so  verarbeitet  der  Allgemein- 
heit wieder  zufließen  soll.  Edw.  Hennig. 


Lenard,  P.,  ÜberÄtherundUräther.  56  S. 
Leipzig  192 1,  S.  Hirzel.  Geh.  9  M. 
Die  zuerst  1920  in  Starks  Jahrbuch  erschie- 
nene Arbeit,  die  hier  wesentlich  erweitert  in  Buch- 
form erschienen  ist,  bedeutet  auf  dem  Wege  zur 
Klarstellung  der  physikalischen  Grundlagen  der 
sog.  „Relativitätstheorie"  einen  großen  Fortschritt. 
Denn  hier  stellt  sich  einer  der  ersten  Vertreter 
der  Physik  durchaus  auf  den  Boden  der  Äther- 
theorie und  verwirft  nicht  nur  die  allgemeine, 
sondern  —  was  praktisch  viel  wichtiger  ist  — 
die  ursprüngliche,  spezielle  Theorie  Einsteins. 
Er  zeigt,  daß  die  angeblichen  Erfolge  Einsteins 
auf  dem  Gebiete  der  Kathodenstrahlenbahnen, 
der  Feinstruktur  der  Spektrallinien,  der  Trägheit 
der  Energie,  der  Lichtablenkung  im  Schwerefeld 
und  der  Merkurperihelbewegung,  sämtlich  auch 
aus  einer  substantiellen  Äthertheorie  abzuleiten 
sind.  Einsteins  Theorie  ist  eigentlich  nur  für 
Mathematiker  von  Fach  eingerichtet  und  Lenard 
sagt  mit  Recht:  „es  wäre  erstaunlich,  daß  all  die 
anderen  Menschen  dazu  bestimmt  sein  sollten 
beiseite  zu  stehen,  wenn  es  um  das  Begreifen  der 
Natur  sich  handelt,  wie  Mißgeburten,  unverschuldet 
in  eine  Welt  gesetzt,  von  der  sie  nicht  einmal 
Raum  und  Zeit  zu  verstehen  in  der  Lage  seien, 
so  daß  sie  zuletzt  sogar  in  die  Versuchung  kom- 
men —  der  Viele,  verleitet  durch  „gemeinver- 
ständliche" Darstellungen,  schon  nachgegeben  zu 
haben  scheinen  — ,  ein  Verstehen  dort  zuzugeben, 
wo  in  Wirklichkeit  keines  vorhanden  sein  kann." 
Die  Lösungen  der  angeblichen  Schwierigkeiten, 
die  Lenard  angibt,  sind  durchweg  sehr  geist- 
reich und  beachtenswert,  wenn  sie  naturgemäß 
auch    noch    längst    nicht    alle    Möglichkeiten    er- 


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Naturwissenschaftlich  e  Wochenschri  ft. 


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schöpfen.  Lenards  Darstellung  scheint  mir  im 
Grunde  wieder  zur  alten  Ätherwirbeltheorie  zurück- 
zuführen, die  man  bei  uns  seitLorentz  verlassen 
hatte.  Bei  dieser  Theorie  sollten  sich  nach  H  e  1  m  - 
holtz  die  Wirbelfäden  „reibungslos"  durch  ein 
ruhendes  IVledium  fortbewegen  können.  Diese 
reibungslosen  Wirbel  gaben  wohl  die  Grundlage 
ab  für  die  Elektronen  oder  Kraftfeldzentren  von 
Lorentz,  die  sich  ebenso  wie  die  Atome  durch 
einen  absolut  ruhenden  Äther  bewegen  sollten. 
Durch  diese  im  Grunde  ganz  überflüssige  Ein- 
führung des  „Absoluten"  in  die  Ätherphysik  ist 
bekanntlich  das  Unheil  der  „Relativitätstheorie" 
heraufbeschworen  worden.  Lenard  unterscheidet 
nun  einen  von  den  Kraftfeldern  mitgeführten 
Äther  und  einen  in  Ruhe  verbleibenden  „Uräther". 
Damit  nähert  er  sich  aber  den  natürlichen  sub- 
stantiellen Vorgängen,  denn  in  jeder  natürlichen 
Flüssigkeit  führen  die  Wirbel  Teile  (Kraftfelder) 
mit  —  durch  eine  Art  von  Reibung  —  während 
der  größte  Teil  der  Flüssigkeit  in  Ruhe  bleibt. 
Man  kann  diese  Erscheinung  an  den  Wirbelstürmen, 
besonders  an  den  Windhosen,  beobachten.  Wenn 
Lenard  hervorhebt,  daß  der  Äther  sich  in  Wirk- 
lichkeit etwas  anders  verhält,  als  er  es  nach  den 
hydrodynamischen  Theorien  von  Bjerknes  oder 
Helm  holtz  tun  müßte,  so  bedeutet  das  —  da 
diese  Theorien  sich  ja  auf  „reibungslose",  also 
eigentlich  unphysikalische  Flüssigkeiten  bezogen 
—  nichts  weiter,  als  daß  der  Äther  eben  eine 
wirkliche  und  keine  mathematische  Substanz  ist. 
So  bedeutet  der  Lenard  sehe  Gedankengang  die 
Rückkehr  zu  natürlichen  Vorstellungen  in  der 
Physik  und  es  wäre  zu  wünschen,  daß  ihm  bald 
möglichst  viel  andere  Forscher  auf  diesem  Wege 
folgten,  damit  die  deutsche  Wissenschaft  endlich 
von  der  die  wirkliche  Erkenntnis  hemmenden 
„iVIassensuggestion"  von  der  Undurchführbarkeit 
der  hydrodynamischen  Äthertheorie   befreit   wird. 

Fricke. 


Kerners  Pflanzenleben.  3.  Aufl.  neubearbeitet 
von  A.  Hansen.  III.  Band.  Leipzig  und  Wien, 
Bibliographisches  Institut. 
Mit  diesem  dritten  Bande  hat  der  leider  in- 
zwischen verstorbene  Gelehrte  die  schwierige  Auf- 
gabe, das  berühmte  Kern  ersehe  Buch  neu  her- 
auszugeben, zu  Ende  geführt.  Der  Band  ist  abge- 
sehen von  den  beiden  schon  im  alten  Kerner  vor- 
handenen, aber  umgearbeiteten  Abschnitten  über 
Bastarde  und  Verbreitungsmittel  der  Pflanzen 
gänzlich  das  Werk  Adolf  Hansens.  Nach 
einem  einleitenden  Abschnitt  über  die  Entstehung 
der  Arten,  der  infolge  der  glänzenden  Entwicklung 
der  Vererbungslehre  besonders  umfängliche  Neu- 
bearbeitung erforderte,  und  nach  einem  kurzen 
Überblick  über  die  Pflanzenpaläontologie  ist  der 
Hauptteil  des  Bandes  der  Schilderung  des  gegen- 
wärtigen Zustandes  der  Pflanzenverteilung  auf 
unserer,  Erde  gewidmet.  Der  dritte  Band  ist  also 
im  wesentlichen  eine  moderne  Pflanzengeographie. 


Han  sen.  behandelt  zunächst  die  Faktoren,  die 
die  Gestaltung  der  Floren  beeinflussen,  also  Boden 
und  Klima,  alsdann  die  Wanderungswege  und  die 
Verbreitungsmittel  der  Pflanzen,  worauf  die  grund- 
legenden Begriffe  der  Pflanzengeographie,  im 
wesentlichen  die  Formationenlehre,  erörtert  wer- 
den. Nach  dieser  theoretischen  Grundlegung  er- 
folgt nunmehr  die  Schilderung  der  einzelnen 
Floren  der  Erde,  wobei  sich  der  Verf.  unter  Preis- 
gabe strengster  pflanzengeographischer  Übung  eng 
an  die  geographische  Gliederung  der  Erde  an- 
schließt. So  wird  der  Leser  in  den  Stand  gesetzt, 
den  Pflanzenwuchs  der  Hauptländer  in  abge- 
schlossenen Schilderungen  kennen  zu  lernen,  was 
zweifellos  für  eine  volkstümliche  Darstellung  von 
Vorteil  ist.  Diese  Schilderungen  sind  mit  der 
ganzen,  Anteil  weckenden  Kunst  geschrieben,  die 
alles  auszeichnet,  was  Adolf  Hansens  Feder 
entstammt,  und  die  ihn  vor  anderen  befähigte, 
diesen  großen  Abschnitt  in  das  durch  ähnliche 
Vorzüge  ausgezeichnete  Kern  ersehe  Buch  ein- 
zugliedern. Der  Verlag  hat  kein  Opfer  gescheut, 
um  auch  diesen  Band  mit  zahlreichen,  zum  Teil 
farbigen  Bildern  auszustatten.  Es  gab  bisher  kein 
Buch,  das  das  so  besonders  reizvolle  Gebiet  der 
Pflanzengeographie  einem  großen  Leserkreise  zu- 
gänglich machte,  wenigstens  keins  von  ähnlichem 
Ausmaß.     Hier  haben  wir  es.  Miehe. 


Braun,   Prof.   Dr.  M.    und   Seifert,  Prof.  Dr.  O., 
Die     tierischen     Parasiten     des    Men- 
schen.     II.    Teil:    Klinik    und    Therapie    der 
tierischen  Parasiten  des  Menschen.    Mit   19  Text- 
abbildungen.    Leipzig  1920,  C.  Kabitsch,     Preis 
86,40  M. 
Dem  ersten  Teile  dieses  ausgezeichneten  Hand- 
buches, der  die  tierischen  Parasiten  des  Menschen 
vom  zoologischen  Standpunkte  aus  darstellte,  läßt 
nunmehr  Seifert   den    zweiten  weniger  umfang- 
reichen   folgen,    der    den    klinisch-therapeutischen 
Teil  umfaßt.     Nach  der  systematischen  Zugehörig- 
keit   der    Erreger    angeordnet,    werden    hier    die 
einzelnen  Krankheiten  nach    ihrer  Ätiologie,  dem 
pathologisch-anatomischen  Befund,  dem  klinischen 
Verlauf  sowie  nach  ihrer  Behandlung  geschildert. 
Man    findet   z.  B.    ein    ausgedehntes   Kapitel  über 
Amöbendysenterie,     ferner     solche    über    Schlaf- 
krankheit,   Malaria,    die    Bandwurm-    und    Echino- 
kokkuserkrankungen,   die    Läuse-,    Wanzen-,    und 
Fliegenplagen  usw.      Das  Buch    ist    ein  wichtiges 
Hilfsmittel  für  Ärzte  und  Studierende  der  Medizin 
und  wird  hoffentlich  dazu  beitragen,  das  Interesse 
an  diesem,  leider  oft  etwas  vernachlässigten  Zweige 
der  Heilkunde  zu  beleben.  Miehe. 


Böhm,  Dr.  Jos.,  Seelisches  Erfühlen.  (Tele- 
pathie und  räumliches  Hellsehen.)     Band  37/38 
der    Sammlung     „Die     okkulte    Welt".       Pful- 
lingen  i.  W.   192 1,  Johannes  Baum. 
Es    handelt  sich   in   dieser   gegen    100  Seiten 


232 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  16 


zählenden  Schrift  des  Vorsitzenden  der  Nürn- 
berger Okkultistischen  Gesellschaft  um  den  auch 
von  ärztlicher  Seite  mehrfach  mit  Erfolg  (wie  ab- 
gedruckte Gutachten  erhärten)  geprüften  Fall  der 
damaligen  Krankenschwester  Frl.  Helene  S.  (seit- 
her verheiratet).  Für  jemand,  der  die  beschriebenen 
Erscheinungen  selbst  kennt,  dürfte  die  telepathische, 
vielleicht  auch  selbständig  hellseherische  Befähigung 
der  Dame  außer  Zweifel  stehen.  Wer  nicht  in 
dieser  Lage  ist,  wird  über  eine  gewisse  Unsicher- 
heit kaum  hinauskommen,  da  wenigstens  für 
kritische  Leser  die  Berücksichtigung  der  F"ehler- 
quellen,  überhaupt  die  Mitteilungen  über  die  Ver- 
suchsanordnungen, gerade  an  entscheidenden 
Punkten  doch  gar  zu  lückenhaft  sind.  So  machen 
die  abgedruckten  Versuche  im  Grunde  mehr  den 
Eindruck  von  Vorversuchen,  aus  denen  im  ganzen 
wohl  die  Gabe  eines  besonderen  Einfühlens, 
wahrscheinlich  in  der  Hauptsache  auf  Telepathie 
beruhend,  hervorzugehen  scheint;  aber  leider  kaum 
mehr,  obschon  zweifelsohne  weiter  zu  kommen 
gewesen  wäre.  Da  die  Fähigkeiten  der  Dame 
fortzudauern  scheinen,  wäre  sehr  erwünscht,  wenn 
Böhm,  vielleicht  im  Verein  mit  anderen,  einmal 
eine  systematische  Versuchsreihe  aufbauen  könnte, 
bei  der  sowohl  die  bekannten  Fehlerquellen  aus- 
drücklich erörtert  und  ausgeschaltet  würden,  als 
auch  die  Fähigkeit  des  „Seelischen  Erfühlens" 
selbst  einmal  näher  analysiert  wird  (vor  allem, 
ob  neben  Telepathie  selbständiges  zeitliches 
oder  räumliches  Hellsehen  vorliegt).  Der  Fall  scheint 
entschieden  interessant  genug,  um  eine  solche 
systematische  Untersuchung  zu  rechtfertigen. 
V.  Wasielewski. 


Seeling,  Otto,  Hypnose,  Suggestion  und 
Erziehung.  Eine  Handreichung  für  jeden 
Gebildeten.  Leipzig  1922,  Dr.  M.  Gehlen. 
Der  Zweck  des  Büchleins,  das  sich  zunächst 
an  Eltern  und  Erzieher,  Juristen  und  Polizeibe- 
amte wendet,  ist  ein  praktischer,  und  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  muß  es  beurteilt  werden. 
Zweifelsohne  werden  die  Genannten  besonders 
aus  den  Kapiteln  3 — 6  und  8 — 11  manches  Be- 
lehrende entnehmen  können,  zumal  der  Verf.  aus- 
giebig die  verschiedenen  Autoren  zu  Wort  kom- 
men läßt.  Der  Versuch  im  Kapitel  2,  auf  16  Seiten 
das  Thema  „Gehirn  und  Seele"  abzuhandeln,  noch 
dazu  unter  Berücksichtigung  neuester  Arbeiten, 
wäre  vielleicht  besser  unterblieben.  —  Seeling 
rechnet  den  Hypnotismus  ohne  weiteres  zum 
Okkultismus,    was  nicht  unwidersprochen  bleiben 


wird.  Zum  mindesten  muß  man  sagen,  daß  okkulte 
Erscheinungen,  wie  z.  B.  Telepathie,  ohne  jeden 
Hypnotismus  möglich  sind,  auch  ohne  alle  Sug- 
gestion, und  daß  andererseits  ein  Hypnotisierter 
keineswegs  durch  die  Hypnose,  soweit  die  Er- 
fahrung reicht,  okkulte  Fähigkeiten  erhält.  Die 
sicher  vorhandene  Beziehung  ist  derzeit  noch 
durchaus  ungeklärt  und  systematische  Unter- 
suchungen wären  sehr  erwünscht.  Somit  sind 
Seelings  Betrachtungen  über  die  gegenwärtige 
„okkulte  Welle"  eigentlich  nicht  oder  doch  nur 
mit  Vorbehalt  auf  den  Gegenstand  seiner  Schrift 
zu  beziehen.  v.  Wasielewski. 


Grüner,  Prof.  Dr.  P.,  Elemente  der  Rela- 
tivitätstheorie. Kinematik  und  Dynamik 
des  eindimensionalen  Raumes.  80  S.  u.  1  Tafel. 
Bern  1922,  Paul  Haupt.  Geh.  28  M. 
Das  Buch  versucht,  auf  etwas  neuen  Wegen 
die  Elemente  der  sog.  Relativitätstheorie  den  An- 
fängern anschaulich  zu  machen.  Dies  ist  dadurch 
ermöglicht,  daß  die  Ausführungen  sich  im  wesent- 
lichen nur  auf  Probleme  des  eindimensionalen 
Raumes  beziehen.  Ebenso  soll  die  Beschränkung 
auf  die  mechanischen  Probleme,  unter  Weglassung 
der  optischen  und  magnetischen,  die  Übersicht 
über  die  Grundgedanken  der  Relativitätstheorie 
erleichtern.  Die  Anschauungen,  die  Einstein 
in  seinem  Leidener  Vortrage  über  den  Äther 
entwickelt  hat  —  Lorentz  soll  dem  Äther  als 
einzige  kinematische  Eigenschaft  die  Unbeweg- 
lichkeit  gelassen  haben  und  die  Relativitätstheorie 
hat  ihm  auch  diese  Eigenschaft  genommen  — 
hat  der  Verf.  ernst  genommen.  Fricke. 


Literatur. 

Sammlung  Göschen  824:  Ziegler,  Prof.  Dr.  H.  E., 
Tierpsychologie.  Berlin  '21,  Vereinigung  wissenschaftlicher 
Verleger.     6  M. 

Krause,  Prof.  R.,  Mikroskopische  Anatomie  der  Wirbel- 
tiere. 1.  Säugetiere.  Berlin  und  Leipzig  '21,  Vereinigung 
wissenschaftl.  Verleger.     Brosch.  48  M. 

Färber,  Dr.  E,  Die  geschichtliche  Entwicklung  der 
Chemie.     Berlin  '21,  J.  Springer.     Brosch.  78  M.,  geb.  90  M. 

Nernst,  Prof.  Dr.  W.,  Das  VVeltgebäude  im  Lichte  der 
neueren  Forschung.     Berlin  '21,  J.  Springer.       Brosch.   12  M. 

Fischer,  E.,  Aus  meinem  Leben.  Berlin '22,  J.Springer. 
Geb.  75   M. 

Twenty-ninlh  to  thirty-third  Annual  Repord  of  the  Bureau 
of  American  Ethnology.  To  the  Secretary  of  the  Smithsonian 
Institution.  1911 — 1912.  5  Bände.  Washington  '19,  Governe- 
ment  Printing  Office. 

Schmeil,  Prof.  Dr.  O. ,  Leitfaden  der  Pflanzenkunde. 
100.  Aufl.  Leipzig  '21  ,  Verlag  von  Quelle  &  Meyer.  Geb. 
36  M. 


Illbalt:  H.  Krieg,  Probleme  der  Artveränderung.  S.  217.  —  Einzelbeilcbte:  Chandra  Ghosh,  Eine  neue  Theorie  der 
Elektrolytlösungcn.  S.  224.  F.  d 'Her  eile,  Parasiten  in  Bakterien?  S.  225.  Strehl,  Zur  Relativitätstheorie.  S.  226. 
A.  Weil,  Zum  psycho-inkretorischen  Parallelismus.  S.  227.  Hallicr,  Die  Bedeutung  der  Linaceen  für  die  Syste- 
matik. S.  227.  —  Bücberbesprecbungen :  O.  Abel,  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt  der  Vorzeit.  S.  228.  O.  Paret, 
Urgeschichte  Württembergs.  S.  229.  P.  Lenard,  Über  Äther  und  Uräther.  S.  230.  Kerners  Pfianzenleben.  S.  231. 
M.  Braun  und  O.  Seifert,  Die  tierischen  Parasiten  des  Menschen.  S.231.  Jos.  Böhm,  Seelisches  Erfühlen.  S.  231. 
O.  Seeling,  Hypnose,  Suggestion  und  Erziehung.  S.  232.  P.  Grüner,  Elemente  der  Relativitätstheorie.  S.  232.  — 
Literatur:  Liste.  S.  232. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten.   ' 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m,  b,  H.,   Naumburg  a.  d.  S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37,  Ba: 


Sonntag,  den  23.  April  1922. 


Nummer  17. 


[Nachdruck  verboten.! 


Das  Biddersche  Organ. 

Von  Gustav  Zeuner. 

Mit  7  Abbildungen. 


Zwischen  den  Keimdrüsen  der  Kröte  und  den 
fingerförmigen  Feltkörpern,  die  —  besonders  in 
der  Zeit  vor  dem  Winterschlaf  —  bei  der  ana- 
tomischen Untersuchung  sehr  auffallen,  liegt  — 
oft  kaum  bemerkbar  —  das  sog.  Biddersche 
Organ.  Seine  Farbe  ist  gelblich,  je  nach  der 
Jahreszeit  heller  oder  dunkler,  und  geht  oft  in 
eine  rötliche  Färbung  über,  wenn  das  Organ 
reichlicher  von  Blutgefäßen  versorgt  wird.  Auf 
die  Größenverhältnisse  soll  weiter  unten  einge- 
gangen werden. 

Das  Biddersche  Organ  wurde  schon  1758 
von  Rösel  von  Rosenhof  entdeckt.  Seitdem 
ist  es  immer  wieder  Gegenstand  morphologischer 
Betrachtung  gewesen.  Über  seine  Herkunft  und 
Funktion  waren  die  Ansichten  von  jeher  geteilt. 
Während  Rösel  von  Rosenhof  selbst  es  für 
einen  Teil  des  F"ettkörpers  hielt,  rechnete  Rathke 
1825  das  Organ  zum  Hoden.  Jacobsen  sprach 
es  zum  ersten  iVIale  1828  als  rudimentäres  Ovarium 
an  und  bezeichnete  die  Kröten  als  hermaphrodit. 
Bidder  (1846)  dagegen  hatte  eine  ähnliche  An- 
sicht wie  Rathke.  Hof  fm an  n  betrachtete  1886 
das  Biddersche  Organ  als  rudimentäre  Zwitler- 
drüse.  Neuerdings  kommt  man  jedoch  allgemein 
auf  die  Deutung  von  Jacobsen  zurück.  Von 
besonderer  Bedeutung  für  die  Morphologie  und 
Entwicklungsgeschichte  des  Bidderschen  Or- 
ganes  sind  die  Untersuchungen  Knappes  1886, 
die  auch  für  die  neuesten  Arbeiten  grundlegend 
geworden  sind.  Ognew  (1908)  und  Aime  und 
Champy  (1909)  haben  das  Biddersche  Organ 
eingehend  histologisch  studiert.  Diese  Arbeiten 
bilden  den  Übergang  zu  den  neuen,  geradezu  vor- 
bildlichen Untersuchungen  von  Harms  (1912  bis 
192 1).  Die  Frage  nach  der  Funktion  des  Bid- 
derschen Organs  ist  durch  Harms  entschieden 
einer  Lösung  näher  gebracht  worden.  Die  Zu- 
stände, die  das  Biddersche  Organ  im  Laufe 
eines  Jahres  durchmacht,  sind  von  ihm  auf  das 
genaueste  nachgeprüft  worden.  Schließlich  bringt 
Harms  seine  morphologischen  und  experimen- 
tellen Studien  in  Zusammenhang  mit  dem  Pro- 
blem des  Interstitiums,  das  wiederum  mit  der 
Steinachschen  Verjüngungstheorie  eng  ver- 
knüpft ist.  Berücksichtigung  finden  die  Unter- 
suchungen von  Harms  in  der  bedeutenden  Ar- 
beit Stieves  über  „Entwicklung,  Bau  und  Be- 
deutung der  Keimdrüsenzwischenzellen".  Be- 
dauerlicherweise verwirft  Stieve  mit  den  Schluß- 
folgerungen der  Harmsschen  Studien  von  1913/14 
auch  die  experimentellen  Ergebnisse  selbst,  ohne 


über  die  Verhältnisse  im  Bidderschen  Organ 
genau  orientiert  zu  sein.  Selbstverständlich  ver- 
liert durch  solche  Ungenauigkeit  die  sonst  so 
groß  angelegte  und  umfassend  durchgeführte  Ar- 
beit Stieves  an  Wert. 

Die  Benennung  des  Organs  nach  Bidder 
stammt  von  Spengel,  der  übrigens  als  erster 
auch  bei  der  weiblichen  Kröte  das  Biddersche 
Organ  feststellte.  Doch  ist  diese  Bezeichnung 
nicht  sehr  glücklich,  da  Bidder  weder  das  Organ 
entdeckt,  noch  seine  Bedeutung  richtig  erkannt 
hat,  worauf  auch  Stieve  hinweist. 

Aus  einer  Zusammenstellung  von  Harms(i92i) 
geht  hervor,  bei  welchen  Arten  das  Biddersche 
Organ  vorkommt.      Ich    lasse   die  Tabelle  folgen: 

(Siehe  Seite  234.) 

Aus  dieser  Übersicht  ist  zu  erkennen,  daß  das 
Biddersche  Organ  der  weiblichen  Kröten  (außer 
Bufo  vulgaris  $)  nach  Ablauf  von  etwa  2  Jahren 
schwindet,  also  nur  bei  jungen  Tieren  vorkommt. 
Das  Biddersche  Organ  tritt  nach  den  Beobach- 
tungen Kings  schon  bei  der  Kaulquappe  im 
Alter  von  15  — 18  Tagen  zum  erstenmal  auf. 
Während  das  Tier  noch  geschlechtlich  undifferen- 
ziert ist ,  befindet  sich  das  Biddersche  Organ 
schon  auf  einem  vorgeschrittenen  Stadium  der 
Entwicklung,  was  für  die  Frage  nach  der  Be- 
deutung des  Organs  von  Wichtigkeit  ist.  Über- 
haupt ist  die  Entwicklung  des  Bidderschen 
Organs  von  Interesse,  da  sie  zunächst  auf  die 
Bildung  eines  Ovars  hinsteuert,  wobei  regelrechte 
Urkeimzellen  entstehen,  die  aber  nicht  die  Aus- 
bildung zu  reifen  Eiern  erreichen.  Diese  Ent- 
wicklung, die  bei  männlichen  und  weiblichen 
Bufoniden  zu  beobachten  ist,  war  Gegenstand  ge- 
nauer Untersuchungen  von  King,  der  damit  das 
Problem  in  ein  neues  Licht  gerückt  hat. 

Ich  habe  bei  Bufo  vulgaris  (J  das  Biddersche 
Organ  in  den  verschiedensten  Größen  beobachtet 
und  sogar  in  derselben  Jahreszeit  zwischen  ver- 
schiedenen Tieren  dieser  Art  ziemliche  Größen- 
unterschiede feststellen  können.  Besonders  auf- 
fallend ist  jedoch  der  Wechsel  der  Größe  im 
Laufe  eines  Jahres  bei  einem  Individuum,  wobei 
das  Biddersche  Organ  einen  „Jahreszyklus"  durch- 
macht, der  schon  von  Knappe  erkannt  worden 
ist  und  von  Harms  in  neuester  Zeit  einer 
eingehenden  Untersuchung  unterworfen  wurde. 
Während  der  Paarungszeit  im  Frühjahr  ist  das 
Biddersche  Organ  der  männlichen  Erdkröte  am 
kleinsten.    Ende  Mai  hat  es  etwa  die  Hälfte  seiner 


234 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXt.  Nr.  17 


Vorkommen    des    Bidderschen    Organs. 
Die    Autornamen    hinter    dem    Artnamen    bedeuten    den    Entdecker    des   Bidderschen  Organs  bei  der 

betreffenden  Art. 


Männchen : 
Kufo  ralamita,  Rösel  v.  Rosenhof,  v.  Wittich. 

Bufo  vulgaris,  Rathke,  v.  Wittich. 

Bufo  variabilis,  (=  viridis  Laur.)  v.  Wittich. 

Bufo  musicus,  v.  Wittich. 

Bufo  cinereus,  Spengel.     Variet.  v.  vulgaris. 

Bufo  ornatus,  Leydig. 

Bufo  maculiventris,  Leydig. 

Bufo  intermedia,  Spengel. 

Bufo  americanus,  Spengel. 

Bufo  agua,  v.  Witt  ich. 

? 

? 
Bufo  lentiginosus,  King. 

Docidophryne  lazarus,  Spengel. 

maximalen  Größe  verloren.  Darauf  beginnt  die 
Wachstumsperiode,  bis  das  Biddersche  Organ  im 
Juli  die  maximale  Größe  erreicht,  die  es  dann  bis 
in  den  Winter  hinein  bewahrt,  um  dann  —  vor 
allem  beim  Beginn  der  Laichzeit  —  immer  mehr 
an  Umfang  abzunehmen.  Harms  unterscheidet 
dementsprechend  ein  Regenerations-,  Ruhe-  und 
Degenerations-  (oder  Inkretions-)  Stadium.  Bei 
der  weiblichen  Kröte  ist  im  Frühjahr  —  wie  auch 
aus  der  Tabelle  von  Harms  hervorgeht  —  das 
Biddersche  Organ  mit  bloßem  Auge  nicht  zu  er- 
kennen. Nur  mit  stark  vergrößernder  Lupe  ist 
eine  leichte  Schwellung  auf  der  Leiste  zwischen 
Ovarium  und  Fettkörper  festzustellen.  In  dieser 
geringen  Größe  macht  das  Biddersche  Organ  des 
Weibchens  seine  Ruheperiode  durch,  bis  Anfang 
März  eine  Größenzunahme  stattfindet.  Im  Mai 
hat  das  Biddersche  Organ  dann  seine  maximale 
Größe  erreicht.  Die  Degeneration,  die  nun  folgt, 
geht  im  August  so  weit,  daß  das  Organ  kaum 
noch  zu  erkennen  ist.  Im  September  jedoch  setzt 
eine  zweite  Regeneration  des  Bidderschen  Organs 
ein,  die  nur  bis  in  den  Oktober  andauert.  Die 
abermalige  Degeneration  zieht  sich  bis  zum  Ende 
des  Dezembers  hin.  Das,  Biddersche  Organ  be- 
ginnt nun  seine  Ruheperiode. 

Schon  der  Jahreszyklus  des  Organs  weist  da- 
rauf hin,  daß  eine  Beziehung  auch  in  funktioneller 
Hinsicht  zu  den  Keimdrüsen  zu  bestehen  scheint. 
Diese  Beziehung  ist  nun  auch  die  Grundlage  zu 
den  Experimenten  von  Harms  geworden.  Zu- 
nächst hat  Harms  nur  mit  männlichen  Erdkröten 
experimentiert.  Seine  Versuche  haben  in  neuester 
Zeit  die  Bedeutung  des  Bidderschen  in  vieler  Be- 
ziehung klargestellt.  In  einem  Einzelbericht  über 
den  Ausgangspunkt  der  inneren  Sekretion  der 
Keimdrüsen  ging  ich  1920  in  der  Naturw.  Wochen- 
schr.  (Nr.  45,  N.  F.  19.  Bd.)  schon  kurz  auf  die 
Ergebnisse  der  Harms  sehen  Versuche  von  1913, 


Weibchen : 
Bufo    calamita,     Spengel    (bei   jungen    Tieren), 

Knappe  (fehlt  bei  alten  Tieren). 
Bufo  vulgaris,  v.  Wittich,  Spengel,  Knappe 
(ist  im  Frühling  nicht  makroskopisch  sichtbar). 
Bufo    variabilis,    Spengel    (bei    jungen    Tieren), 
Knappe  (fehlt  bei  alten  'iieren). 
? 
Wie  bei  vulgaris. 
? 
5 

? 
? 

? 
Bufo  melanostrictus,  fehlt  nach  Spengel. 
Bufo  scaber,  desgl. 

Bufo  lentiginosus,  King  (schwindet  am  Ende  des 
2.  Jahres). 

? 

1914  ein.  Damals  ließ  sich  aber  das  Gesamt- 
ergebnis noch  längst  nicht  überblicken,  und  manche 
Schlußfolgerungen  fallen  heute  anders  aus.  Ich 
erwähne  deshalb  kurz  nochmals  die  schon  ge- 
schilderten Versuche.  Harms  legte  vier  Ver- 
suchsreihen an: 

Serie  I:  Entfernung  von  Hoden  und  Bidder- 
schem  Organ. 

Serie  II:  Entfernung  des  Bidderschen  Organs 
allein. 

Serie  III:  Entfernung  des  Hodens  allein. 

Serie  IV:  wie  I;  gleichzeitig  wird  das  Bidder- 
sche Organ  wieder  transplantiert. 

Die  Tiere  der  Serie  I  waren  zunächst  ein- 
fachen Kastraten  sehr  ähnlich,  zeigten  aber  nach 
dem  Erwachen  aus  dem  Winterschlaf  patholo- 
gische Erscheinungen.  Sie  bewegten  sich  schwer- 
fällig und  reagierten  nicht  auf  Reize.  Sie  konnten 
sich  nicht  häuten  und  gingen  an  Atembeschwerden 
zugrunde.  Bei  den  Tieren  der  Serie  II  waren 
die  Brunstmerkmale  normal,  der  Klammerungs- 
reiz hatte  jedoch  gelitten.  Auch  diese  Tiere 
gingen  an  denselben  Erscheinungen  zugrunde.  Die 
Tiere  der  Serie  III  zeigten  normalen  Brunsttrieb. 
Pathologische  Erscheinungen  fehlten.  Schon  aus 
diesen  Ergebnissen  geht  hervor,  daß  das  Bidder- 
sche Organ  mehr  den  Brunsttrieb  zu  beeinflussen 
scheint,  während  die  Hoden  die  Ausbildung  der 
äußeren  Brunstmerkmale  unterstützen. 

Interessant  sind  nun  vor  allem  die  Ergebnisse 
der  Versuche  an  der  letzten  Serie,  von  der  Harms 
nur  einige  Tiere  zur  Verfügung  standen.')  Bei 
drei  Tieren  stellte  er  ein  Wuchern  des  Bidder- 
schen Organs  fest  (indem  er  das  Transplantat  von 
außen  befühlte).     Bei  einem  Tier  war  das  Trans- 

')  Ich  war  seinerzeit  nicht  näher  auf  diese  letzte  Ver- 
suchsserie in  meinem  Bericht  eingegangen.  Hier  sollen  des- 
halb die  Ergebnisse  dieser  Experimente  genau  geschildert 
werden. 


N.  F.  XXI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


235 


plantat  nur  schwach  fühlbar,  bei  einem  anderen 
war  nichts  mehr  zu  bemerken.  Diese  drei  Gruppen 
wurden  mit  A,  B  und  C  bezeichnet.  Das  Tier  C 
zeigte  die  von  der  Serie  II  her  bekannten  krank- 
haften Erscheinungen  der  Tiere  ohne  Biddersches 
Organ.  Das  Tier  B  erkrankte  zunächst  ähnlich, 
erholte  sich  aber  bald,  nachdem  das  Biddersche 
Organ  größer  geworden  war.  Die  Tiere  mit  der 
Bezeichnung  A  verhielten  sich  wie  die  der  Serie  III 
(s.  o.).  Daraus  geht  also  deutlich  hervor,  daß  die 
pathologischen  Zustände,  die  den  Tod  herbei- 
führten, auf  das  Fehlen  des  Bidderschen  Organs 
bzw.  auf  dessen  mangelhafte  Tätigkeit  zurückzu- 
führen sind.  Vor  allem  scheint  mir  für  diese 
Erscheinungen  charakteristisch  zu  sein,  daß  die 
Tiere  sich  nicht  häuten  konnten.  Verschleimungen, 
wie  sie  Harms  nebenbei  erwähnt,  habe  ich  auch 
nach  Kastration  von  Rana  temporaria  öfters  be- 
obachtet. Auch  diese  Tiere  gingen  an  einer  Art 
„Lethargie"  ein.  Die  letzten  Versuche  an  der 
Serie  IV  sind  noch  aus  einem  anderen  Grunde 
von  besonderer  Wichtigkeit.  Gegen  die  Tatsache, 
daß  bei  den  Tieren  der  Serie  III  der  Brunsttrieb 
und  —  wie  sich  weiter  unten  zeigen  wird  —  auch 
die  äußeren  Geschlechtsmerkmale  erhalten  geblie- 
ben waren,  hätte  man  folgenden  Einwand  erheben 
können.  Bei  der  Schonung  des  Bidderschen  Organs 
konnten  kleinste  Reste  des  Hodens  zurückbleiben 
und  noch  auf  die  Ausbildung  der  sekundären 
Sexualcharaktere  einwirken.  Die  Experimente  der 
Serie  IV  beseitigen  auch  diesen  Zweifel.  Die 
Kastration  war  vollständig.  Bei  der  Transplan- 
tation wird  Harms  für  die  völlige  Isolierung  des 
Bidderschen  Organs  Sorge  getragen  haben. 


Juni  (ich  vermute,  daß  die  Angabe:  Mitte  Juli 
in  den  „Experimentellen  Untersuchungen"  auf 
einem  Druckfehler  beruht  1  ein  normales  cj,  ein 
Tier  ohne  Hoden  und  Biddersches  Organ  und  ein 
ebensolches  mit  transplantiertem  Bidderschen 
Organ.  Am  2.  Juni  wurde  schon  ein  Tier  wie 
das  letztgenannte  getötet.  Die  Tiere  wurden  mit 
1—4  bezeichnet.  Harms  schnitt  ihnen  die 
Hände  ab  und  konservierte  diese  dann  sorgfältig. 
Von  den  Händen  der  Tiere  2 — 4  liegen  gute 
Photographien   vor,   die  hier  wiedergegeben  sind. 


Abb.   2.     Hand   der  Kröte  4. 

(Photographie    aus    Hanns,    Experimentelle    Untersuchungen 

über  die  innere  Sekretion  der  Keimdrüsen). 


.^bb.   3.      Hand   der   Kröte  2. 
Abb    I       Hand  der  Kröte   -t  (Photographie    aus    Harms,    Experimentelle    Untersuchungen 

(Photographie    aus  Harms,    Experimentelle    Unte.suchungen  ^ber  die  innere  Sekretion  der  Keimdrüsen), 

über  die  innere  Sekretion  der  Keimdrüsen). 

Auf    den    ersten    drei    F'ingern    der    Kröte    3 

Schon  1914  wies  Harms  darauf  hin,  daß  auch      (Abb.  i)  sind  deutlich  Höcker  zu  erkennen,  eben- 

die  äußeren  iVlerkmale  durch   das  Biddersche  Or-      falls  auf  den  Fingern  des  Tieres  4  (Abb.  2),  hier 

gan  beeinflußt   werden   können.     Er  lötete  iVIitte     jedoch  nicht  so  hervortretend,  da  das  Tier  einen 


236 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   17 


halben  Monat  früher  getötet  worden  war.  Bei 
Tier  2  (Abb.  3)  fehlen  auf  den  Fingern  die  Höcker 
überhaupt.  Die  Höcker  auf  den  Händen  der 
Kröten,  die  bekanntlich  als  sekundäre  Geschlechts- 
merkmale anzusehen  sind,  werden  also  auch  durch 
das  Biddersche  Organ  in  ihrer  Ausbildung  unter- 
stützt. Daß  es  sich  hier  nicht  um  eine  Persistenz 
der  Merkmale  trotz  Kastration  handelt,  beweist 
ja  das  Fehlen  der  Höcker  auf  den  Fingern  des 
Tieres  2,  dem  Hoden  und  Biddersches  Organ  ent- 
fernt worden  waren,  dem  aber  kein  Biddersches 
Organ  wieder  eingepflanzt  wurde.  Aus  den 
Schnittserien,  die  Harms  von  den  genannten 
Tieren  herstellte,  gehen  dieselben  Ergebnisse  her- 


Abb.  4.     Schnitt  vom  Kinger  der  Kröte   I 
(aus  Harms,  Experimentelle  Untersuchungen). 


.\bb.   5.     Schnitt  vom  Finger  der  Kröte  3 
(aus  Harms,  Experimentelle  Untersuchungen). 


Abb.  6.     Schnitt  vom  Finger  der  Kröte  4 
(aus  Harms,  Experimentelle  Untersuchungen). 


-Abb.   7.     Schnitt  vom   Kinger  der  Kröte  2 
(aus  Harms,  Experimentelle  Untersuchungen). 

Tier  i  (Abb.  4)  und  Tier  3  (Abb.  5)  weisen 
gleiche  Höckerbildung  auf.  Die  Höcker  von 
Tier  4  (Abb.  6)  sind  wohlausgebildet,  haben  aber 
noch  keine  Spitzen.  Bei  Tier  2  (Abb.  7)  sind 
keine  Höcker  zu  erkennen.  Das  Resultat  ist  das 
gleiche:  Auch  ohne  Mitwirkung  des  Hodens  übt 
das  Biddersche  Organ  einen  Einfluß  auf  die  Aus- 
bildung der  Höcker  aus.  Harms  betont  trotz- 
dem, daß  dem  Bidderschen  Organ  vor  allem  ein 
Einfluß  auf  den  Brunsltrieb  zukomme,  während 
die  Hoden  die  Ausbildung  der  Brunstschwielen 
(Höcker)  begünstigen.  Er  glaubt,  durch  die  ex- 
perimentell hervorgerufene  Alleinherrschaft  des 
Bidderschen  Organs  eine  Änderung  in  der  Funk- 
tion dieses  Organs  dahin  zu  erzielen,  daß  das 
Biddersche  Organ  die  fehlenden  Keimdrüsen  er- 
setzt und  nunmehr  auch  die  äußeren  Merkmale 
beeinflußt.  Harms  drückt  das  besonders  deut- 
lich im  folgenden  aus  (1921):  „Normalerweise 
scheint  vom  Inkret  des  Hodens  die  Entwicklung 
der  Begattungsorgane,  der  Brunstschwielen,  abzu- 
hängen, die  sich  konform  mit  dem  Interstitium 
des  Hodens  und  den  Keimzellen  entwickeln.  Da- 
gegen scheinen  vom  Inkret  des  Bidderschen  Or- 
ganes  die  Vorgänge,  die  sich  während  der  Brunst- 
und  Begattungszeit  abspielen,  beherrscht  zu  wer- 
den. Beide  Organe  können  kompen- 
satorisch für  einander  eintreten,  wenn 
auch  natürlich  eine  Befruchtung  bei  alleiniger  An- 
wesenheit des  Bidderschen  Organes  ausgeschlossen 
ist." 

Wie  ich  schon  1920  berichtete,  sucht  Harms 
von  seinen  Beobachtungen  am  Bidderschen  Organ 
aus  das  Problem  der  Zwischenzellen  zu  lösen. 
Das  Biddersche  Organ,  das  nach  allen  Feststellun- 
gen als  Organ  mit  innerer  Sekretion  bezeichnet 
werden  muß,  und  das  in  dieser  Hinsicht  als 
Keimdrüse  tätig  ist,  ja  sogar  die  Hoden  ersetzen 
kann,  besitzt  keine  Zwischenzellen.  Hier  geht 
also  die  Inkretion  von  Keimzellen  (Eizellen)  aus, 
die  allerdings  nicht  voll  entwickelt  sind.  Ein 
Interstitium  kommt  nicht  in  Betracht.  Harms 
nahm  1914  an,  die  Zwischenzellen  der  höheren 
Wirbeltiere  seien  aus  Keimzellen  entstanden  und 
hätten  ihre  Funktion  geändert.  Bei  den  niederen 
Tieren  (z.  B.  Regenwürmern)  hätten  die  Keim- 
zellen noch  die  Aufgabe  der  Inkretion,  während 
später  eine  Differenzierung  in  generative  und 
interstitielle  Zellen  stattgefunden  habe.    Nunmehr 


N.  F.  XXI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


237 


kommt  Harms  auf  Grund  seiner  genauen  Be- 
obachtungen am  Bidderschen  Organ  zu  einem 
anderen  Schluß.  Harms  stellte  fest,  daß  sich 
im  Bidderschen  Organ  das  Inkret  in  den  Eiern 
bildet ')  und  dann  von  den  Granulosazellen  auf- 
genommen wird.  Er  setzt  die  Granulosa- 
zellen d  e  n  Z  wisch  enzel  1  en  der  höheren 
Tiere  gleich  und  meint  nun,  daß  die 
Zwischenzellen  nur  die  A  u  fgabe  hätten, 
dasinkret  an  dasBlut  abzugeben,  nach- 
dem sie  es  umgebildet  hätten.  Gebil- 
det wird  nach  Harms  das  innere  Sekret 
in  degenerierenden  S am enzellelemen- 
ten.  Harms  verläßt  damit  den  Boden 
der  Zwischenzellentheorie  Steinachs. 
In  seinen  neuesten  Arbeiten  tritt  er  auch  als  gut 
ausgerüsteter  Gegner  S  t  e  i  n  a  c  h  gegenüber.  Die 
Lösung  der  Frage,  die  Harms  19 14  gab,  über 
die  ich  auch  1920  berichtete,  wäre  auch  schlecht 
in  Einklang  zu  bringen  mit  der  allgemein  sich 
durchsetzenden  Anschauung,  daß  die  Zwischen- 
zellen bindegewebiger  Natur  sind,  also  nicht  gut 
von  Keimzellen  abzuleiten  sind  (worin  auch 
Stieve  in  jedem  Fall  Recht  zu  geben  ist). 

Das  Biddersche  Organ  bekommt  damit  eine 
ganz  aktuelle  Bedeutung  für  die  neuesten  biolo- 
gischen Forschungen.  Die  Untersuchungen  von 
Harms  sind  noch  nicht  sämtlich  zusammen- 
fassend von  ihm  veröffentlicht  worden.  Es  sind 
sicherlich  auch  noch  weitere  Ergebnisse  zu  er- 
erwarten.  Auf  seine  neuesten  interessanten 
Studien  möchte  ich  noch  kurz  eingehen. 

Verschiedentlich  findet  man  männliche  Erd- 
kröten (Bufo  vulgaris),  die  man  als  Zwitter  an- 
sprechen kann.  Sie  weisen  nämlich  zwischen 
Hoden  und  Bidderschem  Organ  ein  kleines  Ovarium 
auf.  Natürlich  gibt  es  mannigfache  Übergänge 
von  den  beschriebenen  Bidderschen  Organen  bis 
zu  reifen  Ovarien,  so  daß  von  einer  genauen 
Grenze  zwischen  normalen  Männchen  und  Zwittern 
keine  Rede  sein  kann.  Äußeriich  haben  solche 
Tiere,  deren  Biddersches  Organ  zur  Bildung  voll- 
entwickelter Eier  neigt,  alle  männlichen  Merkmale, 
und  sie  können  nach  Harms  auch  fruchtbare 
Begattungen  ausführen.  In  der  Marburger  Gegend 
fand  Harms,  daß  etwa  io"/„  aller  Männchen 
derarrige  Zwitter  sind.  In  der  Umgebung  von 
Dresden  scheint  der  Prozentsatz  nicht  so  hoch  zu 
sein.  Doch  vermag  ich  Bestimmtes  darüber  jetzt 
noch  nicht  auszusagen.  Derartige  Tiere,  deren 
Biddersches  Organ  dazu  neigte,  Eizellen  zur  Reife 
zu  bringen,  benützte  nun  Harms  (seit  1919)  zu 
interessanten  Untersuchungen.  Er  entfernte  ihnen 
die  männliche  Keimdrüse,  den  Hoden.  Er  machte 
folgende  Beobachtungen  an  14  Tieren,  die  ihm 
noch  zur  Verfügung  stehen.  Daumenschwielen 
und  Höcker  sind  normal  ausgebildet.  Ebenso  ist 
der  Brunsttrieb  erhalten.    Äußeriich  sind  die  Tiere 


')  Stieve  nimmt  an,  daß  es  sich  nicht  um  ein  Sekret, 
sondern  um  Fettgranula  handelt,  die  zur  Bildung  des  Dotters 
verwendet  werden.  Da  es  aber  im  Bidderschen  Organ  keine 
Dotterbildung  gibt,  ist  diese  Annahme  wenig  beweiskraftig. 


männlich  geblieben.  Interessant  ist  nun  ein  Blick 
in  einen  solchen  operierten  Zwitter.  Das  Bidder- 
sche Organ  zeigt  nach  der  Entfernung  der  Hoden 
stärkere  Neigung  zur  Umbildung  in  ein  Ovarium. 
Es  läßt  sich  eine  Wucherung  des  Ovarialgewebes 
feststellen.  Harms  hat  bisher  noch  keins  dieser 
Tiere  getötet,  um  möglichst  exakte  Beobachtungen 
machen  zu  können.  Ein  im  Frühjahr  192 1  ope- 
riertes Tier  starb  jedoch  im  August  an  einem 
Magengeschwür.  Harms  konnte  also  hier  schon 
interessante  Feststellungen  machen.  Die  Ovarien 
sind  stark  entwickelt  und  füllen  die 
kleine  männliche  Bauchhöhle  ganz  aus. 
DieEier  sind  fast  ausgereift  (der  Jahres- 
zeit entsprechend),  das  Biddersche  Or- 
gan gut  entwickelt.  Hier  ist  also  ein 
normales  Ovarium  aus  einer  rudimen- 
tären Anlage  erzeugt.  Trotzdem  ist  das 
Tier  äußerlich  vollständig  männlich  geblieben.  Ob 
hier  das  Biddersche  Organ  dem  Einfluß  des 
Ovariums  entgegenwirkt,  ist  noch  nicht  erwiesen. 
Die  Tatsache,  daß  auch  beim  Weibchen  ein  ganz 
gleichartig  gebautes  Biddersches  Organ  vorhanden 
ist,  wie  Harms  betont,  kann  meiner  Ansicht 
nach  nichts  aussagen.  Es  bleibt  also  abzuwarten, 
welche  Wirkung  ein  auf  die  geschilderte  Art  ge- 
wonnenes Ovarium  nach  der  Entfernung  des 
Bidderschen  Organs  auf  den  männlichen  Körper 
ausübt. 

Die  Bedeutung  des  Bidderschen  Organs  tritt 
immer  deutlicher  zutage.  Als  rudimentäres 
Ovarium  ist  es  einerseits  inkretorisch  im  männ- 
lichen Körper  für  die  Ausbildung  sekundärer  Ge- 
schlechtsmerkmale von  Nutzen,  andererseits  scheint 
es  auch  fähig  zu  sein,  seine  ehemaligen  Eigen- 
schaften bei  der  Bildung  von  Eizellen  verwerten 
zu  können.  Als  solches  ist  das  Biddersche  Or- 
gan für  die  experimentelle  Forschung  auf  dem 
Gebiete  der  inneren  Sekretion  eins  der  geeignetsten 
Objekte  geworden.  Was  wir  auf  dem  Wege  bis 
zu  diesem  neuen  Erfolge  biologischer  Arbeit  vor 
allem  Harms  verdanken,  das  zu  zeigen,  war 
mein  Bestreben  bei  Abfassung  dieser  Zeilen. 

Literatur. ') 
Harms,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  innere 
Sekretion  der  Keimdrüsen  und  deren  Beziehung  zum  Gesamt- 
organismus.    Gustav  Fischer,   1914. 

—  — ,  Über  die  innere  Sekretion  des  Hodens  und  Bidder- 
schen Organs  von  Bufo  vulgaris  Laur.  Sonderabdruck  aus 
den  Sitzungsberichten  der  Gesellschaft  zur  Beförderung  der 
gesamten  Naturwissenschaften  zu  Marburg   1914,  Nr.  5. 

—  — ,  Ergänzende  Mitteilung  über  die  Bedeutung  des 
Bidderschen  Organs.  Sonderabdruck  aus  dem  Zoologischen 
Anzeiger,  Bd.  XLV,  Nr.   13,   1915. 

S  t  e  i  n  a  c  h  ,  Verjüngung  durch  experimentelle  Neubelebung 
der  alternden  Pubertätsdrüse.     Julius  Springer,    1920. 

')  Umfangreichere  Literalurangaben  finden  sich  zusammen- 
gestellt in  der  Mitteilung  über  „die  Morphologie  des  Bidder- 
schen Organs"  von  Harms  (Zeitschrift  für  Anatomie  und 
Entwicklungsgeschichte).  —  Die  Sonderabzüge  verdanke  ich 
dem  Entgegenkommen  des  Herrn  Prof.  Dr.  Harms,  dem 
ich  an  dieser  Stelle  lür  die  Übersendung  der  Arbeiten  besters 
danken  möchte. 


:38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  17 


Stievc,  Entwicklung,  Bau  und  Bedeutung  der  Keim- 
drUsenzwiscbenzellen.  Eine  Kritik  der  Stein  a  c  h  sehen 
,, Pubertätsdrüsenlehre".     J.   K.  Bergmann,   1921. 

Harms,  Untersuchungen  über  das  Biddersche  Organ  der 
männlichen  und  weiblichen  Kröten,  1.  Mitteilung;  Die  Mor- 
phologie   des    Bidderschen    Organs.      Sonderabdruck  aus  der 


Zeitschrift  für  Anatomie  und   Entwicklungsgeschichte,  62.  Bd., 
Heft   1/2,   1921. 

—  — ,  Verwandlung  des  Bidderschen  Organs  in  ein 
<  ivarium  beim  Männchen  von  Bufo  vulgaris  Laur.  Sonder- 
abdruck aus  dem  Zoologischen  Anzeiger,  Bd.  LIII,  Nr.  11/13, 
1921. 


Bücherbesprechungen. 


Hofmann,  Albert,  Das  Rätsel  der  Hand- 
strahlen. Eine  Experimentalstudie.  Leip- 
zig 19191  O.  Mutze. 
Eine  hübsche  kleine  Arbeit,  die  nachzuweisen 
versucht,  daß  die  Bewegung  leichter  drehbarer 
Gestelle  aus  Strohhalmen,  Karton  usw.  lediglich 
—  bei  Ausschaltung  strahlender  Wärme  u.  dgl.  - — 
durch  die  leichten  Erschütterungen  des  Armes  und 
der  Hand  infolge  der  rhythmischen  Pulsstöße  be- 
wirkt werde,  die  sich  der  umgebenden  Luft  mit- 
teilen. Der  Autor  führt  zum  Beweis  eine  große  An- 
zahl geschickt  variierter  Versuche  vor.  IVIan  braucht 
weder  diese  noch  die  obige  Erklärung  in  ihrem 
gegebenen  Bereiche  zu  beanstanden.  Da  aber 
von  ernstzuiichmender  Seite  noch  anderweite 
Wirkungen  menschlicher  Strahlungen  verfochten 
werden,  z.  B.  photographische,  und  auch  die 
mechanischen  Effekte  oft  stärkere  sind,  als  durch 
Pulsstöße  irgendwie  erklärbar  (z.  B.  habe  ich  selbst 
in  für  mich  zweifelsfreier  Weise  das  Auslöschen 
einer  Flamme  durch  die  entgegengehaltenen 
Fingerspitzen  mehrfach  beobachten  können),  so 
will  es  mir  fast  scheinen,  als  ob  das  eigentliche 
Verdienst  der  Ho  fmann  sehen  Arbeit  die  Auf- 
deckung einer  bisher  übersehenen  Fehlerquelle 
sei.  Jedenfalls  wird  jeder  weitere  Untersucher 
der  menschlichen  Strahlungen  mit  den  Pulsstößen 
und  etwaigen  mechanischen  Wirkungen  derselben 
(übrigens  auch  bei  dem  sog.  siderischen  Pendel) 
zu  rechnen  haben.  Die  Strahlungen  selbst  aber 
scheinen  doch  etwas  Anderes  und  Selbständiges 
zu  sein.  v.  Wasielewski. 


Chowrin.  Dr.  A.  N.,  Experimentelle  Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiete  des  räum- 
lichen Hellsehens.     Deutsch  von  Dr.  F"rei- 
herrn  v.  Schrenck-Notzing.     München   1919, 
Ernst  Reinhardt. 
Eine    interessante ,    sorgfältige    Studie ,    deren 
Original  schon  vor  über  20  Jahren  erschienen  ist. 
Mit  Rücksicht  auf  seitherige  Untersuchungen  über 
dieselben   Probleme    könnte    die    Ausgrabung   aus 
einer  russischen  Zeitschrift  überflüssig  erscheinen. 
Dieser  Standpunkt  wäre  aber  nicht  richtig,  da  bis 
zu  einer  allgemeinen  Anerkennung  der  Phänomene, 
die  bislang  noch  keineswegs  erfolgt  ist,  jede,  auch 
frühere,    wissenschaftlich    ernst    zu    nehmende  Ar- 
beit   möglichst    allgemein    bekannt    werden  muß. 
Von  der  historischen  Gerechtigkeit  nicht  zu  reden. 
—    Versuchsperson    war     eine    an     hochgradiger 
Hysterie  leidende  russische  Lehrerin.     Sic  konnte 


unter  schärfsten  Kontrollbedingungen  verschlossene 
Briefe  „lesen"  und  andere  dem  okkulten  Problem- 
kreis zugehörige  Aufgaben  lösen.  Außerdem  be- 
stand Dislokation  von  Sinnesempfindungen  und 
Hyperästhesie  besonders  des  Gesichtssinnes.  Leider 
hat  sich  der  Autor  verleiten  lassen,  das  Phänomen 
des  Lesens  verschlossener  Schriftstücke  auf  diese 
letzteren  F"ähigkeiten  zurückzuführen,  was  schon 
für  seinen  Fall,  vor  allem  aber  auch  für  spätere 
gleichartige,  keineswegs  zutreffen  dürfte.  Der 
Herausgeber  v.  Schrenck-Notzing  hat  in 
einem  Abschnitt  „Schlußbemerkungen"  u.  a.  auch 
diesen  Umstand  hervorgehoben  und  begründet.  — 
Die  Arbeit  verdient  unbedingte  Beachtung  seitens 
aller,  die  sich  für  die  experimentell  wissenschaft- 
liche Behandlung  okkulter  Probleme  interessieren, 
v.  Wasielewski. 


Thirring,  Hans,  a.  o.  Prof.  der  theoret.  Physik 
in  Wien,  Die  Idee  der  Relativitäts- 
theorie. 169  S.  Berlin  192 1,  J.  Springer. 
Geh.  24  M. 
Der  Verf.  will  den  Kern  der  sog.  Relativitäts- 
theorie Einsteins  herausschälen,  soweit  dieses 
bei  völliger  Vermeidung  aller  mathematischen 
Hilfsmittel  möglich  ist.  Das  Buch  behandelt  das 
Thema  vom  rein  physikalischen  Standpunkt  aus, 
eine  weitere  philosophische  Verwertung  der  Ideen 
wird  nicht  versucht.  Wenn  nun  der  Verf.  sagt: 
„Trotzdem  ist  gerade  dieses  Buch  als  Grundlage 
für  eine  philosophische  Diskussion  über  die  Rela- 
tivitätstheorie gedacht:  hier  ist  im  wesentlichen 
alles  gesagt,  was  der  Physiker  zu  sagen  hat"  — 
so  muß  dem  mit  aller  Schärfe  widersprochen 
werden.  Denn  das  Buch  ist  eine  vollkommen 
einseitige  Darstellung  der  Einst  einschen,  äther- 
feindlichen, übertrieben  abstrakten  Betrachtungs- 
weise, die  man  eigentlich  gar  nicht  mehr  als 
„Physik"  bezeichnen  kann.  Daß  man  die  in  F'rage 
kommenden  Versuche  —  Aberration,  Fizeau 
undMichelson  —  auch  ganz  anders  wie  Ein- 
stein im  Sinne  der  Bewegungslehre  eines  sub- 
stantiellen Äthers  ohne  Raum -Zeitverrenkungen 
deuten  kann  —  was  für  Philosophen  doch  immer- 
hin einiges  Interesse  hätte  —  verrät  der  Verf. 
nicht.  Vielleicht  ergänzt  der  Verlag  seine  vielen 
Veröffentlichungen  auf  diesem  Gebiete  auch  ein- 
mal durch  ein  Werk,  das  einen  kritischeren  Stand- 
punkt vertritt.  Jedenfalls  muß  der  Leser,  ins- 
besondere der  Philosoph,  davor  gewarnt  werden, 
seine  Kenntnisse   über   die  physikalischen  Grund- 


N.  F.  XXI.  Nr.   \) 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


239 


lagen    des  Einsteinismus    nur    aus    so    einseitigen 
Darstellungen  zu  schöpfen.  Fricke. 


Mie,  Prof.  Gustav,  Die  Einsteinsche  Gravi- 
tationstheorie. Versuch  einer  allgemein 
verständlichen  Darstellung  der  Theorie.  67  S. 
5  Fig.  Leipzig  1921,  S.  Hirzel.  Geh.  7  M. 
Die  Schrift  von  Mie,  eine  Erweiterung  des 
in  der  Deutschen  Rundschau  erschienenen  Auf- 
satzes, bringt  über  die  prinzipielle  Bedeutung  der 
Einst  einschen  Gravitationstheorie  eine  von  der 
üblichen  etwas  abweichende  Auffassung.  Mie 
kommt  von  der  Ätherphysik  her  und  hält  auch 
an  dieser  fest.  Er  wird  wohl  ganz  richtig  von 
dem  Gefühl  geleitet,  daß  die  neuen  Ideen  über 
das  Raum-Zeitkontinuum  und  die  Gleichwertigkeit 
von  Trägheit  und  Schwere  sich  am  besten  an  die 
alte  kontinuierliche  Äthertheorie  anschließen  lassen. 
Seltsamerweise  werden  nun  Äther-  und  Relativi- 
tätstheorie hier  ruhig  nebeneinandergestellt,  ohne 
daß  die  Gegensätze  zwischen  beiden,  die  doch 
von  den  Vertretern  des  Einsteinismus  (z.  B.  v.  Laue) 
gar  nicht  geleugnet  werden,  klar  hervorgehoben 
oder  beseitigt  worden  wären.  Das  letztere  ist 
m.  E.  nur  möglich,  wenn  man  die  Grundlagen 
der  Einsteinschen  Theorie  vollständig  umge- 
staltet. Der  Verf.  will  es  aber  offenbar  mit  keiner 
Seite  verderben,  er  läßt  sie  beide  gelten,  und 
das  macht  seine  Darstellung  trotz  der  vielen 
guten  und  neuen  Ideen,  die  sie  enthält,  doch  noch 
etwas  unbefriedigend.  Fricke. 


Pauli  jun.,  W.,  Relativitätstheorie.    236  S. 

Leipzig    1921,    B.   G.   Teubner.      Geh.    40   M., 

geb.  50  M. 
Das  Buch  ist  ein  Sonderabdruck  aus  der  Ency- 
klopädie  der  mathematischen  Wissenschaften.  Es 
werden  vor  allem  die  mathematischen  Zusammen-* 
hänge  in  voller  Allgemeinheit  und  Abstraktion 
dargestellt;  den  mathematischen  Hilfsmitteln  in- 
variantentheoretischer und  polydimensionaler  Art 
ist  besonders  der  II.  Abschnitt  gewidmet.  Die 
Wey  Ische  Theorie  und  die  Mie  sehen  Gedanken 
werden  im  letzten  Abschnitt  kritisch  dargestellt. 
Der   schwache   Punkt   bleibt    auch  hier    die  phy- 


sikalische Begründung,  die  doch  eigentlich  das 
Wichtigste  ist.  Ein  Satz  wie  dieser:  „Die  vielen 
negativen  Versuche,  einen  Einfluß  der  Erdbe- 
wegung auf  die  Erscheinungen  durch  Messungen 
auf  der  Erde  selbst  festzustellen,  lassen  mit  aller 
Wahrscheinlichkeit,  man  kann  wohl  sagen  mit 
Sicherheit,  den  Schluß  zu,  daß  prinzipiell  die  Er- 
scheinungen in  einem  System  unabhängig  von 
der  Translationsbewegung  sind,  die  es  als  Ganzes 
hat"  stellt  eine  Abstraktion  dar,  die  ein  anschau- 
lich denkender  Physiker  unmöglich  mitmachen 
kann.  Denn  Beobachtungen,  die  man  bei  der 
Bewegung  des  ganzen  Erdkörpers  mit  allen  seinen 
Kraftfeldern  macht,  kann  man  doch  nicht  nur 
rein  geometrisch  deuten  und  ohne  Rücksicht  auf 
die  Kraftfelder  auf  beliebige  Translationen,  z.  B. 
auf  die  Fahrt  eines  Wagens  auf  der  Erdoberfläche, 
übertragen.  Daß  hier  ein  physikalisch  unzuläs- 
siger Gedankensprung  vorliegt,  daß  nämlich  geo- 
metrische und  dynamische  Betrachtungen  nicht 
streng  unterschieden  werden,  scheint  dem  rein 
mathematisch  orientierten  Verf.  entgangen  zu  sein. 
Die  Schlußfolgerung:  „Durch  das  Postulat  der 
Relativität  wird  der  Äther  als  Substanz  aus  den 
physikalischen  Theorien  entfernt"  zeigt  sofort  die 
schlimmen  Folgen  so  voreiliger  Verallgemeine- 
rungen. Denn  die  Beseitigung  des  substantiellen 
Äthers  ist  keine  P'olge  irgendeiner  „Relativität," 
sondern  lediglich  die  Folge  des  Umstandes,  daß 
Einstein  bei  Formulierung  des  Postulats  den 
Äther  einfach  vergessen  hat.  Die  von  ihm  an- 
gestrebte ätherlose  Physik  ist  jedoch  physikalisch 
unhaltbar,  was  er  selbst  bereits  erkannt  zu  haben 
scheint.  Die  umfassende  Kritik,  die  Einsteins 
vorschnell  aufgestellten  Postulate  inzwischen  er- 
fahren haben,  scheint  dem  Verf.,  der  allerdings 
hauptsächlich  nur  die  Literatur  bis  Ende  1920 
berücksichtigt,  unbekannt  geblieben  zu  sein,  oder 
er  hat  ihren  Sinn  nicht  verstanden;  wenigstens 
habe  ich  Hinweise  auf  die  Arbeiten  von  Lenard 
und  Gehrcke  nicht  gefunden.  Bedauerlich  bleibt 
daher,  daß  in  einem  so  bedeutenden  Werke,  wie 
es  die  Enzyklopädie  der  mathematischen  Wissen- 
schaften darstellt,  ein  so  überaus  einseitiger  Stand- 
punkt vertreten  wird.  Oder  will  man  an  anderer 
Stelle  auch  die  Vertreter  eines  substantiellen 
Äthers  und  des  „gesunden  Menschenverstandes" 
zu  Worte  kommen  lassen?  Fricke. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zur  Frage ;  Augenlose  Höhlentiere,  Mutationstheorie  und 
Lamarekismus.  —  In  Nr.  14,  S.  199  f.  hat  Herr  Peter- 
Zittau  meinen  im  vor.  Jahrg.  dieser  Zeitschrift  (S.  648  ff.  I  er- 
schienenen Bericht  über  „die  Rückbildung  der  Augen  durch 
Mutation  bei  Drosophila"  einer  Kritik  unterzogen.  Der  ge- 
nannte Bericht  stellte  eine  Besprechung  von  Untersuchungen 
Zelenys  dar,  und  im  Anschluß  an  diese  Besprechung  wies 
ich  darauf  hin,  dafl  uns  diese  Untersuchungen  einen  Weg 
weisen,  die  Entstehung  der  augenlosen  Höhlentiere,  dieses  viel 
zitierten  Paradebeispiels  des  Lamarekismus,  auch  ohne  die 
Annahme    lamarckistischer    Vorstellungen     zu    verstehen.      Es 


sollte  nichts  weiter  als  ein  Hinweis  sein.  Weder  beabsichtigte 
ich  damals,  in  eine  ausführliche  Kritik  des  Lamarekismus  ein- 
zutreten, noch  will  ich  heute  den  Versuch  machen,  unentwegte 
Lamarckianer  zu  bekehren.  Wenn  auch  schon,  wie  sich  Jo- 
hannsen  recht  drastisch  ausdrückt,  „Weismann  das  große 
Verdienst  gebührt,  den  Augiasstall  vermeintlich  bestätigender 
Erfahrungen  über  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  völlig 
gereinigt  zu  haben",  wenn  auch,  wie  Goldschmidt  sagt, 
die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  ,,eine  logische  Un- 
möglichkeit" ist,  so  spuken  doch  lamarckislische  Auffassungen, 
um  schließlich  noch  einen  dritten  unserer  bekanntesten  Gene- 


240 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  17 


tiker,  Baur,  zu  zitieren,  „auf  Grund  falsch  gedeuteter  He- 
obachtungen  unter  dem  Schlagwort  von  der  Vererbung  erwor- 
bener lugenschaften  noch  immer  in  vielen  Köpfen".  Wenn 
Herr  Peter  meinen  eigenen  Standpunkt  noch  genauer  kennen 
zu  lernen  wünscht,  so  sei  er  auf  das  Kapitel  ,, Vererbung"  in 
dem  demnächst  erscheinenden  Jahresbericht  über  die  gesamte 
Physiologie  verwiesen,  in  dem  ich  die  Frage  ausführlicher 
behandelt  habe. 

Doch  ich  hätte  hier  überhaupt  nicht  mehr  das  Wort  er- 
griffen, wenn  ich  nicht  ein  Mißverständnis  beseitigen  möchte, 
das  Herrn  Peter  unterlaufen  ist,  und  an  dem  ich  nicht  un- 
schuldig bin.  Herr  P.  meint,  ich  sei  der  Ansicht,  ein  rezes- 
sives Merkm.al  könne  schon  allein  durch  die  Dominanz  des 
gegensätzlichen  Merkmals  völlig  eliminiert  werden.  Kine  der- 
art unsinnige  Behauptung  aufzustellen,  ist  mir  selbstverständ- 
lich nie  eingefallen.  Daß  gerade  das  Gegenteil  der  Fall  ist, 
ist  eine  Tatsache,  die  so  sehr  zum  ABC  der  Vererbungslehre 
gehört,  daß  es  mir  überflüssig  erschien,  dies  noch  eigens  zu 
betonen.  Das  hätte  sich  auch  Herr  Peter  sagen  können;  er 
wäre  dann  wohl  kaum  auf  diese  falsche  Deutung  meiner 
Worte  —  die,  wie  ausdrücklich  zugegeben  sei,  leider  nicht 
eindeutig  waren  —  gekommen.  Was  ich  sagen  wollte,  ist 
folgendes.  Wenn  bei  einer  im  Licht  lebenden  Form  Muta- 
tionen auftreten,  die  einen  mehr  oder  weniger  völligen  Verlust 
des  Auges  nach  sich  ziehen,  so  wird  die  Form  mit  Augen 
die  ,, dominierende"  bleiben,  auch  wenn  das  Mutationsmerk- 
mal „Augenlosigkeit"  dominant  ist  über  das  Merkmal  „nor- 
males Auge"  ;  denn  selbst  wenn  im  übrigen  die  Mutanten  an 
Lebensfähigkeit  nicht  hinter  der  Ursprungsrasse  zurückstehen, 
so  sind  sie  doch  infolge  des  mangelnden  Sehvermögens  im 
Kampfe  ums  Dasein  um  so  viel  schlechter  daran  als  die 
sehenden  Tiere,  daß  sie  in  diesem  Kampfe  viel  leichter  er- 
liegen werden.  Resultat:  die  größte  Mehrzahl  der  Tiere  hat 
.Augen,  die  augenlosen  Mutanten  sind  trotz  ihrer  Dominanz 
sehr  selten.  Ganz  anders  aber  wird  die  Zusammensetzung  der 
Po|)ulation,  wenn  die  Tiere  im  Dunkeln  leben.  Das  Auge 
hat  nun  keinen  Selektionswert  mehr,  die  augenlosen  Mutanten 
werden  infolgedessen  nicht  mehr  eliminiert,  und  infolge  ihrer 
Dominanz  über  die  Ursprungsform  werden  sie  diese  mehr  und 
mehr  zurückdrängen.  Die  von  Herrn  Peter  aufgestellte  Be- 
hauptung, daß  die  Nachkommen  der  Stammform  und  der 
Mutante  während  aller  Generationen  immer  in  demselben 
Zahlenverhältnis  zueinander  bleiben,  wäre  nur  dann  richtig, 
wenn  keine  neuen  gleichsinnigen  Mutationen  erfolgen  würden. 
Aber  das  ist  eben  der  Fall.  Resultat  also:  die  größte  Mehr- 
zahl der  Tiere  ist  augenlos,  die  Augentiere  werden  mit  der 
Zeit  immer  seltener.  Und  selbst  wenn  letztere  auch  nicht 
völlig  eliminiert  werden,  so  dürfen  wir  doch  wohl  von  einem 
„Verschwinden  der  Augen  bei  den  im  Dunkeln  lebenden 
Tieren"  sprechen.  Nachtsheim. 


Literatur. 

Schm  e  il ,  Prof.  Dr.  Ü.,  Leitfaden  der  Tierkunde.  102.  Aufl. 
Leipzig  '22,  Verlag  von  Quelle  \   Meyer.     Geb.  36  M. 

Gramberg,  Eugen,  Pilze  der  Heimat.  Band  I.  Blätter- 
pilze. Leipzig '21,  Verlag  von  Quelle  v^  Meyer.  Geb.  108  M. 
Schmeils  naturwissenschaftl.  Atlanten. 

Gramberg,  Eugen,  Pilze  der  Heimat.  Band  II.  Löcher- 
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naturwissenschaftl.  Atlanten. 

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Unterrichts.  Heft  5.  Mitteilungen  der  preußischen  Haupt- 
stelle für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht.  Leipzig  '22, 
Verlag  von  Quelle  iV  Meyer. 

Ludcndorff,  Prof.  Dr.   H.,  Newcomb-Engelmanns  Po- 


puläre Astronomie.  6.  Aufl.  Leipzig  '21  ,  Verlag  von  Wilh. 
Engclmann.     Geh.   70  M.,  geb.   Iio  M. 

Grüner,  Dr.  P.,  Elemente  der  Relativitätstheorie.  Kine- 
matik und  Dynamik  des  eindimensionalen  Raumes.  Bern  '22, 
Paul  Haupt,   Akadem.  Buchh.     28  M. 

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Driesch,  Hans,  Das  Ganze  und  die  Summe.  Leipzig 
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Jäger,  Prof.  Dr.  G.,  Theoretische  Physik  IV.  Sammlung 
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licher Verleger.     9  M. 

G  rinn  eil,  Joseph,  Two  now  Rodents  (Genera  Thomo- 
n.ys  and  Marmota)  from  the  Eastern  Border  of  California. 
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Atlas  .Africanus,  Lief.  I.  München,  Verlag  C.  H.  Beck. 
4S   M. 

Engler,  A.,  Das  Pflanzenreich,  IV.  50  Orchidaceae  — 
Monandrae.  So  {Heft  IV.  50).  Leipzig  '22 ,  Verlag  v.  Wilh. 
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Dessau,  Dr.  Beruh. ,  Lehrbuch  der  Physik,  i.  Band: 
Mechanik,  Akustik,  Wärmelehre.  Leipzig  '22,  Verlag  von 
Joh.  A.  Barih.     Geb.   190  M.,  brosch.   160  M. 

Klockmann,  Dr.  F.,  Lehrbuch  der  Mineralogie.  7.  u. 
8.  Aufl.     Stuttgart  '22,   Verlag  von  Ferd.   Enke. 

Stavenhagen,  Dr.  A.,  Kurzes  Lehrbuch  der  Anorgani- 
schen Chemie.     II.  Aufl.     Stuttgart '22,  Verlag  von  Ferd.  Enke. 

Pfeiffer,  Prof.  Dr.  Paul,  Organische  Molekülverbin- 
dungen, und 

Schmidt,  Prof.  Dr.  Julius,  Chemie  in  Einzeldarstellun- 
gen, XI.  Band.     Stuttgart  '22,  Verlag  von  Ferd.  Enke. 

Bittier,  Dr.  Alex.,  Krankheit  und  Seelenleben  als  Fol- 
gen gestörter  Äquivalenz  der  Reizbeantwortung.  Eine  Recht- 
fertigung symptomatischer  Therapie.  München,  Verlag  der 
ärztl.  Rundschau. 

van  Velzen,  Dr.  S.  K. ,  Thoden ,  Psychoencephale 
Studien.     5.  Aufl.     Joachimsthal   '20,  Verlag  Velzen. 

Müller,  L.  R,  Über  die  Altersschätzung  bei  Menschen. 
Berlin  '22,  Verlag  von  J.  Springer. 

Berg,  Anton,  Atherströmungs-  und  Ätherstrahlungs- 
hypothese zur  Erklärung.  2.  Band.  München  '22,  Verlag 
Natur  und  Kultur.     Brosch.  36  M. 

Weitzel,  Willy,  Die  neuentdeckten  lebenswichtigen 
Nährstoffe,  Vitamine.  München  '21,  Verlag  der  ärztl.  Rund- 
schau.    Brosch.  7,50  M.,  geb.   12  M. 

Abhandlungen  und  Vorträge  aus  dem  Gebiete  der  Mathe- 
matik.    Naturwissenschaft  und  Technik. 

V.  Mises,  Rieh.,  Naturwissenschaft  und  Technik  der 
Gegenwart.  Heft  8,  Leipzig- Berlin  '22,  Verlag  von  B.  G. 
•Teubner.     Geh.  8  M. 

Pfaff,  Dr.  A.,  Für  und  gegen  das  Einsteinsche  Prinzip. 
Diessen  vor  München  '21,  Druck  der  Graph.  Kunstanstalt 
Jos.  C.  Huber. 

Wiegers,  Bergrat  Dr.  Fritz,  Geologisches  Wanderbuch 
für  die  Umgegend  von  Berlin.  Stuttgart  '22,  Verlag  v.  Ferd. 
Enke.     Geh.  30  M. 

Maag,  Ernst  und  Reibung,  Dr.  rer.  nat.  Karl,  Vom 
Relativen  zum  Absoluten.  I.Teil:  Das  Ätherrätsel  und  seine 
Lösung.     Stuttgart  '21,  E.  Schweizerbartsche  Verlagsbuchh. 

Liesegang,  Dr.  Raphael  Ed.,  Beiträge  zu  einer  Kolloid- 
chemie des  Lebens  (Biologische  Diffusionen).  II.  Aufl.  Dres- 
den und  Leipzig   '22,  Verlag  von  Th.  Steinkopff. 

Schworetzky,  Gustav,  Weltäther  und  Weltall.  Stutt- 
gart '22,   Verlag  von  F.  Steinkopf. 

Egerer,  Dr.  Ing.  G.  W. ,  Kohle  und  Kohlenersatz. 
Leipzig- Berlin  '21,  Kommissionsverlag  von  B.  G.  Teubner. 
Geh.   12  M. 


Inbalt:  G.  Zeuner,  Das  Biddersche  Organ.  (7  Abb.)  S.  233.  —  Bücherbesprechungen:  A.  Hofmann,  Das  Rätsel  der 
Handstrahlen.  S.  23S.  A.  N.  Chowrin,  Experimentelle  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  des  räumlichen  Hellsehens. 
S.  238.  H.  Thirring,  Die  Idee  der  Relativitätstheorie.  S.  238.  G.  Mie,  Die  Einsteinsche  Gravitationstheorie.  S.  238. 
W.  Pauli  jun.,  Relativitätstheorie.  S.  239.  —  Anregungen  und  Antworten:  Augenlose  Höhlentiere,  Mutationstheorie 
und  Lamarekismus.  S.  239.  —  Literatur:  Liste.  S.  240. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 

der'^ganzen°Reihe3f.^Band.       |  Sonntag,  den  30.  April  1922.  j  Nummcr  18. 


Vom  diluvialen  Menschen  und  seiner  Jagd. 


[Siebdruck 


Von   Prof.   Dr. 


Der  Mensch  der  tiszeit  war  nomadisierender 
Jäger  schlechthin.  Die  Jagd  war  Grundlage 
des  Daseins  des  Paläolithikers  Mitteleuropas, 
und  auch  vom  Eolithiker,  der  als  sein  Vorfahr 
zum  mindesten  im  älteren  Diluvium  lebte,  wird 
dasselbe  gelten,  wenn  wir  auch  von  dessen  Lebens- 
haltung noch  kaum  etwas  wissen.  Sie  war  Mittel- 
punkt seines  Lebens  und  Grundlage  ältester 
sozialer  Gliederung,  die  Beschäftigung,  die  jede 
andere  an  Notwendigkeit  und  Wichtigkeit  über- 
ragte, die  Körper  und  Geist  belebte  und  be- 
fruchtete, zur  Naturbeobachtung  und  Erfindung 
von  Waffen  und  Listen  anspornte.  In  der  Jagd 
wurzelte  seine  Kunst,  wie  sie  uns  in  Plastik  und 
Gravierung,  in  Umrißzeichnung  und  Wandmalerei 
mit  so  packender  Naturwahrheit  im  jüngeren 
Paläolithikum  entgegentritt. 

Zu  dem  großen,  für  die  Befreiung  des  Menschen 
vom  tierischen  Zustande  überaus  wichtigen 
Probleme  der  paläolithischen  Jagd  wurde  schon 
verschiedentlich  und  von  wechselnden  Gesichts- 
punkten Stellung  genommen.  Vor  allem  war  es 
W.  So  er  gel,  der  von  den  hier  grundlegenden 
Forschungsgebieten  der  Geologie  und  Paläonto- 
logie aus  ^)  —  denn  Prähistorie  und  Anthropologie 
können  allein  nicht  zu  einer  einwandfreien 
Würdigung  und  Klärung  dieses  komplexen  Frage- 
gebietes führen  —  zuerst  1912,^)  nun  wieder  in 
seinem  Werke  „Die  Jagd  der  Vorzeit"^)  Jäger 
und  Jagdtier  des  Paläolithikums  uns  schilderte. 
Soergels  Ergebnisse,  die  auf  kritischer  Sichtung 
und  statistischer  Zählung  des,  in  einer  Reihe  von 
wichtigen  —  meist  deutschen  und  österreichischen 
—  Fundstellen  verschiedener  paläolithischer Kultur- 
perioden vorliegenden  Beutematerials  des  dilu- 
vialen Jägers  beruhen,  beanspruchen  allgemeinere 
Beachtung.  Doch  dürfen  sie  naturgemäß  nicht  in 
ihren  speziellen  Folgerungen  ohne  weiteres  auf 
andersartige  diluviale  Gebiete  übertragen  werden, 
wie  im  einzelnen  manche  abweichende  Stellung 
zu  den  erörterten  Fragen  möglich  ist.  Frei  von 
jeder  Schilderung  phantasiegeschmückter  Jagd- 
abenteuer wird  versucht,  uns  ein,  durch  geolo- 
gische  und   paläontologische   Beobachtungen    be- 


')  Sehr  richtig  sagt  Wiegers  {Diluvialprähistorie  als 
geol.  Wissenschaft;  Abbandl.  Preufi.  Geol.  Landesanstalt, 
Heft  84,  1920)  „Vor  allem  aber  ist  nur  die  Geologie  in  der 
Lage,  die  Erforschung  des  diluvialen  Menschen  auf  breitester 
Grundlage  zu  ermöglichen". 

'')  W.  Soergel,  Das  Aussterben  diluvialer  Säugetiere 
und  die  Jagd  des  diluvialen  Menschen.  Jena  1912  (Fest- 
schrift zur  43.  Allg.  Vers.  d.  Deutsch.  Antbrop.  Gesellschaft, 
Weimar  1912). 

^)  W.  Soergel,  Die  Jagd  der  Vorzeit.     Jena   1922. 


Kreilkel,  Leipzig. 

gründbares,  durch  Artefaktfunde  unterstütztes  Bild 
der  Stellung  des  diluvialen  Jägers  inmitten  der 
ihm  nützlichen  wie  schädlichen  Tierwelt,  der  ihn 
umgebenden,  im  Laufe  des  Diluviums  ja  mehrfach 
nach  Klima  und  Gesteinsbildung,  in  Tier-  und 
Pflanzenwelt  stark  wechselnden  Landschaft  zu  ent- 
werfen.') 

Die  Anfänge  menschlicher  Jagd  ruhen  wohl 
in  der  Zeit  vor  dem  Quartär.  Mit  dem  lang- 
samen Aufstiege  des  Menschen  ist  auch  sie  all- 
mählich geworden.  Mehr  in  absätzigen  Stufen 
als  in  organischer  Weiterbildung  gestaltete  sie  sich 
in  Mitteleuropa  um,  nach  und  nach  mit  dem  Ein- 
rücken neuer  Menschenrassen  im  verfügbaren 
Waffenwerk,  durch  Erlernung  rationeller  Methoden 
und  mit  steigender  Körpergewandtheit  des  Men- 
schen sich  vervollkommnend. 

Das  vor  dem  Paläolithikum,  der  Altsteinzeit  - 
der  Epoche  planmäßig  vom  Menschen  bearbeiteter 
Werkzeuge  aus  Stein,  Holz  und  Knochen  — 
liegende  Eolithikum,  dessen  Ausscheidung  vor- 
läufig nicht  zu  entbehren  ist  im  Gegensatze  zu  einem 
„Archäolithikum",  offenbarte  uns  mit  einer  wich- 
tigen Ausnahme  noch  keinerlei  Reste  mensch- 
licher Skelette.  In  ihm  finden  sich  jedoch  reich- 
lich die  Eolithen.  Es  sind  unregelmäßig  um- 
rissene  Gesteinsbrocken,  meist  aus  Feuerstein,  die 
Spuren  einer  äußeren  Inanspruchnahme  durch 
Abspringen  von  unregelmäßigen  Splittern  an  ihren 
Kanten  und  Enden  zeigen.  Mit  gutem  Willen 
kann  man  aus  ihnen  die  Urtypen  von  mancher- 
lei Werkzeugen  der  jüngeren  Kulturperioden  her- 
auslesen. Die  ihnen  gegebene  Deutung  als  Werk- 
zeuge i  n  Menschenhand  ist  in  verschiedenem  Um- 
fange bestritten  worden.  Sie  lassen  jedenfalls 
bisher  zusammen  mit  ihrem  Fundmilieu  kaum 
irgendwelche  Schlüsse  auf  die  Art  und  Weise 
ältester  Jagdausübung  zu.  Doch  mag  ihre  wissen- 
schaftliche Einschätzung  hier  gestreift  werden. 

Die  Funde  von  Eolithen  reichen  bis  in  das 
Paleozän  hinab.  Breuil  entdeckte  die  bisher 
ältesten  unter  den  mittelpaleozänen  Sauden  von 
Bracheux  auf  der  Domäne  Belle-Assise  (Dep. 
Oise).  Andere  sind  bekannt  aus  dem  mittleren 
und  oberen  Oligozän,  dem  oberen  Miozän  (,,Can- 
talien")  am  Puy  Cornu,  dem  mittleren  Pliozän 
(Kent-Stufe)  des  Plateaus  von  Kent  und  schließ- 
lich dem  oberen  Pliozän  von  St.  Prest  und  des 
Forest  Bed  von  Cromer  (St.  Prest-Stufe).  In 
diesem  umfänglichen  Zeiträume  vom  Paleozän  bis 


')  E.  Werth,    Das    Eiszeitalter.      2.  Aufl.      Berlin-Leip- 
zig 191 7. 


242 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i8 


zur  Schwelle  des  Quartärs,  und  bis  in  das  letztere 
hinein,  zeigen  sie  keinerlei  Änderung  ihrer 
Formen,  ja  sogar,  wie  W  i  e  g  e  r  s  hervorhebt,  oft 
eher  in  jüngeren  Schichten  eine  Vergröberung 
dieser. 

Von  einer  Reihe  von  Forschern,  so  Rutot, 
Verworn,  Klaatsch,  werden  die  Edithen, 
wenn  auch  mit  gewissen  örtlichen  und  zeitlichen 
Einschränkungen,  als  Hinweise  auf  ein  frühes, 
tertiäres  Dasein  des  Menschen  gedeutet.  Viele 
Gegengründe  sind  gegen  diese  Annahme  ange- 
führt worden.  Die  sehr  erhebliche  stratigraphische 
Spanne  ihres  Vorkommens,  in  der  man  bei 
kritischer  Sichtung  „Stufen"  nicht  ausscheiden 
kann,  die  starre  Unveränderlichkeit  ihrer  „Typen" 
während  des  ganzen  Tertiärs,  ihre  ungeheuere 
Anzahl  und  weite  Verbreitung  in  ganz  bestimmten, 
durch  geologische  Merkmale  gekennzeichneten 
Gebieten,  niemals  in  Fundschichten,  machen  jeden- 
falls starke  Vorbehalte  in  der  Annahme  des 
Gebrauches  der  Eolithen  durch  den  Menschen 
oder  dessen  menschenähnliche  Vorfahren  nötig. 
Zur  Vorsicht  zwingt  außerdem,  daß  die  Ent- 
stehung von  Eolithen  auf  natürlichem  Wege,  durch 
geologische  Kräfte:  durch  Druck  zwischen  anderen 
Gesteinen,  durch  Abrollung  in  Flußschottern  und 
durch  die  Brandungswoge,  nachgewiesen  wurde 
und  nirgends  mehr  bestritten  wird.  Ja,  in  vom 
Menschen  durchaus  unbeabsichtigter  Weise  ent- 
stehen Eolithen  noch  heute  in  den  Kreide- 
mühlen Frankreichs  und  Rügens,  in  denen  die 
rohen  Feuersteinknollen  durch  Aneinanderstoßen 
eine  randliche  Absplitterung  erhalten,  die  sie  von 
älteren  Eolithen  nicht  unterscheiden  läßt.  Zu  be- 
achten ist  außerdem  sehr  wohl,  mag  das  auch 
bestritten  werden,  daß  im  Menschen  keinerlei 
Umbildung  eingetreten  sein  könnte,  sollte  er  die 
sich  unverändert  gleichbleibenden  Eolithen  als 
Werkzeuge  verwendet  haben.  Dazu  wäre  ein 
stagnierender,  man  könnte  fast  sagen  rückschritt- 
licher Menschentyp  die  Voraussetzung,  der  in 
scharfem  Gegensatze  zur  raschen  Umbildung  der 
übrigen  Säugerwelt  des  Tertiärs  und  der  Gattung 
Mensch  selbst  im  Quartär  stünde. 

Wir  erkennen  die  Eolithen  des  älteren  Dilu- 
viums und  etwa  des  Pliozäns  Mitteleuropas  als 
echt,  als  „Gebrauch seolithen",  als  von  da- 
mals lebenden,  weniger'  entwickelten  Vorfahren 
des  Menschen  zu  irgendeinem  Zwecke  benutzte 
Gesteinsstücke  an.  l3enn  die  bearbeiteten  paläo- 
lithischen  Werkzeuge  setzen  rohere  Vorläufer 
voraus.  Als  solche  müssen  aber  handliche,  unbe- 
arbeitete Brocken  gelten,  an  denen  der  zufällige 
Gebrauch  Spuren  zurückließ  —  wie  etwa  der 
Bauer  einen  Feldstein  aufliest,  um  mit  ihm  den 
lockeren  Nagel  eines  Wagenrades  festzuklopfen, 
wodurch  dieser  Gebrauchsnarben  erhält.  Alle 
älteren  Eolithen  dagegen  weisen  wir  aus  palä- 
ontologischen Gründen  den  „Zufalls-  oder 
Natureolithen"  zu.  Denn  es  gab  vor  dem 
Pliozän  kein  Wesen,  das  Gesteine  zu  irgendeiner 
Vorrichtung  gebrauchen  konnte.    Den  Gebrauchs- 


eolithen  als  Werkzeugen  in  Menschenhand  stehen 
die  Paläolithen  als  willensgeformte  Dinge,  als 
Artefakte  durch  Menschenhand  gegenüber. 
Zwischen  beiden  vermitteln  zwar  roh  geschlagene, 
jedoch  eine  bestimmte,  häufiger  wiederkehrende 
Form  noch  kaum  verratende  Typen  („Prächelle- 
Stufe").  Die  Schwierigkeit  aber,  Zufalls-  und  Ge- 
brauchseolithen  zu  unterscheiden,  bleibt  unver- 
mindert bestehen;  kein  sicheres  Merkmal  läßt  sie 
bis  heute  auseinander  halten. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  ausgestorbenen  Tas- 
manier  und  die  Australneger  primitive  Steinwerk- 
zeuge verwendeten,  die  zum  Teil  den  mittel- 
europäischen Eolithen,  zum  Teil  auch  Artefakten 
vom  Mousterientyp  gleichen.  Mit  ihrer  Hilfe 
wurden  gut  brauchbare  Holzwaffen  hergestellt. 
Diese  rezenten  Steinwerkzeuge  bestehen  meist 
aus  einem  weicheren,  plattig  brechenden  Gestein, 
im  Gegensatz  zu  den  ganz  andersartigen  Silex- 
knollen,  und  haben,  da  das  Gestein  ungünstig  zur 
Bearbeitung  ist,  vielleicht  deshalb  ihre  rohere 
Form  behalten. 

Rutot,  der  eifrige  Verfechter  der  Gebrauchs- 
eolithen,  stellte  vier  Stufen  in  ihrer  quartären, 
also  zeitlich  mit  dem  Auftreten  des  Menschen 
zusammenfallenden  Folge  auf.  Wiegers  wies 
jedoch  nach,  und  man  wird  sich  ihm  hierin  nur 
anschließen  können,  daß  diese  Stufen  auf  einer 
sehr  zweifelhaften,  ja  unhaltbaren  stratigraphischen 
Grundlage  stehen.  Rutot  kam  niemals  zu  einer 
klaren  Erkenntnis  der  diluvialen  Schichtenfolge 
Belgiens;  ja  er  widerspricht  sich  in  seinen  Pro- 
filen. Das  mußte  zu  schweren  Fehlschlüssen  in 
seinen  Folgerungen  aus  dieser  für  die  eolithischen 
Industrien  Belgiens  führen.  Nur  die  beiden  älte- 
ren Stufen  Rutots  dürften  dem  Eolithikum  ent- 
sprechen, die  letzten  beiden  bereits  dem  Paläo- 
lithikum  angehören.  Von  einer  Erkenntnis  und 
Gliederung  des  Eolithikums  sind  wir  jedenfalls 
noch  weit  entfernt. 

Eins  aber  scheint  sicher  für  das  quartäre 
Eolithikum :  das  Vorkommen  des  Menschen,  dessen 
Reste  uns  in  dem  berühmten  Unterkiefer  von 
Mauer  bei  Heidelberg  als  bisher  einzige  und 
älteste  erhalten  blieben.  Und  dieser  Homo 
Heidelbergensis  war  bereits  ein  Jäger,  der  dem 
Elefanten,  dem  Rhinozeros  zu  Leibe  rücktel 

Wie  gelangen  wir  nun  zu  einer  sicheren 
Kenntnis  darüber,  in  welcherWeise  und  auf 
welchesWild  der  diluviale  Jäger  zur  Jagd  aus- 
zog? Eine  Anzahl  wertvoller,  oft  eindeutiger 
Hilfsmittel  zur  Beantwortung  dieser  Fragen  stehen 
uns  im  Fundmaterial  der  „Jagdstationen",  seiner 
ausgegrabenen  Lagerplätze,  zur  Verfügung.  Die  in 
ihnen  überlieferten  Reste  von  Fauna  und  Flora, 
die  Art  ihrer  Einbettung,  das  umschließende  Ge- 
stein geben  zunächst  die  sichere  Möglichkeit,  den 
Landschaftscharakter  eines  Jagdgebietes  zu  rekon- 
struieren, mag  es  nun  Wald  oder  Lößsteppe  oder 
eine  sumpfige  Flußaue  gewesen  sein.  Aus  den 
Steingeräten  und  ihrer  Kulturstufe  wie  aus  allge- 
meinen Erwägungen   erschließt  sich   das  Waffen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


243 


werk  des  Jägers.  Größe  und  Wehrhaftigkeit  des 
Jagdwildes  lassen  Schlüsse  auf  die  Art  der  Jagd 
zu,  mag  sie  nun  Angriffs-  oder  Herden-  oder 
Fanggrubenjagd  gewesen  sein.  Der  Vergleich 
mit  lebenden  primitiven  Völkern  erlaubt  dabei 
Analogieschlüsse  auf  die  diluvialen  Jagdmethoden. 
Denn  wie  der  Eingeborene  Innerafrikas  heute  den 
Elefanten  jagt,  ebenso  mag  das  auch  der  Diluvial- 
mensch getan  haben,  wobei  für  den  letzteren  un- 
mögliche Jagdarten,  wie  solche  mit  gezähmten 
Tieren,  zum  Vergleiche  von  vornherein  ausschei- 
den. Das  in  den  fossilen  Knochenresten  am 
häufigsten  vertretene  Tier  wird  die  beliebteste 
Beute  gewesen  sein.  Das  starke  Überwiegen 
jugendlicher  Tiere  über  alte  wird  auf  eine  Jagd- 
ausübung des  Menschen  hindeuten; ')  denn  in  einer 
Herde,  die  von  fremden  Einflüssen  unangetastet 
ist,  wird  stets  ein  ganz  bestimmtes  Mengenver- 
hältnis zwischen  alten  und  jungen  Stücken,  und 
zwar  zu  Ungunsten  der  letzteren,  bestehen.  Die 
Skelettreste  endlich  des  Menschen  selbst  deuten 
uns  an,  ob  er  ein  schwerfälliger  oder  behender, 
überlegen  zu  Werke  gehender  Jäger  war. 

Wie  das  Klima  Mitteleuropas  im  Laufe  der 
Diluvialzeit  und  im  Wechsel  der  Glazial-  und 
Interglazialzeiten  sich  wandelte,  darf  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden.  Mit  ihm  änderte  sich,  was 
nicht  minder  bekannt  ist,  Tier-  und  Pflanzenwelt, 
wie  die  Lebensbedingungen  des  Menschen,  ohne 
daß  bisher  eine  tiefere  Beziehung  zwischen  dem 
Auftreten  der  diluvialen  Menschenrassen 
und    den    Klimaabwandlungen    nachweisbar  wäre. 

Als  älteste  Jäger  des  Diluviums  kennen  wir 
die  Rasse  des  Homo  Heidelbergensis. 
Erschreckend  massig  und  fast  bestialisch  liegt 
sein  wohlerhaltener  Unterkiefer,  den  echte  Men- 
schenzähne schmücken,  aus  den  Schottern  von 
Mauer  an  der  Elsenz  südlich  von  Heidelberg  vor. 
Die  zeitliche  Stellung  der  Fundschicht  ist  nicht 
ganz  sicher;  sie  mag  aus  der  Ginz-Mindel-Zwischen- 
eiszeit  stammen  oder  etwas  jünger  sein.  Auf  die 
enge  Verwandtschaft  des  Homo  Heidelbergensis 
Schot,  mit  Pithecanthropus  erectus  Dubois  aus 
den  Kendengschichten  von  Trinil  auf  Java  hat 
Schlosser  hingewiesen.'-)  Vielleicht  gehören 
beide  zusammen  und  stellen  eine  weit  über  Asien 
und  Europa  verbreitete  Menschenrasse  dar. 

Die  Rasse  des  Neandertalers  (Homo  pri- 
migenius  Schwalbe,  H.  Neandertalensis  King,  H. 
mousteriensis  Klaatsch),  des  Trägers  der  früh- 
paläolithischen  Kulturen,  mag  aus  der  des  Homo 
Heidelbergensis  sich  herleiten;  Schötensack 
ist  mit  Recht  dieser  Ansicht.  '^)  Die  uns  aus 
einer  Reihe  guter  Funde  hinlänglich  bekannten, 
weit   verbreiteten   Neandertaler   waren   ein   stark- 


knochiger, schwerer  Menschenschlag  mit  der  ge- 
ringen Körpergröße  von  reichlich  i  '/)  i".  die 
wenig  über  diejenige  lebender  Zwergstämme  Inner- 
afrikas hinausgeht,  entsprechend  etwa  der  Größe 
der  kleinwüchsigen  Batwa  in  Ruanda  (Deutsch- 
Ostafrika).  Die  kurzen,  im  Knie  gebeugten  Beine 
deuten  auf  schwerfällige  Bewegungen  und  wenig 
ausdauernde  Läufer  hin.  Sie  waren  noch  keine 
behenden  Jäger,  die  dem  flüchtenden  Wilde  auf 
weite  Strecken  nacheilen  konnten;  Waldelefant 
und  Mercksches  Nashorn  dagegen  zählen  zu  ihrer 
Beute.  Doch  besaßen  sie  bereits  ein  scharfes 
Sehvermögen,  worauf  die  gute  Entfaltung  des 
Hinterhauptteiles  des  Großhirns  deutet.  Dieser 
Vorteil  mag  ihre  Bewegungsbeschränkung  ausge- 
glichen haben.  Die  Neandertaler  lebten  wohl  von 
der  Mindel-  (Mindel  -  Riß  -  Interglazialzeit  ?)  bis  in 
den  Beginn  der  Würmeiszeit. 

Neben  dem  Neandertaler  soll  in  der  gleichen 
Zeit  eine  selbständige  „Eh  rings  dorfer"  Rasse 
gelebt  haben.  Ihre  spezifischen  Merkmale  wurden 
begründet  auf  zwei,  1914  in  Ehringsdorf  bei 
Weimar  gefundene  Unterkiefer,  einen  alten  und 
einen  jungen,  die  voneinander  erheblich  abweichen. 
Nach  ihrem  zeitlichen  Auftreten  könnte  sie  weder 
Vorfahr  noch  Nachkomme  des  Neandertalers  sein. 
Beider  Kulturhöhe  und  Jagdausübung  war  etwa 
die  gleiche.  Das  legt  den  Verdacht  sehr  nahe, 
daß  es  sich  in  den  Ehringsdorfer  Kiefern  und 
ihren  besonderen  Merkmalen  um  individuelle 
Variationen  der  Neandertalrasse  handelt.^) 

In  der  Würmeiszeit  taucht  die  ebenfalls  noch 
kleinwüchsige,  aber  im  Gliederbau  schlanke 
Aurignac-Rasse  auf  (Homo  Aurignacensis-Hau- 
seri  Klaatsch), '■')  die  „Lößjäger".  Sie  mag  aus  dem 
Osten  eingewandert  sein,  wo  ihre  Vorfahren  noch 
nicht  entdeckt  wurden.  Die  Aurignac-Leute,  die 
nach  Klaatsch  „den  Eindruck  des  Schlanken, 
Eleganten,  gerade  Aufgerichteten"  machen,  waren 
sehr  viel  behendere,  in  ihrem  Muskelwerk  gut 
durchgearbeitete  Jäger,  die  nun  auch  dem  flüch- 
tigsten Wilde,  so  dem  Wildpferde,  nachzustellen 
vermochten.  Sie  mögen  auch  gewandte  Kletterer 
gewesen  sein,  die  von  Baumposten  aus  nach  ihrer 
Beute  ausspähten.  Nach  einer  Gravierung  auf 
einem  Mammutknochen  war  Homo  aurignacensis, 
ebenso  wie  das  für  den  Neandertaler  anzunehmen 
ist,  noch  stark  behaart. 

Die  gleichzeitig   in  Südeuropa  lebende  „Gri- 


')  Auf  diese  wichtige  Tatsache  hat  Alessandro  Portis 
schon   1878  hingewiesen. 

^)  Zittel,  Grundzüge  der  Paläontologie,  II,  S.  561; 
auch  Duckworth,  Prehistoric  man,  Cambridge   19 12. 

^)  Schötensack,  Der  Unterkiefer  des  Homo  Heidel- 
bergensis aus  den  Sauden  von  Mauer  bei  Heidelberg;  Leipzig 
1908. 


')  Heilbronn,  Der  Mensch  der  Urzeit.  Aus  Natur 
und  Geisteswelt,  3.  Aufl.,   191S. 

Soergel,  Lösse,  Eiszeiten  und  paläolithische  Kulturen. 
Jena   1919. 

Schwalbe,  Über  einen  bei  Khringsdorf . .  .  .  gemachten 
Fund  des  Urmenschen.  Korr.-Blatt  d.  AUg.  ärztl.  Ver.  von 
Thüringen  1914. 

Schwalbe,  Über  einen  bei  Ehringsdorf...  gefundeneu 
Unterkiefer  des  Homo  primigenius.     Anat.  Anzeiger   1914. 

H.  Virchow,  Der  Unterkiefer  von  Ehringsdorf.  Zeit- 
schrift f.  Ethn.    1914,  S.  869  und   1915,  S.  444. 

^)  Klaatsch  und  Haus  er,  Homo  Aurignacensis -Hau- 
seri,  ein  pal.  Skelettfund  aus  dem  unteren  Aurignacien  der 
Station  Combe-Capelle  bei  Montferrand  (Perigord).  Prähist. 
Zeitschr.   I.   1910. 


244 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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I.  Hauptvorstoß  der 
III.  Eiszeit 

Großer  Rückzug 

2.  Hauptvorstoß  der 
III.  Eiszeit 

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Mercksches  Nashorn;  Wildpferd,  Wi- 
sent, Elch,  Riesenhirsch,  Ursus  Denin- 
geri  und  arvernensis,  Löwe,  Panther, 
Hyäne.     Großer  Biber,  Flußpferd. 

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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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maldi-Rasse"  zeigt  negerhafte,  vom  Aurignac- 
Menschen  durchaus  abweichende  Züge.  Sie  mag 
aus  Afrika  oder  Südasien  dorthin  eingewandert  sein. 

In  der  zweiten  Hälfte  der  Würmeiszeit  etwa 
finden  wir  dann  den  hochwüchsigen,  nach  Verne- 
aus  Messungen  sogar  sehr  großen,  und  stark- 
knochigen, geistig  hochstehenden  Cro-Magnon- 
Menschen.  Sein  Gesichtsschädel  ist  nach  B 0 n  - 
net  breit  und  niedrig,  sein  Hirnschädel  gut  ge- 
wölbt; der  Unterkiefer  kräftig  und  mit  sehr  steil 
aufsteigendem  Aste,  das  Kinn  dreieckig.  Er  ist 
uns  vor  allem  aus  französischen  Funden  bekannt; 
für  Deutschland  sind  die  fast  vollständigen,  1914 
in  Oberkassel  bei  Bonn  entdeckten  Skelette  höchst 
bedeutsam.  Die  Cro-Magnon-Rasse  ist  vielleicht  aus 
der  Aurignac-Rasse  entstanden.')  Ihre  Vertreter 
sind  die  Jäger  des  Wildpferdes  und  vor  allem 
des  Renntieres.  Den  großen  Säugern  schenkten 
sie  im  Gegensatze  zum  Neandertaler  weniger 
Beachtung,  soweit  sie  als  Jagdtiere  überhaupt 
noch  in  Betracht  kamen:  denn  Elephas  antiquus 
und  Rhinoceros  Mercki  waren  bereits  ausgestorben, 
das  Mammut  aber  lebte  noch.  Wie  Schliz  an- 
nimmt, zog  die  in  Südwest-Europa  beheimatete 
Cro-Magnon-Rasse  mit  dem,  aus  klimatischen  Grün- 
den nordwärts  weichenden  Renntiere  nach  Norden, 
wo  sie  sich  zur  nordeuropäischen,  neolithischen 
Bevölkerung  umwandelte;    doch  ist  das  fraglich.'') 

Vom  Ausgange  des  Diluviums  (Azyl-Stufe) 
wäre  als  letzte  eine  Rasse  zu  nennen,  die  schein- 
bar noch  unvermittelt  auftritt  und  als  G  r  e  n  e  1 1  e  - 
oder  Furfooz-Rasse  bezeichnet  wurde.  Es  sind 
Menschen  mit  Kurzschädeln,  wie  sie  sich  z.  T. 
typisch  unter  den  33  Crania  in  der  berühmten, 
von  R.  R.  Schmidt  so  trefflich  ausgegrabenen 
Schädelbestattungsstätte  der  Ofnet  bei  Nördlingen 
finden;  sie  sind  der  Ausgangspunkt  der  lebenden 
Europäer.^)     Es  waren  die  Jäger  des  Hirsches. 

Jeder  dieser  verschiedenen  Rassen,  über  deren 
Ahnenreihe  zu  sprechen  ein  Kampf  mit  den  ver- 
schiedensten Hypothesen  wäre,  kommt  eine  ihr 
eigenartigeKultur  zu,  die  von  ihr  spezifisch 
entwickelt  wurde  und  mit  ihr  zugrunde  ging.'') 

Im  ganzen  aber  stand  der  altpaläolithische 
Neandertaler  als  Jäger,  wie  nach  seiner  ganzen 
geistigen  Verfassung,  noch  nicht  im  entferntesten 
auf  der  Stufe  primitiver  Jagdvölker  der  Gegen- 
wart; die  jungpaläolithischen  Rassen  dagegen 
stehen  diesen  in  Jagdmethoden  und  -Bewaffnung 
sicher  voran.  — 

Wie  stand  es  nun  mit  der  Bewaffnung 
aller  dieser  diluvialen  Jäger?  Es  ist  sehr  allge- 
mein die  Meinung  verbreitet,  daß  der  Eiszeitmensch 
allein    mit    seinen  Steinwerkzeugen  zur  Jagd  aus- 


zog. Das  ist  ein  schwerer,  aber  in  gewissem  Maße 
begreiflicher  Irrtum,  da  andere  als  Steinwaffen 
fossil  nicht  erhalten  sind  und  so  diese  als  durch- 
aus vorherrschender  Bestandteil  der  Bewaffnung 
auftreten.  Ein  Baumast  mag  die  ursprünglichste 
und  erfolgreichste  Waffe  gewesen  sein,  neben  dem 
Stein  zum  Werfen.  Mit  dem  Eolithen  wurde 
dieser  Uranfang  eines  Jagdspeeres  oder  einer 
Jagdkeule  roh  bearbeitet,  vorn  vielleicht  bald  zu- 
gespitzt. So  mag  Homo  Heidelbergensis  zum 
Nahrungserwerb  ausgezogen  sein.  Ähnlich  ver- 
wenden noch  heute  gewisse  Zwergstämme  Holz- 
waffen zur  Jagd,  die  ohne  jede  Hilfe  von  Stein- 
werkzeugen hergestellt  sind.  Die  paläolithischen 
Steinartefakte  aber  gaben  bereits  gute  Werkzeuge 
zum  Beschneiden,  Beschaben  und  Zuspitzen  eines 
handlichen  Jagdwurfspeeres,  dessen  Spitze 
zur  Härtung  angekohlt  wurde.  Der  zugespitzte 
und  gehärtete  Jagdspeer,  ein  kleiner  Wurfpfeil 
waren  die  Hauptwaffen  des  Neandertalers,  und 
zwar  gewiß  wirkungsvolle.  Daß  beide  mit  Stein- 
spitzen  bewehrt  waren,  erscheint  nicht  sehr 
wahrscheinlich :  die  schwere  Steinspitze  vermindert 
Kraft  und  Flugweite  des  Geschosses  außerordent- 
lich. Sie  hat  wegen  ihrer  Dicke  und  unebenen 
Oberfläche  nur  ein  geringes  Durchschlagsvermögen, 
das  bei  großen  Säugern  gar  nicht  mehr  in  Frage 
kommt.  Versuche,  die  Pfeifer ')  und  Profe  ange- 
stellt haben,  belehren  von  der  geringen  Wirkung 
solcher,  mit  Steinspitzen  bewehrter  Jagdwaffen, 
ganz  abgesehen  von  der  Frage,  ob  eine  günstige 
Verbindung  zwischen  Steinspitze  und  Schaft  bei 
dem  technologischen  Stande  des  Paläolithikers 
hergestellt  werden  konnte.  Steinspitzen  werden 
von  ihm  dagegen  wohl  zu  Nahkampfwaffen  ver- 
wendet worden  sein.'^)  Sehr  viel  besser  waren 
die  Jagdwaffen  des  Jungpaläolithikers  bewehrt: 
Knochen-  und  Hornspitzen,  oft  harpunenartig  mit 
Widerhaken  versehen,  gaben  ihnen  bessere  Ver- 
wendungsmöglichkeit und  Durchschlagskraft  als 
den  reinen  Holzwaffen.  Wie  der  Paläolithiker 
Holzwaffen  besessen  haben  muß,  so  sind  ihm 
Pfeil  und  Bogen  völlig  unbekannt  gewesen,  ebenso 
wie  sie  dem  Australier  fehlen.  Die  Felszeich- 
nungen der  „Cueva  de  la  Vieja"  zu  Alpera  in 
Spanien,  die  Jäger  mit  dem  komplizierten  „zu- 
sammengesetzten" Bogen  darstellen  und  von 
Breuil  und  Obermayer  ins  Magdalenien,  also 
vor  den  Schluß  des  Paläolithikums  gesetzt  wer- 
den, entstammen  einer  jüngeren  Zeit.  Neben  den 
Holzwaffen  kannte  der  Paläolithiker  wohl  auch  die 
Schleuder;   Steinkugeln  für  solche  sind  ja  in  ver- 


')  R.  V.  Buttel-Keepen,  Der  Urmensch  vor  und  wäh- 
rend der  Eiszeit  in  Europa.    Nalurw.  Wochenschr.   1911,  S.  209. 

-)  Schliz,  Beiträge  zur  prähistor.  Ethnologie  I.  Prähist. 
Zeilschr.   1912,  S.  36. 

')  Schliz,  Die  diluvialen  Menschenreste  Deutschlands, 
in  Schmidt,  Die  diluv.  Vorzeit  Deutschlands.    Stuttgart  1912. 

*)  H.  Stremme,  in  Branca,  Der  Stand  unserer  Kennt- 
nis vom  fossilen  Men.scben.     Berlin-Leipzig   1919. 


')  L.  Pfeifer,  Die  steinzeitliche  Technik  und  ihre  Be- 
ziehungen zur  Gegenwart.  Jena  1912  (Festschrift  zur  43.  Allg. 
Vers,  der  Deutsch.  Anthrop.   Ges.). 

'')  Eine  Reihe  von  Bisontcn  der  Höhle  von  Niaux  (Ariege) 
trägt  auf  den  F'lanken  eingezeichnet  schwarze  und  rote  Spitzen 
in  verschiedener  Zahl ;  einige  Male  zeigen  sich  diese  auch 
außerhalb  des  Tierkbrpets,  wohl  als  auf  ihn  zufliegend  ge- 
dacht. Es  handelt  sich  hier  um  Speere  mit  Spitzen,  die  viel- 
leicht aus  Gestein  bestehen  ;  danach  wären  im  Jungpaläolithi- 
kum  möglicherweise  doch  Speere  mit  Steinspitzen  verwendet 
worden. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schiedenen  Stationen  gefunden  worden.  Soergel 
wirft  die  Frage  auf,  ob  der  Paläolithiker  über 
pflanzliche  oder  tierische  Gifte  zum  Bestreichen 
seiner  Waffen  verfügte;  „Giftrinnen"  an  knöchernen 
Pfeilspitzen  könnten  auf  die  Verwendung  orga- 
nischer Gifte  hindeuten.  Schnell  wirkende,  für 
eine  rentable  Jagd  allein  in  Betracht  kommende 
Gifte  sind  aber  in  Mitteleuropa  auf  einfache  Weise 
nicht  herzustellen,  so  daß  vergiftete  Jagdwaffen 
kaum  benutzt  worden  sind. 

So  war  der  Paläolithiker  mit  allerlei  Waffen 
recht  gut  ausgerüstet.  Doch  stand  er  inmitten 
einer  raubtierreichen  harten  Umwelt,  die  diesen 
Vorteil  gewiß  oft  ausgeglichen  hat.  Dabei  fehlten 
ihm  manche  wertvollen  Hilfen  wie  der  Jagdhund. 
Nur  Ausdauer  und  Kraft,  eingehende  Kenntnis 
der  Lebensweise  seiner  Jagdtiere,  List  und  Ver- 
schlagenheit, Anlegen  von  Feuer  halfen  ihm,  aus- 
reichende fleischliche  Nahrung  zu  erringen;  denn 
die  diluviale  Pflanzenwelt  bot  ihm  keine  aus- 
reichende Nahrung  dar. 

Doch  wird  der  Eiszeitmensch  mit  seinen  Waffen 
allein  kaum  gejagt  haben.  Er  bediente  sich  schon 
frühzeitig  eines  wirksamen  Hilfsmittels:  der  Fang- 
gruben, die  er  an  geeigneten  Stellen  des  Ge- 
ländes, besonders  in  leicht  zu  bearbeitenden  Böden, 
mit  den  Händen,  Steinwerkzeugen  und  dem  Grab- 
stock ausgehöhlt  hat.  Haus  er')  berichtet  uns 
über  die  Anlage  solcher  Gruben  folgendes:  Im 
Mai  1907  entdeckte  er  nordöstlich  von  Laugerie 
basse  im  Vezeretale  eine  Reihe  merkwürdiger 
Bodenvertiefungen.  Es  waren  trichterförmige 
Löcher  in  den  Kreidefelsen  geschlagen,  von  denen 
21  freigelegt  wurden.  Diese  Gruben  waren  nach 
gewissem  Plane  —  immer  zwischen  zwei  Gruben 
je  in  der  vorderen  und  hinteren  Reihe  wieder 
eine  Vertiefung  —  in  bestimmten  Abständen 
voneinander  auf  einer  Fläche  von  50  zu  10  Metern 
Breite  auf  einem  kleinen  Terrassenvorsprung  8  bis 
9  Meter  über  der  heutigen  Straße  angelegt,  an 
deren  Fuße  eine  Solutreansiedlung  konstatiert 
wurde.  Die  Gruben,  an  deren  Wandungen  sich 
zum  Teil  Schlagspuren  zeigten,  waren  meist  mit 
eingeschwemmter  Erde  angefüllt;  in  einigen  fanden 
sich  Werkzeuge  vom  Solutre  Typus,  dagegen  in 
keiner  Knochenreste.     Die  Maße  einzelner  waren 

Grube  2:  oberer  Durchmesser  2,3  m;  unterer 
Durchmesser  0,6  m;  Tiefe   1,6  m; 

Grube  21:  oberer  Durchmesser  1,6  m;  unterer 
Durchmesser  0,6  m;  Tiefe  0,85  m. 
Nach  Hauser  handelt  es  sich  in  diesen  Ver- 
tiefungen um  einen  Komplex  von  Fanggruben, 
die  künstlich  von  denSolutre-Leuten  in  die  Kreide- 
felsen „gehauen"  wurden.  Letzteres  würde  eine 
recht  erhebliche  Arbeitsleistung  voraussetzen.  — 
Fish  er  entdeckte  ferner  im  Portlandkalk  von 
Dewlish  in  England  einen  Graben,  der  mit  losem 
.Sande    angefüllt    war    und  Knochen    eines    Elefas 


trogontherii  enthielt.  Daselbst  gefundene  Eolithen 
legen  den  Gedanken  nahe  (?),  daß  es  sich  hier 
um  eine  vom  Menschen  angelegte  Fanggrube 
handelt. 

Als  erste  Anfänge  solcher  Fanggruben  mögen 
natürliche  Bodenvertiefungen  gedient  haben,  die 
an  der  Oberfläche  mit  Asten,  Erde  und  Laub 
verblendet  und  mit  Losung  bestreut  wurden. 
Später  wurden  diese  vertieft,  schließlich  künst- 
liche Gruben  ausgeworfen  und  nach  bestimmtem 
Plane  auf  breiten  Flächen  angelegt,  um  möglichst 
viel  Wild  bei  einer  „Treibjagd"  zu  erbeuten.  Vom 
Wilde  selbst  beim  Wälzen  im  Sande  oder  Suhlen 
im  Schlamm  geschaffene  Wannen,  die  noch  her- 
gerichtet wurden,  mögen  gern  als  bequeme  Gruben 
benutzt  worden  sein.  Hatte  sich  ein  Wild  in  einer 
solchen  Grube  durch  Sturz  gefangen,  so  wurde 
es  totgeschlagen.  Nach  gelungenem  P'ange  wurde 
die  Grube  von  allen  Spuren  menschlicher  Ein- 
wirkung und  von  Knochenresten  sorgsam  befreit, 
so  daß  sie  von  neuem  verwendet  werden  konnte. 

Soergel  schrieb  früher  der  Jagd  des  Paläo- 
lithikers  mittels  Fanggruben  ausschlaggebende  Be- 
deutung für  das  mittlere  Großwild  und  die  Dick- 
häuter zu.  Neuerdings  hat  er  diese  Ansicht  durch 
höhere  Bewertung  der  Holzwaffen  eingeschränkt, 
für  die  großen  Säuger  aber  als  die  einzig  mög- 
liche Jagdmethode  beibehalten.  Bezüglich  der 
letzteren  hält  im  Gegensatze  dazu  Noack  eine 
Angriffsjagd,  ohne  Grubenanwendung,  für  wahr- 
scheinlicher. Profe  dagegen  weist  eine  plan- 
mäßige Jagd  auf  Elefant  und  Nashorn  überhaupt 
zurück,  erachtet  also  Fanggrubenjagd  ebenso  für 
ausgeschlossen. ') 

Die  Fundumstände  und  die  fossilen  Gruben 
geben  Soergel  überwiegend  Recht.  Ein  Ver- 
gleich z.  B.  mit  den  Jagdmethoden  mir  wohlbe- 
kannter afrikanischer  Stämme  zeigt  ebenso,  daß 
die  großen  Säuger  planmäßig  in  Gruben  gefangen 
werden.  Eine  Angriffsjagd  kommt  für  diese  nur 
bei  einer  Bewaffnung  in  Präge,  die  der  des  Paläo- 
lilhikers  erheblich  überlegen  ist,  so  bei  Vorhanden- 
sein von  Feuerwaffen  und  Reittieren  oder  bei  sehr 
zahlreichen  Jägern.  — 

Die  Dickhäuter  des  Diluviums:  Elephas  anti- 
quus  Falc,  der  nach  einer  Zeichnung  in  der  Höhle 
von  Castillo  unbehaarte  oder  wenig  behaarte  ge- 
waltige Waldelefant,  der  vor  der  trockenen  Kälte 
der  Eiszeiten  in  wärmere  Gebiete  entwich;  Ele- 
phas primigenius  Blum.,  das  Mammut,  der  mit  einem 
dichten,  dunklen  (nicht  roten !)  Pelze  ')  und  dicker 
Fettlage  bewehrte  Steppenelefant  der  Eiszeiten, 
mit  seinem  langen  Haarkleide  und  geschweiften 
Stoßzähnen  so  gern  dargestellt;  Rhinozeros  Mercki 
Jaeg.    und    das    wollhaarigc   Nashorn,    Rhinozeros 


')  Hauser,  La  Micoquc,  die  Kultur  einci  neuen  Diluvial- 
rassc.     Leipzig   1916. 

—  — I  Der  Mensch  vor   looooo  Jahren.     Leipzig  1917. 


')  Noack,  Uie  Jagd  im  Wandel  der  Zeilen.  Deutsche 
Jägerzeitung  1913,    1914. 

Profe,  Vorgeschichtliche  Jagd.  Manus  Bd.  6,  S.  107. 
Mit  einer  Charakterisierung  der  von  anderen  Autoren  früher 
gcäuflerten  Ansichten  über  Art  und  Weise  der  diluvialen  Jagd. 

')  Brandt,  Einige  Worte  über  die  Haardecke  des  Mam- 
inuth.     Bull.  Acad.  Itnp.  Sei.    Petersburg  1S70.    Bd.  7. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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antiquitatis  Blum.  (=  tichorhinus  Cuv.),  im  Gegen- 
satz zu  seinem  Gattungsgenossen  ein  kältelieben- 
des und  dichtbehaartes  Steppentier,  erfreuten  sich 
sehr  verschiedener  Beliebtheit  seitens  des  dilu- 
vialen Jägers.  Das  letztgenannte  spielte  für  ihn 
keine  Rolle.  Das  Mercksche  Nashorn,  das 
vor  der  zweiten  Hauptphase  der  Würmeiszeit  aus- 
starb, fiel  ihm  dagegen  öfter  zur  Beute.  Es  ist 
bei  seiner  Körperkraft,  großen  Fluchtfähigkeit  und 
dicken  undurchdringlichen  Hornhaut  wohl  nur  in 
Gruben  gefangen  worden,  so  wie  es  auch  heute 
noch  auf  Java  geschieht.  Profe  bezweifelt,  daß 
Nashörner  jemals  gejagt  wurden.  Die  Funde  von 
Taub  ach  aber  zeigen  nach  Soer  gel  vor  allem 
durch  die  Zahl  der  Überreste  —  das  Rhinozeros 
lebt  nie  in  größeren  Herden,  sondern  nur  in  kleinen 
Beständen  oder  als  Einzelgänger  — ,  das  Über- 
wiegen der  jungen  (71  "0!)  vor  alten  Stücken,  das 
dem  natürlichen  Altersverhältnis  in  Rhinozeros- 
familien widerspricht,  eine  planmäßige  Jagd  an. 
Etwas  anders  ist  dies  Verhältnis  in  der  Fauna 
von  Ehringsdorf  (46  '^Jq),  doch  immer  noch  viel 
höher  als  in  den  Faunen  von  Süßenborn  und 
Mosbach  (mit  31 — 33%),  wo  die  Tiere  auf  natür- 
lichem Wege  zugrunde  gingen.  Daß  in  den 
Gruben  mehr  junge  als  alte  Tiere  erbeutet  wurden, 
erklärt  sich  daraus,  daß  die  Kälber  der  IVIutter 
meist  voraustrotten  (doch  nicht  immer,  wie  ich 
selbst  beobachtete),  also  zuerst  die  versteckten 
Gruben  erreichen  müssen.  Rhinozeros  Mercki, 
das  größte  echte  Nashorn,  ist  uns  in  vielen  Jagd- 
stationen Europas  als  Beute  hinterlassen. 

Wichtiger  als  die  Nashörner  waren  für  die 
P'leischversorgung  des  Diluvialjägers  die  Elefanten. 
Das  iVIammut,  dessen  Jagd  uns  Noack  in  be- 
wegten Farben  schilderte,  lebte  in  zahlreichen 
Rudeln  gesellig  in  den  jüngeren  glazialen  Steppen, 
die  wohl  erst  vom  Jungpaläolithiker  auSgiebiger 
besiedelt  wurden.  Doch  hat  das  wegen  seiner 
Fettpolster  so  gern  gejagte  Mammut  für  denselben 
nicht  mehr  die  Rolle  gespielt,  wie  Elephas 
antiquus  für  den  Altpaläolithiker,  da  der  jüngere 
Altsteinzeitler  Pferd  und  Renntier  vor  allen  anderen 
Tieren  bei  weitem  bevorzugte.  In  den  afrikanischen 
Steppengebieten  wird  der  Elefant  heute  auf  drei 
Arten  von  Völkern  ohne  Feuerwaffen  gejagt: 
durch  F"anggruben  auf  dem  Wechsel,  durch  Treib- 
jagd mit  Pferd  und  Lanze  und  durch  Anlegen  von 
Grasbränden  und  Speeren  der  zusammengetriebenen 
Tiere.  Die  letzte  Methode  scheidet  für  den 
Paläolithiker  wohl  aus  wegen  Mangels  an  Men- 
schen ;  er  lebte  nur  in  Horden  von  geringer  Kopf- 
zahl. Die  zweite:  Angriffsjagd  kommt  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  kaum  in  Betracht  wegen  der 
Größe  der  Tiere,  ihrer  überaus  feinen  Witterung 
und  großen  Ausdauer  im  Laufen,  die  sie  auch 
nach  einem  Angriff  meist  aus  dem  Bereiche  des 
Jägers  bringt.  Fanggruben  werden  das  wichtigste 
Jagdmittel  gewesen  sein,  die  in  günstigem  Ge- 
lände in  größerer  Anzahl  angelegt  wurden.  So 
jagte  das  Mammut  der  Mousterienjäger  von  Tau- 
bach, die  Jäger  des  Keßlerloches,  der  Wildscheuer, 


der   Lindentaler   Hyänenhöhle    und    anderer   Sta- 
tionen. 

Ebenso  wird  es  sich  mit  dem  Waldelefanten 
verhalten.  In  den  tropischen  Waldgebieten  wird 
der  Elefant  gejagt  durch  Treiben  in  umzäunte 
Waldstücke,  durch  Speeren  vom  Baumsitz  oder 
mittels  Fallmessers  und  durch  Grubenfang.  Von 
allen  diesen  Arten  bleibt  für  den  Paläolithiker 
nur  die  letzte  als  die  sicherste  und  rentabelste 
übrig.  Für  Jagd  des  Menschen,  und  eben  für 
Fanggrubenjagd,  sprechen  die  klaren  Fundver- 
hältnisse von  Taubach :  es  überwiegen  die  jungen 
Tiere  über  die  alten,  ganz  im  Gegensatz  zur 
natürlichen  Alterstaffelung  einer  Elefantenherde. 
Soergel  hat  über  diese  Staffelung  eingehende 
Berechnungen  angestellt,  für  die  verschiedene  Vor- 
sichtsfaktoren eingesetzt  wurden.  Sie  verdienen 
gegenüber  den  gleichartigen  Berechnungen  für 
Predmost  durch  Profe  den  Vorzug.  Auch  andere 
Fundumstände  in  Taubach  sprechen  für  mensch- 
liche Jagd :  die  in  Kalktuff  gebetteten  Überreste 
sind  gemischt  mit  zerschlagenen  Knochen  der 
verschiedensten  Tiere  und  dem,  in  einem  stehen- 
den Gewässer  gebildeten  Gestein  regellos,  nicht 
in  größeren  Anhäufungen  eingestreut;  das  Gestein 
selbst  bildet  bei  weitem  die  Hauptmasse  der  Fund- 
schicht, in  der  sich  auch  Holzkohlenstückchen 
und  Werkzeuge  finden.  Nicht  eine  Elefantenherde 
ist  hier  durch  ein  Naturereignis  zugrunde  ge- 
gangen, wie  man  annahm ;  es  müßte  sich  dann 
eine  mächtige  Knochenlage  mit  zusammenhängen- 
den Skeletten  finden.  Der  Mensch  war  es,  der 
dem  Waldelefanten  nachstellte,  seine  vom  Fleische 
entblößten  Knochen  mit  denen  anderer  Beutetiere 
vermischt  von  seiner  Station  fortschleppte  und 
sie  in  Tümpel  in  der  Nähe  versenkte,  wo  sie 
langsam  im  Kalkschlamm  eingebettet  wurden. 

Im  jüngeren  Diluvium  sind  bei  weitem  be- 
vorzugte Jagdtiere  Wildpferd  und  Renntier. 
Sie  sind  es  deshalb,  weil  sie  neben  dem  Fell,  das 
man  gewiß  zu  bearbeiten  verstand,  neben  Fleisch 
und  Sehnen  nun  auch  das  technisch  am  besten 
verwendbare  Rolimaterial  für  Knochenbearbeitung 
in  ihren  Knochen  und  Geweihen  darboten.  Dieser 
Wechsel  im  Jagdwild  fällt  zusammen  mit  dem 
Auftreten  neuer  Menschenrassen  von  größerer 
Gewandtheit  und  Schnelligkeit.  Das  Renntier, 
aufs  engste  verknüpft  mit  den  kalten  Perioden 
des  Diluviums,  in  denen  es  sogar  Monako  und 
Nordspanien  erreichte,  war  das  Jagdtier  der 
Magdalenien-Jäger,  der  „Renntierzeit".  In  ihren 
Stationen  überwiegen  die  Renntierknochen  vor 
allen  anderen  Tieren.  Im  Keßlerloch  sind  sie 
nach  St  u  der  mit  79,4  "/oi  '^^  Schweizerbild  mit 
75  %  an  der  Beute  beteiligt.  Man  wird  das  Ren 
in  Einzeljagd  am  einfachsten,  gelegentlich  in  Fang- 
gruben erlegt  haben.  Ein  großer  Prozentsatz 
junger  Stücke  spricht  nach  Soergel  wiederum 
für  Herdenjagd,  ähnlich  wie  sie  heute  auf  ge- 
eignetem Gelände  nordsibirische  Jäger  betreiben. 
Vielleicht  hielten  die  Magdalenien  -  Leute  bereits 
Renntiere  in  Herden,  ohne  sie  jedoch  zu  züchten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Das  W  i  1  d  p  f  e  r  d ,  ein  ausgesprochener  Steppen- 
bewohner  und  vielfach  mit  dem  Renntier  verge- 
sellschaftet vorkommend ,  lebte  während  des 
Diluviums  in  mehreren  Rassen,  so  z.  B.  Equus 
germanicus  Nehr.  und  Przewalskii  Poljak.,  in  Mittel- 
europa.') Es  war  seiner  dickwandigen  Knochen 
wegen  das  angesehenste  Wild  der  Aurignac-  und 
Solutre-Jäger.  In  den  Aurignac- Stationen  ist  es 
die  häufigste  Jagdbeute,  so  in  der  Ofnet  mit  6o '%  ; 
von  Frankreich  bis  nach  Mähren  reden  die 
Stationen  dieser  Kulturstufe  die  gleiche  Sprache. 
Häufig  scheint  es  auch  schon  in  La  Micoque  ge- 
wesen zu  sein.  Im  übrigen  spielte  es  für  den 
Altpaläolithiker  keine  Rolle;  seine  Flüchtigkeit 
war  sein  bester  Schutz  vor  dem  unbehenden 
Neandertaler.  Herdenjagd  wird  überwogen  haben ; 
es  ist  ja  bekannt,  in  welch  besinnungsloser  Flucht 
heute  eine  erschreckte  Herde  von  Zebras  durch 
die  Steppen  Ostafrikas  dahinrast,  wobei  sie  leicht 
in  bestimmte,  für  den  Fang  geeignete  Gegenden 
geleitet  werden  kann. 

Die  Wildrinder  ^)  Wisent  und  Ur,  vor  allem 
der  erstere,  sind  vom  Jungpaläolithiker  oft  und 
vortrefflich  auf  Wandgemälden  und  in  Ritzung 
dargestellt  worden,  waren  ihm  also  wohlvertraut 
wie  kein  anderes  Wild ;  die  Wandmalereien  der 
Grotte  Altamira  und  Font-de-Gaume  legen  Zeug- 
nis davon  ab.  In  den  Jagdresten  spielt  der  Bison 
trotzdem  niemals  die  überragende  Rolle,  wie 
Pferd  und  Ren ;  doch  ist  er  in  vielen  Jagdstationen, 
besonders  Südfrankreichs,  zahlreich  vertreten. 
Wurden  dem  Acheule-Menschen  von  Le  Moustier 
nach  Ha  US  er  doch  sogar  auf  seinem  Wege  ins 
Jenseits  gebratene  Bisonkeulen  als  Wegzehrung 
mitgegeben,  auf  dieser  ältesten  Begräbnis-  und 
Feuerfundstelle,  die  bis  heute  bekannt  ist!  Wie 
der  Büffel  Ostafrikas  zu  den  gefürchtetsten  und 
lückischsten,  in  seiner  Kraft  und  Behendigkeit 
unberechenbaren  Tieren  gehört,  dem  kühne  und 
gut  bewaffnete  Jäger  zahlreich  zum  Opfer  fallen, 
so  mag  der  gewaltige  hochnackige  Wisent  wohl 
als  Gegner  geachtet  worden  sein,  den  man  nicht 
gern  in  offener  deckungsloser  Steppe  anging.  Die 
Bilder  der  Höhle  von  Niaux  zeigen,  daß  man  ihn 
trotzdem  mit  Speeren  angriff.  —  Der  Moschus- 
ochse, ein  Kälteanzeiger  ersten  Ranges  und 
heute  der  strengsten  Polarkälte  angepaßt,  der  auf 
der  Höhe  der  Eiszeit  bis  Südfrankreich  vordrang, 
ist  überall  ein  sehr  seltenes  Jagdwild  geblieben.^) 

Von  geringer  jagdlicher  Bedeutung  waren 
Edel-  und  Damhirsch  und  Reh,  die  schon 
der  Altpaläolithiker  ohne  Mühe  mit  seinen  Holz- 

')  W.  V.  Reich  enau,  Beiträge  zur  näheren  Kenntnis 
fossiler  Pferde  aus  deutschem  Pleistozän  .  .  .  Abhandl.  Hess. 
Geolog.  Landesanstalt.     Darmstadt   1915. 

W.O.Dietrich,  Unsere  diluvialen  Wildpferde.  Naturw. 
Wochenschr.   1916,  S.  614. 

')  N  eh  ring.  Die  Verschiedenheit  von  Bison  und  Ur. 
„Wild  und  Hund",   1896. 

Werth,  Die  ältesten  Darstellungen  des  Urrindes.  Naturw. 
Wochenschr.   1916,  S.  212. 

')  R.  Kowarzik,  Neues  vom  Schafochsen.  Naturw. 
Wochenschr.   1913,  S.  757. 


Waffen  erlegen  konnte,  aber  wohl  nicht  gern 
tötete,  da  besonders  die  letzten  beiden  zu  wenig 
mit  ihrer  geringen  Fleischmenge  den  Kraftauf- 
wand aufwogen.  Als  zu  gefährlich  galt  wohl  der 
durch  mehrere  Arten  vertretene  Riesenhirsch') 
und  der  durch  seine  harten  Schalen  sehr  wehr- 
hafte Elch.  Soergel  erwähnt  bei  der  Elchjagd 
eine  bemerkenswerte  Tatsache:  in  Ehringsdorf 
sind  fast  nur  Reste  von  Elchtieren  gefunden 
worden.  Es  wurde  also  in  so  früher  Zeit 
bereits  eine  Jagdauslese  insofern  getrieben,  als 
man  nur  dem  weniger  wehrhaften  weiblichen 
Tiere  nachstellte.  Auch  der  altdiluviale  Homo 
Heidelbergensis  soll  schon  die  gleiche  Jagdauslese 
getrieben  haben.  Denn  in  den  Sanden  von  Mauer 
wurden  noch  niemals  Geweihreste,  dagegen  zahl- 
reiche Gebisse  gefunden.  Er  trieb  also  Angriffs- 
jagd, und  zu  dieser  muß  er  ursprüngliche  Holz- 
waffen  verwendet  haben. 

Von  kleineren  Säugern,  die  durch  zahlreiches 
Vorkommen  im  Beutematerial  als  methodisch  ge- 
jagt gelten  können,  erlegte  der  Paläolithiker  den 
Biber,  der,  am  Lande  unbeholfen,  einfach  totge- 
schlagen wurde;  solch  bequeme  Methoden  liebte 
der  Neandertaler.  Der  diebische  Eisfuchs  wurde 
in  der  Nähe  der  Lagerplätze  erschlagen,  worauf 
die  Funde  in  Willendorf  und  Predmost  weisen. 
Sehr  zahlreich  sind  in  einzelnen  Stationen  die 
Reste  des  Sehne  ehasen,  so  im  Keßlerloch  mit 
500  Stück,  wenn  auch  mancher  Raubvögeln  zum 
Opfer  gefallen  sein  mag.  Fische  liebte  der 
Neandertaler  nach  So  ergeis  Meinung  nicht. 
Diese  befremdliche  Tatsache  steht  im  Wider- 
spruche mit  den  Gewohnheiten  lebender  Natur- 
völker, so  der  Innerafrikas,  z.  B.  des  stromreichen 
Kongobeckens  und  der  ostafrikanischen  Seen,  — 
wenn  auch  nicht  aller  primitiven  Völker  schlecht- 
hin, so  der  Tasmanier,  in  deren  mächtigen  Ab- 
fallhaufen aus  Muscheln  sich  niemals  P'ischreste 
finden.  Sie  steht  auch  im  Gegensatz  zu  den  Ge- 
bräuchen der  mit  Fischfanggerät  gut  ausgestatteten 
Jungpaläolithiker,  die  uns  Fische  jedoch  selten 
bildlich  hinterließen.  Die  Abneigung  gegen  Fisch- 
kost beim  Neandertaler  ließe  sich  vielleicht  (?)  so 
erklären,  daß  er  mit  seinem  schwerfälligen  Körper- 
bau ein  schlechter  Schwimmer  war,  dessen  starke 
Behaarung  seine  Wasserscheu  wesentlich  mit  ver- 
ursachte. Vögel  waren  dem  Paläolithiker  ver- 
möge unzureichender  Bewaffnung,  so  wegen  Un- 
kenntnis des  Bogens,  schlecht  erreichbar,  trotzdem 
die  Vogelwelt  reich  entwickelt  war.  In  jüngerer 
Zeit  mögen  dagegen  Alpen-  und  Moorschneehuhn 
mit  Schlingen  gefangen  worden  sein,  ähnlich  wie 
heute  von  den  Nordländern. 

Nicht  nur  große  und  kleine  Säuger,  Vögel  und 
P'ische  suchte  der  Eiszeitmensch  seinem  Nahrungs- 
und Kulturbedürfnis  durch  planmäßige  und  ge- 
legentliche Jagd  dienstbar  zu  machen,   wie  die  be- 


')  W.Dietrich,  Neue  Kiesenhirschresic  aus  dem  schwä- 
bischen Diluvium.  Jahreshefte  des  Vereins  für  vaterländische 
Naturkunde   in   Württemberg   1909,  S.   I32. 


N.  F.  XXI.  Nr.  18 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


249 


sprochenen  Tiere  zeigen,  die  nicht  seine  einzige 
Beute  waren,  —  dabei  die  minder  wehrhaften  und 
besonders  nützHchen  Tiere  stets  bevorzugend.  Er 
wagte  sich  auch  an  Raubtiere.  Er  erlegte 
Löwe,  Panther  und  Hyäne,  vielleicht  nur  alte  und 
kranke  Stücke,  oder  in  Notwehr.  Der  gewaltige 
Höhlenbär  ist  nach  den  Funden  am  Sirgen- 
stein nach  R.  R.  Schmidt*)  und  in  der  mähri- 
schen Schipka-Höhle  erlegt  worden,  wo  er  viel- 
leicht beim  Auswechseln  aus  der  Höhle  von  oben 
mit  Steinen  erschlagen  wurde,  wie  uns  das 
Kühne  rt  auf  einem  Gemälde  dargestellt  hat. 
Sehr  viel  häufiger  findet  sich  der  kleinere  und 
gutmütigere  braune  Bär.  Er  bildet  in  Tau- 
bach  21,2'^jf,,  in  Ehringsdorf  10%  der  Gesamt- 
beute. In  der  Höhle  Jachymka  in  Mähren  herr- 
schen aufgeschlagene  Bärenknochen  durchaus  vor. 
Auf  seinen  Wechseln  angebrachte  Fanggruben 
mögen  neben  plötzlichem  Überfalle  die  erfolg- 
reichsten Jagdergebnisse  gezeitigt  haben. 

Die  Stellung  des  diluvialen  Jägers  und  seines 
Ahnen  innerhalb  der  ihn  umgebenden 
Tierwelt  war  sicherlich  eine  schwierige,  die 
sich  erst  langsam  mit  Vervollkommnung  der 
Waffen  verbesserte.  Niemals  aber  so  bequem,  wie 
dies  Klaatsch  in  Mißachtung  der  zahlreichen 
Feinde  des  Menschen  darstellt ,  wenn  er  sagt : 
„Die  ersten  Mitglieder  von  Urmenschenherden, 
die  den  Gedanken,  Säugetiere  zu  packen  oder 
durch  Steinwurf  zu  töten,  zur  Tat  werden  ließen, 
hatten  offenbar  ein  ganz  leichtes  Spiel.  Das 
können  wir  aus  der  allgemein  gültigen  Tatsache 
schließen,  daß  Tiere  nur  durch  Erfahrung  Furcht 
gewinnen.  .  .  Viele  seiner  Opfer  muß  er  einfach 
mit  der  Hand  haben  greifen  können.  Selbst  in 
Gegenden,  wo  Tiere  bereits  vor  Raubtieren  sich 
zu  fürchten  gelernt  hatten,  konnte  doch  der  Mensch 
sich  seiner  Beute,  die  ihm  nichts  Böses  zutraute, 
ruhig  nähern.  Es  muß  eine  großartige  Zeit  für 
die  ersten  Horden,  die  in  neue  Gegenden  ein- 
drangen, gewesen  sein,  da  sie  unter  der  Tiermit- 
welt aufräumen  konnten,  soviel  es  ihnen  beliebte."  -') 
Niemals  in  dieser  „großartigen"  Zeit  hat  der 
Mensch  Löwe  und  Mammut  mit  freundlichen  Wor- 
ten überwältigt.  Gewiß  mögen  die  ältesten  Men- 
schenrassen die  Anfangsgründe  jagdlicher  Arbeit 
erlernt  haben  beim  Nachstellen  nach  wenig  wehr- 
haften oder  ausdauernden  und  nach  kranken 
Tieren.  (Denn  die  Jagd  auf  die  großen  Dick- 
häuter kann  nicht,  wie  So  er  gel  wohl  annimmt, 
als  Anfang  einer  solchen  gelten ;  hier  werden  aus 
dem  bekannten  Beutematerial  zu  weitgehende 
Schlüsse  gezogen.)  Doch  auch  auf  ihre  Aneignung 
schon  mußten  sie  eine,  sich  allmählich  mehrende 
Summe  von  Beobachtung,  List  und  Kraft  verwen- 
den. Von  Anbeginn  seiner  Jagd  hat  die  diluviale 
Tierwelt  den  ihr  nachstellenden  Menschen  als 
Feind    erkannt    und    sich    ihm    zu    entziehen    ver- 


')  R.  R.  Schmidt,  Die  diluviale  Vorzeit  Deutschlands. 
1912. 

'')  Klaatsch,  Der  Werdegang  der  Menschheit  und  die 
Entstehung  der  Kultur.    S.   106. 


sucht.  Denn  sie  war  an  Verfolgungen  seitens  der 
zahlreichen  Raubtiere,  die  Mitteleuropa  im  Dilu- 
vium bevölkerten,  durchaus  gewöhnt.  Der  fleisch- 
begierige Mensch  war  nur  ein  Glied  mehr  in  der 
langen  Reihe  ihrer  Widersacher.  Die  jagdbaren 
Tiere  auf  der  einen,  Raubtiere  und  Mensch  auf 
der  anderen  Seite  haben  in  engsten  gegenseitigen 
Lebensbeziehungen  gestanden.  Der  Mensch  trat 
n'cht  als  neu  einwanderndes,  unbekanntes  Raub- 
tier zwischen  jene:  er  wurde  zum  gewandten 
Räuber  erst  nach  und  nach  in  ihrer  Mitte.  Wuchs 
aber  das  Raubtiertalent  im  Menschen,  so  mehrte 
sich  in  gleichem  Schritte,  wie  Soergel  sehr 
richtig  betont,  auch  der  auf  seine  Vermeidung 
und  Abwehr  sich  einstellende  Erfahrungsschatz 
der  Tiere. 

Das  Jägerleben  des  nomadisierenden  Diluvial- 
menschen war  ein  steter  Kampf  für  die  Erhaltung 
des  eigenen  Lebens  —  erst  gegen  Ende  des  Paläo- 
lithikums  mag  die  Genugtuung  an  erfolgreicher 
Jagd  auch  eine  Art  Vorläufer  sportlicher,  nicht 
durchaus  lebensnotwendiger  Jagdausübung  gezeitigt 
haben  —  und  gegen  seine  Feinde.  Diese  waren 
weit  verbreitet  und  zahlreich ;  es  sind  neben  dem 
Menschen  selbst,  der  dem  Kannibalismus  nicht 
abhold  war,  der  Höhlenlöwe,  der  Fanther,  der 
Höhlenbär  und  braune  Bär,  der  Wolf.  An  klei- 
neren Raubtieren,  die  den  Menschen  kaum  an- 
greifen, ihn  aber  durch  Wegschleppen  seiner  Beute 
schädigen  können,  war  vertreten  der  Luchs  (Felis 
lynx  und  Felis  lynx  var.  cervaria),  Wildkatzen 
(Felis  catus  und  manul),  der  Fuchs  (Canis  vulpes 
und  lagopus),  die  Höhlen-  und  Streifenhyäne 
(Hyaena  spelaea  und  striata).  Der  dichtbehaarte 
Höhlenlöwe,  der  Höhlenbär  waren  gewaltige 
Räuber,  größer  als  ihre  heute  lebenden  Verwandten. 
Der  Höhlenbär,  der  in  aufrechter  Haltung  eine 
Höhe  von  2V.2  m  erreicht,  ist  der  größte  bekannte 
Bär.  Trefflich  stellt  ihn  in  seiner  Plumpheit  und 
Massigkeit  eine  Gravierung  aus  Combarelles  *)  dar. 
Der  braune  Bär  kam  etwa  dem  Grizzlibären  an 
Größe  gleich.  Nicht  selten  wird  der  Mensch 
Raubtieren  zum  Opfer  gefallen  sein,  vielleicht 
öfter  als  er  sie  erlegte.  Seine,  einem  Raubtiere 
gegenüber  kümmerliche  Bewaffnung,  die  geringe 
Kopfzahl  der  Jägerbanden,  die  geringe  Größe  der 
altpaläolithischen  Rassen  lassen  den  Menschen  als 
im  Kampfe  mit  Raubtieren  stark  benachteiligt 
erscheinen. 

Sicher  ist,  daß  alle  diese  Raubtiere  unter  den 
Pflanzenfressern  des  Diluviums  stark  gehaust  haben. 
Ein  richtiges  Bild  von  den  Erfolgen  ihrer 
Jagd  kann  man  sich  nur  schwer  verschaffen.  Der 
Löwe,  der  Leopard  Ostafrikas  überfällt  sein  Opfer 
im  Sprung,  und  verzehrt  es  meist  an  Ort  und 
Stelle  oder  verschleppt  es  kurze  Strecken.  Die 
Knochen  bleiben  an  der  Erdoberfläche  liegen, 
ohne  durch  Gestein  eingebettet  zu  werden,  und 
vergehen  sehr  schnell.     Selten    findet    man  Über- 


')  Nach  H.  Breuil ,  aus  Übermayer,   Der  Mensch  dr 
Vorzeil.  S.  244. 


250 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  18 


erste  ihrer  Opfer.  Ein  gutes  Teil  zur  völligen 
Vernichtung  der  Knochenreste  trägt  ferner  der 
stets  gefräßig  umherschweifende  Schwärm  der 
Hyänen  bei,  die  auch  die  stärksten  Knochen  zer- 
beißen. Nur  die  sehr  wenigen  Fälle,  wo  in 
Höhlen  die  Beutereste  oder  die  Räuber  selbst 
fossil  wurden,  geben  ein  eindringliches  Bild  von 
der  Herrschaft  der  Raubtiere.  Die  Hyänenhöhlen, 
die  Schlupfwinkel  der  Höhlenbären  (so  die 
Tischoferhöhle  bei  Kufstein,  aus  der  prächtige 
Skelette  von  Schlosser  geborgen  wurden;  die 
Höhle  von  Echenozla-Moline,  welche  Reste  von 
800  Bärenskeletten  enthielt)  sprechen  mit  ihren 
gewaltigen  Mengen  an  Knochen  laut  genug  von 
den  schweren  Wunden,  die  durch  die  überaus 
zahlreichen  Räuber  den  Pflanzenfressern  geschlagen 
wurden.  Ein  unter  einem  Felsvorsprung  ge- 
decktes Lager  einer  Leopardenfamilie  zeigte  mir 
in  Deutsch- Ostafrika  einen  wahren  Stapel  von 
frischen  Knochen,  meist  der  Extremitäten,  wohl 
die  Beute  einer  kurzen  Jagdzeit. 

JMan  darf  also  den  IVIenschen  nicht  als 
den  einzigen  Feind  der  diluvialen  Tierwelt 
betrachten.  Doch  hat  er  unter  ihr  sicher  stark 
aufgeräumt,  mit  Zunahme  der  Bevölkerung  gewiß 
stärker  als  die  Raubtiere.  Lange  Zeit  führte  er 
ein  reines  Jäger-  und  Fleischesserdasein.  In  dieser 
haben  sich  Ausbildung  der  Jagdmethoden  und 
-Gewinn  ständig  gesteigert.  Im  jüngeren  Palä- 
olithikum  mögen  sogar  besonders  geübte  und  gut 
bewaüfnete  Jägertrupps  auf  Beute  ausgezogen  sein, 
so  in  den  dicht  besiedelten  Flußtälern  Südfrank- 
reichs. Wieviel  aber  dazu  gehört,  einen  Menschen, 
zumal  einen  wandernden,  mit  magerem  Wildfleisch 
täglich  zu  sättigen,  weiß  nur  der,  wer  wie  im 
ostafrikanischen  Kriege  genötigt  war,  wochenlang 
von  fettlosem  Antilopenfleisch  fast  ohne  Brot  zu 
leben;  selbst  in  guten  Wildgegenden  war  genügend 
Nahrung  von  Jagdkommandos  kaum  zu  beschaffen. 
Die  Kulturstationen  des  paläolithischen  Menschen 
bezeugen  eine  sehr  erfolgreiche  Jagd,  mögen  die 
Knochenschichten  in  ihnen  auch  oft  langjährigen  Be- 
siedelungen entsprechen.  Wenige  solcher  Stationen 
sind  dazu  im  ganzen  noch  bekannt;  wie  manches 
Beutestück  mag  außerhalb  eines  Lagerplatzes  ver- 
zehrt worden  sein,  ohne  daß  seine  Knochen  fossil 
werden  konnten. 

Als  Stätte  sehr  erfolgreicher  Jagd  des  jungpalä- 
olithischen  Menschen  gilt  mit  Recht  der  jurassische 
Inselberg  von  Solutre  bei  Mäcon,  dessen  all- 
mählich ansteigende,  an  der  einen  Seite  aber  steil 
abfallende  Platte  vom  Menschen  als  günstige  Ge- 
legenheit zur  Herdentreibjagd  auf  kleine  struppige 
Wildpferde  immer  und  immer  wieder  verwendet 
wurde.  Auf  einer  Oberfläche  von  3800  qm  liegt 
eine  bis  2  m  dicke  Pferdeknochenschicht,  die 
neben  Artefakten  der  Aurignacstufe  Reste  von 
100 000  Wildpferden  enthalten  soll.') 

Ein  zweiter  Platz,  der  als  erfolgreiche  Jagd- 
stätte des  Menschen    genannt  wird,    ist    der  Löß- 

')  Obermayer,  1.  c.  S.  193. 


hügel  von  Predmost  in  Mähren,  eine  der 
wichtigsten  paläolithischen  Fundstellen  der  Erde. 
Über  ihn  hat  neuerdings  Absolon  eine  inter- 
essante Schilderung  gegeben.')  Hier  sollen  Reste 
von  1000  Mammuten  nach  Maska  liegen,  nach 
Soergels  erster  Schätzung  2 — 300,  nach  späterer 
etwa  5 — 600,  also  ein  wahres  Mammutleichenfeld. 
Im  Gegensatz  zu  anderen  Forschern,  die  den 
Menschen  als  den  Jäger  dieser  Mammute  ansehen, 
nimmt  letzterer  an,  daß  bei  Presmost  eine  Mam- 
mutherde verendet  ist,  die  im  kalten  Trocken- 
klima der  Lößzeit  nur  langsam  verweste  und  erst 
in  diesem  Zustande  entdeckt  und  vom  Menschen 
verwendet  wurde.  Soergel  führt  manchen  be- 
achtlichen Grund  für  seine  Ansicht  an.-)  Anderer- 
seits, soll  auf  engen  Raum  zusammengeballt  eine 
so  gewaltige  Herde  von  Mammuten  —  mindestens 
sehr  viele  Hunderte  von  Stücken  mit,  wie  Ab- 
solon ausdrücklich  betont,  zahlreichen  Kälbern 
—  sich  gehalten  und  Nahrung  gefunden,  und  dann 
gemeinsam  durch  ein  Naturereignis:  einen  Schnee- 
oder Lößstaubsturm,  zugrunde  gegangen  sein  ? 
Die  letzte  Entscheidung  ist  noch  nicht  gefällt, 
dürfte  aber  die  Schußliste  der  Predmoster  Löß- 
jäger belasten. 

Der  diluviale  Mensch  ist  ein  rücksichtsloser 
Jäger  gewesen.  Er  war  es  aus  Not  und  Hunger. 
Seine  Herrschaft  über  die  Tierwelt  vergrößerte 
sich  stetig  mit  dem  Wachstum  der  Bevölkerung 
und  der  Vervollkommnung  der  Jagdwaffen.  Im 
gleichem  Schritte  wuchs  die  unablässige  Beun- 
ruhigung des  Wildes,  das  ohne  Einhaltung  einer 
,, Schonzeit"  verfolgt  wurde,  sich  mit  Ausnahme 
der  flüchtigen  Huftiere  nur  schwer  Nachstellungen 
entzog,  und  so  in  seinem  Nachwüchse  schwer  ge- 
fährdet wurde.  Aber  durch  all  das  ist  noch  nicht 
erwiesen,  daß  der  Mensch  der  Vernichter  von 
vielen  größeren  Tieren  der  Eiszeit  ist. 

Diese  Meinung  —  geflossen  aus  dem  Gedanken, 
daß  es  ein  natürliches  Ende  für  höhere  Einheiten 
von  Lebewesen  nicht  gibt  — ,  vertrat  Stein- 
mann,  ebenso  Hoernes.  Steinmann  sagt: 
„Der  Mensch  unterscheidet  sich  dadurch  von  aller 
übrigen  Kreatur,  daß  er  systematisch  vernichtet 
und  ausrottet".^)  In  der  geologischen  Gegenwart 
hat  der  Mensch  eine  Reihe  von  Tieren  ausge- 
rottet: andere  führt  er  der  Ausrottung  näher. 
Sicher  hat  Steinmann  darin  Recht.    Sind  aber 


')  In  Klaatsch,  1.  c.  S.  357. 

'-)  Soergel  zieht  zum  Vergleiche  heran,  daß  ähnliche 
Anhäufungen  von  Resten  des  (lebenden)  Elefanten  aus  Afrika 
bekannt  seien,  wo  Buren  und  Eingeborene  an  schlammigen 
Tümpeln  mit  großem  Erfolge  nach  dem  Elfenbein  toter  Tiere 
suchen.  „Es  handelt  sich  hier,  wie  die  überwiegende  Anzahl 
alter  Tiere  zeigt,  um  Sterbeplätze,  die  von  kranken  und  alters- 
schwachen Tieren  aufgesucht  werden."  Es  bandelt  sich  hier  nicht 
um  Sterbeplätze,  sondern  um  —  Lügen  der  Elefantenjäger,  die 
ihr  ausrottendes  Morden  auf  ein  natürliches  Ende  ihrer  Opfer 
abzuwälzen  sich  bemühen  und  gern  Elfenbein  ,, finden".  Die 
alten  Elfenbeinhändler  aus  Udjidji  am  Tanganjikasee,  dem 
großen  Umschlagplatz  für  Kongoelfenbein,  wissen  von  diesen 
Praktiken  genug  zu  erzählen. 

'')  Steinmann,  Die  geologischen  Grundlagen  der  Ab- 
stammungslehre.    Leipzig   1908. 


N.  F.  XXI.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


251 


die  während  des  Diluviums  in  Mitteleuropa  aus- 
gestorbenen großen  Säuger:  Elephas  antiquus  und 
primigenius,  Rhinozeros  antiquitatis  und  Mercki, 
Höhlenbär  und  Höhlenlöwe,  nun  wirklich  dem 
paläol  ithisc  hen  Jäger  zum  Opfer  ge- 
fallen? Die  Ursachen  des  Aussterbens  der  Or- 
ganismen, über  die  schon  reichlich  genug  ge- 
schrieben wurde,  sind  sehr  vielgestaltiger  und 
verschlungener,  schwer  enträtselbarer  Natur,  ^j 
Innere  und  äußere  Ursachen  wirkten  bei  dem 
Verschwinden  der  genannten  Arten  zusammen. 
Von  außen  her  der  Steinzeitjäger,  so  z.  B.  durch 
Einengung  ihres  Verbreitungsgebietes,  Gefährdung 
der  Nachkommenschaft.  Seine  Waffen  und  Fang- 
arten, sein  stetes  Fleischbedürfnis  waren  imstande, 
dem  Tierbestand  schwere  Wunden  zu  schlagen, 
ja  einzelne  Tiere  lokal  auszurotten.  Als  innere 
Ursachen  sind  uns  manche  spezielleren  bekannt, 
neben  den  allgemein  für  das  Erlöschen  von  Tier- 
gruppen anerkannten  Gründen:  wie  Klimawechsel 
und  in  seinem  Gefolge  Erschwerung  der  Ernährung 
und  Fortpflanzungsmöglichkeit.  So  zeigt,  wie 
Soergel  beobachtete,  Rhinozeros  Mercki,  das 
wohl  bei  Beginn  der  letzten  Eiszeit  ausstarb,  in 
Ehringsdorf  an  zwei  Individuen  eine  krankhafte 
Ausbildung  des  Zahnschmelzes  (Hypoplasie),  die 
durch  Stoffwechselstörungen  hervorgerufen  wurde. 
Beim  jungdiluvialen  Mammut  finden  sich  oft  Ge- 
bißanomalien, Umbiegungen  (Tortuosilät)  am 
hinteren  Ende  der  letzten  Molaren,  die  den  Zahn- 
ersatz gefährdeten.  Solche  krankhaften  Erschei- 
nungen aber  haben  sicherlich  schädigend  auf  Er- 
nährung und  Kräfteersatz  der  Tiere  eingewirkt. 
Das  Mammut  degenerierte  lokal  vor  seinem  Aus- 
sterben in  Mitteleuropa;  seine  jüngsten  Vertreter 
aus  Schottern  der  letzten  Vereisung  der  Boden- 
seegegend sind  geradezu  Zwergformen.  Bekannt 
sind  die  mannigfachen,  durch  das  Leben  in  feuchten 
Schlupfwinkeln  verursachten  Erkrankungen  an 
Knochen  und  Schädeln  des  Höhlenbären,  die  im 
Verein  mit  der  hohen  Spezialisation  im  Gebiß 
ihn  dem  Aussterben  nähern  mußte.  Auch  beim 
Höhlenbären  bildete  sich  gegen  Ende  des  Dilu- 
viums eine  zwerghafte  Rasse  heraus. 

Kurzum,  viele  Tatsachen  zeigen  uns  eine  ver- 
minderte Widerstandskraft,  ein  Altern  in 
einzelnen  Säugergruppen  der  Eiszeit  an,  das  auch 
ohne  Zutun  des  Menschen  zu  ihrem  Erlöschen 
führen  mußte.  Doch  hat  der  Mensch  es  vielfach 
beschleunigt,  besonders  in  dichter  besiedelten 
Gegenden,  ebenso  bei  den  genannten  Zwergrassen, 
an  die  er  sich  wegen  ihrer  geringen  Wehrhaftig- 
keit  besonders  leicht  heranwagen  konnte.  ')     Daß 


der  Diluvialmensch  nicht  einzige  Veranlassung 
zum  Aussterben  war,  könnte  vielleicht  auch  das 
Beispiel  des  Waldelefanten  zeigen;  er  verschwindet 
fast  gleichzeitig  vor  der  dritten  Eiszeit  in  Europa 
und,  wenigstens  in  einer  sehr  nahestehenden  Art, 
in  Asien,  hier  von  reinen  Jägervölkern  kaum  be- 
lästigt, dort  aber  stark  verfolgt.  Eher  dürfte  das 
Aussterben  des  Mammuts  Mitteleuropas  am  Aus- 
gang der  letzten  Eiszeit  dem  Diluvialjäger  zur 
Last  fallen,  das  sich  dagegen  in  menschenarmen 
Gegenden  Nordasiens  bis  in  historische  Zeit  hielt, 
wo  es  in  Sibirien  in  großen  Herden  lebte  und, 
von  Klimaschwankungen  kaum  belästigt,  langsam 
zugrunde  ging. 

Wildpferd  und  Ren  aber  überlebten  trotz  un- 
geheurer Verluste  vermöge  ihrer  Flüchtigkeit  den 
paläolithischen  und  neolithischen  Jäger,  bis  sie  in 
einzelnen  Rassen  im  sicheren  Hafen  der  Domesti- 
kation landeten.  Der  weit  verbreitete  Riesen- 
hirsch, der  kein  rares  Wild  war  —  wurden  doch 
in  dem  kleinen  Moore  von  Bellybetagh  bei  Dublin 
aliein  100  Schädel  und  6  Skelette  des  nahe  ver- 
wandten Megaceros  hibernicus  gefunden  — ,  starb 
im  jüngsten  Paläolithikum  aus,  obgleich  er  zu  den 
seltensten  Jagdtieren  des  Menschen  gehörte.  Ur, 
Bison  und  Elch  —  letztere  beiden  immerhin 
häufigere  Jagdbeute  —  retteten  sich  trotz  immer 
stärker  werdender  Nachstellung  bis  in  historische 
Zeit,  wo  uns  ihr  Schicksal  nicht  mehr  beschäftigt. 

So  mag  das  Urteil,  wieviel  an  Schuld  dem 
diluvialen  Menschen  am  Verschwinden  mancher 
Säuger  zufällt,  schwanken  können.  Ein  gewisser 
Anteil  an  ihr  kommt  bei  wenigen  in  Betracht; 
bei  den  meisten  kommt  sie  gar  nicht  in  Frage. 
Anders  steht  es  mit  seinen  Nachkommen  in  jünge- 
rer Zeit;  hier  belastet  sich  sein  Schuldkonto 
ständig.  — 

So  bietet  die  paläolithische  Jagd,  sieht  man 
sie  auf  dem  wechselnden  Gemälde  diluvialer  Zeit, 
in  der  Tier-  und  Pflanzengemeinschaften  kamen  und 
gingen,  grünes  Waldland  offene  Steppe  ablöste, 
neue  Menschenrassen  alte  überwältigten,  der  Mensch 
nach  neuen  Zielen  drängte  —  eine  Fülle  anregen- 
der Betrachtungen  dar. 


')  Abel,  Die  vorweltlichen  Säugetiere.     Jeua   1914. 
^)  Wenn    man    sagt,    daß    menschliche  Jagd,    nur  der  Er- 
nährung   halber    und    mit    einfachen    Waffen    betrieben ,     den 


Bestand  einer  lebenskräftigen  Art  nicht  gefährden  könne,  und 
zum  Beweise  dafür  den  afrikanischen  Elefanten  anführt,  der 
des  Fleisches  wegen  seit  sehr  lauter  Zeit  von  den  Negern 
gejagt,  trotzdem  aber  von  den  Europäern  in  großen  Herden 
angetroffen  wurde,  —  so  trifft  das  auf  den  paläolithischen 
Elefantenjäger  doch  nur  sehr  eingeschränkt  zu:  Elefantenjagd 
ist  bei  den  Eingeborenen  Afrikas  durchaus  Gelegenheitsjagd, 
um  zur  ganz  überwiegenden  Ptlanzenkost  dann  und  wann 
tüchtig  Fleisch  zu  essen;  eine  erhebliche  Minderung  der  Be- 
stände ist  dabei  ausgeschlossen.  Der  Diluvialjäger  aber  übte 
Zwangsjagd  auf  Wald-  und  Pelzelefant  aus;  F'leischkost  war 
für  ihn  die  einzige  Nahrungsquelle,  die  die  Zahl  der  Herden 
stark  mindern  mußte. 


252 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Bücherbesprechimgen. 


Reinhardt,  Karl,  Poseidonios.  476  S.  Mün- 
chen 1921,  C.  H.  Beck.     Geh.  60  M.,  geb.  75  M. 

Der  Gedanke  einer  vergleichenden  Anatomie 
als  Wissenschaft,  von  dem  Aristoteles,  Leo- 
nardo da  Vinci,  Goethe  bewegt  wurden,  ist 
in  den  Legons  d'anatomie  comparee  Georg 
Cuviers  zur  Wirklichkeit  geworden.  Wie  frucht- 
bar er  war,  hat  Cuvier  weiterhin  in  seinen 
Recherches  sur  les  ossements  fossiles  (1812)  be- 
wiesen. Er  brachte  eine  ganze  Welt  ausgestorbener 
Tiergeschlechter  zur  wissenschaftlichen  Aufer- 
stehung, so  daß  Goethe  den  Grundsatz  aus- 
sprechen durfte:  Wenn  ich  ein  zerstreutes  Ge- 
rippe finde,  so  kann  ich  es  zusammenlesen  und 
aufstellen ;  denn  hier  spricht  die  ewige  Vernunft 
durch  ein  Analogon  zu  mir,  und  wenn  es  das 
Riesenfaultier  wäre. 

Cuvier  ging  noch  weiter;  er  wagte  und  voll- 
brachte es,  einen  oder  wenige  zufällig  gefundene 
Knochen  zum  ganzen  Skelett,  zum  ganzen  Tier, 
zu  einem  lebhaften  Naturbilde  zu  ergänzen. 

Die  Erinnerung  an  Cuviers  Werk  ist  uns  oft 
gekommen,  wenn  wir  Veranlassung  hatten,  neueren 
Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  klassischen  Philo- 
logie zu  folgen.  Was  der  durch  Flur  und  Ge- 
birge streifende  Knabe  aus  IMömpelgard  für  die 
Naturwissenschaft  der  Vorzeit  zu  ahnen,  zu  sehen 
begann,  das  ging  dem  Haynroder  Kantorssohn 
Friedrich  August  Wolf  in  seiner  engen 
Bücherwelt  als  eine  zukünftige  Altertumswissen- 
schaft auf.  Cuvier  und  Wolf  erwuchsen  und 
blühten  unabhängig  voneinander.  Aber  sie  be- 
gegneten sich  wenigstens  geistig  dort,  wo  in  ihren 
Tagen  alle  Höhenwege  der  Zeit  und  der  Vorzeit 
zusammentrafen,  bei  Goethe.  Unter  den  Geistern 
der  Vorzeit,  die  in  Weimar  erschienen,  war  ein 
Mann  namens  Posidonius.  Er  wurde  durch 
Seneca  eingeführt  als  Zeitgenosse  oder  sogar 
als  Augenzeuge  einer  höchst  merkwürdigen  Natur- 
begebenheit, der  frischen  Entstehung  einer  neuen 
Insel  im  ägäischen  Meere;  die  Vorgänge,  welche 
das  Auftauchen  dieser  Insel  begleiteten,  waren 
genau  dieselben,  wie  sie  Goethe  nach  seinen 
gründlichen  Untersuchungen  des  Kammerberges 
bei  Eger  sich  für  die  Entstehung  dieses  Berges 
gedacht  hatte. 

Von  Posidonius  wußte  Goethe  so  viel 
und  so  wenig  wie  Wolf  und  Cuvier.  Posei- 
donios gehörte  zu  den  untergegangenen  Ge- 
stalten der  antiken  Welt,  von  denen  außer  dem 
Namen  und  geringen  literarischen  Spuren  kaum 
etwas  zuverlässiges  bekannt  war.  Heute  steht  er 
unter  den  lebensvollen  Gestalten,  welche  die 
klassische  Philologie  und  namentlich  Eduard 
Schwartz  in  seinen  „Charakterköpfen  aus  der 
antiken  Literatur"  (3.  Aufl.  1910)  durch  Sammlung 
und  Ergänzung  zerstreuter  Reste  und  verblaßter 
Abdrücke  wieder  aufgerichtet  hat.  Vor  Schwartz 
wußten  wir  von  Poseidonios  die  äußeren 
Lebensumstände,  die  Gebiete  seiner  Tätigkeit,  die 


Titel  seiner  Werke.  Der  Mann  trat  uns  aber  in 
keiner  Beziehung  nahe,  so  daß  wir  ihn  hätten 
sehen  können,  wie  wir  etwa  seine  Schüler  und 
Verehrer,  Cicero  und  Pompe  jus,  ohne  große 
Mühe  zu  seilen  vermögen  in  der  Masse  zusammen- 
hängender Überlieferungen,  die  von  ihnen  und 
über  sie  aus  dem  Altertum  zu  uns  gekommen 
sind.  Die  Angaben,  daß  ein  Mann  namens  Posei- 
donios als  halbasiatischer  Grieche  zu  Apameia 
in  Syrien  geboren  worden  ist,  daß  er  ein  Schüler 
des  Stoikers  Panaitios  von  Rhodos  war  und 
selber,  der  stoischen  Philosophie  zugetan,  den 
Versuch  gemacht  hat,  die  mythologische  Theo- 
logie der  Griechen  durch  eine  Art  politisch  ethi- 
scher Religion  für  das  Volk  zu  römischem  Staats- 
gebrauch zu  ersetzen;  daß  er  als  Historiker  den 
Polybios  ergänzt,  daß  er  auf  Reisen  durch  die 
Mittelmeerländer  Iberien,  Gallien,  Ligurien,  Sizilien, 
Nordafrika,  Italien,  ein  gutes  Stück  der  Welt  ge- 
sehen und  als  Frucht  seiner  Reisen  den  Versuch 
einer  vergleichenden  Geographie  gemacht;  daß  er 
auf  diesen  Reisen  auch  naturwissenschaftliche 
Kenntnisse  gesammelt,  daß  er  mathematische  und 
astronomische  Untersuchungen,  namentlich  Ver- 
suche, die  Abhängigkeit  der  Ebbe  und  Flut  des 
Meeres  vom  Mondwandel  zu  bestimmen,  den  Um- 
fang der  Erdkugel,  die  Höhe  des  Luftraumes,  die 
Entfernung  der  Sonne  von  der  Erde  zu  messen, 
angestellt  habe;  daß  er  sich  sogar  mit  Überzeugung 
der  Nachtseite  der  Natur,  der  Mantik  zugewendet 
habe;  alles  das  erregte  Neugierde  und  Staunen, 
wie  die  zerstreuten  Knochen  eines  Megatherion ; 
aber  es  gab  doch  keineswegs  die  Überzeugung, 
daß  jene  Knochen  wirklich  zusammengehört  haben; 
geschweige  das  Urbild  des  hochragenden  Schattens. 

Wie  wahr  und  lebensvoll  wurde  uns  aber  diese 
Gestalt,  als  wir  sie  durch  Schwartz  zum  wirk- 
lichen Manne  hergestellt  sahen,  als  einen  be- 
stimmten Menschen  in  seine  Umwelt,  in  die  Ge- 
dankenwelt seiner  Zeit,  in  seine  Verhältnisse  zu 
den  Bewegungen  und  Strebungen  der  Zeitgenossen 
gebracht  kennen  lernten  und  anfingen,  zu  be- 
greifen, daß  seine  vielseitige,  zum  Teil  verzerrt 
berichtete  Tätigkeit  keine  Übertreibung  der  Fama, 
keine  wechselnde  Laune  eines  vielseitig  veran- 
lagten Geistes  sondern  Wirklichkeit  und  Not- 
wendigkeit war,  gegründet  in  den  universalen 
Tendenzen  der  Stoa,  welcher  der  universale  Geist 
des  Poseidonios  eine  besondere  Gestalt  und 
eine  weitere  Entfaltung  zu  geben  sich  berufen 
fühlte. 

Der  so  unserem  Verständnis  näher  geführte 
„letzte  bedeutende  Geist,  den  der  Hellenismus 
hervorgebracht  hat",  war  es  also ,  der  einen 
stillen  ahnungslosen  Betrachter  im  Museo  nazio- 
nale  zu  Neapel  vor  Jahren  gefesselt  hatte  in  Ge- 
stalt einer  Porträtbüste,  die  dort  in  der  farnesischen 
Sammlung  der  Marmorskulpturen  steht,  zwischen 
den  Bildnissen  des  Zcnon.Sokrates,  Sopho- 
kles,   Karneades    und    anderen,    und   die    auf 


N.  F.  XXI.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


253 


dem  Chiton  den  Namen  nOIIAONIOS  einge- 
meißelt trägt.  Dieser  Kopf,  sagte  sich  der  Be- 
schauer, muß  einen  Geist  beherbergt  haben,  der 
die  Außenwelt  wie  die  Innenwelt  scharf  zu  be- 
trachten, zu  sondern,  zusammenzufassen  fähig  und 
gewohnt  war.  Die  wunderbare  Modellierung  des 
Gesichtes  und  Schädels,  besonders  des  breit  und 
tief  entwickelten  Vorderkopfes  zog  ihn  unwider- 
stehlich an,  die  physiognomischen  Lehren  La- 
vaters  und  Goethes,  die  phrenologischen  Auf- 
stellungen Joseph  Galls,  die  von  Karl  Gustav 
C  a  r  u  s  erkannten  Gesetze  der  Kranioskopie  anzu- 
wenden, um  eine  Ahnung  davon  zu  gewinnen, 
was  jener  Mann  im  Leben  bedeuten  konnte,  dessen 
Züge  so  ruhig  und  bestimmt  aussprechen :  mich 
schuf  die  Natur  zu  einer  reinen  gegenständlichen 
Sinnesauffassung  und  zugleich  zu  einerstarken  Kraft 
synthetischen  Denkens;  sie  gab  mir  ausgeprägten 
Formensinn  und  Raumsinn;  sie  gab  mir  bei  hoher 
metaphysischer  Begabung  eine  starke  Willenskraft. 

Indessen,  das  war  doch  nur  ein  Schema,  das 
von  den  landläufigen  historischen  Notizen  mit 
ahnungsvollem  Inhalt  aber  nicht  mit  packendem 
Leben  erfüllt  werden  konnte;  den  Charakterkopf 
des  Bildhauers  hat  uns  erst  Schwartz  zum  Erde 
und   Himmel    umspannenden  Menschen   gemacht. 

Vor  uns  liegt  das  neueste  Buch  über  Pos  ei - 
donios.  Eine  treffliche  Abbildung  der  Neapeler 
Büste  ist  ihm  vorangesetzt.  So,  durch  den  Ein- 
druck der  äußeren  Gestalt,  empfängt  der  Leser 
von  vornherein  eine  Ahnung  von  der  Bedeutung 
des  Mannes,  dem  er,  das  Inhaltsverzeichnis  des 
Buches  überblickend,  alsbald  die  lebhafteste  Auf- 
merksamkeit zuzuwenden  sich  gezwungen  fühlt, 
gleichviel  welche  Fakultät  ihn  erzogen  haben  mag, 
ob  er  sich  heimischer  in  der  Welt  der  Sinne  oder 
im  Übersinnlichen  fühlt.  Das  Buch  führt  unter 
weitblickender  Nachlese  und  genauester  Betrach- 
tung und  Prüfung  der  spärlichen  literarischen 
Reste  des  Rhodiers  das  Schwartz  sehe  Charakter- 
bild mit  großer  Liebe  weiter  aus  und  bringt  den 
Geist  des  Mannes  nach  allen  Richtungen  zur  per- 
sönlichsten Aussprache.  Wir  sehen  den  Posei- 
don i  o  s  als  Geschichtsschreiber,  als  Geographen, 
als  Ethnologen,  als  Völkerpsychologen,  als  Meteoro- 
logen, als  Kosmologen,  als  Ethiker,  als  Theologen, 
als  Mantiker;  jede  Seite  des  Mannes  eine  Kraft 
für  sich  und  alle  Seiten  doch  nur  Teilkräfte  eines 
einheitlichen  Geistes,  der  das  Bild  der  Welt,  sein 
Wellbild,  aufrollt,  wie  er  es  von  außen  und  von 
innen  empfängt.  Kein  Zug  im  Bilde,  der,  nach 
zweitausend  Jahren,  unserem  Denken  fremd,  unver- 
ständlich, abgetan  wäre.  Alles  lebendig,  anregend, 
aufklärend,  zum  Weiterschauen,  Weiterdenken 
auffordernd.  Was  wir  heute  von  der  natürlichen 
Entstehung  des  Menschen  uns  vorstellen,  von  der 
Urgeschichte  der  Menschheit  erforscht  haben; 
was  wir  von  der  Bedeutung  der  Hand  für  unsere 
Erhebung  über  die  Tierwelt,  von  dem  Einfluß  der 
verschiedenen  Himmelsstriche  auf  die  Fähigkeiten, 
Gewohnheiten,  Entwicklungszustände  der  Völker 
verstehen;   was   wir   von   den  Zufälligkeiten  oder 


Eingebungen  reden,  welche  dem  Menschen  das 
Feuer  gaben,  die  Entwicklung  seiner  Wohnstätten, 
seiner  Häuser,  seiner  ganzen  Zivilisation  bestimmten ; 
war  wir  von  unseren  Veranlagungen  zu  den 
bildenden  Künsten,  zur  Geschichtsschreibung,  zur 
Philosophie,  zur  Religion  verhandeln ;  was  wir  als 
Grund  und  Trieb  für  unsere  Jenseitsvorstellungen 
anführen;  kurz,  alles  was  wir  über  unsere  an- 
fängliche Mitgift  und  ihre  Vermehrung  sinnen, 
das  hat  Poseidonios  zu  durchdringen,  zu  er- 
greifen, zu  umfassen  versucht  mit  so  zielbewußter, 
griechischer  Klarheit,  daß  wir  uns  ihm  gegenüber 
gar  manchmal  als  Träumer  oder  Nebelwanderer 
vorkommen.  In  einer  Versammlung  der  größten 
Schauer  und  Denker  und  Lehrer  aller  Zeiten  er- 
scheint er  ebenbürtig. 

Wir  dürfen  aber  nicht  verhehlen,  daß  das  Bild 
des  Poseidonios,  wie  wir  es  durch  Reinhardt 
nach  der  Durcharbeitung  seines  Buches  gewonnen 
haben,  keineswegs  mühelos  gewonnen  ist.  Rein- 
hardt schenkt  dem  Leser,  wenigstens  dem  Manne 
der  Naturwissenschaften,  nichts  umsonst.  Er 
schleppt  ihn  durch  alles  Irrsal  und  Mühsal  philo- 
logischer Forschung,  Verzweiflung  und  Beschei- 
dung. Er  verlangt  vom  Leser,  daß  er  alles,  was  ihm 
von  Bildern  des  Altertums  lieb  und  vertraut  oder 
wenigstens  gepriesen  und  erstaunlich  ist,  bezweifle, 
zerlege,  auflöse,  vernichte;  daß  er  die  Schriften 
eines  Cicero,  Strabon,  Vitruvius,  Dio- 
doros,  Seneca,Plinius,  Plutarchos,Kleo- 
medes,  Aretaios,  Ga'lenos,  Athenaios, 
S  t  o  b  a  i  o  s  nicht  mehr  als  Geisteswerke  derer, 
die  ihnen  den  Namen  gegeben,  verehre,  sondern 
sie  nur  noch  als  Aufbewahrungsorte  poseidonischer 
Fragmente  durchspähe  oder  auch  als  Gerüste  ab- 
baue, worin  einzelne  Knochen  des  Poseidonios 
mehr  oder  weniger  verstümmelt  eingefügt  und 
angepaßt  sind. 

Er  verlangt  vom  Leser  die  Erlernung  einer 
ungewohnten  Sprache,  die,  mit  gehäuftem  Wort- 
schatz belastet,  ungeduldig  hin  und  her  zerrt  und 
mit  ihrer  unersättlichen  Freude  an  termini  tech- 
nici  beschwerlich  fällt.  Da  muß  der  Leser  sich 
immer  wieder  die  Wörter  Oikumene,  Telos,  Topos, 
Genos,  Pathos,  Logos,  Bios,  Zoon,  Pneuma,  Arche- 
typus, Mimesis,  mimetisch,  Zetema,  zetematisch, 
Aporie  usw.  gefallen  lassen.  Da  muß  er  mit  dem 
Verf.  rechten:  wenn  denn  einmal  die  Wörter 
pathos,  affectus,  Leidenschaft  ganz  verdorben  sind, 
indem  sie  uns  heute  Kraftäußerungen  vorspiegeln, 
wo  ursprünglich  Unfreiheit,  zügellose  Schwäche 
gemeint  ist,  warum  behält  der  Verf.  sie  bei, 
warum  setzt  er  nicht  das  heute  zutreffende  deutsche 
Wort  dafür,  um  dem  Leser  beständige  Ver- 
renkungen zu  ersparen  ?  Ferner,  warum  erweist  er 
dem  Leser  nicht  wenigstens  dann  und  wann  die 
Wohltat,  an  Stelle  von  Übersetzungen,  die  wieder 
einer  Übersetzung  oder  einer  Erklärung  bedürften, 
den  griechischen  oder  lateinischen  Text  hinzu- 
setzen oder  beizufügen,  damit  wir,  ohne  zur 
Bibliothek  zu  laufen,  gleich  sehen  können,  was 
gemeint  sei?    Warum  mutet  er  dem  naturwissen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schaftlichen  Leser  zu,  Redebilder  zu  begreifen, 
welche  die  Physik  verbietet? 

Selbst  der  mit  den  Lehren  der  indischen  und 
griechischen  Pneumatiker  vertraute  Leser  stutzt, 
wenn  er  auf  den  Ausdruck  stößt:  „der  Mond  ist 
das  pneumatische  Gestirn";  und  kann  erst  weiter- 
gehen, wenn  er  das  Spiritus  sidus  des  Plinius 
(hist.  nat.  II.  99)  im  Zusammenhang  aufgesucht 
hat.  Eine  „Sonnenkraft,  die  auf  Erden  alles 
pneumatisch  durchdringt  und  sogar  die  Sprache 
des  Poseidonios  mitdurchdringt"  (S.  15),  oder  ein 
„Arabien,  das  von  der  Sonnenkraft  zu  stärkster 
Lebensregung  pneumatisch  durchdrungen  scheint" 
(S.  128),  muß  auf  Verständnis  warten,  bis  der 
Leser,  zur  Seite  243  vorgedrungen,  für  die  pneu- 
matische Erfüllung  die  verständlichere  Wendung 
„mit  starkem  Strome  durchatmen"  findet,  falls  er 
nicht  vorher  den  Diodoros  (II  51)  zur  Hand 
genommen  und  vom  griechischen  Text  das  Ver- 
ständnis erhalten  hat.  Ebenso  wird  das  Wort 
Sehpneuma  (S.  194)  erst  begreiflich,  damit  aber 
noch  keineswegs  annehmbar,  wenn  der  Text  des 
Kleomedes  das  ursprüngliche  Wort  oQarixov 
TTvtvLia  hergegeben  oder  der  Leser  sich  erinnert 
hat,  daß  beim  Archimedes  (nach  Olympio- 
doros)  an  einer  entsprechenden  Stelle  einfach 
ü(/'/g  steht,  was  beim  Lateiner  visus,  im  Deutschen 
Blick,  Sehstrahl  heißt.  Für  eine  derartige  Anmerkung 
wäre  jeder  nichtphilologische  Leser  dankbar. 

Physikalische  Rätsel  sind  und  bleiben  uns  „die 
alleroberflächenhaftesten  Beziehungen";  „der  pris- 
matische Brechungspunkt,  der  die  Vereinigung 
der  Einzelkräfte  mit  der  Urkraft  ist"  (S.  6);  „die 
hundertfältige  Fülle  kleiner  Einzelheiten,  die  aus 
einer  unsichtbaren  Mitte  strahlt"  (S.  31);  „das 
disponierende  Prinzip,  das  sich  im  Aufgelöst-Dis- 
putatorischen  verkrümmelt";  unerklärlich  der 
physikalische  Prozeß,  wie  in  Poseidonios  „zum 
letzten  Male  eine  soweit  erkennbar  griechische, 
wenn  auch  gedrungene  Mystik  mit  der  spröden 
Klarheit  griechischen  Kausalsinns,  dumpfer  Opfer- 
Seelen-  und  Orakelglaube  mit  dem  hellsten 
griechischen  Erkenntnisdrang  gemischt,  ein  welt- 
umspannendes System  auskristallisieren"  (S.  8); 
oder  der  Prozeß,  wie  in  einer  Naturschilderung 
„alles  sich  trennt,  alles  sich  auflöst,  um  zu  ästhetisch 
wirksamen,  von  ihrem  Grunde  losgelösten,  plasti- 
schen Modellen  zu  gerinnen"  (S.  23);  unphysi- 
kalisch auch  „die  eine  Seite  einer  Antithese,  deren 
andere  Seite  sich  vielleicht  durch  ein  gewisses 
Vakuum  verrät,  das  nichts  anderes  ist  als  das 
Ganze,  das  Antiochos  zu  seiner  Mitte  hat" 
(S.  472).  Auch  Aphorismen  wie  die  folgenden 
erscheinen  uns  nicht  ohne  weiteres  verständlich: 
„Religiöses  läßt  sich  nicht  erfassen,  ohne  daß  ein 
Eigenes  dabei  wäre".  —  „Handlungen  bedürfen, 
um  in  dem  eigentlichen  Geiste  ihrer  Erfahrung 
klar  zu  werden,  eines  Ganzen".  —  „Philosophie, 
die  aus  sich  selbst  zu  eigener  F"orm  durchbricht" 
(S.  14).  —  „Die  Stilisierung  des  Druiden  als  der 
Repräsentation  des  Logos"  (S.  30).  —  „Die  Körper- 
feuchtigkeit des  Seelenstoffes"  (S.  461)  usw. 


Doch  das  sind  Äußerlichkeiten,  die  vielleicht 
nicht  jeden  Leser  beirren.  Was  die  Sache  angeht, 
so  müssen  Fachmänner  entscheiden,  ob  alles,  was 
Reinhardt  für  poseidonisch  erklärt,  wirklich 
dem  Poseidonios  angehört  und  ihm  sogar 
eigentümlich  ist.  Bedenken  erregt  uns  die  Meinung 
(S.  460),  daß  die  Darstellung  des  y.aüaog  durch 
den  Arzt  Aretaios  Kappadox  ein  Exzerpt 
aus  Poseidonios  enthalte.  Das  vierte  Kapitel 
„über  den  Brand"  {niQ}  xacaäiv)  im  zweiten  Buche 
von  den  Ursachen  und  Zeichen  der  hitzigen  Krank- 
heiten, soll  sich  vor  dem  übrigen  Werk  dadurch 
auszeichnen,  daß  es  in  einem  eigenen  Abschnitt 
auf  die  seelische  Verfassung  des  Erkrankten  ein- 
geht, und  zwar  mit  Worten,  die  an  eine  posei- 
donische Stelle  bei  Cicero  de  divinatione  stark 
anklingen.  Diesen  Anklang  hat  vor  250  Jahren 
schon  der  Pariser  Arzt  Pierre  Petit  (1662)  be- 
merkt und  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß 
Aretaios  hier  den  Poseidonios  benutzt  habe. 
Dennoch  scheint  uns  der  Anklang  nicht  viel  zu 
beweisen.  Die  merkwürdigen  geistigen  Störungen, 
die  Aretaios  dem  im  Brennfieber  {y.aCaog  ist 
dem  Mediziner  Brennfieber,  nicht  „Brand")  Liegen- 
den zuschreibt,  kann  jeder  Arzt  in  allen  Einzel- 
heiten heute  noch  beim  Fleckfieberkranken  be- 
obachten. Die  Krankheitsschilderung  des  Are- 
taios erscheint  uns  selbständig,  sie  ist  lebens- 
wahr und  in  allen  Teilen  unbedingt  zur  Sache 
gehörig;  für  fremde  Einschiebsel  hat  sie  keinen 
Raum  und  sie  fällt  in  keiner  Weise  aus  der  ge- 
wohnten Rede  des  Kappadokiers,  den  wir  Ärzte 
nach  dem  Hippokrates  als  einen  der  be- 
deutendsten schätzen,  heraus.  Dabei  bleibt  im- 
merhin möglich,  daß  der  „kapriziöse  Archaismus 
des  gezierten  Spätlings"  einen  Ausdruck  wie 
CwT/x?)  öörafiig  dem  Rhodier  entlehnt  habe. 

Nur  dürfte  dann  aber  auch  für  Poseidonios 
nach  ärztlichen  Quellen  gefragt  und  bei  aller  An- 
erkennung der  Selbständigkeit  dieses  ungeheuren 
Geistes  zum  mindesten  auf  das  TTchia  3tia  /.ai 
m'&QibTTii'cc  TcävTa  des  Hippokrates  verwiesen 
werden,  das  zwar  nicht  im  Wortlaut  beim  Posei- 
donios wiederkehrt,  aber  dem  Sinne  nach, 
wie  der  Äther,  seine  ganze  Welt  durchdringt; 
freilich  mit  dem  Unterschiede,  daß  Hippokrates 
mehr  die  menschliche  Seite,  Poseidonios  mehr 
die  göttliche  betrachtet.  Auch  in  Kleinigkeiten 
finden  wir  Anklänge  an  Hippokrates  beim 
Poseidonios;  so  in  der  dreifachen  Nahrung, 
^>]Qa  TQOcpi;,  lygu  roocpi],  m'tvfta,  die  Reinhardt 
höchstens  bis  zum  Erasistratos  zurück  ver- 
folgt, um  aber  den  Poseidonios  dafür  zu  loben 
(S.  255). 

Reinhardt,  der  in  seinem  Parmenides 
(Bonn  19 16)  die  Beziehungen  einiger  Jugend- 
schriften des  Hippokrates  zu  der  griechischen 
Philosophie  bringt,  setzt  bei  Poseidonios  fast 
ausschließlich  die  Grundlage  der  Stoa  voraus, 
kaum  noch  die  der  jonischen  Naturforschung. 
Hier  und  da  sieht  es  aus,  als  ob  er  mit  Seneca 
nur  die  Philosophen,    die  Weisen,  als  die  Geben- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


255 


den,  die  Naturforscher  hingegen  (S.  50)  und  Ärzte 
(S.  255)  als  die  Nehmenden,  Beschenkten  ansähe. 
Wie  denn  in  seinen  Ausführungen  über  die  Be- 
ziehungen des  Galenos  zum  Poseido  nios 
der  erstere  in  seiner  Schrift  „die  Übereinstimmung 
zwischen  Hippokrates  und  Piaton"  als  der 
„leibgewordene  Schulbetrieb"  für  chrysippische 
Definitionen  und  als  Gefäß  für  poseidonische  Ge- 
danken iTf^f  TTaO^Cov  abgetan  wird  (S.  263);  wo- 
gegen wir  freilich  in  diesem  Falle  nichts  Ernst- 
liches einwenden  können.  — 

Was  bedeutet  Poseidonios  für  die  Natur- 
wissenschaft? Eigentlicher  Naturforscher  war  er 
nicht;  aber  ein  scharfer  Beobachter  von  Natur- 
vorgängen, ein  reicher  Kenner  der  unendlichen 
Fülle  in  den  Naturerscheinungen,  ein  gründlicher 
Zusammenfasser  der  Einzelheiten  und  strahlender 
Darsteller  des  Geschauten.  Seine  Beschreibungen 
sind  Spiegelbilder  eines  Geistes,  auf  den  die  Zu- 
sammenhänge, Tiefen  und  Herrlichkeiten  des 
Weltalls  eindringen,  der  uns  das  Fremdeste  und 
Seltsamste  mit  seiner  besonderen  ()rtlichkeit  und 
Nachbarschaft  und  damit  vertraut  und  begreiflich 
wiederstrahlt;  der  in  Allem  Kraft  und  Stoff, 
Geistiges  und  Sinnenfälliges  zugleich  sieht  und 
damit  überall  dem  unaufhörlichen  Werden  und 
Wandel  scheinbarer  Zustände  als  dem  ewigen 
Wirken  einer  schöpferischen  Weltseele  zuschaut, 
die  zugleich  Schöpferkraft  und  Vorstellung  und 
Vorsehung  ist. 

Seine  Beschreibung  Arabiens,  die  uns  Dio- 
doros  im  zweiten  Buch  seiner  Weltgeschichte 
überliefert,  würde  sogar  in  Alexander  von 
Humboldts  Kosmos  und  in  Karl  Ritters 
Erdkunde  glänzen,  nicht  sowohl  durch  den  Stil 
als  durch  die  Gediegenheit  und  Fülle  des  Inhaltes. 
—  Poseidonios  ist,  soviel  wir  wissen,  zwar  der 
erste,  der  durch  Beobachtungen  und  IVIessungen 
am  Hafendamm  zu  Gades  den  Zusammenhang 
von  Ebbe  und  Flut  mit  dem  Wandel  des  Mondes 
festgestellt  hat.  Aber  es  lag  ihm  dabei  nicht  viel 
an  der  schlichten  Tatsache  und  an  einer  physi- 
kalischen Erklärung  des  Phänomens;  er  gewann 
damit  ein  überzeugendes  Beispiel  für  seine  Auf- 
fassung des  Mondes  als  eines  Lebewesens,  das 
triebkräftig  und  saugkräftig  seinen  Atmungshauch 
mit  der  Erde  austauscht.  Der  Mond  ist  ihm  ein 
atmendes  Gestirn ;  es  sättigt  die  Länder,  es  erfüllt 
die  Körper  durch  sein  Herannahen,  leert  sie  durch 
sein  Sichentfernen;  daher  die  Muscheln  mit  der 
Zunahme  des  Mondes  wachsen.  Seine  Atmung 
fühlen  die  am  stärksten,  die  blutlos  sind;  aber 
auch  das  Blut  der  Tiere  und  Menschen  nimmt 
mit  seinem  Lichte  zu  und  ab,  und  Laub  und  Gras 
spüren  seine  alles  durchdringende  Kraft  (Plin. 
hist.  nat.  II  99).  —  Berechnungen  und  Messungen 
der  Erde,  der  Sonnen  weite  usw.  mögen  Era- 
thostenes  und  Hipparchos  machen;  was 
Poseidonios  will,  ist,  die  alten  Erkenntnisse 
jener  F"orscher  durch  geeignete  Bilder  und  Ver- 
gleiche anschaulich    zu  machen,    in   sein  Weltge- 


bäude einzuführen.     Darin  erscheint  er  denn  un- 
übertrefflich. 

Um  uns  einen  Begriff  von  der  Bewegungsge- 
scliwindigkeit  des  Himmelsgewölbes  und  von  der 
Größe  der  Sonnenbahn  zu  geben,  geht  er  folgender- 
maßen zu  Werke:  Stellen  wir  uns  ein  Pferd  vor, 
das  auf  ebenem  Boden  losgelassen  wird  in  dem 
Augenblick,  wo  die  Sonne  am  Rande  des  Ge- 
sichtskreises sichtbar  wird  und  fortrennt  bis  zu 
dem  Augenblicke,  wo  die  Sonne  ganz  erschienen 
ist,  so  ist  für  eine  annähernde  Schätzung  klar, 
daß  es  nicht  weiter  als  zehn  Stadien  kommen 
wird;  der  schnellste  Vogel  käme  um  ein  Viel- 
faches weiter  als  das  Pferd;  ein  Pfeil,  mit  schnellstem 
Schwünge  dahinfliegend,  käme  noch  viel  weiter 
als  der  Vogel,  so  daß  er  in  der  gleichen  Zeit- 
spanne nicht  weniger  als  zweihundert  Stadien 
durcheilte.  Wollten  wir  nun  mit  jenem  schnellen 
Pferde  den  Wandel  des  VVeltkörpers  vergleichen, 
so  fänden  wir  als  Durchmesser  für  die  Sonne 
zehn  Stadien,  beim  Vergleiche  mit  dem  schnellsten 
Vogel  einen  weit  größeren  Durchmesser,  beim 
Vergleiche  mit  dem  Pfeil  keinen  geringeren  als 
zweihundert  Stadien.  Nach  alledem  ist  die  Sonne 
also  nicht  etwa  einen  Fuß  groß  oder  so  groß  wie 
sie  uns  vorkommt.  Wie  unendlich  viel  schneller  als 
der  Flug  des  Pfeiles  aber  der  Schwung  des  Welt- 
körpers ist,  können  wir  aus  folgender  Überlegung 
abnehmen:  Als  der  Perser  wider  Hellas  zog,  da 
stellte  er,  so  wird  erzählt,  Männer  von  Susa  bis 
Athen  auf,  um  durch  die  Stimme  das,  was  unter 
ihm  in  Hellas  geschah,  den  Persern  mitzuteilen, 
indem  die  getrennt  aufgestellten  einander  ihre 
Worte  weitergaben,  und  es  wird  erzählt,  die 
Stimme  sei,  durch  solche  Übertragung  fort- 
schreitend, in  zweimal  vierundzwanzig  Stunden 
von  Hellas  nach  Persien  gekommen.  Wenn  nun 
diese  Luftbewegung,  dieser  Luftschlag,  mit  solcher 
Schnelligkeit  wachsend,  in  zwei  Tagen  und  Nächten 
nur  einen  so  kleinen  Teil  der  Erde  durchlaufen 
hat,  so  läßt  sich,  meine  ich,  wohl  begreifen,  wie 
unendlich  viel  größer  als  die  Schnelligkeit  der 
Stimme  die  Schnelligkeit  des  Weltkörpers  sein 
muß,  die  in  einem  Tage  und  einer  Nacht  eine 
Entfernung  durchläuft,  die  unendlich  viel  größer 
ist  als  der  Abstand  Griechenlands  von  Persien.  — 
Stellen  wir  uns  nun  weiter  vor,  daß  ein  Pfeil 
den  größten  Kreis  des  Erdumfanges  durchfliege, 
so  legte  er  nicht  in  dreimal  vierundzwanzig  Stunden 
die  250000  Stadien  dieses  Kreises  zurück.  Die 
ganze  Größe  des  Weltkörpers  aber,  der  unendlich 
viel  größer  als  die  Erde  ist,  durchmißt  der  Himmel 
in  einem  Tag  und  einer  Nacht.  So  daß  es  un- 
möglich ist,  diese  Geschwindigkeit  und  Eile  aus- 
zudenken oder  in  Worten  auszudrücken.  Nur  der 
Dichter  vermag  anzudeuten,  wie  schnell  der  Zug 
des  Weltkörpers  eilt : 

Weit  wie  die  neblige   Ferne  ein  Mann  durchspäht    mit   den 

Augen 
Wenn  er  auf  hoher  Wart'  das  dunkle  Meer  überschauet, 
So  viel  Raum  überspringen  der  Götter  hochwiehernde  Rosse. 

Großartig  fürwahr  hatHomeros  das  gesagt  und 


256 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  18 


mit  wundervoller  Steigerung,  indem  er  nicht  nur 
den  Blick  in  die  größte  Ferne  für  ungenügend 
fand,  um  die  Schnelligkeit  des  eilenden  Himmels- 
körpers zu  versinnlichen,  sondern  auch  noch  die 
Höhe  des  Beschauers  und  die  weite  Meeresfläche 
hinzufügte.  Doch  auch  dieses  Bild  versagt  vor 
der  Aufgabe,  die  Eile  am  Himmelsgewölbe  an- 
gemessen auszudrücken   (Kleomedes  II.  i.  73). 

Den  Erdumfang  versinnlicht  Poseidonios 
so:  Der  Stern  Kanobos  im  Steuerruder  der  Argo 
ist  in  Rhodos  eben  noch  sichtbar,  in  Alexandria, 
das  unter  derselben  IVIittagslinie  liegt,  erhebt  er 
sich  um  den  vierten  Teil  eines  Tierkreiszeichen, 
also  um  7,5";  diesem  Himmelsbogen  entsprechend 
müßte  der  Abstand  von  Rhodos  nach  Alexandreia 
mit  48  multipliziert  werden,  um  den  Umfang  der 
Erdkugel  zu  gewinnen.  Poseidonios  unterläßt 
es,  den  irdischen  Bogen  zwischen  Rhodos  und 
Alexandria  zu  messen;  ihm  kommt  es  nicht  wie 
dem  Eratosthenes  darauf  an,  die  genaue  Zahl 
mittels  des  Gnomon  zu  ermitteln ;  er  will  ein 
anschauliches  Verhältnis  geben.  Dazu  genügt 
eine  landläufige  SchifTerangabe ,  die  den  Seeweg 
auf  5000  Stadien  angibt.  IVIit  ihr  gewinnt  er 
einen  Erdumfang  von  240000  Stadien  =  45000 
Kilometer;  immerhin  kommt  diese  Begrenzung 
der  Phantasie  dem  wirklichen  Maß  von  4OOOO 
Kilometern  nahe  genug.  Für  das  Maß  des  See- 
weges nach  Indien  bei  westlicher  Fahrt  stützt 
Poseidonios  sich  auf  Erdmessungen  des  Era- 
tosthenes; seine  Rechnung  war  falsch;  aber 
Kolumbus  vertraute  ihr  und  entdeckte  Amerika. 

In  Spielerei  artet  die  Methode  des  Posei- 
donios aus,  wo  er  eine  Vorstellung  von  den  Laut- 
und  Tonverhältnissen  der  Völkersprachen  für  die 
verschiedenen  Breiten  zu  geben  versucht;  er  spannt 
in  das  Himmelsgewölbe  eine  dreieckige  Harfe  ein, 
deren  längste  tiefstklingende  Saite  als  Himmels- 
achse zum  Nordpol  reicht,  und  läßt  dieser  Saite 
in  gleichen  Abständen  sechs  weitere  Saiten  folgen, 
deren  kürzeste  —  höchstklingende  —  dem  Äquator 
zunächst  liegt.  Aber  solche  Hilfsmittel  waren 
damals  neu;  Cicero  halte  Grund,  das  drehbare 
Uranologium  des  Poseidonios  auf  Rhodos  zu 
bewundern. 

Was  uns  also  Poseidonios  gibt,  sind  keine 
neuen  naturwissenschaftlichen  Feststellungen,  aber 
großartige  Naturbetrachtungen,  zu  denen  als  ein 
Hauptmittel  die  Proportion  dient;  ein  Mittel,  das 
auch  Humboldt  nicht  verschmäht  und  das  nach 
ihm  Du  Bois-Reymond  aufs  äußerste  ge- 
trieben hat. 

Der  Übergang  von  der  Naturwissenschaft  zur 
Ethik  und  zur  Theologie  ist  für  Poseidonios 
in  der  griechischen  Weltanschauung  ohne  weiteres 
gegeben.  Den  Griechen  sind  wie  allen  Indo- 
germanen  von  jeher  die  Himmelslichter  die  leben- 


digen und  lebenbeherrschenden  Götter.  Zeus, 
der  strahlende  Himmel,  und  sein  Sohn  Apollon 
Helios  sind  ihnen  die  Spender  der  wohltätigen 
wie  der  schädlichen  Licht-  und  Wärmewirkungen, 
welche  der  Mensch  an  sich  selber  und  an  seiner 
Erde  gewahr  wird.  Je  weiter  nun  die  Astronomie 
und  die  Kosmologie  fortschreiten,  desto  mannig- 
faltiger und  gewaltiger  zeigen  sich  die  Beziehungen 
des  großen  Weltalls  zur  Erde  und  zum  Menschen, 
desto  mehr  erscheinen  die  Himmelskörper  und 
die  Erde  und  der  Mensch  als  Geschöpfe  einer 
gesetzmäßig  und  zweckmäßig  gestaltenden  Kraft, 
die  als  feuriger  Hauch  die  Sonne  erhält,  die  Erde 
durchdringt,  die  Winde  und  Wasser,  die  Boden- 
säfte und  Eingeweide  der  Erde  bewegt,  die  Men- 
schen und  Tiere  und  Pflanzen  wachsen  macht. 
Das  Ziel  dieser  bildenden,  ordnenden  und  erhalten- 
den Lebenskraft  ist,  immerfort  gesteigertes  Leben 
hervorzubringen;  sie  hat  die  besten  Lebewesen 
an  den  Umkreis  der  Welt  als  Götter,  in  die  Mitte 
der  Welt  als  Menschen  gesetzt.  Die  Göttlichkeit 
der  erfinderischen  nachschaft'enden  Menschenseele, 
die  Herrlichkeit  des  Weltalls  geben  uns  die  Ahnung 
eines  Weltgeistes.  Die  forschende  Astronomie 
hat  an  Stelle  der  lebendigen  Götter  den  blinden 
atombewegenden  Zwang,  XQda,  ämyxr^,  gesetzt; 
eine  tiefere  Naturbetrachtung  kann  die  zielsichere 
Vernunft,  den  oQÜ^bg  löyog,  im  Weltall  nicht  ver- 
kennen ;  an  Stelle  des  mechanischen  Naturbegrififes 
muß  der  organische  gesetzt  werden.  Die  ver- 
blassenden Himmelsgötter  weichen  einem  ge- 
steigerten Gottesbegriff,  einem  weltdurchdringen- 
den, weltdurchatmenden  Urweseu,  das  geistig  be- 
trachtet Zeus  oder  Pronoia,  sinnlich  betrachtet 
Physis,  sittlich  betrachtet  Heimarmene  heißt.  Die 
allwaltende  Vorsehung,  die  unerschöpflich  ge- 
bärende Natur,  die  unabwendbare  Vorherbestim- 
mung, das  sind  die  verehrunggebietenden  Mächte, 
welche  über  den  Geschicken  des  Menschen  stehen 
und  wie  die  Menschen  so  auch  Götter  und  Tiere 
und  Pflanzen  und  Wasser  und  Gestein  als  Teile 
des  großen  Alls  ewig  bewegen. 

G.  Sticker,  Würzburg. 


Literatur. 

Blumenthal,  Otto,  Fortschritte  der  mathematischen 
Wissenschaften  in  Monographien.     Heft  2. 

Lorentz-Einstein-Minkowski,  Das  Relativitäts- 
prinzip. 4.  Aufl.  Leipzig-Berlin  '22,  Verlag  von  B.  G.  Teub- 
ner.     Geh.  40  M.,  geb.  48  M. 

Winderlich,  R. ,  Lehrbuch  der  Chemie  für  höhere 
Lehranstalten.  Teil  1 :  Unterstufe.  Braunschweig  '22,  Verlag 
V.   Fr.  Vieweg  ä:  Sohn.     Geb.  16  M.   u.   20**/o  Vcrlagszuschlag. 

Valier,  Astronom  Max.,  Der  Sterngucker.  3.  Aufl.  des 
Sternbüchlcin.  München  '22 ,  Verlag  Natur  und  Kultur  Dr. 
Franz  Joseph  Völler.     Brosch.  8  M. 

Valier,  Astronom  Max.,  Der  Untergang  der  Erde.  3.  Aufl. 
des  Steinbüchlein.  München  '22,  Verlag  v.  Natur  u.  Kultur. 
Brosch.  8  M. 


Inhalt:    Kronkel,    Vom   diluvialen  Menschen   und  seiner  Jag 
Poseidonios.  S.  252.  —  Literatur:  Liste.  S.  256. 


S.  241. 


BU9beTbesprecbungen :    K.  Reinhardt, 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  F'ischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  BaDd; 
ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  7.  Mai  1922. 


Nummer  19. 


Das  Meer  zur  Wellengebirgszeit  zwischen  Schwarzwald 
und  Thüringerwald. 

Von  Dr.  Paul  Vollrath-Stuttgart. 


[Nachdruck  verboten.] 

Mit  der  Aufrichtung  der  karbonischen  Alpen 
um  die  Wende  von  Unter-  und  Oberkarbon  brach 
für  Süd-  und  Mitteldeutschland  eine  langwährende 
Festlandsperiode  an,  die  erst  mit  der  Transgression 
des  Rhät-  und  des  Jurameeres  ihr  Ende  fand. 
Zweimal  wurde  diese  Zeit  vorherrschend  konti- 
nentaler Sedimentbildung  durch  die  Ingressionen 
des  Zechstein-  und  des  Muschelkalkmeeres  unter- 
brochen. Während  die  äußersten  Grenzen  dieser 
Ingressionsmeere,  soweit  sie  überhaupt  noch  fest- 
zustellen sind,  schon  länger  bekannt  sind,  fehlte 
es  bis  vor  kurzer  Zeit  an  einer  genaueren  Fest- 
legung der  einzelnen  Phasen  dieser  Überflutungen. 
Denn  unsere  üblichen  paläogeographischen  Karten 
stellen  gleichsam  bloß  Projektionen  aller  ver- 
schiedenen Zustände  eines  längeren  Zeitraumes 
auf  ein  einziges  Kartenblatt  dar,  ohne  daß  aber 
eine  derartige  Verteilung  von  Wasser  und  Land 
auch  nur  einmal  in  Wirklichkeit  vorhanden  ge- 
wesen wäre.  Denn  die  Küstenlinien  der  vorzeit- 
lichen Meere  haben  selbst  innerhalb  kleinerer  Zeit- 
räume in  den  weitesten  Grenzen  geschwankt. 
Transgressionen  und  Regressionen  in  kleinem 
Maßstabe  wechselten  in  bunter  Folge  miteinander 
ab.  Für  den  größten  Teil  unserer  marinen  Sedi- 
mente ist  die  Festlegung  dieser  einzelnen  Phasen 
eine  noch  zu  leistende  Arbeit.  Mit  der  Kenntnis 
der  Küstenlinien  ist  aber  die  Aufgabe  der  paläo- 
geographischen Forschung  noch  nicht  erschöpft. 
In  vielen  Fällen  lassen  sich  die  Grenzen  von  Land 
und  Meer  nur  auf  kurzen  Strecken  feststellen,  da 
die  Schichten  entweder  der  Abtragung  zum  Opfer 
gefallen  sind  oder  aber  unter  Tag  liegen.  Dann 
lassen  sich  jedoch  aus  der  Beschaffenheit  (F'azies) 
und  Mächtigkeit  der  Sedimente  Schlüsse  ziehen 
auf  die  morphologische  Beschaffenheit  des  Meeres- 
bodens, die  Lage  der  Küste,  auf  die  Meerestiefe, 
die  Stärke  und  Richtung  der  Meeresströmungen. 
Angaben  über  die  Verteilung  der  Faunen  ver- 
vollständigen das  Bild  der  Meere  der  Vorzeit. 

Für  den  oberen  Hauptmuschelkalk  besitzen 
wir  mehrere  Arbeiten  dieser  Art  von  G.Wagner. 
Für  den  unteren  Muschelkalk,  das  Wellengebirge 
zwischen  Schwarzwald  und  Thüringerwald  führte 
ich  ähnliche  Untersuchungen  in  den  Jahren  1920 
und  192 1  aus.  Da  eine  Veröffentlichung  der 
ganzen  Arbeit  vorerst  nicht  möglich  sein  wird, 
möchte  ich  über  die  wichtigsten  Ergebnisse  hier 
kurz  berichten.^) 

Die  erste  Bedingung,  die  paläogeographische 
Forschungen    erfordern,    ist    eine    völlig    geklärte 


Mit    1    Karte. 


Stratigraphie  (Schichtenfolge).  Die  Gliede- 
rung des  Wellengebirges  in  den  einzelnen  Ge- 
bieten ist  aus  der  S.  258  angegebenen  Tabelle 
ersichtlich.  Im  Schwarzwaldgebiet  wie  im  süd- 
lichen Vorland  des  Thüringer  Waldes  haben  wir 
vier  Abteilungen.  Die  unterste  wird  oben  durch 
Schichten  abgegrenzt,  die  in  beiden  Gebieten 
Terebratula  Ecki  führen  (Hauptlager  der  Terebr. 
Ecki,  Oolithbänke  «  und  ß).  Die  beiden  mittleren 
Teile  werden  durch  Schichten  mit  Terebratula 
vulgaris  getrennt  (Horizont  der  Terebr.  vulg.  im 
Schwarzwald,  Terebratelkalke  in  Thüringen).  Die 
obere  Abteilung  ist  durch  die  Führung  von  Myo- 
phoria  orbicularis  gekennzeichnet  (Orbicularis- 
schichten  des  Schwarzwaldes,  Orbicularisschichten 
-|-  Schaumkalke  in  Thüringen).  Im  Mosbacher 
Gebiet  werden  die  beiden  mittleren  Abteilungen 
zusammengenommen,  da  hier  Schichten  mit  Tere- 
bratula vulgaris  fehlen.  Das  nächstliegende  war 
nun  die  zeitliche  Gleichsetzung  dieser  verschiedenen 
Horizonte  untereinander.  Ebenso  sollte  die  Grenze 
gegen  den  Roth  im  ganzen  Gebiet  gleichaltrig 
sein.  Bei  einer  durchgehenden  Verfolgung  der 
Leithorizonte  vom  Schwarzwald  zum  Thüringer- 
wald zeigte  sich  aber,  daß  diese  Anschauung 
nicht  haltbar  ist.  Ohne  auf  Einzelheiten  einzu- 
gehen, seien  die  Ergebnisse  der  stratigraphischen 
Untersuchung    in    einer   Tabelle   zusammengefaßt. 

(Siehe  Seite  258.) 

Die  verschiedenartige  Ausbildung  in  diesen 
3  Gebieten  läßt  leicht  3  P'aziesgebiete  unter- 
scheiden, die  ich  als  Meininger,  Mosbacher  und 
Freudenstädter  Fazies  bezeichnet  habe.  Die 
Meininger  Fazies  ist  vor  den  beiden  anderen  durch 
einen  unter  der  Oolithbank  a  liegenden  Schicht- 
komplex bis  zu  37  m  Mächtigkeit  gekennzeichnet, 
der  im  Mosbacher  Gebiet  nur  teilweise  vorhanden 
ist  (Mosbacher  Grenzschichten),  im  Schwarzwald 
aber  vollständig  fehlt  bzw.  in  anderer  Fazies  aus- 
gebildet ist.  Für  die  Meininger  Fazies  ist  ferner 
der  Terebratelkalk  bezeichnend,  der  in  den  anderen 
Gebieten  fehlt  (der  Schwarzwälder  Terebratel- 
horizont  ist  jünger).  Das  Hauptlager  der  Tere- 
bratula Ecki  und  der  Beneckeia  Buchi  tritt  so- 
wohl im  Mosbacher  als  im  Freudenstädter  Gebiet 
auf.  Die  Schaumkalkbänke  sind  der  Mosbacher 
und    Meininger   Fazies    gemeinsam,    im   Schwarz- 

')  Die  Angabe  der  benützten  Literatur  unterlasse  ich  hier. 
F.s  sei  deshalb  auf  die  Ende  1923  im  Neuen  Jahrbuch  für 
Mineralogie  erscheinende  Tollständige  Arbeit  verwiesen. 


258 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Freudenstadt 

Mosbach 

Meiningen 

Orbicularis- 
schichten 

Orbicularis- 
schichten 

Orbicularis- 
schichten 

Schaumkalke 

Schaumkalke 

Spiriferinabank 

Spiriferinabank 

Pentacrinusbank 

Horizont  der 
Terebr.  vulg. 

Terebratelkalke 

Hauptlager    der    Terebr.  Ecki 
und  der  Beneckeia  Buchi 

Liegende  Dolo- 
mite («  u.  ,-;) 

Konglomeratbank 
«  u.  ß 

Oojithbank  «u.  p' 

Röthmergel 

Mosbacher  Grenz- 
schichten 

Unterster 
Wellenkalk    . 

Röthmergel 

Gelber  Grenzkalk 

Röthmergel 

Myophorienbank 

Myophorien- 
schichten 

wald  fehlen  sie  vollständig.  Außerdem  aber  ist 
die  Beteiligung  dolomitischer  Schichten  an  der 
Zusammensetzung  des  Wellengebirges  von  Be- 
deutung. Im  IVIeininger  Gebiet  haben  wir  durch- 
weg kalkige  Ausbildung.  An  der  unteren  Tauber 
beginnt  die  dolomitische  Ausbildung  nahe  der 
unteren  Grenze  und  steigt  nach  Süden  zu  in 
immer  höhere  Horizonte.  Bei  Freudenstadt  sind 
sämtliche  Schichten  unter  den  Orbicularisschichten 
in  dolomitisch-mergeliger  Fazies  ausgebildet.  Die 
Grenzen  der  einzelnen  Ausbildungsweisen  sind  aus 
der  beigefügten  Karte  zu  ersehen. 

Zum  erstenmal  treffen  wir  typische  IVIuschel- 
kalkschichten  in  unserem  Gebiet  in  den  sog. 
Myophorienschichten  der  Meininger  Gegend. 
In  der  Richtung  auf  Jena  nehmen  sie  beständig 
an  Mächtigkeit  zu.  Nach  Süden  werden  sie  immer 
weniger  mächtig,  gehen  in  dolomitische  Schichten 
über  und  erscheinen  bei  Würzburg  und  Mosbach 
als  dolomitisches  Sandbänkchen  mit  marinen 
Fossilien  (Myophorienbank).  Im  Schwarzwald  ist 
von  ihnen  nichts  mehr  nachzuweisen.  Darüber 
folgen  wieder  rote  Mergel,  die  im  nördlichen 
Vorland    des   Thüringer   Waldes    auskeilen,    nach 


Süden  aber  beständig  an  Mächtigkeit  zunehmen 
(bei  Mosbach  10  m).  Deshalb  werden  die  in 
Rede  stehenden  Schichten  nördlich  des  Thüringer 
Waldes  schon  zum  Muschelkalk,  südlich  desselben 
aber  noch  zum  Roth  gezogen.  Über  den  roten 
Mergeln  beginnen  die  kalkigen  bzw.  dolomitischen 
Schichten  des  Wellengebirges. 

Aus  der  Tabelle  ist  ersichtlich,  daß  die  untere 
Grenze  keineswegs  wie  seither  angenommen  als 
gleichaltrig  anzusehen  ist.  Sie  steigt  von  Norden 
nach  Süden  in  immer  höhere  stratigraphische 
Horizonte.  Für  eine  Erklärung  bieten  sich  zwei 
Möglichkeiten:  i.  Wir  fassen  den  Roth  im  ganzen 
Gebiet  als  gleichaltrige  Bildung  auf  Da  nun  der 
Muschelkalk  im  Süden  erst  später  auftritt  als  im 
Norden,  müßten  wir  für  Süddeutschland,  insbe- 
sondere fürs  Schwarzwaldgebiet  eine  beträchtliche 
Sedimentationsunterbrechung  zwischen  Roth  und 
Muschelkalk  annehmen.  Da  aber  von  einer  der- 
artigen Lücke  im  Schwarzwald  nichts  nachzu- 
weisen ist,  so  ist  dieser  Fall  auszuschließen.  2.  Roth 
und  Muschelkalk  folgen  unmittelbar  aufeinander. 
Daraus  ergibt  sich  die  bedeutsame  P'olgerung, 
daß  der  Roth  des  Schwarzwaldes  und  der  unterste 
Wellenkalk  in  Thüringen  als  gleichaltrige  Bil- 
dungen anzusehen  sind.  Roth  und  Muschelkalk 
stehen  sich  demnach  nicht  als  dem  Alter  nach 
verschiedene  Bildungen,  sondern  nur  als  zwei  ver- 
schiedene Fazies  gegenüber.  Die  Muschelkalk- 
fazies transgrediert  über  die  Röthfazies.  Die 
weitere  Frage  ist  nun  die:  Haben  wir  beide  nur 
als  zwei  verschiedene  marine  Ausbildungsweisen 
zu  betrachten,  oder  haben  wir  hier  den  Gegen- 
satz zwischen  kontinentaler  und  mariner  Fazies  ? ') 
Die  landläufige  Meinung  ist  nun  bis  jetzt  die  einer 
marinen  Entstehung  des  Roth.  Grund  dazu  war 
das  Auftreten  der  schon  erwähnten  Myophorien- 
bank der  Meininger  und  Mosbacher  Gegend.  Die 
marinen  Fossilien  weisen  unzweifelhaft  auf  marine 
Entstehung  hin.  Anders  verhält  es  sich  dagegen 
mit  den  roten  Mergeln.  Noch  nie  wurde  bis 
jetzt  in  ihnen  ein  marines  Fossil  gefunden.  Alles 
spricht  gegen  eine  meerische  Bildung:  die  rote 
Färbung,  die  gleichmäßige  Ausbildung  über  große 
Gebiete,  das  Fehlen  einer  deutlichen  Schichtung. 
So  kommt  denn  auch  M.  Schmidt  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  für  die  Röthbildung  des  Schwarz- 
waldes eine  regional  wirkende  Ursache  angenom- 
men werden  muß.  Er  denkt  an  äolische  Bildung 
analog  der  Lößbildung.  F"ür  andere  Gebiete 
müssen  wir  aber  ebenso  sicher  eine  Entstehung 
unter  Wasserbedeckung  annehmen.  Wir  sind 
noch  weit  entfernt,  im  einzelnen  die  verschiedenen 
Möglichkeiten  der  Röthbildung  angeben  zu  können. 
Wie  dem  auch  sei,  sicher  scheint  mir,  daß  nur 
kontinentale  Entstehung  in  Betracht  kommt.  Roth 
und  Muschelkalk  stehen  sich  demnach  als  konti- 
nentale und  marine  Fazies  gegenüber.  Noch 
deutlicher   wird   das  Verhältnis  beider,   wenn  wir 


')  Kontinental  im  Sinne  von  Penck  (lakuslrisch -|- lagu- 
när  -f-  fluviatil  -\-  subaerisch). 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


2S9 


die  Kreise  etwas  weiter  ziehen.  In  Nordfrank- 
reich und  England  fehlt  der  Muschelkalk  voll- 
ständig ;  er  ist  dort  durch  rote  bzw.  bunte  Mergel 
ersetzt. 

Nach  diesen  Erörterungen  erscheint  uns  die 
Myophorienbank  in  anderem  Lichte.  Sie  stellt 
eine  vorübergehende,  nur  kurz  währende  Über- 
flutung dar,  die  bald  wieder  in  einen  Rückzug 
des  Meeres  übergeht.  Die  Kontinentalbildungen 
dringen  bis  über  den  Thüringer  Wald  hinaus  vor, 
bis   dann   der    endgültige   Vorstoß    des   Muschel- 


kalkmeeres erfolgt.  Langsam  dringt  das  Meer 
von  Nordthüringen  wieder  nach  Süden  vor.  Auch 
hier  sind  einzelne  kleinere  Schwankungen  festzu- 
stellen, die  sich  durch  das  häufige  Erscheinen  von 
Konglomeratbänken  im  untersten  Wellenkalk  an- 
zeigen. Dann  erfolgt  die  Überflutung  des  Mos- 
bacher Gebietes.  Es  kommt  zur  Bildung  der 
Mosbacher  Grenzschichten.  Zur  Zeit  der  Oolith- 
bank  «  in  Thüringen  wird  das  Schwarzwaldgebiet 
unter  Wasser  gesetzt,  und  zwar  läßt  sich  die  ent- 
sprechende  untere  Bank  (a)  der  liegenden  Dolo- 


^    Meinin^er  TäzieS. 

nosiacßierräzies 

r?eu(/en3/a  d/er  raz/ss 
^ßS    Überwiegend /fns/aJiiner/ia/k 

(/er  0oi3  und  JerlJ.  / 
\  ■  ^  ,  "^   5ancl^limmerJ(a/k   der 

Oo/dhiank/3. 


Mächtigkeitskurven  des  Wellengebirges- 

Auskeilen  des  untersten  Wellengebirges  (Schichten  unter  der  Oolithbank  «,  Mosbacher  Grenzschichten). 
Auskeilen  der  unteren  Terebratelbank  (mit  Terebratula  vulgaris). 
Auskeilen  der  unteren  Schaumkalkbank. 
Auskeilen  der  mittleren  Schaumkalkbank. 

Oolithbank  ji.  U.  T.     Untere  Terebratelbank. 

Maßstab    1  :  2  000  000. 


i6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


K  F.  XXI.  Nr.  19 


mite  noch  weit  südlich  von  Freudenstadt  nach- 
weisen, so  daß  wir  eine  sehr  rasche  Transgression 
annehmen  müssen,  was  nur  denkbar  ist,  wenn  sie 
sich  über  ein  weitgehend  eingeebnetes  Gelände 
bewegte,  so  daß  eine  leichte  Senkung  genügte, 
um  das  ganze  Gebiet  unter  Wasser  zu  setzen. 
Wie  weit  diese  Transgression  nach  Süden  ging, 
bedarf  noch  der  näheren  Untersuchung. 

Nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  wollen 
wir  uns  nun  mit  der  eigentlichen  Paläogeo- 
graphie  des  Wellengebirgsmeeres  beschäftigen. 
Ich  habe  mich  dazu  eines  Mittels  bedient,  das 
meiner  Ansicht  nach  zur  Klärung  paläogeo- 
graphischer  Fragen  noch  lange  nicht  genug  ge- 
würdigt wird,  der  Mächtigkeitskurven.  Bei  ge- 
nügender Vorsicht  ergeben  sie  in  Verbindung  mit 
Längsprofilen  die  genauesten  Daten  über  die  Geo- 
graphie der  Meere  der  Vorzeit.  Allerdings  darf 
hier  nicht  ohne  weiteres  die  Mächtigkeit  pro- 
portional der  Meerestiefe  gesetzt  werden;  denn 
es  ist  ja  eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Stärke 
der  Sedimentation  nach  der  Tiefsee  allmählich 
abnimmt.  In  unserem  Falle  erhalten  wir  aber 
dadurch,  daß  die  Muschelkalkfazies  in  den  becken- 
tieferen Teilen  früher  einsetzt,  im  allgemeinen  im 
Beckeninnern  auch'  die  größte  Mächtigkeit  der 
Schichten  des  Wellengebirges. 

Die  beigegebene  Karte  zeigt  uns  mit  aller 
Deutlichkeit  zwei  Becken,  die  durch  Barren  mehr 
oder  weniger  voneinander  getrennt  sind.  Im 
Norden  haben  wir  das  Meininger  Becken,  das 
vom  größeren  norddeutschen  Gebiet  durch  zwei 
Barren  teilweise  abgeschlossen  ist.  Die  eine  geht 
vom  bayrisch-böhmischen  Massiv  aus  annähernd 
in  der  Richtung  des  heutigen  Thüringer  Waldes 
(Eisfelder  Barre),  die  andere  verläuft  vom 
Rheinischen  Schiefergebirge,  vom  Ardennenfest- 
land  aus  in  östlicher  Richtung  (Geisaer  Barre). 
Im  Süden  liegt  das  Mosbacher  Becken,  das  durch 
die  Tauberbarre  nach  Norden  fast  vollständig  ab- 
geschlossen ist.  Diese  nimmt  ihren  Ausgang  vom 
heutigen  Ries,  geht  zunächst  in  der  Richtung  auf 
Würzburg  zu,  biegt  aber  dann  nach  Westen  ab 
und  überschreitet  die  untere  Tauber.  Das  heutige 
Schwaben  besaß  dem  Mosbacher  Becken  gegen- 
über eine  erhöhte  Lage,  was  wir  schon  bei  den 
allgemeinen  Betrachtungen  feststellen  konnten. 
Jedes  dieser  drei  Gebiete  ist  durch  eine  eigene 
Fazies  ausgezeichnet,  deren  Merkmale  wir  schon 
am  Anfang  feststellten.  Für  das  Mosbacher  Becken 
haben  wir  außerdem  noch  Beweise  in  den  sub- 
marinen Rutschungen.  Denn  die  gefalteten 
Schichten,  die  häufig  auftreten  („Wellenkalk"),  die 
damit  verbundene  auskeilende  Lagerung  lassen 
sich  am  ungezwungensten  in  dieser  Weise  er- 
klären. In  vielen  Fällen  Heß  sich  die  Richtung 
derselben  festlegen ;  sie  weisen  nach  dem  Becken- 
innern. Dieselben  Züge  lassen  sich  durch  das 
ganze  Wellengebirge  nachweisen.  Die  Tauber- 
barre wurde  schon  früher  durch  G.  Wagner 
für  den  Hauptmuschelkalk  nachgewiesen  (Barre 
V.    Gammesfeld).      Die    absolute    Höhenlage    der 


einzelnen  Gebiete  unterliegt  zwar  beträchtlichen 
Schwankungen,  wie  sich  aus  den  folgenden  Aus- 
führungen ergeben  wird.  Aber  die  morpholo- 
gischen Einzelzüge  des  Untergrundes  bleiben  sich 
gleich. 

Was  zunächst  die  Schichten  unter  der 
Oolithbank  a  anbetrifift  (unterster  Wellenkalk 
in  Thüringen,  Mosbacher  Grenzschichten),  so  ließ 
sich  ihr  Auskeilen  nur  auf  kurzen  Strecken  wirk- 
lich beobachten;  dagegen  konnte  ich  mit  Hilfe 
der  Mächtigkeitskurven  dieser  Schichten  und  ihrer 
petrographischen    Beschaffenheit     die    Linie     des 

Auskeilens  ziemlich  genau  festlegen  ( der 

Karte).  Wir  haben  hier  die  Küstenlinie  der  Zeit 
vor  der  Transgression  der  Oolithbank  a  vor 
uns.  Die  südlichsten  Ausläufer  dieser  Schichten 
fanden  sich  bei  Durlach  (bei  Karlsruhe)  als  dolo- 
mitische Mergel  und  kristalline  Dolomite  mit 
Röthgeröllen ,  abgelagert  in  Erosionsfurchen  im 
Roth.  Das  ganze  schwäbische  Gebiet  bestand 
demnach  zu  dieser  Zeit  als  Festland;  die  Tauber- 
barre ragte  mindestens  noch  bis  an  die  untere 
Tauber  (Hochhausen)  als  Halbinsel  ins  Meer. 
Vergleichsweise  sei  hier  angeführt,  daß  fast  die- 
selbe Küstenlinie  wieder  zur  obersten  Muschel- 
kalkzeit auftritt  (fränkische  Grenzschichten  von 
G.  Wagner). 

Die  nun  folgende  Zeit  der  Oolithbänke  u 
und  (i  führte  zur  teilweisen  Überflutung  der 
Tauberbarre  und  des  schwäbischen  Gebietes.  Das 
Vorhandensein  der  Geisaer  und  der  Eisfelder 
Barre  ist  durch  das  abweichende  petrographische 
Verhalten  dieser  Bänke  angedeutet.  Sie  erscheinen, 
ebenso  wie  der  höher  folgende  Terebratelkalk, 
hier  als  kristalline  Kalke,  während  sie  im  engeren 
Meininger  Gebiet  in  oolithischer  Ausbildung  vor- 
handen sind.  Nach  Süden  zu  gehen  sie  bei  Würz- 
burg (Oolithbank  «)  oder  südwestlich  Würzburg 
(Oolithbank  ß)  in  Konglomeratbänke  über.  Als 
solche  setzen  sie  sich  in  das  Mosbacher  Gebiet 
fort.  Zwischen  Tauber  und  unterem  Neckar 
(Buchen)  erfolgt  der  Übergang  in  Dolomitfazies. 
Im  Schwarzwald  erscheinen  sie  in  den  beiden 
Bänken  der  liegenden  Dolomite  wieder,  die  auch 
hier  oft  deutlich  konglomeratische  Ausbildung 
zeigen.  Eine  Besonderheit  der  Würzburger  Gegend 
stellt  der  Sandglimmerkalk  dar,  der  hier  die  Oolith- 
bank [i  ersetzt.  Als  deltaähnliche  Bildung  ist  er 
in  unmittelbarem  Anschluß  an  die  Tauberbarre 
entstanden  zu  denken  (vgl.  die  Karte).  Derartige 
Sandeinschwemmungen  von  der  Tauberbarre  her 
wiederholen  sich  im  Wellengebirge  noch  mehr- 
mals; auch  im  mittleren  Muschelkalk  zeigen  sie 
sich  mit  aller  Deutlichkeit  wieder. 

Aus  dieser  Verteilung  der  petrographischen 
Ausbildung,  ebenso  aus  der  Mächtigkeit  der 
darunterliegenden  Schichten  bis  zur  Röthgrenze 
müssen  wir  das  Beckentiefste  in  der  Meininger 
Gegend  annehmen.  Die  Mosbacher  Konglomerat- 
bänke «  und  ß  erweisen  sich  durch  die  konglo- 
meratische wie  die  dolomitische  Ausbildung  als 
Sedimente   des   flachsten  Wassers.     Dasselbe  be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


261 


weisen  die  Fossilien  dieser  Bänke.  Von  der 
reichhaltigen  Fauna  der  Meininger  Gegend,  unter 
der  besonders  Terebratula  Ecki  und  Beneckeia 
Buchi  bemerkenswert  ist,  finden  sich  in  der  dolo- 
mitischen und  konglomeratischen  Ausbildung  fast 
nur  Encrinitenstielglieder.  Nur  als  große  Selten- 
heiten treten  Terebratula  Ecki  und  Beneckeia 
Buchi  auch  hier  auf.  Dafür  stellen  sich  reichlich 
Wirbeltierüberreste  ein.  Die  beiden  Charakter- 
formen des  Thüringer  Oolithhorizontes  erscheinen 
also  gleichzeitig  im  südlichen  Gebiet,  finden  aber 
offenbar  keine  günstigen  Lebensbedingungen.  Im 
Schwarzwald  treten  sie  in  den  folgenden  dolo- 
mitischen Mergeln  nur  in  spärlichen  Exemplaren  auf 

Mit  dem  Hauptlager  der  Terebratula 
Ecki  und  der  Beneckeia  Buchi  bricht  der  Höhe- 
punkt ihrer  Entwicklung  an.  In  ungezählten 
Exemplaren  finden  sie  sich  hier.  Vom  Schwarz- 
wald aus  erfolgt  eine  Besiedlung  des  Mosbacher 
Beckens,  während  um  diese  Zeit  in  Thüringer 
keine  Spur  mehr  von  ihnen  zu  finden  ist.  Ir. 
den  folgenden  Schichten  des  Schwarzwälder  Wellen- 
gebirges hält  Beneckeia  Buchi  in  einzelnen  Exem- 
plaren bis  zum  Horizont  der  Terebratula  vulgaris 
an,  Terebratula  Ecki  verschwindet  schon  wenige 
Meter  über  ihrem  Hauptlager.  Dafür  tritt  jetzt 
eine  andere  Form,  Terebratula  vulgaris,  auf  Wir 
können  noch  heute  den  Weg,  den  sie  einge- 
schlagen hat,  genau  verfolgen.  In  Thüringen 
taucht  sie  zum  erstenmal  häufig  in  den  beiden 
Terebratelbänken  auf  Von  hier  aus  wandert 
sie  über  das  Odenwaldgebiet  (Michelstadt)  nach 
der  Pfalz  und  nach  Lothringen,  um  dann  von 
hier  aus  zum  Schwarzwalde  und  weiter  östlich 
vorzudringen  (Geislingen  b.  Hall).  Im  Mosbacher 
Gebiet  ist  bis  jetzt  keine  Terebratula  vulgaris 
nachgewiesen  (vgl.  das  Auskeilen  der  Terebratel- 
kalke  auf  der  Karte).  Der  Grund  liegt  meines 
Erachtens  darin,  daß,  wie  es  auch  G.  Wagner 
für  den  Hauptmuschelkalk  nachweist,  diese  Form 
gegen  das  Beckentiefere  verschwindet.  Wir  hätten 
demnach  nunmehr  das  Gebiet  des  tiefsten  Meeres 
im  Mosbacher  Becken  zu  suchen,  eine  Ansicht, 
die  durch  die  nachher  zu  besprechende  Ausbildung 
der  Orbicularisschichten  bestätigt  wird.  Viel  um- 
stritten ist  die  Altersstellung  des  Schwarzwälder 
Terebratelhorizontes  im  Verhältnis  zum  Thüringer 
Terebratelkalk.  Durch  das  Mosbacher  Gebiet  ist 
ein  Vergleich  nicht  möglich.  Dagegen  stellt  sich 
bei  einer  Verfolgung  der  Profile  über  den  Oden- 
wald (Michelstadt),  die  Pfalz  und  Lothringen  klar 
heraus,  daß  der  Schwarzwälder  Terebratelhorizont 
zeitlich  etwas  später  einzureihen  ist  als  der 
Thüringer  Terebratelkalk.  Auf  Einzelheiten  ein- 
zugehen verbietet  mir  der  zur  Verfügung  stehende 
Raum. 

Als  einer  der  wichtigsten  Leithorizonte  folgt 
die  Spirif erinabank.  Nachdem  ich  sie  nun 
auch  am  Nordostrande  des  Schwarzwaldes,  wo 
sie  E.  Fraas  nicht  fand  und  ebenso  in  württem- 
bergisch Franken  nachgewiesen  habe,  ist  sie  im 
ganzen   Gebiet   als   durchgehend  anzusehen.     Be- 


merkenswert ist  vor  allem  die  Fossilverteilung. 
Im  südlichen  Gebiet  bis  nördlich  Würzburg  führt 
sie  überall  Spiriferina  fragilis  und  Spiriferina  hir- 
suta.  Bei  Meiningen  verschwinden  beide  Formen. 
Es  finden  sich  hier  Stielglieder  von  Pentacriniten 
(Pentacrinusbank).  Nachdem  sich  die  Crinoiden 
im  untersten  Wellenkalk  überall  als  Bewohner 
der  flachsten  Meeresteile  erwiesen  haben,  müssen 
wir  auch  in  diesem  Falle  für  das  Meininger  Ge- 
biet Flachmeer  annehmen.  Das  Beckentiefste 
befand  sich  im  südlichen  Teile,  im  Mosbacher 
Becken.  Dieselben  Verhältnisse  sind  uns  schon 
bei  der  Betrachtung  über  das  Vorkommen  von 
Terebratula  vulgaris  entgegengetreten. 

Mit  den  Schaumkalken  beginnen  im  Mos- 
bacher und  Meininger  Gebiet  die  Schichten  der 
Myophoria  orbicularis.  Mit  Rücksicht  auf  die 
Schwarzwälder  Verhältnisse,  wo  diese  Form  aber 
erst  über  den  dem  Schaumkalkhorizont  äquivalenten 
Schichten  einsetzt,  möchte  ich  die  Bezeichnung 
„Orbicularisschichten"  nur  für  den  über  der  oberen 
Schaumkalkbank  folgenden  Schichtkomplex  an- 
wenden. Im  Gebiet  der  Meininger  Fazies  sind 
es  drei  Bänke,  die  ursprünglich  überwiegend 
oolithisch,  durch  sekundäre  Vorgänge  die  be- 
zeichnende schaumig-poröse  Struktur  angenommen 
haben.  Daneben  beteiligen  sich  reichlicher 
Muscheldetritus  und  Crinoidenstielglieder  an  der 
Zusammensetzung  der  Bänke.  Stellenweise  tritt 
an  Stelle  der  oolithischen  Ausbildung  der  oberen 
Bank  ein  eigenartiger  Sinterkalk  (Seesinter  oder 
Stromatolith  von  O.  M.  Reis),  besonders  in  der 
Umgebung  der  Tauberbarre.  Die  Mächtigkeit 
der  Schaumkalke  nimmt,  wenn  man  von  den 
allerdings  sehr  starken  lokalen  Schwankungen 
absieht,  von  Meiningen  aus  gegen  Würzburg  ab. 
In  der  Umgebung  der  Tauberbarre  erfolgt  dann 
wieder  ein  rasches  Anschwellen.  Besonders  gilt  dies 
für  die  obere  Bank,  die  in  der  Regel  sonst  nur 
wenige  Dezimeter  stark  ist,  im  Südwesten  dieser 
Barre  aber  plötzlich  bis  über  4  m  Mächtigkeit 
anschwillt  (im  Strömungsschatten  der  Barre). 
In  der  Richtung  auf  Mosbach  zu  nimmt  die 
Mächtigkeit  rasch  ab,  die  Oolithstruktur  tritt  zu- 
rück,   der    Muscheldetritus     wird    vorherrschend. 

Zunächst  keilt  die  mittlere  Bank  aus  ( der 

Karte),  die  obere  und  untere  Bank  lassen  sich  bis 
zum  Nordrand  des  Schwarzwaldes   verfolgen    und 

keilen  dann  auch  aus    ( der  Karte). 

Vor  dem  Auskeilen  gehen  sie  in  kristallinen  Kalk 
über.  Zugleich  machen  sich  Anzeichen  einer 
starken  Aufarbeitung  des  Untergrundes  in  Form 
plattiger,  großer  Wellenkalkbruchstücke  bemerk- 
bar. Die  ganze  Art  der  Ablagerung  macht  die 
Annahme  einer  Anschwemmung  der  Detritus- 
massen aus  nördlicher  bis  nordöstlicher  Richtung 
wahrscheinlich.  Die  oolithische  Ausbildung  im 
größten  Teil  des  Thüringer  Gebietes  verlangt  die 
Annahme  eines  seichten  Meeres.  Die  häufig  vor- 
kommende Diagonalschichtung,  die  breiten  Wellen- 
furchen auf  der  Oberfläche  der  Schaumkalkbänke, 
die    Dickschaligkeit    der    Mollusken    deuten    auf 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kräftige  IVIeeresbewegung.  Die  Richtung  der 
Strömung  wird  durch  das  starke  Anschwellen 
der  oberen  Bank  im  Südwesten  der  Tauberbarre 
(im  Strömungsschatten)  angezeigt.  Sie  ging  etwa 
von  NNO  nach  SSW.  Derartige  Anschwemmun- 
gen von  Detritusmassen  müssen  gegen  das 
Beckentiefere  zu  allmählich  nachlassen  und  ver- 
schwinden, wodurch  das  Auskeilen  der  Bänke  im 
Mosbacher  Becken  verständlich  wird.  Für  dieses 
Becken  selbst  ergeben  sich  aus  dem  Auskeilen 
der  mittleren  Schaumkalkbank,  ebenso  aber  aus 
den  Mächtigkeitskurven  Anzeichen  einer  sub- 
marinen Schwelle  (Boxberger  Schwelle),  die  ein 
Teilbecken  in  der  Gegend  der  mittleren  Tauber 
(Mergentheim,  Lauda)  vom  eigentlichen  Mosbacher 
Becken  abtrennt.  Was  wir  also  schon  aus  dem 
Vorkommen  von  Terebratula  vulgaris,  aus  der 
Fossilverteilung  der  Spiriferinabank  geschlossen 
haben,  wird  hier  bestätigt :  das  Gebiet  des  tiefsten 
Meeres,  das  sich  im  unteren  Wellengebirge  bei 
Meiningen  befand,  hat  sich  ins  Mosbacher  Gebiet 
verschoben.  Noch  deutlicher  wird  dies  bei  Be- 
trachtung der  Orbicularisschichten.  Im 
allgemeinen  sind  sie  kalkig  ausgebildet.  Dazwi- 
schen stellen  sich  untergeordnet  einzelne  dolomi- 
tische Lagen  ein.  Die  Grenze  gegen  den  mittleren 
Muschelkalk  wird  im  allgemeinen  da  gezogen,  wo 
die  ersten  dickbankigen  Dolomite  einsetzen.  Von 
vornherein  ist  zu  betonen,  daß  diese  Grenze  keine 
stratigraphische,  sondern  nur  eine  Faziesgrenze 
darstellt.  Sie  rückt  nach  Norden  zu  in  immer 
tiefere  Horizonte.  In  Norddeutschland  reicht  die 
Dolomitfazies  bis  zur  oberen,  teilweise  sogar  bis 
zur  mittleren  Schaumkalkbank  hinab,  so  daß  die 
den  Orbicularisschichten  entsprechenden  Schichten 
zum  mittleren  Muschelkalk  gezogen  werden.  Ent- 
sprechend schwellen  die  kalkigen  Schichten  nach 
Süden  zunächst  an  (Meiningen,  Würzburg).  In 
der  Umgebung  der  Tauberbarre  fehlen  sie  wieder 
vollständig  (Hochhausen,  Hardheim).  Im  Mos- 
bacher Gebiet  erreichen  sie  ihre  größte  Mächtig- 
keit (bis  zu  15  m),  im  Schwarzwald  finden  wir 
8 — 10  m  und  an  der  Schweizergrenze  wieder 
15  m. 

Durch  welche  Ursachen  wird  nun  dieser  Sedi- 
mentationsumschlag an  der  oberen  Grenze  von 
kalkigen  zu  dolomitischen  Sedimenten  bedingt? 
Für  Dolomitbildung  wird  im  allgemeinen  Flach- 
meer und  höhere  Temperatur  als  Bedingung  an- 
gegeben. Wir  können  demnach  als  Ursache  ent- 
weder tektonische  Vorgänge,  Hebung  des  Ge- 
bietes, oder  aber  klimatische  Änderungen,  Er- 
höhung der  Temperatur  annehmen;  möglicher- 
weise können  beide  Faktoren  zusammengewirkt 
haben.  Im  einen  wie  im  anderen  Fall  wird  aber 
die  Bildung  dolomitischer  Sedimente  zunächst  in 
den  flachsten  Meeresteilen  beginnen  und  von  hier 
aus  allmählich  nach  den  beckentieferen  Teilen 
fortschreiten,  während  die  Kalkbildung  hier  länger 
anhält.  Auf  diese  Weise  bekommen  wir  in  der 
Mächtigkeit  der  kalkigen  Fazies  der  Orbicularis- 
schichten einen  Maßstab  für  die  Tiefenverhältnisse. 


Das  tiefste  Meer  bestand  demnach  im  Mosbacher 
Gebiet.  Die  Tauberbarre  zeigt  sich  deutlich  im 
Fehlen  der  kalkigen  Schichten  an.  Von  Würz- 
burg aus  in  der  Richtung  auf  Meiningen  ver- 
flachte sich  das  Meer  allmählich  und  besaß  in 
ganz  Norddeutschland  nur  geringe  Tiefe.  In  süd- 
licher Richtung  weisen  die  8— lO  m  mächtigen 
kalkigen  Schichten  auf  verhältnismäßig  tiefes  Meer. 
Die  Zunahme  der  Tiefe  gegen  das  Schweizer 
Gebiet  deutet  möglicherweise  auf  eine  Verbindung 
des  germanischen  Wellengebirgsmeeres  mit  dem 
Mittelmeergebiet.  Denn  zusammen  mit  dem  Vor- 
kommen von  wellenkalkähnlichen  Gesteinen  in 
Ligurien  (Tornquist),  dem  Vorhandensein  einer 
ziemlich  reichhaltigen  Fauna  im  Schwarzwald- 
gebiet im  Gegensatz  zu  Mittel-  und  Norddeutsch- 
land deutet  das  Erscheinen  der  für  den  oberen 
Muschelkalk  typischen  Terebratula  vulgaris  und 
Gervilleia  socialis  (M.  Schmidt),  die  sonst  dem 
Wellengebirge  fehlen,  auf  eine  neue  Meeresverbin- 
dung. Wenn  irgendeinmal  zur  Wellengebirgszeit 
eine  Verbindung  mit  dem  Mittelmeergebiet  be- 
stand, so  ist  diese  in  der  Zeit  der  Orbicularis- 
schichten anzunehmen. 

Wenn  wir  nun  noch  einmal  rückblickend  die 
allgemeinen  Verhältnisse  der  Wellengebirgszeit 
überschauen,  so  können  wir  für  das  untere  Wellen- 
gebirge das  Meininger  Becken  als  das  Gebiet  des 
tiefsten  Meeres  betrachten.  Von  der  Zeit  der 
Terebratelkalke  ab  rückt  dieses  in  das  Mosbacher 
Becken.  Diese  Senkung  ergreift  in  der  Zeit  der 
Orbicularisschichten  auch  das  Schwarzwaldgebiet, 
während  Mittel-  und  Norddeutschland  sich  in  auf- 
wärtiger  Bewegung  befinden,  bis  diese  Hebungs- 
welle gegen  Schluß  der  Wellengebirgszeit  auch 
die  südlichen  Gebiete  ergreift  und  wahrscheinlich 
wieder  zu  einer  Unterbrechung  der  kurz  vorher 
geschaffenen  Verbindung  mit  dem  Mittelmeer- 
gebiet führt.  Damit  sind  nun  die  Bedingungen 
zur  Entstehung  des  mittleren  Muschelkalks,  des 
Salzgebirges  gegeben.  Wir  haben  hier  also  eine 
von  Meiningen  aus  in  der  Richtung  auf  Mosbach 
vorschreitende  Verbiegungswelle  anzunehmen, 
deren  Achse  etwa  in  der  Richtung  N  50" — 55"  W 
verläuft.  Aus  der  Mächtigkeit  der  Schichten  zwi- 
schen Terebratelkalk  und  Schaumkalk  wie  der 
Orbicularisschichten  muß  weiterhin  eine  zweite 
Verbiegungswelle  angenommen  werden,  deren 
Achse  etwa  senkrecht  zur  Achse  der  ersten 
Bewegung  steht.  Sie  tritt  nicht  mit  derselben 
Deutlichkeit  in  Erscheinung,  wird  aber  dann 
im  oberen  Muschelkalk  von  ausschlaggebender 
Bedeutung.  Die  Regression  des  Muschel- 
kalkmeeres, die  G.  Wagner  gegen  Ende  der 
Muschelkalkzeit  feststellte,  ist  einer  Rindenbe- 
wegung zuzuschreiben,  die  sich  um  dieselbe 
Achse  vollzog.  In  manchen  Fällen  allerdings  sind 
beide  Bewegungen  schwer  auseinanderzuhalten, 
da  sie  sich  kombinieren  und  so  eine  näherungs- 
weise ostwestlich  gerichtete  Bewegungsaclise  vor- 
täuschen. Daß  beide  aber  als  gesonderte  Vor- 
gänge   aufzufassen    sind,    erhellt    ohne    weiteres 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


263 


daraus,  daß  sie  nicht  zu  gleicher  Zeit  einsetzen. 
Die  erste  Bewegung  muß  mindestens  vor  der  Zeit 
der  Terebratula  vulgaris  in  Erscheinung  getreten 
sein;  die  zweite  Verschiebung  setzt  erst  etwa  zur 
Zeit  der  Spiriferinabank  ein.  Da  beide  Richtungen 
innerhalb  der  üblichen  Grenzen  liegen,  so  kann 
man  auch  hier  von  varistischer  und  herzynischer 
Richtung  sprechen. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  einmal  auf 
das  eigenartige  Verhalten  der  unteren  Grenze 
des  Wellengebirges  hinweisen.  Wir  konnten  fest- 
stellen, daß  sie  von  Norden  nach  Süden  in  höhere 
Horizonte  aufsteigt,  mithin  im  Süden  einem 
späteren  Zeitpunkt  angehört  als  im  Norden.  Die 
innerhalb  der  germanischen  Trias  wichtigste  Grenz- 
linie genügt  also  den  Bedingungen  nicht,  die  wir 
nach  landläufiger  Meinung  an  eine  Formations- 
grenze stellen  können.  Die  Formation  ist  vor 
allem   ein   zeitlicher  Begriff.      Wir    verstehen    im 


allgemeinen  darunter  die  während  eines  bestimmten 
Zeitraums  gebildeten  Sedimente.  Bei  dieser  Auf- 
fassung müßten  wir  entweder  Teile  des  Buntsand- 
steins (Roth)  noch  zum  IVIuschelkalk  oder  aber 
das  Wellengebirge  unter  der  Oolithbank  0  zum 
Buntsandstein  rechnen,  was  aber  im  Hinblick  auf 
die  Formationsnamen  ein  Unding  ist.  Es  bleibt 
nichts  anderes  übrig,  als  die  Bezeichnungen  „Bunt- 
sandstein" und  „Muschelkalk"  im  alten  Umfange 
bestehen  zu  lassen,  wobei  aber  zu  beachten  ist, 
daß  darunter  kein  zeitlicher,  sondern  nur  ein  rein 
fazieller  Begriff  zu  verstehen  ist.  Wir  können 
zwar  rein  theoretisch  eine  ideale  gleichzeitige 
Grenze  zwischen  beiden  Formationen  annehmen. 
Aber  diese  Zeitgrenze  und  die  wirkliche  For- 
mationsgrenze schneiden  sich  unter  schiefem 
Winkel.  Wie  weit  diese  Beobachtungen  für  andere 
Formationsgrenzen  zutreffen,  bedarf  noch  genauer 
stratigraphischer  Untersuchungen. 


[Nachdruck  vorboleu.] 


Der  Köderwurm. 
Von  Hermann  Lechler. 

(Aus  dem  Zoolog.  Institut  der  Technischen  Hochschule  in  Stuttgart.) 
Mit  4  Abbildungen. 


Wenn  man  an  der  Nordsee  zur  Ebbezeit  über 
den  Sandstrand  geht,  der  bei  der  Flut  vom  Meere 
bedeckt  ist,  sieht  man  im  Sande  oft  kleine  Trichter 
von  etwa  3  cm  Durchmesser  und  nahe  dabei 
kleine  Häufchen  aus  Sand,  ähnlich  den  bekannten 
aus  Erde  bestehenden  Exkrementen  des  Regen- 
wurms. Der  Trichter  und  das  Exkrementen- 
häufchen bezeichnen  die  beiden  Enden  einer  huf- 
eisenförmigen Röhre  im  Sand,  welche  die  Woh- 
nung des  Köderwurmes  [Areiiicola  piscaforitm  Lam. 
=  A.  iiiariiia  L.)  ist.  Die  Röhre  geht  etwa  einen 
halben  Meter  tief,  und  man  kann  den  Wurm  leicht 
mit  einem  Spaten  herausgraben.  Wie  schon  sein 
Name  besagt,  wird  er  als  Köder  an  die  Angel 
benutzt.  Da  er  leicht  zu  beschaffen  ist,  kann  er 
bei  zoologischen  Übungen  als  lehrreiches  Beispiel 
für  die  Meeresanneliden  benutzt  werden. 

Was  die  systematische  Stellung  betrifft,  gehört 
die  Familie  der  Arenicoliden  zu  den  Borsten- 
würmern  (Chätopoden)  und  steht  bei  den  Viel- 
borstern  (Polychäten)  in  der  Mitte  zwischen  den 
freischwimmenden  (Errantia)  und  den  festsitzenden 
(Sedentaria).  Nach  der  Lebensweise  könnte  man 
die  Arenicoliden  zu  den  festsitzenden  Borsten- 
würmern rechnen,  aber  sie  besitzen  noch  den 
Kopflappen,  welcher  bei  den  Sedentarien  rudi- 
mentär geworden  ist;  sie  werden  deshalb  oft  mit 
den  Erranlien  zu  einer  Gruppe  zusammengezogen 
(Phanerocephala). 

Wie  bei  allen  Ringelwürmern  (Anneliden)  ist 
der  Körper  segmentiert,  aber  die  äußere  Ringe- 
lung  entspricht  hier  nicht  der  inneren  Gliede- 
rung, wie  dies  beim  Regenwurm  der  Fall  ist, 
sondern  es  kommen  mehrere  Ringel  auf  ein  Seg- 
ment.    Die   innere    Gliederung   ist   äußerlich  aus 


den  die  Borsten  tragenden  Stummelfüßen  (Para- 
podien)  zu  erkennen,  aber  diese  sind  an  manchen 
Segmenten  rudimentär  geworden  und  an  vielen 
ganz  verschwunden. 

Man  muß  an  dem  Körper  drei  Teile  unter- 
scheiden; der  erste  wird  von  dem  Kopflappen 
und  den  folgenden  Segmenten  gebildet,  welche 
Stummelfüße  mit  Borsten,  aber  keine  Kiemen 
tragen.  Der  zweite  Teil  umfaßt  die  Kiemenregion, 
dreizehn  Segmente,  bei  welchen  an  den  Stummel- 
füßen verzweigte  Kiemen  vorhanden  sind ,  dann 
folgt  der  dünnere  aus  zahlreichen  Segmenten  be- 
stehende Schwanzteil,  welcher  keine  Stummelfüße 
erkennen  läßt.  Die  Abb.  i  stellt  das  ganze  Tier 
dar;  sie  ist  der  Monographie  von  Ashworth 
entnommen,  in  welcher  auch  der  innere  Bau  ge- 
nau beschrieben  ist.  *) 

Bei  dem  abgebildeten  Tiere  ist  der  Rüssel 
(Pharynx)  ausgestülpt,  welcher  zum  Bohren  im 
Sand  und  zum  Aufnehmen  des  Sandes  dient,  der 
den  Darm  erfüllt.  Am  Grunde  des  Rüssels  sieht 
man  denkleinen  dreiteiligen  Kopf  läppen  (Pro- 
stomium),  welcher  das  Vorderende  des  Tieres  dar- 
stellt; er  kann  in  eine  Nackengrube  zurückgezogen 
werden  und  ist  daher  nicht  immer  sichtbar. 

Die  borstentragenden  Segmente  des  vorderen 
Körperabschnittes  zeigen  zwei  bis  fünf  Ringel,  von 
welchen  jeweils  das  vorletzte  die  Fußstummel 
mit  den  Borsten  trägt  (Abb.  i);  die  Segmentgrenze 
hegt  also  hinter  demjenigen  Ring,  der  auf  den 
borstentragenden    folgt.       Aber    am    Vorderende 


')  J.  H.  Ashworth,  Arenicola ,  London  1904.  Liver- 
pool Marine  Biology  Committee.  Memoirs  on  Typical  Bri- 
tish Marine  Plants  and  Animals. 


204 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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macht  die  Erkennung  der  Segmentierung  einige 
Schwierigkeiten.  Im  allgemeinen  kommt  bei  den 
Borstenwürmern  nach  dem  Kopflappen  das  Mund- 
segment, dann  das  erste  borstentragende  Segment. 
Das  trifft  bei  Arenicola  auch  zu,  läßt  sich  aber 
nur  beim  jungen  Tier  deutlich  erkennen,  bei 
welchem  auf  den  kegelförmigen  Kopflappen  ein 
aus  zwei  Ringeln  bestehendes  IVIundsegment 
(Peristomium)  und  dann  ein  aus  zwei  Ringeln  be- 
stehendes borstentragendes  Segment  folgt.  Die 
Borsten  dieses  Segmentes  sind  aber  rudimentär 
und  gehen  verloren;  folglich  ist  das  erste  borsten- 
tragende Segment  bei  dem  abgebildeten  Tier  in 
Wirklichkeit  das  zweite  Segment  nach  dem  IVIund- 
segment; es  besteht  nur  aus  zwei  Ringeln,  dem 
borstentragenden  und  dem  folgenden  Ringel. 

Die  meisten  Polychäten  besitzen  an  jedem 
Segment  jederseits  zwei  Fußstummel  (Para- 
podien),  einen  dorsalen  und  einen  ventralen 
(Notopodium  und  Neuropodium).  Bei  Arenicola 
ist  nur  die  dorsale  Reihe  gut  ausgebildet  und 
mit  kräftigen  Borsten  versehen.  Die  ventralen 
Fußstummel  sind  rückgebildet  und  stellen  nur 
wulstige  Erhöhungen  dar,  die  an  manchen  Seg- 
menten ventralwärts  bis  zur  Mitte  der  Bauchseite 
reichen ;  sie  besitzen  jeweils  eine  mittlere  Furche, 
in  der  zahlreiche  kleine  Borsten  stehen. 

Bei  vielen  Polychäten  geht  aus  dem  Tastfaden 
(Cirrhus)  des  dorsalen  Parapodiums  eine  Kieme 
hervor.  So  findet  man  auch  bei  Arenicola  an 
dem  siebenten  borstentragenden  Fußstummel  und 
an  denjenigen  der  12  folgenden  Segmente  jeweils 
eine  verzweigte  Kieme,  bestehend  aus  ungefähr 
10  Stämmen,  die  je  3 — 5  Paare  von  Nebenzweigen 
tragen.  Die  Kiemen  sind  in  der  mittleren  Kiemen- 
region am  besten  ausgebildet.  Es  ist  anzunehmen, 
daß  der  Wurm  durch  peristaltische  Bewegungen 
eine  Wasserbewegung  in  seiner  Röhre  hervor- 
bringt, damit  frisches  Wasser  an  die  Kiemen 
kommt.')  Die  Kiemen  enthalten  nicht  nur  Blut- 
gefäße sondern  auch  Ausbuchtungen  der  Leibes- 
höhle, so  daß  also  auch  der  Cölomflüssigkeit  eine 
respiratorische  Funktion  zukommen  kann. 

Der  Schwanz  besteht  aus  einer  großen  An- 
zahl von  Ringen,  die  nach  hinten  zu  breiter  wer- 
den; es  rührt  dies  daher,  daß  die  Wachstumszone 
des  Schwanzes  sich  an  der  Ansatzstelle  befindet. 
Der  Wurm  kann  auch  ohne  Schaden  Schwanz- 
glieder verlieren  und  stoßt  bei  heftiger  Reizung 
solche  ab.  Nach  hinten  zu  teilen  sich  die  einzelnen 
Segmente  auch  wieder  in  mehrere  Ringel.  Der 
After  liegt  am  Ende  des  Körpers. 

Das  Tier  ist  bedeckt  von  einem  Zylinder- 
cpithel,  der  Oberhaut,  welche  mit  einer  „Cuticula" 
überzogen  ist,  die  als  Abscheidung  der  Schleim- 
zellen der  Oberhaut  angesehen  wird.  In  der 
Oberhaut  stehen  Sinneszellen.    In  den  Zellen  der 

')  Professor  Ziegler  teilte  mir  mit,  daß  er  auf  Norderney 
einen  Köderwurm  in  ein  U-förmiges  mit  Wasser  gefülltes 
Glasrohr  brachte  und  daß  dann  die  Oberfläche  des  Wassers 
an  der  Mundseite  fiel,  während  das  Wasser  an  dem  anderen 
F.nde  der  Röhre  überfloß. 


Arenicola  piscatorum   mit  ausgestülptem  Küssel.     Nat.   Größe. 

Altes  Tier.     Nach  A  s  h  w  o  r  t  h ;  etwas  geändert. 

rad    Mundöff^aung;    r    Rüssel;    kl    Kopf  läppen    (Prostomium); 

p  Mundsegment  (Peristom);    I    borstenloses  Segment ; 

2 — 7  borstentragende  Segmente ;   S — 20  Kiemensegmente; 

dp    dorsales    Parapodium,    Notopodium    mit    Borstenbüschel ; 

vp  ventrales   Parapodium  ,    Neuropodium  ; 

Kr  Kiemenregion;  s  Schwanz. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


265 


Abb.  2  a.  Abb.  2  b. 

Abb.  2  a.     Vorderer  Teil  des  Darmkanals. 
Abb.  2b.     Schema  des  Herzens;  entspricht  der  rechten  Seile 

der  Abb.  2  a. 
p  Rüssel  (aufgeschnitten) ;  rm  Rückziehermuskeln  des  Rüssels  ; 
r  der  beim  Ausstülpen  vorderste  Teil  des  Rüssels;  d,,  d.^,  dj 
I.,  2.  u.  3.  Dissepiment ;  dg  Rücken-,  lg  Seitengefäß,  vg  Bauch- 
gefäS;  k  Kropf;  dr  gestielte  Drüse  (auf  der  anderen  .Seite  ist 
die  Drüse  entfernt);  h  Herz;  auf  der  anderen  Seite  der  Abb.  2a 
nur  angedeutet. 


.Abb.    4.        Segracntalorgan, 

Nephridium.  tr  Nephrostom. 

gn  Gonade,      bl  Harnblase. 

(Nach    Ashworth.) 


Abb.    3.        Übergang     vom 

Magen  (m)    zum    Darm   (d), 

Ansicht  von  der  Bauchseite. 

vg  Bauchgefäfl. 


Oberhaut  sind  braune  Pigmentkörner  enthalten; 
durch  das  Pigment  werden  ziemlich  regelmäßig 
angeordnete  dunkle  Platten  erzeugt,  von  denen 
es  ein  oder  zwei  Reihen  auf  einem  Ringel  gibt; 
daher  rührt  auch  die  dunkle  Färbung  der  Tiere, 
besonders  im  vorderen  und  im  Schwanzteil. 

Unter  dem  Epithel  liegen  die  Ringmuskel- 
schicht und  darunter  die  Längsmuskeln.  — 
Das  Bauchmark  liegt  an  der  Innenseite  der 
Ringmuskelschicht ,  und  man  bemerkt  an  der 
ganzen  Bauchseite  des  Wurmes  median  eine 
Rinne,  welche  den  Verlauf  des  Bauchmarks  be- 
zeichnet. Diese  Rinne  teilt  sich  am  i.  Ring  des 
borstenlosen  Segmentes,  und  die  beiden  Teilrinnen, 
welche  den  Verlauf  der  Schlundkommissur  an- 
geben, laufen  um  den  Körper  herum  und  führen 
zu  dem  zweiteiligen  Gehirn,  welches  in  dem 
Kopf  lappen  liegt.  —  Vom  oberen  Teil  der  Schlund- 
kommissur geht  jederseits  ein  kleiner  Nerv  zu  der 
Statozyste,  dem  sog.  Hörbläschen;  diese  liegt 
seitlich  hinter  dem  Kopflappen  in  dem  Mund- 
segment und  ist  durch  eine  Einstülpung  des 
äußeren  Epithels  gebildet,  bestehend  aus  einem 
am  Grunde  flimmernden  Zuführungsgang  und 
einer  kleinen  Blase,  welche  in  Drüsensekret  ein- 
gebettete Sandkörnchen  und  andere  Fremdkörper 
als  Statolithen  enthält. 

Um  den  inneren  Bau  des  Tieres  zu  betrachten, 
schneidet  man  es  entlang  dem  Rücken  auf. 

Der  Darmkanal  zieht  sich  in  gerader  Linie 
durch  den  ganzen  Körper.  Er  beginnt  mit  dem 
obengenannten  ausstülpbaren  Rüssel  oder  Pharynx 
(Abb.  I  r).  Die  ausgestülpte  Oberfläche  trägt 
eine  Menge  von  kleinen,  rückwärts  gerichteten 
Höckern;  ein  folgender  Teil  des  Rüssels,  welcher 
in  der  Abbildung  i  am  Vorderende  zu  sehen  ist, 
ist  nur  mit  kleineren  Papillen  besetzt,  deren  Epithel 
Sinneszellen  und  Schleimzellen  enthält.  Auf  den 
Rüssel  folgt  die  dünnwandige  und  ausdehnbare 
Speiseröhre,  welche  ungefähr  bis  zum  sechsten 
borstentragenden  Segment  reicht.  Der  unterste 
Teil  der  Speiseröhre  ist  manchmal  durch  Sand- 
füllung kropfai-tig  erweitert.  Die  Speiseröhre 
wird  an  dem  Übergang  zu  dem  folgenden  Ab- 
schnitt, dem  sog.  Magen  etwas  enger,  und  hier 
setzen  sich  dorsal  zwei  große  gestielte  Drüsen 
an,  welche  neben  der  Speiseröhre  nach  vorn 
gehen  (Abb.  2);  sie  besitzen  Im  Innern  Längs- 
falten zur  Vergrößerung  der  sezernierenden  Ober- 
fläche. —  Der  Magen  ist  ein  erweiterter  Teil  des 
Mitteldarmes;  er  ist  von  Blutgefäßen  netzartig 
umgeben  und  geht  im  achten  kiementragenden 
Segment  in  den  Darm  über. 

Durch  die  sich  in  der  Magenwand  verzweigen- 
den Blutgefäße  erscheint  diese  ziemlich  regel- 
mäßig gefeldert  (Abb.  3),  während  der  Darm 
glatt  ist.  Außerdem  gehen  vom  Bauchgefäß  nach 
beiden  Seiten  hin  Gefäßzotten  ab,  und  zwar  erst 
vom  Beginn  des  Enddarmes  an,  wodurch  die 
Unterscheidung  von  Magen  und  Darm  noch  deut- 
licher wird  (Abb.  3).      Im  Magen    und  Darm  be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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findet  sich  von  dem  dritten  Kiemenring  an  an 
der  Ventralseite  eine  flimmernde  Rinne. 

Von  den  Scheidewänden  (Dissepimenten), 
welche  die  einzelnen  Körperabschnitte  voneinander 
trennen,  haben  sich  im  Vorderteil  nur  drei  erhalten 
(Abb.  2).  Die  erste  Scheidewand  findet  sich  an 
der  vorderen  Grenze  des  ersten  Borstenrings  an- 
gebracht und  umfaßt  den  Darmkanal  hinter  dem 
Rüssel  am  Beginn  des  Schlundes.  Diese  Scheide- 
wand hat  zwei  kleine  nach  rückwärts  gerichtete 
drüsenartige  Anhänge  auf  der  Bauchseite,  die 
nach  vorn  münden;  sie  dienen  wahrscheinlich  zur 
Unterstützung  der  Rüsselausstülpung.  Zwischen 
dem  ersten  und  zweiten  Borstenring  ist  keine 
Scheidewand  vorhanden,  dagegen  zwischen  dem 
zweiten  und  dritten,  sowie  dem  dritten  und  vierten. 
Die  Trennungswände  der  folgenden  Segmente 
sind  verschwunden  bis  auf  kleine  Reste  in  den 
letzten  kiementragenden  Segmenten.  Im  Schwanz 
sind  die  Abschnitte  wieder  durch  Scheidewände 
getrennt.  —  Zwischen  der  ersten  und  zweiten 
Scheidewand  zieht  sich  der  Länge  nach  ein  Auf- 
hängeband vom  Rücken  zum  Bauch  hin,  in  dem 
der  Magen  und  die  Blutgefäße  befestigt  sind.  Die 
vorderen  Scheidewände  sind  von  kleinen  Öffnungen 
durchbrochen,  durch  welche  die  Körperflüssigkeit 
durchtreten  kann. 

Der  Rüssel  ist  von  einer  muskulösen  Scheide 
umgeben,  deren  Muskelbündel  nach  hinten  gehend 
die  erste  Scheidewand  durchbrechen  und  hinter 
dieser  an  der  Körperwand  befestigt  sind  (Abb.  2); 
sie  dienen  zum  Zurückziehen  des  Rüssels.  Die 
Muskulatur  der  Körperwand  besteht  aus  einer 
äußeren  Ringmuskelschicht  und  einer  inneren 
Lage  von  Längsmuskeln.  Von  der  dritten  Scheide- 
wand ab  nach  hinten  bis  zum  After  sieht  man 
außerdem  noch  Quermuskeln  von  der  Bauch- 
mittellinie seitwärts  bis  zur  Höhe  der  Borsten- 
bündel gespannt. 

Der  Köderwurm  hat  rotes  Blut,  bestehend 
aus  einer  Hämoglobin  enthaltenden  Flüssigkeit,  in 
welcher  wenige  farblose  Blutkörperchen  schwim- 
men.    Die  wichtigsten  Blutgefäße  sind   wie  beim 


Regenwurm  das  dorsale  Blutgefäß  über  dem 
Darmkanal  und  das  ventrale  unter  demselben. 
Wie  bei  allen  Ringelwürmern  strömt  das  Blut  in 
dem  dorsalen  Gefäß  von  hinten  nach  vorn.  Das 
ventrale  Gefäß  ist  unter  dem  Darm  mit  vielen 
dünnen  Ausstülpungen  versehen  (Abb.  3),  welche 
mit  braunen  Chloragogenzellen  überzogen  sind. 
Neben  dem  Anfangsteil  des  Magens  liegt  jeder- 
seits  eine  kontraktile  Blutblase,  welche  Herz  ge- 
nannt wird;  sie  nimmt  aus  einer  Erweiterung  des 
seitlichen  Magengefäßes,  die  Vorhof  genannt 
wird,  das  Blut  auf  um  es  in  das  ventrale  Gefäß 
zu  pumpen  (Abb.  2  b). 

Die  Harnorgane  sind  kurze  Schleifen- 
kanäle  (Segmentalorgane),  die  mit  einem 
großen  länglichen  krausenartigen  Flimmertrichter 
(Nephrostom)  beginnen  (Abb.  4).  Die  Wimpern  des- 
selben schlagen  einwärts  in  ein  nach  hinten  ver- 
laufendes einfaches  Rohr,  welches  braune  Exkret- 
körnchen  in  den  Epithelzellen  enthält.  Diesem 
schließt  sich  eine  Harnblase  an,  die  durch  eine 
kleine  Öffnung  im  hinteren  Teil  eines  Borsten- 
rings seitlich  nach  außen  mündet.  Im  ganzen 
sind  nur  sechs  Paar  Segmentalorgane  vorhanden, 
welche  dem  4. — 9.  borstentragenden  Segment  an- 
gehören. —  An  die  Flimmertrichter  der  Segmental- 
organe schließen  sich  die  kleinen  Gonaden  an, 
die  Keimstätten  für  die  Eier  bei  den  weiblichen 
Tieren  und  für  die  Samenzellen  bei  den  männ- 
lichen Tieren  (Abb.  4).  Die  Geschlechtszellen 
fallen  in  die  Leibeshöhle,  und  die  reifen  Ge- 
schlechtsprodukte werden  durch  die  Segmental- 
organe entleert,  deren  Endblasen  zur  Zeit  der  Ge- 
schlechtsreife (im  Februar  und  März)  mit  Eiern 
oder  Samenzellen  gefüllt  sind.  —  Aus  dem  be- 
fruchteten Ei  entsteht  am  dritten  Tage  eine  frei- 
schwimmende Trochophora-Larve  mit  zwei 
Augenflecken  und  zwei  Wimperringen,  von  wel- 
chen der,  eine  vor  dem  Mund,  der  andere  nahe 
am  Hinterende  sich  befindet.  Wie  bei  vielen 
anderen  Meerestieren  dienen  die  Larven  der  Ver- 
breitung, indem  sie  von  den  Strömungen  fortge- 
führt werden. 


Einzelberichte. 


Die  lösliche  Modifikation  des  Siliciuiiis. 

Moissan  und  Siemens  haben  im  Jahre  1904 
gefunden,  daß  kristallisiertes  Silicium ,  das  aus 
einem  Silberregulus  gewonnen  wurde,  bei  der 
Behandlung  mit  Flußsäure  bis  zu  einem  geringen 
Rückstand  von  etwa  1  v.  H.  in  Lösung  geht.  Da 
kristallisiertes  Silicium  im  allgemeinen  äußerst  be- 
ständig ist  und  sogar  als  in  Flußsäure  unlöslich 
gilt,  so  schlössen  sie  auf  eine  besondere  Modifi- 
kation des  Siliciums,  eine  Erscheinung,  die  vielen, 
ja  den  meisten  Elementen  eigentümlich  ist.  Es 
sei  an  das  graue  und  das  weiße  Zinn  erinnert. 
Welcher  Art  das  in  Mußsäurc  unlösliche  Silicium 


sei,  ist  von  den  genannten  Forschern  jedoch  nicht 
näher  untersucht  worden,  auch  die  Entstehungs- 
bedingungen sind  von  ihnen  nicht  exakt  festge- 
legt worden.  In  einer  Mitteilung  von  W.  Man- 
schot*)  wird  zu  diesen  Fragen  ein  Beitrag  ge- 
liefert. Zunächst  konnte  festgestellt  werden,  daß 
es  experimentell  äußerst  schwer  ist,  ein  kristalli- 
siertes Silicium  zu  gewinnen,  daß  völlig  fluß- 
säurebeständig wäre.  Auch  die  scheinbar  best- 
kristallisierten Präparate  gaben  beim  Abrauchen 
mit  Flußsäure  zunächst  einen  Gewichtsverlust, 
mußten  also   zum  Teil  in  Lösung  gegangen  sein. 


')  Berichte  d.  d.  Chem.  Gesellsch.   54,  S.  3107,   1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Sodann  wurden  die  Versuche  der  erstgenannten 
Forscher  nachgeprüft.  Es  wurde  flußsäurebe- 
ständiges SiHcium  mit  einem  Überschuß  von 
Silber  im  elektrischen  Flammenbogen  zusammen- 
geschmolzen. Die  Schmelze  wurde  durch  Ein- 
gießen in  Wasser  zum  Erstarren  gebracht,  und 
das  Silber  mit  Salpetersäure  herausgelöst.  In  der 
Tat  entwickelte  das  zurückbleibende  Silicium  mit 
Flußsäure  reichlich  Wasserstoff,  war  also  löslich 
darin. 

Nun  wurde  jedoch  beobachtet,  daß  der  Grad 
der  Löslichkeit  nie  derselbe  war,  sondern  von  der 
Art  des  Abkühlens  der  Schmelze  abhing.  Je 
rascher  die  Abkühlung  vorgenommen  wurde,  um 
so  löslicher  war  das  Silicium.  Das  Abschrecken 
des  geschmolzenen  Siliciums  ist  also  die  Be- 
dingung für  seine  Löslichkeit.  Wenn  man  lang- 
sam erkalten  ließ,  gewann  man  das  Silicium  in 
der  bekannten  kristallisierten  Form,  die  sich 
nicht  in  Flußsäure  löste.  Wichtig  war  sodann 
die  von  den  älteren  Forschern  nicht  erwähnte 
Tatsache,  daß  das  abgeschreckte,  also  lös- 
liche Silicium  überhaupt  nicht  kristallinisch  ist! 
Es  ist  vielmehr  eine  dunkel-  bis  hellbraun  ge- 
färbte Substanz,  die  unter  dem  Mikroskop  deut- 
lich amorph  ist.  Auch  Aluminiumschmelzen 
gaben  beim  Abschrecken  diese  amorphe  Modi- 
fikation, die  sich  somit  nach  Entstehungsweise 
und  Formart  den  bekannten  Allotropieerschei- 
nungen  völlig  einfügt.  Die  als  „kristallisiert"  be- 
schriebene lösliche  IVIodifikation  dürfte  mithin  aus 
der  Literatur  zu  streichen  sein.  H.  H. 


Wirkung   des    Alkohols   auf  das   Yerliiiltuis 

Tou    Weibchen  uud  Mäuucheu  in  der  Nach- 

komnieuschaft. 

Bei  Säugetieren  ist,  wie  aus  triftigen  Gründen 
angenommen  werden  muß,  das  männliche  Ge- 
schlecht heterogametisch,  während  das  weibliche 
homogametisch  ist,  d.  h.  es  werden  zweierlei 
Spermatozoen,  Männchen-  und  Weibchenbestimmer 
in  gleicher  Menge,  aber  nur  eine  Art  von  Eizellen 
gebildet.  Wenn  sie  rein  nach  dem  Zufall  in  freiem 
Wettbewerb  und  die  Eizelle  kopulieren,  ist  das  theore- 
tische Verhältnis  l:i  in  der  Nachkommenschaft  zu 
erwarten.  Würde  man  aber  einer  Art  der  Sperma- 
tozoen einen  Vorteil  vor  der  anderen  durch  ex- 
perimentelle Einwirkung  verschaffen,  so  müßte 
dies  in  einer  Verschiebung  des  normalen  Zahlen- 
verhältnisses in  der  Nachkommenschaft  zum  Aus- 
druck kommen.  Agnes  Bluhm*)  hat  im 
Kaiser-Wilhelmlnstitut  für  experimentelle  Biologie 
zu  Berlin-Dahlem  versucht,  durch  Alkoholisierung 
der  Männchen  der  weißen  Maus  eine  Verschiebung 
des  normalen  Geschlechtsverhältnisses  herbeizu- 
führen. Sie  ging  dabei  von  der  Überlegung  aus, 
daß  der  Alkohol  entweder  als  Zellgift  die  beiden, 
bekanntlich  durch  verschiedenen  Chromatingehalt 


')    SitzuDgsbcr.    d.    l'reufl.    Akad.    d.    Wisscusch.   XXXIV, 
1921,  S.  549. 


ausgezeichneten  Arten  von  Spermatozoen  ver- 
schieden stark  schädige,  oder  aber  als  Narkotikum 
etwa  die  Beweglichkeit  der  Spermatozoen  ver- 
schieden stark  beeinflusse,  so  daß  entweder  die 
eine  oder  die  andere  Art  einen  Vorsprung  im 
Wettlauf  nach  dem  Ei  bekäme.  Der  Alkohol 
wurde  den  Männchen  beigebracht,  indem  ihnen 
0,2  ccm  einer  20proz.  Lösung  unter  die  Rücken- 
haut gespritzt  wurde.  Diese  Injektion  hatte  einen 
schweren  Rausch  zur  Folge.  Es  wurden  nun  die 
Würfe,  die  von  normalen,  d.  h.  vorher  niemals 
alkoholisierten  Vätern,  von  Alkoholikern,  d.  h. 
solchen ,  die  unter  Alkoholwirkung  standen  und 
von  Abstinenten,  d.  h.  Mäusen,  die  vorher  alko- 
holisiert, aber  eine  gewisse  Zeit  abstinent  blieben, 
untersucht.  Das  natürliche  Geschlechterverhältnis, 
wie  es  sich  bei  Auszählung  hinreichend  zahlreicher 
Nachkommen  ergibt,  stimmt  mit  dem  theoretisch 
zu  fordernden  i  :  i  aus  nicht  näher  zu  erörtern- 
den Gründen  infolge  sekundärer  Momente  meist 
nicht  überein.  Bei  ihren  Mäusen  stellte  die  Verf. 
fest,  daß  auf  loo  Weibchen  79,36  Männchen 
kommen.  Sie  berücksichtigte  bei  ihren  Zählungen 
nur  die  vollständigen  Würfe.  Bei  67  vollständigen 
und  vollbestimmbaren  Würfen,  die  von  alkoholi- 
schen Vätern  stammten,  ergab  nun  die  Zählung 
122,14  Männchen  auf  lOO  Weibchen.  Was  nun 
die  Abstinentenwürfe  anlangt,  so  zeigten  sie  eine 
deutliche  Tendenz  zur  Rückkehr  zum  normalen, 
natürlichen  Geschlechtsverhältnis.  Bei  der  Dis- 
kussion der  Frage,  in  welcher  Weise  der  Alkohol 
dies  auffällige  Resultat  hervorgebracht  habe,  kommt 
die  Verf.  zu  dem  Schlüsse,  daß  sehr  wahrschein- 
lich die  Beweglichkeit  der  weibchenbestimmenden 
Spermatozoen  stärker  herabgesetzt  wurde,  als  die 
der  männchenbestimmenden.  Diese  Auffassung 
wird  durch  Versuche  von  Cole  und  Davis ^) 
gestützt,  aus  denen  einmal  hervorgeht,  daß  die 
Beweglichkeit  der  Spermatozoen  verschiedener 
Individuen  verschieden  groß  sein  kann  und  daß 
sie  außerdem  durch  Alkohol  beeinflußbar  ist. 
Wurde  ein  Kaninchen  unmittelbar  hintereinander 
von  zwei  Böcken  belegt,  so  stammten  die  Jungen 
des  Wurfes  teils  von  dem  einen,  teils  von  dem 
anderen  Bock.  Dabei  hatte  der  eine  jedoch 
immer  einen  Vorsprung  vor  dem  anderen.  Das 
änderte  sich  aber,  wenn  dieser  Sieger  kurz  vor 
dem  Koitus  mit  Alkoholdämpfen  behandelt  wurde. 
Jetzt  stammte  unter  den  Nachkommen  überhaupt 
keiner  von  ihm.  Miehe. 


Zur  Analyse  kolloider  Systeme. 

Die  quantitative  Analyse  kolloider  Lösungen 
ist  bisher  nicht  bekannt  gewesen.  Zwar  kennt 
man  das  Verfahren  der  Dialyse  und  der  Ultra- 
filtration, die  eine  weitgehende  Abtrennung  des 
kolloid  vorliegenden  Stoffes  von  seinen  Begleitern 
gestatten.      Zu    quantitativ    verwertbaren    Ergeb- 

')  The  effect  of  alcohol  on  tlic  male  germ  cells  etc. 
Science  X.XXIX,   1914. 


268 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


nissen  reichen  aber  diese  Methoden  nicht  aus. 
Immerhin  war  diese  Lücke  in  der  analytischen 
Chemie  der  Kolloide  auffallend,  und  eigentlich 
erklärlich  erscheint  sie  dem  Berichterstatter  nur 
durch  die  Jugend  der  Kolloidchemie  im  allge- 
meinen, die  über  der  Fülle  qualitativ  neuartiger 
Erscheinungen  und  Beziehungen  deren  quantitative 
Seite  ein  wenig  vernachlässigte.  Nun  ist  jedoch 
eine  messende  Verfolgung  der  Vorgänge,  die  bei- 
spielsweise zu  einer  kolloiden  Lösung  hinführen, 
unerläßlich  für  Arbeiten,  die  mit  ganz  bestimmten 
Konzentrationen  der  dispersen  Phase  zu  rechnen 
haben. 

Ein  solcher  Fall  liegt  vor  bei  der  Reduktion 
von  Silbernitrat  zu  kolloidalem  Silber  mittels 
Hydrazinhydrats.  Um  den  IVIechanismus  dieser 
Reduktion  aufzuklären,  bedarf  es  der  Möglichkeit, 
die  Menge  unverändert  gebliebenen  Silbernitrats 
in  jedem  Zeitpunkt  zu  ermitteln.  Dieses  Ziel  zu 
erreichen,  ist  A.  Gutbier  und  seinen  Schülern 
gelungen.')  In  einer  Reihe  voraufgegangener  Ar- 
beiten hat  Gutbier  ermittelt,  daß  pflanzliche 
Schleime,  z.  B.  aus  isländischem  Moos  (Carragheen), 
in  geeigneter  Verdünnung  vorzügliche  Schutz- 
kolloide sind,  d.  h.  kolloidale  Dispersionen  vor 
dem  Ausflocken  bewahren.'-')  Auch  bei  der  er- 
wähnten Reduktionsmethode  wurde  Pflanzen- 
schleim zur  Stabilisierung  des  kolloidalen  Silbers, 
das  eine  rein  braune  Farbe  aufweist,  benutzt.  Des 
weiteren  war  gefunden  worden,  daß  sowohl  die 
benutzten  Schleimstoffe  wie  die  von  ihnen  ge- 
schützten Metallkolloide  durch  Alkohol  in  um- 
kehrbarer Form  gefällt  werden  können.  Auf 
dieser  Fällbarkeit  des  Dispersoids,  die  leicht 
wieder  rückgängig  zu  machen  ist,  gründet  sich 
die  neue  analytische  Methode.  Man  fällt  mit 
Alkohol  das  kolloidale  Silber  aus  und  titriert  das 
unveränderte  Silberion  in  gewöhnlicher  Weise. 

Die  Schwierigkeit  der  Methode  lag  darin,  daß 
das  gefällte  Kolloid  naturgemäß  eine  Menge 
Silberionen  mitriß.  Aber  auch  dieser  Erscheinung 
ließ  sich  begegnen,  indem  man  das  Ion  in  einen 
Komplex  überführte.  Als  bestgeeignet  erwies 
sich  hierzu  die  Einwirkung  von  Ammonium- 
karbonat ;  der  mit  diesem  aus  Silbernitrat  ■  ent- 
stehende Komplex  wird  von  der  alkoholischen 
Kolloidfallung  nicht  mitgefällt  und  entzieht  so 
das  Silberion  der  maskierenden  Adsorption. 

Konzentrationsverhältnisse,  Wärme  und  sogar 
das  Tageslicht  nehmen  auf  die  Genauigkeit  der 
Bestimmung  Einfluß.  Man  kann  ihnen  in  vollem 
Umfang  begegnen  und  kann  dann  die  Arbeits- 
vorschrift kurz  folgendermaßen  ausdrücken ;  zur 
Lösung,  die  neben  Silberion  kolloides  Silber  ent- 
hält, wird  ein  Überschuß  reinsten  festen  Am- 
moniumkarbonats gegeben,  hierauf  wird  mit  Alko- 
hol gefällt,  absitzen  gelassen,  filtriert  und  im  Fil- 
trat  das  komplex  gebundene  Silberion  in  der  be- 
kannten Weise  nach  Volhard  titriert. 

')  Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellscb.  55,  S.  748,  1922. 
-)  Vgl.  z.  B.  KoUoid-Zeitschr.  30,  S.  20,   1922. 


Die  von  Gutbier  mitgeteilten  Belegzahlen 
lassen  erkennen,  daß  die  Methode  sehr  gute  Er- 
gebnisse gestattet.  Man  hat  also  nunmehr  ein 
ebenso  elegantes  wie  sicheres  analytisches  Hilfs- 
mittel in  der  Hand,  kolloide  Synthesen  messend 
zu  verfolgen.  Für  jeden,  der  sich  über  die  Güte 
seiner  diesbezüglichen  Arbeiten  Rechenschaft  geben 
will,  und  dazu  gehört  nicht  zuletzt  der  experi- 
mentierende Lehrer,  der  über  Kolloide  vorträgt, 
ist  die  Methode  wertvoll.  Darüber  hinaus  eröffnet 
sie  der  Kolloidchemie  im  allgemeinen  neue  reiz- 
volle Möglichkeiten,  bisher  verworren  gebliebene 
Vorgänge  aufzuklären.  H.  H. 

Eiue  (jieuossenschatt   mazedonischer  Pflanzen 
bei  Aken  an  der  Elbe. 

Durch  die  Kriegsverhältnisse  sind  nicht  wenige 
fremde  Gewächse  bei  uns  zur  Ansiedlung  gelangt. 
So  hat  u.  a.  die  schon  früher  durch  ihre  Reich- 
haltigkeit bekannte  Adventivflora  von  Aken  a.  d. 
Elbe  während  des  Krieges  einen  weiteren  recht 
bemerkenswerten  Zuwachs  erfahren.  Auf  den  im 
Umschlagshafen  von  Aken  aufgestapelten  Chrom- 
eisenerzen aus  den  als  Tagebau  betriebenen  Berg- 
werken von  Radusche  in  Mazedonien  zeigte  sich 
nach  dem  Kriege  ein  reicher  Flor  von  zumeist 
mazedonischen  Gewächsen,  deren  genaue  Kennt- 
nis wir  Paul  Schuster  und  J.  Bornmüller ') 
verdanken.  Im  ganzen  wurden  31  neue  Adventiv- 
pflanzen beobachtet,  von  denen  hier  nur  die 
wichtigsten  mazedonischen  Arten  genannt  werden 
sollen.  Besonders  häufig  fanden  sich  auf  den 
Erzhalden  die  schön  .gelb  blühenden  Alyssiiin 
iiinralc  W.  K.  und  Achillea  coarchüa  Poir.  Fast 
ebenso  häufig  waren  Centaiirca  niicraiitlia  Gmel. 
und  'rriiiciiiii  villositm  M.  B.  Ihnen  gesellten  sich 
noch  hin  und  wieder  folgende  gleichfalls  un- 
zweifelhaft mazedonische  Arten  bei :  Silciic  para- 
doxa  L.,  Diaiitlius  anneriasiruin  Wolfner,  Tri- 
folimif  dalmatitiiiii  Vis.,  Bitplciiniin  aristatuvi 
Bartl. ,  Caldiiiiiitlia  pataviiia  Jacq.,  A)iiaranius 
albus  L.,  PtcrotJicca  bifida  Vis.  u.  a.  Hervorzu- 
heben ist  noch  der  Nachweis  von  Sdcrantliits 
dichutoiiiKS  Schur  var.  scrpciitiiii  (Beck)  Bornm., 
einer  Serpentinpflanze,  die  bisher  nur  von  den 
sonnendurchglühten ,  pflanzenarmen  Felswänden 
der  Balkanhalbinsel  bekannt  war.  Den  veränderten 
Lebensbedingungen  ist  es  sicherlich  zuzuschreiben, 
wenn  diese  Abweichung,  die  auf  dem  den  Erzen 
mitunter  beigemengten  Serpentingestein  in  nur 
einigen  Exemplaren  beobachtet  wurde,  Neigung 
zeigte,  in  die  typische  Form  wieder  überzugehen. 

Daß  sich  auch  nur  einige  dieser  mazedonischen 
Pflanzen  bei  uns  einbürgern  könnten,  ist  kaum 
anzunehmen.  Vielmehr  dürften  diese  F"remdlinge 
nur    vorübergehende,    doch    recht    beachtenswerte 

')  Vgl.  Paul  Schuster,  Eine  Genossenschaft  maze- 
donischer Pflanzen  bei  Aken  an  der  Elbe.  Ferner  J.  Born- 
müUer,  Über  einen  bemerkenswerten  Fund  aus  der  Adven- 
tivflora von  Aken.  Verhandl.  bot.  Ver.  Prov.  Brandenburg. 
63.  Jahrg.,   1920/21. 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


269 


Erscheinungen  in  unserem  Pflanzenbestande  dar- 
stellen. Sie  sind  uns  ein  lehrreiches  Beispiel  da- 
für, wie  durch  die  kriegswirtschaftlichen  Maß- 
nahmen unsere  Adventivflora  beeinflußt  worden 
ist.  Entsprechende  Untersuchungen  ähnlicher 
Ortlichkeiten  wären  sehr  erwünscht,  damit  wir  ein 
klares  und  umfassendes  Bild  von  der  Einwirkung 
der  Kriegsverhältnisse  auf  unsere  Adventivflora 
gewinnen.  E.  Schalow  (Breslau). 


Ovarialcycliis  iiiul  Titeriis. 

In  einer  Übersicht  über  „den  Ovarialcyclus  und 
seinen  Einfluß  auf  die  Veränderungen  des  Uterus"  ') 
stellt  R.  Schröder  die  gegenwärtig  herrschende 
Anschauung  auf  diesem  Gebiete  dar.  Da  in  weiten 
Kreisen  noch  wenig  klare  Vorstellungen  über  diese 
Fragen  verbreitet  sind,  seien  hier  in  Kürze  die 
Hauptpunkte  des  Problems  angegeben,  wobei  die 
oben  genannte  Arbeit   als  Grundlage    dienen  soll. 

Die  Gebärmutter  muß,  um  den  Anforderungen 
während  der  Schwangerschaft  zu  genügen,  vorher 
einige  Veränderungen  durchmachen,  die  auf  die 
Einbettung  und  Ernährung  des  Eies  vorbereiten. 
Solclie  Veränderungen  finden  tatsächlich  statt, 
nicht  nur  vor  einer  Schwangerschaft,  sondern  auch 
bei  den  allmonatlich  erfolgenden  Eireifungen  — 
für  den  Fall,  daß  eine  Befruchtung  stattfindet. 
Mit  diesen  Veränderungen  des  Uterus  stehen  nun 
auch  die  Ei^eifungserscheinungen,  der  Ovarial- 
cyclus, in  engem  Zusammenhang.  Beim  Menschen 
beginnt  aller  28  Tage  eine  neue  Eireifung,  solange 
keine  Schwangerschaft  eintritt.  Zunächst  wächst 
nur  das  Ei,  während  die  Follikelzellen  an  Größe 
zurückbleiben.  Nach  etwa  14  Tagen  platzt  der 
Follikel,  wobei  das  Ei  aus  den  F"ollikelzellen  aus- 
tritt. Die  leere  FollikelhüUe  bildet  nun  den  sog. 
gelben  Körper,  der  als  Drüse  mit  innerer  Sekretion 
angesprochen  wird.  Innerhalb  3 — 4  Tagen  ist  die 
neu  entstandene  endokrine  Drüse  fertig  ausge- 
wachsen. Die  etwa  haselnußgroße  Drüse  ist  mit 
Fibrinmasse  erfüllt  und  von  einer  Granulations- 
membran umgeben.  Die  Granulosazellen  bleiben 
8 — 10  Tage  in  gutem  Zustand,  sie  schrumpfen 
aber  dann,  wenn  keine  Befruchtung  erfolgt  ist, 
ein.  Das  Ei  scheint  einige  Tage  im  Genital- 
schlauch frei  zu  leben  und  durch  einen  Hormon- 
strom den  gelben  Körper  in  Tätigkeit  zu  halten. 
Im  F'alle  der  Befruchtung  bleibt  das  Corpus 
luteum  noch  mehrere  Wochen  tätig.  Wird  das 
P^i  aber  nicht  befruchtet,  verschwindet  der  gelbe 
Körper  wieder.  Das  reifende  Ei  und  sein  Follikel 
wirken  nun  auf  die  Schleimhaut  des  Uterus.    Die 

')  Klinischi-   VVorhenschrift  Nr.  9,   i.  Jahrg.,   1922. 


basale  Schicht  dieser  Schleimhaut  wird  kaum  von 
den  Veränderungen  betroffen ;  aus  ihr  entwickelt 
sich  eine  sekundäre  Schicht,  die  den  Umwand- 
lungen in  hohem  Maße  unterlegen  ist,  sobald  die 
Eireifung  beginnt.  Zunächst  zeigt  diese  Schicht, 
die  sog.  Funktionalis,  rasch  zunehmende  Aus- 
breitung. Es  fallen  darin  Drüsen,  die  zunächst 
noch  keine  Sekretionszeichen  aufweisen,  auf  So- 
bald der  gelbe  Körper  jedoch  in  Tätigkeit  tritt, 
„entstehen  schleimanige  Eiweißprodukte  und  Fett 
im  Sinne  einer  Nährflüssigkeit  für  das  zu  erwartende 
Ei".  Die  Umwandlungen,  die  außerdem  —  wie 
schon  angedeutet  —  auf  die  Eieinbettung  vorbe- 
reiten, bleiben  während  der  Blütezeit  des  gelben 
Körpers  bestehen.  Gleichzeitig  mit  der  Rück- 
bildung des  Corpus  luteum  zerfällt  die  F'unktio- 
nalis.  Aus  der  entstandenen  Wundfläche  tritt  das 
Blut  heraus,  die  Menstruation  beginnt.  Nach 
3 "4  Tagen  ist  die  basale  Schicht  ausgeheilt,  am 
5.  Tag  nach  der  Blutung  entsteht  schon  die  neue 
Funktionalis;  ein  neues  Ei  beginnt  zu  reifen  und 
übt  mit  seinem  Follikel  von  neuem  den  ge- 
schilderten Einfluß  auf  die  Uterusschleimhaut  aus. 
Über  die  Zeitverhältnisse  des  Ovarialcyclus  gibt 
Schröder  sehr  übersichtliche  Angaben,  die  kurz 
wiedergegeben  seien,  da  sie  zur  besseren  Ver- 
ständlichkeit des  Gesamtvorganges  beitragen.  Wenn 
man  den  Cyclus  vom  i.  Tag  der  Menstruations- 
blutung ab  rechnet,  so  findet  vom  5.  bis  14.  Tag 
die  Eireifung,  FoUikelreifung  und  damit  die 
P'unktionalisproliferation  statt.  Dann  folgt  in  der 
Zeit  vom  14.  bis  16.  Tag  die  Ovulation,  vom 
16.  bis  28.  Tag  die  Eireife,  die  Entstehung  und 
Blüte  des  Corpus  luteum  und  die  Sekretionsphase 
in  der  Funktionalis.  Im  Falle  der  Befruchtung 
bleibt  das  Corpus  luteum  in  Blüte,  die  Decidua- 
umwandlungen  führen  zur  Eieinbettung;  im  Falle 
des  Eitodes  geht  der  gelbe  Körper  zurück,  zu- 
gleich auch  die  Funktionalis.  In  der  Zeit  vom 
I.  bis  3.  Tag  folgt  auf  die  Desquamation  die 
Wundflächenreinigung  der  Basalis,  am  4.  und 
5.  Tag  die  Epithelialisierung.  Darauf  beginnt  der 
neue  Cyclus. 

Die  Ausführungen  Schröders  sind  geeignet, 
dazu  beizutragen,  veraltete  Anschauungen  über 
den  Ovarialcyclus  (z.  B.  die,  daß  die  Ovulation 
während  der  Menstruation  stattfinde)  zu  beseitigen. 
Aus  der  Übersicht  geht  ferner  klar  hervor,  daß 
die  angedeuteten  Beziehungen  zwischen  Eireifung 
und  prägraviden  Veränderungen  des  Uterus  den 
Übergang  bilden  zu  den  gewaltigen  Veränderungen, 
die  schließlich  der  weibliche  Körper  während  der 
Schwangerschaft  durchmacht,  wobei  neben  dem 
Ovarium  sämtliche  endokrinen  Drüsen  eine 
wesentlich  veränderte  Rolle  zu  spielen  scheinen 
Gustav  Zeuner. 


Bücherbesprechungen. 


Driesch,  Hans,  Das  Ganze  und  die  Summe. 
Rede,    gehalten    bei    Antritt    der    ordentlichen 


Professur    für    Philosophie    an    der    Universität 
Leipzig.     Leipzig  192 1,  Em.  Reinicke.     6  M. 


270 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Wer  in  den  logischen  und  erkenntnistheore- 
tischen Problemen  der  Naturwissenschaft  nicht 
ganz  unbewandert  ist,  findet  in  der  vorliegenden 
kleinen  Broschüre  die  kürzeste  und  klarste  Dar- 
legung derjenigen  naturphilosophischen  oder  besser 
naturlogischen  Probleme,  die  Driesch  in  seinem 
an  Arbeiten  und  Ergebnissen  reichen  Leben  be- 
schäftigt haben,  zugleich  mit  jenen  Lösungen,  die 
er  zur  Zeit  für  die  richtigen  hält.  Der  Zusatz 
„zur  Zeit"  soll  unsere  Bewunderung  ausdrücken 
für  die  wirklich  seltene  Fähigkeit  Drieschs, 
unter  Wahrung  der  großen,  sein  Schaffen  charakteri- 
sierenden Linie  aus  dem  sog.  Fortschreiten  der 
Forschung  zu  lernen,  seine  Probleme  und  ihre 
Lösungen  immer  mehr  zu  klären  und  zu  prezi- 
sieren  und  last  not  least  unhaltbare  Aufstellungen 
aufzugeben.  So  ist  aus  dem  an  Aristoteles 
orientierten  Entelechiebegriff,  der  ursprünglich 
ohne  Zweifel  materiellen  Charakter  hatte,  die  rein 
logisch  zu  deutende  Ganzheitskategorie  geworden 
usw.  Gleichwohl  ist  zu  einer  abschließenden 
Würdigung  der  reichen  logischen  Lebensarbeit 
Drieschs  noch  nicht  die  Zeit  gekommen,  an 
dieser  Stelle  auch  nicht  der  richtige  Ort.  Durch 
seine  scharfen  Definitionen  und  seine  Festlegung 
prinzipieller  Grenzen  hat  er  außerordentlich  viel 
zur  logischen  und  sachlichen  Klärung  naturwissen- 
schaftlicher Probleme,  besonders  dem  der  Ent- 
wicklung und  der  theoretischen  Biologie  über- 
haupt, beigetragen,  obschon  seine  Vorliebe  gerade 
für  „prinzipielle"  Abgrenzungen  ihn  meines  Er- 
achtens  oft  hat  über  das  Ziel  hinausschießen 
lassen.  Denn  in  der  Natur,  deren  Beschreibung 
und  Beherrschung  doch  die  Naturwissenschaft 
ebenso  wie  ihre  Logik  leisten  soll,  gibt  es  keine 
prinzipiellen  Grenzen.  Das  zeigt  aufs  schlagendste 
der  neue  Begriff  des  Raum-Zeit-Kontinuums  in 
der  modernen  Physik.  Wer  hätte  vor  2  Jahr- 
zehnten es  überhaupt  für  möglich  gehalten,  zwei 
so  differente  Qualitäten  wie  Raum  und  Zeit  nicht 
nur  logisch,  wie  man  ja  Kants  bekannte  Lehren 
deuten  kann,  sondern  im  Hinblick  auf  reales 
Naturgeschehen  unter  einen  Hut  zu  bringen?  In 
der  Festlegung  alles  „Prinzipiellen"  sollte  man 
also  überaus  vorsichtig  sein.  Das  beste  wäre  es, 
diesen  Begriff  überhaupt  aus  der  wissenschaft- 
lichen Diskussion  zu  verbannen.  Infolgedessen 
wird  man  Drisch  in  seinem  unermüdlichen 
„prinzipiell  unmöglich",  das  er  immer  wieder  den 
mathematisch  orientierten  Naturwissenschaften  und 
ihrem  Abkömmling  in  der  Biologie,  der  Physio- 
logie, entgegenschleudert,  wenn  sie  immer  aufs 
neue  versuchen  —  und  meines  Erachtens  mit 
immer  wachsendem  Erfolge  1  — ,  die  Ganzheits- 
probleme und  die  Evolution  mit  mechanistischen, 
d.  h.  im  wahren  Sinne  eben  mathematischen, 
physikalischen,  chemischen  und  physiologischen 
IVIitteln  zu  bewältigen,  auf  die  Dauer  kaum  Ge- 
folgschaft leisten.  Wenn  wir  heute,  wie  die  Tätig- 
keit Einsteins,  Huberts  u.  a.  beweist,  selbst 
in  der  doch  als  so  fortgeschritten  geltenden 
Physik  die  Newtone  noch  nicht  entbehren  können, 


dann  ist  es  doch  wohl  reichlich  unbillig,  ihr  Auf- 
treten schon  in  der  Biologie  und  Psychologie  zu 
erwarten.  Es  wird  wohl  noch  einige  Zeit  ver- 
gehen, ehe  diese  Wissenschaften  dafür  reif  geworden 
sind,  d.h.  ehe  sie  mathematisch -axiomatsich  dar- 
stellbar sind.  Gleichwohl  darf  man  darum  das 
letzte  Ziel  doch  nie  aus  den  Augen  verlieren,  um 
so  weniger,  als  wir  doch  sehr  deutlich  gerade  an 
der  Biologie  sehen,  daß  sie  dank  der  genialen 
Förderung,  die  sie  sachlich  und  prinzipiell  durch 
R  o  u  X  und  viele  anderen  großen  Biologen  unserer 
Tage,  nicht  zuletzt  durch  Driesch  selbst  er- 
fahren hat,  die  logische  Vorstufe  jenes  königlichen 
Weges  der  Wissenschaft,  die  der  qualitativ- expe- 
rimentellen Wissenschaft  bereits  erreicht  hat.  Man 
kann  sich  bei  Driesch  eben  allzuoft  nicht  des 
Eindrucks  erwehren,  daß  er  die  Probleme  der 
Naturwissenschaft,  besonders  der  organischen,  un- 
nötig kompliziert,  aus  übergroßer  logischer  Vor- 
sicht einen  Popanz  aus  ihnen  macht,  von  dem 
sich  dann  wohl  mit  Recht  behaupten  läßt,  daß 
er  mechanistisch  unauflösbar  ist.  — 

Driesch  stellt  nun  in  dem  uns  vorliegenden 
Vortrag  an  die  verschiedenen  stufenartigen  Ab- 
wandlungen der  „Natur-  •Hind  Seelengegenstände" 
immer  wieder  die  drei  bedeutungsvollen  P'ragen : 
I.  Bloße  Summe  oder  Einheit?  2.  Nur  Einheit 
oder  Ganzheit.^  3.  Ganzheit  mit  nur  Kumulation 
oder  mit  evolutivem  Werden  ?  Während  nun  der 
Referent  in  einer  hier  früher  erschienenen  Arbeit 
(diese  Zeitschr.  1920,  Nr.  50)  den  Gedanken  der 
Stufenfolge  der  Probleme  der  verschiedenen  Natur- 
wissenschaften von  der  Physik  bis  zur  Soziologie 
benutzte,  um  das  langsame  Vordringen  der  mecha- 
nistischen Idee  zu  demonstrieren,  kommt  Driesch 
hier  überall  zu  dem  entgegengesetzten  Resultat, 
daß  das  Verfahren  der  bloßen  „Summe",  als 
welches  er  alles  IMechanistische  charakterisiert,  in 
keinem  Falle  genügt,  unsere  Probleme  befriedigend 
zu  lösen.  Die  Rationalität,  die  die  mathematische 
Erkenntnis  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Natur- 
wissenschaft bietet,  erkennt  Driesch  als  solche 
zwar  an,  billigt  ihr  aber  nur  einen  untergeordneten 
Rang  zu.  Als  höchst  mögliche  Form  der  Ratio- 
nalität erscheint  ihm  jene,  die  „die  Geschichte 
der  großen  Schauungsakte  wissenschaftlicher, 
künstlerischer,  ethischer  und  religiöser  Aufgaben" 
zu  bieten  imstande  ist.  Es  handelt  sich,  wie  man 
sieht,  um  das,  was  man  metaphysisches  Erkennen 
oder  Erleben  zu  nennen  gewohnt  ist.  „IWöchten 
die,  so  schließt  Driesch  seine  Darlegungen, 
welche  noch  immer  das  summenhafte  Erfassen 
als  das  letzte  Ziel  preisen,  wenigstens  zugeben, 
daß  sie  sich  am  Grunde,  wenn  auch  in  wunder- 
barer Klarheit,  nur  auf  der  untersten  Stufe  der 
Rationalität  bewegen,  und  daß  sie  andererseits 
noch  nie  eine  Ä  uflösung  der  Ganzheits- 
probleme mit  ihren  Mitteln  wirklich 
auch  nur  einigermaßen  erreicht  habe n." 
Da  können  wir  nun  freilich  nicht  mehr  mit,  wir 
sind  im  Gegenteil  überzeugt,  dieses  Ziel  schon 
oft  erreicht    zu  haben    und  noch  oft  erreichen  zu 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


271 


werden,  sowie  davon,  daß  es  eine  höhere  Ratio- 
nalität als  die,  die  die  Mathematik  vermittelt, 
überhaupt  nicht  geben  kann,  sowie  endlich,  daß 
alle  Metaphysik,  wie  wir  auch  an  Driesch  zu 
sehen  glauben,  unbedingt  in  der  Mystik  endet, 
von  der  wir  überzeugt  sind,  daß  sie  die  Selbst- 
vernichtung aller  Rationalität  bedeutet,  die  Ver- 
kehrung in  ihr  Gegenteil. 

Doch,  hier  liegen  wohl  schließlich  schlechthin 
unvereinbare  wissenschaftliche  Glaubensbekennt- 
nisse vor,  die  sich  nur  durch  die  wissenschaftliche 
Arbeit  selbst  auf  die  Dauer  werden  beweisen  oder 
widerlegen  lassen.  Im  übrigen  können  sie  nichts 
Besseres  tun,  als  durch  gegenseitige  Kritik  von- 
einander zu  lernen,  sich  so  zu  fördern  und  in 
allem  anderen  sich  mit  jener  aufrichtigen  Hoch- 
achtung, die  allem  echten  Forschen  zukommt,  zu 
begegnen.  Adolf  Meyer. 


Lundborg,  Dr.  Hermann,  Rassenbiologische 
Übersichten  und  Perspektiven.  Jena 
192 1,  G.  Fischer.  6  M. 
Es  ist  nicht  selten  der  Versuch  gemacht 
worden,  gesellschaftliche  und  politische  Fragen 
unter  dem  Gesichtswinkel  der  Biologie  zu  be- 
trachten, meist  mit  geringem  Erfolg.  Merkwürdig 
ist  aber,  wie  wenig  bisher  eine  moderne  Natur- 
wissenschaft, nämlich  die  auf  sehr  gesicherten 
Grundlagen  ruhende  Vererbungslehre,  in  ihren 
Anwendungen  auf  soziale  und  politische  Probleme 
gewürdigt  wurde.  Der  Verf,  bekannt  durch  seine 
bedeutenden  Untersuchungen  zur  Familienforschung 
innerhalb  eines  schwedischen  Bauerngeschlechts, 
setzt  sich  in  diesem  Heft  in  unübertrefflich  klarer 
und  überzeugender  Weise  mit  allerlei  Schlag- 
worten auseinander,  die  das  öffentliche  Leben  in 
einer  oft  verhängnisvollen  Weise  beherrschen.  Er 
zerstört  die  Legenden  von  der  Gleichheit  der 
Menschen,  von  der  Allmacht  des  Umweltein- 
flusses, von  der  Vererbung  erworbener  Eigen- 
schaften, erörtert  die  Bedeutung  der  biologischen 
Zusammensetzung  der  Völker,  den  rassenbiolo- 
gischen Wert  verschiedener  Gesellschaftsklassen, 
die  Ursachen  des  Aufstiegs  und  des  Niederganges 
von  Familien  und  Staaten  usw.,  alles  auf  dem 
Grunde  der  Tatsachen,  die  man  heute  als  ge- 
sicherten Besitz  der  Forschung  ansehen  darf.  Das 
Büchlein  ist  wie  kein  zweites  geeignet,  den  Laien 
auf  biologischem  Gebiet  als  Führer  zu  dienen 
und  ihm  zu  zeigen,  welche  außerordentliche  Be- 
deutung die  Untersuchung  menschlicher  Erblich- 
keitsfragen für  unser  öffentliches  Leben  besitzt. 
Miehe. 

Bretscher,    K.,    Der   Vogelzug    in    Mittel- 
europa.    Mit   16  Karten  und  vielen  Tabellen. 
Innsbruck  1920,   Druck  der  Wagnerschen  Uni- 
versitätsdruckerei. 
K.   Bretscher   untersucht    auf  Grund   einer 

umfangreichen  aviphänologischen  Statistik  die  Zug- 


verhältnisse zahlreicher  europäischer  Vogelarten 
in  bezug  auf  ihre  Zugrichtung.  Seine  Unter- 
suchungen erstrecken  sich  hauptsächlich  auf  den 
Frühjahrs-  und  Herbstzug  in  der  Schweiz,  die  er 
in  3  Beobachtungsgebiete  (ein  westliches,  ein 
mittleres  und  ein  östliches)  einteilt.  Die  meisten 
Vogelarten  treffen  im  Frühjahr  von  Westen  her, 
aus  der  Richtung  des  Genfer  Sees  und  des  Jura 
in  der  Schweiz  ein,  2  Arten  (Rauchschwalbe  und 
Blaukehlchen)  von  Westen  und  Osten  und  eine 
Art  (Gartengrasmücke)  von  Osten.  Dagegen 
bildet  das  Eintreffen  von  Süden  her  über  die 
Alpen  eine  Ausnahme  und  zeigt  sich  nach  Bret- 
schers  Angaben  nur  bei  solchen  Vögeln,  deren 
Brutgebiet  die  den  Alpen  vorgelagerten  Täler 
sind.  Für  den  Herbstzug  gelten  ähnliche  Verhält- 
nisse; jedoch  hat  das  statistische  Material  hier 
weniger  sichere  Unterlagen  gegeben.  Die  Unter- 
suchungen Bretschers  stimmen  mit  den  Er- 
gebnissen der  Vogelberingung  überein,  durch  die 
nachgewiesen  werden  konnte,  daß  der  Herbstzug 
der  meisten  Zugvögel  aus  dem  mittleren  und 
nördlichen  Europa  in  westlicher  und  südwest- 
licher Richtung  unter  Umgehung  der  Alpen  ver- 
läuft, worauf  auch  Bretscher  mit  Recht  hin- 
weist. Bretscher  weist  ferner  nach,  daß  auch 
in  Elsaß- Lothringen  und  in  Ungarn  die  Vögel  im 
Frühjahr  aus  verschiedenen  Richtungen  eintreffen, 
wobei  er  sich  ebenfalls  auf  ein  großes  Zugdaten- 
material und  die  Arbeiten  ungarischer  Ornitho- 
logen  stützt.  Zwischen  dem  Frühjahrszug  in 
Elsaß-Lothringen  und  in  der  Schweiz  läßt  sich 
jedoch  kein  näherer  Zusammenhang  erkennen.  Dem 
Zusammenhang  des  Vogelzuges  mit  der  Witterung 
ist  ein  besonderes  Kapitel  gewidmet.  Der  Verf 
vertritt  hier  die  schon  in  früheren  Schriften  ge- 
äußerte Ansicht,  daß  die  Witterungsverhältnisse 
ohne  entscheidenden  Einfluß  auf  die  Zugbewegung 
sind,  sofern  es  sich  nicht  um  ganz  ungünstige 
und  abnorme  Wetterlagen  handelt.  Es  sei  hier 
auf  eine  frühere,  sehr  wertvolle  Arbeit  Bret- 
schers hingewiesen:  „Der  Vogelzug  im  schweize- 
rischen Mittelland  in  seinem  Zusammenhang  mit 
den  Witterungsverhältnissen"  (Neue  Denkschriften 
der  Schweizerischen  Naturforschenden  Gesell- 
schaft, 1915),  in  der  der  Autor  an  der  Hand  einer 
sehr  umfangreichen  Statistik  nachgewiesen  hat, 
daß  der  Vogelzug  unabhängig  von  Temperatur, 
Luftdruck,  Feuchtigkeit  und  Windverhältnissen 
verläuft. 

Dem  Verf.  gebührt  der  Verdienst,  daß  er  ver- 
sucht hat,  das  gewaltige  Material  an  Zugsdaten, 
das  sich  über  Jahrzehnte  erstreckt,  nach  einheit- 
lichen Gesichtspunkten  zu  ordnen  und  zu  be- 
arbeiten, was  für  die  Erforschung  des  Vogelzuges 
von  allergrößtem  Wert  ist. 

Das  streng  wissenschaftlich  geschriebene  Buch 
mit  der  tabellarischen,  zahlenmäßigen  Darstellung 
der  Zugbewegungen  erfordert  zu  seinem  Ver- 
ständnis ein  tieferes  Studium. 

Friedrich  von  Lucanus,  Berlin. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  19 


Anregungen  und  Antworten. 


Bei  den  letzten  Wisenten  in  Plefi.  Um  die  in  letzter  Zeit 
umherschwirrenden,  unkontrollierbaren  Gerüchte  über  die 
Plesser  Wisente  an  Ort  und  Stelle  nachprüfen  zu  könoen, 
unternahm  ich  am   19.  3.  d.  J.   einen  Ausflug  ins  Wisentrevier. 

Schon  im  Januar  hatte  mir  das  fürstliche  Forstamt,  auf 
verschiedene  noch  schwebende  Fragen  aufmerksam  gemacht, 
die  Genehmigung  zu  eingehenderen  Studien  erteilt.  Die  Wild- 
rinder werden  bekanntlich  seit  den  60  er  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts  im  Tiergarten  gehalten,  der  sich  von  Studzienitz 
östlich  bis  Meseritz  hinzieht,  sie  zogen  freilich  in  den  Sommern 
der  Vorkriegszeit  gelegentlich  auch  weiter  in  die  angrenzenden 
fürstlichen  Reviere,  niemals  belästigt  vom  Menschen  und  da- 
rum auch  recht  ,, vertraut"  in  nächster  Nähe  desselben  äsend. 
Das  wurde  nun  leider  anders  als  die  Revolutionszeit  bald 
ihren  Bestand  stark  dezimierte.  Schließlich  blieb  aber  wenig- 
stens eine  Herde  von  22  Stück  (Ende  1920)  zurück,  und  die 
fürstliche  Verwaltung  gab  sich  der  Hoffnung  hin,  diese  Herde 
wenigstens  zu  erhalten,  um  so  mehr  als  durch  Eintausch  eines 
vierjährigen,  kaukasischen  Wisentbullen  für  Blutauffrischung 
gesorgt  worden  war.  Diese  Hoffnungen  sind  nun  auch  durch 
den  Polenaufstand  1921  zunichte  geworden.  Alle  Wildrinder 
bis  auf  5  (fünf)  fielen  den  Geschossen  aus  Infanteriegewehten, 
Karabinern  und  Mauserpistolen  zum  Opfer.  Der  größte  Teil 
der  angeschossenen  Tiere  verluderte,  und  nur  von  einem  letzten 
Stück,  aus  einer  Mauserpistole  angeschossen,  konnte  wenigstens 
das  Wildbret  geborgen  werden. 

Die  Wisente  pflegten  den  Winter  über  sich  in  der  iN'ähe 
der  Futterstellen  aufzuhalten.  Die  großartig  angelegten 
,, Raufen"  und  ,, Tränken"  zeugen  noch  jetzt  von  dem  einstigen 
Betrieb.  Die  ,, Raufen"  selbst  sind  überbaut  von  mächtigen 
Scheueranlagen,  in  denen  der  Ileubedarf  gespeichert  wurde, 
bis  auch  das  nicht  mehr  anging,  weil  die  Heuvorräte  andauernd 
gestohlen  wurden.  Man  sah  noch  die  einzelnen  Gatter,  in 
denen  z.  B.  die  Jungrinder  abgesondert  werden  konnten,  die 
sog.  Falle,  durch  welche  das  zum  Abschüsse  bestimmte  Wild 
getrieben  wurde,  um  am  Jagdtage  in  den  „Kessel"  gelassen 
zu  werden. 

Das  kleine  Restrudel  ließ  uns  ruhig  herankommen.  Hatten 
die  einzelnen  Tiere  gemächlich  wiederkäuend  zerstreut  umher- 
gelegen, so  sammelten  sie  sich  jetzt,  blieben  aber  auf  15 — 20 
Schritte  beisammen.  Etwa  20  Minuten  hatten  wir  so  Gelegen- 
heit, sie  von  allen  Seiten  eingehend  zu  mustern.  Da  waren 
zunächst  die  ältesten  und  stattlichsten  Stücke,  2  Kühe  (ca.  15 
bis  1 8  Jahre  alt,  Altersschätzungen  nach  Hegemeister  Schwede), 
von  denen  die  eine  von  einem  Anschuß  her  noch  merkbar 
lahmte.  Beide  schienen  uns,  die  wir  keine  Anstalten  machten, 
uns  bald  wieder  zu  entfernen,  nur  mit  Mißtrauen  zu  betrachten. 
Sie  waren  es  auch,  die  zuerst  abzogen.  Eine  jüngere,  erheb- 
lich geringere  Kuh  (ca.  achtjährig,  hatte  schon  Kälber  gehabt, 
war  aber  jetzt  offenbar  nicht  ,, beschlagen". 

Schließlich  sind  die  .Stiere  zu  erwähnen,  ein  4 jähriger 
und  ein  I '/■:  jähriger  Bulle,  die  sehr  munter  waren  und  kleine 
Scheinkämpfe  veranstalteten.  Dabei  hatte  der  eine  mit  seinen 
nach  innen  gebogenen  Hörnern  den  Vorderlauf  seines  Ge- 
fährten gefangen,  was  diesen  zu  recht  spaßigen  Befreiungs- 
versuchen veranlaßte.  Leider  ist  auch  der  ältere  Bulle  „an- 
gekratzt", die  größere  Wedelhälfte  wurde  ihm  abgeschossen. 
Hier  ist  vielleicht  der  Ort,  um  einen  Irrtum  der  Literatur  zu 
berichtigen.  In  Me  er  w  a  r  th- So  ff  el  Bd.  4,  S.  222  ist  von 
einer  Schwanzquaste  des  Wisents  zu  lesen.  Eine  solche  hat 
zwar  der  amerikanische  Bison  (B.  americanus),  den  Plesser 
Wisenten  fehlt  sie,  vielmehr  ist  ihr  Schwanz  von  der  Wurzel 
an,  ziemlich  gleichmäßig,  langbehaart. 

Aus  den   eben  mitgeteilten  Beobachtungen  ergibt  sich,   daß 


von  drei  weiblichen  Wisenten  zwei  bestimmt  für  die  Nach- 
zucht ausscheiden  dürften,  das  3.  Stück  (mindestens  8  Jahr 
alt)  macht  einen  kümmerlichen  Eindruck,  und  es  erscheint 
nicht  ausgeschlossen,  daß  auch  diese  Kuh  noch  Verletzungen 
erlitten  hat.  Die  Hüllen  scheinen  gesund  und  zeugungsfähig. 
Alles  in  allem  aber  wird  man  sich  aller  Hoffnungen  auf  eine 
längere  Erhaltung  der  Wisente  wohl  begeben  müssen. 

Wie  mir  gesagt  wurde,  hat  ein  Plan  bestanden,  die 
letzten  Wisente  in  ein  Revier  nach  Deutschland  zu  verpflanzen, 
wo  sie  nicht  den  Gefahren  der  baldigen  Ausrottung  ausge- 
setzt wären.  Sofort  aber  brachten  polnische  Zeitungen  diese 
Nachricht  mit  der  Aufforderung,  den  Abtransport  nicht  dulden 
zu  wollen.  Es  hat  weiter  nicht  an  Drohungen  gefehlt,  die 
besagten,  man  wolle  die  Wisente  lieber  alle  erschießen,  ehe 
man  sie  den  Deutschen  überlassen  würde.  Daraufhin  ist 
von  einer  Verwirklichung  des  Planes  Abstand  genommen 
worden. 

Dies  ist  also  etwa  der  gegenwärtige  Stand  der  Wisent- 
frage. Die  oberschlesische  naturforschende  Gesellschaft  hat 
sich  das  Ziel  gesetzt,  noch  in  letzter  Stunde  alles  über  die 
Lebensgeschichte  der  schlesischen  Wisente  zu  sammeln.  Über 
das  Ergebnis  soll  dann  auch  an  dieser  Stelle  Mitteilung  ge- 
macht werden.  Gleichzeitig  bitte  ich  alle  Gesellschaften,  Ver- 
eine, Privatpersonen ,  deren  Anfragen  im  einzelnen  zu  beant- 
worten mir  unmöglich  ist,  diese  Zeilen  als  Antwort  betrachten 
zu  wollen. 

Ed.  J.   R.   Scholz,  Königshütle  (obersihl.), 
Kaiserstr.  80. 


Literatur. 

.■\us  Natur  und  Geisteswelt. 

Bd.  569.  Molisch,  H.,  Pflanzenphysiologie.  2.  Aufl. 
Leipzig-Berlin   '22,  Verlag  von  Teubner. 

Bd.  589.  Lindow,  M.,  Difterentialgleichungen.  Leip- 
zig-Berlin '21,  Verlag  von  Teubner. 

Bd.   765.     V.Franz  und  H.Schneider,  Einführung 
in  die  Mikrotechnik.     Leipzig-Berlin  '22,    Verlag  v. 
Teubner. 
Sammlung  Göschen. 

Nr.  485.  Pilger,  Prof.  Dr.  Robert,  Die  Stämme  des 
Pflanzenreiches.  Berlin  und  Leipzig  '21,  Vereinigung 
Wissenschaft!.  Verleger. 

Nr.  55Ü.  Mi  ehe,  Prof.  Dr.  II.,  Zellenlehre  und  Ana- 
tomie der  Pllanzen.  Berlin-Leipzig  '21,  Vereinigung 
wissei;schaftl.   Verleger.     Geb.  9  M. 

Nr.  682.     Mannheim,  Prof.  Dr.  E.,  Pharmazeutische 
Chemie.      IV.    Übungspräparate.      2.    Aufl.      Berlin- 
Leipzig    '21 ,     Vereinigung    wissenschaftl.    Verleger. 
Keclams  Universal-Hibliothek. 

Nr.  6275.      Brehm,    A.    E.,    Das    Leben    der    Vögel. 

I.  Band. 

Nr.  6276.       Brehm,    A.  E. ,    Das    Leben    der    Vögel. 

II.  Band. 

Nr.  6277.      Brehm,    A.  E. ,    Das    Leben    der    Vögel. 

III.  Band. 

Petzoldt,  J. ,  Wissenschaft  und  Hypothese  XIV.  Das 
Weltproblem.  3.  Aufl.  Leipzig  und  Berlin  '22,  Verlag  von 
B.  G.  Teubner.     Geb.  40  M. 

Lietzrnann  und  A.  VVitting,  A.,  Mathematisch-physi- 
kalische Bibliothek.  Band  42.  Mathematik  und  Biologie  von 
Dr.  M.  .Schips.  Leipzig  und  Berlin  '22,  Verlag  von  B.  G. 
Teubner.      Kart.   6   M. 


(1   Karte.)    S.  257. 
iliche  Modifikation  de 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,   Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Patz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  14.  Mai  1922. 


Nummer  30. 


Neuer  Rekonstruktionsversuch  eines  liassischen  Flugsauriers. 


Von  Carl  Stieler. 


[Nachdruck  verboten.]  Mit   6    Abbildi 

Die  mesozoische  Gruppe  der  Flugsaurier  — 
Zeugen  eines  zwar  zeitweise,  aber  nicht  für  die  Dauer 
geglückten  Versuchs  des  Reptilstamms,  sich  die 
Luft  zu  erobern  —  birgt  auch  heute  noch  eine 
Fülle  von  Problemen.  Diese  treten  am  klarsten 
in  den  Rekonstruktionsversuchen  zutage,  die  in 
ihrer  Verschiedenartigkeit  erkennen  lassen,  wie 
weiter  Spielraum  subjektiver  Auffassung  gelassen 
ist,  wie  weniges  sicher  steht. 

Abel')  berichtet  1919  N  in  aller  Kürze  über 
verschiedene  derartige  Versuche,  und  bringt  selbst 
einige  neue  Bilder,  sowohl  aus  dem  Bereich  der 
langschwänzigen  Rhamphorhynchiden  wie  der 
kurzschwänzigen  Pterodactylen.  Rekonstruktionen 
der.  letzteren  sind  häufiger  versucht  worden,  was 
z.  T.  darin  begründet  liegt,  daß  sie,  zwar  später 
wie  die  Langschwänzer  auftretend,  noch  bis  in  die 
obere  Kreide  fortlebten,  während  jene  mit  dem 
Jura  erloschen.  Die  Kreide  hat  denn  auch  das 
meiste  an  Flugsaurierresten  geliefert. 

Abel  19 12  hat  sehr  mit  Recht  darauf  hinge- 
wiesen, daß  unter  dem  Namen  der  Pterodactylen 
verschiedene  Fliegertypen  einbegriffen  sind,  wäh- 
rend die  Rhamphorhynchiden  durchweg  Segler 
gewesen  sein  dürften.  Auch  hinsichtlich  der 
Größe  sind  die  letzteren  einheitlicher  (Klafterweite 
etwa  zwischen  0,4  und  2  m),  während  die  Kurz- 
schwänzer von  Sperlingsgröße  bis  8  m  Klafter- 
weite vorkommen. 

Bislang  wurde,  wie  Abel  1919  N  betont,  fast 
nur  versucht,  die  Tiere  fliegend  oder  kletternd 
zu  zeichnen,  nicht  aber  in  Ruhestellung.  Das 
nächstliegende  bei  einem  Flugtier  ist  ja  auch,  es 
fliegend  abzubilden,  während  die  starken  Krallen, 
besonders  an  der  Hand,  dazu  verleiten  mußten, 
es  klettern  zu  lassen.  Daß  die  Tiere  fliegen 
konnten  ist  heute  unbestritten.  Streit  herrscht 
schon  über  die  Kletterfrage,  besonders  über  das 
„wie". 

Die  Lösung  dieser  Probleme  ist  dadurch  er- 
schwert, daß  (von  einem  Schädel  aus  dem  oberen 
Lias  Englands  abgesehen)  mit  Ausnahme  der 
Vorkommen  am  Tendaguru  in  DeutschOstafrika, 

')  Auf  diesen  Autor  wird  folgendermaßen  Bezug  genom- 
men werden  (die  Zahl  bedeutet  das  Erscheinungsjahr  der 
Arbeit) ; 

Abel   1912;  Paläobiologic  der  Wirbeltiere; 
,,        1919  W '•  Die  Stämme  der  Wirbeltiere; 
„        1919  N:    Neue    Rekonstruktion    der    Flugsaurier- 
gattungen Pterodactylus    und    Rhampho- 
rhynchus.         Die      Naturwissenschaften, 
7.  Jahrg.,  Berlin; 
„        1922:    Lebensbilder  aus  der  Tierwelt  der  Vorzeit. 


mgen  im  Text. 

und  im  Cambridge  Greensand,  die  dünnen  pneu- 
matischen Knochen  stark  verdrückt  sind,  und  da- 
her keinen  sicheren  Schluß  über  Gelenkungsmög- 
lichkeiten zulassen,  wenn  auch  durch  viele  Funde 
das  allgemeine  Bild  der  einzelnen  Knochen  fest- 
steht. Und  wieder  ist  es,  als  wolle  die  Natur  die 
Rekonstruktionsversuche  möglichst  erschweren :  an 
den  genannten  Fundpunkten  finden  sich  keine 
Skelette  im  Zusammenhang,  speziell  am  Tenda- 
guru ist  ein  Gemisch  ganz  verschiedenartiger 
Typen  geborgen  worden. 

Ein  glücklicher  Fund  (die  ersten  Knochenreste 
fand  meine  Frau)  versetzt  mich  in  die  Lage,  einen 
Beitrag  zur  Rekonstruktionsfrage  zu  liefern.  Im 
oberen  Lias,  denselben  Schichten,  aus  denen  die 
schönen  Platten  von  Holzmaden  in  Württemberg 
stammen,  fanden  sich  bei  Flechtorf  im  Braun- 
schweiglschen  Teile  eines  Flugsauriers,  die  in  eine 
Geode  eingebettet  sind,  und  dadurch  vor  der 
Verdrückung  bewahrt  blieben,  die  ihre  Alters- 
genossen betroffen  hat.  Die  Auswertung  des 
Fundes  soll  einer  ausführlicheren  Arbeit  vorbe- 
halten bleiben  und  hier  nur  das  herausgegriffen 
werden,  was  für  die  Rekonstruktion  in  Frage 
kommt. 

Es  handelt  sich  um  Knochen  von  Dorygnathns 
banthaisis  Theod.  sp.,  eine  Art,  von  der  schon 
eine  Reihe  von  Funden  vorliegen,  und  über  die 
Arthaber')  ausführlich  gearbeitet  hat.  Aller- 
dings kann  ich  ihm  in  manchen  Punkten  nicht 
beipflichten,  wie  sich  im  Verlauf  zeigen  wird. 
Wegen  Literaturnachweis  von  Arbeiten  die  älter 
als  die  Arthabersche  sind,  sei  auf  sie  verwiesen, 
im  folgenden  wird  nunmehr  Autor  und  Erschei- 
nungsjahr angeführt. 

Ehe  auf  die  einzelnen  Teile  des  Flechtorfer 
Stücks  eingegangen  wird,  ein  paar  Worte  über 
den  Erhaltungszustand  der  Extremitätenknochen. 
Manche,  z.  B.  Ober-  und  die  obere  Hälfte  des 
Unterschenkels,  einige  Mittelfußknochen,  sowie 
Fußphalangen  und  solche  von  Krallenfingern, 
konnten  aus  dem  Gestein  herauspräpariert  werden. 
Bei  den  anderen  war  diese  Methode  nicht  anwend- 
bar,  da  die  Geode   gespalten  war  und  die  Spalt- 

')  Studien  über  Flugsaurier  auf  Grund  der  Bearbeitung 
des  Wiener  Exemplares  von  Dorygnathus  banthensis  Theod. 
sp.  Denkschr.  Akad.  Wissensch.  Wien,  math.-naturw.  Klasse, 
97.  Bd.     Wien   1919. 

Auf  diese  Arbeit  ist  Bezug  genommen  wenn  Arthaber 
ohne  Zahl  zitiert  wird. 

Arthaber  192 1  bedeutet  dessen  Arbeit :  Über  Entwick- 
lung, Ausbildung  und  Absterben  der  Flugsaurier.  Paläonto- 
logische Zeitschrift,  4.  Bd.,  Berlin  1921. 


274 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  20 


fiäche  die  meisten  Knochen  der  Länge  nach  durch- 
setzte, sich  also  Reste  auf  Platte  wie  Gegenplatte 
fanden.  Was  hier  als  Gegenplatte  bezeichnet 
wird,  war  aber  seinerseits  in  mehrere  Stücke  zer- 
sprungen, und  leider  ist  es  nicht  gelungen,  sie 
alle  zu  finden.  Auf  beiden  Platten  wurden  die, 
z.  T.  schon  herausgefallenen,  Knochenreste  vollends 
vorsichtig  zerstört,  unter  peinlichster  Schonung 
des  umgebenden  Gesteins.  Nun  konnten  Gips- 
abgüsse der  einzelnen  Knochen  hergestellt  werden, 
die  unter  Zuhilfenahme  von  Gelatineabgüssen 
(wegen  zurückspringender  Ecken  usw.)  ergänzt 
wurden.  Da  Platte  und  Gegenplatte,  mit  Aus- 
nahme weniger  kleiner  Splitter,  direkt  aufeinander- 
liegen ,  war  es  möglich ,  einwandfreie  Knochen- 
modelle zu  erhalten.  Auf  diese  Weise  wurden 
Ober-  und  Unterarm,  sowie  Coracoid-Scapula  ge- 
wonnen. Von  der  unteren  Partie  des  Unter- 
schenkels, der  Mittelhand,  Carpalregion ,  sowie 
I.  und  2.  Flugfingerphalange  dagegen  war  großen- 
teils nur  die  eine  Seite  zu  gewinnen.  Hier  mußte 
das  Fehlende  nach  anderem  Material  ergänzt  wer- 
den. Ein  besonderer  Glücksfall  ist  es,  daß  von 
den  beiden  in  Fig.  3  als  i  und  3  bezeichneten 
Handwurzelknochen  die  einander  zugewandte  Seite 
erhalten  war,  die  auf  allen  übrigen  Dorygnathus- 
platten  verdeckt  ist.  So  konnte  ihre  Form,  und 
namentlich  die  später  zu  besprechende  Gelenkung 
festgestellt  werden.  Ergänzung  der  gefundenen 
und  Nachbildung  fehlender  Knochen  war  die 
nächste  Aufgabe. 

Durch  das  Entgegenkommen  der  Herren  Geh.- 
Rat  Pomp  eck  j,  dem  ich  auch  sonst  für  manche 
Anregung  zu  danken  habe,  Prof.  Dr.  Hennig, 
Dr.  Häuf f- Holzmaden  und  Pater  Gottfried- 
Banz,  denen  auch  an  dieser  Stelle  herzlichster  Dank 
ausgesprochen  sei,  stand  mir  dazu  reichliches 
Vergleichsmaterial  zur  Verfügung.  Ich  konnte 
untersuchen:  Das  von  Arthaber  angeführte 
Berliner  Exemplar  (Berlin  gr.),  ein  zweites  solches 
in  Berlin  (Berlin  kl.)  das  Arthaber  überraschen- 
derweise als  Campylognathus  bezeichnet,  unter 
welchem  Namen  er  auch  Teile  davon  abbildet. 
Außerdem  Gipsabgüsse  des  Wiener  und  Löwener 
Stücks,  beide  gleichfalls  in  Berlin.  In  Tübingen 
durfte  icli  die  von  Plieninger  1907  beschrie- 
benen Reste  sowie  das  prächtige,  noch  unbe- 
schriebene Stück  untei'suchen,  von  dem  Art- 
haber  ein  Lichtbild  vorlag.  In  Holzmaden  ge- 
währte mir  Herr  Dr.  Hauff  Einblick  in  neue 
Funde,  und  in  Banz  konnte  ich  die  Originale  von 
Theodori   1852  studieren. 

Als  ganz  besonders  günstig  erwies  sich,  daß 
alle  bisher  gefundenen  Reste  von  Dorygnathus 
der  einen  Art  baiilJieiisis  angehören,  und,  trotz 
verschiedener  individueller  Größe,  sich  für  jedes 
Stück  der  genannten  Platten  eine  einheitliche  In- 
dexziffer ergab,  mit  deren  Hilfe  die  Knochen 
rekonstruktiv  auf  das  Maß  der  Mechtorfer  ge- 
bracht werden  konnten.  Nur  von  Mittelhand  und 
-fuß  distalwärts  ergaben  sich  Größenschwankungen, 
die    aber    nur    einen   geringen  Bruchteil    der   Ge- 


samtlänge des  jeweiligen  Knochens  ausmachen, 
und  als  individuell,  großenteils  wohl  durch  ver- 
schiedenes Lebensalter  der  Tiere  bedingt,  be- 
trachtet werden  dürfen.  Geschlechtsunterschiede 
waren  im  Knochenbau  nicht  nachweisbar.  Von 
allen  im  Zusammenhang  gefundenen  Skeletten 
ist  das  Hechtorfer  das  größte;  übertroffen  wird 
es  von  keinem,  wohl  aber  erreicht  von  einem 
Unterkiefer  (Münchener  Original  Oppels)  und 
einigen  Banzer  Knochen. 

Durch  den  Vergleich  der  unverdrückten  Flech- 
torfer  Stücke  mit  den  genannten,  konnte  über 
Art  und  Stärke  der  Pressung  der  letzteren  Klar- 
heit gewonnen  werden,  so  daß  sich  die  Ver- 
drückung beim  Nachmodellieren  mit  recht  großer 
Sicherheit  ausschalten  ließ.  Außerdem  stand  mir 
in  Berlin  noch  viel  Material  von  anderen  Flug- 
sauriergattungen zur  Verfügung,  und  überließ  mir 
mein  Kollege  Dr.  Reck  zum  Vergleich  das  von 
ihm  z.  Zt.  bearbeitete  Tendagurumaterial,  aus  dem 
wertvolle  Schlüsse  gezogen  werden  konnten. 
Namentlich  hinsichtlich  der  letzten  Flugfinger- 
phalange (s.  sp.)  war  dieses  bedeutungsvoll,  ergab 
sich  doch,  daß  die  genannte  Phalange  verdrückt 
dasselbe  Bild  ergeben  würde  wie  es  die  Dory- 
gnathus- und  andere  Rhamphorhynchiden  Platten 
zeigen. 

Auf  diese  Verhältnisse  mußte  ausführlich  ein- 
gegangen werden,  weil  die  so  gewonnenen  Modelle 
die  Grundlage  bilden  für  die  weiteren  Unter- 
suchungen. Die  Mehrzahl  der  Gipsmodelle  wurde 
von  mir  persönlich  hergestellt  unter  peinlichster 
Berücksichtigung  jeder  Einzelheit.  Hat  das  Flech- 
torfer  Material  die  hauptsächlichsten  Extremitäten- 
knochen geliefert,  so  konnte  aus  dem  anderen 
Material  das  Fehlende  soweit  ergänzt  werden, 
daß  Klarheit  über  fast  alle  Skelettelemente 
entstand.  Auf  anatomische  Einzelheiten  einzu- 
gehen ist  hier  nicht  der  Platz,  es  wird  nur  Funktio- 
nelles besprochen  werden  mit  Feststellungen  über 
den  Befund  soweit  er  sich  nicht  mit  Arthabers 
Darstellungen,  oder  Angaben  anderer  Autoren, 
deckt. 

Hinsichtlich  der  Rekonstruktion  des  Schädels 
kann  ich  mich,  wenigstens  was  die  Seitenansicht 
anlangt,  Arthaber  im  wesentlichen  anschließen, 
dagegen  waren  die  Zähne  viel  dolchartiger  ^)  wie 
er  sie  darstellt.  Außerdem  war  die  Schnauze 
spitz,  nicht  gerundet,  wodurch  der  Schädel  viel 
mehr  an  Rhamphorhynchus  anklingt,  als  dies 
nach  Arthabers  Zeichnung  scheint. 

Auch  was  die  Zahl  der  Hals-  Rumpf-  und 
Becken  Wirbel  betrifft,  pflichte  ich  Arthaber 
bei,  zu  ganz  anderen  Resultaten  dagegen  komme 
ich  hinsichtlich  der  Länge  des  Seh  wanzes,  die 
Berlin  gr.  ganz  anders  zeigt  als  Arthaber  es 
angibt.  Außer  den  zerstreut  hinter  den  Becken- 
teilen liegenden  3  ersten  Caudalwirbeln  sind  die 
folgenden  22    im  Zusammenhang   erhalten.      Der 


')  In  Fig.  4—6  der  Übersichtlichkeit  wegen  nur  schema- 
tisch gezeichnet. 


N.  F.  XXI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


275 


letzte  ist  außerordentlich  schlank,  möglicherweise 
folgten  aber  doch  noch  ein  paar  ganz  kleine 
Wirbel ,  was  die  Schwanzlänge  nur  noch  unbe- 
deutend verändert  halte.  Bei  der  Rekonstruktion 
wurde  letzteres  angenommen.  Der  Schwanz  von 
Dorygnathus  ist  durchweg,  namentlich  aber  gegen 
das  Ende,  bedeutend  schwächer  als  der  von 
Rhamphorhynchus,  so  daß  ich  bei  Dorygnathus 
kein  Schwanzsegel  annehmen  möchte;  notwendig 
war  ein  solches  als  Steuerorgan  keineswegs.  Da- 
mit stelle  ich  mich  in  Gegensatz  zu  Abel,  der 
19 19  ausspricht,  alle  Langschwänzer  hätten  ein 
Schwanzsegel  besessen,  und  pflichte  Arthaber 
192 1  bei,  der  es  als  fraglich  hinstellt.  Auch  er- 
scheint mir  unwahrscheinlich,  daß  der  Schwanz 
wirklich  so  steif  war,  wie  dies  Abel  19 19  W  an- 
nimmt. Die  schwache  Krümmung  in  Fig.  6 
(nicht  nur  in  den  stark  beweglichen  ersten  post- 
sakralen Wirbeln),  ist  bei  mehreren  Stücken  von 
Rhamphorhynchus,  zu  beobachten,  darf  also  für 
den  dünneren  Schwanz  von  Dorygnathus  wohl 
unbedenklich  übernommen  werden. 

Das  Becken  zeigt  Berlin  gr.  sehr  schön, 
allerdings  sind  die  Hauptelemente  auseinander- 
gerissen und  liegen  flach,  aber  kaum  zerdrückt, 
in  der  Plattenebene.  Die  gerundeten  Ischia  müssen, 
wie  Arthaber  dies  für  alle  liassischen  Formen 
annimmt,  hinten  durch  Knorpelsymphyse  verbun- 
den gewesen  sein.  Ob  dies  bei  den  jüngeren 
Rhamphorhynchiden,  wie  Stromer  191 3  es 
darstellt,  anders  war,  die  Ischia  also  frei  nach 
hinten  ragten,  erscheint  mir  durchaus  nicht  sicher. 
Stromers  Annahme  aber  mit  Abel  1919  W  zu 
generalisieren,  indem  man  behauptete,  bei  allen 
Langschwänzern  seien  die  Ischia  freigeblieben, 
erscheint  höchst  gewagt.  An  die  Tatsache,  daß 
bei  den  Pterodactylen  durch  die  Verbindung  der 
Ischia  die  Gebäröffnung  außerordentlich  klein  ist, 
wurden  manche  Folgerungen  geknüpft  (Brutpflege); 
zum  mindesten  bei  den  liassischen  Rhamphor- 
hynchiden scheinen  die  Verhältnisse  analog  zu 
liegen.  Allerdings  ist  die  Möglichkeit  nicht  ganz 
von  der  Hand  zu  weisen,  daß  die  engen  Becken 
männlichen  Individuen  angehörten,  oder  es  mag 
die  knorpelige  Symphyse  eine  gewisse  Dehnung 
während  des  Geburtsakts  gestattet  haben.  Die 
Präpubes,  gleichfalls  knorpelig  verbunden,  bilden 
schaufelartige  Träger  des  Eingeweidesacks.  Von 
ganz  besonderer  funktioneller  Wichtigkeit  ist  die 
Gelenkpfanne,    auf  die    bei    der  Besprechung    des 

Oberschenkels  eingegangen  werden  soll. 
Der  rechte  Oberschenkel  ist  in  Fig.  i  dargestellt. 
Die  starken  Trochanter  weisen  auf  kräftigen  Ge- 
brauch hin.  Man  sieht,  daß  durch  die  exzentrisch 
gelegene  große  Ligamentgrube  die  Gleitfläche  des 
Gelenkkopfs  zu  einem  nicht  sehr  stark  gebogenen 
halbmondförmigen  Gebilde  wird.  Diese  exzen- 
trische Lage  des  Ligaments  verbietet  ein  starkes 
Drehen.  Berlin  gr.  zeigt  in  der  Pfanne  den 
anderen  Ansatz  des  Ligaments,  woraus  sich  die 
Drehfähigkeit  des  Oberschenkels  in  ihr  ableiten 
läßt.      Sie    beschränkt  sich  auf  einen  Winkel  von 


wenig  über  90  Grad,  von  hinten  nach  unten,  nicht 
aber  vorwärts.  Schon  damit  entfallen  Versuche, 
das  Tier  reptilartig  auf  allen  Vieren  gehen  zu 
lassen,  wie  dies  Seeley  190 1  in  einem  Teil 
seiner  Bilder  langschwänzige  Flugsaurier  tun  läßt. 
Unterschenkel  und  Fuß  sind  in  Fig.  2 
dargestellt.  Die  Fibula  verwächst  schon  im 
mittleren  Drittel  des  Unterschenkels  mit  der 
Tibia,  im  letzten  Drittel  verschwindet  sie  als 
Sondergebilde.  Das  distale  Rollengelenk  wird  von 
der  —  bei  manchen  Stücken  völlig,  bei  anderen 
nicht  —  mit  der  Tibia  verwachsenen  i.  Tarsal- 
reihe  gebildet,  Dorygnathus  besitzt  also,  wie  dies 
auch  bei  manchen  anderen  Flugsauriern  festge- 
stellt ist,  einen  durchaus  vogelartigen  Tibiotarsus. 
Auch  dies  spricht  gegen  reptilartige  Stellung  der 


Mt  1-4 


Fig.    I. 

Rechter    Oberschenkel. 

Nat.  Gr. 


Fig.    2. 

Linker  Unterschenkel  u.  Fufi 

V2   nat.   Gr. 


Hinterextremität.  Die  Gelenkrolle  des  Tibiotarsus 
weist  mit  etwa  45  Grad  nach  außen,  •  Abb.  2  ist 
mit  aufgelegtem  Mittelfuß  gezeichnet.  Die  proxi- 
malen Gelenke  der  Mittelfußknochen  i — 4  legen 
sich  kulissenartig  aneinander,  und  bilden  so  ein 
einheitlich  funktionierendes  Ganzes;  ihre  schwache 
Keilform  am  Proximalende  beweist  eine  leichte 
Wölbung  des  Mittelfußes.  Distal  werden  die 
Metatarsalia  sehr  rasch  frei.  Die  5.  Zehe  ist,  was 
ganz  an  Dimorphoden  erinnert,  im  Verhältnis  zu 
der  anderer  Langschwänzer  sehr  lang.  Als  An- 
heftungsstelle  der  Flughaut  hat  sie  ermöglicht, 
diese  dem  Boden  fern  zu  halten. 

Was  die  Rumpfrippen  betrifft,  wird  man 
hinsichtlich  ihrer  Zahl  Arthaber  beipflichten 
dürfen.    Ob,  wie  bei  anderen  Rhamphorhynchiden, 


276 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  20 


Bauchrippen  in  der  Zahl  von  6  vorhanden  waren, 
muß  fraglich  bleiben.  Daher  wurde  auf  ihre  Dar- 
stellung verzichtet,  obgleich  sicher  steht,  daß 
solche  vorkommen;  auch  Verbindungsstücke  der 
vorangehenden  Rippen  mit  einem  nach  hinten  ge- 
richteten knorpeligen  Sternalfortsatz  wurden  nicht 
dargestellt,  wie  denn  überhaupt  die  Berippung  nur 
schematisch  gezeichnet  wurde.  Mit  Arthaber 
nehme  ich  an  —  im  Gegensatz  zu  Stromer  1913 
u.  a.  — ,  daß  es  die  drei  vordersten  Rumpfrippen 
sind,  die  durch  Sternocostalia  mit  dem  Sternum  in 
Verbindung  stehen.  Wie  bekannt  sind  die  drei 
vordersten  Rumpfwirbel  stärker  als  die  späteren, 
dasselbe  gilt  auch  von  den  zugehörigen  Rippen, 
die  sich  dadurch  deutlich  von  den  späteren  unter- 
scheiden. Berlin  kl.  zeigt  diese  Verhältnisse  sehr 
klar,  übrigens  —  nach  Lichtbild  wie  Abguß  — 
auch  das  Wiener  Stück,  während  Art h aber  die 
2.  Rippe  als  erste  bezeichnet  usw.  Komme  ich 
auch  sonst  hinsichtlich  des  Sternums  zu  ganz 
anderen  Resultaten  wie  Arthaber,  so  muß  ich 
ihm  in  der  Deutung  von  3  Rippenansatzsteilen 
am  Sternum  beipflichten.  Auf  Stellung  und  Größe 
von  Halsrippen  und  -sehnen  möchte  ich  mich 
nicht  festlegen. 

Nun  zum  Sternum.  Berlin  gr.  zeigt  das 
untere  Stück,  von  außen  gesehen,  mit  beginnen- 
der Crista.  Dieser  eindeutige  Sternalteil  läßt  sich 
mit  dem  von  Arthaber  als  Sternum  angegebenen 
Gebilde  nicht  zur  Deckung  bringen,  sofort  aber, 
wenn  man  das  Wiener  Stück  nur  als  die  eine 
Hälfte  des  Sternums,  auch  ohne  Cristospina,  auf- 
faßt. Als  letztere  ist  eine  verdrückte  Knochen- 
masse zu  deuten,  die  sich  quer  oberhalb  des 
Sternalrestes  von  Berlin  gr.  befindet.  Was  Art- 
haber  als  ganzes  Sternum  betrachtet,  kann  es 
unmöglich  gewesen  sein:  so  findet  auch  die  merk- 
würdige Assymetrie  des  Wiener  „Sternums"  ihre 
Erklärung.  Schon  aus  einem  Grundgesetz  ver- 
gleichender Anatomie  ist  zu  folgern ,  daß  der 
Muskel  der  einen  bei  Dorygnathus  wie  den 
übrigen  jurassischen  Fugsauriern  bis  in  die  Kreide 
hinein  gleichartig  ausgebildeten  Trochanter  am 
Proc.  lateralis  des  Oberarms  erzeugt,  auch  von 
einem  bei  allen  im  Prinzip  gleichartig  gebauten 
Sternum  ausgeht.  Die  Ansatzfläche  für  das  Cora- 
coid,  die  das  Wiener  Exemplar  zeigt,  und  Art- 
haber auch  als  solche  erkannt  hat,  liegt  dann 
analog,  wie  es  von  Pteranodon  bekannt  ist,  und 
von  Stromer  1913  für  Rhamphorhynchus  an- 
genommen wird. 

Eine  Schilderung  des  Arms  muß  hier  unter- 
bleiben. Das  ganz  eigenartige  Gelenk  Oberarm- 
Schultergürtel  ist  nicht  mit  wenigen  Worten  zu 
erledigen.  Über  die  Bewegung  geben  die  Fig.  4 
und  6  Auskunft.  Besonders  wichtig  ist  die  Hand, 
Fig.  3.  Eine  Bewegungsmögliclikeit  zwischen 
Unterarm  und  erster  Carpalreihe  ist  zu  vermuten, 
und  zwar  senkrecht  zur  Bildebene,  kann  aber 
meinerseits  nicht  bewiesen  werden.  Sicher  da- 
gegen steht  die  Bewegungsmöglichkeit  zwischen 
der  I.  und  2.  Carpalreihe   in  der  Bildebene.    Die 


Abklappung  tritt  in  Fig.  6  in  Erscheinung. 
Zwischen  der  2.  Carpalreihe  und  dem  Metacarpus 
dagegen  war  keine  Bewegung  möglich.  Von 
ganz  besonderer  Bedeutung  ist  die  Bewegungs- 
richtung der  Krallenfinger,  die  meist  auf  den 
Platten  schädelwärts  zeigen,  woraus  von  der  Mehr- 
zahl der  Autoren,  z.  B.  auch  Stromer  191 3, 
Abel  1919  W,  geschlossen  wurde,  daß  die  Be- 
wegungsmöglichkeit der  Krallenfinger  gegen  den 
P'lugfinger  um  180  Grad  verschieden  war.  Unbe- 
kümmert um  die  Lage  auf  den  Platten  nimmt 
Seeley  1901  u.  a.  sie  in  derselben  Richtung  wie 
der  Flugfinger  an.  Das  Richtige  scheint,  wie 
anderen  Orts  ausführlich  zu  begründen  sein  wird, 
in  der  Mitte  zu  liegen:  sie  war  um  90  Grad  ver- 
schieden von  der  des  Flugfingers.  Diese  Stellung 
ist  ja  auch  die  anatomisch  zu  erwartende,  das 
Abnorme  ist  nur  die  Abklapprichtung  des  Flug- 
fingers, der  nicht  nur  in  dieser  Beziehung  von  der 
Norm  abweicht.  Die  Lage 
der  Finger  auf  den  Platten 
ist  als  Druckerscheinung  zu 
deuten,  Druck  hat  es  ja  auch 
vermocht,  fast  alle  anderen 
Knochen  so  zu  stellen,  daß 
sie  ihre  breiteste  Seite  zeigen. 
Daher  auch  die  überraschen- 
de Ähnlichkeit  in  der  Lage 
dereinzelnenSkelettelemente 
(nicht  des  Gesamtskeletts) 
auf  den  Platten.  Beim  Fuß 
ist  längst  erkannt,  daß  der 
Mittelfuß  meist  Ober-  und 
Unterseite  (wenn  im  Zusam- 
menhang erhalten)  zeigt,  die 
Zehen  dagegen  in  Seiten- 
lage eingebettet  liegen,  also 
ein,  man  möchte  sagen,  alt- 
ägyptisches Bild  zustande 
kommt.  Der  „olecranon- 
artige  Fortsatz"  der  i.  Flug- 
fingerphalange  diente,  wie 
Plieninger  dies  schon 
1894    ganz  richtig  bemerkt, 

dem  Streckmuskel  zum  Ansatz,  gegen  die  Mög- 
lichkeit des  Überdrehens  (Abel  1919  W)  wäre 
er  ja  auf  der  falschen  Seite.  Die  Phalangen  des 
l""lugfingers  waren  steif  miteinander  verbunden, 
Knorpellagen  zwischen  ihnen  schufen  nur  eine 
gewisse  Elastizität,  die  beim  Streifen  eines  Gegen- 
standes den  Bruch  des  Flügels  verhindern  konnte. 
Außerdem  befinden  sich  am  Vorderrand  der 
Phalangen  nahe  ihren  Enden  starke  Knochenvor- 
sprünge, die  sicherlich  Bänder  trugen,  die  zur 
weiteren  Versteifung  des  I<"lügels  beim  Fliegen 
gegen  den  Luftdruck  von  vorn  dienten.  Zum 
Ansatz  von  Muskeln  die  eine  Bewegung  nach  vorn 
ermöglichten,  wie  es  Arthaber  192 1  als  denk- 
bar bezeichnet,  waren  sie  jedenfalls  ungeeignet, 
wie  auch  die  Phalangenenden  gar  keine  Bewegung 
zulassen.  Ganz  besonders  bedeutungsvoll  aber 
war,  wie  schon  erwähnt,   eine  unverdiückte  End- 


Linke  Hand.  (Vom  Flug- 

iinger  nur  der  proximale 

Teil  der  i.  PÜalange.) 

'  ^>  nat.   Gr, 


N.  F.  XXI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


^-71 


phalange  vom  Tendaguru,  die  Abbiegung  nach 
hinten  abwärts  zeigt.  Herr  Dr.  Reck  wird  das 
Stück  bekanntgeben.  Mit  der  Kenntnis  dieser 
Form  wird  manches  geklärt,  was  hinsichtlich  der 
Lage  der  Endphalangen  auf  den  Platten  bislang 
rätselhaft  war,    und    manche  Autoren,   am    ausge- 


sprochensten Abel  1922,  veranlaßte,  eine  Biegung 
nach  vorn  anzunehmen.  Das  Bild  des  fliegenden 
Tieres  wird  durch  die  nunmehr  festgestellte  Form 
der  Endphalange  des  Flugfingers  ganz  besonders 
ähnlich  dem  eines  segelnden  Vogels. 

IVIit    dem    geschilderten    Material    wurde    nun 


278 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  20 


der  Aufbau  des  Tiers  vorgenommen.  Die 
Erkenntnis,  daß  nicht  zeichnerisch,  sondern  nur 
am  Modell  die  Fragen  der  Lebensweise  der  Flug- 
saurier zu  lösen  sind,  hat  Stromer  1913  dazu 
geführt  ein  Modell  anzufertigen.  Nur,  er  mußte 
sich  durchweg  mit  verdrücktem  Material  behelfen, 
während  jetzt  gerade  für  die  wichtigsten  Gelenke 
unverdrücktes  zur  Verfügung  steht. 

Bei  der  Rekonstruktion  wurde  auf  induktivem 
Weg,  ohne  vorgefaßte  Meinung,  vorgegangen. 
Die  Knochen  der  Vorderextremität  wurden,  ein- 
mal in  Beuge-,  einmal  in  Streckstellung  in  Gips- 
schienen eingebettet,  und  so  zwei  extreme  Stel- 
lungen gewonnen,  einschließlich  der  Gelenkung 
Coracoid-Scapula  mit  dem  Oberarm.  Fraglich 
blieb  jetzt  die  Stellung  des  Schultergürtels  im 
Körper.  Allerdings  war  durch  die  Kenntnis  der 
Gestalt  des  Sternums  und  seiner  Lage  zu  den 
drei  ersten  Rumpfwirbeln ,  sowie  des  Coracoid- 
Ansatzes  an  ihm,  schon  ein  gewisser  Anhalt  ge- 
geben, außerdem  mußte  sich  die  Scapula  dem 
Tonnengewölbe  der  Rippen  anschmiegen.  Die 
Rippenlängen  waren  fast  alle  bekannt ,  es  fehlten 
aber  die  der  Sternocostalia  usw. 

Andererseits  war  aus  Rumpflänge  und  Becken 
doch  auch  ein  Hinweis  auf  die  Körperform  ge- 
geben. Ausprobieren  an  den  Modellen  ergab  die 
wahrscheinliche  Lage  des  Schultergürtels.  Nun 
wurden  die  Gipsschienen  angelegt,  und  es  ent- 
standen 2  Stellungen ,  deren  eine  die  Flügellage 
beim  Niederschlag  zeigt,  die  andere  die  in  Fig.  6 
abgebildete  ist.  Die  als  wahrscheinlich  betrachtete 
Lage  des  Schultergürtels  im  Tierkörper  durfte 
damit  als  zu  Recht  bestehend  angenommen  werden. 

Die  erstgenannte  Stellung  (Niederschlag)  wurde 
nicht  zur  Darstellung  gebracht,  weil  sie  im  Bild 
die  Knochen  stark  verkürzt  gezeigt  hätte.  Um 
dies  zu  vermeiden  wurde  das  Gelenk  Oberarm- 
Schultergürtel  nicht  voll  ausgenützt,  so  daß  Stel- 
lung Fig.  4  u.  5  das  Tier  flach  hinstreichend 
darstellt.  Diese  Stellung  wird  im  großen  und 
ganzen  der  Segelstellung  entsprechen,  wofern  man 
die  Zeichnung  schief  hält.  Allerdings  wird  der 
Hals  dabei  meist  in  leichter  Krümmung  nach 
unten  gebogen,  und  der  Schädel  etwas  einge- 
winkelt getragen  worden  sein,  was,  aus  dem 
Bau  der  Halswirbel  sowie  der  Kopfstellung  lang- 
schwänziger  Flugsaurier  auf  den  Platten  zu  schließen, 
die  Normalstellung  gewesen  zu  sein  scheint.  Sie 
ist  auch  anzunehmen  um  dem  Tier,  ohne  zu 
starke  Drehung  im  Hals  oder  am  Schädelcondylus, 
zu  ermöglichen  nach  unten  zu  schauen,  wenn  es 
zum  Fischfang  auszog. 

Wenn  in  den  Zeichnungen  versucht  wurde, 
auch  den  Körperumri^  anzudeuten,  so  ge- 
schah das  im  vollen  Bewußtsein  dessen,  daß  es 
sich  hierbei  um  etwas  ganz  unsicheres  handelt. 
Ein  Kehlsack,  der  von  manchen  Autoren  für  die 
Flugsauricr  gefordert  wird,  weil  er  sich  aus  dem 
Mißverhältnis  der  Größe  Rumpf :  Kopf  ergibt, 
wurde  angedeutet.  Ein  Hautfetzen,  der  einmal  in 
dieser  Gegend    gefunden    wurde,    ist    in  der  Deu- 


tung als  Kehlsack  umstritten.  Ausdrücklich  sei 
betont,  daß  ich  mich  hinsichtlich  seiner  Form, 
namentlich  auch  seiner  Lage  zum  Zungenbein, 
nicht  festlegen  möchte.  In  Fig.  4  u.  5  wurde 
auch  versucht  die  Flughaut  darzustellen.  Die 
Annahme  eines  Uropatagiums,  die  Abel  1919 
macht ,  erübrigt  sich  durch  die  Erkenntnis  einer 
anderen  Fußstellung,  zum  mindesten  bei  Dorygna- 
thus,  als  Abel  sie  sich  bei  Rhamphorhynchus 
denkt.  An  ein  vom  Spannknochen  der  Hand  be- 
dientes Propatagium  dagegen  muß  ich  ich  glauben, 
obgleich  Arthaber  daran  zweifelt.  Ob  es  den 
Hals  erreichte  oder  nicht  ist  ganz  unsicher,  ich 
halte  mich  an  die  gebräuchliche  Darstellung. 

Zwischen  den  beiden  extremen  Stellungen, 
mit  allen  möglichen  Kombinationen ,  mußte  die 
Bewegungsfähigkeit  der  Vorderextremität  liegen. 
Ein  Darüber-hinaus  ist  unmöglich,  ob  sie  alle  voll 
ausgenützt  werden  konnten,  ist  dagegen  eine 
andere  Frage.  Nimmt  man  den  Rumpf  mit 
Schwanz,  und  die  Hinterextremität  mit  ihren  Be- 
wegungsmöglichkeiten hinzu ,  so  muß  man  sich 
schon  ein  Bild  machen  können  über  die  Lebens- 
weise des  Tieres.  Es  gibt  eigentlich  kaum  eine 
Stellung,  die  nicht  zeichnerisch  oder  gedanklich 
noch  im  20.  Jahrhundert  den  Rhamphorhynchiden 
zugeschrieben  wurde,  wenn  sie  nicht  in  der  Luft 
waren.  Man  ließ  sie  auf  ebener  Erde  auf  allen 
Vieren  gehen  mit  nach  hinten  oben  gestrecktem 
Flugfinger,  oder  auf.  den  Zehen  laufen,  den  Flug- 
finger nach  unten  dem  Boden  parallel  (Seeley 
1901);  man  setzte  sie  auf  den  Mittelfuß,  den  Flug- 
finger gleicherweise  aber  seitlich  getragen  (König 
191 1).  Man  dachte  an  Schwimmen,  indem  man 
als  möglich  hinstellte,  daß  zwischen  den  Zehen 
Schwimmhäute  waren  (Seeley  1901),  selbst  an 
Schwimmen  mit  den  Armen  ist  schon  gedacht 
worden.  Man  glaubte  an  Klettern  an  Preisen  und 
an  Bäumen,  Klettern  fast  ausschließlich  mit  der 
Hand,  oder  mit  Hand  und  Fuß  unter  Zuhilfenahme 
des  Schwanzes  als  Stütze  (König  191 1).  Man 
dachte  an  Hängen  in  Bäumen,  den  Körper  nach 
unten,  wie  dies  neuerdings  Abel  1919  N  für 
manche  Kurzschwänzer  abbildet,  allerdings  mit 
der  Beschränkung  auf  diese.  Auch  liegend  im 
Sand  (Abel  1919  N)  wurden  Langschwänzer 
dargestellt. 

Bleiben  wir  zuerst  beim  Sitzen,  einer  Stel- 
lung, die  sich  aus  Fig.  6  ableiten  läßt.  Der 
Oberarm  wird  nicht  so  stark  angelegt,  die 
Mittelhand  dabei  nicht  zurückgedreht  gewesen 
sein ,  die  Verlegung  des  Schwerpunkts  nach 
vorn,  die  sich  daraus  ergibt,  konnte  leicht  durch 
etwas  stärkeres  Einwickeln  des  Kniegelenks, 
das  starke  Bewegungen  zuläßt,  ausgeglichen  wer- 
den. Auch  wird  sich  das  Tier  in  der  Ruhe  auf 
den  Mittelfuß  niedergelassen  haben.  Eine  solche 
Stellung  mag  es  auf  flachem  Strand  eingenommen 
haben,  wenn  es  auf  weiten  Flügen  einen  Fisch, 
—  den  es  im  F"lug  aus  dem  Wasser  geholt,  und 
nun  zwischen  den  Raffzähnen  in  der  Lage  ge- 
tragen, wie  es  ihn  geschlagen  hatte  —  im  Kehl- 


N.  F.  XXI.  Nr.    20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


279 


sack  verstaute.  Ein  Windfänger  muß  das  Tier, 
wenn  es  dem  Wind  auch  nicht  so  viel  Fläche 
bot  wie  in  Fig.  6,  gewesen  sein,  indessen,  es  stand 
recht  breitbeinig  und  wird  sich  auch  in  die  Wind- 
richtung gestellt  haben.  Der  Schwanz  wird  auch 
beim  Sitzen  (nach  Analogie  mit  den  ein  Schwanz- 
segel tragenden  Rhamphorhynchen)  kaum  als 
Stütze,  vielmehr  als  Balanzierstange  gedient  haben. 
Die  Beine  von  Dorygnathus  sind  lang  und  kräftig 
genug,  dem  leichten  Tier  in  kurzem  Lauf  auf 
den  Zehen  die  nötige  Geschwindigkeit  zum  Abflug 
zu  geben.  Den  Augenblick,  in  dem  sich  das  Tier 
zum  Lauf  anschickt,  stellt  Fig.  6  dar.  Dabei  kam 
ihm  das  Hochtragen  des  Flugfingers  und  die  Länge 
der  5.  Zehe  zu  statten,  die  Gefahr,  daß  sich  die 
Flughaut  am  Boden  verhängte,  war  gering.  Gegen 
Wind  hat  vielleicht  ein  Abschnellen  mit  den  bei- 
den hauptsächlichsten  Fußgelenken  zum  Abflug 
genügt. 

Die  Annahme  aktiven  Schwimmens  (passiv 
mag  der  leichte  Körper  vom  Wasser  getragen 
worden  sein),  darf  abgelehnt  werden.  Die  Flug- 
haut bot,  auch  wenn  man  nur  an  Schwimmen 
mit  den  Beinen,  nicht  den  Armen,  denkt,  einen 
zu  großen  Widerstand  im  Wasser. 

Beim  Fliegen  wird  man  sich  vorhalten 
müssen,  daß  die  Flughaut  auch  in  dem  verh. 
dünnen  Medium  der  Luft  sich  nur  bei  langsamen 
Flügelschlägen  auswirken  konnte.  Rasch  einander 
folgende  Armschläge  hätten  Wellungen  in  ihr  er- 
zeugt, was,  infolge  sich  gegenseitig  störender  Luft- 
wirbel, die  Tragfähigkeit  der  Flughaut  ganz  be- 
deutend herabgesetzt  hätte.  Im  ganzen  ist  auch 
Dorygnathus  durchaus  als  Segler  (s.  vorne)  anzu- 
sprechen, der  nur  bei  Windstille,  oder  um  seine 
Geschwindigkeit  zu  erhöhen,  mit  den  Flügeln 
schlug. 

Damit  sind  aber  die  Stellungsmöglichkeiten 
des  Tieres  nicht  erschöpft.  Aus  den  großen 
Handkrallen  wurde  schon  immer  auf  Klettern 
geschlossen.  Bäume  allerdings  wird  es  eher  ge- 
mieden als  aufgesucht  haben.  Der  lange,  steife 
Schwanz,  die  große  Klafterweite,  und  nicht  zum 
wenigsten  die  empfindUche  Flughaut  hätten  es  in 
einem  Gewirr  von  Ästen  und  Zweigen  großen 
Gefahren  ausgesetzt.  Aber  auch  die  beschränkte 
Bewegungsmöglichkeit  des  Oberschenkels,  wie 
dessen  ziemlich  breit  vom  Becken  ausladende 
Stellung  machen  es  zum  Baumklettern  ungeeignet. 
Recht  geeignet  dagegen  erscheint  das  Bein  als 
Stütze  für  den  steilgestellten  Leib  beim  Felsen- 
klettern. Das  Kletterorgan  selbst  war  die  Hand. 
Denkt  man  sich  in  Fig.  4  das  Ellbogengelenk 
eingewinkelt,  den  Flugfinger  zurückgeklappt,  so 
kommt  etwa  die  Stellung  der  Vorderextremität 
heraus,  in  der  das  Tier  Vorgriff.  Dabei  sind  die 
Krallen  nach  unten  gerichtet.  Fig.  6,  die  Hand- 
wurzel gestreckt,  ergibt  das  Bild  das  der  Arm 
einnahm  wenn  sich  das  Tier  hochgezogen  hatte. 
Dabei  sind  die  Krallen  vom  Körper  weg  nach 
außen  gerichtet.  Diese  Umstellung  der  Krallen 
hat  ihren  Grund   in  der  Drehung   des  Oberarms, 


die  automatisch  im  Schultergelenk  statthat,  wenn 
er  aus  Streck-  in  Beugestellung,  und  umgekehrt, 
gebracht  wird.  In  unserem  Fall,  wo  die  Hand 
festliegt ,  bewirkt  sie  eine  Umstellung  des  Kör- 
pers, d.  h.  beim  Hochziehen  kommt  das  Tier 
aus  der  Bauch-  in  die  Seitenlage.  Dadurch  wird 
der  andere  Arm  frei  und  kann  nun  seiner- 
seits vorgreifen,  der  Körper  wird  dabei  von  den 
Füßen  gestützt.^)  Zum  Ausnutzen  eines  Halte- 
punkts war  die  Beweglichkeit  in  der  Hand-  und 
Fußwurzel  günstig.  Das  Tier  hat  also  beim 
Klettern  wechselweise  mit  den  Händen  vorge- 
griffen, was  mit  einer  Schaukelbewegung  des 
Körpers  verbunden  war.  Diese  Schaukelbewegung 
ist  aber  für  die  empfindliche  Flughaut  von  ganz 
besonderem  Nutzen.  Beim  Hochziehen  des  Körpers 
verändert  der  Flugfinger  seine  Lage  zum  Felsen 
nicht,  beim  Vorstrecken  des  Arms  zu  neuem 
Greifen  aber  stark.  Gerade  bei  dieser  Bewegung 
aber  ist  der  Flugfinger  dem  Felsen  abgewendet, 
und  damit  denkbarst  vor  der  Gefahr  des  Ein- 
reißens  geschützt. 

Und  nun  als  letztes  zur  Ruhestellung. 
Sicherlich  lag  das  Tier  auch  zeitweise,  seine  Beine 
konnte  es  dabei  nur  nach  hinten  gestreckt  tragen. 
Aus  der  Bewegungsmöglichkeit  des  Oberschenkels 
ist  zu  entnehmen,  daß  es  sich  mit  den  Beinen 
allein  nicht  erheben  konnte.  In  flachem  Gelände 
wird  ihm  dies  auch  unter  Zuhilfenahme  der  Arme 
nicht  gelungen  sein,  darin  pflichte  ich  Abel  1919N, 
allerdings  mit  anderer  Begründung,  bei.  Ein  Hoch- 
schwingen durch  Flügelschläge  auf  den  Boden 
aber,  wie  Abel  sich  das  denkt,  ist  völlig  ausge- 
schlossen. Die  Form  der  4.  Phalange  des  Flug- 
fingers verbietet  dies,  ein  starker  Schlag  auf  den 
Boden  würde  sie  zertrümmern.  Auch  ist  ein  Haut- 
flieger kein  Vogel.  Wenn  sich  ein  Mauersegler 
auf  ebenem  Boden  befindet,  so  ist  dies  wahrlich 
für  ihn  keine  Normalstellung.  Er  muß  mit  den 
Flügeln  aufschlagen,  weil  dies  das  einzige  Mittel 
für  ihn  ist,  sich  aus  seiner  hilflosen  Lage  zu  be- 
freien. Er  wird  auch  noch  fliegen  können,  aller- 
dings behindert,  wenn  er  sich  dabei  ein  paar 
Federn  geknickt  haben  sollte.  Anders  bei  Dory- 
gnathus, einem  Hautflieger.  Reißt  der  sich  am 
Boden  die  Flughaut  ein,  zerbricht  er  womöglich 
die  Endphalange,  dann  ist  an  ein  Hochkommen 
gar  nicht  mehr  zu  denken.  Liegen  auf  flachem 
Boden  scheint  mir  gleichbedeutend  mit  äußerster 
Gefährdung  des  Tieres.  Hingegen  möchte  ich 
Abel  dahin  ergänzen,  daß  auf  die  von  ihm  an- 
gegebene Weise  es  dem  Tier  möglich  sein  konnte, 
sich  vom  Wasser  loszumachen,  wenn  es  beim 
Fischen  hineingeraten  war  oder  (dies  aber  nur 
als  gedankliche  Anregung  ausgesprochen),  sich 
ruhend  vom  Wasser  tragen  ließ. 

In  Liegestellung  wird  sich  ein  Dorygnathus 
nur  da  begeben  haben,  wo  er  sich  mit  Hilfe  der 
Handkrallen   aufrichten  konnte,    bzw.    ihm  Abflug 


')    Der  Schwanz 
haben  (s.  o.). 


rd    dabei    kaum    eine  Rolle    gespielt 


28o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ohne  Aufrichten  möglich  war;  und  nun  schließt 
sich  die  Kette,  als  deren  Glieder  die  einzelnen 
Stellungen  zu  betrachten  sind:  sein  Ruheplatz  lag 
in  Felsen.  Mehrere  Autoren  haben -schon  ausge- 
sprochen, die  Flugsaurier  müßten  Brutpflege  be- 
trieben haben,  natürlicher  Schutz  für  Eier  und 
Junge  aber  war  dort  gegeben. 


Wenn  auf  diese  Weise  ein  einheitliches  und 
ziemlich  geschlossenes  Bild  über  die  Lebensweise 
von  Dorygnathus  zu  gewinnen  war,  sei  zum 
Schluß  nochmals  betont,  daß  es  ausschließlich  für 
Dorygnathus  entworfen  ist.  Wieviel  davon  auch 
für  andere  Flugsaurier  gilt,  kann  nur  genaue 
Nachprüfung  für  jeden  einzelnen  Fall  ergeben. 


Bücherbesprechungen. 


Soergel,    W.,   Die  Jagd  der  Vorzeit.     Jena 
1922,  Gustav  Fischer. 

Es  ist  in  letzter  Zeit,  so  von  Wiegers,  ent- 
schieden betont  worden,  daß  eine  entscheidende 
Förderung  unserer  Kenntnisse  von  der  ältesten 
Geschichte  der  iVIenschheit  nicht  von  der  Vor- 
geschichtswissenschaft allein,  als  vielmehr  von 
Seiten  der  Geologie  und  Paläontologie  zu  erwarten 
ist.  Soergel  gibt  auf  der  Grundlage  der  letzten 
beiden  Wissenschaften  einen  Beitrag  zur  Vorge- 
schichte des  IVIenschen,  in  welchem  er  uns,  in 
starker  Erweiterung  einer  älteren  Arbeit,  die  Jagd 
des  Paläolithikers  ausführlich  schildert.  Seine 
„Jagd  der  Vorzeit"  bringt  eine  wesentliche  und 
vor  allem  durch  kritischen  Geist  gereinigte  Be- 
reicherung dieses  wichtigen  Kapitels  frühmensch- 
licher Betätigung,  das  allzuviel  zu  phantasievoller 
Ausschmückung  anregt  —  mag  man  über  manche 
Einzelheit  wohl  auch  anderer  Meinung  sein  können. 
Der  diluviale  Mensch  war  in  allererster  Linie 
Jäger.  Kennen  wir  seine  Jagd,  so  kennen  wir 
seine  vornehmste,  alles  überragende  Tätigkeit. 
Mit  ihrer  Kenntnis  wird  es  gelingen,  seine  Lebens- 
weise, die  Grundzüge  seiner  sozialen  Verhältnisse, 
seine  geistige  Kultur  mehr  und  mehr  aufzuhellen. 
Die  grundlegende  Frage  nach  der  Bewaffnung 
des  steinzeitlichen  Jägers  wird  dahin  beantwortet, 
daß  ihm  Holzwaffen  zu  Wurf  und  Stoß  zur  Ver- 
fügung gestanden  haben  dürften.  Ob  sie  mit 
Steinspitzen  bewehrt  waren,  erscheint  sehr  frag- 
lich. Gifte  zu  ihrer  Bestreichung  standen  kaum 
zur  Verfügung.  Die  Stellung  des  Paläolithikers 
innerhalb  der  diluvialen  Tierwelt  war  eine  sehr 
schwierige.  Viele  und  große  Raubtiere  um- 
drängten ihn,  während  gerade  die  ältesten  dilu- 
vialen Menschenrassen  auffallend  klein  waren.  Der 
Mensch  wird  wenigstens  nicht  im  Altpaläolithi- 
kum  der  erfolgreichste  Jäger  gewesen  sein ;  die 
Raubtiere  räumten  sehr  viel  stärker  unter  den 
Pflanzenfressern  auf.  Bei  Stätten,  die  auf  eine 
außergewöhnlich  erfolgreiche  Jagd  hindeuten,  wie 
Solutre,  müssen  besondere  Umstände  vorgelegen 
haben;  Predmost  wird  als  Jagdstätte  des  Löß- 
menschen abgelehnt,  wohl  mit  Unrecht.  Die 
Auffassung  von  Klaatsch,  daß  der  Diluvial- 
mensch   mühelos   sich    seiner    Beute  bemächtigte. 


wird  sehr  richtig  verworfen.  Seine  Jagdtiere 
waren  recht  zahlreich,  einzelne  aber  besonders 
beliebt:  diese  kehren  in  großen  Mengen  in  be- 
stimmten Kulturperioden  überall  wieder.  Fische 
liebte  der  Altpaläolithiker  nicht,  ebensowenig 
Vögel;  sein  Körperbau  erlaubte  den  Fang  viel- 
leicht noch  nicht;  anders  wurde  dies  im  Jung- 
paläolithikum.  Von  kleinen  Säugern  wurden 
Biber,  Eisfuchs,  Schneehase  auf  einfachste  Weise 
totgeschlagen.  Das  kleine  Wild  hat  aber  für  die 
Küche  des  Eiszeitmenschen  stets  nur  geringe  Be- 
deutung gehabt.  Hauptnahrungsquelle  bildete 
die  Großtierwelt.  Gejagt  wurden  der  Höhlen- 
und  der  braune  Bär.  Unter  den  Wildrindern 
wurde  der  Bison  bevorzugt,  der  ja  auch  für  die 
Kunst  des  Jungpaläolithikums  so  zahlreiche  Vor- 
bilder gab.  Elch  und  Riesenhirsch  wurden  ge- 
mieden ;  dagegen  sollen  Elchtiere  wegen  ihrer 
geringeren  Wehrhaftigkeit  in  Angriffsjagd,  und 
zwar  schon  vom  Homo  Heidelbergensis,  öfter 
erlegt  worden  sein.  Das  Pferd  wurde  mit  Beginn 
des  Jungpaläolithikums  Hauptjagdtier;  es  wurde 
seiner  dickwandigen  Extremitätenknochen  wegen 
verfolgt,  die  zu  Knochenarbeiten  dienten.  Eben- 
dasselbe gilt  für  das  Renntier  („Renntierzeit").  Sehr 
ausführlich  wird  die  Jagd  auf  den  Waldelefanten 
geschildert:  die  Jagd  mittels  Fanggruben  ist  die 
rentabelste,  vielleicht  einzig  mögliche  gewesen. 
Die  Fundumstände  in  Taubach  beweisen  klar, 
daß  hier  wirklich  der  Mensch  als  Jäger  aufge- 
treten ist.  Schon  Homo  Heidelbergensis  zog  auf 
den  gewaltigen  Waldelefanten  zur  Jagd  ausi 
Fanggrubenjagd  wurde  auch  auf  Mammut  und 
Mercksches  Nashorn  angewendet.  Das  wollhaarige 
Nashorn  hat  keine  jagdliche  Rolle  gespielt. 

Es  besteht  eine  Art  Entwicklung  der  vorzeit- 
lichen Jagd.  Diese  Entwicklung  ist  aber  keine 
kontinuierliche;  jede  neue,  höhere  Stufe  ist  an 
das  Erscheinen  einer  neuen  Menschenrasse  ge- 
knüpft. Ganz  verschiedene  Tiere  spielen  im  älte- 
ren und  jüngeren  Paläolithikum  die  Hauptrolle 
als  Jagdbeute.  Dieser  Unterschied  hat  seine  Ur- 
sachen in  der  verschieden  hoch  entwickelten 
Waffentechnik  und  in  den  verschiedenen  körper- 
lichen und  geistigen  Eigenschaften  der  Menschen- 
rassen. Krenkel. 


lilbHll:     Carl    Stiel  er,     Neuer    KcUonslruklionsversuch    eines    liassischen    Flugsauriers.     (6  Abb.)    S.  273.     — 
besprechungen:  W.  .Soergel,  Die  Jagd  der  Vorzeit.  S.  280. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  II.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav   Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Bai 
ganzen  Reihe  37. 


Sonntag,  den  21.  Mai  1922. 


Nummer  31. 


Mechanistische  und  vitalistische  Strömungen  in  der  Geschichte 
der  biologischen  Theorien. 


[Nachdruck  verboten.] 


Ein  Vortrag. 

Von  Dr.  HanS^Adaui  Stolte,   Würzburg, 


Das  Bild  vom  Entstehen  und  Vergehen  der 
biologischen  Theorien  vom  Altertum  bis  zur 
Jetztzeit  ist  bunt  und  vielgestaltig,  es  dürfte 
im  Rahmen  eines  Vortrags  nicht  zu  entwerfen 
sein.  Ich  möchte  deshalb  aus  der  Menge  der 
verschiedenen  Richtungen,  die  die  biologische 
Theorie  eingeschlagen  hat,  zwei  große  gegen- 
sätzliche Anschauungen  herausschälen  und  sie 
durch  die  Jahrhunderte  europäischer  Geistes- 
kultur verfolgen,  nämlich  die  mechanistischen  und 
vitalistischen  Strömungen  in  der  theoretischen 
Biologie.  Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  ich  da- 
mit etwas  schematisch  verfahre,  glaube  mich 
aber  zu  der  Einteilung  deshalb  berechtigt,  weil 
ihr  zwei  Typen  von  Denkern  zu  entsprechen 
scheinen,  die  analytischen  und  die  synthetischen 
Forscher:  Wer  sich  in  mechanistischen  Gedanken- 
gängen ergeht,  sucht  die  Erscheinungen  auf  nur 
quantitative  Unterschiede  eines  Grundstoffes  zu- 
rückzuführen —  so  Demokrit  auf  das  Atom  — , 
er  analysiert  also  die  Erscheinungen.  Der  Vita- 
list dagegen  sucht  meist  nach  dem  überge- 
ordneten Prinzip,  das  die  widerstrebenden  Ten- 
denzen der  Einzelerscheinungen  zusammenfaßt  und 
so  zu  einer  Weltanschauung  verhilft,  die  das  meta- 
physische Bedürfnis  verschiedener  Zeiten  von  der 
Wissenschaft  gefordert  hat,  ich  erinnere  nur  an 
die  Herrschaft  des  Aristotelismus  das  ganze  Mittel- 
alter hindurch.  Dagegen  trat  der  Mechanismus 
überall  dann  hervor,  wenn  der  menschliche  Geist 
voll  Siegesbewußtsein  nur  sich  gelten  ließ,  für 
sich  keinerlei  Schranken  anerkannte  und  die 
Wissenschaft  in  höchsten  Ehren  stand.  Ich  meine 
die  Zeit  der  englischen  und  französischen  Auf- 
klärung und  in  Deutschland  die  Mitte  des  19.  Jahr- 
hunderts. Die  beiden  Extreme,  auf  der  einen 
Seite  die  Ansicht,  daß  die  biologischen  Vorgänge 
analog  chemisch  -  physikalischen  erklärt  werden 
können,  auf  der  anderen  Seite  die  Überzeugung, 
daß  allem  Lebenden  eine  Eigengesetzlichkeit  zu- 
grunde liegt,  sind  natürlich  am  reinsten  bei  den 
konsequenten  Denkern  vertreten.  Wir  werden 
aber  auch  Theorien  finden,  die  einen  mittleren 
Weg  einschlagen.  Diese  haben  aber  niemals  eine 
so  große  Wirkung  ausgeübt.  Innerhalb  der  Ex- 
treme liegen  die  Grundanschauungen  der  biolo- 
gischen Theoretiker  vom  Altertum  bis  zur  Gegen- 
wart. Daß  auch  die  Neuzeit  über  diese  An- 
schauungen nicht  herausgekommen  ist,  hat  seinen 
Grund  in  der  zwiefachen  Verkettung  des  Menschen 
mit    der    Vergangenheit:    Durch  Vererbung   sind 


wir  ein  Produkt  unserer  Vorfahren  und  durch  die 
geistige  Tradition  sind  wir  mit  den  Gedanken- 
gängen älterer  Forscher  verknüpft  und  wir  können 
nur  auf  dieser  Grundlage  weiterbauen. 

Die  ältesten  Urkunden  biologischer  Forschung, 
2000  v.  Chr.,  stammen  vom  Nil  und  Euphrat. 
Maßgebend  für  die  Beschäftigung  mit  der  Bio- 
logie war  damals  allein  das  praktische  Bedürfnis 
und  so  waren  die  Biologen  jener  Zeit  meist 
Priester  und  Ärzte.  So  erklärt  sich  auch  die  ge- 
ringe Ausbeute  an  biologischer  Theorie,  nicht  nur 
bei  den  Ägyptern  und  Babyloniern,  sondern  auch 
bei  den  großen  Kulturvölkern  des  Ostens,  den 
Indern  und  Chinesen.  Wenden  wir  uns  zu  dem 
Volke  der  Griechen,  bei  dem  die  Wissenschaft 
sich  zum  ersten  Male  in  voller  Breite  entwickelte. 
Wir  müssen  uns  klar  sein,  daß  sie  eine  Menge 
von  Anregungen  von  außen  empfingen,  die  hier 
aber  auf  bedeutend  fruchtbareren  Boden  fielen 
als  bei  anderen  Völkern,  Man  vermutet,  daß  die 
Phöniker  es  waren,  die  Kenntnisse  und  Ideen  an 
den  Küsten  des  Mittelmeeres  verbreiteten.  Sie 
übermittelten  auch  den  kleinasiatischen  Griechen 
den  neuesten  Stand  der  Wissenschaft.  Hier  ent- 
wickelten sich  die  Anfänge  griechischer  Weltbe- 
trachtung. 

Die  älteste  Periode  der  griechischen  Philo- 
sophie, die  man  gewöhnlich  die  kosmologische 
nennt,  hatte  zum  Mittelpunkt  die  milesische  Schule. 
Wenn  nun  auch  die  Fragen,  die  diese  Mänrjer 
beschäftigten,  Wesen  und  Entstehung  der  ga^nz^a 
Welt  betrafen,  so  bildeten  sich  doch  bei  ihnen 
schon  gewisse  Grundbegriffe  heraus,  die  in  der 
biologischen  Theorienbildung  aller  Jahrhunderte 
wiederkehren.  Ich  muß  deshalb  dabei  noch  et^ss 
verweilen.  ,■> 

Die  alten  Naturphilosophen  waren  auf  der 
Suche  nach  dem  einheitlichen  Prinzip  der  Wek- 
erklärung  und  nach  dem  Urstofif.  Hier  begegnen 
uns  die  schroffsten  Gegensätze:  Während  die 
eleatische  Schule  von  dem  unveränderlichen  Sein 
der  Welt  überzeugt  war,  sah  Heraklid  alles  in 
Bewegung  und  Kampf.  Sein  „ndi'ia  (xi"  könnte 
man  als  das  erste  Aufblitzen  des  Entwicklungs- 
gedankens auffassen  und  sein  Wort:  „Der  Krieg 
ist  der  Vater  aller  Dinge"  ist  durch  Darwins 
Formulierung  des  „Kampfes  ums  Dasein"  wieder 
aktuell  geworden.  Ein  anderer  Denker,  Empe- 
dokles,  der  die  Welt  aus  4  Elementen  aufge- 
baut sah,  läßt  Liebe  und  Streit  die  bewegenden 
Kräfte    dieser    Elemente    sein.      Aus    seinen    nur 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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bruchstückweise  erhaltenen  Schriften  wissen  wir, 
daß  er  die  Pflanze  für  beseelt  hielt,  eine  Ansicht, 
die  bis  zum  19.  Jahrhundert  noch  häufig  wieder- 
kehrt. Aus  der  Annahme  der  4  Elemente  bildete 
sich  die  Atomistik  heraus,  die  schließlich  durch 
Demokrit  auch  auf  alles  Lebende  ausgedehnt 
wurde.  Die  Seele  besteht  ebenfalls  aus  Atomen. 
Auf  den  Siegeszug  der  Atomistik  in  der  Ge- 
schichte der  Wissenschaft  besonders  hinzuweisen 
erübrigt  sich  wohl.  Sind  wir  doch  heutzutage 
selbst  Zeugen  eines  gewaltigen  Fortschrittes  auf 
diesem  Gebiet,  an  dem  Chemie  und  Physik  in 
gleicher  Weise  Anteil  haben. 

Anaxagoras,  ebenfalls  aus  der  atomistischen 
Schule  stammend,  führte  den  Zweckbegrifif  in  die 
Wissenschaft  ein.  Erwähnen  möchte  ich  noch, 
daß  die  Grundidee  des  Deszendenzgedankens  sich 
bei  Anaximander  findet:  Durch  Sonnenwärme 
entstehen  blasige  Gebilde  aus  dem  Schlamm,  das 
wurden  fischartige  Geschöpfe.  Einige  von  ihnen 
krochen  auf  das  Land  und  wandelten  sich  um  usf. 

Diese  älteste  Periode  der  griechischen  Philo- 
sophie ist  noch  sehr  stark  durch  religiöse  Vor- 
stellungen beeinflußt,  und  es  muß  deshalb  als  ein 
Fortschritt  angesehen  werden,  wenn  Hippo- 
k  rat  es  wie  an  der  Pforte  zu  einem  neuen  Zeit- 
alter der  Tatsachenforschung  den  Ausspruch  tut: 
Das  Kennen  erzeugt  die  Wissenschaft,  das  Nicht- 
kennen  erzeugt  den  Glauben.  Die  folgende  Zeit 
widmete  sich  auf  philosophischem  Gebiet  dem 
IVIenschen.  Es  ist  das  Zeitalter  des  Sokrates 
und  der  Sophisten. 

Die  letzte  Periode  griechischer  Philosophie 
wird  repräsentiert  durch  die  großen  Systematiker 
Demokrit,  Plato  und  Aristoteles.  Plato 
können  wir  hier  übergehen,  sein  Hauptinteresse 
galt,  wie  das  seines  Lehrers  Sokrates,  dem 
Menschen. 

In  Demokrit  von  Abdera  und  Aristoteles 
von  Stagira  stehen  sich  zum  ersten  Male  Pol  und 
Gegenpol  wissenschaftlicher  Grundanschauung 
gegenüber:  Demokrit,  der  Materialist,  der 
Atomist,  der  alle  Erscheinungen  des  Lebens 
zurückführte  auf  letzte  Einheiten:  der  Analytiker, 
Aristoteles,  der  Vitalist,  der  sein  System 
krönte  mit  dem  Begriff  der  Entwicklung:  der 
Synthetiker.  Auch  noch  von  anderem  Standpunkt 
aus  vertreten  sie  schärfste  Gegensätze.  Demokrit 
sah  als  das  einzig  Wirkliche  den  leeren  Raum 
und  darin  die  Bewegung  der  Atome.  Damit 
führte  er  alles  Qualitative  auf  Quantitatives  zurück, 
auf  Atommechanik;  hier  waltet  also  ausgesproche- 
ner Monismus.  Aristoteles  dagegen  betont 
ausdrücklich  den  dualistischen  Charakter  seiner 
Anschauungen.  Auf  den  Zentralbegriff  seiner 
Philosophie  will  ich  kurz  näher  eingehen ,  weil 
dieser  Begriff  neuerdings  durch  Driesch  seine 
Auferstehung  erfahren  hat:  Entelechie  ist  bei 
Aristoteles  die  Selbstverwirklichung  des  We- 
sens in  den  Erscheinungen,  die  Seele  ist  die 
Entelechie  des  Leibes,  oder  allgemeiner  ausge- 
drückt; Entelechie  ist  Form  im  Stoff.     Aristo- 


teles nimmt  4  Prinzipien  des  Geschehens  an: 
Materie — Form — Zweck — Ursache.  Im  organischen 
Geschehen  sind  die  drei  letzteren  die  verschiede- 
nen Ausdrücke  für  dieselbe  Sache,  denn  Form= 
Zweck  =  Ursache  =  Entelechie.  Das  organische 
Geschehen  hat  das  mechanische  und  chemische 
zu  seiner  Voraussetzung.  Eine  entsprechende 
Stufenfolge  zeigt  das  Seelische.  Aristoteles 
spricht  den  Pflanzen  eine  vegetative  Seele  zu,  der 
Assimilation  und  Fortpflanzung  unterstehen,  im 
Tierreich  tritt  die  animale  Seele  hinzu.  Bei  kei- 
nem großen  Philosophen  der  folgenden  Jahr- 
hunderte spielt  die  Biologie  eine  so  überragende 
Rolle  im  System  der  Wissenschaften  wie  bei 
Aristoteles,  und  sie  hat  diese  führende  Rolle 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  gespielt,  bis  Des- 
cartes  und  Galilei  den  exakten  Wissenschaften 
die  Führung  übergaben.  Diese  Bedeutung  des 
aristotelischen  Systems  erklärt  wohl  auch  die 
Tatsache,  daß  da,  wo  nach  Abrundung  einer 
biologischen  Weltanschauung  gesucht  wird,  be- 
wußt oder  unbewußt  die  Verbindung  mit  Ari- 
stoteles aufgenommen  wird. 

Wenden  wir  uns  von  diesem  Höhepunkte 
theoretischer  Wissenschaft  im  Geiste  weiter  durch 
die  Jahrhunderte,  so  sehen  wir  die  Biologie  als 
Beschäftigung  vornehmer  Dilettanten  wie  Plinius, 
von  Gelehrten  der  alexandrinischen  Schule  wie 
Galen,  die  vom  christlichen  Dogma  stark  be- 
einflußt waren.  Durch  Jahrhunderte  hindurch 
nahmen  sich  die  Scholastiker  der  Biologie  an, 
ich  erinnere  an  Albert  den  Großen.  Sie 
lebten  ganz  in  den  Überzeugungen  des  Aristo- 
teles und  Galen  und  brachten  deren  Lehren 
mit  der  christlichen  in  Einklang.  Daneben  be- 
stand eine  Überlieferung  biologischer  Kenntnisse, 
die  im  Volke  fortlebte  und  in  der  Renaissance 
wiederum  das  Interesse  der  Menschen  für  sich 
zurückeroberte.  Neues  an  theoretischen  Anschau- 
ungen wurde  in  diesen  Zeiten  nicht  gewonnen. 
Wo  die  Kenntnis  der  Tatsachen  aufhörte,  begann 
Glaube  und  Aberglaube. 

In  diesen  im  Volke  lebenden  Vorstellungen 
von  der  Tier-  und  Pflanzenwelt  war  Theo- 
phrastus  Bombastus  Paracelsus  von 
Hohenheim  aufgewachsen,  der  berühmte  Natur- 
arzt, dessen  erfrischende  Natürlichkeit  alle  scho- 
lastische Stubengelehrsamkeit  bitter  haßte.  Ob- 
wohl seine  konkreten  Kenntnisse  der  belebten 
Natur  minimal  waren,  sind  seine  Ideen  über  diese 
Natur  doch  recht  beachtlich.  Seine  Gedanken 
über  Erblichkeit  kommen  denen  Gregor  Men- 
dels nahe  (er  unterschied  dominierende  Eigen- 
schaften von  unterliegenden,  d.  h.  rezessiven,  wie 
man  heutzutage  sagt,  und  sah  in  den  Nachkom- 
men die  kombinierten  Eigenschaften  der  Eltern 
zum  Ausdruck  kommen).  Die  Entwicklung  ver- 
stand er  vitalistisch,  und  als  das  Bewirkende  sah 
er  Kräfte  an,  die  in  unentwickelter  Form  die 
Materie  darstellen  sollten. 

Trotz  so  neuer  Anschauungen  kann  die  Lehre 
des  Paracelsus  nicht  in  die  gerade  Entwicklung 


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der  biologischen  Theorie  von  der  Scholastik  zur 
Renaissance  eingereiht  werden.  Es  sind  Laien- 
ansichten, die  er  vertritt.  Die  Renaissance  küm- 
merte sich  nicht  um  biologische  Theorien.  V  e  - 
sal  ist  ein  typischer  Vertreter  dieser  absichtlich 
nur  die  Tatsachen  berücksichtigenden  Richtung. 
Bezeichnend  für  diese  Zeit  ist  die  Forschungs- 
weise Leonardo  da  Vincis:  Voll  leiden- 
schaftlichen Eifers  warfen  sich  diese  Renais- 
sancemänner auf  die  verschiedensten  Wissen- 
schaftsgebiete, entdeckten  zahlreiche  neue  Tat- 
sachen, hatten  aber  nicht  die  Fähigkeit,  sie  unter 
einheitlichen  Gesichtspunkten  zu  gruppieren.  Und 
so  endete  ihre  Lebensarbeit  in  ungeheurer  Zer- 
splitterung. In  der  Folgezeit  aber  brachte  die  auf 
die  Reformation  folgende  Reaktion  der  katholi- 
schen Kirche  ein  neues  Erblühen  der  Scholastik, 
vor  allem  seit  Errichtung  der  Jesuitenschulen. 
Dieser  konsequenten  Schulwissenschaft  war  die 
Laienwissenschaft  der  Renaissance  nicht  gewachsen. 
Erst  die  Begründung  der  neuen  Physik  durch 
Galilei  und  Descartes  brachte  ein  Gegen- 
gewicht zu  dem  aristotelischen  Vitalismus.  Es 
ist  verständlich,  daß  diese  Zeit  der  Rivalität  zwi- 
schen Tatsachenforschung  und  einer  durch  Glau- 
benssätze gestützten  Theorie  für  fundamentale 
theoretische  Ideen  unfruchtbar  blieb.  Dagegen 
wurden  Tatsachen  von  erheblicher  Tragweite  auf- 
gedeckt, ich  denke  an  die  Entdeckung  des  großen 
Blutkreislaufs  durch  Harvey  im  Jahre  161 8. 
Auch  manche  andere  Tatsache,  die  Aristoteles 
theoretisch  erschlossen  hatte,  wurde  in  diesen 
Jahrhunderten  nachgeprüft  und  bestätigt.  Reg- 
nier  de  Graaf,  der  den  Unterschied  der  beiden 
Geschlechter  feststellte,  G  e  s  n  e  r  und  A 1  d  r  o  - 
vandi  sind  hier  zu  nennen. 

Als  nächste  Etappe  in  der  Entwicklnng  der 
biologischen  Wissenschaft  muß  der  Sieg  der  Me- 
chanik über  den  Vitalismus  im  17.  Jahrhundert 
erwähnt  werden.  Aristoteles  hat  die  Biologie 
als  allesbeherrschende  Wissenschaft  bezeichnet. 
Die  Renaissanceforscher  revidierten  diese  Ansicht 
und  schränkten  den  Bereich  der  Biologie  zu- 
gunsten der  mechanischen  Naturwissenschaften 
ein.  Leonardo,  die  nüchternde  Betrachtung 
der  Tatsachen  an  erste  Stelle  stellend,  leitete 
diese  Bewegung  ein,  wie  schon  früher  erwähnt 
wurde.  Die  Beobachtung  der  Organismen  führte 
zu  Analogien  mit  physikalischen  Vorgängen  und 
allmählich  trat  die  mechanische  Naturbetrachtung 
ihre  Vorherrschaft  an.  Die  Gelehrten  verloren 
die  Biologie  vollkommen  aus  den  Augen  und  ein 
Systematiker  wie  Bako  vonVerulam,  der  an 
einem  Wendepunkt  der  europäischen  Geistes- 
geschichte steht,  kennt  in  seinem  System  der 
Naturwissenschaften  nur  noch  Mathematik,  Physik 
und  Astronomie,  aber  keine  Biologie. 

So  sank  die  Biologie  zur  Beschäftigung  von 
Dilettanten  herab,  die  mit  Hilfe  der  eben  er- 
fundenen optischen  Linsen  in  das  Innere  des 
Mikrokosmos  einzudringen  suchten.  Daß  in  diesem 
Neuland    zahlreiche    neue    Tatsachen    zutage    ge- 


fördert wurden,  war  nicht  verwunderlich  und  so 
haben  Leute  wie  Redi,  Malpighi,  Swam- 
merdam,  Reaumur,  Rösel  vonRosenhof 
und  Spallanzani  Bedeutung  für  die  Geschichte 
der  Biologie.  Der  einzige  theoretische  Nieder- 
schlag dieser  Tatsachenforschung  war  die  Präfor- 
maiions  oder  Einschachtelungsiheorie:  die  Ver- 
quickung durch  Beobachtung  festgestellter  Tat- 
sachen mit  kirchlichen  Anschauungen  führte  dazu 
sich  alle  Tiere  einmal  erschaffen  vorzustellen.  So 
sollten  also  die  jetzigen  Menschen  in  ihrer  Stamm- 
mutter Eva  vorgebildet  gewesen  sein.  Als  Leeu  - 
wenhoeck  aber  das  Spermatozoon  entdeckt 
hatte,  das  nach  ihm  die  Form  eines  winzigen 
Männleins  haben  sollte,  verlegte  man  die  Ein- 
schachtelung  in  das  männliche  Geschlecht.  Die 
Vertreter  beider  Ansichten  bekämpften  sich  heftig. 

Ein  Erneuerer  der  Lehren  des  Paracelsus 
erschien  in  van  Helmont,  einem  Pietisten  und 
Schüler  Hohenheims.  Für  ihn  sind  Wasser 
und  Luft  die  Grundstoffe  für  alles  Lebende. 
Sein  Einfluß  auf  spätere  Denker  wie  Leibniz 
und  Goethe  ist  groß  gewesen.  Die  einseitige 
Betonung  mechanistischer  Denkweise  rief  vita- 
listische  Gegenströmungen  auf  den  Plan ,  deren 
wichtigste  die  Lehre  G.  E.  Stahls,  eines  Wei- 
marer Arztes  ist.  Er  versucht  Mechanismus  und 
Vitalismus  zu  versöhnen.  Als  eigentümlich  für 
biologische  Vorgänge  bezeichnet  er  das  zweck- 
mäßige Geschehen.  Diese  Zweckmäßigkeit  wird 
durch  die  Seele  bewirkt. 

Offensichtlich  im  Anschluß  an  Descartes 
aber  unter  Übernahme  vitalistischer  Ideen  hat 
Leibniz  seine  Naturphilosophie  begründet,  die 
die  Grundlage  für  wichtige  biologische  Speku- 
lationen folgender  Zeiten  legte.  Leibniz  war 
noch  ganz  in  den  Anschauungen  einer  Präfor- 
mation befangen,  Entwicklung  bedeutete  also  für 
ihn  Auswicklung.  Andererseits  geht  die  Evolution 
über  das  Individuum  hinaus  und  er  kommt  hier 
zu  einer  Art  Phylogenie  (Stammesgeschichte). 
Auch  die  Paläontologie  förderte  er  durch  neue 
Anschauungen.  In  den  Versteinerungen  sah  er 
nicht  nur  Spiele  der  Natur  sondern  Zeugnisse 
vergangener  Formen,  die  bei  einer  anderen  Ver- 
teilung von  Land  und  Wasser  gelebt  hatten,  Auch 
Leibnizens  Monadenlehre  ist  fruchtbringend  für 
die  Biologie  geworden.  Die  Monaden,  eine  neue 
Form  der  platonischen  Ideen,  stellen  eine  Stufen- 
leiter von  der  leblosen  Welt  bis  zu  den  höchsten 
Wesen  dar.  Der  Vergleich  ähnlicher  Monaden 
weist  auf  die  organischen  Einheiten  und  je  näher 
die  Monaden  einander  stehen  um  so  ähnlicher 
sind  sie.  Es  klingen  hier  Prinzipien  der  ver- 
gleichenden Forschung  an,  die  aber  von  Leibniz 
nicht  weiter  verfolgt  werden.  Seine  im  ganzen 
mechanistische  Theorie  (eine  vitale  Kraft  nimmt 
er  nur  für  den  Anfang  alles  Lebens  an)  machte 
ihn  zum  Gegner  Stahls.  Auf  Leibniz  gehen 
alle  Theorien  zurück,  die  einen  einheitlichen  Bau- 
plan der  Tiere  annehmen  und  über  das  Wesen 
der  Art  sich  auslassen. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Die  Auffassung  der  Organismen  als  historische 
Wesen  wurde  von  Bonnet  besonders  betont,  der 
im  übrigen  ganz  im  Leibnizschen  Fahrwasser 
segelte. 

Viel  wichtiger  für  die  Weiterentwicklung 
theoretischer  Anschauungen  ist  die  erste  große 
epigenetische  Theorie,  die  theoria  generationis 
von  Caspar  F"riedrich  Wolff.  Unter  Epi- 
genese  versteht  man  im  Gegensatz  zu  Präfor- 
mation eine  Entwicklung  durch  sukzessive  Neu- 
bildung der  sich  differenzierenden  Teile  des  Or- 
ganismus. Wolff  unterschied  mehrere  Grund- 
prinzipien: I.  die  wesentliche  Kraft  und  2.  die 
Erstarrung  als  Prinzip  der  Entwicklung.  Aus  dem 
Zusammenwirken  von  i  und  2  geht  die  organische 
Form  hervor.  3.  Der  Körper  ist  zunächst  struktur- 
los, die  Struktur  ist  die  Folge  der  Entwicklung. 
Die  theoria  generationis  fand  erst  Anerkennung, 
als  durch  embryologische  Untersuchungen  M  e  c  k  e  1 
und  C.  E.  V.  Baer  gewissermaßen  die  Illustration 
dazu  gaben. 

Das  Interesse  an  der  Artenkenntnis  nahm  bei 
dem  Fehlen  theoretischer  Betrachtungen  im  18.  Jahr- 
hundert erheblich  zu ;  das  äußerte  sich  vor  allem 
in  dem  Erscheinen  von  Tier-  und  Pflanzenbüchern. 
Als  Krönung  dieser  Bestrebungen  haben  wir  die 
systematischen  Arbeiten  Linnes  anzusehen.  Für 
das  Gebiet  dieses  Vortrags  ist  Linnes  be- 
deutendste Leistung  die  Darstellung  des  Artbe- 
griffs. Art-  und  Gattungsbegriff  unterschied  man 
schon  seit  Plato,  aber  sie  führten  ein  wesentlich 
ideelles  Dasein.  In  ähnlicher  Weise  benutzte 
Aristoteles  diese  Begriffe  und  nach  ihm  die 
Scholastik  des  Mittelalters.  Der  Rationalismus 
des  17.  Jahrhunderts  verstand  sie  ebenso.  Linne 
nahm  an,  daß  die  Gattungen  und  Arten  der  Tiere 
und  Pflanzen  so  geschaffen  sind,  wie  sie  jetzt 
existieren  und  hauptsächlich  physiologisch  charakte- 
risierbar sind,  d.  h.  eine  Pflanzenart  ist  eine  Pflanze, 
die  samenbeständig  ist.  Daneben  kommen  ihr 
eine  Anzahl  äußerer  Charaktere  zu,  die  die  Fest- 
stellung der  Art  erleichtern.  Diese  wurden  in 
der  Folgezeit  für  das  Hauptcharakteristikum  der 
Art  angesehen. 

Die  Jahrhunderte  voller  Einzelentdeckungen 
und  doch  so  arm  an  Ideen  neigten  sich  ihrem 
Ende  zu  und  herauf  zog  ein  Zeitalter  neubelebter 
Spekulation,  auch  auf  biologischem  Gebiete,  das 
Zeitalter  der  Aufklärung.  An  der  Pforte  dieser 
Zeit  steht  Buffon,  selbst  Dilettant  und  eigent- 
lich kein  Biologe ,  jedenfalls  alles  andere  als  ein 
Systematiker.  Er  trat  als  schärfster  Gegner 
Linnes  auf,  verachtete  die  trockenen  Definitionen 
und  strebte  eine  natürliche,  d.  h.  volkstümliche 
Beschreibung  der  Lebewesen  an.  Wir  sehen  hier 
die  Auflehnung  des  natürlich  empfindenden  Men- 
schen gegen  die  Auswüchse  des  Rationalismus 
und  die  trockenen  logischen  Deduktionen  der 
mittelalterlichen  christlichen  Wissenschaft.  Dieser 
Kampf  zog  weitere  Kreise  und  wurde  schließlich 
ein  Kampf  um  Gott  und  Religion,  der  von  der 
englischen  und  französischen  Aufklärung  energisch 


aufgenommen  wurde.  Hatte  schon  der  Rationa- 
lismus das  Wirken  Gottes  auf  eine  einmalige 
Schöpfung  aller  Lebewesen  beschränkt,  so  er- 
setzte die  Aufklärung  Gott  durch  die  schaffende 
Natur.  Damit  bahnte  sich  die  Frage  nach  einer 
natürlichen  Entstehung  der  Organismen  an.  Aller- 
dings, die  ersten  Versuche  einer  solchen  Erklärung 
sind  noch  sehr  naiv:  Aus  organischen  Molekülen 
sollten  sich  die  Organismen  aufgebaut  haben,  die 
an  sich  unveränderlich  sind.  Eine  Änderung  der 
Tierwelt,  die  Buffon  aus  geologischen  Tatsachen 
folgerte,  kann  nur  so  zustande  kommen,  daß  die 
Formen  wieder  in  organische  Moleküle  zerfallen, 
aus  denen  neue  Arten  aufgebaut  werden.  Merk- 
würdig, ein  Nichtbiologe  gab  den  Anstoß  zu  einer 
Reihe  wissenschaftlicher  Großtaten,  deren  Erwäh- 
nung uns  zu  Cuvier  und  den  anderen  französi- 
schen Morphologen  führt. 

Das  wichtige  Prinzip,  auf  dem  diese  Forscher 
ihre  Ideen  aufbauen,  ist  das  der  Kontinuität,  der 
Stufenfolge  der  Organismen.  Es  begegnete  uns 
schon  bei  Leibniz  und  läßt  sich  bis  auf  Plato 
zurückverfolgen.  Morphologie,  die  Lehre  vom 
Aufbau  des  Körpers  und  vergleichende  Anatomie 
als  Frucht  der  Studien  über  Symmetrie  und  der 
Lage  der  Teile  zueinander  standen  damals  im 
Mittelpunkt  des  Interesses.  Auf  botanischem  Ge- 
biet brach  de  Candolle  den  neuen  Anschauun- 
gen Bahn:  Die  wahre  Natur  der  Organe  erkennt 
man  I.  am  Fehlschlagen  der  Organe,  2.  an  Ver- 
wandlung und  Ausartung  der  Teile,  3.  am  Ver- 
wachsen der  Teile. 

Unter  den  Zoologen  der  damaligen  Zeit  will 
ich  nur  zwei  Männer  erwähnen,  Cuvier  und 
Geoffroy-St.  Hilaire.  Cuvier  nahm  an, 
daß  Form  und  Funktion  eines  Tieres  eine  ge- 
schlossene Einheit  darstellen.  Fehlen  eines  Körper- 
teils stört  die  Planmäßigkeit  seiner  Form.  Diese 
Planmäßigkeit  führt  Cuvier  auf  die  Korrelation 
der  Formen  zurück.  Eine  scharfe  Grenze  zwischen 
physiologischer  und  morphologischer  Korrelation 
existiert  bei  ihm  noch  nicht.  Eine  Typenlehre 
ist  der  Schlußstein  seines  Ideengebäudes,  das 
nicht  rein  morphologisch  begründet  ist.  Die 
zweite  bedeutende  Leistung  Cuviers  bestand  in 
der  Heranziehung  der  Paläontologie  für  die  ver- 
gleichende Morphologie.  Damit  schuf  er  eine 
geschichtliche  Betrachtung  der  Organismenwelt 
und  gab  der  Geologie  ein  Mittel  zu  relativer 
Altersbestimmung  an  die  Hand.  Man  sollte  den- 
ken, daß  von  diesem  Standpunkt  aus  eine  stam- 
mesgeschichtliche Theorie  hätte  gewonnen  werden 
können.  Aber  Cuvier  lebte  noch  zu  sehr  in 
den  Anschauungen  des  Rationalismus,  das  biolo- 
gische Experiment  war  ihm  fremd  und  die  Tat- 
sachen der  Embryologie  galten  ihm  nichts.  Sein 
Gegner  in  dem  sog.  Akademiestreit  Geoffroy- 
St.  Hilaire  vertrat  einen  viel  konsequenteren 
Standpunkt  in  der  Morphologie,  der  nicht  mit 
physiologischen  Analogien  verquickt  war.  Seine 
Grundannahme  war  ein  qualitativ  einheitlicher 
Bauplan    der    Tiere.       Unterscheidend    sind    nur 


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quantitative  Unterschiede.  Ob  dieser  Anschauung 
geriet  er  mit  Cuvier  in  den  bekannten  Streit, 
in  dem  Cuvier  Sieger  bHeb,  da  er  den  Augen- 
schein der  qualitativen  Unterscheidbarkeit  der 
Tierklassen  für  sich  hatte.  Als  Idee  war  die  An- 
sicht Geoffroys  die  größere  und  gewann  mehr 
Einfluß  auf  die  Geister.  Die  deutschen  Natur- 
philosophen und  Goethe  übernahmen  einen 
Teil  seiner  Anschauungen. 

Um  die  Wende  zum  19.  Jahrhundert  tritt  ein 
Hauptvertreter  der  biologischen  Theorie  hervor, 
dessen  Ansichten  noch  heute  im  Mittelpunkt  der 
Diskussion  stehen,  ich  meine  Lamarck.  Er  fußt 
auf  der  Ansicht  älterer  Forscher  von  der  Stufen- 
folge der  Organismen.  Wie  entsteht  sie?  Mit 
Hilfe  eines  Fluidums,  das  in  die  Masse  sich  er- 
gießt; so  entsteht  Leben  und  so  vervollkommnet 
es  sich.  Dabei  führt  das  Bedürfnis  nach  einem 
Organ  zu  seiner  Ausbildung.  Durch  Übung  er- 
starken solche  Organe  und  können  sich  als  solche 
vererben.  Lamarck  hat  die  Anerkennung  seiner 
Lehre  bei  den  Zeitgenossen  nicht  erreicht.  Ihm 
erwuchs  ein  Gegner  in  Cuvier. 

Auf  dem  Boden  der  Betrachtungen  eines 
Leibniz,  Cuvier  und  Geoffroy  entstand  im 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  eine  idealistische 
Morphologie,  die  den  Gedanken  des  Bauplans  in 
der  Organismenwelt  weiterspann  und  ihre  ausge- 
prägteste Form  in  Goethes  Metamorphosenlehre 
fand.  Goethe  verfolgte  die  Entwicklung  der 
Pflanze  Schritt  für  Schritt  und  fand  eine  Meta- 
morphose der  einzelnen  Organe  aus  der  einheit- 
lichen Grundform.  Was  uns  interessiert,  ist,  daß 
Goethe  das  Wesen  des  Lebens  in  der  lebendigen 
Bewegung  sah. 

Allmählich  entwickelte  sich  die  Idee  einer 
genetischen  Betrachtungsweise.  Entwicklung  ist 
nach  K.  Fr.  Wolff  eine  Folge  von  Kräften,  deren 
Spannung  Formveränderungen  verursachen  soll. 
Diese  Veränderungen  wurden  studiert  von  Doel- 
linger,  v.  Baer,  Pander  u.  a.  K.  E.  v.  Baer 
führte  die  meisten  der  heute  in  der  Entwicklungs- 
geschichte üblichen  Begriffe  in  die  Wissenschaft 
ein.  Theoretisch  war  er  Vitalist  und  bekämpfte 
die  wiederauflebende  Lehre  von  der  Präformation, 
der  besonders  Embryologen  huldigten,  die  in  der 
Entwicklung  nur  wieder  eine  Auswicklung  ver- 
standen, v.  Baer  entwickelte  eine  sog.  Forma- 
tionstheorie. Er  behauptete,  daß  die  Tiere  zuerst 
den  Typus  darstellten,  dann  die  Klasse,  dann  die 
Ordnung,  die  Familie  usw.  Der  Versuch  eines 
Systems  auf  genetischer  Grundlage  wird  von  ihm 
gemacht.  In  derselben  Richtung  einer  geneti- 
schen Betrachtungsweise  wirkten  S  c  h  1  e  i  d  e  n  und 
ScJiwann.  Dieser  sah  den  Organismus  als  ein 
gesetzmäßiges  Aggregat  von  Einzelwesen  niederer 
Ordnung  an;  er  sträubte  sich  gegen  eine  vita- 
listische  Theorie  des  Lebens.  Einen  neuen  Auf- 
schwung des  Vitalismus  brachte  der  Führer  der 
deutschen  physiologischen  Forschung  um  die 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts,  Johannes  Müller. 
Es  handelte  sich  bei   ihm  vielfach  um  reine  Spe- 


kulation, die  sich  vom  Experiment  fernhielt  und 
mehr  nur  eine  vitalistische  Grundstimmung  dar- 
stellte, auf  der  kein  ausgeprägtes  System  sich  auf- 
baute. Das  ist  wohl  auch  der  Grund,  daß  der 
größte  Teil  der  Schüler  Müllers,  die  Haeckel, 
Helmholtz,  du  Bois-Reymond  und  Vir- 
chow  sich  alle  mechanistischen  Richtungen  an- 
schlössen. Die  Arbeitsmethoden  ihres  Lehrers 
übernahmen  sie  wohl,  doch  seine  theoretischen 
Anschauungen  waren  nicht  konsequent  und  aus- 
gesprochen genug.  In  Frankreich  suchte  die 
Physiologie  Anschluß  an  Chemie  und  Physik.  Ich 
erwähne  hier  nur  Magendie. 

Waren  die  ersten  Jahrzehnte  des  Jahrhunderts 
einer  idealistischen  Theorie  günstig  gewesen,  so 
trat  allmählich  eine  Reaktion  gegen  die  ver- 
stiegenen Ideen  jener  Männer  ein.  Diese  Reaktion 
sog  ihre  Kraft  aus  den  Schriften  der  Engländer 
Locke,  Berkeley,  Hume  und  Mi  11,  in 
Deutschland  bekämpfte  der  Philosoph  H  e  r  m  a  n  n 
Lotze  den  Vitalismus.  Er  empfahl  Beobachtung 
der  Natur  und  Erforschung  der  Ursachen  der 
Lebensvorgänge.  Als  Naturforscher  übte  Helm- 
holtz einen  großen  Einfluß  in  derselben  Richtung 
aus  und  bereitete  den  Empirismus  vor.  Als 
stärkste  Gegner  der  Naturphilosophen  erschienen 
die  Materialisten,  in  der  Philosophie  Feuerbach 
und  David  Friedrich  Strauß,  in  der  Bio- 
logie waren  Karl  Vogt,  Moleschott  und 
Büchner  ihre  Führer.  Für  sie  war  auch  das 
Psychische  Materie,  „Gedanken  ein  Sekret  des 
Gehirns". 

Aus  diesem  Durcheinander  extremer  An- 
schauungen erwuchs  die  bedeutendste  und  um- 
fassendste Theorie  des  19.  Jahrhunderts,  die  Lehre 
Charles  Darwins.  Ich  will  diese  kurz 
charakterisieren :  Darwin  ging  von  der  Tatsache 
aus,  daß  eine  größere  Zahl  von  Individuen  einer 
Art  sich  nie  völlig  einander  gleichen,  daß  also 
eine  Art  in  eine  Anzahl  Varietäten  aufgeteilt 
werden  kann.  Er  leitete  daraus  seine  erste  Grund- 
ansicht ab,  die  Variabilität  der  Organismen.  Unter- 
schiede zwischen  den  Arten  entstehen  durch 
direkten  Einfluß  der  Außenwelt.  Die  zweite 
Grundanschauung  der  Darwinschen  Theorie  ist 
die  der  Vererbung  der  obenerwähnten  Varianten. 
Auf  dieser  Grundlage  gibt  nun  Darwin  für  die 
Entwicklung  der  Organismen  eine  Erklärung  durch 
die  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl.  Er  nahm 
an,  daß  analog  dem  Tierzüchter,  der  unter  seinem 
Material  die  geeignetsten  Individuen  zur  Fort- 
pflanzung ausliest,  die  Natur  eine  natürliche  Zucht- 
wahl treibe.  Das  Mittel  dafür  ist  der  Kampf  ums 
Dasein,  den  man  sich  nicht  als  einen  Kampf  vor- 
zustellen braucht,  sondern  etwa  so :  Bei  der  Über- 
produktion von  Keimen  können  wegen  nicht  aus- 
reichender Ernährung  nur  die  kräftigsten  über- 
leben. 

Der  Ausgangspunkt  für  Darwins  Gedanken- 
richtung ist  in  den  soziologischen  Schriften  des 
damaligen  England  zu  suchen,  besonders  der  Ein- 
fluß   von   Malthus    ist    bedeutend.      Außerdelii 


286 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


hat  der  Geologe  Lyell   noch  Einfluß   auf  Dar- 
win ausgeübt. 

Zur  gleichen  Zeit  kam  Wallace  auf  sehr 
ähnliche  Ideen,  konnte  sie  aber  nicht  in  so  große 
Zusammenhänge  bringen  und  auf  so  einfache 
Grundprinzipien  zurückführen. 

Wie  Sie  wissen  hat  der  Darwinismus  von  An- 
fang an  eine  große  Gegnerschaft  gehabt.  Es 
waren  zwei  Weltanschauungen,  die  hier  sich 
gegenübertraten.  Die  alten  Biologen  suchten  in 
der  Weltentwicklung  einen  großen  allgemeinen 
Sinn.  Darwin  dagegen  wollte  einfach  die  Ent- 
wicklung beschreiben. 

Von  dieser  Zentraltheorie  des  19.  Jahrhunderts 
strahlen  die  verschiedensten  Theorien  nach  allen 
Seiten  aus,  teils  jene  ausbauend,  teils  neue  Wege 
einschlagend.  Eine  philosophische  Begründung 
des  Darwinismus  suchte  Herbert  Spencer 
in  England  zu  geben.  In  Frankreich  dagegen 
konnte  die  neue  Lehre  nicht  Fuß  fassen.  Auf 
um  so  fruchtbareren  Boden  fiel  sie  in  Deutsch- 
land. Ernst  Haeckel  bildete  sie  weiter  und 
gab  ihr  insofern  eine  neue  Richtung,  als  die  von 
Darwin  behandelten  Gebiete,  nämlich  Varia- 
bilität und  Vererbung  bei  ihm  zurücktraten,  dafür 
aber  Systematik,  Morphologie  und  Embryologie 
in  den  Vordergrund  gestellt  wurden.  Die  Syste- 
matik wurde  bei  ihm  zur  Phylogenie,  in  der 
Embryologie  formulierte  er  das  biogenetische 
Grundgesetz  und  die  Gasträatheorie.  Das  bio- 
genetische Grundgesetz  war  von  Fritz  Müller 
bei  Untersuchung  von  Larvenformen  der  Krebse 
aufgestellt  worden  und  besagt,  daß  die  Keimes- 
geschichte der  Organismen  eine  mehr  oder  weniger 
veränderte  Wiederholung  der  Stammesgeschichte 
ist,  und  die  Gasträatheorie  führt  alle  vielzelligen 
Tiere  auf  eine  einheitliche  Grundform  zurück. 
Erwähnen  wir  schließlich  noch  Haeckels  Mo- 
nismus 1  Ihm  liegt  eine  mechanistische  An- 
schauung zugrunde:  Materie,  die  zugleich  beseelt 
ist,  ist  der  Baustoff  aller  Dinge,  der  organischen 
wie  der  anorganischen  Körper. 

Einen  Versuch,  die  darwinistische  Theorie  ratio- 
nalistisch umzugestalten,  unternahm  C.  v.  Nägeli. 
Seinen  an  Darwin  orientierten  Überlegungen 
pfropfte  er  ein  Vervollkommnungsprinzip  auf, 
einer  mechanistischen  Theorie  eine  vitalistische 
Teleologie.  Für  die  Entwicklung  der  Organismen 
nahm  er  einen  einheitlichen  Plan  an. 

Die  konsequenteste  Fortsetzung  der  Lehre 
Darwins  wurde  wohl  von  August  Weis- 
mann durchgeführt.  Er  stellte  die  Selektion  als 
das  allmächtige  Prinzip  in  der  Entwicklung  auf. 
Der  Angriffspunkt  für  sie  ist  das  Keimplasma, 
dessen  Unsterblichkeit  im  Gegensatz  zum  Körper- 
plasma W  c  i  s  m  a  n  n  besonders  betonte.  Die 
Wichtigkeit  des  Keimplasmas  zeigt  sich  auch 
darin,  daß  nur  die  äußeren  Einflüsse,  die  bis  zu 
ihm  vordringen,  vererbt  werden.  Weis  mann 
wies  auch  experimentell  nach,  daß  somatisch 
erworbene  Eigenschaften  nicht  erblich  sind. 
Weismanns    Keimplasmalehre    hatte    ein    prä- 


formistisches  Gewand  und  führte  die  Selektion 
durch  bis  zu  den  kleinsten  angenommenen  Ein- 
heiten der  lebendigen  Substanz. 

Mancherlei  Umbildungen  und  Abänderun- 
gen erlitt  Darwins  Lehre.  Der  Geograph 
Moritz  Wagner  hielt  die  Wanderung  der  Tiere 
für  einen  wichtigen  Faktor  der  Artbildung.  In 
neuer  Umgebung,  fern  von  ihren  Artgenossen, 
mit  denen  sie  sich  weder  vermischen  noch  den 
Kampf  ums  Dasein  auskämpfen  müssen,  bilden 
sie  Lokalvarietäten,  der  erste  Schritt  zur  Art- 
bildung. 

Auch  Wilhelm  Roux'  Kampf  der  Teile 
im  Organismus  ist  eine  Anwendung  Darwin- 
scher Anschauung  auf  einem  besonderen  Gebiete. 
Innerhalb  der  Gewebe  wird  ein  Konkurrenzkampf 
ausgefochten  und  der  stärkere  Teil  breitet  sich 
durch  funktionelle  Anpassung  immer  mehr  aus. 
Die  Psychologie  schloß  sich  ebenfalls  dem 
Darwinismus  an.  Die  vergleichende  Psychologie 
verglich  die  psychischen  Äußerungen  der  Tiere 
genau  wie  morphologische  Merkmale  verglichen 
werden.  Eine  strenge  Scheidung  von  Instinkt  und 
Intelligenz  hörte  auf.  Instinkt  ist  nach  Darwin 
ererbte  Gewohnheit,  Instinktunterschiede  kommen 
durch  Selektion  zustande.  Im  Gegensatz  dazu 
betonte  der  Jesuitenpater  Wasmann  dengrund- 
sätzlichen  Unterschied  zwischen  Instinkt  und  In- 
telligenz. Er  steht  mit  dieser  Ansicht  unter 
den  Biologen  ziemlich  vereinzelt  da. 

Man  unterscheidet  heute  die  Biologen  je  nach 
ihrer  Stellung  zur  Frage  der  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  als  Lamarckisten  und  Darwinisten, 
obgleich  Darwin  noch  eine  solche  Vererbung 
annehmen  zu  müssen  glaubte,  im  übrigen  sich 
allerdings  von  L  a  m  a  r  c  k  lossagte.  Der  Lamarckis- 
mus  des  19.  Jahrhunderts  hat  nur  ein  Charakte- 
ristikum ;  Die  Gegnerschaft  gegen  den  Dar- 
winismus. Man  kann  bei  ihm  alle  Schattie- 
rungen konstatieren,  vom  Psycholamarckismus 
Wagners  und  Paulys  bis  zur  Vermählung 
beider  Ansichten  bei  Haeckel.  Die  bedeutend- 
ste Ausbildung  erfuhr  der  Lamarekismus  durch 
Eimer.  Er  nimmt  eine  Entwicklung  über  das 
Individuum  hinaus  an,  ein  phyletisches  Wachstum, 
das  nur  in  einer  Richtung  geht  und  deshalb  nur 
Varianten  in  dieser  einen  Richtung  schafft.  Des- 
halb nennt  Eimer  seine  Theorie  Orthogenesis. 
Belege  für  sie  bringt  er  vor  allem  in  der  Zeich- 
nung und  Färbung  der  Schmetterlinge. 

Noch  eine  eigenartige  Idee  möchte  ich  an 
dieser  Stelle  erwähnen.  Ewald  Hering  formu- 
lierte die  Analogie  der  Entwicklung  des  Körpers 
mit  der  der  Seele  in  seinem  Akademievortrag 
„Das  Gedächtnis  als  Funktion  der  lebenden  Ma- 
terie". Der  Reiz  der  Außenwelt  ruft  eine  Reak- 
tion im  Organismus  hervor  und  hinterläßt  eine 
Spur,  die  sich  bei  Wiederholung  der  Reize  sum- 
mieren kann.  Semon  verarbeitete  diese  An- 
schauung zu  einer  Entwicklungshypothese  der 
Organismen.  Die  „Mneme"  bezeichnet  die  Summe 
des  von  den  Vorfahren  erworbenen  und  Engramm 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


287 


nennt  Semon  die  einzelne  hinterlassene  Spur. 
Um  den  Kreis  der  Lamarckisten  vollständig  vor- 
zuführen, muß  ich  noch  Arthur  Schopen- 
hauer und  Eduard  v.  Hartmann  erwähnen. 
Ersterer  verwarf  alle  Phylogenie  und  brachte 
wieder  die  alte  Lehre  der  Einheit  des  Planes  der 
Organismen  vor.  Letzterer  schwankte  zwischen 
wissenschaftlichem  JVIechanismus  und  metaphysi- 
schem Vitalismus. 

Wir  kommen  schließlich  zu  den  modernsten 
Vertretern  der  biologischen  Theorie  und  ich 
möchte  hier  nur  zwei  gegensätzliche  Meinungen 
anführen,  die  von  Wilhelm  Roux  und  von 
Hans  Driesch.  W.  Roux,  ein  Schüler 
Ha  eck  eis,  begann  bereits  bei  seinen  ersten 
Arbeiten  die  Frage  nach  der  Entwicklung  zu  ver- 
tiefen, indem  er  nicht  nur  die  Entwicklung  als 
eine  Folge  von  Formzuständen  darstellte,  sondern 
die  Ursachen  dieser  Entwicklung  zu  ergründen 
suchte.  Die  mechanistische  Anschauung  sucht  er 
nicht  durch  Vergleichnng  zu  belegen,  sondern 
durch  das  Experiment,  um  die  Natur  zu  begreifen, 
nicht  nur  sie  darzustellen.  Die  neue  Wissenschaft 
nannte  er  Entwicklungsmechanik,  Mechanik  ver- 
standen im  Sinne  wie  Kant  eine  Mechanik  = 
kausale  Betrachtung  des  Himmels  verfaßte.  Hans 
Driesch,  ebenfalls  zu  Anfang  Entwicklungs- 
mechaniker und  Schüler  Roux',  wandte  sich 
bald  der  logischen  Begründung  der  Biologie  zu, 
verwirft  eine  mechanistische  Auffassung  und  be- 
hauptet die  Eigengesetzlichkeit  des  Lebens.  Es 
würde  zu  weit  führen  auf  Driesch s  Anschau- 
ungen näher  einzugehen.  Bemerken  möchte  ich 
nur,  daß  er  die  Entelechielehre  des  Aristoteles 
in  seinem  System  verwandt  hat,  um  durch  Be- 
antwortung der  letzten  theoretischen  Fragen  der 
Biologie  sein  Weltbild  abzurunden. 

Ich  bin  am  Ende  meiner  Betrachtung.  Über- 
blicken  wir   noch  einmal   die  ganze  Entwicklung 


der  theoretischen  Anschauungen,  von  Demokrit 
und  Aristoteles,  den  ersten  Höhepunkten,  wie 
dann  das  Mittelalter  hindurch  die  Lehre  des 
Aristoteles  unbestritten  herrschte  und  in  der 
Renaissance  der  Versuch  gemacht  wurde,  sich 
von  der  Scholastik  und  in  der  Zeit  der  Auf- 
klärung sich  von  der  Herrschaft  des  Rationalismus 
freizumachen,  wie  dann  im  19.  Jahrhundert  Mor- 
phologie, Embryologie  und  Physiologie  als  selb- 
ständige Wissenschaften  auftraten  und  wie  endlich, 
auf  sie  gestützt,  in  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
Darwin  die  erste  umfassende  Theorie  der  orga- 
nischen Natur  aufstellte,  an  deren  Begründung 
oder  Überwindung  sich  noch  heute  Freund  und 
Feind  abmühen,  so  wird  bei  manchem  von  Ihnen 
die  Frage  auftauchen:  Ist  hier  überhaupt  ein  Fort- 
schritt zu  bemerken  und  wozu  diese  Bemühungen  ? 
Nun,  zwei  Gründe  sind  es  wohl,  die  die  Bio- 
logen hin  und  wieder  von  der  Arbeit  aufsehen 
lassen,  um  sich  vom  eigenen  Standpunkt  aus  ein 
Bild  der  Gesamtheit  der  organischen  Welt  zu 
entwerfen.  Einmal  ein  metaphysisches  Bedürfnis 
(Schopenhauer),  besonders  bei  synthetischen 
Naturen.  Dann  aber  ein  viel  wichtigerer  Grund; 
vom  Stand  des  konkreten  Wissens  aus  zur  Theorie 
zu  schreiten  um  neue  Probleme  aufzudecken,  die 
der  Forscher  in  Angriff  nehmen  kann.  Im  höch- 
sten Maße  leistete  diesen  Dienst  die  Darwin- 
sche Theorie  für  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts. Es  kann  nicht  verlangt  werden,  daß 
die  Tatsachen,  die  ihr  zugrunde  liegen,  noch 
stimmen,  aber  aus  dem  leidenschaftlichen  Kampfe, 
der  sich  um  Geltung  oder  Ablehnung  der  Theorie 
entspann  und  der  heute  noch  immer  unentschie- 
den weitergeht,  haben  eine  große  Menge  Wissen- 
schaftszweige neue  Anregung  gewonnen  und  eine 
Fülle  neuer  Tatsachen  zutage  gefördert.  Das, 
meine  ich,  ist  die  größte  Bedeutung  theoretischer 
Betrachtungen. 


Einzelberichte. 


Azidität  und  Basizität. 


Es  ist  bekannt,  daß  im  elektrochemischen 
Sinne  zwei  Zustände  die  Mannigfaltigkeit  der 
chemischen  Stoffe  beherrschen,  der  saure  und 
der  basische  Charakter.  Als  einem  dritten 
Typus  zugehörig  hat  man  jedoch  noch  diejenigen 
Verbindungen  zu  klassifizieren,  die  beiden  Zu- 
ständen entsprechen ,  die  sog.  Amphoteren. 
Wie  zumeist,  bieten  gerade  diese  in  einem  Grenz- 
gebiet liegenden  Stoffe  der  theoretischen  Behand- 
lung die  größten  Schwierigkeiten,  setzen  sich  in 
ihnen  doch  die  experimentell  ermittelten  Tat- 
sachen über  unsere  immer  willkürlichen  Klassi- 
fikationen hinweg.  Andererseits  mahnen  die 
Widersprüche  zwischen  enger  Definition  und 
breiter  Erfahrung  zu  gelegentlichen  Nachprüfungen 
unserer  theoretischen  Grundvorstellungen,    womit 


dann  in  der  Regel  eine  sachgemäßere  Fassung 
dieser  erreicht  zu  werden  pflegt.  Über  diese 
Sachlage  spricht  sich  im  besonderen  Falle  der 
Azidität  und  Basizität  Rudolf  Keller  aus.^) 

Die  Kennzeichnung  der  Amphotere  ist,  wie 
erwähnt,  schwer,  weil  je  nach  den  Umständen 
der  gleiche  Stoff  als  Base  oder  als  Säure  reagiert. 
Beispiel:  die  Oxyde  der  Metalle  von  mittlerer 
Stellung  in  der  Spannungsreihe.  Eisensauerstoff- 
verbindungen sind  gegenüber  starken  Säuren  aus- 
gesprochene Basen,  in  starken  Basen  aber  Säuren. 
Bedenklicher  noch  sind  Kennzeichnungen  des 
Charakters  der  Teerfarbstoffe,  die  mit  wenigen 
Ausnahmen  amphoter  sind.  Beispielsweise  gilt 
das  Methylenblau  von  der  Formel 


')  Zeitschr.  f.  physikal.  Chemie  9S,  S.  338,  1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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iCU,),  =  N-  .  !=N  =  (CH3), 

\/\s/\./      I 

als  „Base".  Der  Grund  für  diese  Bezeichnung  wird 
in  den  naturgemäß  basischen  Amidogruppen  ge- 
sehen. Ein  Farbstoff  wie  das  Kongorot  aber 
findet  sich  durchweg  als  „Säure"  bezeichnet,  weil 
die  in  ihm  enthaltene  Sulfogruppe  salzbildend  ist. 
Aber  auch  diese  Verbindung  enthält  Amido- 
gruppen, und  im  Sinne  der  herkömmlichen  Aus- 
drucksweise der  Strukturchemie  sollte  auch  hier 
dem  zweifellos  vorliegenden,  wenn  auch  nur  teil- 
weisen „basischen"  Charakter  Ausdruck  gegeben 
werden  können. 

>C,oH,5-N=N.QH^-QH4.N=N-C,oH,5/ 
NaSOa^  "SOjNa 

Als  klassisches  Beispiel  für  diese  Unzuläng- 
lichkeit unserer  heutigen  Klassifikation  wird  das 
Pyrrholblau  genannt.  Sein  Entdecker,  P.  Ehrlich, 
reihte  es  entschieden  unter  die  basischen  Farb- 
stoffe ;  jetzt  wird  es  ebenso  entschieden  den  sauren 
zugerechnet. 

Handelt  es  sich  in  den  genannten  Fällen  vor- 
wiegend um  nomenklatorische  Unstimmigkeiten, 
die  man  billig  auf  sich  beruhen  lassen  könnte,  so 
begegnet  man  in  anderen  Fällen  ernsten  Schwierig- 
keiten, die  unsere  gesamten  theoretischen  Grund- 
vorstellungen berühren.  Faßt  man  den  Gegensatz 
basisch  sauer  nämlich  elektrochemisch,  so  gilt  die 
bekannte  grundlegende  Regel :  bei  der  Elektrolyse 
erscheinen  die  Säuren  am  positiven,  die  Basen  am 
negativen  Pol.  Mithin  sind  die  Säuren  elektro- 
negativ,  die  Basen  elektropositiv.  Nun  ist 
schon  lange  bekannt,  daß  Basen  in  Lösungs- 
mitteln, deren  Dielektrizitätskonstante 
kleiner  ist,  keine  Basen  mehr  sind.  Für 
Säuren  gilt  mutatis  mutandis  dasselbe.  Es  handelt 
sich  hier  um  die  geläufigen,  insbesondere  von 
Nernst  formulierten  Beziehungen  zwischen  Dis- 
soziation und  Dielektrizitäskonstante.  Schon  dieser 
Zusammenhang  offenbart  den  durchaus  relativen 
Charakter  des  basischen  bzw.  sauren  Zustandes. 
Noch  mehr  aber  wird  dies  deutlich  an  den  Ver- 
suchen von  Keller,  sowie  von  R.  Beutner. 

Keller  hat  versucht»  mikroskopische  Ver- 
fahren auszuarbeiten,  um  die  Elektrizitätspole 
natürlicher  pflanzlicher  und  tierischer  Gewebe  auf- 
zufinden. Er  behandelte  Schnitte  mit  Metallsalz- 
lösungen und  bestimmte  den  Ort  der  Metallaus- 
scheidung. Dieser  wäre  dann  als  Kathode  anzu- 
sprechen gewesen.  Wurden  nun  aber  zu  den 
Versuchen  Teerfarbstoffe  genommen,  die  für  die 
Histologie  in  erster  Linie  von  Bedeutung  sind,  so 
zeigten  diese  ein  ganz  unverständliches  Verhalten. 
Sogenannt  „basische"  P"arbstoffe  färbten  nicht  an 
dem  vorher  als  kathodisch  erkannten  Ort,  sondern 
entgegengesetzt  an  der  Anode.  Sehr  zahlreiche 
Versuche  an  den  verschiedensten  Schnitten,  deren 
Elektrotopographie  allmählich  völlig  eindeutig  ge- 


worden war,'  ergaben  das  im  Sinne  der  klassischen 
Konstitutionschemie  überraschende  Resultat,  daß 
die  meisten  „basischen"  Farbstoffe  zur  Anode, 
einige  „saure"  zur  Kathode  wandern.')  Des- 
gleichen fand  Beutner ^)  bei  Versuchen  an  leb- 
losen Modellen,  die  gewissen  physiologischen  Er- 
scheinungen an  Nerven-  und  Muskelschnitten  nach- 
geahmt waren,  daß  die  typischen  und  stärksten 
Säuren,  wie  Salz-  und  Schwefelsäure  an  der  Ka- 
thode, also  am  Basen  pol  dann  erscheinen,  wenn 
er  zwischen  verschieden  stark  konzentrierte 
Lösungen  eine  schlechtleitende,  wässerige 
Mittelschicht  schaltete.  Der  positive  Pol 
war  stets  (wenn  die  Mittelschicht  z.  B.  Salicylal- 
dehyd  enthielt)  auf  der  Seite  der  höheren  Kon- 
zentration, also  unabhängig  vom  basischen  oder 
sauren  Charakter  der  in  der  Kette  liegenden 
Lösung!  Endlich  ist  in  diesem  Betracht  wichtig 
eine  Arbeit  von  A.  Bethe  über  „Ladung  und 
Umladung  organischer  Farbstoffe".'')  Schon  der 
Titel  läßt  erkennen,  daß  der  elektrochemische 
Charakter  solcher  Verbindungen  eben  wechselt. 
Er  wechselt  nach  Bethe  mit  der  Beschaffenheit 
des  Lösungsmittels.  Selbst  neutrale  Kochsalz- 
lösungen lassen  das  oben  erwähnte  basische 
Methylenblau  zur  Anode  wandern  I  Da  man  in 
pflanzlichen  und  tierischen  Geweben  praktisch 
niemals  salzfreie  Lösungen  hat,  so  war  das  schein- 
bar paradoxe  Ergebnis  der  Kell  ersehen  Ver- 
suche wenigstens  phänomenologisch  erklärt. 

Die  theoretische  Deutung  aller  dieser 
Befunde  ist  nun  von  weitgehender  Bedeutung  für 
unsere  Auffassung  von  Azidität  .und  Basizität 
überhaupt.  Die  Elektropolarität  der  Farbstoffe  ist 
keine  konstitutive  Funktion,  sondern 
hängt  von  der  Dispersion  des  Farbstoffes,  so- 
dann von  der  Dielektrizität  des  Lösungsmittels 
und  dessen  Konzentration  ab.  Damit  erklären 
sich  nun  zunächst  die  mitgeteilten  physiologisch- 
chemischen Ergebnisse.  Dann  aber  klären  sich 
eine  Reihe  widerspruchsvoller  Befunde  der  Kolloid- 
chemie auf.  Von  Goppelsroeder  stammt 
bekanntlich  die  Methode  der  „Kapillarisation",  um 
Farbstoffadsorptionen  in  Filtrierpapier  zu  prüfen: 
in  die  Lösung  des  Farbstoffes  wird  ein  Filtrier- 
papierstreifen gehängt,  und  man  beobachtet  den 
kapillaren  Aufstieg  der  Lösung.  Es  zeigte  sich, 
daß  der  Aufstieg  kapillar  elektrische  Ursachen 
hat  (Fi  cht  er).  Es  galt  bisher  von  ihm  die 
Fichter-Sah  Ibomsche  Regel:  beim  kapillaren 
Anstieg  scheiden  sich  positive  Sole  unten  ab. 
Diese  in  den  Handbüchern  sich  vorfindende 
Fassung  ist  nach  den  neuen  Befunden  unzutreffend, 
da  sich,  wie  gezeigt,  ein  absoluter  elektro- 
chemischer Charakter  der  Teerfarbstoffe  im  be- 
sonderen gar  nicht  bewahrheitet.  Vielmehr  lautet 
die  den  Tatsachen  gemäße  richtige  Kapillar- 


')  Biochem.  Zeitschr.  115,  S.  134,  1921.  —  Archiv  f< 
mikroskop.  Anatomie  95,  S.  61,   1921   und  anderen  Orts. 

")  R.  Beutner,  Die  Entstehung  elektrischer  Ströme  in 
lebendem  Gewebe.     Stuttgurt   1920,  Ferd.  Enke. 

')  A.  Bethe,  Kolloid  Zeitschr.  2",  S.   u,  1920. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschritt. 


289 


regel:  beim  Aufstieg  in  Stoffen  von  der  Di- 
elektrizitätskonstante 2 — 5  (Filtrierpapier,  Glas- 
wolle, Quarzsand)  werden  sowohl  von  kolloiden 
wie  von  ionendispersen  Stoffen  die  anodisch 
wandernden  unten  ausgefällt  oder  adsorbiert, 
die  kathodisch  wandernden  und  die  neutralen 
steigen  mit  dem  Lösungsmittel  auf.  Dies  ist  nur 
scheinbar  eine  Umkehr  der  Regel.  Führt  man 
sich  immer  vor,  was  die  Kell  er  sehen  Arbeiten 
beweisen,  daß  Azidität  und  Basizität  durchaus 
relative  Begriffe  sind,  so  entspricht  allein  die 
neue  F"assung  den  längst  richtig  beobachteten 
Tatsachen.  Der  Mechanismus  des  Aufstieges 
beruht  auf  der  kapillarelektrischen  Natur  der  Farb- 
stoffe; diese  hinwieder  hängt  ab  von  der  Diffe- 
renz der  Dielektrizitätskonstanten  von 
Wasser  und  Farbstoff.  Nach  dem  Gesetz  von 
Coehn  (1898)  lädt  sich  der  Stoff  mit  der  höheren 
Konstante  bei  der  Berührung  positiv.  Dement- 
sprechend wandern  fast  alle  Kolloide  in  Stoffen 
von  niedriger  Konstante  (Alkohol,  Äther,  Benzin, 
Benzol)  zur  Kathode,  in  Wasser  mit  hoher 
Dielektrizitätskonstante  zur  Anode.  Das  Kontakt- 
potential wird  also  in  höchstem  IVIaße  von  der 
Dielektrizitätskonstante  bestimmt. 

Azidität  und  Basizität  sind  mithin,  wie  wieder- 
holt betont  sei,  relative  Begriffe,^)  die  dem- 
selben Stoff  beigelegt  werden  können,  je  nach 
dem  Dispersionsmittel,  seiner  Eigenladung  und 
dessen  Dielektrizitätskonstante.  Diese  für  die 
grobdispersen  Kolloide  bereits  geläufige  Vor- 
stellung wird  in  der  Kell  ersehen  Arbeit  verall- 
gemeinert. Obwohl  von  feineren  quantitativen 
Beziehungen  darin  noch  nicht  die  Rede  ist,  so 
läßt  sich  doch  mit  Sicherheit  ihre  Wichtigkeit 
für  die  Theorie  und  Praxis  der  Adsorption,  der 
Färbung,  der  biophysikalischen  Kolloidtransporte 
(bei  Giften,  Nahrungsmitteln  usw.)  voraussagen.-) 
Insbesondere  wird  die  Färberei  in  Zukunft  nicht 
allein  die  chemischen  Beziehungen  zwischen  Farb- 
stoff und  Faser,  sondern  ebenso  nachdrücklich  die 
Differenz  der  Dielektrizitätskonstanten  in  Rück- 
sicht ziehen.  H.  Heller. 


Partheuogeuesis  iiad  Nekrohornione. 

G.  Haberlandt  hat  seinen  experimentellen 
Untersuchungen  an  Oenothera  Lamarckiana  zur 
weiteren  Stütze  der  Theorie,  daß  Parthenogenesis 
durch  die  Einwirkung  von  Reizstoffen  aus  ab- 
sterbenden Zellen  hervorgerufen  werde  (vgl.  Nat. 
Wochenschr.  1922,  S.  86),  eine  Reihe  zytologischer 
Beobachtungen  an  habituell  parthenogenetischen 
Pflanzen,  nämlich  Taraxacum  officinale  und  Hiera- 


')  Wohl  am  deutlichsten  geht  das  übrigens  aus  der  Säure- 
uatur  des  molekularen  Wasserstoffs  hervor,  in  dem  ja  auch  ein 
Wasserstoffatom  sauer,  kathodisch,  das  andere  basisch  und 
anodisch  ist,  wie  aus  den  Untersuchungen  von  N  ernst  und 
Mors  am  Lithiumhydrid  hervorgeht.  Vgl.  Naturw.  Wochen- 
schrift N.  F.  XIX,  S.   7S2,   1920. 

')  Siehe  auch  „Elektromikroskopie"  von  K.  Keller, 
Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XX,  S.  655,  1921. 


cium  flagellare  und  aurantiacum  sowie  einigen 
ihrer  sich  durch  normale  Befruchtung  fortpflan- 
zenden Verwandten  folgen  lassen.  Es  galt  also 
in  diesem  Falle,  Belege  dafür  zu  finden,  daß  auch 
bei  der  natürlichen  Parthenogenesis  solche 
Zellteilungshormone  (die  hier  als  Nekrohormone 
zu  bezeichnen  wären,  während  der  Name  Wund- 
hormone  auf  die  traumatische  Parthenogenese 
beschränkt  bliebe)  als  Entwicklungserreger  tätig 
sind.  Die  Untersuchung,  die  manche  bemerkens- 
werte Einzelheit  (wie  z.  B.  die  Bildung  von  Endo- 
spermembryonen  bei  Hieracium  u.  a.  m.)  ins 
Licht  stellte,  ergab,  daß  bei  den  genannten  par- 
thenogenetischen Arten  in  der  Umgebung  der 
Eizelle  mannigfache  Desorganisationserscheinungen 
auftreten,  die  bei  verwandten  Formen  mit  be- 
fruchtungsbedürftigen Eizellen  fehlen.  Hieraus 
folgert  der  Verf.,  daß  aus  der  Umgebung  stam- 
mende Nekrohormone  die  parthenogenetische 
Entwicklung  der  Eizelle  anregen.  Im  übrigen 
weist  er  darauf  hin,  daß  man  bei  der  natürlichen 
Parthenogenese  streng  zu  unterscheiden  habe 
zwischen  der  primären  Ursache  dieser  Erschei- 
nung und  dem  unmittelbaren  Anstoß  zur 
Teilung  der  Eizelle.  Die  vorliegenden  Unter- 
suchungen haben  es  nur  mit  diesem  zu  tun;  die 
primäre  Ursache,  die  wir  nicht  kennen,  hat  bei 
den  Angiospermen  verschiedene  Prozesse  im  Ge- 
folge, wie  das  Unterbleiben  der  Reduktionsteilung 
und  das  frühzeitige  Absterben  von  Zellen  in  der 
Umgebung  der  Eizellen. 

In  dem  Bestreben,  die  Richtigkeit  seiner  An- 
nahme auch  an  parthenogenetischen  Farnpflanzen 
zu  prüfen,  forschte  Haberlandt  den  Verhält- 
nissen bei  Marsilia  Drummondii  nach.  Bei  der 
Durchsicht  der  Abbildungen  zu  Strasburgers 
Arbeit  über  „Apogamie  bei  Marsilia"  (1907)  war 
ihm  aufgefallen,  daß  im  Archegonium  zwischen 
der  Bauchkanalzelle  und  der  Eizelle  eine  vom 
Rande  her  dicker  werdende  Zellwand  ausgespannt 
war,  die  in  der  Mitte  ein  ziemlich  großes  Loch 
hatte,  durch  das  eine  Plasmabrücke  hindurch- 
führte. Diese  Erscheinung  veranlaßte  den  Verf., 
die  Strasburg  ersehen  Marsiliapräparate  einer 
Nachuntersuchung  zu  unterziehen,  deren  Ergebnis 
er  nunmehr  beschreibt.  Strasburger  hatte 
bereits  darauf  hingewiesen,  daß  die  Kanalzellen 
bei  Marsilia  frühzeitig  absterben.  Dieses  Ab- 
sterben erfolgt  augenscheinlich  vor  der  ersten 
Teilung  der  Eizelle.  Haberlandt  deutet  die 
Erscheinung  nun  dahin,  daß  durch  die  Öffnung 
in  der  Scheidewand  zwischen  Ei-  und  Bauchkanal- 
zelle die  Nekrohormone  aus  den  absterbenden 
Kanalzellen  intraplasmatisch  direkt  in  das  Ei  hin- 
überdiffundieren. Dieser  Vorgang  findet  seinen 
sichtbaren  Ausdruck  in  der  fein  längsfaserigen 
Struktur  der  Plasmabrücke  und  nicht  selten  in 
einem  System  feinkörniger  Fibrillen,  die  von  der 
Plasmabrücke  aus  in  das  Ei  ausstrahlen  (einem 
Seitenstück  zu  dem  Fadenapparat  der  Synergiden). 
Die  Scheidewand  zwischen  Ei-  und  Bauchkanal- 
zelle hat  häufig  statt  des  Loches  nur  einen  großen^ 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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flachen  Tüpfel,  durch  den  die  Nekrohormone 
hindurchtreten  könnten;  manchmal  ist  sie  auch 
nur  dünn  oder  gar  nicht  vorhanden,  —  dann 
können  die  Reizstoffe  natürlich  um  so  leichter 
in  das  Ei  diffundieren.  —  Auch  bei  einigen  par- 
thenogenetischen  Selaginellen  scheinen  Nekro- 
hormone aus  den  absterbenden  Kanalzellen  die 
Entwicklung  der  Eizelle  anzuregen.  Bei  dem 
parthenogenetischen  Athyrium  filix  femina  var. 
clarissima  kommen  hierfür  abgestorbene  Sperma- 
tozoiden  in  Frage.  —  Den  beiden  Abhandlungen 
sind  zahlreiche  instruktive  Abbildungen  beigefügt. 
(Sitzungsberichte  der  Preußischen  Akademie  der 
Wissenschaften  1921,  Nr.  51,  S.  861 — 881 ;  1922, 
Nr.  2,  S.  4 — 16).  F.  Moewes. 


Tektouik  und  Vulkanismus. 

Durch  ein  gedankenreiches  Büchlein,  das  sich 
betitelt  „Der  Mechanismus  tiefvulkani- 
scher Vorgänge"  (Sammlung  Vieweg  Heft  57, 
Braunschweig  1921)  hat  Prof.  Hans  Cloos 
(Breslau)  das  Arbeitsfeld  der  Tektonik  und  damit 
ihre  Bedeutung  wesentlich  vergrößert.  Der  be- 
deutsame Fortschritt  der  vorliegenden  Arbeit  be- 
steht darin,  daß  die  geologisch  ■  tektonischen  Er- 
forschungsmethoden auch  auf  Granitmassive  und 
verwandte  Bildungen  angewandt  werden,  die  bis- 
her fast  nur  mikroskopisch  und  chemisch  -  analy- 
tisch erforscht  wurden.  Cloos  hat  hiermit  eine 
Tektonik  der  Granitmassive  geschaffen. 
Sowohl  der  Tektoniker  wie  der  Vulkanologe  wer- 
den aus  dieser  interessanten,  zahlreiche  ganz  neue 
Beobachtungen  enthaltenden  Abhandlung  starke 
Anregung  für  ihre  Wissensgebiete  schöpfen. 

In  dem  ersten  Abschnitt,  der  Tektonik  des 
Granits,  werden  wir  mit  den  tektonischen  Ele- 
menten des  Granits  (Kontakt,  Schollen  und 
Schlieren,  Streckung,  Klüfte  mit  Rutschstreifen, 
Gänge,  Teilbarkeit),  die  in  ganz  gesetzmäßigem 
Zusammenhange  untereinander  und  Abhängigkeit 
von  der  Druckrichtung  stehen,  bekannt  gemacht. 
An  Kontakt,  Schollen  und  Schlieren,  drei  Merk- 
male aus  der  flüssigen  Phase,  ist  die  Richtung 
eines  mit  der  Massivbildung  gleichzeitigen  Gebirgs- 
druckes  nachweisbar.  Die  Längsrichtung  der 
Schollen  und  Schlieren  steht  senkrecht  zur  Druck- 
richtung. Unter  Streckung  wird  die  durch  Druck 
entstandene  schwache  Parallelstellung  der  Mine- 
ralien verstanden,  die  dem  Granit  eine  lineare 
Faserung  verleiht,  die  ebenfalls  senkrecht  auf  der 
Druckrichtung  steht.  Diese  schwache,  oft  latente 
Streckung  wurde  erzeugt  durch  einen  während 
der  Erstarrung  auf  die  Schmelze  gerichteten 
Druck  und  verursacht  eine  mechanische  Teilbar- 
keit des  Granits.  Die  lineare  Faserung  verläuft 
in  dem  Granit  von  Strehlen  ostwestlich.  Dort 
finden  sich  in  dem  Granit  zwei  Hauptkluftsysteme, 
ein  ostwestliches  von  Druckklüften  (senkrecht 
zur  Druckrichtung),  ein  nordsüdliches  non  Zug- 
klüften   (in    der    Druckrichtung).      Die    Druck- 


klüfte besitzen  keine  Gangfüllung  und  sind  fest 
geschlossen.  Die  i  n  der  Druckrichtung  liegenden 
Zugklüfte  sind  bei  ihrer  Entstehung  geöffnet  wor- 
den und  standen  auch  später  z.  T.  sickernden 
Wässern  offen.  Jede  fünfte  bis  zehnte  von  diesen 
Klüften  ist  mit  einem  aplitischen  Gesteinsgang 
erfüllt,  der  noch  aus  den  tiefen  Teilen  des  Granit- 
herdes selber  stammt  und  unmittelbar  nach  der 
Erstarrung  der  Kluftwände  emporgedrungen  ist. 
Streckung  ist  eine  Druckaufzeichnung  durch  den 
zähplastischen,  Klüftung  eine  Aufzeichnung  durch 
den  erstarrten  Granit.  Der  Granit  steht  in  der  Kruste 
unter  seitlichem  Druck.  Dieser  drückt  den  Granit, 
solange  er  nachgeben  kann,  in  der  Druckrichtung 
zusammen  und  dehnt  ihn  quer  dazu  aus  (Quer- 
dehnung). Unter  Einwirkung  des  Druckes  ver- 
läuft auch  die  Erstarrung. 

Als  Beispiel  wird  die  Entstehung  des  Riesen- 
gebirges erläutert.  Das  Granitmassiv  des  Riesen- 
gebirges ist  unter  demselben  von  SSW  kommen- 
den Druck  gebildet  und  erstarrt,  der  auch  die 
Sedimente  seines  Rahmens  in  Falten  gelegt  und 
etwa  die  älteren  Granite  des  Nord-  und  Südrandes 
zu  Gneisen  gepreßt  hat.  Die  Streckung  verläuft 
OSO;  in  der  Druckrichtung  liegen  Gänge  von 
Granitporphyr,  Lamprophyr,  Aplit  usw. 

Außer  den  Quer-  und  Längsfugen  treten  aber 
im  Riesengebirge  noch  andere  Flachen  auf,  die 
diagonal  und  ungefähr  symmetrisch  zu  beiden 
Seiten  der  Druckrichtung  angeordnet  sind.  Diese 
Diagonal  flächen  bzw.  Diagonalgänge 
liegen  innerhalb  eines  rechten  Winkels  (Zug- 
quadrant), der  von  der  Druckrichtung  halbiert 
wird.  An  den  Diagonalflächen  ist  mit  der  Vor- 
wärtsbewegung eine  Seitenverschiebung  verbunden. 
Die  Gesteinsmasse  wird  mit  Hilfe  solcher  Flächen 
zugleich  in  der  Druckrichtung  verkürzt  und  senk- 
recht dazu  gestreckt.  Bei  Schmiedeberg  im 
Riesengebirge  fallen  die  Gleitstreifen  auf  diesen 
Flächen  ganz  flach  (10")  nach  N  ein.  Die  Diagonal- 
flächen dienen  also  dazu,  die  Streckung  der  pla- 
stischen Schmelze  am  erstarrten  Gestein  fortzu- 
setzen. Ausgezeichnete  Beispiele  für  Diagonal- 
verschiebungen und  ihre  Bedingungen  liefert  die 
Technik  durch  Druckversuche  an  Baustoffen  und 
Metallen  (s.  Rinne,  Gesteinskunde.  Auftreten 
von  Mohrschen  Linien  an  einem  gepreßten 
Marmorzylinder).  Diese  Mohrschen  Flächen 
haben  für  den  Bau  unserer  Gebirge  eine  große 
Bedeutung,  denn  Verwerfungen,  die  das  Schicht- 
streichen schief  schneiden  und  an  denen  Horizontal- 
verschiebungen im  Sinne  der  Theorie  stattgefun- 
den haben,  sind  von  vielen  Beobachtern  in  fast 
allen  Faltengebirgen  festgestellt  worden. 

Referent  hat  durch  eigene,  noch  nicht  ver- 
öffentlichte Untersuchungen  im  Ruhrkohlengebiet 
ebenfalls  solche  Mohrschen  Flächen  zahlreich 
nachweisen  können.  Die  Rutschstreifen  auf  diesen 
spießwinkligen  Klüften  fallen  mit  10 — 20"  nach 
N  ein. 

Die  Bruchbildung,  soweit  sie  an  die  Faltung 
zeitlich    und    mechanisch    anschließt,     wird    von 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


291 


CI08S  als  eine  „Fortsetzung  der  Faltung  mit 
anderen  IMitteln"  bezeichnet. 

In  dem  Abschnitt  „Druck  und  Last"  wird 
dann  in  Verfolg  der  dargelegten  Theorie  eine 
sinnreiche  Erklärung  für  die  Entstehung  der 
Schollengebirge  gegeben,  welche  bisher  in 
sozusagen  dualistischer  Weise  erklärt  worden 
waren. 

Im  zweiten  Teil  der  Abhandlung,  betitelt: 
Der  Aufstieg  des  Magmas,  wird  der  Zusammen- 
hang der  tiefvulkanischen  Vorgänge  mit  der  Ge- 
birgsbildung  dargelegt.  Das  Magma  steht  nicht 
unter  eigenem,  sondern  unter  fremdem  Druck; 
es  wird  gepreßt  (passiver  Vulkanismus). 
Je  plastischer  ein  Gestein,  desto  leichter  wird  es 
bei  der  Faltung  aus  dem  Faltenschenkel  auswan- 
dern und  sich  in  den  Umbiegungsstellen  sammeln 
(Steinsalz  z.  B.).  Gerät  Magma  in  den  Bereich 
der  Faltung,  so  wird  es  als  hochplastisches 
Material  längs  den  Schichtflächen  vorzugsweise 
an  den  Umbiegungsstellen  angeordnet  (Sattelgänge 
im  Bergbau).  So  erklärt  sich  die  aus  einer  Reihe 
von  Beispielen  bekannte  Stellung  granitischer 
Massive  im  Kern  echter  tektonischer  Sättel  (kon- 
kordante  Intrusion  im  Anschluß  an  Faltung  und 
Überfaltung).  Hierbei  wird  das  Gneisproblem 
gestreift. 

Im  Anschluß  hieran  wird  eine  von  Erich 
Bederke  entdeckte  neue  Intrusionsform 
beschrieben.  Es  sind  dies  die  in  Schlesien  vor- 
kommenden Intrusivmassen  mit  sichelförmigem 
Grundriß,  die  Zobtengruppe,  der  Syenit  von 
Nimptsch,  dieGabbro-Serpentinstöcke  von  Franken- 
stein, der  Syenit  von  Glatz- Reichenstein  usw. 
(Sichelstöcke,  Harpolithe).  Sie  sind  durch  gleich- 
zeitiges Aufdringen  bei  der  Faltung  entstanden. 

Die  Hereinziehung  von  Granit  in  den  Faltungs- 
vorgang bedeutet,  daß  dieser  sich  selbst  den  Weg 
verlegt.  Denn  durch  seine  Erstarrung  wird  die 
Faltung  zum  Stillstand  gebracht.  Indessen  dauert 
der  Druck,  der  sich  nun  nicht  mehr  in  Faltung 
äußern  kann,  weiter  an. 

Es  wird  dann  das  Raumproblem  der  Tiefen- 
massive erörtert.  Bisher  ist  die  gleichzeitige 
Einwirkung  des  Seitendruckes  auf  in  Bildung  be- 
griffene Massive  mit  richtungslos  körnigem  Ge- 
stein und  diskordanter  Umgrenzung  übersehen 
worden.  Die  Leistung  des  Seitendruckes  für  die 
Bildung  diskordanter  Massive  ist  eine  mehr  als 
doppelte,  da  der  Druck  gleichzeitig  auf  die 
Schmelze  wirkt,  die  er  emporpreßt  und  auf  das 
Nebengestein,  das  er  zerspaltet.  Der  erhärtete 
Bau  wird  zerbrochen,  von  einem  Netz  von  Spalten 
durchzogen ,  in  Schollen  zerlegt,  und  die  flüssig 
gebliebenen  Schmelzen  werden  auf  diesen  neuen 
Wegen  weiter  nach  oben  gepreßt.  Indem  auch 
sie  sich  zu  Massiven  ausdehnen  oder  zusammen- 
schließen und  dann  erstarren,  kommt  eine  zweite 
Generation  zum  Abschluß.  Die  Zerspaltung  des 
Nebengesteins  wird,  da  sie  dem  eindringenden 
Granit  vorausgeht,  durch  diesen  stark  verwischt. 
Doch  läßt  sie  sich  noch  im  Umkreis  der  Granit- 


massive  an  Gängen,  die  die  Loslösung  von  Schollen 
vorbereiten  (in  oder  nahe  der  Druckrichtung)  oder 
an  dem  auffallend  tektonischen  Charakter  großer 
Schollen  im  Granit,  nachweisen. 

Die  Kontakte  zeigen  oft  eine  geordnete  tekto- 
nische  Lage;  meist  haben  sie  die  Richtung  der 
Ouerfläche.  Massive,  deren  Kontaktstrecken  über- 
wiegend der  Querfläche  folgen,  und  deren  Längs- 
achse also  in  der  Hauptdruckrichtung  liegt,  werden 
Quermassive  genannt.  Längsmassive  sind 
sinngemäß  diejenigen,  deren  Längsachse  der  senk- 
recht zur  Druckrichtung  stehenden  Spaltfläche 
parallel  läuft.  Es  gibt  eine  Reihe  von  Quer- 
massiven, die  man  als  quer  zum  Hauptdruck  aus- 
gebauchte oder  verbreiterte  Gänge  auffassen  kann. 

Durch  den  fortwirkenden  Druck  entsteht  nicht 
nur  eine  Querdehnung  nach  den  Seiten 
(„Seitendehnung") ,  sondern  auch  eine  H  o  c  h  - 
d  e  h  n  u  n  g  nach  oben  und  unten,  also  in  der 
Hauptbewegungsrichtung  des  Magmas.  Hoch- 
dehnung bewirkt  Aufwölbung  des  Massivs.  Auf- 
wölbung schafft,  Schollenbildung  erweitert  den 
Raum.  Man  hat  eine  solche  Aufwölbung  der 
Schale  gern  als  sicheren  Beweis  für  die  aktive 
Natur  des  granitischen  Kernes  angesehen.  Der 
Auftrieb  läßt  sich  aber  auch  als  eine  Umsetzung 
des  Seitendruckes  nach  oben  auffassen.  Mit 
der  Massivbildung  war  eine  Stoffzufuhr  nicht 
nur  ein  Stoffaustausch  verbunden.  Die  Erdkruste 
ist  nach  dem  Eindringen  des  Granits  dicker  und 
höher  als  vorher.  Jeder  Verdickung  der  Kruste 
folgt  aber  bekanntlich  auf  dem  Fuße  eine  Her- 
aushebung,  nach  der  Lehre  der  Isostasie  aus 
demselben  Grunde,  aus  dem  eine  dicke  Eisscholle 
höher  aus  dem  Wasser  herausragt,  als  eine  dünne. 
Die  meisten  Massive  werden  deshalb  rasch  nach 
ihrer  Bildung  abgedeckt,  bloßgelegt  und  z.  T. 
abgetragen. 

Bruchbildung  und  Aufwölbung  bewirken  im 
wesentlichen  die  Raumbildung;  dem  Platz- 
tausch bleibt  nur  ein  geringerer  Anteil  daran 
überlassen. 

Als  konkretes  Beispiel  werden  die  tektonischen 
Verhältnisse  des  Harzes  im  Sinne  der  dargelegten 
Gedankengänge  erläutert. 

In  einem  letzten  Kapitel  wird  die  „Spalten- 
frage der  Vulkane"  aufgerollt.  Bei  seinem 
Vortrieb  gegen  die  Oberfläche  steht  das  Magma 
unter  Seitendruck.  Dieser  hilft  das  Magma  treiben, 
wirkt  aber  zugleich  auf  die  bedeckende  Kruste. 
In  dieser  vermag  er  Spalten  zu  öffnen,  die  in  der 
Mehrzahl  in  der  mittleren  Druckrichtung  selbst 
liegen,  demnächst  zu  beiden  Seiten  derselben, 
d.  h.  in  Richtung  ihrer  Komponenten  angeordnet 
sind  und  einen  von  der  mittleren  Druckrichtung 
halbierten  rechten  Winkel,  den  Zugquadranten, 
füllen.  Auf  solchen  Spalten  steigt  das  Magma 
passiv  empor,  bis  seine  Gasspannung  die  Last  des 
Hangenden  zu  überwinden  und  den  Rest  des 
Weges  aktiv  auszubohren  und  zu  sprengen  ver- 
mag. An  dieser  Stelle  beginnt  im  engeren  Sinne 
der  Vulkanismus.  Erich  Stach. 


292 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


.  Maultier  und  Pferd  als  Zwillinge,  und  die 
Erblichkeit  der  Zwillingsgeburten. 

W.  R.  B.  Robertson  (A  Mule  and  a  Horse 
as  Twins,  and  the  Inheritance  of  Twinnings,  Kansas 
Univ.  Sc.  Bull.  Vol.  X,  Nr.  15,  pp.  293— 298,  4  pls. 
1917)  berichtet  über  die  am  9.  Juni  1913  stattge- 
fundene Geburt  eines  Pferdehengstes  und  einer 
Maultierstute  durch  eine  Pferdestute. 

Die  Pferdestute  war  191 2  zehn  Minuten  bevor 
sie  zum  Eselhengst  gebracht  worden  war,  einem 
Pferdehengst  zugeführt  gewesen,  was  bei  der 
Maultierzucht  üblich  ist,  weil  die  Stute  den  Esel- 
hengst sonst  meist  abschlägt.  In  diesen  Fällen  wird 
natürlich  eine  Befruchtung  durch  den  Esel  beabsich- 
tigt; die  Einwirkung  des  Pferdehengstes  soll  sich 
auf  Steigerung  der  Erregung  der  Stute  beschränken. 

Die  Stute  und  namentlich  die  beiden  Fohlen 
sind  mehrfach  in  verschiedenen  Lebensaltern 
photographiert  worden.  Die  Bilder  sind  der  Ar- 
beit beigegeben. 

Die  Mutterstute  hat  während  ihres  Lebens 
neunmal  gefohlt  und  bei  drei  Geburten  Zwillinge 
geworfen.  Der  fünfte  Wurf  brachte  zwei  Maultier- 
hengste, der  achte  den  Pferdehengst  und  die 
Maultierstute  und  der  neunte  Wurf  einen  Maultier- 
hengst und  eine  Maultierstute.  Der  zweite  Wurf 
der  Mutterstute  war  eine  Pferdestute  gewesen,  die 
zwei  Hengstfohlen  von  einem  Pferdehengst  ge- 
worfen hat.  Die  Mutterstute  hat  also  die  Ver- 
anlagung zu  Zwillingsgeburten  vererbt. 

Wahrscheinlich  stammt  diese  Veranlagung  aber 
schon  von  der  Mutter  dieser  Stute,  einem  Oregon- 
Pferd,  denn  eine  Schwester  der  Mutterstute  hat 
ebenfalls  Zwillinge  getragen,  die  allerdings  mit 
neun  Monaten  verworfen  wurden. 

Daß  es  sich  in  jedem  Fall  um  zweieiige  Zwil- 
linge handelt,  folgt  aus  den  jedesmal  vorhandenen 
Farbunterschieden.  Außerdem  sind  die  Zwillinge 
in  zwei  Fällen  verschiedenen  Geschlechts.  Beim 
ersten  Fall  waren  beides  Hengste,  aber  der  eine 
schwarz,  der  andere  braun.  Im  zweiten  Wurf 
waren  der  Pferdehengst  und  die  Maultierstute,  die 
selbstverständlich  zweieiig  gewesen  sind.  Sie 
differieren  in  Geschlecht  und  Zeichnung,  obgleich 
beide  rotbraun  waren,  das  Maultier  etwas  heller 
als  das  Pferd.  Das  Maultier  hatte  einen  kleinen 
halbmondförmigen  Bleß  rechts  von  der  Stirnmitte ; 
das  Pferd  war  ein  einfarbiger  Brauner  mit  schwarzer 
Mähne,  schwarzem  Schwanz  und  schwarzen  Füßen. 

Im  dritten  Wurf  unterschieden  sich  die  beiden 
Maultierfphlen  durch  das  Geschlecht;  außerdem 
hatte  die  Stute  einen  weißen  Stirnfleck  und  war 
im  allgemeinen  dunkler  mit  nur  wenig  angedeu- 
teter heller  Partie  um  die  Schnauze,  wie  das  sonst 
bei  Eseln  und  Maultieren  zumeist  vorkommt.  Der 
kleine  Hengst  dagegen  hatte  diese  hellere  Zeich- 
nung und  war  auch  im  ganzen  heller. 

Bei  dem  vierten  Fall,  in  dem  eine  Halb- 
schwester der  „Mutterstute"  Zwillinge  hatte,  wur- 
den die  Föten  zwischen  dem  achten  und  neunten 
Monat  abortiert,  ohne  daß  Notizen  über  Geschlecht, 
Farbe  usw.  gemacht  worden  wären. 


Der  fünfte  Fall  waren  Zwillinge,  die  eine  Tochter 
der  „Mutterstute"  gebracht  hatte,  beide  gleichen 
Geschlechts,  aber  in  Farbe  und  Zeichnung  ver- 
schieden. Eins  war  ein  Brauner  wie  die  Mutter 
und  deren  Vater,  der  andere  ein  Rotfuchs  mit 
großem  weißem  Bleß  und  weißen  Füßen,  ähnlich 
wie  die  „Mutterstute"  und  deren  Mutter,  die 
Oregon-Stute,  und  wie  ein  Vollbruder  der  „Tochter". 

Man  sieht  also,  daß  in  dieser  Familie  in  jedem 
F"all  zweieiige  Zwillinge  geworfen  wurden  bei 
gleichzeitiger  oder  fast  gleichzeitiger  Befruchtung 
von  zwei  deutlich  getrennten  ungleichen  Eiern 
durch  zwei  ungleiche  Spermatozoen.  In  den  vier 
Fällen,  bei  denen  Beobachtungen  notiert  sind, 
zeigt  sich  die  Zweieiigkeit  bei  zweien  durch  ver- 
schiedenes Geschlecht  an,  bei  allen  durch  ver- 
schiedene Färbung.  Einer  dieser  Würfe  hatte 
Pferdehengst  und  Maultierstute  in  verschiedener 
Farbe  und  Zeichnung  enthalten. 

Die  Veranlagung  zu  Zwillingsgeburten  scheint 
durch  die  Stammutter  dieser  Zucht,  die  Oregon- 
Stute  in  die  Familie  gekommen  zu  sein,  denn 
zwei  ihrer  Töchter  haben  mit  verschiedenen 
Hengsten  Zwillinge  gebracht. 

Keine  der  Zwillinge  werfenden  Stuten  stammte 
selbst  aus  einem  Zwillingswurf.  Man  darf  aller- 
dings nicht  außer  acht  lassen,  daß  möglicherweise 
in  jedem  Fall  ein  Zwilling  zwar  gebildet  sein 
kann,  aber  nicht  zur  Entwicklung  gekommen  zu 
sein  braucht. 

Es  wurde  für  möglich  erachtet,  daß  die  An- 
wesenheit eines  Maultierfötus  die  Entwicklung  des 
Pferdefötus  hemmend  oder  störend  beeinflussen 
könnte.  In  dem  untersuchten  Falle  jedoch  waren 
beide  durchaus  normal. 

Im  vorliegenden  Beispiel  wird  man  von  Über- 
befruchtung reden  dürfen,  denn  die  Befruchtung 
der  beiden  Eier  konnte  nur  in  der  gleichen  Brunst- 
periode in  zehn  Minuten  Abstand  stattgefunden 
haben,  und  sowohl  der  Esel  wie  namentlich  der 
Pferdehengst  können  nur  einmal  befruchtet  haben. 

Mumford  gibt  in  seiner  Arbeit  „The  Bree- 
ding  of  Animals"  (New  York,  The  Macmillon  Co., 
191 7)  sieben  Beispiele  für  mehrfache  Befruchtung. 
Davon  betreffen  sechs  Beispiele  Zwillinge,  von 
denen  einer  ein  Pferd,  einer  ein  Maultier  war; 
aber  sie  stammten  stets  aus  zwei  auseinander- 
liegenden Brunstzeiten.  So  war  dann  auch  immer 
einer  der  Zwillinge  kleiner  und  weniger  entwickelt 
als  der  andere.  In  zweien  dieser  F'älle  starben 
beide  bei  oder  bald  nach  der  Geburt;  von  einem 
Fall  erwähnt  der  Autor  nichts;  von  zwei  weiteren 
Würfen  starb  je  ein  P'ohlen,  während  im  sechsten 
beide  am  Leben  blieben.  Die  Zahl  der  von 
Mumford  angegebenen  Fälle  zeigt,  daß  Pferd 
und  Maultier  als  Wurfgeschwister  nicht  so  selten 
sind,  wie  man  an  sich  anzunehmen  geneigt  ist. 
Sie  können  entstehen  —  wie  Mumfords  Bei- 
spiele zeigen  —  durch  Befruchtung  in  verschie- 
denen Brunstzeiten,  oder  in  der  gleichen  Brunst- 
zeit bei  Anwesenheit  von  zwei  reifen  Eiern  im 
Uterus.  E.  Mohr,  Hamburg. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


293 


Bücherbesprechungen. 


Meirowsky,  E.  und  Leven,  L,  Tierzeichnung;, 
Menschenscheckung  und  Systemati- 
sation der  Muttermale r.  Ein  Beitrag  zur 
vergleichenden  Morphologie  der  Haut.  79  S. 
mit  283  Abbildungen  im  Text  und  auf  19  Tafeln. 
(Sonderabdruck  aus  dem  „Archiv  für  Derma- 
tologie", Bd.  134.)  Berlin  192 1,  J.  Springer. 
Geh.  40  M. 
Es  ist  ein  noch  wenig  bearbeitetes,  aber  höchst 
interessantes  Gebiet,  das  von  den  Verff.  hier  be- 
handelt wird.  Sie  tragen  eine  Fülle  von  Material 
über  Menschenscheckung  und  Muttermäler  zu- 
sammen und  untersuchen  das  Verhältnis  der 
Menschenzeichnung  zur  Tierzeichnung.  Und  es 
ist  in  der  Tat  erstaunlich,  wie  mannigfach  die 
Übereinstimmungen  in  der  Art  des  Auftretens,  in 
Form  und  Lokalisation  der  Zeichnung  (die  stets 
wiederkehrende  bestimmte  Lokalisation  der  Mutter- 
mäler bezeichnet  die  Dermatologie  als  „Syslemati- 
sation")  bei  Mensch  und  Tier  sind.  Das  veran- 
schaulichen die  283  (teilweise  leider  etwas  kleinen) 
Abbildungen,  die  im  Text  und  auf  19  Tafeln  der 
Schrift  beigegeben  sind.  Um  nur  einige  Beispiele 
herauszugreifen.  Weiße  Abzeichen  bei  im  übrigen 
pigmentierter  Körperoberfläche  sind  bei  den  Säuge- 
tieren weit  verbreitet.  Die  Abzeichen  treten  mit 
besonderer  Vorliebe  an  ganz  bestimmten  Stellen 
auf.  Besonders  häufig  ist  eine  Blesse  auf  der 
Stirn.  Unter  den  Säugern  (sie  ist  auch  bei 
Nichtsäugern,  selbst  bei  manchen  Wirbellosen  zu 
beobachten)  bieten  uns  fast  alle  Gruppen,  vor 
allem  aber  die  Haustiere,  Beispiele  in  Hülle  und 
Fülle.  Viele  gescheckte  Neger  weisen  eine  solche 
Stirnblesse  in  ganz  ähnlicher  Ausbildung  auf.  Nicht 
selten  ist  bei  den  Tieren  inmitten  der  Blesse  eine 
pigmentierte  Insel,  ähnlich  bei  den  Menschen- 
schecken. Von  einer  Manschettenbildung  spricht 
man,  wenn  der  Körper  pigmentiert  ist,  die  Ex- 
tremitäten aber  weiß  sind.  Auch  das  Umgekehrte 
(Stiefelung)  kann  der  Fall  sein ,  wie  bei  den 
Russenkaninchen  und  den  Hampshireschafen,  die 
weiß  sind,  aber  schwarze  Extremitäten,  schwarze 
Ohren,  schwarze  Nase  und  schwarze  Schwanz- 
spitze haben  (Akromelanismus).  Auch  dafür  bieten 
uns  die  Menschenschecken  Analoga.  Sehr  ver- 
breitet ist  die  sog.  Schwimmhosenzeichnung  bei 
Säugetieren ;  die  vordere  Körperhälfte  ist  weiß, 
die  hintere  ist  pigmentiert,  wie  bei  den  Holländer- 
kaninchen und  den  Meerschweinchen,  bei  den 
halbroten  bayerischen  Schweinen  usw.  Dieselbe 
Schwimmhosenzeichnung  ist  die  häufigste  Form 
der  großen  Muttermäler  des  Menschen. 

Da  der  erste  der  beiden  Verff.  an  dieser  Stelle 
bereits  selbst  den  Inhalt  der  vorliegenden  Schrift  aus- 
führlich mitgeteilt  hat,^)  erübrigt  sich  ein  eingehen- 
des Referat,  doch  können  wir  diese  Besprechung  nicht 


')  M  eirowsk  y ,  E.,  Die  angeborenen  Muttermäler  und 
die  Färbung  der  mensclilichen  Haut  im  Lichte  der  Ab- 
stammungslehre.    Naturw.  Wochenschr.,    N.  F.   Bd.    ig,    1920. 


schließen,  ohne  einige  Worte  der  Kritik  hinzugefügt 
zu  haben.  Zunächst  einmal :  Die  Schrift  ist  in  einem 
Tone  der  Selbstgefälligkeit  geschrieben,  den  man  in 
wissenschaftlichen  Abhandlungen  wirklich  nicht 
aufkommen  lassen  sollte  1  Bezeichnend  sind  die 
folgenden  Sätze  aus  dem  Schlußabschnitt:  „Die 
Naevusfrage  war,  wie  Delbanco  treffend  be- 
merkte (sie  zitieren  damit  einen  Referenten  einer 
eigenen  früheren  Arbeit  —  N.),  auf  einem  toten 
Geleise  festgefahren.  Jetzt  ist  sie  wieder  flott, 
aus  den  Fesseln  der  für  das  Gesamtbild  wichtigen 
Einzelbeobachtungen  befreit  und  in  enge  Be- 
rührung mit  den  Lehren  der  allgemeinen  Natur- 
wissenschaften gebracht.  ...  In  das  „dunkelste 
Afrika"  der  Dermatologie  leuchtet  das  helle  Licht 
der  Vererbungswissenschaft,  der  Geist  Darwins, 
Weismanns  und  Goethes,  .  .  .".  Was  haben 
denn  nun  eigentlich  die  Verff.  für  ein  Problem 
gelöst?  Sie  haben  das  Verdienst  —  das  wurde 
bereits  eingangs  betont  und  sei  ihnen  unbenom- 
men — ,  em  großes  Tatsachenmaterial  zusammen- 
getragen und  auf  die  weitgehenden  Übereinstim- 
mungen zwischen  Tier-  und  Menschenzeichnung 
hingewiesen  zu  haben.  So  wesentliche  Analogien, 
so  sagen  sie,  können  nicht  auf  einem  Zufall  be- 
ruhen, die  Systematisation  der  Muttermäler  müsse 
ebenso  wie  die  Systematisation  der  Tierzeichnung 
„keimplasmatisch  bedingt"  sein.  Und 
mit  dieser  immer  wiederkehrenden  „keimplasma- 
tischen  Bedingtheit"  glauben  sie  helles  Licht 
über  die  Dermatologie  zu  ergießen!  Ist  damit 
aber  auch  nur  irgend  etwas  erklärt?  Zugegeben 
auch,  daß  es  sich  in  vielen  der  von  den  Verff. 
gesammelten  Fälle  um  erbliche  Erscheinungen 
und  um  mehr  als  eine  äußere  Ähnlichkeit  zwischen 
Menschen-  und  Tierzeichnung  handeln  rnöge,  aber 
die  große  Mehrzahl  der  Fälle  ist  doch  gänzlich 
unanalysiert.  Alles,  was  äußerlich  (phänotypisch) 
gleich  oder  ähnlich  ist,  wird  kurzerhand  in  einen 
Topf  geworfen,  es  mag  sich,  um  mit  Lenz  zu 
sprechen,  manche  Blindschleiche  unter  den 
Schlangen  finden.  Und  wenn  die  Verff.  für  sich 
die  Priorhät  in  Anspruch  nehmen,  in  die  Der- 
matologie das  Licht  der  Vererbungswissenschaft 
haben  leuchten  zu  lassen,  so  sollten  sie  sich 
wenigstens  mit  dieser  Wissenschaft  vertraut  er- 
weisen. Der  eine  der  beiden  Verff.  bemerkt,  daß 
er  sich  auf  besondere  Anregung  des  anderen  im 
Felde  dem  Studium  der  Vererbungslehre  Weis- 
manns  gewidmet  habe.  Dessen  Keimplasma- 
lehre habe  sich  dann  als  ein  tragfähiges  Funda- 
ment zur  Aufstellung  der  Keimplasmalehre  der 
Muttermäler  erwiesen.  Wir  sind  weit  davon  ent- 
fernt, die  Bedeutung  Weismanns  für  die  mo- 
derne Vererbungslehre  gering  einzuschätzen,  aber 
wir  sind  denn  doch  im  Laufe  der  letzten  zwanzig 
Jahre  ein  gut  Stück  über  Weismann  hinaus- 
gekommen, und  davon  merkt  man  sehr  wenig 
beim  Studium  dieser  Schrift  und  besonders  des 
ersten  Kapitels,  das  sich  betitelt  „Die  wichtigsten 


294 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


Ergebnisse  aus  der  Vererbungswissenschaft  als 
Einführung  in  die  Grundlagen  der  Naevuslehre", 
und  in  dem  von  „Keimplasmaerschütterung"  und 
„Genverwirrung"  und  manch  anderem  Absonder- 
lichen die  Rede  ist.  Über  die  Vererbung  von 
Farbe  und  Zeichnung  bei  den  Säugetieren  gibt 
es  heute  bereits  eine  Fülle  von  Literatur.  Aus 
dieser  Fülle  führen  die  Verff.  nicht  viel  mehr  als 
eine  Arbeit  an,  und  zwar  gerade  die  schlechteste, 
die  existiert,  die  leider  von  der  „Deutschen  Gesell- 
schaft für  Züchtungskunde"  herausgegebene  Arbeit 
von  Po r zig  über  „Vererbung  in  der  Kaninchen- 
zucht". Nachtsheim. 


Scheiner  -  Graff,    Astrophysik.     448  S.    mit 
17  Taf    und    254    Fig.      Leipzig  -  Berlin    1922, 
Teubner.     Brosch.   125  M.,  geb.   145  M. 
Simon  Newcombs    Astronomie   für  jeder- 
mann.    Herausgegeb.  von  Prof.  Dr.  Schorr  und 
Prof.    Dr.  Graff  von    der  Sternwarte  Hamburg. 
395  S.  mit   1   Titelbild,  3  Tafeln,  3  Sternkarten 
und  89  Abb.     Jena  1922,  G.  Fischer.      Brosch. 
33  M.,  geb.  42  M. 
Lietzmann,    H.,    Anleitung  zur   Himmels- 
beobachtung mit  kleinen  Fernrohren. 
58  S.    mit    59  Abb.      Jena    1922,    G.   Fischer. 
Brosch.  12  M.,  geb.  18  M. 
Vielleicht    durch    nichts    tritt    der    gewaltige 
Fortschritt  der  Astrophysik  auf  allen  Gebieten  so 
deutlich  in  die  Erscheinung,  als  durch  einen  Ver- 
gleich der  Sehe  in  ersehen  Astrophysik  von  1908 
und  von   1922,    die    nach  Scheiners  Tode  von 
Graff  durchaus   neu  bearbeitet    ist,   so    daß    nur 
der  Name    blieb.      Es    konnte   auch   nicht   anders 
sein.     Nicht  nur,  daß  ein  jedes  Gebiet  wesentlich 
erweitert  worden  ist,  es  sind  in  diesen   14  Jahren 
soviel  ganz  neue  Gebiete,  ganz  neue  Begriffe  und 
Gesichtspunkte    hinzugekommen,    die   zu   berück- 
sichtigen waren.    Insbesondere  hat  die  Forschung 
am  Fixsternhimmel   ungeahnte  Ergebnisse  erzielt. 
Man  denke  an  die  Beziehungen  zwischen  Spektren, 
Farben,  Bewegungen,    Riesen-    und  Zwergsternen, 
an  die  Photometrie  mit  der  elektrischen  Zelle,  an 
die    Physik    der    kugelförmigen    Sternhaufen    und 
der  Spiralnebel,  die  erst  jüngsten  Datums  ist,  um 
den  hohen  Wert    des  Werkes    zu    würdigen,    das 
die    ganze    moderne    Astrophysik    umfaßt,    uner- 
schöpflich   als    Nachschlagewerk,    als    Quelle    für 
Vorträge,  zum  Privatstudium  für  den  Freund  der 
Sterne.      Viele    und    sehr    gute    Abbildungen  und 
Tafeln  unterstützen    die    Darstellung    in   vollkom- 
mener Weise.      Es  berührt    sehr  wohltuend,    daß 
der  Verf  an  geeigneten  Stellen  auch    darauf  hin- 
weist,   daß    die  Ergebnisse    häufig    noch    der  Be- 
stätigungbedürfen, daß  sie  auf  Schlüssen  beruhen, 
deren    Voraussetzungen     nicht     immer    festliegen, 
so    daß    zwischen  sicheren    und  zweifelhaften  Re- 
sultaten unterschieden  wird. 

Viel  einfacheren  Anforderungen  genügt  das 
zweite  Buch,  ebenfalls  von  Graff  in  ausgezeich- 
neter Weise  bearbeitet.     Es  gibt  eine  zusammen- 


fassende Darstellung  der  jedem  gebildeten  Laien 
verständlichen  astronomischen  und  astrophysikali- 
schen  Tatsachen,  sowohl  die  Grundbegriffe,  wie 
auch  die  Instrumente,  und  die  einzelnen  Gruppen 
der  Himmelskörper.  Es  ist  dem  Stande  der 
Gegenwart  entsprechend,  mit  besonderer  Hervor- 
hebung der  Gebiete,  die  zurzeit  besonders  erfolg- 
reich bearbeitet  werden,  wie  die  Physik  der  Fix- 
sterne und  Nebel.  Jedem  Liebhaber  der  Astro- 
nomie, der  in  leichter  Weise  einen  Überblick 
haben  will,  gibt  das  Buch  alles  Gewünschte,  und 
ist  daher  auch  als  Geschenk  eine  wertvolle  Gabe. 
Das  letzte  Büchlein  endlich  wendet  sich  an 
die  Besitzer  kleiner  Fernrohre,  die  der  Anleitung 
bedürfen,  um  sich  am  Himmel  damit  zurecht  zu 
finden.  So  ist  die  Handhabung  des  Instrumentes 
genau  beschrieben,  zahlreiche  Kärtchen  erleichtern 
das  Aufsuchen  der  Nebel,  Sternhaufen  und  Doppel- 
sterne. Dazu  wertvolle,  der  Praxis  entnommene 
Winke  zur  Beobachtung  von  Sonne,  Mond  und 
Planeten.  Es  ist  sehr  erfreulich,  daß  auch  auf 
die  Vorteile  der  parallaktischen  Fernrohre  hinge- 
wiesen wird,  ohne  die  sich  Messungen  schwer 
machen  lassen.  Allerdings  scheint  mir  die  Me- 
thode, das  Instrument  mit  Hilfe  des  Kompaß  und 
der  Sonne  in  den  Meridian  zu  bringen,  doch  bei 
nicht  allzu  geringen  Anforderungen  an  die  Ge- 
nauigkeit recht  unzureichend.  Da  die  Mittel  an- 
gegeben sind,  in  den  Besitz  genauer  Zeit  zu 
kommen,  so  sind  doch  Meridiandurchgänge  von 
Sternen  ungleich  einfacher  und  genauer  zu  be- 
nutzen. Die  Billigkeit  des  Büchleins  wird  ihm 
bei  den  sehr  zahlreichen  Fernrohrbenutzern  eine 
hoffentlich  weite  Verbreitung  verschaffen. 

Riem. 


Muckermann,  Hermann,  Um  das  Leben  der 
Ungeborenen.  Zweite,  vermehrte  Auflage 
(6.— 10.  Tausend).  78  S.  Berlin  u.  Bonn  1922, 
F.  Dümmler.  Geh.  9  Mk. 
Der  bekannte  Jesuitenpater,  einer  der  tat- 
kräftigsten Vorkämpfer  der  Rassenhygiene,  be- 
handelt in  dem  ein  Jahr  nach  seinem  ersten  Er- 
scheinen bereits  in  zweiter  Auflage  vorliegenden 
Büchlein  die  Frage  der  künstlichen  Fruchtabtrei- 
bung. Die  Schrift  ist  entstanden  im  Anschluß  an 
ein  Referat,  das  in  einer  Sitzung  der  sehr  rührigen 
Vereinigung  für  Familienwohl  zu  Düsseldorf  er- 
stattet und  durch  die  seinerzeit  von  sozial- 
demokratischer Seite  dem  deutschen  Reichstag 
vorgelegten  Anträge  betreffend  Straffreiheit  der 
Eingriffe  in  das  keimende  Leben  veranlaßt  wurde 
Anträge,  die  von  Seh  all  may  er  treffend  als  eine 
„Ausgeburt  von  maßlos  individualistischer  Auf- 
fassung" bezeichnet  wurden.  Verf.  will  das  Pro- 
blem, wie  er  im  Vorwort  sagt,  auf  wissenschaft- 
licher Grundlage  gemeinverständlich  erörtern.  Das 
geschieht  auch.  Muckermann  will  in  erster 
Linie  als  Biologe  sprechen.  Daß  die  Darstellung 
einen  ernsten  ethisch- religiösen  Hintergrund  hat, 
versteht  sich  bei  dem  Stande  des  Verf.  von  selbst. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


295 


Die  Form  ist  aber,  wie  eigens  betont  sei,  so,  daß 
auch  der  in  religiösen  Dingen  anders  Denkende 
ihr  seine  Zustimmung  nicht  versagen  wird.  Möge 
das  Büchlein  das,  was  es  erstrebt,  den  Schutz  des 
kommenden  Geschlechtes,  erreichen.  Das  am 
Boden  liegende  Deutschland  hat  ein  starkes  Ge- 
schlecht bitter  notwendig.  Nachtsheim. 


von  Lippmann,  Prof.  Dr.  Edmund  O.,  Zeit- 
tafeln zur  Geschichte  der  organischen 
Chemie.  Berlin  1921,  JuHus  Springer.  18  M. 
„Ein  Versuch"  nennt  sich  das  Büchlein  be- 
scheiden im  Untertitel.  Wir  dürfen  sagen,  daß  er 
wohlgelungen  ist.  Auf  insgesamt  67  Seiten  wird 
unter  Voranstellung  der  Jahreszahlen  eine  schlag- 
wortartige Übersicht  über  den  Werdegang  der 
gesamten  organischen  Chemie  vom  Jahre  1500  ab 
gegeben.  Da  fehlt  denn  kein  irgendwie  be- 
merkenswerter StofT,  keine  Reaktion  von  allge- 
meiner Bedeutung.  Name  des  Entdeckers  und 
Angabe  der  Quelle,  meist  der  Originalliteratur, 
stehen  dabei.  Ein  sorgfältiges  Namen-  sowie  ein 
Sachregister  (vom  Sohne  des  Verf.s  bearbeitet) 
gestatten,  sich  über  jeden  der  aufgeführten  Stoffe 
schnell  zu  unterrichten.  In  Fußnoten  wird  für 
Fachausdrücke,  wie  „Tautomerie",  „Hystazarin" 
usw.  die  ethymologische  Erläuterung  gegeben. 
Der  Zweck  des  Buches,  dem  allgemeinen  ge- 
schichtlichen Verständnis  in  chemischen  und 
medizinischen  Kreisen  zur  Anerkennung  zu  ver- 
helfen, ist,  soweit  eine  solche  tabellarische  und 
damit  etwas  trockene  Übersicht  das  vermag,  als 
wohl  erreicht  zu  betrachten.  Man  darf  wünschen, 
daß  recht  viele  unserer  Studierenden,  dann  aber 
der  Gebildeten  im  allgemeinen  von  den  Zeittafeln 
Gebrauch  machen  und  sich  dadurch  zum  Studium 
der  Geschichte  der  Chemie  überhaupt  anregen 
lassen  möchten!  Es  gibt  keinen  besseren  Weg, 
das  „Philosophische"  der  Chemie,  d.  h.  ihre 
Stellung  im  Dasein  und  Werden  der  Gesamt- 
wissenschaft zu  erfassen.  Ganz  abgesehen  davon 
ist  das  Durchstudieren  der  Tafeln  deshalb  eine 
äußerst  anregende  Angelegenheit,  weil  man  immer 
wieder  über  gewisse  historische  Merkwürdigkeiten 
schlechthin  staunen  muß,  so  z.  B.,  daß  Anethol 
schon  1540  kristallisiert  erhalten,  aber  erst  300 
Jahre  später  künstlich  dargestellt  werden  konnte, 
daß  zwar  Äthylchlorid  schon  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts wohlbekannt  war,  daß  aber  ein  heut  so 
gebräuchlicher  Stoff  wie  Phenacetin  ganze  35  Jahre 
alt  ist. 

Die  Tafeln  brechen  mit  dem  Jahre  1890  ab. 
Mancher  wird  das  als  einen  Mangel  empfinden. 
Auch  die  Aufnahme  gewisser  Stoffe  wird  dis- 
kutiert werden.  Beispielsweise  erscheint  die  zwei- 
malige Aufführung  der  Darstellung  von  Formose 
S.  52  und  53  nicht  ganz  gerechtfertigt.  Im 
übrigen  darf  man  sich  jedoch  der  Gabe  des  be- 
deutenden Historikers  der  Chemie  nachdrücklich 
erfreuen.  Möchte  sie  viele  Leser  und  Benutzer 
finden!  H.  Heller. 


Zander,  Enoch,  Handbuch  der  Bienen- 
kunde in  Einzeldarstellungen.  IV.  Das 
Leben  der  Biene.  195  S.  mit  9  Tabellen  und 
138  Abbildungen.  2.  erweiterte  Auflage.  Stutt- 
gart (ohne  Jahreszahl),  Verlag  von  E.  Ulmer. 
Geb.  20  M. 

,    Obstbau    und    Bienenzucht.      Eine 

Werbeschrift  zur  Förderung  eines  verständnis- 
vollen Zusammenarbeitens  von  Obst-  und 
Bienenzüchter.  48  S.  mit  22  Abb.  Stuttgart 
1922,  Verlag  von  E.  Ulmer.  Geh.  10  M. 
Zanders  populär  -  wissenschaftliches  „Hand- 
buch der  Bienenkunde"  hat  sich  schnell  einen 
großen  Leserkreis  erworben.  Der  rasche  Absatz 
der  ersten  Auflage  ist  dafür  allein  schon  ein  Be- 
weis. Wer  sich  über  das  Leben  und  Treiben  im 
Bienenstaat  unterrichten  will,  sei  es,  daß  ihn  die 
Freude  an  der  Natur  zum  Studium  eines  ihrer  reiz- 
vollsten Kapitel  treibt,  sei  es,  daß  er  selbst  Bienen- 
züchter ist  oder  werden  will,  dem  kann  diese  mit 
guten  Abbildungen  ausgestattete  Bienenkunde 
bestens  empfohlen  werden.  Der  vorliegende  Band 
des  Werkes  behandelt  die  Biologie  der  Biene. 
Die  letzten  Jahre  haben  uns  auf  diesem  Gebiete 
manche  wertvolle  Erweiterung  unserer  Kenntnisse 
gebracht  —  es  sei  vor  allem  an  die  schönen 
Untersuchungen  v.  Frischs  über  das  Sinnes- 
leben der  Bienen  erinnert  — ;  die  Neuauflage  be- 
rücksichtigt die  jüngsten  Forschungen  bereits 
größtenteils. 

Der  erste  Abschnitt  gibt  uns  ein  Bild  von  der 
Stellung  der  Biene  im  Tierreich.  Es  werden  die 
nächsten  Verwandten  der  Honigbiene  und  sodann 
deren  verschiedene  Rassen  vorgeführt,  woran  sich 
eine  Darstellung  der  biologischen  Eigenart  der 
Honigbiene  schließt.  Der  zwehe  Abschnitt  ver- 
schafft uns  einen  Einblick  in  den  Bienenhaushalt. 
Wir  lernen  den  Bau  des  Stockes  und  seine  ver- 
schiedenen Insassen  kennen,  hören  von  den  Lebens- 
bedürfnissen der  Biene  und  sehen  schließlich  das 
Bienenleben  im  Kreislauf  eines  Jahres  an  uns 
vorüberziehen.  Der  dritte  und  letzte  Abschnitt 
endlich  behandelt  den  Verkehr  der  Biene  mit  der 
Außenwelt.  Wir  lernen,  wie  sich  die  Biene  außer- 
halb des  Staates  zurechtfindet,  und  wie  sie  ihrer 
Nahrung  nachgeht,  und  das  führt  dann  zu  einer 
Schilderung  der  so  außerordentlich  wichtigen 
Stellung  der  Bienen  im  Haushalt  der  Natur,  zu 
einer  Schilderung  der  Beziehungen  zwischen 
Bienen  und  Pflanzen. 

Gerade  dieses  Kapitel  wird  noch  ausführlicher 
in  der  zweiten  Schrift  Zanders  behandelt,  die 
sich  in  erster  Linie  an  die  Obst-  und  Bienen- 
züchter wendet.  Einmal  infolge  ihrer  Blüten- 
stetigkeit und  dann  infolge  der  großen  Zahl  der 
in  einem  Volk  vereinten  Individuen  spielt  die 
Honigbiene  unter  den  Insekten  als  Pollenüber- 
trägerin weitaus  die  größte  Rolle.  Ohne  Bienen, 
so  kann  auf  Grund  vielfältiger  Erfahrungen  gesagt 
werden,  kein  ertragreicher  Obstbau,  Bienenzucht 
und  Obstbau  gehören  unbedingt  zusammen.  Den 
Wert  der   deutschen   Obsternte   veranschlagt  der 


296 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


Verf.  auf  500  Mill.  Mark  pro  Jahr  (nach  dem 
Geldwert  vor  dem  Kriege  berechnet!),  und  davon 
entfallen  % ,  mindestens  aber  %  nach  Berner 
auf  die  Mitarbeit  der  Bienen,  also  300 — 350  Mill. 
Mark.  Diese  Zahlen  zeigen  den  volkswirtschaft- 
lichen Wert  der  Bienenzucht  schon  zur  Genüge. 
Schließlich  noch  etwas  rein  Äußerliches  zu 
der  ersten  der  hier  besprochenen  Schriften  Zan- 
ders. Er  bezeichnet  seine  „Bienenkunde"  als 
Handbuch.     Das    ist   ein  etwas    zu  anspruchs- 


voller Name  für  das  Werkl  Ein  Handbuch  ist 
dazu  bestimmt,  unser  Gesamtwissen  eines  Gebietes 
aufzunehmen.  Das  kann  und  will  aber  die 
„Bienenkunde"  Zanders  gar  nicht.  Sie  soll,  wie 
schon  eingangs  gesagt,  eine  auch  für  die  Hand 
des  Laien  bestimmte  Einführung  sein.  Viel- 
leicht bezeichnet  der  Verf  bei  einer  Neuauflage, 
die  ich  ihm  gern  für  nicht  zu  ferne  Zeit  wünsche, 
sein  Werk  als  das,  was  es  ist. 

Nachtsheim. 


Anregungen  und  Antworten. 


Deutscher  Monistenbund.     Ein  Werbeblatt  des  deutschen 


Monistenbundes,  das  auch  neulich  einer  Nummer  der  Naturw. 
Wochenschr.  (ohne  Wissen  der  Schriftleitung.  Die  Red.)  bei- 
gelegt wurde,  veranlaßt  mich  zur  Niederschrift  der  folgenden 
Überlegungen. 

1.  Der  Monismus  hat  ein  Gebäude  errichtet,  in  dem  es 
nichts  als  Erfahrungstatsachen  geben  soll.  Unsere  Erfahrung 
gründet  sich  auf  Beobachtungen,  die  wir  mit  Hilfe  unserer 
Sinnesorgane  und  der  uns  zur  Verfügung  stehenden  technischen 
Hilfsmittel  anstellen.  Nun  sind  unsere  Sinnesorgane  und 
technischen  Hilfsmittel  nach  Zahl  und  Leistungsfähigkeit  be- 
schränkt, und  es  wird  niemand  behaupten  wollen,  daß  wir 
aliein  durch  diese  alles  Seiende  erkennen  können.  Darum 
muß  es  gestattet  sein,  zur  Vertiefung  unserer  Erkenntnis  neben 
den  Naturwissenschaften  auch  Geisteswissenschaften  wie  Er- 
kenntniskritik und  Logik,  ja  sogar  Ethik  und  Ästhetik,  heran- 
zuziehen. Auch  durch  sie  werden  ,, wissenschaftliche  Begriffe", 
die  das  monistische  Werbeblatt  allein  gelten  läßt,  geschaffen 
und  nicht  nur  „Phantasiegebilde"  erzeugt. 

2.  Wenn  man  das  Weltbild  von  einem  möglichst  einheit- 
lichen Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  was  ja  ganz  im  Sinne 
des  Monismus  ist,  und  wenn  man  sich  eine  neue  Theorie  zu 
eigen  macht,  nach  der  die  Materie  eine  Form  der  Energie  ist, 
so  kann  man  sagen,  der  ganze  Weltinhalt  sei  nichts  anderes 
als  ein  ungeheurer  Energievorrat.  Diese  durchaus  monistisch 
klingende  Darstellung  hat  einen  wesentlichen  Mangel,  sie 
nimmt  auf  eine  wichtige  Tatsache  keine  Rücksicht,  nämlich 
die,  daß  alles  in  der  Welt  einem  dauernden  Wechsel  unter- 
worfen ist,  daß  unendlich  viele  kleinere  und  größere  Energie- 
mengen unausgesetzt  ihre  Form  verändern.  Die  stetige  Ände- 
rung, oder,  was  dasselbe  ist,  die  Entwicklung  des  Wellganzen 
unterliegt  dem  Gesetz  des  Wirkens,  das  von  Wil  heim  Roux 
in  geistvoller  Weise  begründet  wurde.  Zum  Wirken  gehören 
immer  zwei  Dinge,  ein  wirkendes  und  eines,  auf  das  gewirkt 
wird.  Und  ferner :  kein  Ding  kann  sich  von  sich  selbst  aus 
verändern,  zu  jeder  Änderung  sind  mindestens  zwei  Faktoren 
nötig.  Für  das  Weltganze  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Gesamt- 
energie, die  nach  monistischen  Anschauungen  ursprünglich 
möglichst  einheitlich  zu  denken  ist,  zunächst  in  einzelne 
Energiemengen  zerlegt  werden  mußte,  ehe  diese  aufeinander 
wirken  konnten.  Es  muß  daher  ein  übergeordnetes  Prinzip 
vorhanden  sein,  auf  das  die  Energiezerlegung  zurückzuführen 
ist.     Dieses  Prinzip  nennen    wir,    wenn    wir    eine    triviale  Be- 


zeichnung vermeiden  wollen,  ein  göttliches.  Das  innere 
Wesen  des  göttlichen  Prinzips  werden  verschiedene  Menschen 
sich  sehr  verschieden  vorstellen,  entsprechend  ihrem  Bildungs- 
grad und  ihrem  Auffassungsvermögen.  Unser  Denken  ist  ge- 
bunden, unser  Vorstellungskreis  durch  unsere  Organisation 
beschränkt.  Darum  ist  es  naheliegend,  wenn  auch  durchaus 
nicht  notwendig,  daß  man  das  götiliche  Wesen  mit  mensch- 
lichen Eigenschaften  ausstattet,  die  bis  zu  einer  überragenden 
Größe  gesteigert  sind.  Durch  dieselbe  Gedankenfolge  kommt 
man  zum  Verständnis  der  Vorstellung  eines  persönlichen 
Gottes. 

3.  Man  kann  sehr  religiös  sein,  ohne  daß  man  alle  Dog- 
men einer  Religionsgemeinschaft  für  glaubhaft  hält.  Die 
religiöse  Sprache  ist  reich  an  Bildern,  auch  das  Jenseits  ist 
ein  Bild.  Daß  es  kein  körperliches  Fortleben  nach  dem  Tode 
geben  kann,  bedarf  keiner  besonderen  Erörterung.  Einer 
fortlebenden  Seele  fehlt  das  Ichbewußtsein,  da  dieses  eine 
Folge  des  Zusammenbanges  mit  dem  Körper  ist.  Das  Fort- 
leben einer  Seele  nach  dem  Tode  können  wir  heute  mit 
Sicherheit  nur  in  der  Gedankenwelt  überlebender  Menschen 
feststellen. 

4.  Nach  dem  Gesagten  erübrigt  es  sich,  auf  die  Aus- 
führungen des  monistischen  Werbeblattes  über  weltliche 
Schule,  weltlichen  Staat,  Weltfrieden,  Gesellschaftsordnung 
und  Rassenfragen  einzugehen,  zumal  diese  einen  politischen 
Einschlag  haben,  und  ihre  Diskussion  nicht  in  eine  natur- 
wissenschaftliche Zeitschrift  gehört.  Nur  die  eine  Bemerkung 
zu  machen  kann  ich  mir  nicht  versagen,  daß  die  Beschäftigung 
mit  dem  Leben  des  Stifters  der  christlichen  Religion  einen 
hohen  sittlichen  und  erzieherischen  Wert  hat. 

Prof.  Dr.  Hermann  Triepel-Breslau. 


Literatur. 

Stark,  Dr.  Job.,  Natur  der  chemischen  Valenzkräfte. 
Leipzig  '22,  Verlag  von  S.  Hirzel.     Geh.    10  M. 

Klut,  Prof.  Dr.  Hartwig,  Untersuchung  des  Wassers  an 
Ort  und  Stelle.  4.  Aufl.  Berlin  '22,  Verlag  von  J.  Springer. 
Brosch.  45  M. 

Bauer,  Prof.  Dr.  H.,  Chemie-Büchlein.  Ein  Jahrbuch 
der  Chemie.  I.  Jahrg.  Stuttgart  '22.  Franckhsche  Verlags- 
buchhandlung. 


iDlinIt:  Hans-Adam  Stolte,  Mechanistische  und  vitalistische  Strömungen  in  der  Geschichte  der  biologischen  Theorien. 
S.  281.  —  Einzelbericbte:  R.  Keller,  Azidität  und  Basizität.  S.  287.  G.  Haberlandt,  Parthenogenesis  und 
Nekrohormone.  S.  289.  H.  Cloos,  Tektonik  und  Vulkanismus.  S.  290.  W.  R.  B.  Robertson,  Maultier  und  Pferd 
als  Zwillinge,  und  die  Erblichkeit  der  Zwillingsgeburten.  S.  292.  —  Bücherbesprechungen:  E.  Mcirowsky  und 
L.  Leven,  Tierzeichnung,  Menschenscheckung  und  Systematisation  der  Muttermäler.  S.  293.  Seh  einer-Graff , 
Astrophysik.  S.  New  comb,  Astronomie  für  jedermann.  H.  Lietzmann,  Anleitung  zur  Himmelsbeobachtung  mit 
kleinen  Fernrohren.  S.  294.  H.  Muckermann,  Um  das  Leben  der  Ungeborenen.  S.  294.  E.  O.  v.  Lippmann, 
Zeittafeln  zur  Geschichte  der  organischen  Chemie.  S.  295.  E.  Zander,  Handbuch  der  Bienenkunde  in  Einzeldarstel- 
lungen. IV.  Ders.,  Obstbau  und  Bienenzucht.  S.  295.  —  Anregungen  und  Antworten:  Deutscher  Monistenbund. 
S.  296.  —  Literatur:  Liste.  S.  296. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folgte  21.  Band; 
;r  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  28.  Mai  1922. 


Nummer  32. 


[Nachdruck  verboten.] 


August  Schulz  f, 

Von  Vf.  Wächter. 


Am  7.  Februar  dieses  Jahres  schloß  einer  der 
merkwürdigsten  Botaniker,  Dr.  August  Schulz 
in  Halle  a.  S.,  außeretatsmäßiger  Professor  an  der 
Universität,  im  6o.  Lebensjahre  für  immer  die 
Augen.  Er  starb  in  großer  Dürftigkeit  an  einer 
Lungen-  und  Rippenfellentzündung.  Die  sorg- 
same und  liebevolle  Pflege  seiner  Braut  konnte 
den  Tod  nicht  verscheuchen  und  so  mußte  der 
Mann,  der  den  Frühling  und  die  ersten  Frühjahrs- 
blumen alljährlich  mit  Ungeduld  erwartete,  in 
bitterer  Winterkälte  sein  an  Enttäuschungen 
reiches  Leben  beenden.^) 

Es  war  auf  einer  Exkursion  in  die  Vogesen 
vor  mehr  als  einem  Dezennium,  als  mir  unter 
den  Anwesenden  ein  hagerer  Mann  mit  einem 
markanten  Gesicht  auffiel,  den  ich  noch  nicht 
kannte.  Seine  langen  Haare  und  die  schön  ge- 
formte Stirn  verdeckte  ein  großer  runder  Hut  von 
undefinierbarer  Farbe,  und  ein  etwas  schütterer 
ungepflegter  rötlichblonder  langer  Spitzbart  und 
ein  herabhängender  Schnurrbart  umrahmten  einen 
weichen  Mund.  Die  Augen  blickten  außerordent- 
lich gütig  in  die  Welt  und  doch  lag  in  dem  Ge- 
sicht ein  Ausdruck  von  ein  klein  wenig  Hoch- 
mut, Selbstüberhebung  oder  wie  man  es  sonst 
nennen  will,  ein  Ausdruck,  wie  man  ihn  bei  Leuten 
findet,  die  sich  zurückgesetzt  fühlen  und  sich  doch 
stark  ihres  Wertes  bewußt  sind.  Ein  weiter 
Bozener  Mantel  umschlotterte  die  mageren  Glieder 
des  Mannes,  der  in  seiner  Rechten  eine  Gitter- 
presse trug,  die  neben  einigem  Löschpapier  seine 
ganzen  Reiseutensilien  barg,  wie  ich  später  erfuhr ; 
weder  Rucksack  noch  Schirm  oder  Stock  ge- 
hörten zu  seiner  Ausrüstung.  Er  hatte  ein  paar 
Fachgenossen  um  sich  versammelt  und  dozierte 
in  einer  so  interessanten  Art,  wie  ich  es  bisher 
von  einem  Systematiker  oder  Floristen  noch  nicht 
gehört  hatte.  —  Das  also  war  August  Schulz 
aus  Halle,  wie  man  mir  sagte,  und  als  ich  seine 
nähere  Bekanntschaft  machte,  da  wußte  ich,  daß 
wir  ein  Stück  Weges  auf  dieser  Welt  zusammen- 
gehen würden. 

Als  Botaniker  hat  man  vielfach  Gelegenheit, 
originellen  Menschen,  besonders  unter  den  Floristen, 
zu  begegnen,  Menschen,  die  abseits  der  großen 
Heerstraße  wandern  und  lieber  verwachsene 
Seitenpfade  aufsuchen,  wie  es  ihr  Beruf  erfordert. 
Wilhelm  Raabe  würde  manche  seiner  Freunde 
unter  diesen  Fachgenossen   gefunden   haben,    die 

')  Fräulein  Margarete  Mindner,  den  Herren  Fried - 
rieh  Faber,  Dr.  Julius  Müller  und  K.  Bernau  bin  ich 
für  Ihre  freundliche  Unterstützung  meiner  eigenen  Kenntnisse 
über  den  Verstorbenen  zu  großem  Dank  verpflichtet. 


meistens  neben  ihrer  Liebe  zu  den  Kindern  Floras 
starke  philologische  und  historische  Neigungen 
bekunden.  Das  war  auch  bei  August  Schulz 
der  Fall ;  er  verfügte  außer  über  philologische 
und  historische  Kenntnisse  auch  noch  über  ein 
geologisches,  zoologisches,  geographisches,  kunst- 
historisches und  literarisches  Wissen,  das  weit 
über  das  hinausging,  was  man  von  einem  ge- 
bildeten Menschen  voraussetzt,  so  daß  man  den 
Eindruck  gewann,  er  könne  ebensogut  über  andere 
Gebiete  Vorlesungen  halten  wie  über  Floristik, 
Pflanzengeographie  oder  Biologie.')  —  Es  ist  kein 
Wunder,  daß  er  eine  Reihe  begeisterter  Schüler 
hatte,  die  ihm  über  das  Grab  hinaus  die  Treue 
halten  und  die  nicht  begreifen  können,  daß  man 
einem  solchen  Mann  gelegentlich  die  Lehrbe- 
fähigung absprechen  konnte.  Seine  Universitäts- 
vorlesungen sollen  allerdings  nicht  ganz  leicht 
verständlich  für  den  Anfänger  gewesen  sein,  wie 
denn  auch  der  Stil  seiner  wissenschaftlichen  Ar- 
beiten nichts  weniger  als  populär  war.  In  dem 
Bestreben  nach  Gründlichkeit  und  unter  dem 
Zwang,  in  möglichster  Kürze  seine  Anschauungen 
darzustellen,  verfiel  er  leicht  in  den  Fehler,  zuviel 
zu  sagen,  wo  er  sich  hätte  beschränken  müssen, 
um  ein  Meister  der  Darstellung  zu  werden,  wie 
er  es  auf  Exkursionen  und  in  kleineren  Zirkeln 
war.  Seine  Schüler  sind  besonders  begeistert  von 
den  Nachsitzungen  in  Vereinen  oder  nach  Ex- 
kursionen, wo  sie  oft  bis  zum  frühen  Morgen 
den  Worten  ihres  Meisters  lauschen  konnten,  ohne 
zu  ermüden.  In  diesen  nichtoffiziellen  Sitzungen, 
in  denen  der  Zwang  des  Uhrzeigers  fortfiel,  konnte 
sich  die  ganze  Persönlichkeit  August  Schulz' 
ausleben,  die  ihre  Wirkung  auf  seine  Zuhörer 
niemals  verfehlte.  Hier,  im  engeren  Kreise,  kam 
natürlich  auch  die  rein  menschliche  Seite  des 
Verstorbenen  zur  Geltung:  sein  Sarkasmus,  seine 
P"ähigkeit,  den  Vortrag  durch  Wiedergabe  kleiner 
Anekdoten  zu  beleben  und  seine  humorvolle  Art, 
die  Bitterkeit  des  alten  Privatdozenten,  der  jüngere 
Leute  und  sogar  eigene  Schüler  in  geachtete 
Stellungen  aufrücken  sieht,  zu  versüßen.  —  Man 
kann  es  verstehen,  daß  sich  in  diesem  Manne, 
dessen  wissenschaftliche  Leistungen  auf  dem  Ge- 
biete der  Blütenbiologie,  der  Pflanzengeographie, 
der  Florengeschichte,  der  Geschichte  der  Botanik 
und  vor  allem   der  Geschichte    der  Getreidearten 


')  Nähere  biographische  Daten  und  eine  V^^ürdigung  der 
wissenschaftlichen  Leistungen,  sowie  ein  Literaturverzeichnis 
finden  die  Leser  im  nächstens  erscheinenden  Generalver- 
sammlungsbeft  der  Berichte  der  Deutsch,  botan.  Gesellschaft 
aus  der  berufenen  Feder  von  Prof.  H.  Harms. 


29« 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  21 


unvergessen  bleiben,  allmählich  die  fixe  Idee  fest- 
setzen konnte,  daß  seine  wissenschaftlichen  Wider- 
sacher ein  Komplott  geschmiedet  hätten,  um  ihn 
nicht  aufkommen  zu  lassen.  —  Als  es  ihm 
pekuniär  noch  einigermaßen  gut  ging  und  die 
Resignation  noch  keinen  Besitz  von  seiner  Seele 
ergriffen  hatte,  wußte  er  sich  mit  einem  gewissen 
Gleichmut  in  seine  Lage  zu  schicken,  und  er 
konnte  darüber  lachen,  als  ihm  zu  Ohren  kam, 
daß  man  die  Studenten  vor  ihm,  als  Verderber 
der  Jugend,  gewarnt  hätte.  War  er  doch  in  guter 
Gesellschaft  und  fürchtete  nicht  den  Schierlings- 
becher, der  dem  Leben  des  griechischen  Jugend- 
verderbers  ein  Ende  bereitete. 

August  Schulz  hatte  ein  kleines  Vermögen, 
das  ihn  über  Wasser  hielt,  und  was  er  bei  seinen 
bescheidenen  Ansprüchen  sonst  noch  brauchte, 
verschaffte  er  sich  durch  literarische  Arbeiten 
aller  Art.  So  soll  er  für  die  „Fliegenden  Blätter" 
und  andere  Witzblätter  gearbeitet  haben,  auch 
für  konservative  Zeitungen  war  er  tätig;  eine 
Zeitlang  war  er  in  einem  Leipziger  belletristischen 
Verlag  als  Redakteur  beschäftigt,  und  mehrere 
Jahre  lang  schrieb  er  Musik-  und  Theaterkritiken 
für  das  jetzt  nicht  mehr  existierende  Hallesche 
Tageblatt.  Von  dieser  literarischen  Tätigkeit 
haben  sich  merkwürdigerweise  keine  Belege  in 
seinem  Nachlaß  gefunden ;  er  muß  alles  vernichtet 
haben,  vielleicht,  weil  ihm  die  Sachen  nicht  mehr 
gefielen.  Es  war  eine  wunderliche  Eigentümlich- 
keit von  ihm,  daß  er,  der  sonst  jeden  Brief,  jede 
Notiz,  jede  Kritik  über  seine  wissenschaftlichen 
Schriften  aufhob,  alles  verleugnete,  was  ihm  nicht 
mehr  paßte,  selbst  manche  seiner  ersten  botani- 
schen Arbeiten.  Damals,  als  er  sich  noch  als 
freier  iVIann  fühlte,  sprach  er  gerne  von  dieser 
nicht  botanischen  Tätigkeit.  „Wissen  Sie,  ich 
bin  Journalist  und  pfeife  auf  die  Geheimräte." 
Wenn  die  „Geheimräte"  ihm  das  wirklich  übel 
genommen  haben  sollten,  so  waren  sie  schlechte 
Psychologen  und  verstanden  es  nicht,  in  der  Seele 
August  Schulz  zu  lesen,  dessen  ganze  Geistes- 
richtung vollkommen  die  eines  reinen  Gelehrten 
war  und  dessen  journalistische  Begabung,  wenn 
wir  diese  nach  dem  Stil  seiner  wissenschaftlichen 
Publikationen  beurteilen  dürfen,  sicher  nicht  seinen 
Kenntnissen  auf  allen  möglichen  Gebieten  adäquat 
war.  Wer  August  Schulz  länger  kannte,  wer 
wußte,  daß  das  Forschen  und  Lehren  ihm  innerster 
Lebensberuf  war,  der  begreift,  daß  sein  ganzes 
Streben  sich  auf  eine  akademische  Stellung  kon- 
zentrierte, und  daß  er  diese  nicht  erreichen  konnte, 
ist  für  ihn  viel  tragischer  als  für  jemanden,  der 
ein  wenig  anpassungsfähiger  an  das  Leben,  etwas 
praktischer  und  weniger  idealistisch  veranlagt  ist.  — 

Als  August  Schulz  älter  wurde  und  zu- 
weilen die  Hoffnung  auf  eine  etatsmäßige  Pro- 
fessur auch  innerlich  aufgab,  verschwand  zuzeiten 
sein  befreiender  Humor  und  mit  ihm  die  Spann- 
kraft; er  wurde  etwas  „mürbe"  und  verbittert,  und 
seine  politischen  Anschauungen  schlugen  um.  Er 
„pfiff"    nun    nicht    mehr    auf   seine    „Geheimräte", 


sondern  wünschte  sie  samt  und  sonders  an  den 
Galgen,  wenn  er  gut  aufgelegt  war.  Er  bekannte 
sich  zum  radikalsten  Kommunismus  und  wäre 
wahrscheinlich  wegen  seiner  Ungeschicklichkeit 
als  erster  von  den  vermeintlichen  Genossen  er- 
schossen worden,  wenn  er  in  den  Strudel  hinein- 
gerissen worden  wäre.  Wie  in  allen  praktischen 
Dingen  versagte  er  auch  in  der  Politik;  er  war 
ein  großes  gutes  Kind,  das  mit  der  Welt  nicht 
fertig  zu  werden  wußte.  Als  er  die  Stellung  eines 
Bibliothekars  an  der  Carolinisch-Leopoldinischen 
Akademie  der  Naturforscher  angenommen  hatte 
und  Hilfsbibliothekar  an  der  Universitätsbibliothek 
wurde,  vergaß  er  bald,  daß  er  diese  Stellungen 
ursprünglich  des  Gelderwerbs  wegen  angetreten 
hatte;  er  vertiefte  sich  so  in  das  Bibliothekswesen, 
daß  er  sich  einbilden  konnte,  der  geborene  Biblio- 
thekar zu  sein,  wie  er  früher  glaubte,  Journalist 
zu  sein.  Seine  große  Gewissenhaftigkeit  und  die 
Neigung,  alles  was  er  tat,  mit  wissenschaftlichem 
Ernst  zu  betreiben,  befähigte  ihn  natürlich,  seinen 
Posten  auszufüllen  und  er  wußte,  für  sich  wenigstens, 
seine  Tätigkeit  auf  ein  Niveau  zu  bringen,  das 
ihn  innerlich  einigermaßen  befriedigte.  Ich  weiß 
nicht,  ob  seine  Art  die  volle  Anerkennung  seiner 
Behörden  gefunden  hat,  die  er  erwartete;  jeden- 
falls war  er  völlig  niedergeschlagen,  als  die  Leo- 
poldina ihm  seine  Stellung,  die  jetzt,  1922,  immer 
noch  1800  M.  jährlich  eintrug,  aus  Geldmangel 
kündigte.  Er  war  so  verwachsen  mit  der  Bibliothek 
und  der  Akademie,  daß  er  sich  selbst  für  einen 
integrierenden  Bestandteil  dieses  Institutes  hielt, 
daß  sich  als  „Kaiserliches"  Requisit  aus  dem 
heiligen  römischen  Reiche  Deutscher  Nation  durch 
alle  Fährlichkeiten  der  Weltgeschichte  bis  über 
die  Revolution  hinaus  erhalten  hatte.  Der  „Kom- 
munist" war  stolz  auf  diese  „Kaiserliche"  Aka- 
demie; sein  Sinn  für  alles  Historische  und  Tra- 
ditionelle hätte  sich  aufgebäumt,  wenn  Adolf 
Hoffmann  seiner  Zeit  daran  gedacht  hätte,  mit 
dem  „alten  Plunder"  aufzuräumen.  Ihn  schmerzte, 
obwohl  er  hungern  mußte,  viel  weniger  der  Ver- 
lust der  1800  M.,  als  daß  man  seine  Stellung  für 
mehr  oder  weniger  überflüssig  zu  halten  schien. 
Allerdings  tat  ihm  auch  der  Verlust  der  kleinen 
Summe  weh,  denn  wenn  man  zum  Leben  in 
heutiger  Zeit  knapp  10 000  IVI.  zur  Verfügung  hat, 
dann  bedeuten  1800  IM.  immerhin  zwei  Monate 
Lebensunterhalt.  Ich  war  zu  dieser  Zeit  gerade 
in  Halle,  wenige  Wochen  vor  seinem  Tode  und 
er  führte  mich  an  seinen  Mittagstisch  in  einem 
Wohltätigkeitsinstitut  der  inneren  Mission,  wenn 
ich  nicht  irre.  Man  konnte  dort  für  wenige  Mark 
ein  frugales  Essen  haben;  alte  Pensionäre,  arme 
Studenten,  kleine  Rentner  und  was  sonst  mit  der 
Not  des  Lebens  zu  kämpfen  hatte,  waren  unsere 
Tischgenossen.  Es  war  recht  deprimierend  für 
mich,  an  diesem  Ort  der  Darbenden  mit  einem 
Mann  zu  sitzen,  über  den  der  greise  Seh  wein - 
furth  in  einem  Briefe  an  die  Braut  des  Ver- 
storbenen schrieb:  „Unersetzlich  scheint  mir  z.  Z. 
sein  Verlust  in  der  Erforschung  der  Getreidearten. 


N.  F.  XXI.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Er  war  nach  Fr.  Ko  ernick  es  Tode  der  einzige 
Botaniker,  der  diese  schwierigen  Fragen  voll- 
kommen beherrschte."  August  Schulz  fand 
das  Essen  ausgezeichnet ;  er  lebte  noch  so  in  der 
Kriegszeit,  daß  es  ihm  nur  auf  den  Kalorienwert 
ankam.  Geradezu  rührend  war  es,  als  er,  wie 
wir  bei  einem  gemeinsamen  Freunde  zu  Gast 
waren,  alles  ablehnte,  was  über  das  Notwendigste 
hinausging,  mit  der  Begründung,  daß  er  sonst 
am  nächsten  Tage  das  Gute  entbehren  müsse, 
was  ihm  Qualen  bereiten  könne. 

In  den  letzten  paar  Monaten  seines  Lebens 
hielt  ihn  die  Hoffnung  auf  endliche  Bezahlung 
seiner  Lehraufträge  in  Spannung,  weil  er  seine 
Braut  heiraten  wollte.  Seit  dem  Tode  seiner 
Mutter,  für  die  er  mitsorgen  mußte,  fühlte  er  sich 
sehr  vereinsamt,  aber  ein  gütiges  Geschick  ließ 
ihn  vor  nicht  allzulanger  Zeit  in  der  Schwester 
eines  Jugendfreundes  eine  Frau  finden,  mit  der 
er  den  Rest  seiner  Tage  zu  verleben  hoffte.  Acht 
Tage  vor  seinem  Tode  ging  sein  Wunsch  in  Er- 
füllung; ganze  14000  M.  wurden  ihm  zugebilligt, 
so  daß  ihm,  dem  bald  60jährigen  etwa  24000  M. 
zur  Begründung  eines  eigenen  Haushaltes  zur 
Verfügung  gestanden  hätten. 

Wie  war  es  möglich,  daß  ein  Gelehrter  von 
der  Bedeutung  AugustSchulz  so  enden  konnte ? 
Wie  war  es  möglich,  daß  ein  Mann  von  so  sel- 
tenem Idealismus  immer  noch,  trotz  allen  Ent- 
täuschungen im  Leben,  immer  noch  zu  hoffen 
wagte,  daß  ihm  das  große  Los  in  den  Schoß 
fallen  könne?  Immer  wieder  wurde  die  Resig- 
nation durch  sein  sanguinisches  Temperament 
verdrängt,  das  ihm  in  den  letzten  Jahren  seines 
Lebens  noch  die  Kraft  gab,  sich  in  ein  ganz  neues 
Gebiet,  die  Ägyptologie,  einzuarbeiten,  deren 
Kenntnis  ihm  für  seine  Getreideforschungen  uner- 
läßlich zu  sein  schien.  Wo  finden  wir  den 
Schlüssel  zu  diesem  eigenartigen  Charakter? 
Sicher  nicht  allein  in  den  äußeren  Umstanden 
seines  vielgestaltigen  Lebens,  das  ebenso  inter- 
essant wie  ungewöhnlich  verlief.  Als  Sohn  eines 
Beamten  wurde  er  in  seinen  Knabenjahren  von 
einem  Ort  zum  andern  geschoben.  In  Stettin 
geboren,  als  Protestant  erzogen,  fand  er  in  Mün- 
ster i.  W.  seine  zweite  Heimat,  wo  er  in  katho- 
lische Kreise  geriet,  die  einen  dauernden  Einfluß 
auf  den  Jüngling  gewannen,  wie  auf  so  viele, 
denen  der  Rationalismus  nicht  liegt.  Seine  außer- 
ordentlich strenge,  auf  Herkommen  und  Sitte  ge- 
richtete Lebensanschauung,  seine  Neigung  zur 
Romantik  und  Mystik,  seine  Liebe  zur  Musik, 
seine  Bewunderung  der  katholischen  Charitas,  der 
Verkehr  mit  geistreichen  Jesuiten  —  das  alles 
ließ  ihn  die  katholische  Kirche  lieb  gewinnen. 
Sein  langer  Aufenthalt  in  Halle,  dieser  protestan- 
tischsten aller  Städte,  vermochte  nicht,  seine 
Jugendeindrücke  zu  verwischen.  Er  hat  sich  nie 
wohl  gefühlt  in  Halle;  Westfalen  blieb  seine 
eigentliche  Heimat  und  die  Weser  war  ihm  der 
Ganges  des  Abendlandes.  Nie  habe  ich  August 
Schulz    so    wohlauf  gesehen,    wie    vor    einigen 


Jahren,  als  wir  von  Höxter  nach  Corvey  gingen 
und  in  dem  alten  Kloster  die  schöne  Bibliothek, 
die  einst  Hoffmann  von  Fallersleben  ver- 
waltete, besichtigten.  Dort  vergaß  er  alle  seine 
Leiden,  seine  Schwerhörigkeit,  seine  halbe  Lunge 
und  seine  sonstigen  leiblichen  und  seelischen  Ge- 
brechen. —  Trotzdem  schien  er  sich  als  Wohnort 
keine  andere  Stadt  als  Halle  denken  zu  können, 
wo  er  seit  seiner  letzten  Gymnasialzeit  in  schon 
vorgerückten  Jahren  bis  zu  seinem  Tode  ohne 
große  Unterbrechungen  lebte.  Hier  studierte  er 
anfänglich  Philologie,  gab  das  Studium  aber  auf, 
weil  er  das  für  den  Lehrberuf  notwendige  Ge- 
sundheitsattest nicht  erhalten  konnte.  Er  wandte 
sich  dann  der  Medizin  zu,  und  da  er  wegen  seines 
sich  verschlimmernden  Gehörleidens  als  prakti- 
scher Arzt  nicht  tätig  sein  konnte,  so  wurde  er 
Spezialarzt  für  Augenkrankheiten.  Auch  diesen 
Beruf  mußte  er  aufgeben,  da  er  wegen  einer 
Schwäche  in  der  Hand  keine  operativen  Eingriffe 
machen  konnte.  Er  war  dann  einige  Zeit  als 
Polizeiarzt  tätig,  konnte  aber  auch  diese  Praxis 
nicht  lange  Zeit  ausüben,  da  er  sehr  empfänglich 
für  allerlei  Hautkrankheiten  war.  Äußerst  charak- 
teristisch für  August  Schulz  war  die  Eingabe 
der  Prostituierten  an  den  Magistrat,  man  möchte 
ihnen  doch  diesen  Arzt  lassen,  der  als  erster  sie 
wie  Menschen  behandelt  hätte.  Sie  hatten  ge- 
glaubt, daß  man  August  Schulz  gekündigt 
hatte  und  wußten  nicht,  daß  er  aus  eigenem  An- 
trieb die  Stellung  niedergelegt  hatte.  —  Also  mit 
der  Medizin  war  es  auch  nichts;  er  wollte  sich 
nun  der  Jurisprudenz  zuwenden,  mußte  aber 
wegen  erneuter  Erkrankung  davon  absehen.  Er 
verbrachte  dann  einige  Jahre  in  Bädern  und  Kur- 
anstalten, besonders  im  Riesengebirge  und  fing 
wieder  an,  sich  mit  Botanik  zu  beschäftigen.  Er 
hatte  schon  früher  eine  Reihe  von  botanischen 
Abhandlungen  veröffentlicht  und  er  beschloß,  seine 
naturwissenschaftlichen  Studien  wieder  mit  Ernst 
aufzunehmen.  1893  verfaßte  er  eine  botanische 
Doktorarbeit  und  im  Jahre  darauf  habilitierte  er 
sich  als  Privatdozent.  Abgesehen  von  seiner 
literarisch  -  wissenschaftlichen  Arbeit  entfaltete  er 
nun  in  den  verschiedensten  naturwissenschaftlichen 
Vereinen  eine  reiche  Tätigkeit  und  er  fand  hier 
wegen  seiner  ausgezeichneten  Exkursionsleitung, 
seiner  großen  Lehrbefähigung  und  seines  stets 
liebenswürdig  gefälligen  Wesens  gegen  jedermann 
die  gleiche  Anerkennung  wie  bei  seinen  Studenten. 
Jeder,  der  irgendwie  mit  August  Schulz  zu 
tun  hatte,  ist  voll  des  Lobes  über  seine  Hilfs- 
bereitschaft, seine  Güte  und  Opferwilligkeit. 

Wer  sich  als  Privatdozent  habilitiert,  will  natür- 
lich ordentlicher  Professor  werden;  er  weiß  aber, 
daß  er  durch  die  Habilitation  keine  Anwartschaft 
auf  eine  Professur  hat;  er  weiß,  daß  sehr  tüchtige 
Gelehrte  ihre  Dozentur  ohne  Erfolg  ausübten  und 
er  weiß  vor  allem,  daß  hervorragende  Menschen 
nicht  über  den  Extraordinarius  hinausgekommen 
sind.  Das  alles  wußte  August  Schulz  natür- 
lich auch;   davon  zeugt  der   erwähnte  Ausspruch 


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über  seinen  Journalismus,  wodurch  er  zum  Aus- 
druck bringen  wollte,  daß  ihn  äußere  Mißerfolge 
nicht  von  seiner  Forschungs-  und  Lehrtätigkeit 
abbringen  könnten.  Da  er  in  der  Lage  war,  wenn 
auch  mit  bescheidenen  Mitteln,  sein  Leben  in 
äußerer  Unabhängigkeit  zu  fristen,  so  blieb  er 
Privatdozent.  Nach  seinen  früheren  Mißerfolgen 
auf  anderen  Gebieten  und  bei  seinen  vielen  kör- 
perlichen Leiden  wäre  es  ihm  auch  unmöglich 
gewesen,  von  neuem  umzusatteln. 

Wenn  wir  August  Schulz  in  seinem  Wesen 
ganz  verstehen  wollen,  so  müssen  wir  Umschau 
halten  nach  ähnlichen  Charakteren  und  mir 
scheint,  daß  Cervantes  derjenige  Schriftsteller 
ist,  der  ihn  uns  am  besten  verstehen  lehrt.  Tur- 
geniew  hat  einmal  einen  Vortrag  über  Hamlet 
und  Don  Quixote  gehalten  und  er  nennt  die 
Geistesrichtungen  dieser  Männer  die  „zwei«grund- 
legenden  Richtungen  des  menschlichen  Geistes". 
Natürlich  gibt  es  „nach  der  weisen  Anordnung 
der  Natur  keine  vollständigen  Hamlete,  wie  auch 
keine  vollständigen  Don  Quixote",  sondern  „das 
sind  die  letzten  Ausdrucksformen  zweier  Rich- 
tungen". August  Schulz  war  eine  Don 
Quixote  -  Natur  und  das  war  sein  Verhängnis.  — 
Ludwig  Braun fels,  der  Übersetzer  des  Don 
Quixote,  sagt  von  Cervantes,  er  stelle  seinen 
Landjunker  „in  einen  beständigen  und  unversöhn- 
lichen Gegensatz  zu  den  Anschauungen  und  der 
Handlungsweise  des  wirklichen  Lebens  und  bringt 
ihn  dadurch  in  Lagen  und  Verhältnisse,  die  keine 
Lösung  gestatten,  wenn  der  Junker  sich  nicht 
dazu  aufraffen  kann,  den  Knoten  zu  durchhauen, 
die  Berechtigung  seines  phantastischen  Strebens 
aufzugeben,  also  die  Unwahrheit  und  Torheit 
seines  Rittertums  anzuerkennen;  ein  Endergebnis, 
das  nur  mit  dem  Tode  Don  Quixotes  eintreten 
kann".  Don  Quixote  „ist  ein  vortreffliches  reines 
Gemüt,  er  hat  ein  feines  Gefühl,  ist  voll  Anstand 
und  Höflichkeit ;  kurz,  er  ist  das  Bild  des  wahren 
Weisen,  —  solange  man  nicht  an  den  wunden 
Punkt  rührt,  an  das  Ritterwesen  und  dessen 
Wiederherstellung".  ,,Sein  ritterlich  begeisterter 
Trieb  bringt  ihn  stündlich  in  einen  immer  un- 
möglicheren Gegenkampf  mit  dem  Leben,  aber 
keine  fühlbar  schmerzliche  Erfahrung  kann  ihm 
ein  Anlaß  werden,  den  Glauben,  durch  den  und 
mit  dem  er  lebt,  aufzugeben  oder  nur  eines  Irr- 
tums zu  zeihen.  Der  Idealist  gibt  in  jedem 
Konflikt  sich  selbst  immer  recht."  Turgeniew 
in  seinem  oben  zitierten  Vortrag  weist  dann  noch 
auf  eine  andere  Seite  im  Charakter  Don  Quixotes 
hin:  „Andererseits  müssen  wir  auch  an  dem  ehr- 
lichen, wahrhaftigen  Don  Quixote  die  Neigung 
zur  Selbstverhcrrlichung  und  zum  halb  unbe- 
wußten, halb  unschuldigen  Betrug  feststellen,  eine 
Neigung,  die  fast  immer  mit  der  Phantasie  eines 
Enthusiasten  zusammenhängt." 

Wenn  man  diese  Charakterschilderungen  liest, 
so  ist  man  erstaunt,  wie  fast  jeder  Satz  auf  unsern 
August  Schulz  paßt.  Er  stand  in  der  Tat 
in    unversöhnlichem    Gegensatz    zu    den  Anschau- 


ungen und  der  Handlungsweise  des  wirklichen 
Lebens.  Er  war  ernstlich  überzeugt,  daß  ein 
makelloser  Lebenswandel  und  wissenschaftliche 
Leistungen  genügen,  um  zu  einer  Professur  zu 
gelangen.  Es  zeugt  von  einer  geradezu  phantasti- 
schen Lebensauffassung,  die  Realitäten  des  Lebens 
so  ganz  außer  acht  zu  lassen.  August  Schulz 
mußte  doch  die  Methode  kennen,  nach  der  die 
Berufungen  erfolgen  und  er  mußte  wissen,  daß 
neben  wissenschaftlicher  Leistung  eine  ganze 
Reihe  von  Faktoren  ausschlaggebend  sind,  die 
mit  der  Gelehrsamkeit  nichts  zu  tun  haben.  Wie 
wir  gehört  haben,  soll  seine  Lehrbefähigung  ge- 
legentlich angezweifelt  worden  sein,  auch  sein 
Gesundheitszustand  mag  hin  und  wieder  aus- 
schlaggebend gewesen  sein,  aber  der  eigentliche 
Grund,  weshalb  er  nicht  berufen  wurde,  liegt  doch 
wohl  anderswo,  —  in  der  Unfähigkeit,  die  „Tor- 
heit seines  Rittertums"  aufzugeben  und  das  Un- 
vermögen ,  durch  „keine  fühlbar  schmerzliche 
Erfahrung"  „den  Glauben,  durch  den  und  mit  dem 
er  lebte,  aufzugeben".  Der  phantastische  Glaube 
an  die  „selbstverständliche"  äußere  Anerkennung 
seiner  Leistungen  in  Form  einer  Berufung  war  so 
stark  in  ihm,  daß  er  es  absolut  nicht  verstehen 
konnte,  wie  selbst  seine  in  der  Form  allzuschroffen 
Angriffe  auf  seine  Kritiker  ihm  schaden  könnten. 
Zur  Ehre  unserer  Wissenschaft  muß  jeder  objektiv 
urteilende  Mensch  anerkennen,  daß  die  Leistungen 
eines  Forschers,  mag  er  sein  wer  er  will,  im 
großen  und  ganzen  die  gebührende  Würdigung 
finden.  Man  kann  auch  nicht  behaupten,  daß  die 
erfolgten  Berufungen  im  allgemeinen  ungerecht 
seien.  Aber  man  darf  eben  nie  vergessen,  daß 
auch  die  größten  Gelehrten  Menschen  mit  mensch- 
lichen Schwächen  sind,  und  man  darf  es  ihnen 
nicht  verargen,  wenn  sie  bei  gleichen  Leistungen 
demjenigen  den  Vorzug  geben,  der  ihnen  als 
Mensch  am  geeignetsten  erscheint,  in  ihre  Ge- 
meinschaft aufgenommen  zu  werden.  Man  hat 
gesagt,  die  Schlußfolgerungen  in  den  Arbeiten 
August  Schulz  seien  oft  etwas  phantasievoll, 
aber  ohne  Phantasie  läßt  sich  in  den  mehr  „sub- 
jektiven" historischen  Wissenschaften  noch  weniger 
erreichen  als  in  den  sog.  exakten  Wissenschaften. 
Es  wird  aber  selbst  der  ärgste  Widersacher  einem 
Mann  mit  entgegengesetzter  Anschauung  aus 
diesem  Gegensatz  keinen  Strick  drehen,  wenn  er 
ein  befähigter  Kopf  ist.  Ich  glaube  daher  nicht, 
daß  die  Leistungen  August  Schulz'  es  sind, 
die  ihn  Schiffbruch  leiden  ließen,  sondern  ledig- 
lich die  Art,  wie  er  sich  zur  Welt  und  denjenigen 
stellte,  in  deren  Verband  er  aufgenommen  wer- 
den wollte.  Es  war  eben  seine  Don  Quixote- 
Natur,  die  ihn  hinderte,  einzusehen,  daß  er  hätte 
das  System  der  Berufungen  bekämpfen  müssen 
anstatt  die  „Geheimräte".  Es  gibt  ja  in  anderen 
Ländern  andere  Systeme,  die  vielleicht  gerechter 
sind  und  wo  lediglich  die  wissenschaftlichen 
Leistungen  —  wenigstens  theoretisch  —  maß- 
gebend sind,  wie  in  Schweden  z.  B.  —  Wenn 
man  mit  Schulz  darüber  sprach,  so  gab  er  das 


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auch  zu,  aber  er  blieb  trotzdem  bei  seinem  Wind- 
mühlenkampf,  „der  Idealist  gab  sich  selbst  immer 
recht".  Was  Turgeniew  über  die  Neigung 
Don  Quixotes  zur  Selbstverherrlichung  und 
zum  halb  unbewußten,  halb  unschuldigem 
Betrug  sagt,  den  man  fast  immer  in  Zusammen- 
hang mit  der  Phantasie  eines  Enthusiasten  bringen 
kann,  stimmt  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
fürAugustSchulz.  Die  „Selbstverherrlichung" 
hielt  sich  immer  in  Grenzen,  die  nie  unangenehm 
wirkten,  sie  ging  nie  weiter  als  es  die  Abwehr 
der  gegen  ihn  gerichteten  Angriffe  erforderte  und 
kam  stets  in  einer  taktvollen  und  oft  sympathischen 
Weise  zum  Ausdruck;  und  was  den  „Betrug" 
anbelangt,  so  tat  dieser  niemandem  weh,  da 
August  Schulz  sich  immer  nur  selbst  betrog. 
Wir  hörten,  daß  er  Publikationen,  die  ihm  nicht 
gefielen,  verleugnete ;  er  wollte  in  seiner  kommu- 
nistischen Periode  nichts  von  seiner  konservativen 
wissen;  er  sprach  von  seiner  erst  kürzlich  er- 
folgten Verlobung,  wie  wenn  er  schon  20  Jahre 
verlobt  sei;  er  übertrieb  oft  seine  körperlichen 
Leiden,  aber  alles  ohne  Absicht  und  Hinterge- 
danken. Wahrheit  und  Dichtung  gingen  zuweilen 
ineinander  über  und  gerade  das  machte  diesen 
eigenartigen  Menschen  so  anziehend,  wenn  man 
mit  ihm  sprach.  Er  konnte  nicht  aus  seiner  Haut 
und  er  vermochte  den  Knoten,  der  ihn  mit  der 
Welt  verband,  nicht  zu  durchhauen;  nur  der  Tod 
konnte  ihn  lösen. 

Als  der  Ritter  von  der  Mancha  auf  dem  Sterbe- 
bette   lag,    wollte    ihn    sein    alter    Waffenträger 


trösten  und  sagte,  daß  sie  bald  wieder  einen 
Ritterzug  unternehmen  würden.  Don  Quixote 
aber  antwortet  ihm,  daß  das  alles  für  immer  vor- 
bei sei.  „Ich  bin  nicht  mehr  Don  Quixote  von 
der  Mancha,  ich  bin  Alonzo  Quirano,  den  man 
einst  wegen  seines  schlechten  und  rechten  Wandeins 
den  Guten  zu  nennen  pflegte,  —  Alonzo  el  Bueno." 
So  starb  auch  August  Schulz.  Als  ich  ihn 
drei  Tage  vor  seinem  Tode  besuchte,  war  auch 
äußerlich  alles  von  ihm  gewichen,  was  an  den 
Ritter  von  der  Mancha  erinnerte;  er  lag  da  wie 
ein  Christus,  der  das  Leid  der  Welt  auf  sich  ge- 
nommen hatte,  ganz  Güte,  Liebe  und  Reinheit. 
Sein  Tod  „erfüllt  die  Seele  mit  einer  unaussprech- 
lichen Rührung.  In  diesem  Augenblick  wird  die 
große  Bedeutung  dieser  Gestalt  jedem  einzelnen 
nahegebracht",  wie  Turgeniew  vom  Tode  Don 
Quixotes  sagt. 

Ich  habe  versucht,  in  diesen  Zeilen  den  sonder- 
baren Mann,  der  so  viel  leiden  mußte,  dem  Ver- 
ständnis der  Nachwelt  nahe  zu  bringen.  Alles, 
was  Bewunderung,  Freundschaft  und  Gerechtig- 
keit vermochte,  habe  ich  ihm  zu  teil  werden 
lassen.  Und  wenn  auch  größere,  als  August 
Schulz  in  Armut  und  Elend  gestorben  sind  — 
auch  Cervantes  gehörte  zu  ihnen  — ,  so  bleibt 
doch  stets  ein  bitteres  Gefühl  gegen  die  Welt 
zurück,  die  es  zuließ,  daß  dieser  deutsche  Gelehrte 
besonders  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens 
unter  den  Nachwehen  des  Krieges  so  schwer  zu 
leiden  hatte. 


Das  Vogelleben  auf  dem  Koralleueilaud  Laysau  im  Stilleu  Ozeau. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Prof.  Dr.  V.  Büttel- 


Fast  inmitten  des  Stillen  Ozeans  etwas  nörd- 
lich vom  Wendekreis  des  Krebses  liegen,  noch 
innerhalb  der  Passatwinde,  einige  winzige  Inseln, 
die  sich  kaum  über  die  Fluten  erheben,  darunter 
die  Insel  Laysan.  Von  Honolulu  ist  sie  etwa 
800  Seemeilen  entfernt,  von  Amerika  und  Asien 
trennen  sie  Tausende  von  Meilen.  So  liegen  diese 
unbewohnten  Koralleninseln  mutterseelenallein  und 
nur  zwei-  bis  dreimal  im  Jahre  sendet  eine  Ge- 
sellschaft in  Honolulu  ein  Segelschiff  dorthin,  um 
den  auf  Laysan  vorkommenden  Guano  auszu- 
beuten. 

Vor  rund  25  Jahren  weilte  auf  diesem  Eiland 
ein  deutscher  Forscher  Prof.  Dr.  Schauinsland, 
Direktor  des  Naturhistorischen  Museums  in  Bre- 
men, um  naturwissenschaftlichen  Studien  aller  Art 
nachzugehen.  Wir  wollen  uns  hier,  nur  mit  seinen 
überaus  interessanten  Schilderungen  der  Vogel- 
welt auf  dieser  Insel  beschäftigen,  die  so  gut  wie 
gar  nicht  zur  Beachtung  gelangten ,  trotzdem 
sie  besonders  auch  nach  der  tierpsychologischen 
Seite  hin  von  Bedeutung  sind  und  auch  sonst  so 
überaus  reizvoll  erscheinen,  daß  ein  allgemeineres 
Interesse  damit  verbunden  ist. 


Reepen,  Oldenburg  i.  Old. 

Schauinsland  berichtete  über  seine  Reise 
in  einigen  Feuilletons  der  Weser- Zeitung  (1899) 
und  in  einer  Broschüre:  „Drei  Monate  auf  einer 
Koralleninsel",  die  im  gleichen  Jahre  in  einem 
wenig  bekannten  Verlage  erschien  und  die  seit 
langem  vergriffen  ist. 

Als  Schauinsland  in  Laysan  im  Juni  des 
Jahres  1896  landete,  war  er  zuerst  enttäuscht. 
„Wüßte  man  nicht,"  so  schreibt  er,  „daß  man 
sich  hier  mitten  im  Stillen  Ozean  befände  und 
fast  noch  in  den  Tropen,  so  hätte  man  gewähnt, 
eine  der  ostfriesischen  Inseln  vor  sich  zu  haben; 
ebenso  wie  diese  tauchte  sie  aus  dem  Meere 
empor,  ebenso  sandig  waren  ihre  Ufer,  ebenso 
fahl  ihr  Grün.  Laysan  ist  nur  klein,  drei  eng- 
lische Meilen  lang  und  zwei  breit;  in  zwei  Stunden 
kann  man  sie  bequem  umschreiten;  ihre  höchste 
Erhebung  beträgt  etwa  30  Fuß,  doch  bleibt  der 
größte  Teil  der  Insel  noch  bedeutend  unter  dieser 
Höhe." 

Wer  nie  auf  einer  Koralleninsel  geweilt  hat, 
denkt  sich  die  Bodengestaltung  nicht  so,  wie 
Schauinsland  sie  vorfand.  So  möge  erwähnt 
werden,   daß   der  Boden  im  Innern  der  Insel  fast 


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ausschließlich  aus  Sand  gebildet  wird.  Es  ist 
aber  nicht  jener  Quarzsand,  den  wir  bei  unseren 
Nordseeinseln  kennen,  sondern  er  wird  einzig  und 
allein  aus  Kalkpartikelchen  zusammengesetzt, 
welche  von  Korallen  und  Molluskenschalen  her- 
rühren, die  durch  Wogen  und  Stürme  zerrieben 
wurden.  Auch  Gesteine  finden  sich  von  mehr 
oder  minder  fester  Struktur;  es  sind  zusammen- 
gekittete Korallen  und  Muschelstücke,  sowie  Riffe, 
die  im  Innern  der  Insel,  besonders  aber  am  Strande 
zutage  treten  und  am  südöstlichen  Teil  der  Insel 
senkrecht  ins  Meer  abfallen.  Hier  zerschellen  an 
diesem  Riff  die  fast  immer  vom  kräftigen  Passat 
hochanschwellenden  Wogen.  Bei  Sturm  steht 
dort  eine  turmhohe  Brandung,  die  ein  erhabenes 
Schauspiel  gewährt.  Der  Guano,  der  am  Aufbau 
der  Insel  beteiligt  ist,  stellt  durchaus  keine  schlecht 
riechende  Masse  vor;  er  ist  auf  Laysan  ein 
sauberes,  völlig  geruchloses  Mineral.  Man  findet 
den  Guano  teils  ziemlich  dicht  unter  der  Ober- 
fläche in  mehr  sandiger  Form,  teils  in  der  Tiefe 
von  mehreren  Metern  als  festes  Gestein,  welches 
mit  Hacke  und  Schaufel  gebrochen  werden  muß. 
Die  Entstehung  dieses  Stoffes  findet  hier  offenbar 
in  anderer  Weise  statt,  als  auf  den  berühmten 
völlig  regenlosen  Guanoinseln  an  der  Küste  Perus 
und  Chiles.  Auf  Laysan  regnet  es  nicht  selten 
und  bisweilen  mit  großer  Heftigkeit.  Schau- 
insland  erklärt  sich  daher  den  Vorgang  der 
Guanobildung  auf  folgende  Weise.  Während 
außerordentlich  langer  Zeiträume  wurde  die  Insel 
von  ungezählten  Scharen  brütender  Seevögel  be- 
sucht. Ihre  auf  den  durchlässigen  Sand  der  Insel 
abgelegten  Dungmassen  wurden  durch  den  Regen 
ausgelaugt,  das  damit  getränkte  Wasser  sickerte 
in  die  Tiefe  und  imprägnierte  die  dort  befind- 
lichen Kalksande  und  Gesteine.  Es  entstanden 
chemische  Verbindungen  zum  größten  Teil  phos- 
phorsaure Kalke.  Nicht  selten  fand  Sc  hau  ins - 
«t  land  von  letzteren  ganze  Drusen  schöner  reiner 
Kristalle.  Verhältnismäßig  häufig  kommen  in 
diesen  Lagerstätten  Knochen  und  versteinerte 
wohlerhaltene  Vogeleier  vor,  aus  denen  es  her- 
vorgeht, daß  schon  damals  die  die  Insel  be- 
völkernden Vogelscharen  dieselben  waren,  wie 
sie  noch  heute  dort  angetroffen  werden,  namentlich 
waren  es  Albatrosse  und  einige  größere  Sturm- 
taucher (Puffinus).  Auch  fand  Schauinsland 
in  diesen  Ablagerungen  zahlreiche  hartsamige 
Früchte,  Nüsse,  Harzmassen  und  vor  allem  rund- 
liche Bimsteinstücke,  die  sicherlich  alle  einmal 
den  Magen  der  gefräßigen  Vögel  passiert  haben, 
welche  alle  jenen  auf  dem  Meere  treibenden  Stoff 
wahllos  verschluckten,  als  sie  hungernd  die  Wasser- 
oberfläche nach  Nahrung  durchspähten.  Schau- 
insland  beobachtete  mit  Bestimmtheit,  daß  das 
auch  heute  noch  vorkommt  und  häufig  hat  er 
sich  darüber  gewundert,  welche  kolossalen  Bim- 
steinbrocken  so  ein  Albatrosmagen  in  sich  be- 
herbergen konnte. 

Da   das  Vogcllcben    auf  Laysan  nicht  nur  Be- 
ziehungen hat  zu   den  eben  besprochenen  Boden- 


verhältnissen sondern  auch  zur  Vegetation,  so 
folgen  wir  auch  hier  den  Angaben  des  Forschers 
nach  dieser  Richtung  hin. 

Zu  den  charakteristischen  Pflanzen  der  Insel 
gehört  zunächst  ein  Gras  mit  langen  schilfigen 
Blättern  (Eragrostis  Hawaiiensis  Hdb.),  das  an 
niedrigen  und  somit  fruchtbaren  Stellen  der  Insel 
mannshoch  werden  kann,  an  trockneren  dagegen 
nur  die  Höhe  von  einem  Meter  erreicht.  Es 
wächst  nicht  in  zusammenhängenden  Rasen, 
sondern  in  einzelnen  Büscheln,  deren  Wurzelstock 
*/^  — '/,,  Meter  Durchmesser  hat.  Indem  zwischen 
den  einzelnen  Büschen  ein  mehr  oder  weniger 
großer,  freier  Zwischenraum  bleibt,  bekommt 
hierdurch  die  Vegetation  der  Insel,  die  über- 
wiegend durch  dieses  Gras  gebildet  wird,  ein 
äußerst  charakteristisches  Ansehen.  Neben  jenem 
Gras  ist  eine  Melde  (Chenopodium  Sandwicheum 
Mog.),  die  in  Blättern  und  Blüten  große  Ähnüch- 
keit  mit  unserer  Gartenmelde  besitzt,  die  häufigste 
Pflanze  der  Insel.  Sie  bildet  einen  sich  stark  ver- 
ästelnden Strauch  von  % — 2  Meter  Höhe,  dessen 
Stamm  in  alten  Exemplaren  fast  die  Dicke  eines 
Armes  erreichen  kann.  Dadurch,  daß  sich  die 
einzelnen  Büsche  bereits  von  der  Wurzel  aus 
verästeln  und  außerdem  auch  durch  das  Inein- 
andergreifen des  Astwerkes  der  ziemlich  dicht 
nebeneinander  stehenden  Pflanzen  wird  ein  Ge- 
strüpp erzeugt,  welches  kaum  zu  durchbrechen 
ist.  Dieses  bietet  nicht  nur  das  beliebteste  Ver- 
steck für  die  kleinen  Landvögel  der  Insel,  sondern 
es  wird  auch  von  einigen  dort  brütenden  großen 
Seevögeln,  den  Tölpeln  und  den  Fregattvögeln 
ausschließlich  zur  Anlage  ihrer  Nester  benutzt, 
indem  sie  auf  den  Gipfeln  der  Büsche  Äste  zu- 
sammenbiegen und  diese  mit  abgebrochenen 
Zweigen  verflechten. 

Hier  stoßen  wir  schon  auf  etwas  sehr  Selt- 
sames: Landvögel!  auf  dieser  winzigen  ozeanischen 
Insel,  die  in  ungeheurer  Abgeschiedenheit  aus  den 
Fluten  des  Pazifik  auftaucht  und  Möven,  die  in- 
folge des  Platzmangels  auf  Büschen  nisten.  Doch 
ich  komme  hierauf  noch  zurück. 

Leider  muß  ich  es  mir  versagen,  manches  aus 
dem  fesselnden  Bericht  Schauinslands  über 
die  eigenartige  Flora  anzuführen,  da  es  nicht  in 
direkter  Beziehung  zu  dem  Vogelleben  steht,  auf 
das  ich  mich,  um  nicht  zu  ausführlich  zu  werden, 
beschränken  muß.  Es  sei  nur  erwähnt,  daß  fast 
alle  Blüten,  selbst  die  ganz  unscheinbaren,  auf 
Laysan  einen  höchst  angenehmen  Duft  ausströmen, 
obgleich  die  Insel  eine  große  Armut  an  Insekten 
aufweist  und  man  doch  anzunehmen  pflegt,  daß 
Farbe  und  Duft  der  Blüte  nur  Lockmittel  für  die 
Insekten  sind,  deren  die  Pflanzen  zu  ihrer  Be- 
fruchtung bedürfen.  Alle  einzelstehenden  Pflanzen 
zeigten,  wenn  sie  niedrig  sind,  einen  rosetten- 
artigen Wuchs,  wogegen  die  höheren  mit  ihren 
Zweigen  eine  gewölbte,  domartige  Kuppel  bilden. 

Noch  vor  gar  nicht  langer  Zeit  müssen  Palmen 
in  sehr  großer  Zahl  auf  der  Insel  vorhanden  ge- 
wesen sein.    Schauinsland  fand  nur  noch  ihre 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Stümpfe.  Vielleicht  sind  sie  von  armen  Schiff- 
brüchigen abgeschlagen  worden.  So  gab  es 
keinen  schattigen  Platz  auf  der  ganzen  Insel. 

Den  weitaus  interessantesten  Teil  der  Land- 
fauna der  Insel  bildeten  die  Vögel.  Ist  es  nicht 
in  der  Tat  wunderbar,  daß  hier  auf  diesem 
winzigen  Eiland  mitten  im  unendlichen  Ozean 
fünf  verschiedene  Landvögel  gefunden  wurden, 
die  sonst  nirgends  auf  der  ganzen  Erde  mehr  vor- 
kommen ?  Es  sind  eine  Ente,  eine  Ralle  und  drei 
kleine  Singvögel.  Sie  sind  nach  Schauinslands 
Ansicht,  der  Überrest  der  Fauna  eines  jetzt  bis 
auf  diese  kleinen  Inselchen  versunkenen  Landes. 
Die  durchaus  einleuchtenden  Begründungen  des 
Forschers  können  hier  nicht  weiter  behandelt 
werden.  Ich  erwähne  nur  kurz,  daß  Schau  ins- 
land  Basaltblöcke  auf  Laysan  fand,  die  nicht 
durch  Boote  herbeigebracht  sein  konnten,  sondern 
dem  vulkanischen  Kern  der  Insel  entstammen 
müssen. 

Auch  schon  aus  dem  Benehmen  der  Landvögel 
auf  der  Insel  könnte  man,  so  meint  Schau  in  s - 
land,  den  Schluß  ziehen,  daß  sie  nur  die  letzten 
Überreste  eines  ehemals  zahlreichen  Vogelvolkes 
sind. 

Bevor  ich  nun  dem  Forscher  selbst  das  Wort 
gebe,  erwähne  ich,  daß  seine  Frau  als  Assistentin 
die  Einsamkeit  des  Eilandes  mit  ihm  teilte  und 
sich  als  ausgezeichnete  Hilfskraft  bewährte.  Eine 
Bretterbude,  neben  dem  für  den  zeitweilig  dort 
weilenden  Aufseher  der  Insel  errichteten  Gebäude, 
diente  ihnen  als  Aufenthaltsort  und  ein  Teil  des 
Aufseherhäuschens  als  Laboratorium. 

„Die  Landvögel  tragen,  ich  möchte  fast  sagen, 
ein  gedrücktes  Wesen  zur  Schau,  sie  sind  nicht 
mehr  die  Herrscher  in  dem  Gebiet,  das  sie  be- 
wohnen; nie  sieht  man  sie  lustig  jubelnd  in  die 
Lüfte  steigen;  nur  niedrig  über  dem  Erdboden 
dahinfliegend  schlüpfen  sie  von  Busch  zu  Busch; 
hart  haben  sie  um  ihre  Existenz  ringen  müssen, 
denn  sie  wurden  gezwungen,  sich  an  einen  Aufent- 
haltsort und  an  Lebensgewohnheiten  anzupassen, 
die  ihnen  ursprünglich  ganz  fremd  waren.  Nur 
sie,  die  imstande  waren,  alle  Wandlungen  ihres 
ursprünglichen  Wohnsitzes  mitzumachen,  blieben 
erhalten,  die  anderen  gingen  unter.  Diese  An- 
passungen sind  teilweise  sehr  interessant.  Die 
Herrschenden  auf  der  Insel  sind  die  Seevögel, 
ihnen  mußten  sie  sich  unterordnen,  durch  sie 
fristen  sie  zum  Teil  aber  auch  wieder  ihr  Dasein. 
Der  eine  finkenartige  Vogel  (Telespiza  cantans 
Wils.),  früher  offenbar  ein  Körnerfresser,  ist  fast 
ganz  zur  Fleischnahrung  übergegangen.  U.  a.  hat 
er  gefunden,  daß  die  Eier  der  hier  fast  zu  allen 
Jahreszeiten  brütenden  Seevögel  ebenso  nahrhaft 
wie  wohlschmeckend  sind;  mit  wenigen  Hieben 
seines  starken,  scharfen  Schnabels  öffnet  er  die- 
selben und  schlürft  behaglich  ihren  Inhalt;  so 
dreist  verfährt  er  dabei,  daß  seinetwegen  die 
brütenden  Eltern  nur  höchst  ungern  ihre  Eier 
selbst  auch  nur  für  Augenblicke  verlassen.  Wech- 
seln sie  bei  ihrem  Brutgeschäft  ab,  —  wenn  z.  B. 


das  Männchen  gesättigt  vom  Meere  zurückkommt 
und  sein  Weibchen  ablöst,  damit  auch  dieses  sich 
Nahrung  holen  kann,  —  so  stellt  sich  der  freie 
Vogel  dicht  an  die  Seite  des  brütenden  hin  und 
schiebt  ihn  derartig  vom  Nest  herunter,  daß  das 
Ei  kaum  eine  Sekunde  freiliegt.  Und  doch  ist 
der  kleine  Räuber  oft  imstande,  seinen  Diebstahl 
auszuführen.  So  hat  sich  auch  die  kleine,  nur 
wenige  Zoll  hohe,  possierliche  Ralle  (Porzanula 
Palmeri,  Froh.)  an  ein  ganz  neues  Leben  gewöhnt ; 
ihre  Flugfahigkeit  büßte  sie  völlig  ein  und  sie 
braucht  ihre  kurzen  Flügelstummel  selbst  kaum 
noch  zur  Unterstützung  ihres  Laufes,  wenn  sie 
mit  mäuseartiger  Geschwindigkeit  wie  ein  Schatten 
über  den  Sand  dahinhuscht.  Ursprünglich  mehr 
ein  Sumpfvogel  und  auf  Würmernahrung  ange- 
wiesen ist  sie  hier  fast  ein  Allesfresser  geworden, 
und  namentlich  sind  es  auch  wieder  die  Seevögcl, 
welche  ihren  Unterhalt  zu  decken  haben.  Wenn- 
gleich sie  mit  ihrem  dünnen  Schnabel  auch  die 
hartschaligen  Eier  selbst  nicht  öffnen  kann,  so 
sah  ich  sie  doch  nicht  selten  an  dem  leckeren 
Mahl  teilnehmen,  wenn  ein  Fink  dieselben  zer- 
brochen hatte.  Selbst  Vogelleichen,  die  hier  so 
häufig  sind,  verschmäht  sie  nicht  und  reißt  sich 
von  ihrem  verwesenden  Fleisch  Fetzen  los;  da- 
neben fängt  sie  geschickt  die  herumschwirrenden 
Fliegen  und  zahllose  Käfer.  —  Von  den  anderen 
will  ich  nur  noch  den  kleinen  niedlichen  roten 
Vogel  erwähnen  (Himatione  Freethii  Roth).  Sein 
nächster  Verwandter  (H.  sanguinea  Gmel.)  ist 
noch  einer  der  häufigsten  Vögel  in  den  höher 
gelegenen  Teilen  der  hawaiischen  Inseln,  wo  er 
das  Auge  des  Beobachters  erfreut,  wenn  er  in 
den  Metrosideros- Bäumen  umherhuscht  und  aus 
ihren  schönen  granatroten  Blüten ,  deren  Farbe 
sein  Kleid  wunderbar  ähnelt,  Honig,  vielleicht 
auch  Insekten  sammelt.  Auf  Laysan  fehlt  diese 
Hauptnährpflanze,  emsig  schlüpft  aber  auch  hier 
der  Honigsauger  von  Gebüsch  zu  Gebüsch  und 
sucht  in  den  Blütenkelchen  nach  Nahrung,  indem 
er  namentlich  die  großen  Blumen  des  früher  er- 
wähnten Caparis  -  Strauches  bevorzugt.  Er  bietet 
ein  gutes  Beispiel  dafür,  wie  durch  Isolierung  eine 
neue  Art  entstehen  kann.  Trotz  seiner  großen 
Übereinstimmung  mit  der  hawaiischen  Form 
unterscheidet  er  sich  von  dieser  dennoch  durch 
eine  etwas  andere  Nuance  seines  roten  Kleides, 
durch  einige  bräunliche  Federn  an  der  Unterseite 
des  Schwanzes,  die  bei  seinem  hawaiischen  Ver- 
wandten weiß  sind,  und  durch  seinen  etwas  kür- 
zeren Schnabel  genügend  von  diesem,  übrigens 
ist  er  sicherlich  dieser  kolibriartige  Vogel,  den 
Kittlitz  nach  dem  Bericht  des  Schiffsarztes 
Isenbeck,  welcher  die  Insel  1828  kurz  besuchte, 
im  Jahre  1834  erwähnt;  in  der  Tat  hat  er  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  mit  einem  Kolibri,  wenn  er 
von  Blüte  zu  Blüte  schwirrt.  Für  denjenigen, 
der  zum  erstenmal  die  Insel  betritt,  ist  die  Furcht- 
losigkeit und  das  vertrauensselige  Wesen  der 
meisten  Vögel  Laysans  geradezu  verblüffend. 
Unsere   Mahlzeiten   hielten   wir   stets  in  Gemein- 


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Schaft  mit  den  hübschen,  gelben  Finken  (Telespiza). 
Hatten  wir  uns  zu  Tisch  gesetzt,  so  kamen  auch 
sofort  einige  dieser  kleinen,    naseweisen  Burschen 
angeflogen    und    pickten    an    dem    Brot,    das    vor 
uns  lag,  ja  sie  waren  dreist  genug,    sich    auf  den 
Tellerrand    zu    setzen  und  mit    uns  den  Reis  und 
den  Speck  zu  teilen,   wir  mußten    sie    gleich  den 
zudringlichen  Fliegen  mit  der  Hand  verscheuchen, 
wollten  wir    unser  Mahl    ungeschmälert  genießen. 
Saßen  wir  über  Mittag  draußen    im  Schatten  un- 
seres Häuschens  und  ließen  uns  nach  angestrengter 
Arbeit  vom  Passat  erfrischen,    so    fand  sich  auch 
bald    einer    jener    zierlichen,    grauen    Vögelchen 
(Acrocephalus  familiaris  Rotsch.)  ein,  das  sich  auf 
unser  Knie    oder   auf  die  Lehne   unseres  Stuhles 
setzte,    um    uns  zutraulich  anzugucken,  oder  sein 
liebliches  l.ied  uns  vorzusingen;  ja  einmal  wählte 
sich  so  ein  kleiner  Sänger  die    Kante    des   aufge- 
schlagenen Buches,    das    ich    in    der   Hand    hielt, 
aus,    und    gab    sein  Stückchen    zum  Besten.     Oft- 
mals   flöteten    die    Finken,    übrigens    die    besten 
Sänger   der  Insel,    wenn  wir    sie  erhascht  hatten, 
sogar   noch   in    unserer  Hand,   wenngleich  ich  es 
dahingestellt  sein  lassen  möchte,  ob  das  wirklich 
nur  Zutraulichkeit    oder    nicht  vielmehr  der  Aus- 
druck einer   gewissen  Verlegenheit   gewesen  sein 
mag.     Unsere    steten   Genossen    bei    der    Arbeit 
waren  die  possierlichen  Rallen.   Kaum  hatten  wir 
die   Tür    zu    unserem   Laboratorium    geöffnet,    so 
kamen  mit    uns  gleichzeitig   einige  dieser  kleinen 
Gesellen  hinein   und   durchstöberten  eifrig  unsere 
Sammlungen,  um  sich  an  den  unzähligen  Fliegen, 
die    um    diese    herumschwirrten,    gütlich   zu    tun. 
Äußerst  komisch  war  es  dann,  wenn  sie  von  Zeit 
zu  Zeit   in    ihrer  Jagd  inne  hielten   und  vergnügt 
ihren    merkwürdigen    Gesang    herausschmetterten, 
der  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  Geschnarr 
einer  helltönenden  Weckuhr  besitzt,  ja  sie  suchten 
es  sogar    möglich    zu    machen    auf  unseren  Tisch 
zu    hüpfen,    um    dort    ein    Stückchen    Fett    oder 
Fleisch,  das  wir  beim  Vogelabbalgen  an  die  Seite 
gelegt    hatten ,    unmittelbar    vor    unseren  Fingern 
wegzupicken.      Dieselbe    Vertraulichkeit    zeigten 
auch   die  Seevögel.     Nahmen   wir   unseren  Weg 
durch  eine  der  Albatroskolonien,    so   wichen   die 
Tiere  nicht  nur  nicht  scheu  vor  uns  zurück,  son- 
dern sie  blieben  ruhig  auf  ihrem  Platz  sitzen,    so 
daß   wir    ihnen    aus    dem    Wege    gehen    mußten, 
wollten  wir  sie  nicht  durdh  unsere  P'ußtritte  ver- 
letzen; häufig  genug  kamen  wir  dabei  aber  doch 
in  so  nahe  Berührung,  daß  sie  uns  höchst  indigniert 
in    die    Beine    kniffen,    was    in    Anbetracht    ihres 
kräftigen  Schnabels  uns  durchaus  kein  Vergnügen 
bereitete.     Das  war  jedenfalls  das  Benehmen  der 
jungen  Albatrosse ;  aber  auch  die  a  1 1  e  n  wandten 
sich    erst  dann  zur  Flucht,    wenn    sie  bemerkten, 
daß    wir    wirklich    Böses    gegen    sie    im    Schilde 
führten.      So    haben    wir    denn    auch    alle  Vögel 
Laysans    mit    wenigen    Ausnahmen    (Ente,  Hima- 
tione  und  diejenigen  Arten,  welche  die  Insel  nur 
vorübergehend  besuchten)  erbeutet,  ohne  das  Ge- 
wehr dabei  zur  Hilfe  zu  nehmen,  die  Zutraulich- 


keit ging  bisweilen  aber  schon  in  Frechheit  über. 
Ein  Fregattvogel  nahm  einst  rasch  von  hinten 
heranschießend  einem  heimkehrenden  japanischen 
Arbeiter  die  Mütze  vom  Kopf,  hob  sie  hoch  in 
die  Lüfte  und  ließ  sie  erst  nach  einiger  Zeit 
wieder  fallen :  dieses  Spiel  wiederholte  er  an  meh- 
reren Tagen  hintereinander. 

Alles  deutet  darauf  hin,  daß  der  Vogelwelt 
Laysans  Menschen  und  Menschenwerk  ganz  un- 
bekannt geblieben  sind,  und  daß  die  wenigen 
Jahre,  während  welcher  die  Insel  besucht  wird, 
nicht  genügt  haben,  ihr  diese  Kenntnis  beizu- 
bringen. Eines  Tages  wurde  ein  kurzer  Signal- 
mast errichtet;  ein  vom  Meere  heimkehrender 
Albatros,  der  bis  dahin  wohl  nie  ein  solches  Ding 
gesehen  hatte,  flog  mit  einer  derartigen  Vehemenz 
dagegen,  daß  ihm  durch  den  Anprall  der  eine 
Flügel,  wie  mit  einem  Messer  durchschnitten, 
vom  Rumpfe  gerissen  wurde.  Fast  ebenso  tragisch 
verlief  ein  anderer  Vorfall.  Ein  Japaner,  vom 
Eiersammeln  mit  zwei  wohlgefüllten  Körben  am 
Arm  nach  Hause  eilend,  wurde,  als  er  nichts 
ahnend,  im  Vorgefühl  des  leckeren  Mahls  einher- 
schritt,  ebenfalls  von  einem  dahersausenden  Albatros 
mit  solcher  Gewalt  in  den  Nacken  getroffen,  daß 
er  dahinstürzend  sich  in  die  Tiefe  der  Eierkörbe 
versenkte.  Eine  Ausnahme  von  diesem  Benehmen 
machen,  wie  gesagt,  die  meisten  Vögel,  welche 
auf  der  Insel  nur  als  Gäste  verweilen ,  ohne  dort 
zu  brüten.  Während  unter  diesen  der  Brachvogel 
(Numenius  tahitiensis  Gm.)  noch  verhältnismäßig 
dreist  ist  und  dadurch  zeigt,  daß  seine  Heimat  in 
einer  von  Menschen  noch  ziemlich  unbewohnten 
Gegend  liegt,  so  sind  die  Regenpfeiferarten  und 
namentlich  der  Goldregenpfeifer  (Charadrius  fulvus 
Gm.)  äußerst  scheu  und  lassen  sich  hier,  wo  jede 
Deckung  fehlt,  nur  mit  größter  Mühe  beschleichen. 
Um  sie  zu  erlegen,  mußte  ich,  häufig  viele  hundert 
Schritte  platt  auf  der  Erde  kriechend,  mich  ihnen 
nähern  oder  vom  Meer  aus,  wenn  sie  am  Strande 
Nahrung  suchten,  sie  schwimmend  überlisten.  Sie 
haben  in  ihrer  Heimat  wohl  schon  zur  Genüge 
die  Tücke  des  Menschen  kennen  gelernt. 

Laysan  ist  ein  wahres  Vogelparadies,  wie  es 
auf  der  Erde  zum  zweitenmal  wohl  kaum  noch 
zu  finden  sein  wird.  Während  die  Landvögel 
aber  nur  eine  untergeordnete  Stellung  einnehmen 
und  zufrieden  sein  müssen,  wenn  sie  in  ihm  nur 
geduldet  werden,  so  sind  die  herrschenden  und 
tonangebenden  die  Seevögel;  alles  Übrige  tritt 
gegen  diese  zurück;  sie  drücken  der  Insel  ihren 
Charakter  auf  Aus  einem  großen  Teil  des  nörd- 
lichen Pazifik  eilen  sie  hierher,  um  ihrem  Brut- 
geschäft obzuliegen,  für  welches  gerade  diese  Insel 
mit  ihrem  sandigen  Boden  geeigneter  ist,  als 
viele  andere,  die  zwar  auch  unbewohnt  sind,  aber 
felsigen  Grund  haben  und  somit  für  alle  jene 
Sturmvögel  und  Taucherarten,  welche  ihr  Nest  in 
oft  metertiefen  Höhlen  anlegen,  ungeeignet  sind. 
Ungeheuer  sind  die  Mengen,  die  hier  nisten. 
Schon  von  weitem  erblicken  wir  wahre  Vogel- 
wolken über   der  Insel  und  die  Scharen   der  um- 


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herflatternden  Seeschwalben  (Haliplana  fuliginosa 
Peak.),  welche  gerade  im  Begriff  waren,  sich  Nist- 
plätze auszusuchen,  erschienen  in  der  Ferne  wie 
schwärmende  Bienen.  Schwer  ist,  solch  eine 
Menge  nach  ihrer  Zahl  zu  schätzen;  sicherlich 
waren  es  aber  Zehntausende,  vielleicht  auch 
Hunderttausende,  die  diese  Vogelwolken  bildeten. 
So  ist  denn  buchstäblich  fast  jeder  Quadratfuß 
Landes  von  brütenden  Vögeln  besetzt,  so  daß  es 
dem  dahinschreitenden  Wanderer,  namentlich 
während  der  Nachtzeit,  kaum  möglich  ist,  seinen 
Fuß  zu  setzen,  ohne  daß  die  Vögel  Gefahr  laufen, 
von  ihm  verletzt  zu  werden.  Aber  nicht  nur  in 
horizontaler  Richtung  breiten  sich  die  nistenden 
Vögel  auf  der  Insel  aus,  sondern  auch  in  vertikaler, 
so  daß  sie  also  nicht  allein  nebeneinander,  sondern 
auch  über-  und  untereinander  hausen.  Weite 
Strecken,  namentlich  dort,  wo  der  Sand  recht 
locker  ist  und  geringe  Vegetation  herrscht,  sind 
von  den  in  Höhlen  brütenden  Vögeln  —  den 
verschiedenen  Arten  von  Sturmtauchern  —  ge- 
radezu unterminiert.  Nichts  ist  beschwerlicher, 
als  solche  Stellen  zu  passieren  1  Fortwährend 
bricht  die  dünne  Decke  über  den  Höhlen  durch, 
und  bald  sinkt  man  mit  dem  einen,  bald  mit  dem 
anderen  Bein  bis  weit  über  das  Knie  ein.  Dort, 
wo  Gebüsch,  namentlich  die  strauchartige  IVIelde 
wächst,  kommt  es  vor,  daß  nicht  nur  zwei  Par- 
teien, sondern  sogar  vier  übereinander  wohnen. 
Auf  den  Wipfeln  der  Gesträuche  haben  die  Tölpel 
und  Fregattvögel  ihr  Nest  aufgeschlagen;  tiefer 
unten  im  Gezweig  nisten  mit  Vorliebe  einige  der 
niedlichen  Landvögel  (meistens  Acrocephalus,  bis- 
weilen auch  Himatione);  unten  auf  der  Erde, 
noch  von  den  Ästen  beschattet,  brüten  die  präch- 
tigen Tropikvögel  und  noch  tiefer  im  Boden  zieht 
der  schwarze  Sturmtaucher  in  seiner  unterirdischen 
Wohnung  die  junge  Brut  auf.  In  vier  Stock- 
werken wohnen  hier  also  die  Vögel  und  ein  Ver- 
gleich mit  den  Mietskasernen  der  großen  Städte 
ist  wirklich  naheliegend;  wie  dort  die  Menschen 
aus  Mangel  an  Raum  sich  von  den  Mansarden 
bis  zu  den  Kellerwohnungen  herab  einschachteln, 
sind  auch  hier  auf  dem  übervölkerten  Eiland  die 
Vögel  gezwungen,  ein  Gleiches  zu  tun. 

Trotz  dieser  vorzüglichen  Ausnutzung  des  zur 
Verfügung  stehenden  Raumes  würden  aber  alle 
die  Vogelarten,  welche  sich  Laysan  als  Brutplatz 
erkoren,  doch  nicht  imstande  sein,  dort  genügend 
Platz  zu  finden,  wenn  sie  alle  gleich  zeitig  zu- 
samenträfen.  Sie  müssen  daher  miteinander  ab- 
wechseln; ist  eine  Art  mit  ihrem  Brutgeschäft 
fertig,  so  macht  sie  der  anderen  Platz,  während 
sie  die  Insel  verläßt,  stellt  sich  die  andere  ein. 
Es  ist  ein  fortwährendes  Kommen  und  Gehen, 
und  die  Folge  davon  ist,  daß  man  fast  zu  jeder 
Jahreszeit  brütende  Vögel  auf  Laysan  findet,  eine 
Tatsache,  die  selbst  in  den  Tropen,  in  welchen 
die  ßrütezeit  überhaupt  eine  viel  unregelmäßigere 
ist  als  in  unseren  Breiten,  Beachtung  verdient.  So 
hat  sich  denn  durch  eine  wahrscheinlich  schon 
viele  Jahrtausende  währende  Gewohnheit  und  An- 


passung an  die  Verhältnisse  ein  ganz  bestimmter 
Turnus  ausgebildet  in  der  Ankunft  und  den  Ab- 
zug einzelner  Arten.  Während  mehrerer  Jahre  ist 
die  Beobachtung  gemacht  worden,  daß  in  der 
Zeit  vom  15. — 18.  August  die  blauen  Sturmtaucher 
(Oestrelata  hypoleuca,  Salv.),  welche  fast  die  ganze 
Insel  mit  ihren  Höhlen  unterminiert  haben,  auf 
Laysan  eintreffen,  ohne  daß  eine  Abweichung  von 
dieser  Regel  vorkommt.  Deutlich  haftet  mir  noch 
der  Abend  des  17.  August  1896  im  Gedächtnis; 
es  war  bereits  stiller  auf  der  Insel  geworden,  die 
lärmenden  Seeschwalben  hatten  ihre  Jungen  schon 
groß  gezogen  und  Tausende  von  heranwachsenden 
Albatrossen  hatten  den  Platz,  wo  ihre  Wiege  stand, 
Lebewohl  gesagt  und  waren  hinaus  geeilt  auf  das 
unermeßliche  Meer,  das  fortan  ihre  eigentliche 
Heimat  bilden  sollte.  Wir  lenkten  unsere  Schritte 
zurück  von  der  Anhöhe,  auf  deren  Spitze  wir 
nach  dem  Segel,  das  uns  wieder  von  der  Insel 
nach  bewohnten  Gegenden  führen  sollte,  aus- 
spähten. Die  goldenen  Reflexe  der  untergehenden 
Sonne  verblaßten  und  die  feine  Sichel  des  be- 
ginnenden Mondes  begann  silbern  zu  erglänzen; 
da  bemerkte  das  Auge,  dem  jede  der  charakte- 
ristischen Bewegungen  unserer  lüftedurchfurchen- 
den Genossen  auf  der  Insel  durch  wochenlange 
Übung  vertraut  war,  eine  neue  Erscheinung.  Von 
dem  verbleichenden  Abendhimmel  hob  sich  scharf 
die  Silhouette  eines  herrlichen  P'liegers  ab,  der  in 
den  kühnsten  und  zugleich  zierlichsten  Bewegungen 
die  Luft  unhörbar  fast  ohne  Flügelschlag  durch- 
schnitt. Die  Art,  wie  er  dahinstürmte,  erschien 
uns  neu  und  wir  wußten,  daß  ein  neuer  An- 
kömmling unsere  Insel  erreicht  hatte.  Am  nächsten 
Abend  waren  es  deren  schon  mehr  und  am  dritten 
erfüllten  bereits  Tausende  die  Lüfte.  Es  waren 
kaum  Taubengröße  erreichende  zierliche  Vögel, 
die  von  nun  an  so  die  Insel  beherrschten,  daß 
dort,  wo  sie  sich  angesiedelt  hatten,  die  wenigen 
noch  brütenden  Pärchen  der  Tropikvögel,  See- 
schwalben usw.  vor  ihnen  zurückwichen,  gleich 
als  ob  ihnen  die  Nähe  der  lärmenden,  neuen  Gäste 
peinlich  wäre.  Auf  dem  Lande  nur  Nachtvögel, 
nahmen  sie  von  den  unzählbaren,  tief  unterirdischen 
Wohnungen  wieder  Besitz;  beim  hellen  Monden- 
schein konnte  man  sehen,  wie  sie  emsig  bemüht 
waren,  aus  den  seit  Jahresfrist  verfallenen  Röhren 
mit  ihren  zarten  Füßchen  den  lockeren  Sand  zu 
entfernen.  Liebende  Pärchen  fanden  sich  und  be- 
haupteten wacker  ihr  erkorenes  Fleckchen  zum 
Gründen  eines  Hausstandes  gegen  spätere  Ein- 
dringlinge. Ohne  Zank  und  Streit  und  vielfaches 
Geschrei  ging  es  dabei  nicht  ab;  kaum  waren 
einige  Tage  verflossen,  da  erscholl  an  jedem 
Platz  der  Insel,  der  nur  von  Sand  bedeckt  war, 
ihr  nicht  gerade  wohllautender  „Gesang".  Unter 
jedem  Strauch,  zwischen  den  Kisten,  die  wir  vor 
unserer  Behausung  aufgetürmt  hatten  und  leider 
auch  unter  unserem  „Schlafgemach"  ertönte  ihr 
Lied,  das  die  Mitte  hielt  zwischen  jenem,  „das 
Menschen  rasend  machen  kann",  und  den  Lauten 
neugeborener  Kinder,  die  höchstens  nur  zärtlichen 


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Eltern  Vergnügen  bereiten.  Die  ganze  Physio- 
gnomie der  Insel  war  mit  einem  Schlage  ver- 
ändert. Wie  bewunderungswert  ist  doch  jener 
Trieb,  der  das  Herz  des  Vogels  erfüllt  und  ihn 
antreibt,  wenn  er  Tausende  von  Meilen  entfernt 
auf  dem  Weltmeere  dahinschwebt,  wieder  jenem 
Platz  zuzueilen,  wo  seine  Wiege  stand,  um  nun 
auch  seinerseits  Elternpflichten  zu  erfüllen  1  Wie 
muß  es  unser  Erstaunen  hervorrufen,  daß  der 
Vogel  bis  fast  auf  Stunden  genau  in  jedem  Jahr 
die  Zeit  seiner  Ankunft  inne  hält  und  wo  ist  der 
Kompaß,  der  ihn  durch  Sturm  und  Wetter  sich 
durch  die  Meereswüste  nach  diesem  winzigen 
Erdenfleck  leitet? 

Wenige  Monate  später  wird  das  Aussehen  der 
Insel  von  neuem  durch  eine  Einwanderung  noch 
imposanterer  Art  als  die  geschilderte  verändert. 
In  den  letzten  Tagen  des  Oktober  erscheinen  die 
ersten  Vorposten  der  prächtigen  Albatrosse,  und 
wenige  Tage  darauf  gewährt  die  Insel  von  einem 
erhöhten  Punkt  den  Anblick,  als  wäre  sie  dicht 
mit  großen  Schneeflocken  bedeckt.  Es  gibt  kaum 
ein  Fleckchen  Erde,  von  dem  das  blendend  weiße 
Gefieder  eines  Albatrosses  sich  nicht  abhebt  und 
die  Zahl  dieser  Vögel  ist  oft  so  groß,  daß  viele 
nur  mit  ungünstigen  Plätzen  vorlieb  nehmen, 
viele  wieder  abziehen  müssen. 

Von  den  Invasionen  der  übrigen  brütenden 
Seevögel  der  Insel  erwähne  ich  nur  noch  die 
der  Seeschwalben,  die  so  mächtig  ist,  daß  in  den 
ersten  Tagen,  in  denen  die  Vögel  noch  keinen 
festen  Nistplatz  sich  ausgesucht  haben,  die  Insel 
von  weitem  den  Eindruck  macht  als  lagere  eine 
schwere  Rauchmasse  über  ihr,  so  dicht  ist  die 
Schar  der  flatternden  Vögel. 

Der  Kampf  um  die  Existenz  ist,  wie  wir  sehen, 
nach  keiner  Richtung  hin  ein  leichter;  weitere 
Erscheinungen  können  dies  bekräftigen.  So  ist 
es  z.  B.  eigentümlich,  daß  alle  Seevögel,  die  auf 
Laysan  brüten,  nur  ein  Ei  legen,  während  nahe 
Verwandte  von  ihnen  in  anderen  Breiten  ein 
größeres  Gelege  haben.  Nur  eine  Art,  ein 
Tölpel  (Sula  cyanops  Sund.)  legt  allerdings  zwei 
Eier,  jedoch  brütet  er  regelmäßig  nur  eins  davon 
aus.  Ich  kann  mir  dies  Einkindersystem  nur  so 
erklären,  daß  der  Erwerb  der  Nahrung  für  sie  ein 
derartig  schwieriger  ist,  daß  sie,  ohne  leichtsinnig 
zu  sein,  nur  ein  Kind  groß  ziehen  können. 

Der  Aufenthalt  auf  der  Insel  ist  für  den  Natur- 
freund schon  allein  deswegen  von  so  großem 
Interesse,  weil  er  Gelegenheit  findet,  in  einem 
Grade,  wie  zum  zweitenmal  wohl  sonst  kaum 
noch  auf  der  Erde  die  ihn  umgebende  Tierwelt, 
insbesondere  die  Vögel,  in  ihren  intimsten  Re- 
gungen kennen  zu  lernen.  Wir  sind  in  unserer 
Heimat,  die  Jahrtausende  unter  menschlicher 
Kultur  steht,  auch  nicht  mehr  entfernt  imstande, 
die  Tiere  in  ihrer  Ursprünglichkeit  zu  beobachten, 
weil  diese  in  nur  zu  berechtigter  Scheu  vor  dem 
Menschen  es  demselben  verwehren,  andere  als  nur 
die  flüchtigsten  Eindrücke  von  ihnen  zu  erlangen. 
Auf  Laysan    dagegen    zeigten    sie    sich,    wie    sie 


wirklich  sind,  jede  Spur  von  Scheu  fehlte  ihnen, 
sie  sahen  in  uns  noch  nicht  ihren  Feind,  und  wir 
waren  daher  jeden  Augenblick  in  der  Lage  (wes- 
wegen jeder  Irrtum  ausgeschlossen  ist),  nicht  nur 
ihr  Tun  und  Treiben,  sondern  ich  möchte  auch 
geradezu  sagen,  ihr  Seelenleben  zu  studieren  und 
ihre  Charaktere  zu  erkennen.  Wir  sind  selbst 
erstaunt  gewesen,  bei  jenen  von  der  Mehrzahl 
doch  für  niedrig  gehaltenen  Geschöpfen  so  viel 
zu  finden,  was  einen  direkten  Vergleich  mit 
menschlichen  Eigenschaften  zuläßt.  So  war  es 
z.  B.  leicht,  die  Vögel  nach  ihren  Temperamenten 
zu  unterscheiden;  daß  der  stets  polternde,  seine 
Kinde  scharf  züchtigende  und  über  jede  Kleinig- 
keit leicht  in  Ärger  geratende  Tropikvogel  den 
Typus  des  Cholerikers  repräsentiert,  war  leicht 
zu  erkennen;  schon  dem  kleinsten  Daunenjungen 
war  dieses  Temperament  zueigen.  Ein  guter, 
ruhiger,  aber  etwas  beschränkter  Junge  war  da- 
gegen der  Phlegmatiker  Albatros.  Das  ganze 
Gegenteil  von  ihm  ist  die  zierliche,  ewig  beweg- 
liche, sanguinische  Seeschwalbe,  die  Tag  und 
Nacht  für  sich  und  die  Ihren  in  fieberhafter 
Tätigkeit  ist  und  neben  dem,  was  sie  erreicht, 
auch  manchen  Mißerfolg  zu  verzeichnen  hat,  wenn 
sie  in  ihrer  nervösen  Hast  Unvorsichtigkeiten  be- 
ging. Ein  ausgemachter  Melancholiker  ist  aber 
der  schwarze  Sturmtaucher  (Puffinus  nativitatis 
Streets) ;  ruhig  und  still  sitzt  er  am  Tage  in  seiner 
unterirdischen  Wohnung;  nachts  aber  ertönen  aus 
derselben  Laute,  die  dem  Neuling  Entsetzen  ein- 
zuflößen geeignet  sind;  mit  ihnen  könnte  ich  nur 
die  Jammertöne  eines  an  seinem  Leben  und  der 
Welt  völlig  verzweifelnden,  tiefunglücklichen  Men- 
schen vergleichen.  Lebhaft  erinnere  ich  mich 
noch  des  seltsamen  Eindrucks,  als  wir  in  den 
ersten  Tagen  unseres  Aufenthaltes  vor  unserer 
Behausung  in  dunkler  Nacht  von  Hitze  und  Arbeit 
des  Tages  ausruhten,  und  rings  um  uns  herum 
aus  der  Erde  diese  markerschütternden  Töne 
quollen.  So  kann  nur  ein  von  den  entsetzlichsten 
Gewissensqualen  Gefolterter  stöhnen  und  ächzen; 
hier  wurde  es  uns  klar,  warum  die  Portugiesen 
diese  Vögel  „die  Seelen  der  Verdammten"  nennen. 

Ganz  außerordentlich  anziehend  ist  es,  das 
Liebes-  und  Familienleben  der  Vögel 
Laysans  zu  belauschen.  Wie  es  ja  allein  der 
ihnen  anfangs  noch  unbewußte  Trieb  zur  Erhal- 
tung der  Art  ist,  welcher  sie  auf  die  Insel  führt, 
so  beherrscht  dieser  sie  auch  während  ihres  ganzen 
Aufenthaltes  daselbst;  ist  ihre  Aufgabe,  für  die 
nächste  Generation  zu  sorgen,  erfüllt,  so  verläßt 
die  weitaus  überwiegende  Mehrzahl  derselben 
auch  wieder  das  Eiland. 

Alle  Seevögel  Laysans  leben  in  strenger  Mono- 
gamie und  zwar  ist  ihre  Ehe,  soweit  ich  es  be- 
obachten konnte,  meistens  eine  geradezu  muster- 
hafte. Die  Pärchen  hängen  in  rührender  Liebe 
aneinander;  so  sieht  man  z.  B.  die  Sturmtaucher 
stets  nicht  nur  nebeneinander,  sondern  auch 
einander  zugewendet  sitzen  und  sich  stunden- 
lang   verliebt   in   die   Augen    schauen;    von    Zeit 


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zu  Zeit  krauen  sie  sich  gegenseitig  zart  die 
Halsfedern,  wobei  die  Geliebkoste  recht  behaglich 
den  Kopf  senkt  und  sich  diese  Zärtlichkeiten 
offenbar  mit  großer  Genugtuung  gefallen  läßt; 
nicht  selten  schnäbeln  sie  sich  dann  auch  nach 
Art  der  Tauben,  unserem  Küssen  vergleichbar. 
Wenn  sie  sich  hierbei  mit  ihrem  nadelspitzen, 
krummen  Schnabel  nicht  verletzen  und  wehe  tun, 
so  ist  das  ein  Zeichen,  wie  zart  sie  zu  Werke 
gehen  müssen.  Ich  selbst  habe  nämlich  häufig 
gerade  das  Gegenteil  von  ihnen  erfahren ;  ein  ein- 
maliges Zubeißen  genügte  vollkommen,  um  auf 
meinen  Händen  eine  stark  blutende  Wunde  her- 
vorzurufen. 

Ein  anderes  überaus  reizvolles  Liebesspiel  ist 
der  Hochzeitsflug,  wie  ich  ihn  nennen  will, 
der  schwarzen  Seeschwalbe  (Haliplana  fuliginosa 
Gm.),  den  ich  bei  keinem  anderen  Vogel  in  sol- 
cher Schönheit  ausgeprägt  fand.  An  stillen  Nach- 
mittagen, wenn  die  Sonne  schon  zur  Rüste  ging, 
sondert  sich  ein  Pärchen,  dem  andere  folgen,  von 
der  übrigen  Schar  ab  und  eilt  dem  Meere  zu, 
bald  langsam  die  Flügel  schlagend,  bald  schießend, 
bald  fast  ohne  Bewegung  dahinschwimmend.  Jetzt 
wieder  führt  es  die  kühnsten  Wendungen  aus  und 
erhebt  sich  im  Dahinstürmen  hoch  in  die  Lüfte, 
um  sich  dann  ebenso  plötzlich  wieder  zu  senken. 
Dabei  hält  sich  Männchen  und  Weibchen  —  un- 
mittelbar übereinander  fliegend  —  so  dicht  bei- 
sammen und  führt  jede  Bewegung,  jeden  Flügel- 
schlag, jede  noch  so  unerwartete  Wendung  so 
erstaunlich  gleichmäßig  aus,  daß  er  den  Anschein 
hat,  als  ob  nur  ein  Geist  die  beiden  Körper  be- 
seele und  ein  Wille  sie  führe.  Dieses  Flugspiel 
ist  in  der  Tat  durch  seine  Grazie  ganz  entzückend 
und  dadurch,  daß  offenbar  nur  Liebeslust  und 
völlige  gegenseitige  Hingabe  es  veranlassen,  auch 
für  das  Gemütsleben  der  Vögel  höchst  bemerkens- 
wert. Könnte  man  nicht  dieses  wonnetrunkene, 
aneinandergeschmiegte  Durchschneiden  der  Lüfte, 
das  behagliche  Wiegen,  das  Dahinstürmen  in  wil- 
der Leidenschaft,  mit  dem  feurigen  Tanz  eines 
liebebeglückten  Menschenpaares  vergleichen  ?  Und 
doch  wie  viel  zarter,  wie  viel  anmutiger  erscheinen 
hierbei  die  Kinder  der  Luft! 

F"ast  unwiderstehlich  muß  der  Trieb,  der 
Elternfreuden  teilhaftig  zu  werden,  sein,  welcher 
den  Vogel  beherrscht.  Albatrosse,  denen  man 
die  Eier  raubte,  blieben  noch  wochenlang  auf 
den  Nestern  sitzen;  viele  der  zierlichen,  kleinen 
weißen  Seeschwalben  (Gygis  alba  Sparrm.),  denen 
ich  zugunsten  unseres  Museums  das  Ei  fortge- 
nommen hatte,  fand  ich  bei  meinem  Wieder- 
kommen noch  Tage  lang  auf  einem  runden  Stein- 
chen, einmal  sogar  auf  der  bleichen  Schädel- 
kapsel einer  ihrer  gestorbenen  Schwestern,  sitzen, 
gleich  als  ob  sie  emsig  weiterbrüteten.  Dieser 
Vogel  erregt  auch  sonst  durch  die  Art  seines 
Brütens  unsere  Verwunderung.  Geben  sich  Lay- 
sans  Brutvögel  überhaupt  schon  keine  große  Mühe 
mit  der  kunstvollen  Anlage  eines  Nestes,  so  geht 
dieser  doch   darin   am  weitesten;   gerade  da,   wo 


er  sich  zufällig  in  dem  hoffnungsfrohen  Augenblick 
befindet,  läßt  er  sein  Ei  fallen,  und  so  findet  man 
dasselbe  auf  dem  kahlen  Sande,  auf  der  Salz- 
kruste der  Lagunenränder,  auf  den  kahlen  Stein- 
klippen dicht  am  brandenden  Meer  und,  was  das 
Erstaunlichste  ist,  nicht  selten  sogar  in  der  Ast- 
gabel eines  Gesträuches.  Nichts  ist  possierlicher 
zu  sehen,  wie  der  Vogel  selbst  in  dieser  unbe- 
quemen Lage  das  Ei  vollständig  mit  seinem  Körper 
zu  bedecken  sucht;  und  wirklich  gelingt  es  ihm 
oft  daraus  ein  kleines,  reizendes  Daunenjunges  zu 
erziehen,  das  ebenfalls  Akrobatenkünste  lernen 
muß,  um  nicht  von  seinem  schwankenden  Sitz 
herunterzupurzeln.  —  Rührend  war  es  mir  ein- 
mal zu  sehen,  wie  ein  Tropikvogel,  dem  ich  seinen 
noch  zarten  Sprößling  unserer  Sammlung  einver- 
leibt hatte,  am  nächsten  Tage  das  gleichalterige 
Junge  eines  Nody  (Anous  stolidus  L.)  (allerdings 
gegen  den  Willen  seiner  Eltern)  adoptiert  hatte, 
um  der  Sehnsucht,  Mutterpflichten  zu  erfüllen, 
Genüge  zu  tun. 

In  ihrer  Elternliebe  zeigt  die  Mehrzahl  der 
von  uns  beobachteten  Vögel  einen  großartigen 
Zug  von  Selbstlosigkeit;  waren  die  Jungen  erst 
ausgeschlüpft,  so  vermochte  keine  Drohung  sie 
vom  Nest  zu  verscheuchen  und  bei  den  Sulaarten 
und  den  Fregattvögeln  mußte  man  geradezu  Ge- 
walt anwenden,  um  den  sich  heftig  und  empfind- 
lich wehrenden  Vogel  von  seinem  Nest  zu  ver- 
scheuchen. Gerade  beim  Fregattvogel,  dem  sonst 
an  List  und  Tücke  reichen  Räuber,  war  das  am 
auffallendsten;  scheute  er  sich  doch  andererseits 
gar  nicht,  in  einem  unbewachten  Augenblick  nicht 
nur  die  Kinder  der  schwächeren  Vögel,  sondern 
sogar    die    seiner   eigenen  Sippe  zu  verschlingen. 

Bei  dem  Aufziehen  der  Jungen  beteiligen  sich 
meistens  Männchen  und  Weibchen  gleichmäßig. 
Mit  geradezu  pedantischer  Pünktlichkeit  (beim 
Albatros  und  der  schwarzen  Seeschwalbe  z.  B. 
zwischen  3  und  4  Uhr  nachmittags,  beim  Tropik- 
vogel zwischen  9 — 10  Uhr  vormittags)  kommen 
die  Eltern  mit  reich  gefülltem  Kropf  vom  Meer 
zurück,  um  ihre  Kleinen  zu  sättigen.  —  Sind  die 
Jungen  größer  geworden,  so  heißt  es,  sie  in  den 
Beruf  und  in  die  Arbeit  einzuführen  und  sie  mit 
den  Künsten  eines  echten,  rechten  Vogels  bekannt 
zu  machen.  So  sahen  wir  denn  täglich,  wie  die 
Seeschwalben  ihre  eben  flügge  gewordenen  Jungen 
auf  das  Meer  führten.  Eine  kurze  Strecke  eilte 
die  Mutter  voran,  und  ununterbrochen  ertönte  ihre 
Stimme  —  genau  wie  „weide  weck"  lautend  — 
bald  anfeuernd,  bald  warnend;  und  regelmäßig 
antworteten  die  gehorsamen  Kleinen  mit  ihrem 
zarten  „Piep,  Piep".  Man  sollte  es  kaum  glauben, 
welch  eine  große  Ausdrucksfähigkeit  dieser  Vogel 
(und  auch  andere)  in  seiner  Stimme  besitzt,  um 
alle  möglichen  Regungen  seines  Gefühllebens  zum 
Ausdruck  zu  bringen;  nicht  nur,  daß  er  über  zahl- 
reiche, verschiedenartige  Laute  verfügt,  auch  die 
Betonung  ist  eine  äußerst  mannigfaltige,  und  ein 
geübtes  Ohr  hört  es  bald  ebenso  leicht  wie  die 
Vogelgenossen   selbst   heraus,   wenn   die   Stimme 


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Liebessehnsucht  oder  Haß,  Flehen  oder  Fordern, 
Ermunterung  oder  Warnung  ausdrückt.  Mir  kam 
dabei  immer  jener  Volksstamm  Nordostsibiriens 
in  den  Sinn,  bei  deren  Sprache  ebenfalls  ein  und 
dasselbe  Wort  ganz  verschiedene  Begriffe  aus- 
drückt, je  nach  dem  es  betont  wird. 

Unstreitig  besitzen  einige  der  Vögel  den  Hang 
zum  Spielen.  Nur  zu  ihrer  Lust  offenbar  er- 
heben sich  um  die  Mittagszeit  manche  der  herr- 
lichen Flieger  so  hoch  über  die  Insel  in  die  Luft, 
daß  sie  kaum  noch  dem  Auge  erreichbar  sind, 
und  ziehen  dort  stundenlang  ihre  Kreise.  Voll 
stimme  ich  den  übrigen  Beobachtern  bei,  welche 
behaupten,  daß  der  schwimmende  Flug  des 
mächtigen  Fregattvogels  in  jenen  Höhen  auch  ein 
verwöhntes  Auge  mit  Entzücken  erfüllen  kann. 
Noch  bewunderungswerter,  nicht  nur  in  Anbe- 
tracht der  Schönheit,  sondern  ich  möchte  fast 
sagen,  in  psychologischer  Hinsicht,  erschien  mir 
ein  anderes  Flugspiel,  das  auch  nur  dem  Ergötzen 
dient.  Man  sieht  ja  wohl  auch  bei  uns  eine  An- 
zahl Störche  oder  an  den  Meeresgestaden  in  den 
Frühlings-  und  Sommermonaten  Möven  zu  größerer 
Anzahl  vereinigt  kreisen;  wie  unscheinbar  aber 
ist  dieser  Lufttanz  gegenüber  der  großartigen 
Vogelquadrille,  an  welcher  wir  uns  häufig  auf 
Laysan  zu  erfreuen  Gelegenheit  hatten.  An  ziem- 
lich windstillen  und  warmen  Tagen,  meistens 
während  der  Mittagsstunden,  sahen  wir,  wie  sich 
eine  bis  dahin  ganz  unregelmäßige  Schar  von 
Seeschwalben,  bisweilen  Zehntausende  zählend, 
zu  einer  regelmäßigen  Figur  zusammen  fügte; 
sie  bildeten  einen  ungeheuer  großen  Zylinder, 
dessen  unteres  Ende  sich  bisweilen  dem  Meeres- 
spiegel näherte,  während  das  obere  zu  bedeuten- 
der Höhe  sich  in  die  Lüfte  erhob;  an  seiner 
Peripherie  bewegten  sich  Tausende  und  Aber- 
tausende von  Vögeln  scheinbar  ganz  regellos  hin 
und  her,  indem  die  einen  nach  dieser,  die  anderen 
nach  jener  Seite  hinflogen,  aber  trotzdem  herrschte 
in  dem  Ganzen  doch  Ordnung  und  Gesetzmäßig- 
keit; es  erschien  wie  die  wohl  einstudierte  Tour 
eines  Reigentanzes.  Neben  der  kreisförmigen  Be- 
wegung der  einzelnen  Vögel  auf  der  Zylinder- 
fläche rückte  nun  die  gesamte  Masse,  dabei  auch 
auf-  und  abwogend,  gleichmäßig  weiterschreitend 
vor,  meistens  dem  leichten  Zug  des  Windes 
folgend.  Jeder  Vogel  unter  all  den  Tausenden 
beschrieb  dabei,  wie  leicht  ersichtlich,  eine  außer- 
ordentlich komplizierte  Linie,  und  doch  sah  das 
Ganze  rhythmisch  und  harmonisch  aus.  Als  die 
Jungen  flügge  zu  werden  begannen,  war  es  höchst 
possierlich  mit  anzusehen,  wie  auch  diese  sich 
daran  beteiligen  wollten,  meistens  aber  ,,Kohl" 
machten  und  dann  bald  abschwenkten.  Sehr 
sonderbar  ist  es,  daß  bei  diesem  Tanz  sich  nicht 
nur  eine  Vogelart  beteiligte;  stets  war  auch 
eine  ganz  beträchtliche  Anzahl  von  Fregattvögeln 
dabei,  die  sonst  mit  den  Seeschwalben  durchaus 
nicht  auf  gutem  P'uße  lebten,  jetzt  aber  ganz 
freundschaftlich  am  Spiel  teilnahmen.  Diese 
beiden  Arten  waren  stets  in  überwiegender  Mehr- 


zahl; hin  und  wieder  sah  man  auch  vereinzelte 
Tropikvögel,  weiße  Seeschwalben  und  Tölpel 
dabei,  und  nur  ein-  oder  zweimal  flog  auch  ein 
Albatros  mit. 

So  idyllisch  ist  das  Vogelleben  aber  nicht 
immer  auf  der  Insel,  es  herrscht  auch  hier  oft 
Zank  und  Streit;  die  meiste  Veranlassung  dazu 
bietet  aber  der  große  Wegelagerer,  der  Fregatt- 
vogel; an  anderen  Wohnplätzen  soll  derselbe  ja 
wohl  wie  andere  Vögel  seine  Nahrung  aus  dem 
Meere  holen;  hier  auf  Laysan  habe  ich  ihn  nur 
als  Räuber  kennen  gelernt.  Kommen  die  Sturm- 
vögel, die  Tölpel,  die  Tropikvögel  beladen  vom 
Fischfang  zurück,  so  erspäht  sie  der  diebische 
Geselle  schon  von  weitem  und  sucht  sich  ihrer 
Beute  zu  bemächtigen.  Mit  sausendem  Flug,  dem 
an  Schnelligkeit  kein  anderer  auch  nur  entfernt 
gleichkommt,  erreicht  er  gleich  einem  Pfeil  sein 
Opfer  und  zwickt  dasselbe  mit  seinem  langen, 
scherenartigen,  vorne  hakigen  Schnabel  so  lange, 
bis  es,  um  nur  entweichen  zu  können,  seinen  ge- 
füllten Kropf  entleert;  wie  ein  Blitz  schießt  der 
Räuber  hinterher  und  hat  den  für  ihn  leckeren 
Bissen  schon  lange  in  seinem  unersättlichen  Schlund 
geborgen,  bevor  dieser  fallend  das  Meer  hätte 
erreichen  können. 

Bemerkenswert  ist  es,  daß  die  Fregatten  da- 
bei die  kleineren  Vögel  nur  zwicken  und  quälen, 
nie  aber  ernstlich  verletzen  oder  töten,  denn  sonst 
würden  sie  sich  ja  ihrer  Ernährer  berauben.  Voll 
Mitleid  sah  ich  oft,  wie  Tropikvögel,  die  vielleicht 
halbetagelang  fleißig  gefischt  hatten,  unmittelbar 
vor  der  Insel  trotz  aller  ihrer  Mühen  und  Künste, 
dem  Räuber  zu  entkommen,  ihm  schließlich  doch 
den  Tribut  zahlen  mußten  und  nun  mit  leerem 
Kropf  zu  ihrem  Jungen  kamen;  traurig  kauerten 
sie  sich  neben  ihm  hin  und  das  hungernde  Kleine 
sah  verwundert  auf  die  Mutter,  die  noch  immer 
mit  der  ersehnten  Mahlzeit  zögerte;  es  wurde  un- 
geduldig und  in  seinem  Begehren  drängender, 
bis  es  dann  schließlich  statt  der  erhofi"ten  Atzung 
einige  derbe  Schnabelhiebe  erhielt.  So  hatte  die 
Familie  einen  traurigen  Tag;  das  Junge  einen 
hungrigen  Magen  und  die  Alte  größere  Arbeitslast. 

Ich  möchte  die  Schilderung  der  Vogelwelt 
Laysans  mit  einigen  Episoden  ausdemAlbatros- 
leben  beschließen.  Während  unserer  Anwesenheit 
waren  die  kleinen,  anfangs  noch  ganz  hilflosen 
Jungen  beträchtlich  herangewachsen,  und  hinter 
jedem  Grasbusch  sah  man  das  gutmütige  Gesicht 
eines  wohlgenährten  Albatroskindes,  das  durch 
die  Daunenhaube  auf  seinem  Kopf,  namentlich 
dann,  wenn  der  Wind  hineinblies,  einen  recht 
drolligen  Anblick  gewährte.  Eines  sah  genau 
ebenso  aus  wie  das  andere,  wenigstens  für  unser 
Auge,  wenn  auch  nicht  für  das  der  Mutter;  denn 
kam  diese  reich  beladen  vom  Meer  zurück,  so 
erspähte  sie  bald  unter  all  den  Tausenden  ihr 
richtiges  Kind,  und  sollte  dieses  auch  vorgezogen 
haben,  lieber  etwas  spazieren  zu  gehen,  als  an 
dem  gewohnten  Platz,  wo  seine  Wiege  stand,  zu 
warten.     Bisweilen  war  es  sehr  komisch  mitanzu- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sehen,  wie  sich  um  solch  eine  Nahrung  bringende 
Albatrosmutter  eine  ganze  Anzahl  von  Jungen 
sammelte  und  von  ihr  Speise  erbettelte;  eine 
Zeit  hindurch  ließ  sich  die  Alte  das  ruhig  ge- 
fallen ,  dann  aber  hob  sie  gleichsam  entrüstet 
über  die  Dreistigkeit  der  heutigen  Jugend  Hals 
und  Kopf  senkrecht  empor,  um  einen  heulenden 
Klagelaut  auszustoßen  und  dann  sofort  die  sie 
bedrängende  Schar  mit  derben  Schnabelhieben 
zu  züchtigen ;  jetzt  erst  hatte  sie  Raum ,  um  ihr 
eigenes  Kind  zu  sättigen,  war  das  erfolgt,  so 
kauerte  sie  sich  neben  ihm  nieder  und  einige 
Stunden  hindurch  erfreute  sich  dann  die  Familie 
einer  behaglichen  Ruhe  im  glücklichen  Beisammen- 
sein. Allmählich  wuchsen  den  Jungen  immer 
mehr  die  Schwingen  und  täglich  übten  sie  deren 
Kraft,  sie  entfaltend  und  im  laufenden  Flug  über 
den  Sand  dahineilend.  Gleichzeitig  erwachte  in 
ihnen  auch  die  Sehnsucht  nach  dem  Meer,  täglich 
rückten  sie  ihm  ein  Stückchen  näher  und  erstaun- 
lich war  es  dabei  zu  beobachten,  wie  auch  die- 
jenigen, welche  von  ihrem  Standort  aus  das  Ge- 
stade nicht  sehen  konnten,  dennoch  stets  den 
kürzesten  Weg  zu  demselben  einschlugen.  Hatten 
sie  erst  den  Strand  erreicht,  so  hielt  es  sie  auch 
nicht  länger  zurück,  sich  dem  ersehnten  Element 
anzuvertrauen.  Häufig  genug  mußten  sie  dieses 
erste  Wagnis  mit  dem  Leben  bezahlen;  nament- 
lich an  solchen  Stellen,  wo  an  den  steilen  Ufern 
die  See  mächtig  brandete,  findet  man  nach  schwe- 
rem Wetter  oft  die  Leichen  von  nicht  ganz  flüggen 
Albatrossen.  Überblickt  man  das  Leben  dieses 
Vogels  auf  jener  Insel,  so  wird  man  geradezu 
dazu  gedrängt,  es  mit  menschlichen  Verhältnissen 
zu  vergleichen.  Diejenigen ,  welche  zuerst  dort 
ankommen,  können  sich  die  besten  Plätze  aus- 
wählen, an  denen  sie  ihre  Jungen  leicht  und  sicher 
aufzuziehen  imstande  sind ;  diese  gedeihen  prächtig 
und  treten  wohlgerüstet  in  das  Leben  hinein. 
(Berlin  West !)  Die  letzten  aber,  welche  sich  mit 
oder    ohne   Schuld    verspätet   haben,   müssen  mit 


den  schlechtesten  Wohnplätzen  vorlieb  nehmen, 
oft  nur  mit  dem  bei  trockenem  Wetter  aus  schie- 
rem Salz  bestehenden  Ufer  der  Lagune,  das  nach 
kurzem  Regen  mit  einem  scharfen,  laugenartigen 
Schlamm  bedeckt  ist.  Hier  sieht  man  auch  die 
größte  Zahl  von  verkommenen  Vogelkindern  mit 
struppigem  Gefieder  und  wunden,  von  der  Salz- 
sohle angeätzten  Beinen,  hier  herrscht  die  größte 
Kindersterblichkeit,  und  Hunderte  von  Leichen 
liegen  umher.  (Ärmlichste  Kellerwohnungen  der 
Großstadt.)  Nicht  selten  geht  aber  die  Nach- 
kommenschaft auch  zugrunde,  wenn  die  Eltern 
selbst  zu  schwer  im  Kampf  ums  Dasein  zu  ringen 
haben.  Stürme  verzögern  ihre  Wiederkunft,  ver- 
schlagen sie  in  ferne  Gegenden,  und  kommen  sie 
dann  nach  Hause  zurück,  so  finden  sie  ihre  Kleinen 
verhungert  und  verdurstet,  wenn  die  Wogen  ihnen 
selbst  nicht  sogar  ein  frühzeitiges  Grab  bereiteten. 
So  erscheint  es  auch  hier,  als  ob  Reichtum  und 
Armut,  Glück  und  Unglück  auf  der  Erde,  wie 
dieselbe  nun  einmal  ist,  teils  selbstverschuldet, 
teils  die  notwendige  Folge  von  Lebensbedingungen 
ist,  denen  alle  Organismen  unterworfen  sind, 
und  welche  kraft  der  ihnen  innewohnenden  Natur- 
gesetze über  diesen  stehen;  vor  ihnen  müssen 
sie  sich  beugen,  ihnen  können  sie  nicht  entrinnen, 
wie  sehr  sich  ein  höheres  Gerechtigkeitsgefühl 
auch  darüber  empören  mag." 

Man  wird  es  begreiflich  finden,  daß  es  mich 
gedrängt  hat,  diese  wundervollen  Schilderungen 
eines  einzigartigen  Vogellebens  der  Vergessenheit 
zu  entreißen  und  ihnen  eine  weitere  Verbreitung 
zu  geben,  weil  sie  einerseits  dem  Tierpsychologen 
eine  Fülle  von  Anregungen  und  wertvollste  Be- 
obachtungen bieten  und  andererseits  dem  Natur- 
freund so  reizvolle  Bilder  einer  menschheitsfernen, 
ungestörten  Vogeloase  in  ihrer  ganzen  Ursprüng- 
lichkeit vor  die  Seele  zaubern,  wie  sie  uns  bisher 
in  dieser  besonderen  Art  kaum  je  gegeben  wor- 
den sind. 


Bücherbesprechungen. 


Geiger,   Moritz,    Die  philosophische   Be- 
deutung der  Relativitätstheorie.   Vor- 
trag, geh.  im  I.  Zyklus  gemeinverständl.  Einzel- 
vorträge, veranstaltet  von  der  Universität  Mün- 
chen.    Halle  a.  S.  192 1,  Max  Niemeyer.     5  M. 
Eine  ebenso  kurze,  wie  vortreffliche  Einführung 
nicht    nur   in    das    im    Thema   genannte  Problem, 
sondern  in  die  verschiedenen  Grundrichtungen  der 
modernen  Erkenntnistheorie  überhaupt.    Der  Verf 
arbeitet  sehr  fein  die  verschiedenen  Einstellungen 
heraus,  durch  die  der  Positi  vismus,  der  Rea- 
lismus   und  der   Idealismus  dem  philosophi- 
schen Gehalt  der  Relativitätstheorie  teils  entgegen- 
kommen, teils  sich  mit  ihm  abzufinden  versuchen. 
Ich  möchte  meinen,    daß    die  rein  sachliche  Dar- 
stellung jener  philosophischen  Richtungen  dadurch. 


daß  sie  ständig  auf  den  Lehrgehalt  einer  spezial- 
wissenschaftlichen, wenn  auch  reich  mit  philoso- 
phischem Geiste  erfüllten  Theorie  sich  bezogen 
fühlen  muß,  an  Klarheit  viel  mehr  gewonnen  hat, 
als  wenn,  wie  es  üblich  ist,  jene  Richtungen  aus 
sich  selbst  entwickelt  worden  wären,  und  möchte 
wünschen,  daß  diese  Methode  der  Darstellung 
auch  filr  rein  erkenntnistheoretische  Arbeiten  mehr 
in  Aufnahme  kommen  möchte.  Eine  Fülle  von 
Mißverständnissen  und  gemachten  Problemen 
würden  dann  entweder  gar  nicht  auftauchen  oder 
doch  dem  kritischen  Blick  viel  weniger  leicht 
entgehen. 

Diese  unsere  freudige  Zustimmung  zu  der 
klaren  Darstellungsart  des  Verf.  und  die  ebenfalls 
gern    gewährte  Anerkennung    seines    Rechts    auf 


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Verteidigung  seines  idealistisch  -  aprioristischen 
Standpunkts  darf  uns  aber  nicht  hindern,  manche 
seiner  Ergebnisse  für  sachlich  bedenklich  und 
objektiv  unrichtig  zu  halten.  Der  Positivismus 
kommt  z.  B.  unseres  Erachtens  viel  zu  schlecht 
weg.  Der  Verf.  sieht  nur  sein  negatives  Gesicht. 
Allein  es  muß  doch  auffallen,  daß  man  diese 
philosophische  Richtung  eben  Positivismus 
und  nicht  Negativismus  heißt.  Unseres  Er- 
achtens sind  Positivismus  und  Apriorismus  durch- 
aus nicht  unvereinbar,  obschon  Mach  und  seine 
Schule  das  in  der  Tat  annehmen.  Bezeichnend 
für  die  Situation  erscheint  uns  ein  Wort  eines 
so  ausgesprochenen  Aprioristen  wie  Husserl, 
der  sich  einmal  als  „den  echten  Positivisten"  be- 
zeichnet und  dem  Geiger,  wenn  ich  nicht  irre 
und  wie  mir  auch  aus  seinen  Schlußsätzen  her- 
vorzuleuchten scheint,  doch  auch  recht  nahesteht. 
Ich  wenigstens  sehe  in  jener  Äußerung  Hu sserls 
mehr  als  eine  geistreiche  Entgleisung  und  möchte 
glauben,  daß  die  Phänomenologie  Husserls, 
die  ich  in  der  vorliegenden  Form  prinzipiell  für  ver- 
fehlt und  zu  einseitig  an  Problemen  der  Psychologie, 
dieser  im  Prinzipiellen  immer  noch  allzu  unfertigen 
Wissenschaft,  orientiert  halte,  dadurch,  daß  sie 
sich  mehr  mit  dem  positiven  Geiste  des  Positi- 
vismus erfüllt,  jene  Gestalt  annehmen  könnte,  die 
man  von  einer  Erkenntnistheorie  der  modernen 
mathematischen  Naturwissenschaft  zu  verlangen 
berechtigt  ist.  Husserl  ist  meines  Erachtens 
von  diesem  königlichen  Wege  der  Erkenntnis- 
theorie, den  er  mit  unübertrefi  lieber  Klarheit  im 
ersten  Bande  seiner  „Logischen  Untersuchungen" 
(2.  Aufl.,  Halle  191 3)  gezeichnet  hatte,  in  seinen 
späteren  Schriften  leider  dadurch  wieder  abge- 
wichen und  in  psychologistische  Netze  geraten, 
daß  er  seine  Methode,  statt  sie  an  der  logisch 
charaktervollen  Physik  zu  versuchen,  an  psycho- 
logischen Problemen  versuchte,  die  in  ihrer  er- 
kenntniskritischen Aufhellung  doch  gänzlich  von 
derjenigen  der  Physik  und  Physiologie  abhängig 
sind.  (Vgl.  des  Rezensenten  Arbeiten  in  Heft  50, 
1920  und  Heft  25,   192 1   dieser  Zeitschrift.) 

Doch  das  nebenbei.  Wie  sehr  Geiger  auch 
von  der  unseres  Erachtens  falschen  Richtung  der 
Phänomenologie  eingenommen  ist,  scheint  mir 
aus  folgendem  Satz  der  vorliegenden  Schrift  her- 
vorzugehen (S.  39):  „euklidisch  ist  der  phäno- 
menale, der  anschauliche  Raum,  nichteuklidisch 
die  transphänomenale  vierdimensionale  Mannig- 
faltigkeit". Nun  ist  es  gewiß  richtig,  daß  ein  und 
derselbe  Gegenstand  Objekt  verschiedener  Wissen- 
schaften sein  kann,  aber  doch  nur  dann,  wenn 
diese  Wissenschaften  in  ihrem  logischen  Charakter 
verschieden  sind,  ganz  differente  Ziele  verfolgen. 
So  kann  ein  und  dasselbe  Buch,  etwa  eine  wert- 
volle Inkunabel,  Gegenstand  kunstgewerblicher 
Betrachtungen,  wie  auch  wirtschaftlicher  und  sogar 
rein  politischer  Interessen  sein.  Nicht  aber  sind 
zwei  Wissenschaften  möglich ,  die  beide  das 
„Wesen",  z.  B.  des  Raumes,  wie  es  als  solches  ist, 
aufhellen  wollen  und  dabei  zu  verschiedenen  Re- 


sultaten kommen.  Eine  von  beiden  Raumauffas- 
sungen ist  dann  unbedingt  falsch.  Dabei  ist  es 
ganz  einerlei,  ob  man  den  Raum  einmal  „Eukli- 
discher Raum",  ein  andermal  „vierdimensionales 
Kontinuum"  heißt.  Die  Rekonstruktion  verschie- 
dener „Wesen",  wo  es  sich  doch  nur  um  ver- 
schiedene Worte  handelt,  ist  mir  immer  typisch 
für   die   sog.  Phänomenologie  erschienen. 

Obschon  ich  den  auch  im  obigen  Zitat  ge- 
machten Versuch  Geigers,  Kants  Lehren  von 
der  Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit  den 
Ergebnissen  der  Relativitätstheorie  gegenüber  zu 
retten,  für  bedeutend  geistvoller  halte,  als  die 
ähnlichen  Bemühungen  von  S e  11  i n  und  Schnei- 
der, muß  ich  ihn  doch  meines  Erachtens  als 
ebenso  verfehlt  bezeichnen.  Ich  glaube  nicht,  daß 
die  in  dieser  Frage  vertretene  Position  Reichen- 
bachs  ernsthaft  widerlegbar  ist. 

Ganz  unverständlich  ist  mir  auch,  wie  Geiger 
das  phänomenale  Farbenring -„Gesetz"  a  priori 
nennen  kann.  Diese  phänomenalen  Aprioris  sind 
doch,  wie  Geiger  selbst  behauptet,  nur  für  den 
gültig,  der  sie  sieht  1  (S.  32  unten.)  Wie  ein 
solches,  subjektiv  bedingtes  Apriori,  ein  „hölzernes 
Eisen",  wie  ich  meine,  eine  für  alle  gültige  objek- 
tive Wissenschaft,  die  doch  auch  G  e  i  g  e  r  schaffen 
will,  begründen  helfen  soll,  das  verstehe  ich  ein- 
fach nicht.  Hier  scheinen  mir  verschiedene  logi- 
sche Dinge  in  die  Form  desselben  „Wesens"  ge- 
preßt zu  -sein. 

Doch  genug  der  sachlichen  Polemik.  Daß  sie 
an  der  Hand  des  Geiger  sehen  Schriftchens  mög- 
lich und  notwendig  war,  ist  mir  ein  treffliches 
Omen  für  ihren  zu  eigenem  Denken  anregenden 
Wert.  Wir  wünschen  ihr  recht  viele  und  recht 
—  kritische  Leser. 

Adolf  Meyer,  Hamburg. 


Schmidt,  Prof.  Dr.  Heinrich,  Philosophi- 
sches Wörterbuch.  6.  verb.  Aufl.  71. — 80. 
Tausend.  Stuttgart  192 1,  Verlag  Alfred  Kröner. 
Wenn  ein  „philosophisches  Wörterbuch"  in 
einer  so  ungeheueren  Auflage  erscheint ,  so  muß 
dieser  Tatsache  ohne  Zweifel  etwas  tieferes  zu- 
grunde liegen  als  ein  gewöhnliches  Unterhaltungs- 
bedürfnis des  Publikums.  Der  Verf  meint,  daß 
das  Interesse  für  Philosophie  in  weitesten  Kreisen 
des  Volkes  erheblich  gestiegen  sei,  was  nicht  be- 
stritten werden  soll.  Aber  der  Erfolg  eines  Buches 
hängt  nicht  allein  vom  Publikum  ab,  sondern  auch 
vom  Autor.  Es  ehrt  das  deutsche  Publikum,  daß 
es  an  einem  philosophischen  Buche  Interesse 
findet,  dazu  noch  an  einem  „Wörterbuche",  aber 
es  ehrt  auch  den  Autor,  daß  er  es  verstanden 
hat,  der  „großen  Masse"  zum  Verständnis  einer 
scheinbar  so  aristokratischen  Materie,  wie  es  die 
Philosophie  ist,  zu  verhelfen.  In  keinem  anderen 
Lande,  als  dem  der  „Dichter  und  Denker"  dürfte 
ein  Buch  mit  einem  so  nüchternen  Titel  so  be- 
gehrt sein,  und  wenn  man  aus  Leserkreisen  hört, 
daß  viele  das  „Wörterbuch"  als  Reiselektüre,   als 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


3ii 


ständiges  Taschenbuch  mit  sich  herumtragen, 
dann  kann  der  Autor  zufrieden  sein,  und  er  wird 
es  sich  gerne  gefallen  lassen,  wenn  der  Kritiker 
hier  und  da  etwas  auszusetzen  findet.  —  Das 
Buch  ist  ohne  Zweifel  tendenziös  im  Sinne  eines 
Monismus,  wie  ihn  der  Autor  auffaßt,  gestaltet, 
was  natürlich  in  den  einzelnen  Artikeln  stark 
zum  Ausdruck  gelangt.  Ob  aber  das  Geheimnis 
des  Erfolges  in  dieser  Tendenz  liegt,  möchte  ich 
bezweifeln.  Im  Vorwort  zur  zweiten  Auflage 
gibt  der  Verf  zu,  daß  die  erste  Auflage  wohl 
etwas  zu  subjektiv  geraten  sei;  nach  Auffassung 
des  Ref.  ist  selbst  die  vorliegende  Auflage  immer 
noch  etwas  zu  „subjektiv"  und  die  nächste  Auf- 
lage sollte  dem  Bedürfnis  unserer  Zeit  nach  dem 
Transzendenten  etwas  mehr  Rechnung  tragen. 
Der  Verf.  braucht  seinen  eigenen  Standpunkt 
dabei  nicht  zu  unterdrücken  oder  zu  verschleiern, 
und  die  Gefahr,  als  bloßer  Kompilator  zu  gelten, 
besteht  auch  dann  nicht,  wenn  gewisse  von  der 
Ansicht  des  Verf.  abweichende  Meinungen  ob- 
jektiv referiert  werden.  —  Bei  der  großen  Be- 
deutung, die  in  dem  Werke  den  naturwissen- 
schaftlichen Forschungen  und  der  Naturphilosophie 
eingeräumt  wird,  sollten  Probleme  wie  der  Vita- 
lismus z.  B.  nicht  allzu  einseitig  im  materialisti- 
schen oder  chemisch-physikalischen  Sinne  behan- 
delt werden.  Vergeblich  hat  Ref.  nach  dem 
Namen  Driesch  gesucht,  Reinke  steht  unter 
dem  Stichwort  Dominante,  aber  nicht  als  eigenes 
Stichwort.  Engramm  und  Mneme  findet  man, 
aber  Semon  fehlt;  Euphorismus  ist  Stichwort, 
aber  der  Schöpfer  dieser  Lehre,  Müller- 
Lyer  fehlt.  Bei  der  nächsten  Auflage  sollte 
der  Verf.  die  Namen  aller  Autoren,  die  überhaupt 
in  dem  Buche  vorkommen,  ins  Alphabet  auf- 
nehmen, wenigstens  ganz  kurz  unter  Hinweis  auf 
den  zugehörigen  Artikel.  Der  Raum  kann  leicht 
gewonnen  werden.  —  Unter  dem  Stichwort  Spiri- 
tualismus steht,  daß  dieser  Begriff  „häufig  auch 
als  Idealismus  bezeichnet"  wird,  und  als  Vertreter 
des  Spiritualismus  wird  u.  a.  auch  Schopen- 
hauer genannt.  Schopenhauer  aber  identi- 
fiziert diese  Begriffe  nicht  und  erklärt  sich  gegen 
den  Spiritualismus.  —  Unter  dem  Stichwort  „Kon- 
vergenz" ist  auf  die  Fischähnlichkeit  der  Wale 
hingewiesen;  es  wäre  wünschenswert,  auch  ein 
Beispiel  aus  der  Botanik  zu  nennen,  wie  Kakteen 
und  sukkulente  Euphorbiazeen.  —  Bei  der  Be- 
handlung der  „Entwicklungsmechanik"  dürften 
neben  Roux  die  Namen  Goebel,  Klebs  und 
Vöchting  nicht  fehlen,  da  diese  Botaniker  vor 
Roux  zum  Teil  auf  dem  gleichen  Gebiet  tätig 
waren,  wenngleich  sie  eine  andere  Terminologie 
haben.  Bei  „Instinkt"  sollte  auf  Semon  und 
Schopenhauer  hingewiesen  werden,  weil  die 
Lehren  dieser  beiden  ohne  Frage  vielen  das  Ver- 
ständnis des  Instinktes  erleichtern.  Verdienstlich 
wäre  auch  bei  „Helmholtz"  ein  Hinweis  auf 
Schopenhauer,  der  Helmholtz  des  Plagiats 
bezichtigt.  —  Doch  ich  möchte  meinen  Wunsch- 
zettel hier  nicht  erweitern,    um  nicht  den  Schein 


zu  erwecken,  als  erkenne  ich  nicht  die  große 
Arbeit  an,  die  in  diesem  kleinen  Buche  steckt. 
Nur  den  einen  Wunsch  will  ich  noch  äußern, 
nämlich  daß  es  dem  Verf  bald  vergönnt  sein 
möge,  das  hunderttausendste  Exemplar  in  die 
Welt  zu  setzen.  Wächter. 


Dürken ,  Bernhard  und  Salfeld,  Hans,  Die 
Phylogenese.  Fragestellungen  zu  ihrer 
exakten  Erforschung.  Berlin  192 1,  Bornträger. 
18  M. 

Zoologie  und  Paläontologie  sind  zwei  Forschungs- 
gebiete, die  auf  breiter  Front  zusammenstoßen 
und  stellenweise  sich  gegenseitig  überdecken. 
Dies  gilt  nicht  allein  für  den  rein  morphologischen 
Teil,  sondern  in  demselben  Maße  für  den  bio- 
logischen, wenn  auch  bei  dem  letzteren  die  Zu- 
sammenhänge erst  seit  verhältnismäßig  kurzer 
Zeit  berücksichtigt  werden.  Besonders  Fragen 
der  Abstammungslehre,  der  Phylogenese,  können 
nur  dann  eine  zuverlässige  Lösung  finden,  wenn 
die  Vertreter  der  beiden  Wissenszweige  zusammen- 
arbeiten, sich  gegenseitig  unterstützen  und  die 
einen  die  Resultate  der  anderen  verwerten.  Dies 
ist  bis  jetzt  nicht  immer  geschehen.  Um  so  mehr 
ist  ein  Schritt  in  dieser  Richtung  zu  begrüßen. 
In  zwei  getrennten  Abschnitten  legen  die  beiden 
Verff.  ihre  Anschauungen  über  die  hierher  ge- 
hörenden Fragen  dar. 

Dürken  stellt  sich  die  Aufgabe,  bestimmte 
Seiten  des  Abstammungsproblems  zu  betrachten 
und  Fragestellungen  zu  formulieren,  die  auf 
experimentellem  Weg  zu  fassen  sind.  So  sind 
zwei  Hauptprobleme  zu  erkennen:  das  Problem 
der  Mannigfaltigkeit  der  Formen  und  das  Problem 
der  Zweckmäßigkeit.  Beide  enthalten  zwei  Teil- 
fragen, nämlich  die  Betrachtung  des  rein  for- 
malen Ablaufs  der  Entstehung  von  Mannigfaltig- 
keit bzw.  Zweckmäßigkeit  und  das  Suchen  nach 
der  Ursache  hierfür.  Im  weiteren  wird  nur  das 
Problem  der  Mannigfaltigkeit,  zuerst  in  bezug  auf 
seine  formale  Seite,  dann  nach  der  kausalen 
erörtert. 

In  der  rezenten  Fauna  gelangt  eine  außer- 
ordentlich große  phänotypische  Mannigfaltigkeit 
zur  Beobachtung.  Ein  bestimmter  Phänotypus 
entsteht  als  das  Produkt  aus  Anlage  (Genotypus) 
und  Milieueinwirkung.  In  der  Generationenfolge 
kann  erbliche  Mannigfaltigkeit  des  Phänotyps 
durch  Änderung  des  Genotyps,  sei  es  durch 
Mutation,  sei  es  durch  Bastardierung  (Neukombi- 
nation von  Erbfaktoren),  in  gewissen  Fällen  wohl 
auch  indirekt  durch  Einwirkung  eines  veränderten 
Milieus  zustande  kommen.  Da  für  das  Zustande- 
kommen eines  bestimmten  Phänotyps  in  erster 
Linie  der  Genotypus  von  ausschlaggebender  Be- 
deutung ist,  so  müssen  auch  die  Genotypen  der 
rezenten  Fauna  außerordentlich  mannigfaltig  sein, 
wobei  sowohl  quantitative  als  qualitative  Diffe- 
renzen vorkommen  mögen.  Verf.  unterscheidet 
zwischen  karyogener  und  plasmogener  Vererbung. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  22 


Unter  karyogener  Vererbung  versteht  er  die  Ver- 
erbung durch  feste  Gene,  die  in  Chromosomen 
lokalisiert  und  gegen  äußere  Einwirkungen  von 
großer  Widerstandsfähigkeit  sind.  Die  plasmo- 
genen  Vererbungsträger  sind  diffus  im  Cytoplasma 
verteilt  und  wenigstens  zum  Teil  leicht  veränder- 
lich. Verf.  stellt  nun  eine  Hypothese  des  Ver- 
laufs der  Phylogenese  auf,  die  eine  Grundlage 
für  die  Aufstellung  bestimmter,  exakten  Methoden 
zugänglichen  Fragen  bilden  soll.  Danach  ist  der 
ganze  Komplex  der  Erbträger  von  einem  voraus- 
zusetzenden Ausgangsstadium  aus  allmählich  ent- 
standen. Zunächst  treten  Gen-Vorstufen  in  plas- 
mogener  Form  auf  die  entweder  noch  ganz  un- 
wirksam sein  können,  oder,  wenn  sie  einen  ge- 
wissen Schwellenwert  fast  erreicht  haben,  pseudo- 
progressive Formen  bedingen.  Ist  der  Schwellen- 
wert erreicht,  so  ist  ein  solcher  plasmogener 
Erbfaktor  zwar  in  den  dauernden  Bestand  der 
Keimzellen  eingegegangen,  jedoch  noch  nicht  als 
Gen ,  er  wird  dementsprechend  nicht  mendeln. 
Die  zweite  Schwelle  liegt  da,  wo  ein  plasmogener 
Vererbungsträger  in  den  karyogenen  Komplex 
übergeht,  also  zum  eigentlichen  Gen  wird.  Stets 
wird  die  Erreichung  des  Schwellenwertes  im 
Phänotypus  eine  Salto  -  Mutante  hervorrufen. 
Werden  die  Merkmale  immer  mehr  durch  eigent- 
liche Gene  vererbt,  so  wird  die  Starrheit  des 
Organismus  immer  größer:  es  treten  Exzessiv- 
formen auf,  wie  sie  von  vielen  Tiergruppen  be- 
kannt sind.  Die  andere  Seite  des  Problems,  näm- 
lich die  Frage  nach  der  Ursache,  führt  zu  einer 
Besprechung  des  Problems  der  Vererbung  er- 
worbener Eigenschaften.  Die  Stellungnahme  des 
Verfs  ist  aus  dem  Vorstehenden  zu  entnehmen. 
Ein  Arbeitsprogramm  bildet  den  Abschluß  dieser 
Betrachtungen. 

Auf  das  Verdienst  der  Arbeit  wurde  eingangs 
hingewiesen.  Aus  der  Inhaltsangabe  ist  jedoch 
zu  ersehen,  daß  des  Verf.s  Ansichten  über  Ver- 
erbung und  Erscheinungen,  die  nicht  unter  diesen 
Begriff  fallen,  sich  mit  den  sonst  vorherrschenden 
nicht  decken.  So  erscheint  es  zweifelhaft,  ob  die 
aus  solchen  Anschauungen  gewonnenen  Vrage- 
stellungen  die  Forschung  erheblich  fördern. 

Auch  der  kurze  Abschnitt  Salfelds  soll  ein 
Programm  sein  und  Fragestellungen  der  Paläonto- 
logie zum  Abstammungs-  und  Vererbungsproblem 
bringen.  Die  Grundlage  bilden  teils  eigene  Ar- 
beiten, teils  solche  von  Schülern.  Der  Verf.  ver- 
sucht Ergebnisse  und  Begriffe  der  Vererbungslehre 
bei  paläontologischen  Untersuchungen  zu  ver- 
wenden. Verschiedene  Tiergruppen  (besonders 
Ammonoideen)  wurden  unter  exaktester  Berück- 
sichtigung des  „Zeitfaktors"  gesammelt    und  nach 


Mutationsreihen  geordnet.  Es  erscheint  jedoch 
äußerst  fraglich  wie  weit  das  so  gewonnene  Bild 
den  tatsächlichen  Vorgängen  entspricht.  Die 
Erblichkeitsuntersuchungen  der  letzten  20  Jahre 
haben  gezeigt,  wie  vorsichtig  man  mit  der  An- 
nahme von  Mutationen  sein  muß  und  daß  Bastar- 
dierung eine  viel  größere  Rolle  bei  der  Neubildung 
von  Formen  spielt.  Ob  Mutation  oder  Bastar- 
dierung vorliegt,  wird  jedoch  bei  fossilem  Material 
sehr  schwer  zu  entscheiden  sein.  In  den  Teil- 
fragen befinden  sich  die  Ausführungen  in  starker 
Anlehnung  an  die  Hypothesen  Dürkens,  so 
daß  das  über  diese  Gesagte  hier  in  verstärktem 
Maße  gilt.  Otto  Kuhn. 


Wien,  W.,  Aus  der  Welt  der  Wissenschaft. 

320  Seiten  mit  3  Fig.  im  Text.     Leipzig  192 1, 

J.  A.  Barth.  Geb.  60  M. 
Es  handelt  sich  hier  um  eine  Sammlung  von 
Vorträgen  und  Aufsätzen  Wiens  aus  älterer  und 
jüngerer  Zeit,  welche  allen,  die  Interesse  für 
wissenschaftliche  Fragen  haben,  hochwillkommen 
sein  wird.  Sie  gibt  einen  jedem  Gebildeten  ver- 
ständlichen, bis  in  die  Tiefen  führenden  vortreff- 
lichen Einblick  in  die  wichtigsten  Probleme,  die 
die  neuere  Physik  beschäftigen  und  in  deren  Zu- 
sammenhang mit  allgemeineren  Fragen  der  mensch- 
lichen wissenschaftlichen  und  praktischen  Be- 
tätigung. 

An  zwei  Vorträge  allgemeinen  Inhalts,  die  sich 
mit  der  Stellung  der  Universitäten  im  deutschen 
Geistesleben  und  den  Beziehungen  der  Physik  zu 
anderen  Wissenschaften  beschäftigen,  reihen  sich 
5  Aufsätze  über  wissenschaftliche  Persönlichkeiten, 
nämlich  Röntgen,  den  Zoologen  Boveri, 
Helmholt z,  den  im  Kriege  gefallenen  Würz- 
burger Physiker  Mathias  Cantor  und  den 
französischen  Mathematiker  H.  P  o  i  n  c  a  r  e.  Es 
folgen  8  wissenschaftliche  Vorträge  speziellen  In- 
halts, die  teils  aus  der  Vorkriegszeit  stammen, 
teils  auf  Veranlassung  der  Heeresleitung  im  Kriege, 
teils  in  der  Nachkriegszeit  gehalten  worden  sind. 
Ref  möchte  besonders  den  letzten  Vortrag  über 
„die  Relativitätstheorie  vom  Standpunkt  der  Physik 
und  Erkenntnislehre"  hervorheben,  den  er  als  eine 
der  vortrefflichsten  kurzen,  durchweg  rein  sach- 
lichen kritischen  Betrachtungen  der  Relativitäts- 
theorie bezeichnen  muß,  die  ihm  bis  jetzt  be- 
kannt geworden  sind.  Eine  größere  Zahl  von 
Anmerkungen,  die  dem  Literaturnachweis  und  der 
Ergänzung  der  älteren  Vorträge  dienen,  bildet 
den  Abschluß  des  Bandes,  dem  weiteste  Ver- 
breitung zu  wünschen  ist.  A.  Becker. 


Inhalt:  VV.  Wächter,  August  Schulz  f.  S.  297.  v.  Buttel-Reepen,  Das  Vogelleben  auf  dem  Koralleneiland  Laysan 
im  Stillen  Ozean.  S.  301.  —  Bücberbesprechungen:  M.  Geiger,  Die  philosophische  Bedeutung  der  Relativitäts- 
theorie. S.309.  H. Schmidt,  Philosophisches  Wörterbuch.  S.310.  B.  Dürken  und  H.  Salfeld,  Die  Phylogenese. 
S.   311.      \V.  Wien,  Aus  der  Welt  der  Wissenschaft.  S.  312. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an   Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  4.  Juni  1922. 


Nummer  33. 


Goethes  Naturanschauung  in  seinen  Gedichten. 


Von  Wim.  Troll-MÜQchen. 


„Wer  zu  mir   kommt,    muß    versuchen    sich 
über  sich  selbst  hinauszumuten".     Goethe. 

Es  scheint,  daß  die  Gene  für  Naturforschung 
und  Poesie  nicht  weit  auseinanderhegen  und  des- 
halb gleichen  Ausbildungsbedingungen  unterliegen. 
So  könnte  man  sich  wenigstens  die  eigenartige 
Erscheinung  erklären,  daß  sowohl  Adalbert 
C  h  a  m  i  s  s  o ,  der  Entdecker  des  Generations- 
wechsels bei  den  Salpen,  als  auch  Goethe  sich 
einen  großen  Namen  in  der  Geschichte  der  Natur- 
wissenschaften gemacht  haben.  Wie  dem  auch 
sei,  jedenfalls  hat  sich  in  Goethe  eine  groß- 
artige und  einzig  dastehende  Verbindung  zwischen 
Naturforscher  und  Dichter  vollzogen.  Seiner  uni- 
versellen Veranlagung  und  seinem  stets  aufs  Ganze 
gerichteten  Blick  entsprechend  ist  er  in  der  Be- 
trachtung der  Natur  nicht  bei  Einzelheiten  stehen 
geblieben,  sondern  verarbeitete  seine  Anschau- 
ungen zu  einem  großen  naturphilosophischen  Sy- 
stem, das  er  teils  in  seinen  Schriften  niederlegte, 
teils  aber  poetisch  gestaltete  und  in  seine  größten 
Dichtungen  aufnahm. 

Wie  in  den  Systemen  der  großen  Philosophen, 
so  stehen  sich  auch  in  dem  Weltbild  von  Deutsch- 
lands größtem  dichterischem  Genius  zwei  Welten 
gegenüber,  die  Welt  der  Ideen,  des  Geistes  und 
das  Reich  der  Erfahrung,  der  Natur.  Es  ist  ein 
beinahe  selbstverständlicher  Ausfluß  von  Goethes 
in  allem  nach  Harmonie  und  Ausgeglichenheit 
trachtendem  Wesen,  daß  er  die  große  „Kluft,  die 
zwischen  Idee  und  Erfahrung  befestigt  scheint", 
daß  er  „diesen  Hiatus  zu  überwinden"  strebte; 
aber  nun  nicht  etwa  in  der  Weise,  daß  die  eine 
Seite  der  Wirklichkeit  auf  Kosten  der  anderen 
bevorzugt  wurde,  also  durch  Einmünden  in  eine 
einseitig-idealistische  Weltanschauung.  Davor  be- 
wahrte ihm,  der  stets  darnach  strebte,  „daß  alles 
anschauende  Kenntnis  werde"  und  der  von 
sich  bekannte:  „Das  Auge  war  vor  allen  das 
Organ,  womit  ich  die  Welt  faßte",  davor  bewahrte 
ihn  die  Gegenständlichkeit  seines  Denkens.  Be- 
trachtete er  es  doch  als  eine  „bedeutsame  F"örder- 
nis  durch  ein  einziges  geistreiches  Wort",  als  der 
Psychiater  H  e  i  n  r  o  t  h  seine  Weltbetrachtung  mit 
den  Worten  charakterisierte,  „daß  sein  Denken 
sich  von  den  Gegenständen  nicht  sondere,  daß 
die  Elemente  der  Gegenstände,  die  Anschauungen 
in  dasselbe  eingehen  und  von  ihm  auf  das  innigste 
durchdrungen  werden,  daß  sein  Anschauen  selbst 
ein  Denken,  sein  Denken  ein  Anschauen  sei". 
Vielmehr  geht  sein  ganzes  Streben  darauf,  den 
beiden  Seiten  der  Wirklichkeit  in  gleichem  Maße 
gerecht   zu   werden.      Das    gelang    ihm    dadurch. 


daß  er  „Beobachtung  und  Denken  gleichsam  in 
einen  Akt  zusammenschmolz"  und  seinen  Geist 
mit  den  Dingen  „auf  eine  rationelle  Weise  gleich- 
sam amalgamierte".  Die  Frucht  dieser  Be- 
mühungen sind  die  denkanschaulichen  „Urphäno- 
mene",  eine  äußerst  eigenartige  und  einzige 
Schöpfung  Goetheschen  Geistes.  Sie  bilden 
nach  seiner  Ansicht  die  Brücke  zwischen  den 
beiden  Hälften  des  „großen  Doppelreiches"  der 
Wirklichkeit,  den  Grenzfall  zwischen  Erfahrung 
und  Idee,  indem  sich  beide  berühren;  in  ihnen 
spielt  die  Idee  in  die  Erfahrung  herein  und  um- 
gekehrt die  Erfahrung    in    das  Reich  des  Geistes. 

Das  „Urphänomen"  läßt  sich  wohl  restlos  mit 
dem  Begriff  des  Typus  identifizieren  gegenüber 
dem  Einzelding,  der  Erscheinungsform.  Es  steckt 
in  ihm  das  uralte  Problem  des  Menschengeistes, 
die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Sein  und 
Werden,  die  Frage  nach  dem  beharrenden  Grund 
der  Dinge  inmitten  der  steten  Veränderungen. 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  wäre  die  Frage- 
stellung Goethes  dahin  zu  formulieren:  „Wie 
ist  das  Sein  mit  dem  Werden  zu  vereinigen?  Wie 
kann  sich  etwas  beständig  wandeln  und  doch  in 
einem  festen  Urgrund  beharren?"  Seiner  Anlage 
zur  „anschauenden  Kenntnis"  entsprechend  ver- 
zichtet Goethe  auf  metaphysische  Bestimmungen, 
wie  sie  Piaton  und  Kant  gegeben  haben,  setzt 
an  Stelle  des  Seins  den  Begriff  des  Typus  und 
erklärt  das  Werdende,  sich  Wandelnde  als  die 
Erscheinungsform  dieses  Typus.  „Es  gibt  ein 
Bleibendes,  ein  Sein,  aber  dieses  besteht  weder  in 
den  Platonischen  weltfernen  Idee,  noch  in  Kants 
unerkennbarem  Ding  an  sich,  sondern  es  ist  die 
im  Spiel  des  Werdens  an  der  Erscheinung  sich 
offenbarende  Gattungsidee  oder  Urform.  Indem 
das  Seiende  wird,  erscheint  es" ;  die  Erscheinungen 
sind  vergänglich,  das  Seiende  ist  unvergänglich 
und  ewig.^)  „Am  Sein  erhalte  dich  beglückt! 
Das  Sein  ist  ewig"  sagt  Goethe  in  seinem,  in 
dem  Zyklus  „Gott  und  Welt"  enthaltenen,  aus 
den  letzten  Lebensjahren  stammenden  Gedicht 
„Vermächtnis".  Das  ist  auch  der  Sinn  der  Worte 
des  Chorus  mysticus:  „Alles  Vergängliche  ist  nur 
ein  Gleichnis",  eben  ein  Gleichnis  des  Ewigen, 
Seienden,  des  Urphänomens,  das  als  Auswirkung 
der  „Gott-Natur"  in  die  religiöse  Sphäre  hinüber- 
weist. 

Auch  bei  Goethe  steht  also  hinter  den  Er- 
scheinungen der  Dinge  ein  Beharrendes;  aber  es  ist 
etwas   ganz   anderes  als  Piatons  Idee.     Diesem 


Nach  Boucke. 


314 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  23 


erscheint  die  Wirklichkeit  als  durchaus  un- 
wirklich. Die  uns  umgebenden  Dinge  sind  nur 
„Schatten"  der  allein  realen  „Idee",  die  in  starrer 
Unveränderlichkeit  in  metaphysischen  Tiefen 
thront.  Goethe  dagegen  erkennt  die  Wirklich- 
keit an  und  legt  gerade  auf  die  reale  Existenz 
der  Dinge  das  größte  Gewicht,  ein  Standpunkt, 
der  dem  Piatons  diametral  entgegengesetzt  ist. 
Goethes  Frage  geht  dahin:  Warum  bleibt  diese 
Wirklichkeit  ein  geordneter  Kosmos  und  warum 
wird  sie  nicht  bei  dem  ständigen  Werden  und 
Vergehen,  das  wir  schauen,  ein  Chaos?  Warum 
hält  die  Natur  Maß  in  der  Mannigfaltigkeit  und 
warum  ordnen  sich  die  Einzelwesen,  anstatt  in 
willkürliche,  launenhafte  Gestalten  auszuarten,  in 
bestimmten,  umschriebenen  Formenkreisen?  Dieses 
normgebende  Prinzip  war  nach  seiner  denkan- 
schaulichen Erfahrung  das  Urphänomen  oder 
modern  ausgedrückt,  der  Typus.  Dieses  ist  der 
künstlerische  Plan  der  Natur,  nachdem  sie 
arbeitet.  Die  Natur  selbst  denkt  Goethe  als 
schöpferisches  Prinzip  (vgl.  Pia  ton!),  das 
sich  in  der  unendlichen  Fülle  der  empirischen 
Formen  auswirkt  und  doch  jedem  einzelnen  Wesen 
eine  abgeschlossene  Individualität  verleiht  auf 
Grund  des  als  Urphänomen  bezeichneten  Planes. 
Was  sie  schöpferisch  immerwährend  tut,  ist  ein 
spielendes  Versuchen,  diesem  Plan  möglichst  nahe 
zu  kommen,  ist  ein  Spielen  um  diesen  Plan 
herum.  Wir  erkennen  also  mit  Boucke  in 
Goethes  Urphänomen  gleichsam  eine  biologische 
Umdeutung  der  Platonischen  Ideenlehre,  worin 
die  Erscheinung  vollständig  gleichberechtigt  neben 
der  Idee  steht:  „Wir  leben  in  einer  Zeit,  wo  wir 
uns  täglich  mehr  angeregt  fühlen,  die  beiden 
Welten,  denen  wir  angehören,  die  obere  und 
die  untere,  verbunden  zu  betrachten,  das 
Idelle  im  Reellen  anzuerkennen  .  .  . 
Nachdem  wir  uns  nun  zu  dieser  Einsicht  erhoben 
haben,  so  sind  wir  nicht  mehr  in  dem  Falle,  bei 
Behandlung  der  Naturwissenschaften  die  Erfahrung 
der  Idee  entgegenzusetzen,  wir  gewöhnen  uns 
vielmehr,  die  Idee  in  der  Erfahrung  auf- 
zusuchen, überzeugt,  daß  die  Natur  nach 
Ideen  verfahre"  (Goethe). 

Die  Urphänomene  sah  Goethe  in  einer  Drei- 
heit,  als  Urphänomen  des  Mineralreiches  oder  Ur- 
gestein, als  Urphänomet)  des  Pflanzenreiches  oder 
Urpflanze  und  als  Urphänomen  des  Tierreiches, 
als  Urtier.  Noch  während  seines  Aufenthaltes  in 
Sizilien  war  er  überzeugt  von  der  realen  Existenz 
einer  Urpflanze  und  glaubte  sie  in  der  prangen- 
den P'ülle  der  Pflanzenwelt  des  öffentlichen  Gartens 
von  Palermo  auffinden  zu  können.  Das  war  frei- 
lich vergebliches  Bemühen.  Unter  dem  Einflüsse 
Schillers  wurde  er  dann  doch,  wenn  auch 
langsam  und  schwer,  zu  der  Einsicht  bekehrt,  daß 
das  Allgemeine,  von  dem  aus  er  das  Besondere 
zu  erfassen  suchte,  daß  das  Urphänomen,  also 
auch  die  Urpflanze  Idee  sei,  mithin  nicht  körper- 
lich existiere,  sondern  nur  als  anschauliche  Ab- 
straktion   aus    der  P^ülle    der    wirklichen    Formen. 


Die  Urpflanze  wurde  ihm  das  formbildende  Prin- 
zip oder  der  künstlerische  Bauplan  der  Natur,  aus 
dem  sich  unter  Vermittlung  der  Gattungstypen 
die  sinnliche  Erscheinungsform  jeder  einzelnen 
Pflanze  durch  Metamorphose  gesetzmäßig  ableiten 
lasse.  Die  Metamorphose  bildet  neben  dem  Ur- 
phänomen den  wesentlichsten  Bestandteil  der 
Go  et  h  eschen  Anschauung  von  der  Art,  wie  das 
denkanschauliche  Urbild  in  die  Erscheinung  ein- 
geht oder  mit  anderen  Worten,  wie  der  anschau- 
lich gedachte,  geistige  Typus  im  Einzelwesen  zur 
Realisation  gelangt. 

Diesem  großen  Gedankengebäude  hat  der 
Dichter  prägnantesten  poetischen  Ausdruck  ge- 
geben in  einem  kleinen,  zwölfzeiligen  Gedicht, 
Parabase  überschrieben,  das  er  gewissermaßen  als 
Einleitung  vor  eine  Reihe  von  Gedichten  gestellt 
hat,  die  seinen  Inhalt  näher  ausbauen  und  von 
denen  die  beiden  bedeutendsten  „Die  Metamor- 
phose der  Pflanzen"  und  „Metamorphose  der  Tiere" 
sind.  Neben  diesen  Gedichten  sind  Goethes 
Alterswerke,  Wilhelm  Meisters  Wanderjahre  und 
vor  allem  der  zweite  Teil  der  Fausttragödie  durch- 
woben von  naturphilosophischen  Ideen;  wenn 
man  das  bis  in  die  neuere  Zeit  herein  übersehen 
hat,  so  liegt  das  zum  einen  Teil  wohl  daran,  daß 
sie  der  Dichter  stets  in  ein  bezauberndes  poeti- 
sches Gewand  gekleidet  hat,  zum  anderen  Teil 
aber  doch  an  der  Unterschätzung  dieses  Gebietes 
der  Goetheschen  Gedankenwelt,  wie  sie  die 
herrschende  realistisch -materialistische  Richtung 
des  deutschen  Geisteslebens  bis  in  die  letzten 
Jahrzehnte  herein  zur  notwendigen  Folge  haben 
mußte.  In  Wirklichkeit  aber  bildet  seine  Natur- 
philosophie einen  ganz  wesentlichen  Teil  des  Nähr- 
gebietes, aus  dem  sich  des  Dichters  Weltbild 
formte  und  von  dem  aus  es  einzig  restlos  ver- 
ständlich ist. 

In  dem  Gedicht  „Parabase"  sind  von  be- 
sonderer Bedeutung  die  letzten  Verse: 

Immer  wechselnd,  fest  sicli   haltend, 
Nah  und   fern  und  fern  und  nah ; 
So  gestaltend,  umgestaltend  — 
Zum  Erstaunen  bin  ich  da. 

Den  ersten  beiden  Teilen  liegt  das  Begriffs- 
paar Urphänomen — Metamorphose  zugrunde.  Die 
lebenden  Gestalten  sind  in  einer  steten  Umwand- 
lung begriffen,  „immer  wechselnd",  aber  sich  fest- 
haltend am  Urphänomen,  dem  Typus,  der  als 
organisierendes  geistiges  Prinzip,  als  „innere  Form", 
als  unsichtbar  wirkende  beharrende  Kraft  ver- 
hindert, das  sich  der  schrankenlose  Variations- 
trieb in  seinem  zentrifugalen  Streben  ins  Form- 
lose verliert : 

,,Denn   Gesetze  Bewahren  die  lebendigen  Schätze, 
Aus  welchen  sich  das  All  geschmückt." 

Den  Gedanken  der  durch  das  Urphänomen, 
das  „Urbild"  geregelten  „Umgestaltung"  oder 
Metamorphose  drücken  auch  die  Verse  aus  der 
„Metamorphose  der  Pflanzen"  aus: 

„Alle  Gestalten  sind  ähnlich,  und  keine  gleichet 
der  andern; 


N.  F.  XXI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


315 


Und  so  deutet  der  Chor  auf  ein  geheimes  Gesetz, 
Auf  ein  heiliges  Rätsel  .   .  ." 

Das  „lösende  Wort",  das  Christiane  Vul- 
pius,  der  das  Gedicht  gewidmet  ist,  das  „heilige 
Rätsel"  deutet,  wäre  in  der  wissenschaftlichen 
Sprache  Goethes  der  Begriff  des  Urphänomens. 

Noch  deutlicher  spricht  sich  der  Dichter  in 
der  „Metamorphose  der  Tiere"  aus: 

„Alle  Glieder  bilden  sich  aus  nach  ew'gen  Gesetzen, 
Und  die  seltenste  Form  bewahrt  im  geheimen  das  Urbild", 

das  „Urbild",  das  alles,  „was  in  schwankender 
Erscheinung  schwebt",  mit  „dauernden  Gedanken 
befestigt",  d.  h.  zur  überindividuellen  Wirklich- 
keit erhebt. 

Im  gleichen  Gedichte  hören  wir  von  „ge- 
ordneter Bildung,  die  zum  Wechsel  sich  neigt" 
und  in  den  „Urworten"  ist  von  „geprägter  Form, 
die  lebend  sich  entwickelt"  die  Rede;  die  Natur 
gibt  der  „geprägten  Form",  dem  Urphänomen, 
in  steterEntwicklung  und  Umwandlung 
sinnliche  Gestalt,  nicht  etwa  in  sprunghaften  Ver- 
änderungen. „Natura  non  facit  saltus"  war  eine 
Grundüberzeugung  Goethes,  für  die  er  sein 
Bestes  einsetzte,  ob  sie  hier  im  Zusammenhang 
mit  der  organischen  Metamorphose  erscheint  oder 
in  verschärfter  Form  als  geologisches  Problem 
im  Kampf  zwischen  Vulkanismus  und  Neptunis- 
mus. In  den  wundervollen  Worten  des  Thaies  in 
Faust  II  hat  er  sie  poetisch  eingekleidet: 

Nie  war  Natur  und  ihr  lebendiges  Flieflen 
Auf  Tag  und  Nacht  und  Stunden  angewiesen, 
Sie  bildet  regelnd  jegliche  Gestalt, 
Und  selbst  im  Großen  ist  es  nicht  Gewalt. 

Und  an  einer  Stelle  seiner  Prosaschriften  be- 
kennt er:  „Nach  meinem  Anschauen  baute  sich 
die  Erde  aus  sich  selbst  heraus". 

Jedenfalls  stellt  sich  Goethe  das  Leben  als 
einen  ewigen  Werdeprozeß  vor,  in  dem  es  ein 
Stillstehen,  ein  „Erstarren"  nicht  gibt,  ganz  im 
Gegensatz  zu  Piaton.  Das  drückt  Faust  aus, 
wenn  er  sagt :  „Doch  im  Erstarren  such'  ich  nicht 
mein  Heil".  Und  noch  schöner,  lebendiger  die 
Schlußstrophen  des  in  „Gott  und  Welt"  enthaltenen 
Gedichtes  „Eins  und  alles": 

Und  umzuschaffen  das  Geschaffne, 
Damit  sich's  nicht  zum  Starren  waffne, 
Wirkt  ewiges,  lebendiges  Thun. 
Und   was  nicht  war,  nun  will  es  werden 
Zu  reinen  Sonnen,   farbigen   Erden ; 
In  keinem  Falle  darf  es  ruhn. 
Es  soll  sich  regen,  schaffend  bandeln. 
Erst  sich  gestalten,  dann  verwandeln ; 
Nur  scheinbar  steht's  Momente  still. 
Das  Ewige  regt  sich   fort  in  allen ; 
Denn  alles  mu6  in  Nichts  zerfallen, 
Wenn  es  im  Sein  beharren   will. 

In  dem  „Ewigen",  dem  „Sein"  haben  wir  wie- 
der das  Urphänomen,  das  Sein  im  Gegensatz  zum 
Werden  (vgl.  das  einleitend  Gesagte !). 

Der  immerwährende  Wechsel  in  der  organischen 
Formenwelt  erscheint  Goethe  unter  dem  Bilde 
eines  Spieles :  „Man  denke  sich  die  Natur,  wie  sie 
gleichsam  vor  einem  Spieltische  steht  und  unauf- 


haltsam au  double!  ruft,  d.  h.  mit  dem  bereits 
gewonnenen  durch  alle  Reiche  ihres  Wirkens 
glücklich ,  ja  bis  ins  Unendliche  wieder  spielt 
Stein,  Tier  und  Pflanze,  alles  wird  nach  einigen 
solchen  Glückswürfen  beständig  von  neuem  wieder 
aufgesetzt,  und  wer  weiß,  ob  nicht  auch  der  ganze 
Mensch  wieder  nur  ein  Wurf  nach  einem  höheren 
Ziele  ist?"  Wieder  einmal  redet  er  von  „der 
Form,  mit  der  die  Natur  gleichsam  nur  immer 
spielend  das  mannigfaltige  Leben  hervorbringt". 
Stein,  Tier  und  Pflanze  sind  also  in  Goethes 
Auge  Spielzeug  der  Natur. 

Hier  eröffnet  sich  die  Frage,  ob  Goethe  ein 
Überschreiten  der  „heiligen  Kreise  lebendiger 
Bildung",  womit  das  Urphänomen  gemeint  ist, 
für  möglich  gehalten  hat.  In  der  „Metamorphose 
der  Tiere"  heißt  es  zwar  vom  Urphänomen: 

Diese  Grenzen  erweitert  kein  Gott,  es  ehrt  die  Natur  sie; 
Denn    nur   also  beschränkt,    war   je    das  Vollkommene 
möglich. 

Doch  scheint  der  Dichter  sich  nicht  auf  diese 
Ansicht  festgelegt  zu  haben  nach  einer  sehr  klaren 
Stelle  in  der  Geschichte  der  Farbenlehre:  „Im 
organischen  Leben  wird  selbst  das  Unnütze,  ja 
das  Schädliche  selbst,  in  den  notwendigen  Kreis 
des  Daseins  aufgenommen,  um  ins  Ganze  zu 
wirken  und  als  wesentliches  Bindemittel  disparater 
Einzelheiten". 

Goethes  Ansicht  berührt  sich  hier  direkt 
mit  der  Auffassung  Goebels,  des  bahnbrechen- 
den Forschers  auf  dem  Gebiete  der  modernen 
Pflanzenmorphologie.  Es  ist  letzten  Endes  die 
Frage  nach  der  Berechtigung  der  teleologischen 
Naturauffassung,  die  hinter  diesen  Zeilen  steckt, 
kurz  ausgedrückt:  Geht  die  Natur  beim  Hervor- 
bringen von  Formen  auf  Zwecke  aus  oder  wirkt 
sie  sich  ungebunden  in  Formen  und  Gestaltungen 
aus,  ohne  Rücksicht  auf  „Ziel  und  Zweck"? 
Goebel  ist  letzterer  Ansicht  und  baut  so  weiter: 
die  Ergebnisse  dieses  „Gestaltungstriebes"  oder 
„Formenspieles"  können  verschiedener  Art  sein; 
zunächst  wird  ein  großer  Teil  der  resultierenden 
Gestaltungen  einer  besonderen  Bedeutung  ent- 
behren, gleichgültig  sein;  ein  anderer  Teil  wird 
sich  als  vorteilhaft  erweisen  und  endlich  werden 
sich  auch  unvorteilhafte,  ja  schädliche  Verhält- 
nisse entwickeln.  Träger  der  letzteren  werden 
als  lebensuntüchtig  aussterben,  Träger  gleich- 
gültiger Gestaltungsverhältnisse  dagegen  ruhig 
fortbestehen  neben  den  Trägern  von  vorteilhaften 
Strukturen.  Die  Natur  geht  also  nicht  direkt 
darauf  aus,  vorteilhafte  Gestaltungsverhältnisse  zu 
schaffen,  sondern  sie  „nimmt  das  Gute,  wo  sie  es 
findet"  (Goebel),  sie  „nützt"  unter  den  vielen 
Möglichkeiten  die  vorteilhaften  „aus".  Auch 
Goethe  drückt  die  Idee  der  „Ausnutzung"  aus, 
wenn  er  sagt,  daß,  was  nebeneinander  stehe,  wohl 
füreinander,  aber  nicht  absichtlich  wegen  ein- 
ander da  sei.  Darin  ist  der  Zweckgedanke  ver- 
bannt. Eckermann  gegenüber  ist  er  noch  viel 
deutlicher:  „Die  Frage  nach  dem  Zweck,  die 
PVage  Warum?  ist  durchaus  nicht  wissenschaftlich 


3i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  23 


Etwas  weiter  aber  kommt  man  mit  der  Frage 
Wie  ?  Denn  wenn  ich  frage :  Wie  hat  der  Ochse 
Hörner?,  so  führt  mich  das  auf  die  Betrachtung 
seiner  Organisation  und  belehrt  mich  zugleich, 
warum  der  Löwe  keine  Hörner  hat  und  haben 
kann.  So  hat  der  IVIensch  in  seinem  Schädel 
zwei  unausgefüllte,  hohle  Stellen.  Die  Frage 
Warum  ?  würde  hier  nicht  weit  reichen,  wogegen 
die  Frage  Wie?  mich  belehrt,  daß  diese  Höhlen 
Reste  des  tierischen  Schädels  sind,  die  sich  bei 
solchen  geringeren  Organisationen  in  stärkerem 
Maße  befinden  und  die  sich  beim  Menschen  trotz 
seiner  Höhe  noch  nicht  ganz  verloren  haben." 
Oder  an  anderer  Stelle:  „Und  wie  der  Mensch 
im  allgemeinen  denkt,  so  denkt  er  auch  im  be- 
sonderen, und  er  unterläßt  nicht,  seine  gewohnte 
Ansicht  aus  dem  Leben  auch  in  die  Wissenschaft 
zu  tragen  und  auch  bei  den  einzelnen  Teilen  eines 
organischen  Wesens  nach  dem  Zweck  und  Nutzen 
zu  fragen.  Dies  mag  auch  eine  Weile  gehen,  und 
er  mag  auch  in  die  Wissenschaft  eine  Weile  da- 
mit durchkommen;  allein  gar  bald  wird  er  auf 
Erscheinungen  stoßen,  wo  er  mit  einer  so  kleinen 
Ansicht  nicht  ausreicht  und  wo  er  ohne  höheren 
Halt  sich  in  lauter  Widersprüchen  verwickelt. 
Solche  Nützlichkeitslehrer  sagen  wohl:  der  Ochse 
habe  Hörner  um  sich  damit  zu  wehren.  Nun 
frage  ich  aber :  Warum  hat  das  Schaf  keine  ?  und 
wenn  es  solche  hat,  warum  sind  sie  ihm  um  die 
Ohren  gewickelt,  so  daß  sie  ihm  zu  nichts  dienen? 
Etwas  anderes  aber  ist  es,  wenn  ich  sage:  der 
Ochse  wehrt  sich  mit  seinen  Hörnern,  weil  er 
sie  hat." 

Endlich  sei  eine  Stelle  aus  einem  Brief  an 
Z  e  1 1  e  r  angeführt,  die  G  o  e  b  e  1  in  seiner  Organo- 
graphie  zitiert:  „Es  ist  ein  grenzenloses  Verdienst 
des  alten  Kant  um  die  Welt,  und  ich  darf  sagen 
um  mich,  daß  er,  in  seiner  Kritik  der  Urteilskraft, 
Kunst  und  Natur  nebeneinander  stellte  und  beiden 
das  Recht  zugesteht,  zwecklos  zu  handeln.  Natur 
und  Kunst  sind  zu  groß,  um  auf  Zwecke  auszu- 
gehen, und  haben's  auch  nicht  nötig,  denn  Be- 
züge gibt's  überall    und  Bezüge   sind    das  Leben." 

Es  ist  nur  konsequent  im  Sinne  Goethes, 
wenn  Goebel  zu  dem  Ergebnis  kommt,  „daß 
die  Natur  in  ihren  Gestaltungen  sozusagen  künst- 
lerisch verfährt,  d.  h.  frei  und  ungebunden,  nament- 
lich ohne  Rücksicht  auf  den  Nutzen  Gestaltungen 
hervorbringt,  teils  nützliche,  teils  gleichgültige, 
teils  unvorteilhafte".  Das  war  auch  der  Stand- 
punkt Darwins,  ein  wesentlicher  Zug  seiner 
Naturauffassung,  der  freilich  von  seinen  Nachfolgern 
übergangen  worden  ist. 

Kehren  wir  zu  unserem  Gedicht  „Parabase" 
zurück,  so  gibt  der  Dichter  in  der  zweiten  und 
dritten  der  oben  daraus  zitierten  Verszeilen  eine 
nähere  Bestimmung  des  ständigen  Wechsels  oder 
der  Metamorphose: 

„Nah  und   fern  und  fern  und  nah.*' 

Das  Spiel  der  Formen  liefert  die  mannig- 
faltigsten   Gestalten,    die    sich   bald    dem    Urbild 


nähern,  bald  sich  aber  auch  weit  von  ihm  ent- 
fernen, eben  ein  ständiges  Neigen  zum  Wechsel 
unter  der  Leitung  des  Urphänomens,  des  „Ewig- 
Einen,  das  sich  vielfach  offenbart",  wie  es  im 
gleichen  Gedichte  etwas  weiter  oben  heißt. 

Die  Metamorphose  äußert  sich  nun  in  zwie- 
facher Weise,  einmal  dadurch,  daß  sie  die  im 
Urphänomen  festgelegte  „innere  Form"  gestaltet 
als    auch    die   so    erzeugten  Formen    umgestaltet: 

„Erst  sich  gestalten,  dann  verwandeln"  (Eins  und  alles), 
„So  gestaltend,  umgestaltend"  (Parabase). 

Diesen  Vorstellungen  begegnen  wir  wieder, 
wie  W.  Hertz,  dem  wir  hier  folgen,  in  seinen 
leider  bisher  wenig  beachteten  Studien  überzeugend 
dargetan  hat,  im  zweiten  Teile  des  Faust  in  der 
Mutterszene  und  der  Gestalt  des  Proteus. 

Die  Mütter  sind  nicht,  wie  man  bisher  stets 
annahm,  der  dichterische  Ausdruck  für  die  Ideen 
Piatons,  sondern  die  Go  et  besehen  Urphäno- 
mene.     Von^  ihnen  heißt  es  : 

Die  einen  sitzen,  andere  stehn  und  gehn, 
Wie's  eben  kommt.     Gestaltung,  Umgestaltung, 
Des  ewigen  Sinnes  ewige  Unterhaltung, 
Umschwebt  von  Bildern  aller  Kreatur. 

Anschaulich  wird  unserer  Phantasie  hier  der 
Sitz  des  Urgesteins,  die  Gebundenheit  der  an  die 
Scholle  gefesselten  Pflanzenwelt  und  die  Beweg- 
lichkeit des  Tieres  vorgeführt.  „Diesen  drei 
Naturreichen  gehören  nun  in  drei  voneinander  nach 
ihrer  Haltung  unterscheidbaren  Verbänden  die 
den  Urphänomenen  untergeordneten  Gattungstypen 
an,  der  Gesamtzahl  neben  Urtier,  Urpflanze  und 
Urgestein  die  gesellige  Vielheit  die  Mutter  aus- 
macht." „Gestaltung,  Umgestaltung",  in  der  Para- 
base „so  gestaltend,  umgestaltend",  belehren  uns 
darüber,  wie  aus  einem  Typus,  bzw.  aus  einem 
Urphänomen  ein  tausendfältiges  Reich  von  Lebe- 
wesen hergeleitet  werden  kann.  Es  ist  mit  diesen 
Worten  eine  Eigenschaft  der  Mütter  bezeichnet, 
ihre  Erscheinung  und  ihr  Auftreten.  Die  Mütter 
aber  sind  nur  das  Spielzeug  der  Natur,  die  hinter 
ihnen  steht  als  die  „schaffende  Gewalt",  der 
„ewige  Sinn".  Nur  die  ewige  Unterhaltung  jenes 
ewige  Sinnes  sind  sie,  der  durch  sie  im  Spiele 
des  Werdens  dem  Einzelwesen  lebendige  Form 
verleiht,  sie  sind  die  Mittlerinnen  zwischen  Idee 
und  Wirklichkeit,  eben  die  Urphänomene. 

Interessant  in  Beziehung  auf  das  Gedicht 
Parabase  ist  auch  die  Gestalt  des  Proteus,  den 
Goethe  mit  mancherlei  Zügen  ausgestattet  hat, 
die  er  sonst  der  Natur  beilegt,  und  von  dem  er 
selbst  sagt,  er  „könne  für  ein  Symbol  der  Natur 
gelten".  Wenn  er  bei  den  Worten  „Hierl  und 
Hier!"  die  Anweisung  bekommt  „bald  nah,  bald 
fern",  so  ist  das  ein  wörtlicher  Anklang  an  die 
Zeile  unseres  Gedichtes :  „Nah  und  fern  und  fern 
und  nah".  Und  wenn  seine  hervorstechendste 
Eigenschaft  die  ist,  sich  beständig  zu  verwandeln, 
dabei  aber  doch  derselbe  zu  bleiben,  so  ist  das 
eine  Umgestaltung,  ein  ständiges  Wechseln  im 
Festhalten.  Wenn  Proteus  so  das  Schaffen  der 
Natur  verkörpert,  so  ist  er  auch  befähigt,  der  nach 


N.  F.  XXI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


317 


Verkörperlichung  trachtenden  Homunkulusmonade 
zum  „Entstehen"  und  stufenweisen  Aufsteigen  in 
der  Leiter  der  Organismen  weisen  Rat  zu  er- 
teilen. 

Um  endlich  den  Sinn  der  letzten  Zeile  des 
Gedichtes  klarzulegen,  seien  einige  Aussprüche 
Goethes  selbst  angeführt  und  zunächst  bemerkt, 
daß  die  Erkenntnis  des  Urphänomens  für  Goethe 
überhaupt  die  Grenze  menschlicher  Erkenntnis 
bedeutete.  „Wir  sind  schon  weit  genug  gegen 
die  Natur  vorgedrungen,  wenn  wir  zu  den  Ur- 
phänomenen  gelangen,  welche  wir  in  ihrer  uner- 
forschlichen  Herrlichkeit  von  Angesicht  zu  Ange- 
sicht erschauen,  und  uns  sodann  wieder  rückwärts 
in  die  Welt  der  Erscheinungen  wenden,  wo  das 
in  seiner  Einfalt  Unbegreifliche  sich  in  tausend 
und  abertausend  mannigfaltigen  Erscheinungen 
bei  aller  Veränderlichkeit   unverändert  offenbart." 


Und  zu  Eckermann:  „Das  Höchste,  wozu  der 
Mensch  gelangen  kann,  ist  das  Erstaunen,  und 
wenn  ihn  das  Urphänomen  in  Erstaunen  setzt,  so 
sei  er  zufrieden."  Entsprechend  heißt  es  im 
Faust  von  dem  die  Natur  verkörpernden  Proteus, 
er  sage  zuletzt  doch  nur,  „was  staunen  macht 
und  in  Verwirrung  setzt".  Weiter  sagt  G  o  e  t  h  e : 
„Vor  den  Urphänomenen ,  wenn  sie  unseren 
Sinnen  enthüllt  erscheinen ,  fühlen  wir  eine  Art 
Scheu,  bis  zur  Angst".  Darum  erschauerte  Faust, 
als  Mephisto  den  Namen  der  Mutter  nannte: 

,,Das  Schaudern  ist  der  Menschheit  bestes  Teil." 

Über  die  Kenntnis  des  Urphänomens  hinaus- 
zudringen,  wäre  ein  vergebliches  Bemühen,  hier 
beginnt  für  Goethe  das  Reich  des  Unerforsch- 
lichen,    das  man  nur  schweigend    verehren  kann: 

„Zum  Erstaunen  bin  ich  da." 


Die  Ablenkung  des  Fixsternlichtes  im  Schwerefeld  der  Sonne. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Sigismund  v.  Kobbe,  Coblenz. 


In  der  Newtonschen  Mechanik  ist  die 
Bahn  eines  Massenpunktes  im  Anziehungsgebiet 
der  Sonne  ausgedrückt  durch  die  Kegelschnitts- 
gleichung : 

b-r  (i -|- ^cosi/*)  =  v";  I.  Keplersches  Gesetz,     (i) 
(//,  r  ^  Polarkoordinaten    1  des  Kegelschnitts. 
E  =  Exzentrizität  J  Nullpunkt:  Sonnenmitte 

v^ Geschwindigkeit!   .      c  ,    ■    ^  ^t,    ■,    ,-, 
b  =  Beschleunigung  1  '"^  Scheitel  (Perihel). 
Streicht  ein  Fixstern  Lichtstrahl,  der  demselben 
Gesetz    gehorcht,    dicht    am    Sonnenrande 
vorbei,  so  ergibt  sich  für  den  Scheitel : 
r  =  r^  =  695  400  km  =  Halbmesser  der  Sonne 

i//  ^  O;  cos  ip       =1 
V  =  c  =  300000  km/sec  =  Lichtgeschwindigkeit 
b  =:bo  =  0,274  km/sec^    =  Beschleunigung  an  der 
Sonnenoberfläche. 
Zur  Berechnung  von  e  haben  wir: 


1+6  = 


bnr„ 


danach  wird    der  Kegelschnitt    (i) 


C-...  0,954 
I  :b|, . . .  0,562 
1  :r„  ...  4,158 


eine  flache  Hyperbel,  deren 

Berechnung.^)   I  Asymptotenwinkel  =  tt  —  2Afl; 
wenn :  sin  A^,  =  1  :  e. 

Hier    ist    2Au    die   gesuchte 
Ablenkung  von  der  Geraden. 
:  Weil    Ag    sehr  klein,    so    erhält 
1  -)-«...  5,074    1  j^^jj  jj^  Bogensekunden : 

■     —  "^    "  "  .   ^  ^  arcrad  in 
Sek. 


Q... 

1  :  s. . . 
Ao... 

5,314 
4.326 

9,640 

')  Das 

Zeichen 

A„  =  ^  =  ' 


Die  Berechnung  ergibt: 
Ao  =  0,437" 
also :    Ablenkung: 
2A0  =^0,87" 

dicht  am  Sonnenrande. 

, .  deutet  den  Logarithmus  an. 


(2) 


Ist  r  der  Scheitelabstand  der  Hyperbel  von  der 
Sonnenmitte,  so  wird: 


Qhr 


Kr„ 


also :  A  = 


Qh^rö 


Drücken  wir  r^   und  r   in  Bogenminuten  aus: 
r^  =  16';  so  kommt: 

Im  Abstand   r   von    der    Sonnenmitte    ist    die 
Ablenkung: 

13-9 


2A 


Sek. 


Mi 


(3) 


Nach  der  Relativitätstheorie  entsteht 
—  vom  „ruhenden"  System  S  aus  beurteilt  —  im 
„bewegten"  System  S'  eine  Punktverschie- 
bung, die  sich  als  Verkürzung  in  der  Richtung 
der  Bewegung  äußert  (Lorentz-Kontraktion  I).  Die 
Wirkung  dieser  Punktverschiebung  auf  die  ge- 
krümmte Bahn  eines  Massenpunktes  —  oder 
Lichtstrahls  —  stellt  sich  als  Drehung  jedes  Bahn- 
elements um  den  Krümmungsmittelpunkt  dar. 
Nun  gilt  die  spezielle  Relativitätstheorie  unmittel- 
bar nur  für  geradlinig,  gleichförmig  zueinander 
bewegte  Bezugssysteme;  wir  dürfen  aber  unsere 
Koordinaten  derart  wählen,  daß  die  zwar  krumm- 
linige Bewegung  jeden  Augenblick  in  die  x- 
Richtung  fällt,  und  daß  in  der  y-Richtung  die 
Normalbeschleunigung  herrscht.  —  Wir 
betrachten  die  Zentralkreisbewegung  eines 
Massenpunktes.  Eine  nach  dem  Mittelpunkt  M 
weisende  Nullrichtung  OM  bilde  das  „ruhende" 
System  S;  der  Massenpunkt  das  „bewegte"  Sy- 
stem S'.  —  Trotz  der  „konstanten"  Geschwindig- 
keit V  muß  nicht  allein  die  Normalbeschleunigung, 
sondern  auch  die  Tangentialbeschleuni- 
gung berücksichtigt  werden  wegen  der  Längen- 
und  Zeitunterschiede  in  S  und  S'.  —  Für  ein 
Bahnelement  gelten  die  Lore  ntz- Trans- 
formationen: 


318 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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adt' 


dt  — 


vdx 


«dx'=:dx —  vdt; 


dy'  =  dy.  (4) 

I.  Die  Normalbeschleunigung  bn  =  v-:a. 
Hierfür  gilt:  dx'^o;  also  nach  (4)  3.  Gleichung: 
dx  =  vdt;  daraus  und  aus  den  beiden  ersten  Glei- 
chungen (4)  folgt:  dt' =  adt.  (5) 
dy  ,  dy' 
dt  '  dt' ' 
und  nach  (5):    u^ßu'. 

du'      ,        ^  du' 

also :  bn  ;=  a  - 


Gesetzt  werde :    u  := 
(4)  4.  Gl.  :  u  dt  ^ 


Nun  ist :  bn  = 


=  u'dt 
du 


dt 


bn' 


dt' 


oder :  bn  =  bn'  ( i 


dt 

dt" v-c^r  (6) 

Zur  Berechnung  der  Verschiebung  in  der  x- 
Richtung  drücken  wir  (6)  durch  den  B  o  g  e  n  5-a  aus, 
dessen  Verschiebung  berechnet  werden  soll;  wo: 
a  der  Halbmesser,    ^   ein   beliebiger  Winkel   ist. 


,du' 


Nach  (6)  wird:    —  =  — (i -\.      Vom    „ruhen- 

a       a  \         c-/ 
den"  System  S  aus  beurteilt,  erscheint  der  Krüm- 
mungshalbmesser a  der  Bahn  eines  Massenpunktes 

^aa' 
S'  verlängert.    Wir  multiplizieren  mit  — 5-;     das 

gibt:   ^a'=  ^a  (i  — ^). 

Infolge  der  Normalbeschleunigung  erhalten  wir 
die  Verschiebung: 

hj  =  .^y-a  —  ^a'=  i9^a-  —^.  (7) 

2.  Die  Tangentialbeschleunigung 
b  =  V  :  t. 

Nach  (4)  3.  Gl.  und  (5)  ist: 

dx' dx  „  dx' 

"dr~dt~~^~""dF* 

Hier  ist  zu  setzen: 

dx  ,         dx'        ,  ,      , 

=  dv ;      ,     =^  dv  ;  also :  dv  ^  a-dv'. 


dt 
Nun  ist: 

b  =  ?;   b'  = 


dt' 
dv' 


dt'    "        dt" 
oder :  b  =  b 


also:  b  =  «■--—  = 


dt 


,dv' 
dt' 


(8) 


Zur  Berechnung  der  Verschiebung    in    der   x- 
Richtung  drücken  wir  (8)  durch  den  Bogen: 
vt  =  ^a'  aus : 
V        V  /          v-\"'- 
Y^^TtI' sl    ;    multipliziert  mit  tt': 

J    ;  oder:  .9-a'  =  ^a  I 


vt'  =  vt    I 


Infolge  der  Tangentialbeschleunigung  erhalten 
wir  die  Verschiebung: 

(9) 


h.,  =:  .>a  —  i'>a'  =  r'/a    I  — 


Aus  (7)  und  (9)  ergibt  sich :   h,  -f  h,  =  h  als 
Gesamtverschiebung: 


Diese  Haupt formel  leitet  unmittelbar  über 
von  einem  nach  der  Newtonschen  Mechanik  be- 
rechneten Bogen  0-a.  zur  Abweichung  h ,  die  ein 
Massenpunkt  beim  Durchlaufen  des  Bogens  &si 
nach  der  Relativitätstheorie  erfährt. 

Zur  Berechnung  der  Ablenkung  des  Fix- 
sternlichtes im  Schwerefeld  der  Sonne 
setzen  wir  in  (10): 

v^c;  dann  wird:  h  =  2^a.  (n) 

Ist  nun  —  vgl.  (2)  und  (3)  —  die  nach  Newton 
berechnete  Ablenkung  ausgedrückt  durch  den 
Winkel:  ^=:2A;  so  ergibt  (11)  die  Winkel- 
verschiebung: 2-9  =  4A;  danach  ist  im 
Sinne  der  Relativitätstheorie  die  Ablenkung 
dicht  am  Sonnenrande: 

4A„  =  i,74"  (12) 

und  die  Ablenkung  im  Abstand  r  von  der 


Sonnenmitte:  4Ä^ 
Bogenminuten.  ^) 


27-8 


Bogensekunden ;  r  in 

(13) 


Zusatz.  NäherungsweiseBerechnung 
der  Perihelbewegung    der   Planetenbahnen. 

Sonne  und  Fixsterne  bilden  das  „ruhende" 
System  S;  der  Planet  das  „bewegte"  System  S'. 
Zur  Zeit  t'  ^  t  =  o  gehe  S'  durch  das  Perihel  P. 
Nach    einem    Umlauf  t  =  T    wird    in   (10): 

Unter  Vernachlässigung   der   4.  Potenzen   von 


folgt: 


3V- 

2C-' 


also: 


3v- 


h  :=  2  TT  a   — ,  -J-  ^-^„  1 ;    oder :    h  =  5  tt  a  ■ 

\c^   '   2c^r  c^ 

2  a:^  große  Achse.  (14) 

Für  den  Mittelwert:  v^2iTa:T  ergibt  sich: 

die  lineare  Perihelverschiebung: 

,  20>T^a^  ,      , 

h  =  ^^.  (15) 

Dieser  Wert  ist  gleich  für  alle  Planeten- 
bahnen eines  Sonnensystems,  wegen : 
a^  :  T"  =  const.  —  Zur  Zeit  T  hat  also  der  Pianet 
die  Stellung  unter  den  Fixsternen,  die  er  zur  Zeit 
t  =  o  innehatte,  wieder  erreicht,  aber  noch  nicht 
das  Perihel  P.  Dieses  ist  linear  um 
207r'*a^ 


:-T- 


=  23,1   km 


vorgerückt.  Drücken  wir  die  Perihelbewegung  pe 
in  Winkelmaß  aus,  d.  h.  im  Verhältnis  des  Bogens 
zum  Krümmungshalbmesser  a(i  —  «-')  im 
Perihel,  so  kommt: 

20  Tt^A^ 

pe  =  -^p^ö-, ST ;     «  =  Exzentrizität.       ( 1 6)  ■') 

^        c-T-(i  —e^)  '  ' 


')  Die  Allgemeine  Relativitätstheorie  liefert  gleiche  Werte. 

^)  Hier  ist  ohne  weiteres  die  Kreisformel  (10)  zur  Be- 
rechnung der  Perihelbewegung  benutzt,  obwohl  der  Kreis  ein 
Perihel  g.ir  nicht  aufweist.  Meiner  Überzeugung  nach  ist  aber 
im  Sinne  der  Relativitätstheorie  die  Punktverschiebung  am 
Kreise  völlig  gleichbedeutend  mit  der  Perihelverschiebung,  die 
allerdings  nur  bei  der  Ellipse  greifbare  Gestalt  annimmt. 

')  Die  Allgemeine  Relativitätstheorie  ergibt: 
2471'a'' 


N.  F.  XXI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


319 


Verstehen  wir  aber  unter  Perihelbewegung  p  die 

Drehung  der  großen  Achse  {2  a)  der  Bahnellipse, 

so  dividieren  wir  (14)  durch  a;   und  erhalten  für 

je  einen  Umlauf: 

V-  2?ra  ,     , 

p=S.r.-^-      v  =  -^.  (17) 

Soll  p    in  Bogensekunden    berechnet   werden ,    so 
ergibt  sich : 


p"  ^ — 5"  v^;  p  =  arcrad  in  Sekunden  und     (i{ 

in   100  Jahren  =  H-Sekunden: 

^,    S^Q     V-  2/ra 

P"ormel  (19)  liefert  folgende  Werte  für: 

Merkur:  34,2";  Venus:  7,2";  Erde:  3,2";  Mars:  1,1", 


(19) 


Bücherbesprechungen. 


Corning,  H.  K. ,  Lehrbuch  der  Entwick- 
lungsgeschichte des  Menschen.  XI  u. 
659  S.  mit  672  Fig.  im  Text  (davon  105  far- 
big). Wiesbaden  1921,  Verlag  von  J.  F.  Berg- 
mann. —  Leinwdbd.  165  M. 
Wie  in  seinem  bekannten  Lehrbuch  der  topo- 
graphischen Anatomie  bekundet  der  Verf.  auch 
in  dem  vorliegenden  Lehrbuch  der  Entwicklungs- 
geschichte des  Menschen  eine  ungewöhnliche 
Meisterschaft,  verwickelte  Verhältnisse  so  klar 
vorzutragen,  daß  eigentliche  Schwierigkeiten  für 
den  Studierenden  kaum  mehr  zu  überwinden 
bleiben.  Überlegene  Beherrschung  des  Stoffes 
gestattet  es  ihm,  das  Wesentliche  hervorzuheben, 
eine  vorzügliche  Illustration  unterstützt  den  Text 
(sämtliche  Figuren  sind  von  Kunstmaler  Dreßler 
in  Strichmanier  ausgeführt),  vor  allem  aber  wird 
der  didaktische  Erfolg  durch  eine  höchst  originelle 
Gruppierung  des  Stofifes  erzielt.  Die  vergleichende 
Entwicklungsgeschichte,  die  in  anderen  Werken 
oft  zu  sehr  die  Behandlung  des  Hauptthemas 
überwuchert,  ist  hier  rein  Mittel  zum  Zweck,  dient 
lediglich  dazu,  das  Verständnis  für  schwieriger 
zu  erfassende  Vorgänge  an  Hand  von  einfacheren 
Beispielen  vorzubereiten.  Einen  Hauptvorzug  des 
Werkes  stellt  aber,  wie  schon  gesagt,  die  originelle 
Gruppierung  des  Stoffes  dar.  Einleitend  wird  (mit 
anerkennenswert  kritischer  Zurückhaltung)  das 
Verhältnis  von  Embryologie  und  Phylogenie  be- 
sprochen. Darauf  folgen  eingehende  Darstellungen 
der  Vermehrung  der  tierisclien  Organismen,  der 
Befruchtungsvorgänge  und  der  Entwicklungsvor- 
gänge im  allgemeinen  (Kernteilung,  Furchung 
bei  den  einzelnen  Vertebratenordnungen),  der 
Gastrulation  und  Keimblätterbildung  und  freien 
Differenzierungsvorgänge  an  den  Keimblättern. 
Von  ganz  besonderer  Klarheit  und  plastischer 
Lebendigkeit  ist  die  Schilderung  der  Abschnürung 
des  Embryos,  der  Bildung  der  äußeren  Körper- 
form, der  Eihüllen  und  der  Verbindung  zwischen 
Ei  und  Uterus.  Die  trefflichen,  farbig  angelegten 
Figuren  erleichtern  sehr  das  Verständnis  der  Ent- 
wicklungsgeschichte der  einzelnen  Organsysteme, 
der  gut  zwei  Drittel  des  ganzen  Buches  gewidmet 
sind.  Im  Anhang  werden  die  größtenteils  erst 
durch  neuere  Untersuchungen  geklärten  Probleme 
der  Lokalisation  der  organbildenden  Substanzen, 
der  Abschnürung  des  Embryos  vom  Dotter  und 
der    Teilungsvorgänge    im    Organismus    (eineiige 


Zwillinge  und  Drillinge,  Doppelmonstra)  be- 
handelt. 

Den  einzelnen  Abschnitten  beigefügte  Literatur- 
übersichten ebnen  dem  Leser  den  Weg  zur  Spe- 
zialliteratur  und  zu  weiter  eindringendem  Studium. 

Das  vom  Verlage  glänzend  ausgestattete  Werk 
verdient  angesichts  seines  im  Verhältnis  zum 
Gebotenen  niedrigen  Preises  weiteste  Verbreitung 
und  sollte  in  den  Händen  jedes  Biologen  sein, 
der  Entwicklungsgeschichte  zu  lehren  hat  oder 
sich  lernend  und  forschend  mit  ihr  beschäftigen 
will.  M.  Wolff  (Eberswalde). 


Vanino,  Prof.  Dr.  Ludwig,  Handbuch  der 
präparativen  Chemie.  I.  Band:  Anor- 
ganischer Teil.  Stuttgart  1921,  P'erdinand  Enke. 
Die  vorliegende  zweite  Auflage  des  bekannten 
und  beliebten  „Hilfsbuches  für  die  Arbeiten  im 
chemischen  Laboratorium"  ist  dem  Fortschritt 
des  in  Frage  kommenden  Teiles  der  Chemie  ver- 
ständnisvoll angepaßt  worden.  Für  den  Benutzer 
ist  zu  beachten,  daß  es  sich  nicht  um  ein  Lehr- 
buch, sondern  um  ein  Arbeitsbuch  handelt,  das 
für  die  Darstellung  aller  wichtigen  anorganischen 
Stoffe  unmittelbare  Vorschriften  geben  will,  wo- 
bei die  Vertrautheit  mit  den  üblichen  Methoden 
und  Apparaten  vorausgesetzt  ist.  Es  fehlen  ver- 
ständigerweise die  von  der  Industrie  in  größter 
Menge  und  Reinheit  gelieferten  Stoffe  ebenso  wie 
Sonderheiten  von  der  Art  des  Holmiums.  So- 
weit der  Berichterstatter  aus  eigener  Erfahrung 
mit  der  ersten  Auflage  urteilen  darf,  sind  die  An- 
gaben in  allem  wesentlichen  durchaus  zuverlässig 
und  gestatten  sofortige  Präparation,  ohne  daß  das 
Studium  der  Literatur  besonders  nötig  wird.  Zahl- 
reiche Tabellen  und  analytische  Fingerzeige  er- 
höhen die  Brauchbarkeit  des  Baches,  das  in  einem 
Anhang  noch  eine  Reihe  sehr  wertvoller  „Hilfs- 
präparate und  Ratschläge"  für  die  Praxis  im 
Laboratorium  enthält.  (Man  findet  da  Anstriche, 
Kältemischungen,  Klebmittel  und  dergleichen  Nütz- 
liches.) Das  Buch  ist  für  jedes  einigermaßen  be- 
achtliche Laboratorium  unentbehrlich. 

Trotz  der  neuen  Durchsicht  ist  das  Werk  nicht 
frei  von  Druckfehlern.  So  ist  z.  B.  die  Formel 
des  Kaliumchlorochromats  S.  380  falsch,  in  der 
Tabelle  S.  306  muß  es  heißen  i  cbm  statt  cm. 
Auch  sonst  sind   mir    noch  einige  Errata  im  Ge- 


320 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  23 


dächtnis.     Die  Ausstattung   des    Buches   ist   vor- 
züglich. H.  H. 

Bauer,  Erwin,   Die   Grundprinzipien   der 
rein     naturwissenschaftlichen    Biolo- 
gie    und    ihre    Anwendungen     in     der 
Physiologie    und   Pathologie.      Heft  26 
der  Vorträge    und  Aufsätze    über   die  Entwick- 
lungsmechanik der  Organismen,  herausgeg.  von 
W.  Roux.     Berlin   192 1,  J.  Springer.     28  M. 
Jede    Naturwissenschaft     muß     zunächst    ihre 
eigenen    Begrifife    bilden;     erst    nachdem    sie    ein 
gewisses  Alter  erreicht  hat,   besteht  die  Möglich- 
keit, Begriffe  anderer  Naturwissenschaften  in  An- 
wendung   zu    bringen    und    so    ein    einheitliches 
System  zu  schaffen.     Die  Biologie    ist    eine  noch 
sehr  junge  Wissenschaft:  auch  sie  muß  ihre  eige- 
nen   Begriffe    und    Grundprinzipien    bilden.     Eine 
Betrachtung  der  vitalistischen  und  mechanistischen 
Auffassungen  führt  notwendig  zu  dieser  Forderung. 
Verf.  grenzt  die  Biologie  ab    durch  eine  Defi- 
nition   des    Begriffes    Lebewesen.      Alle    Lebens- 
erscheinungen sind  auf  drei  Grundprinzipien  zurück- 
führbar.     Sie    werden   im    folgenden    gezeigt    an 
Tod,     Wachstum,     Vermehrung,     Fortpflanzung. 
Durch    diese    Anwendung    lassen    sich    vier    Ge- 
setze formulieren,    welche    die  Brauchbarkeit    der 
Grundprinzipien    bestätigen.      In    einem    weiteren 
Kapitel  werden  Reizbarkeit  und  Anpassung,  ferner 
Organisationsgrad,    Zuchtwahl  und  physiologische 
Einheit    unter    den    angeführten    Gesichtspunkten 
betrachtet.   Auch  Zelldifferenzierung,  Regeneration, 
innere    Sekretion    usw.    finden    durch    die  Grund- 
prinzipien   ihre    Erklärung.      Ebenso    wie    in    der 
Physiologie   sind    sie   auch    in    der  Pathologie  an- 
wendbar: beide  Disziplinen  suchen  ja  die  Ursachen 
für   die   regulatorischen  Vorgänge   im  Lebewesen 
zu  ergründen.    Atrophie,  Entzündung,  Geschwulst 
lassen  sich  so  biologisch  erklären. 

Die  Schrift  enthält  manche  wertvolle  Gedan- 
ken, die  Biologie  selbst  wird  jedoch  von  derartigen 
rein  theoretischen  Abhandlungen  wenig  Nutzen 
haben.  Das  Verständnis  ist  durch  den  Stil  be- 
trächtlich erschwert.  Otto  Kuhn. 


Planck,   Max,    Physikalische   Rundblicke. 

Gesammelte      Reden      und      Aufsätze. 

168  S.  Leipzig  1922',  S.  Hirzel.  Geh.  26  M. 
Es  liegt  hier  eine  sehr  willkommene  chrono- 
logisch geordnete  Sammlung  von  8  Reden  und 
Aufsätzen  Max  Plancks  aus  den  Jahren  1908 
bis  1920  vor,  die  bisher  an  verschiedenen  Stellen 
einzeln  zur  Veröffentlichung  gekommen  sind  und 
sich  erst  jetzt  in  ihrer  Zusammenfassung  zu  einem 


Gesamtbild  unserer  physikalischen  Naturauffassung 
ergänzen  können.  Die  behandelten  Probleme 
sind  die  folgenden:  I.  Die  Einheit  des  physika- 
lischen Weltbildes,  2.  Die  Stellung  der  neueren 
Physik  zur  mechanischen  Naturanschauung,  3.  Neue 
Bahnen  der  physikalischen  Erkenntnis,  4.  Dyna- 
mische und  statistische  Gesetzmäßigkeit,  5.  Das 
Prinzip  der  kleinsten  Wirkung,  6.  Verhältnis  der 
Theorien  zueinander,  7.  Das  Wesen  des  Lichts, 
8.  Die  Entstehung  und  bisherige  Entwicklung  der 
Quantentheorie. 

Es  handelt  sich  also  in  allen  Fällen  um  allge- 
meinere Fragen  von  grundlegender  Bedeutung  für 
unsere  gesamte  Erkenntnis  des  physikalischen 
Weltgeschehens,  an  denen  kein  Gebildeter  achtlos 
vorübergehen  kann.  Hervorzuheben  ist  die  große 
Sorgfalt  und  Tiefe  ihrer  Behandlung  und  die 
außerordentlich  klare,  anschauliche  und  höchst  an- 
regende Sprache.  Dem  Kenner  sowohl  als  jedem 
naturwissenschaftlichvorgebildeten  bietet  es  zweifel- 
los hohen  Genuß,  mit  dem  Verf.  auf  der  Grund- 
lage der  großen  Mannigfaltigkeit  unserer  physi- 
kalischen Einzelkenntnisse,  zu  denen  die  experi- 
mentelle und  theoretische  Bearbeitung  der  Einzel- 
gebiete geführt  hat,  fortzuschreiten  zu  allge- 
meineren, beherrschenden  Gesichtspunkten  und 
diese  zu  einem  physikalischen  Weltbild  zu  ver- 
einen. A.  Becker. 

Collier,  Dr.    W.    A.,     Einführung     in     die 
Variationsstatistik.      Mit   8  Abbildungen. 
Berlin   192 1,  J.  Springer.     32  M. 
Die    zweckmäßige,    kurze    Zusammenstellung 
der    wichtigsten    variationsstatistischen    Methoden 
ist  für  solche  Mediziner    und  Biologen   bestimmt, 
die  ohne  Vererbungsforscher  zu  sein,  gelegentlich 
biologische  Probleme   mit   statistischen  Methoden 
angreifen  müssen.     So  hat   der  Verf.  eine  Anzahl 
von  Beispielen  aus  dem  Gebiete  der  Immunitäts- 
lehre herangezogen.  Miehe. 


Jäger,  G.,  Theoretische  Physik  IV.    Elek- 
tromagnetische     Lichttheorie     und 
Elektronik.  Nr.  374  der  „Sammlung  Göschen". 
Dritte,  verbesserte  Auflage.     146  S.  mit  17  Fig. 
im  Text.    Berlin  und  Leipzig  1921,  Vereinigung 
wissenschaftlicher  Verleger. 
Gegenüber  der  zweiten  Auflage  zeigt  der  vor- 
liegende Neudruck  keine  erheblichen  Änderungen. 
Wir  können  uns  daher  darauf  beschränken,  diese 
in    weiten    Kreisen     geschätzte ,    bei    aller  Kürze 
außerordentlich  sorgfältige  theoretische  Darstellung 
der  wichtigsten  Fragen    des    behandelten  Gebiets 
erneut  warm  zu  empfehlen.  A.  Becker. 


Illbnlt:  Wilh.  Troll,  Goethes  Naturanschauung  in  seinen  Gedichten.  S.  313.  S.  v.  Kobbe,  Die  .Ablenkung  des  Fix- 
sternlichtes im  Schwerefeld  der  Sonne.  S.  317.  —  Bücherbesprechungen:  L.  Vanino,  Handbuch  der  präparativen 
Chemie.  S.  319.  H.  K.  Corning,  Lehrbuch  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen.  S.  319.  E.  Bauer,  Die 
Grundprinzipien  der  rein  naturwissenschaftlichen  Biologie  und  ihre  Anwendungen  in  der  Physiologie  und  Pathologie. 
S.  320.  M.  Planck,  Physikalische  Kundblicke.  Gesammelle  Reden  und  Aufsätze.  S.  320.  \V.  A.  Collier,  Ein- 
führung in  die  Variationsstatistik.  S.  320.  G.  Jäger,  Theoretische  Physik  IV.  Elektromagnetische  Lichttheorie  und 
Elektronik.  S.  320. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  IL,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21,  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  ii.  Juni  1922. 


Nummer  34. 


Zinn  fünfzigjährigen  Bestehen  der  Sächsischen  Geologischen 
.Landesuntersuchung. 

Von  Prof.  Dr.  E.   Kreukel,  Leipzig. 


[Nachdruck  verboten.] 

Am  6.  April  blickte  die  Sächsische  Geologi- 
sche Landesuntersuchung  auf  eine  fünfzigjährige 
Tätigkeit  zurück.  Sie  empfing  an  diesem  Tage 
eine  Fülle  von  Ehrungen  und  Glückwünschen 
seitens  der  Fachwissenschaft.  In  vollstem  Maße 
hat  sie  erfüllt,  was  ihrem  ersten  Leiter,  Hermann 
Credner,  als  Aufgabe  bei  der  Begründung 
dieser,  weit  über  Deutschlands  Grenzen  durch  ihre 
hervorragenden  Leistungen  berühmten  Stätte 
wissenschaftlicher  und  praktischer  Geologie  vor- 
gezeichnet wurde:  „die  möglichst  genaue  Erfor- 
schung des  geologischen  Baues,  des  Mineral- 
reichtums und  der  Bodenverhältnisse  des  König- 
reiches, die  Nutzbarmachung  der  gewonnenen 
Resultate  für  Land-  und  Forstwirtschaft,  für  Berg- 
bau und  Verkehr  sowie  die  übrigen  Zweige  tech- 
nischer Betriebsamkeit". 

Eine  stattliche  Zahl  von  Geologen  mit  be- 
kannten Namen  haben  an  den  umfänglichen  Ar- 
beiten der  Landesuntersuchung  in  diesen  50  Jahren 
mitgewirkt,  von  denen  hier,  ohne  Vollständigkeit 
anzustreben,  genannt  seien:  R.  Beck,  D.  Brauns, 
E.  Dathe,  C.  Gaebert,  A.  Jentzsch,  E. 
Kalkowsky,  G.  Klemm,  H.  Müller,  A. 
Penck,  A.Rothpletz,  A.Sauer,  M.Schrö- 
der, E.  Weiße. 

Drei  hervorragende  wissenschaftliche  Namen 
standen  an  ihrer  Spitze :  Hermann  Credner, 
Hans  Stille,  Franz  Koßmat.  Unter  des 
letzteren  Leitung  ist  eine,  dem  modernen  Stande 
der  geologischen  Wissenschaft  entsprechende, 
tiefschürfende  Forschungsarbeit  begonnen  worden, 
die  —  unterstützt  von  einem,  mit  den  sich  ver- 
größernden Zielen  wachsenden  Stabe  von  treff- 
lichen Spezialforschern ,  wie  K.  Pietzsch,  R. 
Reinisch,  R.  Grahmann,  F.  Härtel  —  in 
den  wissenschaftlichen  wie  praktischen  Leistungen 
der  letzten  Jahre  das  schlagendste  Zeugnis  von  der 
Notwendigkeit  und  dem  Nutzen  einer  geologischen 
Landesuntersuchung  ablegt. 

Für  die  mit  der  Gründung  der  Landesunter- 
suchung einsetzenden  speziellen  Forschungen  war 
in  Sachsen  der  Boden  seit  langer  Zeit  wie  kaum 
irgendwo  vorbereitet.  Als  die  Geologie  in  den 
Ländern  ringsum  meist  noch  kaum  beachtet  und 
geachtet  wurde,  hatten  in  Sachsen  bereits  die 
seit  dem  frühen  Mittelalter  entdeckten  reichen 
Erzschätze  das  Verständnis  für  eine  eingehende 
Untersuchung  des  festen  Untergrundes  geweckt. 
Bekannt  ist,  wie  bahnbrechend  die  von  der  Berg- 
akademie Freiberg  ausgehenden  Lehren  für  das 
rasche    Vorwärtsschreiten     der    geologischen    Er- 


kenntnis gewesen  sind.  Hier  hatte  man  seit  1798 
unter  der  Leitung  wohl  eines  der  besten  der 
älteren  deutschen  Geologen,  Abraham  Gott- 
lob Werners,  begonnen,  Beobachtungen  für 
eine  Übersicht  des  ganzen  Landes  zu  sammeln. 
Diese  wurden  später  von  C.  F.  Naumann  — 
zuerst  ebenfalls  in  Freiberg,  dann  als  Professor  an 
der  Universität  Leipzig  tätig,  wo  er  sein  präch- 
tiges, großzügiges  Lehrbuch  der  Geognosie  ver- 
faßte —  als  Grundlage  für  seine,  mit  B.  Cotta 
herausgegebene  große  Karte  verwendet,  die  als 
„Geognostische  Spezialkarte  des  Königreiches 
Sachsen"  im  Maßstabe  i  ;  12OCOO  in  12  Blättern 
mit  5  Heften  Erläuterungen  in  Freiberg  1834 — 
1845  herauskam.  Naumann,  eine  scharfsehende, 
geniale  Gelehrtennatur,  schuf  in  ihr,  weit  hinaus- 
gehend über  die  Vorarbeiten,  ein  Werk,  das  da- 
mals unübertroffen  in  Europa  dastand.  Natur- 
gemäß konnte  diese  erste  geologische  Aufnahme 
Sachsens  keinen  Abschluß  der  geologischen  Er- 
kundung des  Landes  bedeuten,  da  mancherlei 
Fragen  damals  einer  Lösung  noch  gar  nicht  zu- 
gänglich waren.  Zudem  war  der  Maßstab  zu 
klein,  um  allen  Ansprüchen  der  Wissenschaft  und 
Praxis  zu  genügen  —  war  doch  Preußen  1862 
dazu  übergegangen,  Spezialkarten  i.  M.  1:25000 
herauszugeben. 

Naumann,  wie  seine  Mitarbeiter  Cotta 
und  Geinitz,  waren  es  noch,  die  die  nötige 
weitere  Entwicklung  der  Landesuntersuchung  in 
einer  Denkschrift  vom  Jahre  1870  mit  Energie 
verfochten.  Diese  bestand  vor  allem  in  der  Auf- 
nahme des  Landes  durch  Spezialkarten  i.  M. 
I  :  25000.  Viele  Schwierigkeiten  waren  bis  zu 
ihrem  Beginne  zu  überwinden :  mußte  doch  zu- 
nächst erst  eine  neue  topographische  Unterlage 
hergestellt  werden. 

Nach  Naumanns  Tode  wurde  der  dreißig- 
jährige Hermann  Credner  —  der,  eben  aus 
Amerika  zurückgekehrt,  wohl  in  der  Geologie 
dieses  Erdteiles  besser  Bescheid  wußte  als  in  der 
heimischen  —  zum  Leiter  der  geologischen 
Landesuntersuchung  ernannt.  Mit  der  ihm  eigenen 
Schaffenskraft  und  Arbeitsfreude  ging  er  ans  Werk. 
Im  Laufe  vieler  Jahre  wurden  126  Kartenblätter, 
jedes  von  ungefähr  130  qkm  Fläche,  von  den 
oben  genannten  Mitarbeitern  aufgenommen.  Es 
bedeutet  das  eine  bewundernswerte  Arbeitsleistung. 
Gehört  doch  Sachsen  zu  den  geologisch  mannig- 
fachsten Gebieten  Deutschlands;  waren  hier  doch 
viele  geologische  Fragen  kartographisch  zu  lösen, 
für    die    bisher    keinerlei    Vorbild    als    Grundlage 


^22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


dienen  konnte.  Der  schwierige  Vielfarbendruck 
wurde  von  der  graphischen  Anstalt  Gi  es  ecke 
&Devrient  in  Leipzig  in  vorbildlicher  Form 
ausgeführt,  die  noch  heute  die  Ausführung  in  den 
Händen  hat  und  vielen  anderen  deutschen  Landes- 
anstalten als  Kunstanstalt  dient. 

Im  Jahre  1895  war  die  gesamte  Spezialauf- 
nahme  fertiggestellt.  Ihre  Blätter  fanden  eine 
solche  gute  Aufnahme,  daß  eine  ganze  Anzahl 
von  ihnen  in  diesem  Jahre  bereits  wieder  ver- 
griffen war.  Man  schritt  daher  zu  einer  Neuaus- 
gabe der  vergriffenen  Sektionen.  62  Blätter 
liegen  in  zweiter,  mehrere  in  dritter  Auflage 
heute  vor.  Der  Verbrauch  hat  sich  in  den  letzten 
Jahren  so  gesteigert,  daß  der  Verkauf  einzelner 
Blätter  gesperrt  werden  mußte.  Der  Druck  eines 
Blattes  kostet  gegenwärtig  —  ungerechnet  die 
Aufnahmekosten  —  etwa  100  IVIark;  trotzdem 
wird  es  zu  einem  viel  geringeren  Preise  abge- 
geben. Denn  der  Staat  will  mit  den  geologischen 
Karten  weniger  verdienen ,  als  der  Allgemeinheit 
nützen. 

Trotz  angestrengtester  Aufnahmearbeit  ist  es 
nicht  möglich  in  den  Neuausgaben  der  Spezial- 
karten  mit  dem  Verbrauche  gleichen  Schritt  zu 
halten.  Denn  eine  Neuausgabe  nach  einigen  Jahr- 
zehnten bedeutet  nicht  einen  einfachen  Neudruck 
des  früher  Dargestellten,  sondern  umfangreiche 
selbständige  Neubegehungen,  gar  nicht  selten 
eine  völlige  Umarbeitung  nach  den  modernen 
Anschauungen  der  Wissenschaft,  die  heute  z.  B. 
eine  sehr  viel  eingehendere  Analyse  des  tekto- 
nischen  Baues  verlangt.  Hatte  man  die  älteren 
Blätter  der  Spezialkarte  nur  in  der  geringen  Auf- 
lagenhöhe von  200  Stück  hergestellt  —  gegen- 
wärtig ist  sie  viel  höher  —  so  hat  deren  wider 
iLr warten  schneller  Absatz  wesentlich  dazu  bei- 
getragen, in  gewissen  Etappen  wichtigere  Neue- 
rungen in  den  Neuauflagen  der  Karten  darstellen 
zu  können. 

Gewissermaßen  die  Endübersicht  über  die  Auf- 
nahmen bringen  die  beiden,  weit  verbreiteten 
Übersichtskarten  Sachsens,  die  1908  i.  M.  i :  250000, 
1910  i.  M.  1  :  500000  erschienen  sind.  Vor  allem 
die  kleine  Übersichtskarte  ist  in  den  Schulen  zu 
großer  Verbreitung  gelangt.  Durch  vorzügliche 
technische  Ausführung  und  geschmackvolle  Farben- 
wahl gebührt  ihnen  fein  hervorragender  Platz 
unter  den  geologischen  Karten  der  Erde. 

Neben  der  Aufnahme  der  Karten  erfüllt  die 
Sächsische  Landesuntersuchung  eine  Reihe  wichti- 


ger, der  Allgemeinheit  dienender  Aufgaben.  Ja, 
ihre  praktische  Wirksamkeil  vergrößert  sich  von 
Jahr  zu  Jahr.  Eine  Reihe  von  umfangreichen 
gründlichen  Monographien  stellt  Erz-  und  Kohlen- 
schätze des  Landes  dar;  unter  diesen  seien  die 
Arbeiten  von  Mu eller  über  die  Erzgebiete  des 
Erzgebirges,  von  Hausse  über  die  Kohlen  des 
Plauenschen  Grundes  bei  Dresden,  von  Etzold 
über  die  sächsischen  Braunkohlenlager  genannt. 
In  der  Begutachtung  der  Kohlenversorgung  des 
Landes  hat  die  Landesuntersuchung  neuerdings 
wichtige  Aufgaben  zu  erfüllen. 

Die  anfangs  sehr  geförderten,  später  leider 
zurückgetretenen  bodenkundlichen  Aufnahmen,  die 
für  die  Landwirtschaft  von  allergrößtem  praktischen 
Werte  sind,  traten  191 8  wieder  in  den  Vorder- 
grund. Die  Zeit  wird  nicht  ferne  sein,  wo  die 
bereits  1872  angeregten  agrogeologischen  Karten 
und  Sonderdarstellungen  an  die  Öffentlichkeit 
treten,  in  den  die  speziellen  agronomischen  Unter- 
suchungen sächsischer  Böden  niedergelegt  sind. 
Ein  vorzüglich  eingerichtetes  Laboratorium  unter- 
stützt diese  praktische  Arbeit  aufs  beste. 

Eine  Fülle  von  Arbeit  verursacht  der  Grund- 
wasserdienst, der  sich  zu  einem  wichtigen  Zweige 
geologischer  Tätigkeit  ausgebildet  hat.  Viele 
Hunderte  von  Brunnen  werden  regelmäßig  auf 
ihren  Wasserstand  beobachtet.  In  einem  Lande 
mit  dichter  Bevölkerung,  hochentwickelter  In- 
dustrie und  wachsendem  Braunkohlenbergbau  ist 
eine  wissenschaftlich  beratene  Grundwasserbe- 
obachtung von  größter  Bedeutung. 

Liegt  noch  heute  der  Schwerpunkt  der  rein 
wissenschaftlichen  Tätigkeit  der  Landesunter- 
suchung überwiegend  in  den  gebirgigen  Teilen 
des  Landes,  wo  es  gilt,  Fragen  allerschwierigster 
Natur  ihrer  Lösung  näherzuführen,  nachdem 
verheißungsvolle  Anfänge  z.  B.  in  der  Entwirrung 
der  Tektonik  des  Erzgebirges,  des  Elbtalschiefer- 
gebirges  gemacht  wurden,  so  ist  dagegen  der 
Schwerpunkt  der  praktisch-wissenschaftlichen  Be- 
tätigung aus  den  fast  erschöpften  Erzgebieten  des 
Erzgebirges  hinab  in  das  Flachland  gewandert, 
wo  Industrie  und  Landwirtschaft  ihren  Hauptsitz 
haben  und  intensivste  Ausnutzung  aller  Schätze 
des  Bodens  im  weitesten  Sinne  dieses  Wortes 
verlangen. 

Mögen  nach  den  ersten,  so  erfolgreichen  fünfzig 
Jahren  ihrer  Tätigkeit  andere  fünfzig  mit  gleich 
glücklichen  Ergebnissen  der  Sächsischen  Landes- 
untersuchung beschieden  sein  1 


Alfoiiso  Corti. 

Ein  Gedenkblatt  zum   15.  Juni. 

(Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.   (iolt fripll    Brücklior.   Grimma. 

Als  der  Anatom  Albert  Kölliker  im  Jahre  tomischen  Wissenschaft    verankert.     Um   so    ver- 

1854  für  einen  bestimmten  Teil  der  Gehörschnecke  wunderlicher    ist    es,    daß    die    bis    vor    wenigen 

die  Bezeichnung  „Cortisches  Organ"  einführte,  hat  Jahren     erschienenen     naturwissenschaftlich-    und 

er  den  Namen  Corti  für  alle  Zeiten  in  der  ana-  medizinisch-biographischen  Nachschlagewerke  uns 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


in 


keinen  Aufschluß  über  Cortis  Lebenslauf  geben 
können.  Als  ich  vor  einigen  Jahren  von  dieser 
Tatsache  Kenntnis  bekam,  bemühte  ich  mich, 
diese  Lücke  in  der  deutschen  biographischen 
Literatur  auszufüllen  und  stellte  Nachforschungen 
über  den  Lebensgang  Cortis  an. 

Das  Ergebnis  meiner  Bemühungen,  das  ich 
teilweise  bereits  anderweit  veröffentlicht  habe,^) 
ist  zwar  nicht  so  erfolgreich  gewesen  wie  ich 
gehofft  hatte,  doch  will  ich  alles,  was  ich  bisher 
über  den  Lebensgang  Cortis  ermitteln  konnte, 
aus  Anlaß  der  100.  Wiederkehr  seines  Geburts- 
tages in  folgender  biographischen  Skizze  zu- 
sammenfassen. 

Alfonso  Corti  wurde  am  15.  Juni  1822  als 
Sohn  des  Gutsbesitzers  Gaspare-Guiseppe 
Corti,  Marchese  die  S.  Stefano  Belbo  in  Gam- 
barana  geboren.  Als  Jüngling  entschloß  er  sich 
Philosophie  und  Medizin  zu  studieren  und  bezog 
die  Universität  Pavia.  Später  besuchte  er  die 
Universität  in  Wien,  wo  er  sich  im  Studienjahre 
1846/47  als  cand.  med.  immatrikulierte.  Am 
5.  August  1847  wurde  er  auf  Grund  seiner  Disser- 
tation „De  systemate  vasorum  psammosauri 
grisei"  zum  Doktor  der  Medizin  promoviert.  Hier- 
über findet  sich  im  Rigorosenprotokoll  der  Medi- 
zinischen Fakultät  der  Universität  Wien  folgendes: 
„Corti,  Alphonsus  de,  natus  in  Gambarana  in 
Sardinia  die  XV.  Junii  1822,  rom.  cath.,  absolvit 
studia  philos.  Paviae,  medica  partim  Paviae  partim 
Viennae;  subiit  examina  rigorosa  medica,  primum 
die  9.  Febr.  1847  bene  per  majora  (sat  bene), 
secundum  die  27.  Julii  1847  sufficienter;  disputavit 
die  5.  Aug.  1847  valde  bene."  — 

Während  seines  Aufenthalts  in  Wien  war  Corti 
eine  Zeitlang  Prosektor  des  berühmten  Anatomen 
Joseph  Hyrtl;  doch  läßt  sich  nicht  feststellen, 
wie  lange  er  sich  in  Wien  aufgehalten  hat.  — 
Die  nächste  Spur  von  Corti  findet  sich  in  Utrecht. 
A.  Kölliker,  der  im  Jahre  1850  eine  Reise 
durch  Holland,  England  und  Schottland  unter- 
nahm, schreibt  am  4.  Sept.  1850  an  C.  Th.  v.  Sie - 
bold  folgendes:  „Dampfschiff  und  Eisenbahn 
führten  mich  schnell  nach  Arnhem  und  Utrecht, 
und  schon  der  folgende  Mittag  sah  mich  im 
Observatorium  microscopicum  in  Gesellschaft  von 
Schröder  van  der  Kolk,  Harting  und 
Verloren,  sowie  des  eben  in  Utrecht  anwesen- 
den Marchese  Corti,  eines  für  die  Naturwissen- 
schaften begeisterten  jungen  Piemonisten,  den  Sie 
aus  seiner  Schrift  über  das  Gefäßsystem  des 
Psammosaurus  griseus  kennen  werden".  Hieraus 
geht  hervor,  daß  Corti  in  der  Gelehrtenwelt 
bereits  einigermaßen   bekannt  geworden  war  und 

')  Brückner,  Beiträge  zu  einer  Biographie  des  Mar- 
chese Alfonso  Corti.  Archiv  für  die  Geschiebe  der  Natur- 
wissenschaften und    der  Technik  Bd.   5,  S.  69  ff. 

Brückner,  Das  Bildnis  des  Marchese  Alfonso  Corti. 
Ebenda  S.  207.  Alfonso  Corti  ist  nicht  zu  verwechseln 
mit  Bonaventura  Corti,  dem  Entdecker  der  Protoplasma- 
strömung. (Vgl.  Brückner,  Das  Leben  und  die  Schriften 
des  Abtes  B.  Corti.  Archiv  für  die  Geschichte  der  Natur- 
wissenschaften und   der  Technik  Bd.  4,  S.  389  fr.) 


daß  es  ihm  leicht  gelungen  war,  mit  den  be- 
deutendsten Forschern  Hollands  in  näheren  Ver- 
kehr zu  kommen.  Für  seine  spätere  wissenschaft- 
liche Entwicklung  war  sein  Aufenthalt  in  Utrecht 
zweifellos  von  großer  Bedeutung.  Denn  damals 
führte  Harting  die  Anwendung  von  arseniger 
Säure  für  die  Herstellung  mikroskopischer  Präpa- 
rate ein,  von  welcher  IVlethode  Corti  bei  der 
Untersuchung  der  Gehörschnecke  mit  bestem  Er- 
folg Gebrauch  gemacht  hat.  Leider  läßt  sich  auch 
die  Dauer  seines  Verweilens  in  Utrecht  nicht  genau 
feststellen;  nur  soviel  ist  sicher,  daß  er  darnach 
an  der  Universität  Würzburg  tätig  gewesen  ist. 
Corti  muß  die  Gewohnheit  gehabt  haben,  an 
keiner  Hochschule  ein  öffentliches  Amt  zu  be- 
kleiden, sondern  ist  wohl  lediglich  als  Privatge- 
lehrter in  Universitätsinstituten  tätig  gewesen. 
Denn  trotz  genauer  Durchsicht  der  Personal-  und 
Vorlesungsverzeichnisse  der  in  Frage  kommenden 
Universitäten  ist  sein  Name  dort  nirgends  ver- 
zeichnet. Dies  findet  seine  Erklärung  darin,  daß 
Corti  vermögend  gewesen  ist,  und  daß  ihm 
diese  angenehme  finanzielle  Lage  ermöglichte,  die 
anatomische  Forschung  nur  um  ihrer  selbst  willen 
und  zu  seiner  persönlichen  Freude  pflegen  zu 
können,  ohne  die  Bürden  und  die  Verantwortung 
eines  Amtes  auf  sich  nehmen  zu  müssen. 

Nachdem  Corti  im  Jahre  1850  in  Müllers 
Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie  seinen  „Bei- 
trag zur  Anatomie  der  Retina"  veröffentlicht  hatte, 
ließ  er  am  30.  Juni  185 1  in  der  „Zeitschrift  für 
wissenschaftliche  Zoologie"  seine  bedeutendste 
Arbeit  erscheinen  unter  dem  Titel :  Recherches 
sur  l'organe  de  l'ouie  des  mammiferes.  Premiere 
partie :  lima(;on.  Reiche  Anerkennung  erntete 
Corti  für  seine  Untersuchungen  bei  den  zeit- 
genössischen Anatomen,  und  es  ist  nicht  un- 
interessant, sie  mit  ihren  eigenen  Worten  über 
Cortis  Forschungen  urteilen  zu  hören. 

Joseph  Hyrtl  in  Wien  äußert  sich  folgender- 
maßen:  „Mein  ehemaliger  Prosektor,  Marchese 
Alfonso  Corti,  hat  das  Verdienst  eine  sehr 
sorgfältige  und  genaue  Untersuchung  über  den 
Bau  der  Lamina  spiralis  ofsea  und  membranacea 
sowie  der  Nerven  und  Gefäße  derselben  vorge- 
nommen zu  haben,  deren  überraschende  Ergeb- 
nisse .  .  .  allen  späteren  einschlägigen  Unter- 
suchungen zum  Ausgangspunkt  dienten." 

A.  Kölliker,  der  in  die  wissenschaftliche 
Nomenklatur  die  Bezeichnung  „Cortisches  Organ" 
eingeführt  hat,  spricht  sich  in  seinen  Werken  aus- 
führlich über  Cortis  Leistung  aus.  An  einer 
Stelle  nennt  er  sie  eine  „ausgezeichnete  und  den 
Gegenstand  fast  erschöpfende  Abhandlung  .  .  .,  die 
Frucht  monatelanger,  mühevoller  Untersuchung". 
In  einem  anderen  Abschnitt  von  Köllikers  Mikro- 
skopischer Anatomie  heißt  es:  „Ich  habe  .  .  .  bei 
einer  vor  kurzem  unternommenen  Erforschung 
der  Schnecke  zwar  die  meisten  und  wesentlichsten 
der  Cor  tischen  Angaben  zu  bestätigen  vermocht, 
zugleich  aber  auch  gefunden,  daß  dieser  Autor 
einen    sehr    wichtigen  Punkt   nicht   ganz   bis  zum 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Abschlüsse  verfolgt  hat  und  infolgedessen  auch 
mit  Beziehung  auf  die  Deutung  gewisser  Teile 
auf  Abwege  gekommen  ist.  Indem  ich  mich  so 
ausspreche,  will  ich  meinem  Freunde  Corti  nicht 
im  geringsten  zu  nahe  treten.  Niemand  weiß 
besser  als  ich,  mit  welcher  Ausdauer  und  welchem 
Geschick  derselbe  monatelang  mit  dem  so  äußerst 
schwer  zu  behandelndem  Labyrinthe  sich  be- 
schäftigte, und  sicherlich  wird  jeder,  der  Corti 
nachuntersucht,  mit  mir  einstimmen ,  wenn  ich 
sage,  daß  nicht  leicht  eine  monographische  Arbeit 
von  solcher  Exaktheit  und  Vollständigkeit  zu 
finden  ist  wie  die  seine.  Allein  wie  es  in  allen 
unsern  Forschungen  geht,  so  auch  hier;  jeder 
führt  den  wissenschaftlichen  Bau  um  ein  gewisses 
seinem  Ziele  näher,  doch  es  ist  keinem  vergönnt, 
denselben  ganz  zu  enden." 

Ein  Jahr  nach  Erscheinen  seines  Hauptwerkes 
hat  Corti  Deutschland  den  Rücken  gekehrt, 
denn  im  Jahre  1852  finden  wir  ihn  in  Turin.  Dort 
arbeitete  er  gemeinsam  mit  dem  Professor  Che- 
valier Filippo  de  Filippi.  Reiches  ana- 
tomisches Material  bot  sich  ihnen,  als  der  König 
Victor  Emanuel  II.  von  Sardinien  die  Menagerie 
in  der  Nähe  von  Stupinigi  bei  Turin  auflöste  und 
dem  Zoologischen  Museum  der  Universität  Turin 
einen  durch  Asphyxie  mit  Kohlendioxyd  getöteten 


Elefanten  für  wissenschaftliche  Zwecke  zur  Ver- 
fügung stellte.  Im  Dezember  1852  berichtete 
Corti  in  einem  Briefe  an  Kölliker  über  das 
Ergebnis  seiner  anatomischen  Untersuchungen. 

Von  diesem  Zeitpunkte  an  scheinen  sich 
Cortis  wissenschaftliche  Interessen  immer  mehr 
verloren  zu  haben,  bis  er  schließlich  im  Jahre  1854 
auch  die  letzten  Beziehungen  zur  Universität  Turin 
völlig  löste.  Im  Jahre  1855  vermählte  er  sich 
mit  Maria  Bettinzoli  und  zog  sich  dann  in 
seine  Villa  Mazzolino  in  der  Nähe  von  Casteggio 
(Provinz  Pavia)  zurück.  Dort  widmete  er  sich 
mit  so  großem  Eifer  dem  Weinbau,  daß  er  in 
der  ganzen  Gegend  der  Colli  di  Casteggio  als 
Autorität  in  diesem  F"ache  galt.  Corti  starb  im 
55.  Lebensjahre  am  2.  Oktober  1876.') 

')  Da  Cortis  Bruder  Luigi  Corti  (1823 — 88)  eine 
Zeitlang  italienischer  Bevollmächtigter  in  Beilin  war,  konnte 
ich  durch  das  dortige  Italienische  Konsulat  erfahren,  daß 
AlfoDSo  Cortis  Sohn,  Ga  spare,  in  Taino  (Provinz  Como) 
lebt.  Auf  meine  briefliche  Anfrage  konnte  ich  jedoch  keine 
biographischen  Einzelheiten  über  seinen  Vater  erfahren,  da  er 
ihn  bereits  mit  14  Jahren  verloren  hat.  —  Die  Quellen  obiger 
biographischen  Skizze  sind  Mitteilungen  der  Universitäten 
Wien  und  Turin,  Angaben  in  einem  italienischen  Adelslexikon 
und  gelegentliche  Notizen  in  der  anatomisch-wissenschaftlichen 
Literatur. 


Mathematisches  Neuland:  Arnold  Kowalewskis  Buntordnnngslehre. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von   Universitätsprofessor  Dr.   Hans  Rlist,  Königsberg  i.  Pr. 


Wiederholt  hat  die  mathematische  Wissen- 
schaft bedeutsame  Anregungen  auf  das  philosophi- 
sche Denken  ausgeübt,  wie  sie  umgekehrt  solche 
von  dort  her  empfangen  hat.  Es  waren  jeweils 
nicht  die  schlechtesten  und  nicht  die  unbedeutend- 
sten Philosophen,  welche  die  Mathematik  um 
ganz  hervorragende,  ja  epochemachende  und  um- 
wälzende Entdeckungen  bereichert  haben.  Nur 
beispielsweise  seien  Cartesius  als  der  Schöpfer 
der  analytischen  Geometrie,  Leibniz  als  Ent- 
decker der  Infinitesimalrechnung,  Fechner  als 
der  Urheber  der  Kollektivmaßlehre  genannt. 

Wie  letzterer  ganz  besonders  von  psychologi- 
schen und  psychophysischen  Untersuchungen  her- 
kam, so  entstammen  diesem  Forschungsgebiete 
die  Anlässe,  welche  einen  mit  hoher  Achtung 
genannten  Philosophen  der  Gegenwart  zu  seiner 
außerordentlich  bedeutsamen  Entdeckung 
eines  völlig  neuen  Gebietes  der  mathe- 
matischen Forschung  und  ihrer  reichen 
Anwendungsmöglichkeiten  geführt  haben. 

Um  die  Jahrhundertwende  standen  sich  die 
reine  Philosophie  und  die  Experimentalpsycho- 
logie  wie  zwei  feindliche  Schwestern  gegenüber. 
Da  kam  Arnold  Kowalewski  im  Jahre  1902 
auf  den  sehr  fruchtbaren  Gedanken,  eine  metho- 
dologische Synthese  beider  Forschungs- 
gebiete herzustellen  und  ihre  Brauchbarkeit  so- 
gleich  an    einer    ganz    konkreten    philosophischen 


Frage  vor  Augen  zu  führen.  Er  suchte  das  Pessi- 
mismusproblem durch  eine  systematische  Ver- 
gleichung  der  Lust-  und  Unlustauffassung  aufzu- 
hellen und  legte  die  hauptsächlichsten  Ergebnisse 
seiner  Forschung  in  den  „Studien  zur  Psychologie 
des  Pessimismus" ,  Wiesbaden ,  J.  F.  Bergmann, 
1904  (Grenzfragen  des  Nerven-  und  Seelenlebens) 
vor.  Eine  zweite  Frucht  dieser  Arbeitsgemein- 
schaft von  reiner  Philosophie  und  experimenteller 
Psychologie  war  Kowalewskis  Buch  „Arthur 
Schopenhauer  und  seine  Weltanschauung",  Halle, 
C.  Marhold,  1908.  Hier  gelang  ihm  durch  „em- 
pirische Sondierungen"  über  Lust-  und  Unlust- 
erinnerung eine  schlagende  Bestätigung  der 
Schopenhauerschen  Lehre  von  der  Zusammen- 
gehörigkeit großer  Lust-  und  Schmerzdisposition. 
Kowalewski  hat,  sagt  Oswald  Külpe,  „in 
glücklicher  Form  gezeigt,  daß  die  experimentelle 
Psychologie  auch  an  größere  F"ragen  herantreten, 
zu  Ethik  und  Metaphysik  in  fruchtbare  Beziehung 
gebracht  werden  kann"  (Göttirgische  gel.  Anzeigen, 
Februar  1905).  Ihre  Bedeutsamkeit  für  die  heute 
wieder  auflebende  Seelendiätetik  habe  ich  in 
meinem  Buche  „Sittlichkeit  und  Gesundheit", 
Bielefeld  und  Leipzig,  Velhagen  und  Klasing, 
1922,  S.  ']^  und  97)  hervorgehoben. 

Bei  seinen  Experimenten  über  die  Auffassung 
moralischer  Wertunterschiede  nach  der  „Methode 
der    paarweisen    Vergleichung"     ergab    sich     für 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


325 


Kowalewski  die  Notwendigkeit,  die  zur  Ver- 
gleichung  dargebotenen  Paare  oder  Amben  in 
möglichst  bunter  Abwechslung  folgen  zu  lassen, 
um  so  die  Reinheit  des  Ergebnisses  zu  sichern. 
Am  wenigsten  leistete  die  von  Külpe  vorge- 
schlagene lexikographische  Anordnung  der  Paare, 
weil  hier  das  einzelne  Element  viel  zu  oft  hinter- 
einander und  damit  zu  lange  beobachtet  wird, 
während  das  Nachbarelement  zwar  wechselt,  aber 
in  einer  gleichbleibenden  Abfolge.  Besseres 
leistete  schon  die  von  Jonas  Cohn  empfohlene 
Art  der  Kombination,  welche  im  wesentlichen 
dem  Dominoprinzip  folgt,  also  jedes  EJement 
zweimal  nacheinander  zeigt,  das  eine  IVIal  rechts, 
das  andere  Mal  links  vom  Vergleichungselement. 
Aber  auch  so  entstand  noch  keine  bunteste 
Anordnung  der  Amben  und  ließen  sich  P'ehler 
nicht  ganz  vermeiden,  welche  aus  der  Reihen- 
folge der  Versuche  entsprangen. 

Kowalewski  versuchte  daher  eine  Amben- 
reihe zu  konstruieren,  in  der  möglichst  viele 
aufeinanderfolgende  Amben  lauter 
verschiedene  Elemente  enthalten,  so 
daß  die  Wiederholung  jedes  einzelnen 
Elementes  möglichst  hinausgeschoben 
wird.  Eine  solche  Ambenreihe  stellt  sich  der 
Versuchsperson  nicht  nur  subjektiv,  sondern  auch 
objektiv  als  eine  bunteste  Mischung  der  Elemente 
dar,  während  der  Experimentator  die  Reihe  mit 
Leichtigkeit  herstellen  und  übersehen  kann,  weil 
er  ihr  mathematisches  Bildungsgesetz  in  Händen  hat. 

Damit  war  der  Grundgedanke  und  der  Grund- 
begriff der  „Buntord  nungslehre"  entdeckt 
und  ein  ganz  neues  Gebiet  der  Kombinatorik 
erschlossen,  deren  ruhmreiche  Geschichte  an  den 
Namen  des  großen  Leibniz  geknüpft  ist,  die 
man  aber  seit  ihrer  großen  Blüte  am  Anfange 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  für  abgestorben  hielt. 

Die  Wiener  Akademie  der  Wissen- 
schaften hat  sich  das  äußerst  dankenswerte 
Verdienst  erworben,  in  den  Jahren  des  Krieges, 
seit  1915,  in  sieben  aufeinanderfolgenden  Ver- 
öffentlichungen die  tief  dringenden  Forschungen 
Kowalewskis  auf  dem  von  ihm  neu  entdeckten 
Wissensgebiete  der  gelehrten  Welt  vorzulegen, 
nachdem  Prof.  Dr.  W  i  r  t  i  n  g  e  r  sofort  die  Be- 
deutsamkeit der  neuen  Entdeckung  erkannt  hatte. 

Nunmehr  tritt  der  glückliche  Entdecker  mit 
seinem  wertvollen  Funde  ein  zweites  Mal  vor  die 
Öffentlichkeit,  um  sie  weiteren  Kreisen  bekannt 
zu  machen.  Vor  mir  liegt:  ,,Die  Buntord- 
nung", Mathematische,  philosophische  und  tech- 
nische Betrachtungen  über  eine  neue  kombinatori- 
sche Idee  von  Arnold  Kowalewski,  a.  o.  Prof. 
in  Königsberg  i.  Pr. ,  Heft  i :  Entstehung  und 
mathematischer  Ausbau  der  Buntordnungslehre. 
Leipzig,  Verlag  von  Wilhelm  Engelmann,  1922. 
Preis  "18  Mark.  53  S.  gr.  8".  Dem  Werte  des 
Inhalts  entspricht  die  vornehme  Ausstattung  des 
Buches,  das  gute  Papier  und  der  große,  klare 
Druck.      Da    sich    das    Werk    an    Mathematiker, 


Philosophen  und  Techniker  wendet,  so  wurde 
eine  Zerlegung  des  Ganzen  in  drei  Hefte  beliebt, 
welche  der  Verbreitung  der  neuen  Idee  nützen 
wird. 

Das  vorliegende  erste  Heft  unterrichtet  über 
die  Entstehung  der  Buntordnungslehre  und  ent- 
wickelt ihren  Inhalt  unter  fortwährender  Bezug- 
nahme auf  die  grundlegenden  Akademieabhand- 
lungen in  einer  auch  einem  größeren  Leserkreise 
verständlichen  Form.  Zunächst  machen  uns  grund- 
legende Betrachtungen  mit  den  Grundbegriffen 
der  Buntordnungslehre  bekannt,  deren  es  fort- 
schreitend immer  neue  zu  entdecken  und  zu 
fixieren  gibt.  Die  Buntheitsmöglichkeiten  werden 
in  Form  von  „Buntringen"  erschöpfend  berechnet. 
Nach  Kowalewskis  Feststellung  zerfallen  alle 
vollkommenen  Buntringe  der  doppelten  Fünfer- 
amben in  12  isonome,  15  parisonome,  30  Hamil- 
tonsche,  30  konservative,  60  unharmonische  erster 
und  60  unharmonische  zweiter  Art.  Im  ganzen 
gibt  es  also  207  =  3"  ■  23  solche  Buntringe. 
Die  folgenden  Untersuchungen  behandeln  die 
zu  den  Ambenbuntringen  gehörigen  Absenten- 
ringe und  ähnliche  bunte  Elemenlringe;  bunteste 
Ambenreihen  und  Ambenringe  bei  gerader  Ele- 
mentzahl; Temen-  und  Quaternenbuntringe;  die 
topologische  Deutung  von  Buntordnungsproble- 
men;  bunte  Konstellationsreihen  und  Konstella- 
tionsringe; flächenhafte  Buntordnungen;  Neben- 
ergebnisse. 

Besonders  hervorgehoben  zu  werden  verdient 
die  Tatsache,  daß  gewisse  rein  mathematische 
Probleme  durch  die  Buntordnungslehre  in  eine 
neue  Beleuchtung  gerückt  worden  sind,  so  nament- 
lich Hamiltons  Dodekaederproblem  und  Steiners 
Theorie  der  Dreiersysteme.  Die  Freunde  des 
Schachspiels  werden  sich  freuen,  daß  im  Zusam- 
menhang mit  dem  soeben  erschlossenen  Erkenntnis- 
gebiet auch  neue  Typen  von  Rösselsprüngen 
gefunden  worden  sind.  Auch  in  die  Mathematik 
der  höheren  Raumarten  greift  die  neue  Forschung 
hinein,  sofern  nur  in  solchen  gewisse  „Buntnetze" 
zu  voller  Schönheit  verwirklicht  werden  können, 
d.  h.   so  daß    ihre  Fäden  sich  niemals  schneiden. 

Das  zweite  Heft  soll  die  philosophische 
Auswertung  des  neuen  Wissenszweiges  bringen. 
Das  dritte  Heft  wird  die  bedeutsamsten  prak- 
tischen Nutzungswege  aufzeigen,  die  der  Bunt- 
ordnungsidee  in  der  experimentalpsychologischen 
Technik,  in  der  Fabrikorganisation,  im  Handels- 
betrieb, in  der  Landwirtschaft  (Buntsaat  1),  Medizin, 
Chemie  (Elementverbindungen!),  Erziehungs- 
kunst, Spielindustrie,  Kunstgärtnerei  und  Orna- 
mentik offen  stehen.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  sich 
auf  diesen  Gebieten  Nutzanwendungen  der  Bunt- 
ordnungslehre ergeben,  welche  einen  nicht  ge- 
ringen Beitrag  zur  Wiederherstellung  unseres 
Wirtschaftslebens  liefern.  Aber  auch  weit  darüber 
hinaus  erbringt  die  rein  wissenschaftliche  Ent- 
deckung als  solche  einen  neuen  Beweis  für  die 
Kraft  und  Sieghaftigkeit  des  deutschen  Geistes. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Alfred  Wegeners  Theorre  der  Koutinentalverschiebungen  und  die  Tiergeographie. 

Von  Dr.  Wilh.  R.  Eckardt, 

Leiter  des  Meteorologischen  Observatoriums  Essen. 


[Nachdruck  verboten.] 

Es  kann  wohl  kein  Zweifel  darüber  herrschen, 
daß  Alfred  Wegeners  Theorie  der  Konti- 
nentalverschiebungen z.  T.  als  richtig  sich  er- 
weisen wird.  Für  das  Paläoklima  und  manche 
große  Grundfragen  der  Tiergeographie  sind  be- 
sonders wichtig  die  aus  ihr  hergeleiteten  Polver- 
schiebungen im  Laufe  der  Erdgeschichte,  die  für 
manche  Erdperioden  von  We gener  und  Koppen 
im  allgemeinen  richtig  erfaßt  worden  sein  dürften. 
Denn  ohne  Annahme  solcher  Verlagerungen 
kommt  die  Paläoklimatologie  ebensowenig  aus 
wie  der  historische  Zweig  der  Biogeographie. 

In  diesem  Zusammenhange  möchte  ich  hier 
nur  kurz  das  Problem  des  Aussterbens  der  süd- 
amerikanischen Equiden  behandeln,  das  dem  Bio- 
logen, Geographen  und  Geologen  bis  heute  viel 
Kopfzerbrechen  verursacht  hat. 

Obwohl  der  Hauptherd  der  Pferdeschöpfung 
in  Nordamerika  lag,  von  wo  aus  im  Laufe  des 
Tertiärs  auch  alle  übrigen  Festländer  —  ausge- 
nommen natürlich  Australien  —  ihre  Equiden- 
formen  erhielten  und  weiter  umbildeten,  fanden 
bekanntlich  die  Spanier,  welche  Amerika  zuerst 
betraten,  kein  einziges  Pferd,  weder  wild  noch 
domestiziert,  vor,  während  heute  zahlreiche  Herden 
verwilderter  Pferde  auf  den  südamerikanischen 
Steppen  sich  herumtummeln,  und  zwar  bereits 
seit  Ende  des  16.  Jahrhunderts.    Dagegen  kommen 


Gegenteil !  dort  finden  wir  nur  Puma  und  Jaguar, 
im  Osten  aber  Löwe,  Tiger,  Leopard,  Bär  usw. 
Auch  der  vorzeitliche  Jäger  kann  die  Pferde  in 
Amerika  nicht  ausgerottet  haben,  da  seine  Jagd- 
geräte und  Jagdmethode  viel  zu  primitiv  waren,') 
und  weil  die  fossilen  Funde  die  hierfür  in  Frage 
kommenden  menschlichen  Artefakte  vermissen 
lassen.  An  das  Auftreten  von  Seuchen,  die  die 
Herden  hinwegrafften,  ließe  sich  denken,  aber 
eine  solche  Hypothese  schwebt  völlig  in  der  Luft. 
IVI.  E.  können  wir  der  Lösung  der  Frage  nur 
dann  näher  kommen,  wenn  wir  bedenken,  daß 
auch  die  Urwildpferde,  wie  fast  alle  Pferdeartigen, 
Steppentiere  gewesen  sind  und  somit  die  trockene 
Grasebene  als  ihre  natürliche  Heimat  und  Nahrungs- 
stelle besaßen,  daß  also  für  ihr  Verschwinden 
wohl  Änderungen  des  Klimas  und  des  Pflanzen- 
wuchses, übermäßige  Zunahme  der  F"euchtigkeit 
und  Vorrücken  des  Waldes  verantwortlich  ge- 
macht werden  müssen.  Hierauf  hat  bereits 
L.  Heck,-)  allerdings  nicht  in  bezug  auf  die 
südamerikanischen  Pferde,  hingewiesen.  Solche 
Klimaänderungen  sind  aber  in  Südamerika  tat- 
sächlich vom  Tertiär  bis  zur  Gegenwart  vor  sich 
gegangen.  Bekanntlich  liegen  die  Reste  großer 
ausgestorbener  südamerikanischer  Tiere,  wie  z.  B. 
von  Megatherium,  Mylodon,  Macrauchenia  u.  a. 
meist   im    Pampaslehm    eingebettet,   jener   ausge- 


Pferde  fossil  in  den  Pampaschichten,  in  den  etwas  dehnten  Lößformation,  die  sich  außen  an  das  mit 

älteren  Ablagerungen    von  Paranä,   sowie    in   den  Grundmoräne  bedeckte  Gebiet    älterer  Vereisung 

Monte  HermosoSchichten  vor,  während  sie  in  den  nördlich     von    Patagonien     anschließt.       Alfred 

Santa  Cruz-Schichten  fehlen.     Einige  der  argenti-  Wegener^)     selbst     bemerkt     hierzu     treffend: 

nischen  fossilen    Pferde     gehören     der    typischen  „Man  erkennt  allgemein  an,   daß  diese  Fauna  nur 

Gattung  EqtiKS  an,    während    andere    wegen    des  in  warmem  Klima    gelebt    haben    kann,    ist    aber 

einfacheren    Baues    ihrer    Molaren    und    der    be-  bestrebt,  sie  ins  Tertiär  oder  wenigstens  Altquartär 


deutenden  Länge  der  Einschnitte  im  Schädel 
unterhalb  der  Nasenbeine  unter  dem  Namen  Hip- 
pidiniH  zu  einer  besonderen  Gattung  zusammen- 
gefaßt werden.  Eine  dritte  Gattung  unterscheidet 
sich  von  der  letzteren  durch  eine  große  Ver- 
tiefung in  den  seitlichen  Gesichtsknochen,  die  den 
Tränengruben  der  Hirsche  entspricht.')  Alle  diese 
ausgestorbenen  südamerikanischen  Pferde  sind  aber 
zu  denjenigen  Gruppen-  zu  rechnen,  die  von 
Norden  her  eingewandert  sind.  Warum  diese 
Equiden  aber  gerade  in  einem  für  ihr  F'ortkommen 
doch  so  geeigneten  Lande,  wie  etwa  Argentinien, 
ausgestorben  sind,  erscheint  auf  den  ersten  Blick 
mehr  als  rätselhaft,  wenn  wir  doch  bedenken,  daß 
im  heutigen  Südamerika  sich  mehrere  Millionen 
verwilderter  Pferde  seit  über  300  Jahren  dort 
herumtreiben  und  vortrefflich  gedeihen.  Denn 
kein  Raubtier  gefährdet  und  gefährdete  die  Pferde 
in  der  Neuen  Welt  mehr  als  auf  der  Ostfeste ;  im 


')  Lydekltcr,  Die  geographische  Verl>reitunf;  und  geo- 
logische Entwicklung  der  Säugetiere.  2.  .Aufl.  lena  i')oi. 
S.  104. 


zu  setzen,  um  nach  Analogie  mit  Europa  für  das 
Tertiär  ein  warmes  Klima  zu  retten,  während  die 
Tiere  doch  in  dem  Produkt  der  großen  Vereisung 
eingebettet  liegen,  also  erst  lebten,  als  der  Wind 
bereits  den  Staub  von  der  abgetrockneten  Grund- 
moräne entführen  konnte.  Jedenfalls  wird  man 
zugeben,  daß  diese  Tiere  nicht  gleichzeitig  mit 
der  Vereisung  gelebt  haben  können,  und  daß  des- 
halb jedenfalls  eine  Revision  der  Altersbestim- 
mungen für  Südamerika  nötig  ist."  Auf  Grund 
dieser  und  anderer  Erwägungen  kommt  A.We ge- 
ner zu  dem  Ergebnis,  daf3  Patagonien  im  Dilu- 
vium auf  etwa  30"  Süd  zu  liegen  kam  und  wohl 
ganz  frei  von  Gletschern  gewesen  sein  dürfte, 
während  die  Hauptvereisung  daselbst  nicht  wie 
bei  uns  wirklich  ins  Diluvium,  sondern  noch  in 
das  Tertiär  fiel. 

Eine  solche  Verlagerung  des  Poles  hätte  aber 

')  W.  So  er  gel,  Das  Aussterben  diluvialer  Säugetiere 
und    die  Jagd    des    diluvialen  Menschen.     Jena    1902.     S.  33, 

'')  Brehms     Tier  leben.     4.  Aufl.     Säugetiere.     3.  Bd. 

')  Die  Entstehung  der  Kontinente  und  Ozeane.  2.  Aull. 
Braunschweig   1920.     S.   I03/4. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


327 


auch  eine  bedeutende  Verschiebung  der  Klima- 
zonen nach  sich  ziehen  müssen,  und  zwar  der- 
gestalt, daß  das  südamerikanische  Festland  im 
Diluvium  noch  weit  mehr  Tropenkontinent  unter 
gleichzeitigem  Vorrücken  der  amazonischen  Hylaea 
bis  weit  nach  Süden  war.  Einem  solchen  Klima 
mit  mächtiger  Pflanzendecke  aber  hätten  die  Pferde 
weichen  müssen,  selbst  dann,  wenn  zur  Zeit  des 
niedrigen  Sonnenstandes  ein  Steppenhimmel  sich 
über  dem  Südhorn  des  Kontinentes  einstellte, 
denn  dann  versiegten  auf  diesem  übrigens  sehr 
kleinen  Räume  wohl  die  Wasserstellen,  und 
weiteren  Wanderungen  zum  feuchteren  Norden 
bot  die  tropische  Hylaea  vorzeitig  Halt.  Einem 
solchen  Klimawechsel  mußten  wohl  die  verschie- 
denen südamerikanischen  Equidenformen,  wenn 
auch  nicht  unbedingt  gleichzeitig,  so  doch  nach- 
einander erliegen.  Denn  einmal  kann  das  Pferd 
als  vollendetste  Anpassung  an  die  Steppe  im 
Tropenklima  nicht  lange  aushalten,  und  als  in- 
direkte Wirkung  des  Tropenklimas  käme  wohl 
auch  die  Pflanzennahrung  in  Betracht,  die  in  den 
immer  feuchten  Tropen  jedenfalls  eine  andere  ist 
als  in  den    subtropischen  Steppen,    wo    die  heute 


noch  lebenden  Equiden,  dem  kräftigen  Bau  ihrer 
Molaren  entsprechend,  fast  ausschließlich  harte 
Grasnahrung  zu  sich  nehmen.  Es  wäre  jedenfalls 
eine  dankbare  Aufgabe  der  südamerikanischen 
Paläontologen,  einmal  darauf  zu  achten,  ob  sich 
nicht  an  dem  fossilen  IVIaterial  die  Frage  des 
gleichzeitigen  oder  nacheinander  erfolgenden  Aus- 
sterbens der  in  ihrem  Molarenbau  verschiedenen 
südamerikanischen  Equidenformen  beantworten 
läßt,  wie  O.Abel')  meint.  Man  kann  auf  Grund 
des  Gesagten  sich  daher  der  Ansicht  von  L.  v  o  n 
U  b  i  s  c  h  '')  anschließen :  „In  vielen  Fällen  ist  die 
Verschiebungstheorie  geeignet,  uns  einfachere 
Lösungen  der  Verhältnisse  zu  geben  als  jede 
andere  frühere  Theorie.  Wegen  er  ist  also 
durchaus  berechtigt,  die  Tiergeographie  als  wesent- 
liche Stütze  seiner  Theorie  heranzuziehen.  Aber 
einen  Beweis  können  wir  in  der  Tierverbreitung 
für  die  Verschiebungstheorie  noch  nicht  erblicken." 

')  Grundzüge  der  Paläobiologie  der  Wirbeltiere.  Stutt- 
gart  1912.     S.  504/5. 

'-')  Wegeners  Kontinental- Verschiebungstheorie  und  diu 
Tiergeographie.  Verh.  der  Physikal. -med.  Gesellschaft  zu 
Würzburg    1921. 


Einzelberichte. 


Neue  Beobachtungen  an  uusern  entoniophileii 
Moosen. 

Unter  den  Moosen  nehmen  die  zur  Familie 
der  Splachnaceae  gehörenden  Gattungen  Tayloria, 
Tetraplodon  und  SplacJiimni  infolge  ihrer  ab- 
weichenden Lebensweise  eine  besondere  Stellung 
ein.  Splaclimoit  und  Tetraplodon  leben  nämlich 
fast  ausschließlich  auf  den  Exkrementen  ver- 
schiedener Tiere  oder  auf  Tierleichen  und  auch 
Tayloria  bevorzugt  Örtlichkeiten ,  die  reich  an 
organischen  Stoffen  sind.  Mit  dieser  engen  An- 
passung an  ganz  bestimmte  und  sehr  beschränkte 
Wohnplätze  hängt  es  sicherlich  zusammen,  wenn 
die  zu  kleinen  Klümpchen  verklebten  Sporen  in 
der  Regel  durch  gewisse  Fliegen  verbreitet  wer- 
den. Um  die  Insekten  anzulocken,  ist  in  vielen 
Fällen  die  Apophyse  (der  oberste  Teil  des  Kapsel- 
stiels) zu  einem  deutlichen  Schauapparat  umge- 
staltet. Bei  Splacliniiiii  liifc/im  und  .S'.  nibnim, 
zwei  nordischen  Moosen,  die  in  Deutschland  noch 
nicht  beobachtet  wurden,')  gleicht  sie  z.  B.  einem 
breiten,  glänzenden,  gelb  oder  rot  gefärbten  Schirm. 
Der  Insektenanlockung  dient  auch  der  eigenartig 
süßliche  Aasgeruch,  den  viele  dieser  Moose  aus- 
strömen. Über  den  Entstehungsort  und  die  Aus- 
strömungsstellen, sowie  über  die  besondere  Natur 
dieses  auffälligen  „Duftes"  hat  F.  v.  Wettste  i  n  -) 
in  letzter  Zeit  eingehende  Untersuchungen  ange- 
stellt, über  die  hier  in  aller  Kürze  berichtet  wer- 
den soll. 

Als  Bildungsherd  des  Geruches  wurde  die 
Apophyse  ermittelt;  denn  selbst  nach  Entfernung 


der  Kapseln  hielt  der  Geruch  auch  weiter  unver- 
mindert an.  Da  nun  die  Apophysenwand  eine 
deutlich  entwickelte  Kutikula  besitzt,  können  als 
Austrittsstellen  für  die  Riechstoffe  nur  die  Spalt- 
öffnungen in  Frage  kommen.  Genaue  mikro- 
skopische Untersuchungen  haben  nun  gezeigt,  daß 
sich  die  Spaltöffnungen  besonders  bei  den  am 
weitesten  differenzierten  Formen  {Splacliniim  lu- 
fcii)n  und  S.  rubriini)  zu  deutlichen  „Duftorganen" 
umwandeln.  Am  Ende  der  Sporogonentwicklung 
strecken  sich  nämlich  die  die  Schließzellen  der 
Spaltöffnungen  umgebenden  schmalen  Nebenzellen 
noch  mehr  in  die  Länge  und  krümmen  sich  auch 
etwas  nach  außen.  Dadurch  wird  die  Spalt- 
öffnung um  I — 2  Zelltiefen  über  die  Oberfläche 
der  Apophysenwand  emporgehoben  und  die 
Atemhöhle  bedeutend  erweitert.  Zugleich  geht 
mit  dem  Zellsaft  eine  Veränderung  vor  sich;  er 
wird  stärker  lichtbrechend  und  flüchtiger.  Wahr- 
scheinlich sondert  er  jetzt  als  Stoffwechselendpro- 
dukt den  Riechstoff  ab,  über  dessen  chemische 
Natur  F.  v.  Wettstein  vorläufig  nur  sagen  kann, 
daß  er  zur  Indolgruppe  gehört,  wie  bekanntlich 
auch  alle  die  übrigen  Substanzen,  die  als  „Duft- 
stoffe"   bei    den    Aasfliegenblumen    wirken.      Ob 


')  Von  der  Verbreitung  unserer  einheimischen  entomo- 
philen  Moose  ist  zu  sagen,  daß  sie  infolge  des  steten  Rück- 
ganges der  Weidewirtschaft  immer  seltener  geworden  sind.  An 
vielen  Standorten  namentlich  der  Ebene  sind  sie  wohl  für 
immer  verschwunden. 

'■^j  Vgl.  Fritz  V.  Wettstein,  Splachnaceenstudien  I. 
Entomophilie  und  Spaltüftnungsapparat.  ( »sterreich.  bot.  Zeit- 
schrift  1921. 


32(S 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


die  Moose  den  angelockten  Fliegen  als  Ent- 
schädigung für  den  lebenswichtigen  Dienst  der 
Sporenübertragung  irgendwelche  Nährstoffe  bieten 
oder  ob  die  Insekten  von  den  Moosen  einfach 
„zum  Narren  gehalten  werden",  konnte  noch  nicht 
genau  festgestellt  werden.  Die  Fraßspuren,  die 
an  den  Apophysen  nicht  selten  zu  beobachten 
sind,  deuten  vielleicht  darauf  hin,  daß  hier  irgend- 
welche nahrhaften  Stoffe  für  die  Insekten  bereit 
liegen.  Jedenfalls  kann  man  den  weiteren  Unter- 
suchungen F.  V.  Wettsteins  über  diese  merk- 
würdigen Laubmoose  mit  ihren  einzigartigen  An- 
passungserscheinungen mit  Interesse  entgegen- 
sehen. E.  Schalow  (Breslau). 

Über  den  Urspruiig  der  Getreidearten. 

Die  Literatur  über  den  Ursprung  unserer 
Kulturgewächse  ist  recht  umfangreich.  Sowohl 
Botaniker,')  als  auch  Philologen^)  haben  sich 
mit  dieser  Frage  beschäftigt,  und  immer  noch  ist 
man  nicht  einig  darüber,  wo  die  Urheimat  vieler 
Kulturpflanzen  zu  suchen  ist,  und  welches  ihre 
wilden  Stammformen  sind.  Denn  darüber  ist 
man  sich  klar,  das  die  angebauten  Gewächse  von 
irgendwelchen  wilden  herzuleiten  sind.  Das  hier 
Gesagte  bezieht  sich  auch  auf  die  Getreidesorten, 
den  Hafer,  die  Gerste,  den  Roggen,  den  Weizen, 
den  Mais,  von  welchen  auch  nahestehende  wild 
wachsende  Verwandte  bekannt  sind. 

Bekanntlich  unterscheiden  sich  die  wildwachsen- 
den Getreidearten  von  den  angebauten  vor  allem 
dadurch,  daß  sie  eine  brüchige  Ährenspindel  be- 
sitzen; demnach  fallen  bei  der  Reife  nicht  die 
Körner  allein  von  der  Ährenachse  ab,  sondern 
diese  zerfällt  in  mehrere  Stücke  mitsamt  den  daran 
haftenden  Körnern.  Dies  ermöglicht  eine  raschere 
Aussaat,  als  bei  den  Formen  ohne  brüchige  Ähren- 
spindel, bei  welchen  die  Körner  viel  länger  an 
der  Ähre  sitzen  bleiben  und  die  daher,  wie  die 
Kulturformen  des  Getreides,  leicht  geerntet  wer- 
den können. 

Brüchig  sind  z.  B.  der  Wildhafer  —  Avena 
fatua  und  Avena  sterilis,  der  wilde  Weizen  — 
Triticum  dicoccoides,  die  Wildgerste  —  Hordeum 
spontaneum,  der  Wildroggen  —  Seeale  monta- 
num.  In  der  Kultur  sind  dann,  nach  der  land- 
läufigen Meinung,  die  nicht  brüchigen  Formen 
entstanden,  aber  auf  welche  Weise  dies  zustande 
gekommen,  ob  durch  Verlust  eines  oder  mehrerer 
die  Brüchigkeit  der  Spindel  bedingender  Erb- 
faktoren, oder  auf  eine  andere  Weise,  darüber 
sind  die  Arbeiten  noch  nicht  abgeschlossen.^)  Es 
ist  bis  jetzt  noch  nicht  gelungen,  die  wilden  Ge- 

')  Z.  B.  A.  deCandolle,  L'origine  des  plantes  cultivees  1883. 

Schulz,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  kultivierten  Getreide 
und   ihrer  Geschichte.     H-dUc   1913. 

Körnicke,  Arten  und  Varietäten  des  Getreides.     iSSt;. 

')  Z.  B.  Hehn,   Kulturpflanzen  und   Haustiere  u.  a. 

")  Siehe  z.  B.  die  Arbeiten  von  v.  U  bisch,  in  Zeitschr. 
iür  ind.  Abstammungs-  nnd  Vererbungslehre  14,  1915  und 
Schiern  ann,  ebenda  26,  IQ2I,  wo  auch  die  betrefTende 
Literatur  angeführt  ist. 


treidearten  (z.  B.  Seeale  montanum)  durch  Kultur 
in  die  entsprechende  Kulturform  überzuführen. 
Und  was  hier  über  die  Brüchigkeit  der  Ähren- 
spindel gesagt  ist,  bezieht  sich  auch  auf  die 
übrigen  Merkmale,  wie  z.  B.  den  perennierenden 
Wurzelstock  des  wilden  Roggens,  die  stärkere 
Behaarung  der  Spelzen  bei  manchen  wilden  For- 
men usw. 

Unlängst  sind  in  russischer  Sprache  zwei  Ar- 
beiten erschienen,  welche  das  Problem  des  Ur- 
sprungs unserer  Getreidearten  von  einer  ganz 
anderen  Seite  anfassen,  nämlich:  N.  Vavilow, 
„Über  den  Ursprung  des  kultivierten  Roggens"  und 
Robert  Regel  t,  „Zum  Problem  des  Ursprungs 
der  kultivierten  Gerste".  •■) 

Vavilow  wendet  sich  vor  allem  gegen  die 
Verfechter  der  Meinung,-)  der  wilde  perennierende 
Roggen,  mit  zerbrechlicher  Ährenspindel  und 
kleinen  Körnern,  sei  die  Stammform  des  ange- 
bauten Roggens.  Der  wilde  Roggen,  Seeale 
montanum  Gurs.,  welcher  in  den  Gebirgen  der 
Mittelmeerländer,  in  Kleinasien,  Turkestan,  Asien, 
Zentralasien  und  im  Kaukasus  vorkommt,  ist  eine, 
dem  kultivierten  Roggen  nahestehende  selbständige 
Art.  Ebenso  sind  der  wilde  Hafer,  Avena  fatua, 
die  wilde  Gerste  (Hordeum  spontaneum),  sowie 
die  wilden  Weizenarten  Triticum  dicoccoides  und 
Triticum  aegilopoides  Link,  nicht  die  Stamm- 
formen der  entsprechenden  kultivierten  Getreide- 
arten, sondern  nur  nah  verwandte  Formen  von 
diesen.  Der  kultivierte  Roggen,  Seeale  cereale, 
kommt  noch  jetzt  als  Unkraut  in  den  Weizen- 
und  Gerstenfeldern  Südwestasiens,  nicht  selten  in 
ungeheurer  Menge  vor,  und  ist  von  hier  aus  in 
Kultur  genommen  worden. 

Vavilow  faßt  die  Ergebnisse  seiner  Unter- 
suchung in  folgende  acht  Thesen  zusammen. 

1.  Der  wilde  Roggen  (Seeale  montanum  Guss.) 
mit  brüchiger  Spindel,  kleinem  Korn  und  mehr- 
jähriger Wurzel  ist  nicht  die  Stammform  des 
kultivierten  Roggens,  sondern  nur  eine  ihm  nahe- 
stehende selbständige  Art. 

2.  Der  in  Europa  kultivierte  Roggen  (Seeale 
cereale)  ist  als  Unkraut  in  den  Gersten-  und 
Weizenfeldern  in  Persien,  Afganistan,  Turkestan, 
Buchara,  Syrien  überaus  verbreitet,  d.  h.  in 
Ländern,  welche  gegenwärtig  .den  Anbau  dieses 
Getreides  gar  nicht,  oder  fast  gar  nicht  kennen. 
Es  fehlen  auch  Angaben  darüber,  ob  der  Anbau 
von  Roggen  in  früheren  Zeiten  in  Südwestasien 
verbreitet  war.  Auch  der  Name  des  Roggens 
bei  den  Persern,  Sarten,  Arabern,  in  Kleinasien 
und  in  Afganistan  —  Pschon-Dar,  Dshon-Dar,^) 
Gandum-Dar,*)    weist    daraufhin,    daß    dieses  Ge- 

')  Bulletin  of  applied  botany,  St.  Petersburg  Band  X, 
1917.  Russisch  mit  englischem  Resume.  Beide  .■\rbeiten  sind 
schon  im  Jahre  19 17  gedruckt  worden,  konnten  aber  die 
Druckerei,  welche  sich  in  Dorpat  (Estländische  Republik)  be- 
findet, erst  im  Jahre   1922   verlassen. 

-)  Wie  z.  11  F. ngler  und  D  u  x  in  der  Neuauflage  von 
II  eh  D,  Kulturpflanzen  und  Haustiere,  Schulz,  Komi  c  ke  u.  a. 

')  D.  h.  sich  in  dtr  llerste  befindend. 

*)   1).   h.   sich   im    Weizen   befindend. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


329 


treide  schon  in  alter  Zeit  bei  den  Ackerbauern 
des  Orients  eher  als  Unkraut,  denn  als  Getreide- 
art bekannt  war. 

3.  Dieser,  als  Unkraut  wachsende  Roggen 
unterscheidet  sich  im  allgemeinen  nicht  von  dem 
kultivierten  Roggen  aus  Europa,  und  zerfällt  wie 
dieser  in  eine  Reihe  kleiner  konstanter  Formen. 
Es  kommen  jedoch  im  Orient  auch  endemische 
Formen  (z.  B.  mit  roten  Ähren)  vor,  welche  dem 
Westen  unbekannt  sind. 

4.  Dieser  Roggen  ist  nicht  eine  Getreideart, 
welche  früher  im  südwestlichen  Asien  angebaut, 
später  aber  durch  andere  Getreidearten  verdrängt 
wurde,  wie  es  einige  Reisende  geglaubt.  Er  ist 
vielmehr  ein  typisches  Unkraut,  wie  Centaurea 
cyanus,  Agrostemma  githago,  Lolium  temulentum, 
Camelina  linicola,  Spergula  maxima,  welche  auch 
nur  als  Unkräuter  bekannt  sind,  und  von  denen 
die  letzteren  zwei  auch  angebaut  werden. 

5.  In  nördlicheren  Gegenden  und  im  Gebirge 
wurde  aus  dem  Unkraut  eine  Kulturpflanze,  welche 
zuerst  im  Gemenge  mit  Weizen  und  Gerste  oder 
auch  anderen  Pflanzen  (z.  B.  noch  jetzt  in 
Schugnan,  Zentralasien)  angebaut  wurde.  Später 
erst  begann  die  Reinkultur  des  Roggens. 

6.  Die  Stammpflanze  des  kultivierten  Roggens 
ist  also  aller  Wahrscheinlichkeit  der  in  Südwest- 
asien als  Unkraut  wachsende  Roggen. 

7.  Der  Ursprung  des  Roggenbaus  liegt  also 
im  südwestlichen  Asien,  wo  der  Roggen  als  Un- 
kraut der  Weizen-  und  Gerstenfelder  weit  ver- 
breitet ist  und  wo  es  endemische  Roggenformen 
gibt.  Die  Gegenden  westlich  vom  Puma  (Schug- 
nan, Roschan),  das  türkische  Armenien  und  einige 
Gegenden  von  Kleinasien  sind  wohl  als  Heimat 
der  Roggenkultur  anzusehen. 

8.  Der  Anbau  von  Roggen  hat  viel  später 
begonnen  als  der  des  Weizens  und  der  Gerste, 
da  der  Rogen  ja  schon  vordem  als  Unkraut  in 
den  Kulturen  dieser  Getreidearten  verbreitet  war. 
Auch  historische  und  archäologische  Gründe 
sprechen  für  diese  Annahme. 

Die  Arbeit  von  Robert  Regel  über  den 
Ursprung  der  Gerste  bildet  gleichsam  eine  Er- 
gänzung und  P'ortsetzung  der  Vavilowschen  Schrift. 
Der  Verf  spricht  sich  für  einen  gleichsam  poly- 
phyletischen  Ursprung  der  kultivierten  Gersten- 
formen  aus  und  faßt  seine  Untersuchungen  folgen- 
dermaßen zusammen. 

Sechszeilige  Gerstenformen  kommen  auch  jetzt 
noch  sporadisch  nicht  als  Unkraut  inmitten  der 
Bestände  der  wilden  zweizeiligen  vor,  wie  z.  B. 
im  Leukoranschen  Kreise  in  Transkaukasien. 
Einige  von  den  jetzt  angebauten  Gerstenrassen 
(Hordeum  hiberneum ,  Hordeum  hibernaculum) 
stellen  nichts  anderes  als  kultivierte,  ursprünglich 
wilde,  Gerstenrassen  dar. 

Die  angebaute  zweizeilige  Gerste  (vor  allem 
die  Formen  var.  nutans  und  var.  nigricans),  des- 
gleichen auch  einige  Formen  der  angebauten 
sechszeiligen  (var.  nigrum)  sind  Kreuzungsprodukte 
zwischen  der  wilden  zweizeiligen  Gerste  und  der 


wilden  sechszeiligen  (var.  pallidum),  wobei  infolge 
der  Jahrtausende  alten  Kultur,  die  heterozygoten 
Formen,  wie  z.  B.  die  mit  brüchiger  Ährenspindel, 
ausgemerzt  wurden,  so  daß  sich  die  heute  ange- 
bauten Gerstenarten  als  reine  konstante  (homo- 
zygote) Arten  erweisen. 

Die  wilde  in  Kleinasien,  Zentralasien  bis 
nach  Arabien  hinein  verbreitete  zweizeilige  Gerste, 
aus  mehreren  Rassen  bestehend  (Hordeum  korshius- 
kianum,  H.  leucoremicum),  unterscheidet  sich  von 
den  angebauten  Formen  vor  allem  durch  die 
Brüchigkeit  der  Ährenspindel,  und  steht  diesen 
viel  näher  als  der  wilde  Roggen  dem  kultivierten. 
Diese  Brüchigkeit  der  zweizeiligen  Gerste  ver- 
schwand nach  Regel  infolge  der  Kreuzung  mit 
wilden  sechszeiligen  Gerstenrassen,  welche  eine 
feste  Ährenspindel  besitzen.  Diese  Behauptung 
muß  noch  experimentell  geprüft  werden.  Ein 
anderes  Merkmal  ist  die  Winterhärte  der  wilden 
zweizeiligen  Gerstenrassen,  während  die  kultivierten 
zweizeiligen  Gersten  bekanntlich  nur  als  Sommer- 
getreide gebaut  werden  können.  In  dieser  Hin- 
sicht läßt  sich  der  Übergang  von  den  wilden 
zu  den  kultivierten  Formen  nach  Regeis  An- 
nahme durch  progressive  Mutation  erklären,  wobei 
eine  neue  Eigenschaft,  nämlich  die  Fähigkeit,  den 
Lebenszyklus  im  Laufe  eines  Sommers  zu  voll- 
enden, erworben  wurde.  Vielleicht  stammt  aber 
diese  Eigenschaft  von  wilden  noch  nicht  näher 
bekannten  Sommerformen  der  zweizeiligen  Gerste 
her,  welche  aber,  laut  neueren  Funden  in  Zentral- 
asien (Pamir),  in  Persien  und  Transkaukasien 
wachsen  sollen. 

Ungeklärt  ist  vorläufig  noch  die  Frage  über 
die  Herkunft  mancher  anderer  kultivierter  Gersten- 
formeh,  wie  z.  B.  von  var.  parallelum,  coeleste, 
trifurcatum,  macrolepis,  ')  nudum  u.  a.  Möglicher- 
weise sind  sie  durch  Mutation  aus  den  Formen 
nutans,  nigricans,  pallidum  und  nigrum  entstän- 
den. Die  nackten  Gerstenformen,  welche  ganz 
isoliert  dastehen,  haben  vielleicht  besondere,  vor- 
läufig unbekannte,  Stammformen. 

Wir  sehen  also,  daß  Robert  Regel  einen 
polyphyletischen  Ursprung  der  \'erschiedenen  an- 
gebauten Gerstenrassen  annimmt,  wobei  eine 
große  Rolle  die  Kreuzung  zwischen  zweizeiligen 
und  sechszeiligen  P'ormen  spielt,  durch  welche 
er  den  Verlust  der  Brüchigkeit  der  Ährenspindel 
bei  den  kultivierten  Gersten  zu  erklären  versucht. 
Die  bis  dahin  noch  ungeklärte  Frage  des  Über- 
gangs vom  Wintergetreide  zum  Sommergetreide 
behandelt  eine  zweite,  1921  erschienene  Arbeit 
von  Vavilow  und  Kusnetzowa  betitelt: 
Über  die  Genesis  der  Sommer-  und  Winter- 
getreide, Berichte  der  landwirtschaftlichen  Fakulät 
der  Universität  Saratow,  Heft  i,  1921.  Russisch 
mit  englischem  Resume.    Die  Verff.  kreuzten  den 

')  Siehe  hingegen  die  Untersuchungen  von  E.  Schie- 
rn a  n  n ,  Zeitschr.  f.  indukt.  Abstammungs-  und  Vererbungs- 
lehre XXVII,  1921  (Genetische  Studien  an  Gerste,  II),  laut 
welchen  die  natürlichen  Macrolepisformen  einen  hybriden 
Ursprung  haben. 


330 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


Winterweizen  Triticum  compactum  var.  Werne- 
rianum  mit  dem  Sommerweizen,  Triticum  \ulgare 
var.  lutescens  und  erhielten  in  der  Fg -Generation 
unter  500  Pflanzen  234  konstante  Sommerformen 
und  266  (also  ca.  50  ^'/„)  mendelnde.  Daraus, 
sowie  auch  aus  anderen  Kulturversuchen  folgern 
sie ,  daß  die  Sommerform  über  die  Winterhärte 
dominiere,  letzteres  Merkmal  also  rezessiv  ist.  Es 
können  daher  Wintergetreide  durch  Kreuzung 
zwischen  zwei  Sommergetreidearten  entstehen. 
Aber  auch  umgekehrt  können  Sommerformen 
durch  Kreuzung  zwischen  Winterformen  erhalten 
werden.  Die  Behauptung  ist  daher  falsch ,  daß 
die  Wintergetreidearten  älter  als  die  Sommer- 
getreidearten sind,  dies  sei  nur  ein  vereinzelter 
Fall,  aber  nicht  allgemein.  Alle  krautigen  zwei- 
jährigen Winterformen  besitzen  auch  entsprechende 
Sommerformen ,  mit  welchen  sie  Bastarde  bilden 
können.  Der  Mensch  hat  nur  unbewußt  die  ihm 
für  die  Kultur  passenden  Rassen  ausgewählt,  er 
hat  es  nicht  vermocht  die  konstante  Winterform 
in  eine  konstante  Sommerform  überzuführen. 

Dies  ist  der  Gedankengang  der  beiden  Verff., 
deren  Untersuchungen  ein  neues  Licht  auf  den 
Ursprung  der  Sommergetreide  werfen,  sie  können 
uns  auch  den  von  Robert  Regel  gesuchten 
Übergang  von  den  wilden  Gerstenformen  zu  den 
kultivierten  Sommerformen  erklären.  Sie  sind 
aber  auch  wichtig  in  ökologischer  und  pflanzen- 
soziologischer Hinsicht. 

Ich  hoffe,  daß  die  etwas  ausführlichere  Refe- 
rierung der  genannten  drei  russischen  Arbeiten, 
welche  jetzt  sehr  schwer  erhältlich  sind,  Interesse 
erregen  wird.  Sie  geben  uns  nämlich  neue  Ge- 
sichtspunkte zur  Beurteilung  der  Frage  des  Ur- 
sprunges der  Getreidearten,  sie  zeigen  uns,  daß 
sogar  solche  Eigenschaften,  wie  die  der  Sommer- 
und  Wintergetreide,  durch  die  Analyse  der  Nach- 
kommenschaft geprüft  werden  können,  sie  zeigen 
aber  auch,  wie  wichtig  die  Untersuchung  der 
zahlreichen,  noch  wenig  bekannten  Getreideformen 
Vorder-  und  Zentralasiens  ist,  wo  aller  Wahr- 
scheinlichkeit die  Urheimat  vieler  unserer  Kultur- 
pflanzen liegt.  C.  Regel. 


Der  diiuii^>te  Fadeu   sichtbar  gemacht. 

(Mit  3  Abbildungen.) 

Wieder  eine  Großtat  in  der  Welt  des  Kleinen. 
Wir  verdanken  sie  dem  berühmten  holländischen 
Physiologen  und  Erfinder  des  Saitengalvanometers, 
Prof.  W.  E  i  n  t  h  o  V  e  n  in  Leiden. ')  Das  letztere, 
für  Naturwissenschaft  und  Heilkunde  gleich  wich- 
tige Instrument  sowie  eine  ganze  Reihe  neu  er- 
fundener und  verbesserter  Apparate  sind  auf  die 
Benutzung  mikroskopisch  dünner  Fäden  ange- 
wiesen. Es  ist  daher  sehr  wesentlich,  zu  wissen, 
wie  weit  ihr  Durchmesser  verringert  werden  darf, 
bis  sie  für  das  mikroskopisch  sehende  Auge  oder 

')    Pflügers  Archiv    Bd.    191,   1921,   S.  60— 9S:    W.  Kin- 
h  o  V  e  n  ,    Ober  Beobachtung    und    Abbildung    dünner  Käden. 


für  die  noch  empfindlichere  photographische  Platte 
unsichtbar  werden.  Man  wird  fragen:  „gibt  es 
denn  überhaupt  so  dünne  Fäden  und  woraus  be- 
stehen sie?"  Am  besten  eignen  sich  solche  aus 
unserm  häufigsten  Mineral,  dem  Quarz,  herge- 
stellte: sie  kann  man  noch  fn  einer  Stärke  von 
'/jiiuo  mm  mit  bloßem  Auge  sehen,  wenn  man 
hellfarbige  vor  einem  dunklen  Hintergrund  auf- 
spannt und  diesen  durch  eine  Reihe  Glühlampen 
mit  weißem  Reflektor  bestrahlt.  Oder  noch 
besser,  wenn  man  dunkle  Fäden  gegen  einen 
hellen  Hintergrund,  z.  B.  eine  matte  F'ensterscheibe, 


1 

i-^-Ä.  ..-^j 

•■^•.  .-1 

Abb.   lA.                    Abb.   1  B.  Abb.  2. 
Ein  Quarzfaden  von  '^/loooo  ™"'  Durch-  Kaden,  dessen  Durch- 
messer   bei    iSoofacher  Vergrößerung  messer  auf  höchstens 
photographiert:    Abb.    lA    bei    voller  ^/.„„„(i,,  mm  geschätzt 
Blendenöffnung  des  Objektivs  von  0,95,  wird. 
Abb.    I  B    bei  Verengerung    auf   0,18. 


I 

L 1___J  L 

Abb.  3A.  Abb.   3B.  Abb.   3C. 

Derselbe  Kaden  von  ''/n.ooo  """^  Durchmesser    bei   iSoofacher 

Vergrößerung  und  Objektivblendenöffnung  0,95  photographiert: 

.«Vbb.  3A  bei  BeleuchtungsblendenöfTnung  0,95,    Abb.  3B  bei 

Verengerung  auf  0,12,  Abb.  3C  bei  Verengerung  auf  0,05. 

bei  sonst  verdunkelter  Tagesbeleuchtung,  frei  im 
Rahmen  aufspannt.  So  konnten  durch  fünf  Be- 
obachter noch  in  6 — 10  m  Entfernung  bei  einem 
Gesichtswinkel  von  2,1—3,2  Bogensekunden 
'/loooo  t""^  dünne  Drähte  erkannt  werden.  Dieser 
Versuch  zeigt  zugleich,  wie  außerordentlich  über- 
legen der  tagesbeleuchtete  Faden  in  seiner  Sicht- 
barkeit für  unsere  Augen  den  Lichtpunkten,  z.  B. 
Sternen  des  Nachthimmels,  ist.  Denn  nach  Ver- 
suchen des  Astronomen  Hooke  konnte  von  100 
Menschen  nur  einer  zwei  Sterne  dann  noch  von- 
einander unterscheiden,  wenn  ihr  gegenseitiger 
scheinbarer    Abstand    60    Bogensekunden    betrug. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


33' 


Bergmann  fand  für  das  Unterscheiden  benach- 
barter Lichtpunkte  mit  bloßem  Auge  einen  Ge- 
sichtswinkel von  51,6,  Tob.  Mayer  einen  solchen 
von  94,  Einthoven  dagegen,  wie  gesagt ,  für 
den  Abstand  der  beiden  Ränder  einer  den  Seh- 
hintergrund durchschneidenden  Fadenlinie  nur 
einen  Winkel  von  2 — 3  Bogensekunden. 

Um  ganz  dünne  Fäden  zu  sehen,  zu  photo- 
graphieren  und  zu  messen,  benutzt  man  das  Ultra- 
mikroskop, bei  dem  durch  ein  zweckmäßig  ange- 
brachtes Linsensystem  die  Strahlen  einer  starken 
elektrischen  Lichtquelle  auf  den  Faden  vereinigt 
werden.  In  sein  Spezialmikroskop  mit  langem 
Tubus  schob  Einthoven  eine  kleine  Kupferröhre 
von  oben  durch  die  Öffnung  des  sehr  starken 
Ze  iß  sehen  Objektivs.  Diese  Röhre  hatte  einen 
Boden  mit  einem  kleinen  Loch  in  der  Mitte  als 
Blende  für  die  angrenzende  Linse,  deren  Licht- 
durchlaß also  dadurch  verkleinert  wurde.  Zum 
Messen  diente  ein  Meßokular  mit  einer  so  ge- 
wählten Gradeinteilung,  daß  jeder  Grad  '/jug^mm 
Fadendurchmesser  bedeutete.  Beleuchtet  wurde 
der  zu  untersuchende,  völlig  frei  aufgespannte 
Faden  in  seiner  ganzen  Länge  elektrisch,  parallell 
zu  dem  verengerungsfähigen  Schlitz  einer  Blende. 
Was  die  Quarzfäden  selbst  betrifft,  so  lassen  sie 
sich  nach  Einthovens  Behandlungsweise  schießen 
oder  blasen,  befestigen,  übernehmen,  unter  das 
Mikroskop  bringen  und  noch  weiter  elektrisch 
aufspalten  und  verdünnen.  Man  kann  sie  dann  ' 
mikroskopisch  mühelos  betrachten  und  so  gut 
vergleichen,  daß  man  z.  B.  einen  Faden  von 
'/loooo  ^"^  Stärke  ganz  deutlich  von  einem  mit 
^'loooo  "^"^  unterscheidet.  Bei  der  mikroskopischen 
Betrachtung  zeigte  sich  noch  erstaunlicher  als  bei 
der  mit  unbewaffnetem  Auge  die  Überlegenheit 
des  Fadens  gegenüber  dem  kleinsten  Funktkörper. 
Während  für  den  letzteren  Siedentopf  und 
Zsigmondy  4 — 7  millionstel  mm  Durchmesser 
berechneten,  fand  Einthoven,  „daß  jeder  existier- 
bare Faden,  wie  dünn  er  auch  sein  mag,  ultra- 
mikroskopisch sichtbar  gemacht  werden  kann". 
„Nimmt  man  an",  so  faßt  der  Gelehrte  sein  Er- 
gebnis zusammen,  „daß  bei  gleichbleibender  Be- 
strahlung eines  Fadens  die  Menge  des  durch  ihn 
zurückgeworfenen  Lichtes  proportional  seinem 
Durchmesser  zu-  und  abnimmt,  so  wird  der  Durch- 
messer des  dünnsten  sichtbaren  Fadens  auf 
0,2X10  "millionstel  mm  berechnet.  Zur  Ver- 
gleichung  diene,  daß  der  Durchmesser  eines 
Wasserstoffmoleküls  ungefähr  eine  Million  mal 
größer  ist".  Also  der  dünnste  Faden  darf  noch 
eine  Million  mal  dünner  sein  für  die  Sichtbarkeit 
als  ein  Staubteilchen! 

Das  sind  die  nach  verschiedenen  Methoden 
übereinstimmend  errechneten  idealen  Grenzwerte. 
Wie  steht  es  nun  um  die  praktische  Wirklichkeit  ? 
Einthoven  versuchte  zunächst  einen  Quarz- 
faden von  "Viooüo  '""i  Durchmesser  bei  iSoofacher 
Vergrößerung  mit  voller  Blendenöffnung  von  0,95 
zu  photographieren.  Das  ist  ihm,  wie  man  auf 
Abb.  I  A  sieht,  ausgezeichnet  gelungen :  man  kann 


alle  kleinen  Unebenheiten  der  P'adenfläche  scharf 
erkennen.  Es  wurde  zur  Aufnahme  die  allgemein 
übliche  Trockenplatte  und  photographische  Papier- 
sorte benützt,  bei  der  Entwicklung  und  Fixierung 
der  Negative  weder  Verstärkungs-  noch  Ab- 
schwächungsmittel  angewandt.  Die  Abb.  i  B  ist 
bei  der  kleinen  Blendenöffnung  von  0,18,  sonst 
unter  gleichen  Umständen  gewonnen:  man  sieht, 
daß  die  Ränder  dieses  viel  breiteren,  lange  nicht 
so  kontrastreichen  und  scharfen  Bildes  undeutlich 
und  die  kleineren  Unebenheiten  verschwunden 
sind.  Die  eigentümlichen  Wülste  sind  keine  Ver- 
dickungen des  Fadens  selbst,  sondern  sie  sind  bei 
der  Aufnahme  dadurch  entstanden ,  daß  kleine, 
sich  an  den  beiden  Fadenrändern  zufällig  gegen- 
überstehende Unebenheiten,  durch  Lichtbeugung 
verbreitert,  sich  im  Bilde  übereinander  geschoben 
haben.  Abb.  2  stellt  Einthovens  und  wohl 
die  überhaupt  bis  jetzt  erreichte  höchste  Leistung 
dar.  Es  ist  ihm  gelungen,  einen  Quarzfaden  von 
etwa  ■'/looooo  ™"^  Durchmesser  herzustellen,  im 
Mikroskop  zu  befestigen  und  unter  Benützung 
eines  apochromatischen  Objektivs  mit  voller 
Öffnung  0,95  bei  iSoofacher  Vergrößerung  zu  photo- 
graphieren. Das  Bild  ist  nicht  so  scharf  wie  das 
des  7ioooii  ^^  dünnen  Fadens,  aber  man  kann 
selbst  hier  noch  die  kleinen  Unebenheiten  eines 
früher  überhaupt  nicht  für  möglich  gehaltenen 
Fadengebildes  deutlich  erkennen. 

Die  auf  den  Bildern  zutage  tretende  jeweilige ' 
Dicke  des  Fadendurchmessers  stimmt  übrigens 
nicht  ganz  mit  der  Wirklichkeit  überein.  Denn 
es  kommt  ganz  darauf  an,  ob  für  eine  bestimmte 
Aufnahme  aus  technischen  Gründen  neben  der 
schon  besprochenen  verschieden  großen  Objektiv- 
blendenöffnung eine  größere  oder  kleinere  Be- 
leuchtungsblende gewählt  werden  muß.  Außer- 
dem kann  man  sich  leicht  vorstellen,  wie  sehr 
die  geringste  Erschütterung  während  der  Auf- 
nahme eines  so  fabelhaft  dünnen  Gebildes  seinen 
Durchmesser  um  das  Vielfache  vergrößern  muß. 
Aber  gerade  aus  diesem  Umstand  geht  anderer- 
seits klar  und  deutlich  hervor,  daß  die  hier  ab- 
gebildeten und  nachgemessenen  Fadendurchmesser 
beim  Objekt  selbst  nicht  größer,  sondern  eher 
kleiner,  unter  Umständen  viel  kleiner  als  "'loooo 
bzw.  ''/looooii  '"f"  s^i"  müssen. 

Wie  sehr  es  bei  der  Aufnahme  auf  die  größere 
oder  kleinere  Blendenöffnung  für  die  Lichtquelle 
ankommt,  sehen  wir  an  Abb.  3.  Derselbe  ziem- 
lich glatte  Faden  von  ''/joooo  "^"^  Durchmesser, 
bei  iSoofacher  Vergrößerung  und  voller  Objektiv- 
Blendenöffnung  photographiert,  zeigt  links  das  aus 
Abb.  I  A  und  2  bekannte  Bild  ohne  die  besagten 
Lichtbeugungsverschwommenheiten.  Diese  sind 
bei  Abb.  3A  und  C  nicht  ganz  vermieden,  aber 
da  bei  dem  mittleren  Bild  der  Beleuchtungsschlitz 
auf  0,12  verengert  wurde,  treten  sie  nun  in  ganz 
anderer  Weise  zutage  als  bei  Abb.  i  B.  Man 
sieht:  der  Faden  ist  wie  in  der  Mitte  gespalten, 
rechts  und  links  begrenzen  ihm  helle  Streifen. 
Auf   Abb.    3C,    hergestellt   bei   0,05    Lichtblende, 


332 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


ist  diese  Begrenzung  durch  weiße  Streifen  noch 
schärfer,  ja  auf  diesem  Bilde  sieht  man  links  noch 
dreifache,  rechts  gar  vierfache,  völlig  gesonderte, 
wellenförmige  Beugungslinien,  die  das  von  dem 
dünnen  Faden  zurückgeworfene  Licht  vermöge 
dessen  starker  Zusammenfassung  erzeugt  hat.  War 
doch  schon  bei  der  voll  und  breit  beleuchteten 
Aufnahme  des  Bildes  3  A,  die  bei  Bogenlichtbe- 
strahlung  auf  eine  wenig  empfindliche  Platte  statt- 
fand, bei  einer  Beleuchtungsdauer  von  '  j.j  Sekunde 
der  Faden  3  240000  mal  stärker  belichtet  als  die 
dunkle  Platte.  Kein  Wunder,  daß  Einthoven 
selbst  noch  bei  '/loo  Sekunde  Beleuchtungsdauer 
auf  dieser  selben  gewöhnlichen  Plattenart  be- 
friedigende Aufnahmen  erzielte.  Der  Gelehrte 
zweifelt  aber  nicht,  daß  man  bei  Gebrauch  von 
besonders  empfindlichen  Platten  die  Beleuchtungs- 
zeit wesentlich  kürzen  kann  und  dadurch  noch 
bessere  Aufnahmen  erhalten  wird. 

Hermann  Radestock. 

Prüftafel  für  Ferurohre. 

Während  bisher  die  Prüfung  von  Fernrohren 
gewöhnlich  an  geeigneten  Himmelsobjekten, 
namentlich  Doppelsternen ,  direkt  vorgenommen 
wurde,  hat  jüngst  W.  Volkmann  eine  sehr 
brauchbare  Prüfiafel  gezeichnet,  die  es  gestattet, 
Fernrohrprüfungen  jederzeit  auch  im  Zimmer  und 
'bei  bequemer  Lage  des  Beobachters  auszuführen. 
Auf  einem  Diapositiv  von  6X8  cm  sind  hell  auf 
dunklem  Grund  die  verschiedensten  Himmels- 
objekte (Planeten  und  Doppelsterne)  sowie  einige 
Maßstäbe  in  solcher  Größe  dargestellt,  daß  sie 
aus  20  m  Abstand  genau  in  der  richtigen  schein- 
baren Größe  gesehen  werden.  Erleuchtet  man 
diese  Platte  von  der  Rückseite,  am  besten  unter 
Benutzung  einer  Mattscheibe,  und  stellt  sie  aus 
20  m  Entfernung  im  Fernrohr  scharf  ein,  so  kann 
man  feststellen ,  ob  das  Fernrohr  imstande  sein 
wird,  beispielsweise  die  Venusphasen,  Saturnringe 
und  Jupitermonde  zu  zeigen  und  Doppelsterne 
der  verschiedenen  Distanzen  aufzulösen.  Strahlen- 
förmig nach  8  verschiedenen  Richtungen  einge- 
tragene Parallelenpaare  von  20"  Abstand  lassen 
auch  eine  Prüfung  sowohl  des  Fernrohrs  wie  des 
Auges  in  bezug  auf  Astigmatismus  ausführen. 
Durch  Abbiendung  des-  Fernrohrobjektivs  auf 
kleinere  <  )ffnungen  läßt  sich  ein  Urteil  darüber 
gewinnen,  ob  die  Randstrahlen  gleiche  Brennweite 
haben  wie  die  zentralen  oder  nicht,  in  welch 
letzterem  Falle  die  Bildchen  nach  Abbiendung 
schärfer  erscheinen.  In  der  Schule  eignet  sich 
die  Prüfplatte  auch  sehr  gut  dazu ,  den  Schülern 
im  Vormittagsunterricht  einen  Begriff  von  der 
Feinheit  astronomischer  Messungen  zu  geben  und 
sie  auf  das,  was  man  ihnen  am  Abend  mit  den 
gegebenen  Hilfsmitteln  in  natura  zeigen  kann, 
zweckmäßig  vorzubereiten.  Für  Schulen,  denen 
ein  Raum  von  20  m  Länge  nicht  zur  Verfügung 
steht,  wird  die  Tafel  auch  für  Abstände  von  10  m 
bzw.    5  m    hergestellt.      Sic    ist    zu  beziehen  von 


der  Firma  Leppin  und  Masche  in  Berlin  SO, 
Engelufer.  F.  Kbr. 

i'ber  die  Beziehuugeu  der  Spiralnebel  zu  der 
Milchstraße 

stellt  Sanford  in  Lick  Observatory  Bulletin 
Nr.  297  eingehende  Betrachtungen  an.  Das  reich- 
haltige, teils  mit  dem  Fernrohr  durch  direkte 
Beobachtung,  teils  durch  Aufnahmen  mit  sehr 
verschiedenen  Instrumenten  erhaltene  Material 
zeigt  zunächst  sogleich,  daß  diese  Art  Nebel, 
deren  es  nach  Keelers  Schätzungen  mehrere 
Hunderttausend  gibt,  sich  an  den  Polen  der 
Milchstraße  häufig  finden  und  daß  ihre  Dichtig- 
keit nach  der  Milchstraße  hin  langsam  nachläßt, 
liier  aber  plötzlich  ganz  aufhört.  Aber  auch  zu 
beiden  Seiten  der  Milchstraße  ist  die  Verteilung 
unsymmetrisch,  es  gibt  da  Stellen  von  ausnahms- 
weise starker  Anhäufung,  auch  eine  am  Rande 
der  Milchstraße,  so  daß  deren  Verhalten  in  star- 
ken Instrumenten  mit  langen  Belichtungen  studiert 
wurde.  Ferner  läßt  sich  zeigen,  daß  die  Nebel 
nördlich  der  Milchstraße  etwas  dichter  liegen  als 
südlich  davon.  Es  scheint  sich  hier  aber  eine 
Art  Absorption  geltend  zu  machen,  die  manche 
Ausnahmen  des  Auftretens  uns  vortäuscht.  F'erner 
tritt  ein  Zusammenhang  zwischen  der  Verteilung 
der  Nebel  und  ihrer  Helligkeit  einerseits  und  ihrer 
Größe  andererseits  hervor.  Hier  sind  auch  die 
sog.  Spindelnebel  mit  einzurechnen,  die  offenbar 
nichts  anderes  sind  als  Spiralnebel,  mehr  oder 
weniger  von  der  Seite  gesehen,  bisweilen  ganz 
von  der  Kante,  als  ein  sich  in  der  Mitte  ver- 
dickender Strich.  Jedenfalls  ist  sicher,  daß  die 
größere  durchschnittliche  Helligkeit  weiter  draußen 
außer  der  Milchstraße  liegt,  während  die  ihr  zu- 
nächst liegenden  meist  die  an  Ausdehnung  größeren 
sind.  Die  Tatsache,  daß  diese  Nebel  riesige  Be- 
wegungen bis  zu  1800  km  in  der  Sekunde  zeigen, 
und  zwar  fast  stets  von  der  Sonne  fortgerichtet, 
ist  unerklärbar,  vielleicht  ist  die  Deutung  der 
Linienverschiebung  in  diesem  Falle  falsch.  Nach 
dem  Spektrum  handelt  es  sich  um  Sternhaufen, 
die  soweit  entfernt  sind,  daß  man  sie  eben  als 
Nebel  auffaßt,  sie  müssen  also  demnach  ungeheuer 
weit  entfernt  sein,  so  daß  man  meint,  daß  diese 
Nebel  unserer  Milchstraße  gleichgeordnete,  von 
ihr  unabhängige  Systeme  sind.  Die  merkwürdige 
Verteilung  in  bezug  auf  die  Milchstraße  soll  sich 
dadurch  erklären  lassen,  daß  hier  dunkle  Massen 
vorgelagert  sind,  die  ebenso  die  dunklen  Stellen 
der  Milchstraße  bewirken,  wie  diese  Nebel  hier 
abblenden.  Da  doch  aber  die  Gasnebel  in  der 
Milchstraße  vorkommen ,  so  ist  diese  Erklärung 
unvollständig,  falls  man  nicht  das  Band  der  dunklen 
Nebel  hinter  der  Milchstraße  annehmen  will.  Viel- 
leicht sind  also  die  weißen  Nebel  ganz  gleich- 
mäßig über  den  Himmel  verteilt,  und  es  sind  nur 
äußere  Gründe,  die  uns  ihre  scheinbare  Verteilung 
vortäuschen.  Ilicr  liegt  also  noch  viel  Rätsel- 
haftes vor.  Riem. 


N.  F.  XXI.  Nr.   24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


iii 


Bücherbesprechungen. 


Goldschmidt,  R.,  Ascaris.  Eine  Einführung  in 
die  Wissenschaft  vom  Leben  für  Jedermann. 
296  S.  mit  163  Abb.  Leipzig  1922,  Theod. 
Thomas.  Geh.  66  M,,  geb.  78  IVI. 
Wenn  ein  Forscher  von  anerkanntem  Rufe  sich 
entschließt,  ein  populäres  Werk  zu  verfassen,  so 
tritt  man  mit  großen  Erwartungen  an  dasselbe 
heran;  das  gilt  auch  für  das  Goldschmid tsche 
Werk.  „Der  Gedanke  des  Verfs  war,  eine  ge- 
meinverständliche Biologie  zu  schreiben,  die  mög- 
lichst viele  Tatsachen  und  Probleme  der  gesamten 
Wissenschaft  vom  Leben  auf  engem  Räume  in 
lesbarer  F"orm  vereinigte"  (S.  6).  Diesen  Ge- 
danken so  zu  verwirklichen,  daß  die  Biologie  eines 
bestimmten  Tieres  als  Grundlage  verwendet  wird, 
ist  schon  wiederholt  versucht  worden,  am  treff- 
lichsten vielleicht  in  Huxleys  klassischer  Schilde- 
rung des  Flußkrebses.  Wenn  hier  der  Lebens- 
gang eines  wohlbekannten  Parasiten,  des  Spul- 
wurmes, als  roter  Faden  für  ein  umfängliches 
Buch  gewählt  wurde,  so  überrascht  das  etwas. 
Und  das  Überraschungsmoment,  die  geistreiche 
Verknüpfung  oft  dem  Laien  selbstverständlich 
erscheinender  Dinge  mit  weit  schauenden  Pro- 
blemen und  scheinbar  ganz  fernliegenden  Tat- 
sachen, ist  es  auch,  welches  einem  großen  Teile 
des  Buches  den  Charakter  verleiht  und  es  zu 
einer  anregenden  Lektüre  gestaltet.  Form,  Farbe, 
Anpassung  —  Leben  und  Zweckmäßigkeit  — 
Haut,   Atmung     —  Lymphe,    Muskeln,    Bewegung 

—  Nerven  und  Sinnesorgane  —  Gehör  und 
Gleichgewichtsorgan,    das    zentrale   Nervensystem 

—  Erwerb  der  Nahrung  —  Verdauung,  Stoff- 
wechsel, Ausscheidung  —  Geschlecht,  Fort- 
pflanzung, Befruchtung  —  Kern,  Chromosomen, 
Geschlechtsbestimmung  —  Mendelsche  Gesetze 
und  Vererbungslehre  —  Entwicklungsgeschichte. 
Das  ist  die  Fülle  der  Fragen,  welche  in  mehr 
oder  minder  lockerem  Zusammenhange  mit  der 
Titelfigur  in  den  einzelnen  Kapiteln  behandelt 
werden.  In  leichtem,  manchmal  etwas  zu  glattem 
Plaudertone  werden  die  Grundprobleme  einer 
großen  Wissenschaft  gestreift.  Persönliche  Er- 
lebnisse sind  überall  in  Fülle  eingestreut,  nament- 
lich solche  aus  den  Tropen  und  aus  Amerika,  wo 
das  Werk  zum  Teil  während  der  Kriegsjahre 
entstand.  Die  Behandlung  des  Stoffes  ist  nicht 
ganz  gleichmäßig.  Geradezu  vorbildlich  ist  die 
Darstellung  der  Fragen,  welche  sich  um  das  Ver- 
erbungsproblem gruppieren  (Abschnitt  9 — 11);  es 
ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  es  hier  gelang,  ein 
verwickeltes  Netz  von  Tatsachen  klar  und  an- 
regend, auch  dem  Laien  überzeugend,  zu  entfalten. 
Dem  engen  Raum  und  wohl  auch  dem  Zwecke 
des  Buches  entsprechend,  sind  die  allgemein  bio- 
logischen und  physiologischen  Abschnitte  weniger 
ausführlich  gehalten,  und  hier  ist  auch  mancherlei 
in  den  Einzelheiten  etwas  weniger  geglückt.  Die 
Darstellung  der  Bierbereitung  (S.  17)  konnte  ver- 
mieden   werden;    daß    im    Korallenriff    kein    er- 


bitterter Kampf  ums  Dasein  herrscht  (S.  49)  wird 
sicher  nicht  allgemein  angenommen  werden ;  vom 
Nervensystem  einer  Qualle  (S.  1431  und  von  der 
Ernährung  des  Seesternes  (S.  160)  bekommt  der 
Leser  leicht  ein  schiefes  Bild.  Hier  und  mancher- 
orts sonst  noch  dürfte  eine  Überarbeitung,  auch 
in  stilistischer  Beziehung,  angebracht  sein,  ebenso 
wie  die  Ersetzung  einiger  Abbildungen  (z.  B.  i, 
34b,  35,  71,  89b)  sehr  wünschenswert  wäre.  Un- 
verständlich ist  es,  daß  sich  im  Schlußabschnitte 
bei  der  Behandlung  des  Entwicklungskreises  von 
Parasiten  Verf.  den  Hinweis  auf  die  ganz  merk- 
würdigen Wanderungen  des  jungen  Spulwurmes 
vor  seiner  Ansiedelung  im  Darme  entgehen  ließ. 
Möge  das  baldige  Erscheinen  einer  Neuauflage 
Gelegenheit  bieten,  die  vorhandenen  Schönheits- 
fehler zu  beseitigen  und  das  Ganze  auf  den  Stand 
der  Vererbungskapitel  zu  bringen.  „Dies  Buch 
will  sich  an  jeden  wenden,  der  lesen  kann,  an 
den  bildungsbedürftigen  Bürger  und  Arbeiter  und 
nicht  zuletzt  auch  an  die  Jugend'  (S.  6).  Zu- 
sammenfassend darf  man  wohl  sagen,  daß  die 
Lösung  dieser  Aufgabe  in  erheblichem  Umfange 
geglückt  ist  und  daß  insbesondere  für  die  Jugend 
das  Buch  eine  reiche  Quelle  der  Anregung  sein 
wird.  H.  Prell  (Tübingen). 


Klaus,  A.,    Atome,   Elektronen,  Quanten. 
Die  Entwicklung    der   Molekularphysik    in    ele- 
mentarer Darstellung.      100    S.    mit    7   Fig.    im 
Text.      Berlin    1921,    Winckelmann    u.    Söhne. 
Geh.   IS  M. 
Bavink,  B.,    Grundriß    der   neueren   Ato- 
mistik.    Mit  einem  Anhang:  Elementare  Ab- 
leitung einiger  wichtiger  mathematischer  Formu- 
lierungen.    130  S.  mit  41  Abb.     Leipzig  1922, 
S.  Hirzel.     Geh.  25  M. 
Die   beiden   vorliegenden  Bändchen   verfolgen 
im  wesentlichen  den  gleichen  Zweck.    Sie  wollen 
weiteren   Kreisen   eine   volkstümliche  Darstellung 
der  Entwicklung    der  Molekularphysik   geben,    in- 
dem sie  mit  möglichster  Vollständigkeit    alle  Er- 
scheinungsgebiete einer  kurzen  Betrachtung  unter- 
werfen, welche  auf  die  molekulare  bzw.  atomistische 
Unterteilung  der  Materie,  der  Elektrizität  und  der 
Energie  hinweisen.      Die    große  Summe    hierher- 
gehöriger Einzelkenntnisse  wird    in  beiden  Fällen 
mit  Geschick    und  Sorgfalt    zusammengestellt,    so 
daß  der  Leser   volles  Verständnis  gewinnen  kann 
für  die    große  Bedeutung,    welche    die   durch  die 
gesamte    Erfahrung    fest    begründete    atomistische 
Auffassung    für  die  Erkenntnis  der  physikalischen 
Erscheinungswell  besitzt. 

Während  die  erstgenannte  Schrift  den  ge- 
waltigen Stoff  in  kurzen  Zügen  mehr  andeutungs- 
weise anführt,  geht  die  zweite  auf  einzelne 
wichtigere  Punkte  etwas  ausführlicher  ein.  Sie 
hebt  besonders  die  neuesten  Forschungsergebnisse 
über    den    Aufbau    der    Atome    hervor,    wie    sie 


3U 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


einerseits  in  der  Bohrscheii  Theorie  niedergelegt 
und  andererseits  aus  der  Hochfrequenzstrahl-  und 
Kanalstrahlenanalyse  deriVIaterie  gewonnen  worden 
sind.  Bei  Lesern  ohne  ausreichende  Grundlagen 
könnten  diese  weitführenden  Darlegungen  aller- 
dings auf  Schwierigkeiten  stoßen.  In  der  Hand 
des  Lehrers  würden  aber  wohl  beide  Bändchen, 
wie  es  die  Verff.  offenbar  erstreben,  auch  dem 
fortgeschrittenen  Schüler  zugute  kommen  können. 

A.  Becker. 


Timerding,  H.  E.,  Die  Fallgesetze.     IVIathe- 
matisch- Physikalische  Bibliothek  Band  5.    Zweite 
Auflage.     51  S.  mit  25  Fig.  im  Text  und  einem 
Bildnis  Galileis.      Leipzig  u.  Berlin   192 1,  B.  G. 
Teubner. 
Es  liegt  hier    eine  anspruchslose  und  doch  in- 
haltsreiche   und    mit    großer    Sorgfalt    und    Voll- 
ständigkeit behandelte  elementare  Darstellung  der 
Fallgesetze    vor,    die    infolge    ihrer  Betonung   der 
geschichtlichen    Entwicklung    manches    zu    sagen 
weiß,    was   sich    selten    in    größeren  Lehrbüchern 
findet.     Lehrende  und  Lernende    seien    daher  an- 
gelegentlich auf  das  Bändchen  hingewiesen. 

A.  Becker. 

Meth,     Paul,     Theorie     der    Planetenbe- 
wegung.   Zweite  umgearbeitete  Auflage.    IVIit 
14    Fig.     54   S.     Mathem.  -  physikal.    Bibliothek 
Nr.  8.  Leipzig  u.  Berlin  1921,  Teubner.  Kart.  5  M. 
Die   Schrift    leitet    das    Newtonsche    Gesetz 
nicht  in  der  üblichen  Weise  aus  den  Bewegungs- 
gleichungen ab,  sondern  bedient  sich  der  IVIethode 
des  Hamilton  sehen  Hodographen,  die  einleitend 
auseinander  gesetzt  wird.      Auf  dieser  Grundlage 
werden    dann    die    Keplerschen    Gesetze    abge- 
leitet, ihre   Bedeutung  erörtert   und  an  Beispielen 
veranschaulicht.    Aus  den  Keplerschen  Gesetzen 
wird    dann    das    Newton  sehe  Gesetz    abgeleitet, 
seine    Gültigkeit    und    Anwendungen    besprochen. 
Es  wird  gezeigt,  wie  die  IVIassen  der  Planeten  und 
iMonde    aus    dem   dritten  Gesetz  folgen,    was    der 
Satz    von    der    Erhaltung    des  Schwerpunktes    be- 
deutet,   und  wie  auch  unter  gewissen  Umständen 


die  Massen  von  Doppelsternen  erhalten  werden 
können.  Den  Schluß  bilden  kurze  Betrachtungen 
von  allgemeinem  Wert,  über  die  Erhaltung  der 
Energie  bei  der  Planetenbewegung,  wobei  die 
Bahnform  in  Beziehung  tritt  zur  Summe  der 
kinetischen  und  potentiellen  Energie,  und  über 
das  wesentlichste  des  Dreikörperproblems,  das 
die  Planetenstörungen  und  die  Stabilität  des 
Sonnensystems  betrifift.  Wer  nicht  die  umfang- 
reichen Lehrbücher  über  dies  Gebiet  benutzen 
will,  findet  in  dem  kleinen  Buche  alles  Wesent- 
liche in  klarer  und  leicht  verständlicher  Weise 
dargelegt.  Riem. 

Gramberg,  E.,  Pilze  der  Heimat.  2  Bände 
mit  116  farbigen  und  20  schwarzen  Tafeln. 
Leipzig  192 1,  Quelle  und  Meyer.  108  M. 
Die  dritte  Auflage  des  ausgezeichneten  Pilz- 
atlasses von  Gramberg  unterscheidet  sich  von 
den  früheren,  abgesehen  von  kleinen  Textver- 
besserungen und  -Vermehrungen,  hauptsächlich 
durch  die  Einfügung  von  Schwarzbildern  nach 
Photographien,  die  eine  Anzahl  von  Pilzen  in 
ihrer  natürlichen  Umgebung  darstellen.  Sie 
reihen  sich  den  bekannten  durchweg  vorzüglichen 
Tafeln  würdig  an.  Jeder  dargestellten  Pilzart  ist 
eine  ausführliche  Beschreibung  gewidmet,  die 
zweckmäßigerweise  unmittelbar  neben  dem  farbigen 
Bilde  steht.  In  diesen  Textstücken  ist  neben  der 
Verwendungsmöglichkeit  auch  auf  ähnliche  und 
verwandte  Pilze  hingewiesen.  Ein  allgemeiner 
Teil  gibt  eine  verständige  Übersicht  über  die 
Lebensweise,  Physiologie  und  Morphologie  der 
Pilze  sowie  Winke  über  ihre  wirtschaftliche  Ver- 
wendung. Vielleicht  überiegt  sich  der  Verf.,  ob 
er  in  einer  neuen  Auflage  die  Sexualitätsfrage 
nicht  entweder  ganz  unerörtert  läßt,  oder  aber, 
natürlich  mit  tunlicher  Berücksichtigung  des  ver- 
fügbaren Raumes,  etwas  ausführlicher  behandelt. 
Die  jetzt  auf  S.  72  des  2.  Bandes  stehende  kurze 
Bemerkung,  daß  bei  den  Basidiomyzeten  keine 
Sexualität,  unter  den  Askomyzeten  eine  solche 
„nur  bei  den  niederen"  vorkomme,  würde  nicht 
ganz  dem  Stande  unserer  Kenntnisse  entsprechen. 

Miehe. 


Das  Rätsel  der  1  luiidstrahleu 
Zeitschrilt  finde  ich  in  einer  Besprechung  meiner  Schrift  unter 
obigem  Titel  (sie  erscheint  eben  in  verbesserter  und  erweiterter 
Auflage)  die  Bemerkung  des  Herrn  Referenten,  man  habe 
beim  sideriscben  Pendel  wohl  auch  mit  diesen  PulsstöScn  zu 
rechnen.  Eine  erschöpfende  Behandlung  dieser  Frage  bietet 
meine  seit  zwei  Jahren  vorliegende  Schrift;  „Die  Wünschel- 
rute, das  siderische  Pendel  und  der  dynamische  Kreis"  (Ver- 
lag von  Johannes  Baum,  Pfullingen  in  Würlt.). 

Die  vom  Herrn  Referenten  mehrfach  beobachtete  Aus- 
löschung einer  Klamme  durch  die  entgegengehaltenen  Finger- 
spitzen findet  eine  einfache  Erklärung  auf  der  gleichen 
Grundlage. 

Diese  Flamme  ist  ein,  leicht  in  Schwingung  bzw.  Pulsa- 
lion    zu    versetzender,    brennender    Gaswirbel.      Ist    der   Puls- 


Anregungen  und  Antworten, 

Nr.  17  (S.  238)  dieser  schlag  in  der  genäherten  Fingerspitze  ein  zur  Flamme  harmo- 
nischer dann  gerät  sie  ins  Zittern  und  sie  erlischt  bei  abso- 
luter Konkordanz  beider. 

Am  besten  gelingt  der  Versuch ,  wenn  in  die  Gasleitung 
eine  größere  Flasche  eingeschaltet  wird,  die  als  Druckaus- 
gleicher dient;  ich  bediente  mich  einer  5  Liter  haltenden 
Wulflschen  Flasche. 

Die  Flamme  muß  aus  einem  aufgesetzten  Röhrchen  (oder 
Brenner)  von  Speckstein ,  Metall  —  weniger  gut  von  Glas 
von  '■'|^ — 2  mm  Lumenbrenner  und  mittelst  eines  in  die  Lei- 
tung eingeschalteten  Schraubenquetschhahns  fein  reguliert 
werden.  Je  nach  der  Öffnung  und  dem  Drucke  —  also  stets 
variabelcn  Veihältnisen  —  ist  eine  Höhe  der  Flamme  von 
3 — 8  mm  angezeigt.  Um  den  Einfluß  des  Herzstoßes  und  des 
Arterienpulses  auszuschließen,    ist    eine  Wand    von  Glas    oder 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


335 


Pappe    zwischen    dem  Körper    des  Experimentators    und    der 
Flamme  einzuschalten. 

Daß  keinerlei  unbelsannte  „geheimnisvolle"  Handstrahlen 
mitsprechen,  läßt  sich  leicht  dartun.  Der  Versuch  gelingt 
auch,  wenn  .Metronomschläge  mittels  einer  Holzstange  der 
Flamme  genähert  werden,  oder  die  Schwingungen  einer  tiefen 
Baßsaite  (auf  einem  Monochord)  der  Flamme  durch  einen 
llolzstab  zugeführt  werden.  Die  Versuche  lassen  sich  mit 
den  Mitteln  einer  Schulsammlung  vielfach  modifizieren  und 
recht  amüsant  gestalten. 

Das  Anschlagen  einer  Stimmgabel  im  gleichen  Räume, 
Jas  Rasseln  mit  Schlüsseln  bringt  die  Flamme,  wenn  dazu 
gestimmt,  zum  Erlöschen:  das  bekannte  Experiment  der  sen- 
sibelen  Flammen. 

Es  ist  zu  bedauern,  daß  in  den  mit  okkulten  Fragen  sich 
beschäftigenden  Kreisen  der  physikalischen  E.xperimentierkunst 
zu  wenig  Beachtung  geschenkt  wird;  es  würden  sonst  eine 
ganze  Menge  irriger  Vorstellungen  bald  zum  Aussterben  ge- 
bracht werden  und  die  freiwerdenden  Kräfte  zum  Erforschen 
der  noch  verbleibenden  zahlreichen,  vorläufig  noch  rein 
okkulten,  Tatsachen  Verwendung  finden. 

(Man  vergleiche  auch  meinen  Aufsatz  über  angebliche 
photographische  Strahlen  in  den  Psych.  Studien  [Verlag  Mutze, 
Leipzig],  der  im  Junihefte  erscheinen  soll.) 

Alb.  Hofmann. 


Preußische  Biologische  Anstalt  auf  Helgoland.  Im  Som- 
mer 1922  muß  das  bisher  abgehaltene  fünfwöchige  meeres- 
liiologische  Praktikum  der  Biologischen  Anstalt  leider  wegen 
vorübergehenden  Raummangels  ausfallen ;  dagegen  soll  im 
Anschluß  an  den  von  Prof.  Prell  und  Dr.  Alverdes  ange- 
kündigten zweiwöchigen  Kursein  botanisches  Prakti- 
kum der  Biologischen  Anstalt  stattfinden  und  zwar  voraus- 
sichtlich vom  4.  September  ab.  Dasselbe  dauert  minde- 
stens eine  Woche.  Wer  Zeit  und  Geld  hat  kann  noch  eine 
weitere  Woche  arbeiten.  Auf  besondere  Wünsche  wird  Rück- 
sicht genommen.  Die  Leitung  liegt  in  den  Händen  von  Ge- 
heimrat Prof.  Dr.  Oltmanns- Freiburg  undDr.  Nicnburg- 
Helgoland.  Behandelt  wird  die  Morphologie  und  Öko- 
logie der  Meeresalgen.  Die  Teilnehmer  haben  den 
Nachweis  zu  erbringen,  daß  sie  an  einer  Universität  minde- 
stens ein  Semester  im  großen  zoologischen  oder  botanischen 
Praktikum  gearbeitet  haben.  Für  Platzgebühr  und  besondere 
Unkosten  werden  von  jedem  Teilnehmer  30  Mark  erhoben. 
Anmeldungen  zu  diesem  Praktikum  sind  bis  spätestens  15.  Juli 
an  die  unterzeichnete  Stelle  zu  richten,  die  weitere  Auskunft 
erteilt.     Ein  Mikroskop  ist  mitzubringen. 

Die   Direktion  der  Biologischen  Anstalt. 


Das  200000.  Mikroskop.  Um  der  Zusammenarbeit  und 
der  Anerkennung  der  Verdienste  der  Wissenschaft  um  die 
Technik  sichtbaren  Ausdruck  zu  geben,  hat  die  Firma  E.  Le  i  tz 
einem  seit  Jahrzehnten  geübten  schönen  Brauche  folgend,  die 
Fertigstellung  ihres  200000.  Mikroskops  in  würdiger  Weise 
dadurch  gefeiert,  daß  sie  dieses  Jubiläums-Instrument  einen 
hervorragenden  Vertreter  der  Wissenschaft,  dem  um  die 
wissenschaftliche  Mikroskopie  hochverdienten  Forscher  Prof 
Martin  Heidenhain,  Direktor  des  Anatomischen  Instituts 
an  der  Universität  Tübingen,  als  Ehrengabe  zugeeignet  hat. 
Das  Instrument,  einer  Reihe  gleicher  Instrumente  der  laufen- 
den Erzeugung  des  Werkes  entnommen,  ist  ein  Universal- 
Instrument  in  des  Wortes  bestem  Sinne,  dessen  Vielseitigkeit 
nicht  durch  Kompromisse,  sondern  durch  weitgehende  Aus- 
wechselbarkeit seiner  Teile  erreicht  ist.  Dadurch  ermöglicht 
es  alle  Arten  mikroskopischer  Untersuchungen  bis  zur  Ultra- 
mikroskopie nicht  nur,  wie  dies  noch  immer  allgemein  Brauch 
ist,  bloß  einäugig,  sondern  mit  Benutzung  einer  von  der  ge- 
nannten Firma  schon  vor  Jahren  eingeführten  Einrichtung  auch 
binokular  auszuführen. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  daran  erinnert,  daß  die  Firma 
E.  Leitz  das  looooo.  Mikroskop  ihrer  Erzeugung  Robert 
Koch,  dem  Altmeister  der  Bakteriologie,  und  das  150000. 
dem  nicht  minder  verdienten  Bekämpfer  der  Syphilis,  Prof. 
Dr.  Ehrlich,  als  Ehrengabe  zugeeignet  hatte. 


W.  Peter- Zittau  macht  in  Nr.  14  der  Naturw.  Wochen- 
schr.  gegen  die  .\uffassung  von  Nachtsheim,  daß  die  Ent- 
stehung blinder  Höhlenformen  eventuell  auf  dem  Auftreten 
einer  dominanten  augenlosen  Mutation  beruhen  könne,  die 
ohne  Selektion  allein  infolge  der  Dominanzver- 
hältnisse  die  Stammrasse  bald  verdrängen  solle,  geltend, 
daß  nach  Hardy  (1908)  „die  Nachkommen  der  Stammform 
und  der  (dominierenden)  Mutante  während  aller  Generationen 
immer  in  demselben  Zahlenverhältnis  zueinander  bleiben,  vor- 
ausgesetzt, daß  keine  Sorte  im  Kampf  ums  Dasein  bevorzugt 
ist".  Plate,  der  in  der  3.  Auflage  von  „Selektionsprinzip 
und  Prinzip  der  Artbildung"  (1908)  auch  annahm,  daß  die 
Nachkommenschaft  von  dominierender  Mutante  und  rezessiver 
Stammform  sich  zunächst  im  Verhältnis  von  i :  i  vermehre, 
kam  dabei  jedoch  zu  anderen  Schlüssen.  Nehme  man  näm- 
lich an,  daß  die  Anzahl  (n)  der  Nachkommen  jedes  Paares 
4  betrage,  so  erhalte  man  bei  fortgesetzter  Kreuzung  von 
dominierender  Mutante  (D)  und  rezessiver  Stammform  (R), 
die  im  Anfang  wegen  der  überwiegenden  Anzahl  der  Stamm- 
formen wahrscheinlich  sei,  allerdings  zunächst  in  den  auf- 
einander folgenden  Generationen  F, ,  F^,  F3  usw.  die  Formen  • 
(in  F,)  4  DR;  (inFoiS  DR  +  SRR;  (inFj)  16  DR  +  16  RR  usw. 
Es  verdoppelte  sich  also  bei  n  =  4  in  jeder  Generation  die 
Anzahl  der  DR-Kinder  und  der  RR-Kinder.  Bei  der  be- 
ständigen Zunahme  der  DR  müssen  aber  nach  Plate  statt 
der  fortgesetzten  Kreuzungen  DRXRR  schließlich  auch  Ver- 
bindungen von  DRXDR  stattfinden.  So  komme  man  weiter 
zu  den  Verbindungen  DD  X  DD -j- DR  X  l^K  +  RR  X  RR- 
Als  Nachkommenschaft  würde  man  in  diesem  Fall,  wenn 
n  =  4  angenommen  wird,  erhalten  4  DD -j- 4  DR  (äußer- 
lich =D)  -|- 4  RR  und  damit  wäre  dann  die  Überlegenheit 
von  DR  gesichert. 

Der  von  Hardy  formulierte  Satz,  daß  die  Nachkommen 
der  Stammform  und  der  Mutante  während  aller  Generationen 
in  demselben  Zahlenverhältnis  zueinander  bleiben,  würde  da- 
her die  Nachtsheimsche  Annahme  nicht  ausschließen. 
Nach  Plate  sollte  im  Gegenteil  „die  große  deszendenz-theo- 
retische  Bedeutung  der  echten  Mend  eischen  Kegel"  gerade 
darin  bestehen,  ,,daß  sie  zeigt,  wie  eine  aus  wenigen  Indi- 
viduen bestehende  Varietät  (Singularvariation)  die  volkreiche 
Stammform  (Pluralvariation)  zu  verdrängen  vermöge  —  ohne 
daß  der  Kampf  ums  Dasein  —  hierb'ii  mitwirke".  Aus  dem 
Hardy  sehen  Satz  folgt  daher  die  Ungültigkeit  der  Nachts- 
heim sehen  Annahme  noch  nicht.  Der  Har  d  y- Plat  esche 
Satz  ist  aber,  wie  ich  im  Biologischen  Zentralblatt  (1910, 
S.  593  ff-)  gezeigt  habe,  überhaupt  nicht  richtig.  Das  Zahlen- 
verhältnis der  Nachkommen  von  rezessiver  Stammform  und 
dominierender  Mutante  bleibt  in  den  folgenden  Generationen, 
auch  wenn  keine  der  beiden  Formen  im  Kampfe  ums  Dasein 
bevorzugt  ist,  durchaus  nicht  gleich^  von  Generation 
zu  Generation  tritt  vielmehr  die  Anzahl  der  dominierenden 
Mutanten  immer  mehr  zurück  bis  sie  schließlich  gegenüber 
der  Anzahl  der  RR-Nachkommen  verschwindet.  Plate  hatte 
die  Tatsache  nicht  in  Betracht  gezogen,  daß  sich  bei  der 
.\achkommenschaft  von  rezessiver  Stammform  und  domi- 
nierender Mutante  die  Anzahl  der  DR-Formen  wohl  in  jeder 
folgenden  Generation,  wenn  man  vom  Kampf  ums  Dasein 
absieht,  verdoppelt,  daß  sieh  die  RR-Formen  aber  in  einem 
außerordentlich  viel  schnellerem  Tempo  vermehren.  Er  über- 
sah die  Nachkommenschaft  der  RR-Kinder.  Es  läßt  sich  dies 
am  einfachsten  an  einem  Schema  zeigen.  Behält  man  die 
Pia  leschen  Vora"ussetzungen  und  Bezeichnungen  bei,  so  gehen 
aus  dem  Paare  D  X  R  ia  den  aufeinanderfolgenden  Gene- 
rationen folgende  Formen  hervor: 

Gene-        Gesamtzahl  der         Anzahl  der  DR-  und  RR- 
rationen        Nachkommen  Kinder 

Fl        =  4  =  4  DR 

Fo       =  16 


SDR 


+ 


8  RR 

F3       =  64  =     16 DR     -f      16 RR   -f  JzKR 

Fl        =  256 


=  32  DR+32  RR-f  64  RR+128  RR 

In  der  3.   Generation  (F,)  stehen   also  nach  dem  Schema 

den    16  Bastarden  DR    mit   dem  Habitus    der    dominierenden 

Mutante  48  RR-Kinder  gegenüber;    in   der  4.   Generation  (F^) 

den  32  DR-Kindern  224  RR-Kinder  usw. 

Man  kann   für  diese   Verhältnisse   eine  allgemeine   Formel 


330 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  24 


ableiten.  Aus  dem  Schema  ergibt  sich,  wenu  man  die  An- 
zahl der  Kinder  aus  jeder  einzelnen  Paarung  durchweg  =  n 
setzt,  in  der  raten  Generation  im  ganzen  die  Anzahl  von 
n"'  Kindern.    Von  diesen  n">  Kindern  sind,  wie  gleichfalls  das 


Schema    zeigt , 


1  .m  -I 


DR-Kinder  d.  b.  es  gilt  für  die  DK 


Kinder  die   Kormel :    -  •  nm  DK.      Die  Anzahl    der    KK- 

Kinder  in  der  raten  Generation  ist  daher,  da  es  nur  DR-  und 
RR-Kinder   gibt,    ^  nm  —  j      j         .  nm  oder   L — —  nm. 

Wir  erhalten  so  die  Formel : 

Kn,  =  |-1         .nmDR-l-fl  — /  '  r^lnm   RR. 


i^r 


Nach  dieser  Formel  vermehren  sich  unter  den  Nach- 
kommen bei  einer  Kreuzung  von  rezessiver  Stammform  und 
dominierender  Mutanten  die  beiden  Formen  in  den  aufein- 
anderfolgenden Generationen  in  folgenden  Verhältnissen.  Es 
erscheinen  in  der  Generation; 

K,  =        n  DR  (da         =   I   ist);    ferner  in  den  Geiii-rationen : 
2 

Ka=    '   n'  DK  -f    '-n«RR; 


F3  =  —  nS  DR  +  »/^  n»  RR  ; 

F«  =  -^  n*  DR  +   %  n»  RR  ; 

15, 


Die  Anzahl  der  RR-Kinder  nähert  sich  daher 
mit  wachsendem  mimmermehrdem  Werte  nm ,  d i e 
Anzahl  der  DR-Kinder    wird    dagegen    ein    imraer 


kleinerer  Bruchteil 


von  nm.     Plate  hat  die 


Richtigkeit    dieser    Feststellung     in     der     4.    Auflage     seines 
.Selektionsprinzipes  ausdrücklich  anerkannt. 

Wenn  daher  auch  die  betreffende  Na  ch  tsh  ei  msche 
Annahme  sicher  falsch  ist ,  so  ist  sie  es  nicht  wegen  der 
Geltung  des  Hardy- Plat eschen  Satzes;  aus  ihm  ließe  sich 
im  Gegegteil  auf  dem  Plateschen  Wege  gerade  ihre  Richtig- 
keit erweisen;  sie  ist  vielmehr  falsch,  weil  auch  derHardy- 
sche  Satz  falsch  ist  und  unter  den  Nachkommen  einer  Kreuzung 
von  rezessiver  Stammform  und  dominierender  Mutante  die 
Stammformen  und  Mutantformen  sich  in  den  folgenden  Gene- 
rationen nicht  das  Gleichgewicht  halten,  sondern  die  letzteren 
im  Verhältnis  zu  den  Stammformen  rapid  abnehmen. 

H.   Kranichfeld. 


Nochmals  die  Kontraktionstbeorie.  Wenn  die  Streiche, 
die  Herr  Dr.  Fricke  in  Nr.  15  der  Naturw.  Wochenschr. 
gegen  die  Kontraktionshypothese  führt,  sie  zu  Falle  iu  bringen 
vermöchten,  so  würde  sie  es  nicht  wert  sein,  daß  man  sich 
um  sie  bemühte.  Aber  sie  steht  doch  etwas  fester,  als  Dr. 
Fricke  glaubt.  Ich  hatte  in  meinem  Aufsatze  die  Hypothese 
in  Schutz  genommen  und  gezeigt,  daß  die  neueren  Forschungs- 
ergelinisse   keineswegs  dazu  zwingen,    sie  aufzugeben,  sondern 


im  Gegenteil  ihre  Richtigkeit  bestätigen.  Gegen  meine  Argu- 
mente wendet  sich  Dr.  Fricke  mit  keinem  Worte;  er  muß 
sie  also  wohl  gelten  lassen.  Er  greift  nur  eine  meiner  ein- 
leitenden Bemerkungen  an,  wo  ich  darauf  hingewiesen  hatte, 
dafl  für  die  Erde  die  Kontraklionshypothese  gleichsam  a  priori 
feststehe,  weil  eine  ganze  Reihe  von  Gründen,  die  ich  an 
einem  anderen  Drte  aufgezälilt  habe,  die  Anwendung  der 
Meteoritenhypothese  auf  ihre  Entwicklung  verbiete.  Dr. 
Fricke  gibt  sich  nicht  die  Mühe,  diese  Gründe  zu  wider- 
legen. Bis  dies  geschehen  ist,  darf  ich  sie  also  ebenfalls  als 
zu  Recht  bestehend  betrachten. 

Daß  durch  die  neueren  astronomischen  Forschungen  die 
Entwicklung  der  Riesensterne  zu  Zwergsternen  „bewiesen"  sei, 
habe  ich  nicht  behauptet.  Beweisen  lassen  sich  nur  mathe 
matische  Lehrsätze.  In  den  Erfahrungswissenschafien  gibt  es 
stets  nur  einen  höheren  oder  geringeren  Grad  von  Wahr- 
scheinlichkeit. Die  neueren  astronomischen  Forschungen 
haben  es  nun  in  der  Tat  wahrscheinlich  gemacht,  daß  die 
Sternentwicklung  den  angegebeneu  Gang  geht.  Natürlich  gibt 
es  immer  einige  Gelehrte,  die  sich  der  allgemein  herrschenden 
Ansiclit  nicht  anschließen.  Wenn  sie  wünschen,  daß  ihre  ab- 
weichende Ansicht  Anerkennung  finde,  so  müssen  sie  aber 
imstande  sein  zu  zeigen,  daß  ihre  Auffassung  der  gegnerischen 
überlegen  sei.  Vorläufig  bezweifle  ich  sehr,  daß  dies  bei 
Dr.  Frickes  Ansichten  über  die  Entwicklung  der  Welt- 
körpcr  zutrifft.')  Er  hat  auch  verraten,  was  ihn  letzten  Endes 
veranlaßt,  der  Kontraktionshypothese  seine  Anerkennung  zu 
versagen.  Es  sind  die  „trostlosen  Zukunftsaussichten",  die 
sie  seiner  Meinung  nach  bietet.  Also  nicht  aus  objektiven, 
in  der  Sache  liegenden,  sondern  aus  subjektiven  Gründen, 
weil  gewisse  letzte  Konsequenzen  der  Hypothese  gewissen 
vorgefaßten  Meinungen  widersprechen,  lehnt  Dr.  Fricke 
sie  ab.  Dazu  ist  zu  sagen,  daß  die  von  ihm  berührten  letzten 
Fragen  noch  lange  nicht  leif  für  eine  exakte  wissenschaftliche 
Behandlung  sein  dürften,  und  daß  man  sich  aus  diesem  Grunde 
nicht  verleiten  lassen  darf,  nach  ihnen  den  Wert  wissenschaft- 
licher Hypothesen  zu  beurteilen.  Wenn  mehr  oder  weniger 
tröstliche  Zukunftsaussichten  wissenschaftlicher  Forschung  die 
Zielrichtung  vorschreiben  dürften,  dann  könnte  man  es  auch 
den  Verfechtern  kirchlicher  Dogmen  nicht  verargen,  wenn  sie 
sich  berufen  fühlten,  die  Wissenschaft  zu  reformieren,  weil 
ihre  trostreichen  Glaubenssätze  den  wissenschaftlichen  Er- 
gebnissen wegen  der  trostlosen  Gewißheit,  daß  uns  die  letzten 
und  höchsten  Ziele  wissenschafilicber  Forschung  doch  immer 
unerreichbar  bleiben,  überlegen  seien.  Nölke. 

')  E.  Wiechert,  auf  den  Dr.  Fricke  sich  beruft,  ist 
keineswegs  Gegner  der  Kontraklionshypothese.  Er  schließt 
sich  durchaus  der  herrschenden  Ansicht  an,  daß  die  Sternent- 
wicklung,  vom  Gasnebelzustande  ausgehend,  das  Stadium  der 
Riesen-  und  Zwergsterne  durchlaufe,  ergänzt  diese  Vorstellung 
aber  durch  die  Annahme  eines  Kreislaufs  des  kosmischen 
Geschehens.  Seiner  Meinung  nach  vergrößern  die  Zwergsterne  ■ 
durch  Aufnahme  kosmischer  Meteoritenmaterie  ihre  Masse,  bis 
sie  schließlich,  zu  Massenriesen  geworden,  durch  eine  Ex- 
plosion auseinandergerissen  werden.  Dabei  zerstreut  sich  der 
größte  Teil  ihrer  Materie  in  Meteoritenform  durch  den  Welt- 
raum, wo  sie  von  neuem  das  Material  für  das  Wachstum  der 
wandernden  Gestirne  bilden.  -Als  Rest  aber  bleibt  ein  Gas- 
nebel zurück,  der  wieder  die  gewöhnliche  Entwicklung  vom 
(Raum-)  Riesen  zum  Zwerge  durchläuft. 


Inhalt:  E.  Krenkel,  Zum  fünfzigjährigen  Bestehen  der  Sächsischen  Geologischen  Landesuntersuchung.  S.  321.  G.Brück- 
ner, Alfonso  Corti.  S.  322.  II.  Rust,  Mathematisches  Neuland:  Arnold  Kowalewskis  Buntordnungslehre.  S.  324. 
W.  R.  Eckardt,  Alfred  Wegeners  Theorie  der  Kontinentalverschiebungen  und  die  Tiergeographie.  S.  326.  —  Einzel- 
bericbte:  F.  v.  Weltstein,  Neue  Beobachtungen  an  unseren  entomophilen  Moosen.  S.  327.  N.  Vavilow  und 
R.  Regel,  Über  den  Ursprung  der  Getreidearten.  S.  32S.  W.  Einthoven,  Der  dünnste  Faden  sichtbar  gemacht. 
(3  Abb.)  S.  330.  W.  Volkraann,  Prüftafel  für  Fernrohre.  S.  332.  Sanford,  Über  die  Beziehungen  der  Spiral- 
nebel zu  der  Milchstraße.  S,  332.  —  Bücberbesprecbungen:  R.  G  ol  dsch  m  id  t ,  Ascaris.  S.  333.  A.Klaus,  Atome, 
Elektronen,  Quanten.  S  333.  B.  Bavink,  Grundriß  der  neueren  Atomistik.  S.  333.  H.  E.  Timerding,  Die  Fall- 
gesetze. S.  334.  P.  Meth,  Theorie  der  Planetenbewegung.  S.  334.  E.  Gramberg,  Pilze  der  Heimat.  S.  334.  — 
Anregungen  und  Antworten:  Das  Rätsel  der  Ilandstrahlen.  S.  334.  Preußische  Biologische  Anstalt  auf  Helgoland. 
S.  335.  Das  200000.  .Mikroskop.  S.  335.  Entstehung  blinder  Höhlenformen.  S.  335.  Nochmals  die  Kontraktions- 
Iheorie.   S.  336. 

Manuskripte   und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav   Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.   Pälz'schcn  Buchdr.  Lippert  &  Co.- G.  m.  h.  II.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  i8.  Juni  1922. 


Nummer  }85. 


Bemerkungen  über  Standorte  und  Verbreitung  der  deutscheu 

Farnkräuter. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  Hugo  Fischer. 


„Farnkräuter"  wäre  ein  unrichtiger  Ausdruck, 
wenn  er  sich  auf  die  ganze  Klasse  bezöge,  weil 
es  ja  in  den  Tropenländern  auch  Farnbäume  gibt. 
Innerhalb  Europas  darf  man  aber  schon  von 
„Farnkräutern"  sprechen.  Zu  verwerfen  ist  aber 
die  Bezeichnung  „Farrenkraut" ;  das  mag  dem 
Dichter  hingehen ,  wenn  es  ihm  im  Reim  und 
Rhythmus  nicht  anders  passen  will,  aber  in  Prosa- 
schriften sollte  man  trotz  allen  dichterischen 
Schwunges  die  unrichtige  Schreibweise  vermeiden, 
denn  die  „F"arren"  gehören  zum  lieben  Vieh;  eine 
engere  Beziehung  zwischen  Farn  und  Farren  ist 
auch  darum  abzuweisen,  weil  die  Farne  zum  Vieh- 
futter gänzlich  ungeeignet  sind. 

In  Einteilung  und  Benennung  habe  ich  mich 
an  L.  Diels,  inEnglerPrantl,  Die  natür- 
lichen Pflanzenfamilien,  i.  Teil,  4.  Abtlg., 
angeschlossen.  Ascherson  und  Graebner, 
Synopsis,  gehen  mir  in  der  Zusammenlegung 
der  Gattungen  etwas  zu  weit.  Doch  billige  ich 
die  Einziehung  der  alten  Gattung  Phegopteris, 
obwohl  gerade  die  drei  deutschen  Vertreter  eine 
gut  abgegrenzte  Gruppe  darstellen.  Autoren- 
namen  lasse  ich  fort,  nicht  aus  grundsätzlicher 
Abneigung,  sondern  weil  die  Zwecke,  die  man 
mit  ihnen  verbindet,  in  den  folgenden  Zeilen  gar 
nicht  in  Frage  kommen.  Volksnamen  unserer 
Pflanzen  weiß  ich  sehr  zu  schätzen;  wenn  ich  auf 
die  deutschen  Namen  hier  verzichte,  so  geschieht 
es,  weil  es  für  die  wenigsten  Arten  wirkliche 
Volksnamen  gibt,  die  meisten  sind  nur  Ver- 
deutschungen, wie  der  „nördliche  Streifenfarn"  u.  a. 
Zuweilen  sind  aber  Volksnamen  geradezu  falsch : 
so  hörte  ich  für  Blechnum  spicant  die  Bezeich- 
nung „Steinfarn",  die  Art  kommt  aber  an  oder 
auf  Steinen  kaum  vor,  sondern  auf  humosem 
Boden.  — 

Es  ist  ein  oft  beklagter  Übelstand,  daß  F"und- 
Ortsangaben  gewöhnlich  den  Standort  nur  sehr 
allgemein  bezeichnen,  während  doch  gerade  alle 
näheren  Umstände  das  Vorkommen  einer  be- 
stimmten Art  an  einer  bestimmten  Stelle  erst  recht 
interessant  machen.  So  findet  man  bei  Farnen 
oft  angegeben:  „an  Mauern".  Es  ist  aber,  wegen 
der  Kalkfrage,  von  welcher  noch  die  Rede  sein 
wird,  ein  großer  Unterschied,  ob  die  Mauer  mit 
Kalkmörtel  gebaut  ist,  oder  ob  es  eine  „Feld- 
mauer", aus  Granit-,  Schiefer-  oder  dgl.  Steinen, 
ohne  erhärtendes  Bindemittel  aufgeschichtet,  ist. 
Erst  aus  genauen  Beschreibungen  des  Standortes, 
in  seinen  chemischen,  physikalischen  und  oiko- 
logischen    Besonderheiten    können     wir     die    Be- 


dingungen wirklich  erkennen,  an  die  das  Vor- 
kommen der  Arten  gebunden  ist. 

Denn  auch  die  Lehre  von  der  geographischen 
Verbreitung  der  Pflanzen  hat,  wie  die  Botanik 
überhaupt,  längst  aufgehört,  eine  „beschreibende" 
Wissenschaft  zu  sein;  sie  ist  zur  Erforschung  der 
natürlichen  Ursachen  vorgedrungen  und  schreitet 
auf  diesem  Wege  weiter  fort.  In  der  floristischen 
Forschung  nun  ist  eine  sehr  umfangreiche  und 
höchst  dankenswerte  Kleinarbeit  geleistet  von 
Dilettanten,  die  oft  mit  größter  Begeisterung  für 
die  Sache  doch  nicht  den  weiten  Blick  verbanden, 
der  alle  jene  Zusammenhänge  überschaut,  und  so 
erklärt  sich  wohl  vielfach  die  Ungenauigkeit  in 
den  Standortsangaben.  Der  Sammler  ist  ja  natür- 
lich vor  allem  stolz  darüber,  eine  seltene  Pflanze 
an  einer  „neuen"  Stelle  gefunden  zu  haben  und 
begnügt  sich  wohl  damit.  Gerade  für  seltene, 
oder  in  jener  Gegend  seltene  Arten  ist  aber  die 
Besonderheit  des  einzelnen  Fundortes  von  größter 
Bedeutung;  ist  die  Pflanze  selten,  so  heißt  das 
oft,  daß  sie  in  jener  Gegend  sich  nicht  recht 
heimisch  fühlt,  daß  besondere  Bedingungen  er- 
füllt sein  müssen,  solche  chemischer  oder  physi- 
kalischer oder  oikologischer  Art,  um  ihr  das  Ge- 
deihen an  einem  Fleck  doch  zu  gestatten.  So 
erreichen  viele  Pflanzen  die  Nordgrenze  ihrer  Ver- 
breitung etwa  auf  Kalkboden,  der  wärmer  (I)  ist 
als  andere  Unterlagen,  oder  sonst  an  Stellen,  die 
besonders  günstig  geartet  sind. 

Die  Bedingungen  des  Vorkommens  und  der 
Verbreitung  einer  Art  sind,  abgesehen  von  den 
historischen  Beziehungen,  von  zwei  Seiten  zu  be- 
trachten :  die  Eigenart  der  Pflanze  und  die  Eigen- 
art des  Standortes ;  beide  müssen  zueinander  passen, 
wenn  erstere  sich  an  einer  Stelle  behaupten  soll. 
Wir  können  in  solcher  Hinsicht  auch  von  Innen- 
und  von  Außenbedingungen  sprechen.  Die 
ersteren  zu  analysieren  ist  natürlich  nicht  leicht, 
und  so  ist  es  denn,  wie  jüngst  Fitting  in  einem 
gedankenreichen  Vortrag  ')  betont  hat,  gerade  die 
physiologische  Seite  einer  „Pflanzengeographie  auf 
physiologischer  Grundlage",  welche  noch  recht 
viele  dunkle  Stellen  aufweist.  Die  Außenbeding- 
ungen sind  leichter  festzustellen.  Einteilen  können 
wir  sie  in  solche  chemischer,  physikalischer  (klima- 
tischer), oikologischer  und  historischer  Art.  Welche 
Bedeutung  der  letztgenannte  Punkt  hat,  dafür  sei 
an  die  Tatsache  erinnert,  daß  Deutschlands  heutige 


')Hans  Fitting;  Aufgaben  und  Ziele  einer  vergleichen- 
lii'n   Physidiogie  auf  geograjihischer  («rundhige,     Jena    1922. 


338 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


Pflanzenwelt  in  ganz  hervorragendem  Maße  und 
unverkennbar  von  der  längst  vergangenen  Eiszeit 
abhängig  ist.  Die  Oikologie,  die  ja  vielfach  Zu- 
sammenhänge auch  mit  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung hat,  knüpft  an  die  Lehre  vom  „Kampf 
ums  Dasein"  an.  Wenn  wir  auch  heut  überzeugt 
sind,  daß  Darwin  die  Wirkung  seiner  „Natur- 
auslese im  K.  u.  D."  in  ihrer  Tragweite  für  die 
Entstehung  der  Arten  überschätzt  hat,  so 
ist  doch  nicht  minder  gewiß,  daß  dieselbe  für  die 
natürliche  Verbreitung  der  Arten  von  ganz 
beträchtlichem  Einfluß  ist.  Eine  Art  von  Tieren 
oder  Pflanzen  kann  eben  nur  da  vorkommen, 
wo  der  Kampf  um  die  Erhaltung  des  Einzelwesens 
und  um  die  Fortpflanzung  seiner  Art  nicht  so 
hart  wird,  daß  die  Art  ihm  nicht  mehr  gewachsen 
ist.  Sie  kann  sich  nur  da  ansiedeln  und  er- 
halten, wo  die  Umwelt  ihr  die  Möglichkeit  dazu 
gewährt.  Darum  ist  es  ein  wenig  naiv,  wenn 
jemand  in  der  Anpassung  einer  Art  an  ihren 
Standort  etwas  besonders  Wunderbares  findet;  ein 
wahres  Wunder  wäre  das  Gegenteil :  das  Vor- 
kommen einer  Art  an  einer  Stelle,  der  sie  ganz 
und  gar  nicht  angepaßt  wäre. 

Wenn  eine  Pflanzenart  recht  unfruchtbare  und 
anscheinend  wenig  günstige  Stellen  „mit  Vorliebe 
aussucht",  so  kann  es  daran  liegen,  daß  sie  besseren 
Boden  wirklich  nicht  verträgt,  wie  Nardus  stricta 
und  andere  Sandgräser,  die  auf  gedüngtem  Land 
bald  eingehen,  —  oder  aber  daran,  daß  durch  die 
ungünstigeren  Bedingungen  die  Wettbewerber 
zurückgehalten  werden.  Das  gilt  wohl  von  allen 
l'^elsritzen  und  Mauern  bewohnenden  Pflanzen.  — 

Eines  der  interessantesten  und  umstrittensten 
Gebiete  in  der  Lehre  von  der  Verbreitung  der 
Pflanzen  ist  die  Kalkfragc.  Die  ältere  Botanik 
machte  nach  dem  Vorgang  von  U  n  g  e  r  einen 
dicken  Strich  zwischen  „Kalk-  und  Kieselpflanzen", 
in  neuerer  Zeit  ist  diese  Grenze  bedeutend  ins 
Schwanken  gekommen.  Wir  müssen  auf  diese 
Frage  hier  hindeuten,  weil  sie  gerade  auch  für 
unsere  Farnkräuter  nicht  ganz  unwesentlich  ist. 
Es  konnte  das  festgestellt  werden,  daß  die  Be- 
schränkung der  Kalkpflanzen  auf  Kalk,  der  Kiesel- 
pflanzen auf  (kalkarmen)  Kieselboden  keine  voll- 
kommene ist,  daß  nämlich  doch  Ausnahmen  nicht 
allzuselten  sind.  Auch  scheinbare  Ausnahmen 
sind  beobachtet:  Kieselpflanzen  können  im  Kalk- 
gebirge in  einer  so  dichten  Humusanhäufung 
stehen,  daß  ihre  Wurzeln  mit  dem  Kalk  gar  nicht 
in  engere  Berührung  kommen;  oder  es  kann  in 
kalkarmem  Gestein  stellenweise  eine  Anreicherung 
mit  Kalk  stattgefunden  haben ;  so  z.  B.  beschreibt 
Wirt  gen,  Flora  der  Rheinprovinz,  einen  Stand- 
ort des  Kalkfarnes  Nephrodium  Robertianum  im 
rheinischen  Schiefergebirge  (meist  kalkarmer  De- 
von- bzw.  Silurschieferj  mit  den  Worten :  ,,wo 
herabrieselndes  Bergwasser  seinen  Kalkgehalt  ab- 
gesetzt hat". 

Zweifellos  gibt  es  wirkliche  Kalk-  und 
Kieselpflanzen,  doch  ist  es  eine  Regel,  die  auch 
Ausnahmen  verträgt.    Die  Versuche  sind  gelungen, 


Kalkpflanzen  auf  Kieselboden,  Kieselpflanzen  auf 
Kalkboden  zu  kultivieren ;  aber  es  gehört  doch 
immer  sorgsame  Pflege  dazu,  und  eben  dieser 
Umstand  beweist,  daß  Organisationsunterschiede 
doch  vorhanden  sein  müssen.  Kalkreicher  Boden 
erschwert  den  Pflanzen,  die  an  ihn  nicht  gewöhnt 
sind,  die  Aufnahme  der  lebensnotwendigen  Eisen- 
und  Phosphorsalze,  ist  wohl  auch  auf  den  Kali- 
stoffwechsel nicht  ohne  Einfluß;  worin  die  Ab- 
neigung der  Kalkpflanzen  gegen  Kieselboden  be- 
steht, ist  schwieriger  zu  sagen.  Auch  in  der 
Natur  findet  man  zuweilen  Kalkpflanzen  auf  Kiesel- 
boden, oder  umgekehrt,  dann  meist  in  Phallen,  wo 
eine  naheverwandte,  dem  Boden  eigentlich  zuge- 
hörige Art  fehlt,  also  nicht  als  Mitbewerber  um 
den  Standraum  in  Frage  kommt.  Einen  solchen 
Fall  hat  z.  B.  Nägeli  beschrieben.  U'ir  müssen 
dabei  der  auffallenden  Erscheinung  gedenken,  daß 
gerade  nächstverwandte  Arten  oft  nicht  den 
gleichen  Standort  teilen,  sondern  so  verschiedene 
Neigungen  verraten,  daß  sie  sich  gegenseitig  nicht 
den  Platz  streitig  machen,  einander  vielmehr  aus- 
weichen. An  solchen  nächstverwandten,  aber  ver- 
schiedene Standorte  bewohnenden  Artenpaaren,  an 
welche  die  Beobachtungen  von  Unger  anknüpfen, 
fehlt  es  auch  unter  den  Farnen  nicht.  Von  weiter 
hier  anknüpfenden  Fragen  soll  unten  gelegentlich 
der  „Serpentinfarne"  noch  näher  die  Rede  sein 
(s.  bei  Nr.  36). 

Ein  gewisser  Kalkgehalt  fördert  ganz  unge- 
mein die  Tätigkeit  der  Bodenbakterien ;  ich  selbst 
habe  in  Versuchen  gefunden,  daß  in  Ackererde 
durch  geringe  Kalkbeigabe  die  Zahl  der  auf 
Platten  angehenden  Keime  auf  das  50-  bis  100  fache 
anstieg.  Das  kann  auch  auf  die  in  solchem  Boden 
wurzelnden  Pflanzen  nicht  ganz  ohne  Einfluß  sein, 
wenngleich  nähere  Beziehungen  hier  noch  nicht 
aufgedeckt  sind  —  wie  denn  überhaupt  die  Boden- 
bakteriologie noch  heute  zu  einem  sehr  großen 
Teil  aus  ungelösten  P'ragen  besteht.  Bezüglich 
der  Kalkpflanzen  ist  ferner  auch  darauf  hinge- 
wiesen worden,  daß  Kalkboden  an  den  sonstigen 
Pflanzennährstoffen  reicher  zu  sein  pflege  als 
Kieselboden.  Was  den  Stickstoff  betrifft,  so 
wissen  wir,  daß  die  beiden  ihn  am  kräftigsten 
aus  der  Luft  assimilierenden  Bakterienarten,  Ba- 
cillus amylobacter  und  Azotobacter  chroococcum, 
kalkhaltigen  Boden  verlangen.  Auch  kaim  man 
in  den  Hochgebirgen  (Alpen,  Tatra)  sehen,  wie 
die  Kalkberge  meist  durch  reichere  Vegetation 
und  größere  Artenzahl  vor  den  kalkärmeren  (Ur- 
gestein, Schiefer  usw.)  ausgezeichnet  sind.  Anderer- 
seits ist  aber  zu  betonen,  daß  eine  aus  Ziegel- 
steinen und  Kalkmörtel  gebaute  Mauer  wohl  nicht 
als  „nährstoffreicher"  Standort  aufgefaßt  werdeii 
kann. 

Eine  recht  interessante  Feststellung  jener  Art 
konnte  ich  im  Jahre  1908  am  Ausgang  des  Fisch- 
bachtales machen,  das  von  Norden,  vom  Hunsrück 
her,  in  die  Nahe  mündet.  Die  Felsen  des  wohl 
silurischen  Schiefergesteins  petrographisch  zu  analy- 
sieren,   war    ich   weder    ausgerüstet  noch  erfahren 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


339 


genug,  doch  fiel  es  sehr  deutlich  auf,  daß  die 
einen  viel  reicheren  Pflanzenwuchs,  auch  bezüglich 
der  Artenzahl,  trugen,  als  die  anderen,  die  auch 
schon  als  Gestein  betrachtet  mehr  quarzitisch,  also 
an  Pflanzennährstoffen  ärmer  waren  als  jene.  Es 
war  hier  eine  gewisse  Abstufung  deutlich  zu  er- 
kennen, die  besonders  in  den  die  einzelnen  Fels- 
gruppen bewohnenden  Arten  von  Farn- 
kräutern ihren  Ausdruck  fand.  Auf  den  nähr- 
stoffärmsten Preisen  stand  nur  das  kalkscheue 
Polypodium  vulgare,  auf  anderen  gesellte  sich  das 
ebenfalls  kalkscheue  Asplenum  septentrionale  hin- 
zu, auf  wieder  anderen  fehlte  das  erstgenannte, 
während  neben  A.  sept.  nun  A.  trichomanes  auf- 
trat, auf  nochmals  anderen  fand  ich  nur  noch 
dieses,  neben  dem  ziemlich  kalksteten  Ceterach 
officinarum.  Diesen  viererlei  Stufen  entsprach 
nun  auch  nach  Individuen-  und  Artenzahl  der 
Bestand  an  Blütenpflanzen,  die  damals,  Ende  Au- 
gust, schon  stark  vorüber  waren,  und  bezüglich 
derer  ich  mir  keine  Notizen  gemacht  habe.  Jeden- 
falls boten  aber  diese  Felsgruppen  ein  pflanzen- 
geographisch höchst  interessantes  Bild,  schon 
wegen  ihres  ziemlich  nahen  Nebeneinander. 

Soviel  von  den  allgemeinen  pflanzengeo- 
graphischen Gesichtspunkten ;  nun  noch  ein  paar 
Worte  von  den  Farnen  als  solchen.  Jeder  Laie 
kennt  sie,  jeder  Dichter  braucht  sie,  wenn  er  die 
Poesie  des  deutschen  Waldes  schildern  will.  Durch 
die  ungemeine  Zierlichkeit  ihrer  meist  fein  ge- 
fiederten Wedel  sind  sie  das  Entzücken  jedes  Be- 
schauers, der  einigen  Schönheitssinn  hat.  Ihre 
Verwendung  in  der  Blumenbinderei  ist  bekannt, 
nicht  minder  ihre  Brauchbarkeit  zur  Belebung 
schattiger  Stellen  in  Gärten,  wo  Blütenpflanzen 
nicht  mehr  recht  gedeihen  wollen.  Leider  sind 
sie  zu  sehr  an  feuchte  Luft  angepaßt,  um  sich  in 
unseren  Zimmern  wohlzufühlen ;  um  so  mehr 
sind  sie  für  Luxusglashäuser  und  Wintergärten 
zu  empfehlen,  wofür  freilich  ausländische  Arten 
sich  meist  besser  eignen  als  unsere  einheimischen. 

Wissenschaftlich  interessant  sind  die  Farne  als 
ein  sehr  alter  Zweig  am  Stammbaum  des  Pflanzen- 
reichs, der  namentlich  einen  uralten  Charakterzug 
bewahrt  hat:  Die  „Wedel"  der  F'arne  werden  oft 
als  „Blätter"  bezeichnet,  aber  nur  teilweise  mit 
Recht.  Die  paläontologische  „Urpflanze"  kannte 
noch  keinen  Unterschied  zwischen  Seitensproß  und 
Blatt,  erst  allmählich  haben  sich  die  beiderlei 
Dinge  voneinander  getrennt  entwickelt,  der  Sproß 
wächst  „unbegrenzt"  —  was  natürlich  nur  theo- 
retisch gemeint  sein  kann  —  an  seiner  Spitze 
weiter,  das  Blatt  stellt  frühzeitig  sein  Spitzen- 
wachstum ein  und  wächst,  nachdem  dieses  vollendet 
ist,  noch  an  der  Basis  weiter,  bis  auch  dieses 
Wachstum  sein  Ende  erreicht.  Die  „Wedel"  der 
Farne  nun  —  ich  vermeide  absichtlich,  „Blätter" 
zu  sagen  —  sehen  zwar  wie  Blätter  aus,  haben 
auch  die  Stellung  am  Hauptstamm  und  den  ana- 
tomischen Bau  wie  Blätter,  aber  sie  haben  anderer- 
seits ein  lang  andauerndes  Spitzenwachstum,  wie 
echte  Sprosse.    Das  Interessanteste  an  dem  lange 


Jahre  durchgeführten  Streite,  ob  es  echte  Sprosse 
oder  echte  Blätter  seien,  ist  also  schließlich  das, 
daß  keine  Partei  ganz,  und  jede  etwas  im  Recht 
warl  Als  Kuriosum,  als  Zeichen  dafür,  wie  weit 
man  zuweilen  im  morphologischen  Schematismus 
gegangen  ist,  sei  der  eine  Punkt  angeführt:  es  ist, 
allen  Ernstes,  gesagt  worden,  wenn  die  Farnwedel 
Sprosse  seien,  dann  müsse  man  die  Spreuschuppen 
als  die  Blätter  dieser  Sprosse  ansehen.  — 

Wir  gehen  nun  die  einzelnen  Arten  der  deut- 
schen Flora  durch,  wobei  ich  einige  seltene,  erst 
am  Südfuß  der  Alpen  vorkommende  Arten  übergehe. 

1.  HymoiopliylliiDi  ütnhndgciisc,  der  einzige 
deutsche  Vertreter  einer  mit  fast  200  Arten  in 
den  Tropenländern  verbreiteten  Familie,  ein  un- 
gemein zartes,  Feuchtigkeit  liebendes  Pflänzchen, 
in  Deutschland  nur  an  einer  einzigen  Stelle,  im 
Uttewalder  Grunde  der  „Sächsischen  Schweiz" 
gefunden  (die  Angabe  „bei  Wehlen"  bedeutet 
wohl  den  gleichen  Standort?),  aber  seit  etlichen 
Jahren  verschwunden  und  nicht  wieder  aufge- 
funden; infolge  Abholzung  des  oberhalb  befind- 
lichen Waldes  ist  die  Stelle  zu  trocken  geworden, 
um  dem  zarten  und  seltenen  Pflänzchen  länger 
die  Existenzmöglichkeit  zu  bieten.  Nahe  unserer 
Grenze  findet  es  sich  in  Luxemburg;  über  dieses 
Vorkommen  hat  Klein  inNaturw.Wochenschr.  1916 
ausführliche  Mitteilungen  gebracht.  H.  t.  hat  eine 
besondere  Vorliebe  für  Sandstein,  der  dank  seiner 
Porosität  Wasser  aufsaugt  und  lange  festhält,  also 
für  P"euchtigkeit  liebende  Pflanzen  der  rechte  Stand- 
ort ist.  Im  übrigen  Europa  findet  es  sich  vor- 
wiegend in  einiger  Nähe  der  atlantischen  Küsten, 
immer  in  feuchterem  Klima,  übrigens  weit  über 
die  Erde  verbreitet,  so  in  Südafrika,  auf  den 
Westafrikanischen  Inseln,  in  Mittel-  und  Süd- 
amerika, in  Australien,  Neu-Seeland  usw.  Schade, 
daß  wir  dieses  Gewächs  kaum  noch  als  lebenden 

'Bürger  der  deutschen  Flora  ansehen  dürfen. 

2.  Afliyn'/iin  filix  femiiia ,  ausgesprochener 
Waldfarn,  der  meist  zusammen  mit  Nephrodium 
filix  mas  und  N.  spinulosum  bzw.  dilatatum  den 
Boden  schattiger,  humoser  Wälder,  besonders 
Waldschluchten,  schmückt,  meist  unter  den  ge- 
nannten die  häufigste  Art.  Kalkboden  scheint 
ihnen  allen  nicht  zuzusagen,  im  Kalkgebirge  finden 
sie  sich  nur  an  besonders  begünstigten  Stellen, 
bei  weitem  nicht  so  häufig  wie  sonst  in  Gebirgs- 
wäldern.  Nicht  selten  auch  in  Felsritzen,  doch 
lieber  in  Urgestein,  Schiefer  oder  Sandstein  als 
auf  Kalk.  Es  steigt  in  den  Gebirgen  bis  über 
2000  m  hoch,  wird  aber  meist  schon  in  geringerer 
Höhe  von  der  nächsten  Art  (s.  d.)  abgelöst. 
Weitere  Verbreitung:  fast  ganz  Europa,  Algerien, 
West-  und  Nordasien,  Nordamerika,  Peru,  Java. 
Die  in  eine  große  Zahl  von  „Formen"  zerfallende 
Art  eignet  sich  ihrer  zierlichen  Plederung  wegen 
besonders  für  den  Garten,  ist  auch  dankbar. 

3.  Aih.  alpesfre,  der  vorigen  täuschend  ähnlich, 
doch  bei  einiger  Übung  auch  von  oben  zu  unter- 
scheiden ;  ganz  sicher  an  der  Form  der  Sori.  Auch 
diese  Art  bevorzugt  kalkarmen  Boden.    Sie  kommt 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nur  in  Gebirgen  von  etwa  800  m  Höhe  an  vor, 
oft  in  großen  Mengen,  ganz  wie  2.  Im  Riesen- 
gebirge habe  ich  an  mehreren  Stellen  die  Über- 
gangszone untersucht,  in  welcher  beide  Arten 
durcheinander  vorkommen;  niemals  habe  ich  eine 
Zwischenform  gefunden,  stets  scharf  und  deutlich 
entweder  die  eine  oder  die  andere  Art.  Wenn 
es  richtig  wäre,  daß,  wie  der  Lamarekismus  be- 
hauptet ,  der  Standort  die  Artmerkmale  hervor- 
ruft, dann  müßte  man  folgerichtig  erwarten  können, 
daß  an  der  Verbreitungsgrenze  Zwischenformen 
(abgesehen  von  etwaigen  Kreuzungen)  auftreten  — 
eben  das  ist  nicht  der  F"all,  es  ist  überliaupt  nur 
einmal,  von  Christ  am  h'eldsee  des  Schwarz- 
waldes, e  i  n  S  t  o  c  k  gefunden  worden,  der  zwischen 
beiden  Arten  die  Mitte  hielt,  der  wohl  hybrider 
Herkunft  war.  Verbreitung  der  Art:  deutsche 
Mittelgebirge  (Vogesen,  Schwarzwald,  Thüringer 
Wald,  Harz,  Fraiikenwald,  Böhmerwald,  Erzge- 
birge, sehr  viel  im  Iser-,  Riesen-  und  Altvaterge- 
birge), Alpen,  Karpathen,  weiter  in  Schottland, 
Mittelfrankreich,  Pyrenäen,  Skandinavien,  Lapp- 
land,  Kaukasus,    Kleinasien,    fraglich    in  Amerika. 

4.  cys/ii/^/rn\  //-i/i^/l/s.  Zierlicher,  schatten- 
liebender Farn ,  in  P"elsritzen  aller  Gesteinsarten, 
an  Mauern,  alten  Baumstubben  und  Baumwurzeln, 
selten  auf  offenem  Boden.  Die  subalpine  var. 
regia  bevorzugt  Kalk,  wenn  auch  niclit  ausschließ- 
lich. Die  Hauptart  jedoch  ist,  obwohl  als  typische 
Felsritzenbewohnerin  durch  ihre  Wurzeln  mit 
der  Unterlage  in  engster  Berührung,  doch  ausge- 
sprochen bodenvag,  d.  h.  auf  verschiedensten  Ge- 
steinen gleichermaßen  vorkommend.  Häufig  in 
bergigen  Gegenden  und  Gebirgen,  im  I'lachlande 
seltener;  weiterhin  in  ganz  Europa  bis  Spitzbergen, 
in  Asien  bis  zum  Himalaja,  Nordafrika,  Nord- 
amerika bis  Grönland,  Chile,  Neuseeland,  Tas- 
manien, Kerguelen. 

5.  C.  Hii'iilaiiii,  subalpin  und  kalkstet,  weniger 
in  Felsritzen  als  im  stark  mit  Kalkbrocken  durch- 
setzten Humus  an  feuchten  Hängen.  Vereinzelte 
Standorte  in  der  Schwäbischen  Alb,  häufiger  in 
den  bayrischen,  schweizerischen  und  österreichi- 
schen Kalkalpen,  südöstlich  bis  Dalmatien.  Weiter 
in  der  Hohen  Tatra ,  in  den  siebenbürgischen 
Karpathen;  Schottland,  Skandinavien;  Pyrenäen, 
Apenninen;  Nordrußland,  Kamtschatka,  Nord- 
amerika. 

6.  C.  siidr/ica.  der  vorigen  sehr  ähnlich,  stellen- 
weise mit  ihr  gemeinsam  auf  Kalk,  doch  häufiger 
(so  im  Altvatergebirge)  auf  kalkarmem  Gestein, 
also  als  bodenvag  zu  bezeichnen;  von  seltenem 
und  weit  zerstreutem  Vorkommen:  ein  Standort 
in  den  bayrischen  Alpen;  dann  Hohe  Tatra, 
Siebenbürgen,  weiter  in  Norwegen,  Nordrußland, 
Kaukasus,  Ostsibirien. 

7.  XepJirodiinn  Drxopkris  (diese  und  die 
nächsten  zwei  Arten  früher  als  Gattung  Phego- 
pteris),  P'arn  der  schattigen  humosen  Waldstcllen, 
dort  rasenbildend,  seltner  in  F"elsenspalten ,  fast 
ausschließlich  auf  kalkarmem  Gestein.  Recht 
verbreitet  durch  das  ganze  Gebiet,  auf  den  Nord- 


secinseln  fehlend,  desgleichen  in  der  immergrünen 
Region  südlich  der  Alpen.  Weiter  in  Gebirgen 
Südeuropas  und  Kleinasiens,  Nordasien  bis  Japan, 
Nordamerika  innerhalb  der  gemäßigten  Zone. 

8.  X.  RoherHaiiitui,  der  vorigen  in  Wuchs  und 
Aussehen  sehr  ähnlich,  doch  ausgesprochen  kalk- 
hold und  weniger  auf  schattige  Standorte  be- 
schränkt. Wächst  im  Kalkgeröll  an  Berghängen, 
seltner  in  Mauerritzen,  selten  auf  Baumstubben 
oder  in  kalkarmem  Waldboden.  Wegen  ihrer 
Vorliebe  für  Kalk  ist  die  Art  mehr  als  die  vorige 
auf  bergige  Gegenden  beschränkt,  im  F"lachlande 
wohl  nur  mit  Bruchsteinen  eingeschleppt;  immer- 
hin ermöglicht  die  leichte  Verbreitung  der  Sporen 
durch  den  Wind  auch  Besiedelung  solcher  Punkte, 
die  vom  typischen  Vorkommen  weit  entfernt 
liegen.  So  sah  ich  einmal  einen  einzelnen  Stock 
in  Schlesien  (wo  die  Art  sonst  selten  ist)  in  einer 
Gartenmauer  am  Wege  von  Schweidnitz  nach 
den  Költschenbergen.  N.  R.  steht  auch  in  den 
Trümmern  des  Heidelberger  Schlosses  und  auf 
dem  anderen  Neckarufer  in  der  Ruine  auf  dem 
Heiligenberg;  die  Formation  ist  Buntsandstein, 
der  Baustein  desgleichen ,  die  Art  wächst  dort 
nur  in  den  gemörtelten  Mauern.  Sie  ist  in 
Deutschland  weit  seltener  als  die  vorige  Art,  doch 
ziemlich  weit  verbreitet;  weiter  in  fast  ganz  Europa, 
in  Afghanistan,  in  Nordamerika. 

9.  A'.  p/if<;ijpf(vis,  an  ähnlichen  Standorten  wie 
7,  aber  noch  etwas  mehr  Schatten  und  Feuchtig- 
keit liebend,  in  Wäldern  gern  die  Böschungen 
der  Wegränder  mit  dichtem  Rasen  überziehend. 
Die  Art  meidet  Kalk,  findet  sich  aber,  oft  in 
Mengen,  in  Felsritzen  von  Gneiß,  Tonschiefer  u.  a. 
kalkarmen  Gesteinen.  Beiläufig:  man  darf  Fels- 
spalten nicht  schlechthin  als  „trockenen"  Standort 
ansehen  —  im  Gegenteil!  Der  stark  humose 
Boden,  aus  verwesten  Flechten,  Moosen  und 
Resten  anderer  Pflanzen  hervorgegangen,  saugt 
sich  bei  Gelegenheit  voll  Wasser,  und  der  Fels 
schützt  dieses  vor  dem  Verdunsten.  Die  Art  ist 
durch  ganz  Nord-  und  Mitteleuropa  verbreitet; 
weiter  auf  Korsika,  in  den  Pyrenäen,  Apenninen, 
in  Serbien,  Kleinasien,  im  Kaukasus  und  Himalaja, 
Nordasien  bis  Japan,  Nordamerika. 

Bemerkung:  Während  die  Mehrzahl  unserer 
Farne  in  Rosettenform  wächst,  die  größeren  Arten 
oft  jene  „Körbe"  bildend,  die  ebenso  charakte- 
ristisch wie  dekorativ  wirken,  haben  die  Arten  5 
bis  9  einen  ganz  anderen  Wuchs:  von  dünnem, 
langhinkriechendem  Erdstamm  steigen  die  Wedel 
einzeln  auf,  so  daß  bei  dichtem  Zusammenstehen 
eine  Art  Rasen  gebildet  wird.  Ähnlichen  Wuchs 
zeigt  von  den  deutschen  Arten  nur  noch  die 
nächstfolgende  Art,  dann  in  größerem  Maßstabe 
der  „Adlerfarn",  Pteridium,  und  die  einzige  deut- 
sche Polypodium-Ari. 

10.  .V.  /'/(■lvM('>'is,  von  allen  deutschen  Farnen 
die  wasserliebendste  Art,  deren  Erdstamm  ent- 
weder geradezu  im  Wasser  von  Teichrändern 
und  Gräben,  oder  doch  im  stark  durchnäßten  Boden 
von  Waldsümpfen  kriecht.     N.  t.  bevorzugt  daher 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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das  Flachland  und  wird  im  Gebirge  je  höher  je 
seltener.  Findet  sich  in  fast  ganz  Europa,  doch 
weniger  im  südlichen  Teile,  in  Algier,  Vorder- 
asien, Himalaja,  Nordasien  bis  Japan,  Vorderindien. 
Nordamerika. 

II.  .\'.  iiiuiitaiimii  (auch  ^\'.  Oiinptiris)  führt 
seinen  Namen  insofern  mit  Recht,  als  es  ganz 
vorwiegend  das  Bergland,  wenn  auch  oft  das 
niedere  Bergland,  bevorzugt.  Es  liebt  stark  hu- 
mosen,  selbst  torfigen  Boden,  die  zattgrünen, 
leicht  welkenden  Wedel  verraten  Anpassung  an 
feuchten  Standort,  der  dafür  nicht  immer  beson- 
ders schattig  zu  sein  braucht.  Im  Flachland  ist 
es  selten,  steigt  in  den  Hochgebirgen  etwa  bis 
1500  oder  2000  m  hinauf.  Kalk  scheint  es  zu 
meiden,  was  bei  der  Vorliebe  für  sauren  Unter- 
grund nicht  wunderbar  ist.  An  geeigneten  Stellen 
findet  sich  N.  m.  manchmal  in  IWenge,  zuweilen 
mehr  als  die  sonst  häufigeren  großen  Waldfarne. 
In  Deutschland  weit  verbreitet,  von  den  Vogesen 
bis  zu  den  Sudeten,  doch  nicht  überall.  Un- 
richtig (!)  ist  die  aus  einer  Flora  in  die  andere 
aufgenommene  Angabe:  „häufig  im  Riesen-  und 
Isergebirge".  Das  Riesengebirge  kenne  ich  ziem- 
lich gut,  aber  der  Stellen,  wo  ich  N.  m.,  dabei 
z.  T.  in  einzelnen  Stöcken ,  gesehen  habe,  sind 
nicht  viele.  Erst  wenn  man  von  Schreiberhau 
die  Straße  nach  Neu  weit  geht,  über  den  Sattel 
zwischen  Riesen-  und  Isergebirge,  sieht  man  die 
Art  in  größeren  IVIengen,  und  im  Isergebirge  selbst 
ist  sie  wirklich  sehr  häufig.  Auffallend  ist  das, 
infolge  gleichartiger  Standortsansprüche,  häufige 
Zusammenvorkommen  mit  Blechnum  spicant.  Am 
Südfuß  der  Alpen  wird  die  Art  seltener,  findet 
sich  aber  in  Ober  und  Mittelitalien,  auf  Korsika, 
in  Nordspanien,  Frankreich,  Großbritannien,  Ru- 
mänien, Westrußland,  Südskandinavien,  Dänemark, 
außerdem  in  Madeira. 

12.  S.  fili.x  iiids,  von  ganz  ähnlicher  Verbrei- 
tung und  meist  an  den  gleichen  Stellen  wie 
Athyrium  filix  femina,  doch  meist  etwas  spär- 
licher, was  vielleicht  von  der  Ausrottung  durch 
Menschenhand  herrührt,  da  der  ,. Wurmfarn"  von 
altersher  als  Bandwurmmittel  geschätzt  ist;  typi- 
scher Bewohner  des  Waldhumus,  zuweilen  in 
Felsritzen.  Seltner,  wenn  auch  nicht  fehlend,  im 
Kalkgebirge,  auch  zuweilen  in  gemörtelten Mauern; 
im  Hochgebirge  bis  etwa  2000  m  aufsteigend.  In 
Deutschland  weit  verbreitet,  weiter  durch  ganz 
Europa  und  den  größten  Teil  von  Asien ,  Java, 
Reunion,  Madagaskar,  Algier,  Madeira.  Nord-  und 
Südamerika. 

13.  .^'.  rigidiiin,  subalpin  und  kalkstet,  beson- 
ders Geröllhalden  bewohnend,  auch  an  Felsen; 
in  den  Alpen  von  11 70 — 2200  m,  doch  gelegent- 
lich auch  tiefer  herabsteigend.  In  den  deutschen 
Alpen  an  wenigen  Stellen,  überhaupt  von  sehr 
zerstreuter  Verbreitung,  im  Jura  Frankreichs  und 
der  Schweiz,  in  der  ganzen  Alpenkette  hier  und 
da,  vereinzelt  am  Dürrenstein  in  Niederösterreich; 
übrigens  in  Norwegen  (?),  Nordengland,  Pyrenäen, 
Balkanhalbinsel ,     Mittelmeerländer    (Europa    wie 


Afrika),    Kleinasien,    Syrien,    Cypern,  Afghanistan, 
Kalifornien. 

14.  N.  cristatinn ,  mittelgroßen  Stöcken  des 
N.  filix  mas  ähnlich,  doch  durch  die  langen  und 
hochaufgereckten  fertilen  Wedel  auffallend,  eine 
im  ganzen  seltene  Art,  welche  Waldsümpfe  und 
beschattete  Moore  bewohnt,  ohne  doch  so  sehr 
wie  N.  thelypteris  das  offene  Wasser  zu  suchen. 
Sie  kommt  hier  und  da  im  norddeutschen  Flach- 
land, in  Süddeutschland  ziemlich  selten  vor  und 
dringt  wenig  in  die  Gebirge  hinauf,  obwohl  ihr 
zusagende  Standorte  dort  wohl  auch  zu  finden 
wären,  und  die  Art  sonst  klimatisch  nicht  an- 
spruchsvoll ist ,  freilich  auch  im  nördlichsten 
Europa  fehlt.  Außer  Deutschland  im  nördlichen 
l'Vankreich,  im  mittleren  Rußland,  am  Kaukasus, 
in  Westsibirien,  Japan,  im  östlichen  Nordamerika. 

15.  A\  spiiiulosnin  bildet  mit  2,  12  und  16 
die  Gruppe  der  „großen  Waldfarne'',  meist  etwas 
seltener,  zuweilen  häufiger  als  1 2  und  selbst  2. 
Es  bevorzugt  humosen  Standort,  findet  sich  gern 
im  Geröll  kalkarmer  Gesteine,  auch  an  Baum- 
stümpfen, zuweilen  an  Bachrändern  beständig  vom 
Wasser  überflutet,  selten  auch  als  „Überpflanze" 
(Epiphyt)  auf  lebenden  Bäumen,  sehr  selten  im 
Kalkgebirge  (in  2  Wochen,  in  denen  ich  im  Juli- 
August  1921  die  Schwäbische  N\h  durchstreift, 
habe  ich  ein  einziges  Exemplar  dieser  Pflanze  ge- 
sehen). Meidet  keineswegs  die  Ebene,  scheint 
sich  aber  doch  in  gebirgiger  Umgebung  heimischer 
zu  fühlen.  N.  s.  findet  sich  außer  dem  äußersten 
Norden  in  ganz  Mittel-  und  Nordeuropa,  in  Ober- 
italien, Korsika,  Balkanhalbinsel,  Nordasien  und 
Nordamerika. 

16.  i\.  tlildlatuiii  wird  vielfach  als  „Schatten- 
form" von  15  bezeichnet,  ist  aber  zweifellos  weit 
mehr  als  bloße  Standortsmodifikation.  Es  bevor- 
zugt besonders  feuchthumose  und  schattige  Plätze, 
ohne  doch  an  helleren  Stellen  gänzlich  zu  fehlen. 
So  ging  ich  einmal  eines  Abends  im  August  1910 
von  Tetschen  ein  Stück  weit  in  die  „Sächsische 
Schweiz"  hinein  (beiläufig:  ein  schönes  und  hoch- 
interessantes Landschaftsbild!);  an  der  die  Elbe 
begleitenden  Straße  war  rechter  Hand  die  Berg- 
wand z.  T.  durch  Mauern  abgestützt,  aus  ohne 
Mörtel  übereinander  geschichteten  Steinen,  deren 
einzelne  die  Jahreszahl  1904  bzw.  1907  trugen, 
die  Mauer  war  also  noch  recht  jungen  Alters.  Aus 
ihren  Ritzen  wuchsen  massenhaft  junge  Pflänzchen, 
z.  T.  schon  mit  fast  handlangen  Wedeln,  hervor, 
wohl  durch  Sporenaussaat  von  den  älteren  Stöcken 
stammend,  die  in  dem  oberhalb  gelegenen  Walde 
häufig  waren.  Sie  alle  aber  zeigten  schon  ganz 
deutlich  die  Merkmale  des  N.  dilatatum,  das  sich, 
beiläufig  bemerkt,  schon  in  den  ersten  Stadien 
des  Vorkeims  durch  die  tonnen-  bis  fast  kugel- 
förmigen Zellen  des  Keimfadens  von  N.  spinu- 
losum  und  allen  anderen  mir  in  dieser  Hinsicht 
bekannten  Farnarten  unterscheidet.  Wird  die 
Pflanze  starker  Besonnung  ausgesetzt,  etwa  durch 
Abholzen  des  sie  beschattenden  Waldes,  dann 
krümmen    sich    die  Fiederchen    stark   nach    unten 


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ein,  eine  physiologische  Reaktion ,  die  als  be- 
sondere Varietät  (!)  unter  dem  Namen  recurvata 
beschrieben  worden  ist.  Der  sehr  stattliche  Farn 
liebt  die  Ebene,  in  der  er  auch  nicht  völlig  fehlt, 
entschieden  weniger  als  das  Gebirge,  wo  er  bis 
über  2000  m  aufsteigt.  Im  Riesengebirge  findet 
er  sich  stellenweise  massenhaft  über  der  Baum- 
grenze zwischen  den  Steinblöcken,  welche  einige 
der  Hauptgipfel  bedecken ;  sehr  schön  z.  B.  am 
Reifträger.  Außer  Deutschland  in  fast  ganz  Europa, 
in  Nordasien  und  Kleinasien,  wie  in  Nordamerika; 
geht  in  Europa  sowohl  nördlich  wie  südlich  über 
die  Verbreitungszone    von    N.   spinulosum    hinaus. 

17.  Polystichiin  loucJiifis,  felsliebend,  subalpin; 
trotz  seiner  nahen  Berührung  mit  dem  anstehenden 
Gestein  bodenwag.  Denn  es  findet  sich  in  den 
Mittelgebirgen  (Vogesen,  Schwarzwald,  Riesenge- 
birge) auf  kalkarmem  Urgestein,  in  den  bayrischen 
Alpen  und  in  der  hohen  Tatra  auf  Kalk.  Die 
Art  scheint  besonders  leicht  aus  verwehten  Sporen 
aufzugehen,  denn  sie  ist  oft  in  einzelnen  Stöcken 
weit  entfernt  von  ihrem  eigentlichen  Wohngebiet 
aufgefunden;  so  von  mir  im  Jahre  1903  an  einem 
Schieferfelsen  (künstlichen  Straßeneinschnitt)  un- 
weit Monschau  (Montjoie)  im  Hohen  Venn.  Trotz- 
dem ist  ihr  Vorkommen  in  den  Mittelgebirgen 
auf  wenige  Standorte  beschränkt.  Sie  findet  sich 
in  fast  ganz  Europa,  auch  in  den  Gebirgen 
Spaniens,  Italiens  und  der  Balkanländer,  auf 
Korsika,  Sizilien,  Kreta,  Kleinasien,  Kaukasus, 
Nord-  und  Mittelasien,  Nordamerika  bis  Grönland. 

18.  P.  lobatiim,  sehr  charakteristische,  doch 
ziemlich  veränderliche  Art,  dadurch  merkmürdig, 
daß  sie  meist  nur  in  ganz  wenigen  Exemplaren 
an  einem  Standort  vorkommt.  Bevorzugt  schattige 
Waldstellen  mit  kiesig  humosem  Boden,  und  ist 
mehr  kiesel-  als  kalkliebend,  findet  sich  aber  in 
humusreichen  Wäldern  auch  in  den  Kalkalpen. 
In  den  Kalkbergen  der  Schwäbischen  Alb  sah  ich 
(in  2  Wochen)  ein  einziges  Stück,  an  einem  Felsen 
am  Aufstieg  von  Laufen  an  der  Eyach  zum  Lochen- 
horn ;  die  Pflanze  machte  nicht  den  Eindruck,  als 
ob  sie  sich  dort  besonders  wohl  fühle.  Die  Art 
ist  im  Flachland  selten,  in  den  Mittelgebirgen 
trifft  man  sie  hier  und  da,  auch  manchmal  an 
helleren  Stellen,  in  den  Alpen  steigt  sie  bis  1500 
und  2000  m  auf.  In  fast  ganz  Europa  außer  dem 
höchsten  Norden,  in  Rußland  nur  in  den  Ostsee- 
provinzen und  in  der  Südwestecke,  in  Kleinasien, 
Kaukasus,  Nordpersien. 

19.  P.  aciilcafiiin  (aiigulare),  der  vorigen  nahe 
verwandt,  ebenfalls  formenreich  und  in  manchen 
Formen  nahe  an  solche  von  18  streifend;  von 
ähnlichem  Vorkommen  wie  diese,  aber  eine  mehr 
südliche  Art  und  in  Deutschland  seltener,  wärmere 
Lagen  bevorzugend;  in  manchen  Standortsan- 
gaben mit  18  verwechselt.  So  steht  bei  Corneli- 
münster,  südlich  von  Aachen,  P.  lobatum  und 
nicht  aculeatum,  wie  ich  im  Jahre  1903  gemein- 
sam mit  F.  Wirtgen  feststellen  konnte.  In 
F3eutschland  auf  den  Südwesten  beschränkt,  in  den 
sudlichen    Schweizer    Alpen,     weiter    Tirol     mit 


Voralberg,  Südostalpenländer  bis  Dalmatien,  Sieben- 
bürgen, England,  Irland,  Frankreich,  Miltelmeer- 
länder.  Westafrikanische  Inseln,  Kamerun,  Kili- 
mandjaro,  Abyssinien,  Kapland,  Komoren,  Klein- 
asien, Kaukasusländer,  Himalaja. 

20.  P.  Braitnii,  an  ähnlichen  Standorten  wie 
18  und  19,  mit  denen  es  einen  Formenkreis  bildet, 
von  noch  zerstreuterer  Verbreitung,  ebenfalls  oft 
nur  in  wenigen  Stücken  an  einer  Stelle.  Be- 
sonders in  Gebirgswäldern,  in  Vogesen,  Schwarz- 
wald, Odenwald  u.  a.,  Eibsandsteingebirge,  Ober- 
lausitz, vereinzelt  in  der  Sudetenkette,  häufiger 
vom  Altvatergebirge  bis  in  die  Karpaten;  in  Süd- 
böhmen und  bei  Passau  angegeben.  In  den 
Alpen  der  Schweiz,  von  Bayern,  Tirol  und  weiter 
bis  Kärnten  und  Krain  und  an  einigen  Stellen 
der  Balkanhalbinsel. 

21.  Stnithioptcris  germanica,  habituell  durch 
die  dicht  geschlossenen  „Körbe"  auffallend;  sehr 
gesellig  wachsend,  infolge  vegetativer  Vermehrung 
durch  Seitenknospen  der  Erdstämme.  Von  sehr 
eigenartiger  Verbreitung;  denn  obwohl  dieser 
Farn  von  einer  großen  Zahl  deutscher  Standorte 
bekannt  ist,  muß  man  ihn  doch  zu  den  seltneren 
Arten  zählen,  die  Fundorte  liegen  meist  recht 
weit  auseinander.  Er  bevorzugt  Bachufer  auf 
kiesig-moorigem  Untergrund,  besonders  scheinen 
ihm  kleine  Tälchen  im  Wald  zuzusagen,  die  er 
dann  mit  seiner  Vegetation  ganz  ausfüllt;  auf 
Kalk  ist  er  selten.  Im  norddeutschen  Flachland 
mehr  im  Osten  verbreitet  als  im  Westen;  zer- 
streut in  den  Mittelgebirgen ,  häufiger  in  den 
Alpenländern,  wo  S.  g.  bis  1500  m  aufsteigt,  aber 
in  tieferen  Lagen  sich  in  manchen  Tälern  massen- 
haft findet.  Weiter  in  Dänemark,  Skandinavien, 
Rußland,  Obenitalien,  Sizilien,  Kleinasien,  Kaukasus, 
ganz  Nordasien,  im  östlichen  Nordamerika. 

22.  Woodsia  ilvensis,  an  Felsen  oder  in  stei- 
nigem Waldhumus,  schattiger  oder  lichter  gestellt; 
bevorzugt  Urgestein  oder  Basalt,  Trachyt,  Phono- 
lyth ;  sehr  selten  auch  Kalk.  Selten  im  Schwarz- 
wald, Harz  usw.,  häufiger  an  den  Kuppen  der 
Rhön,  der  Oberlausitz,  des  Böhmischen  Mittel- 
gebirges, einmal  in  Schlesien,  dort  auf  Gneis  in 
tiefem  Waldesschatten.  Weiterhin  in  den  Alpen 
und  Karpaten;  auf  Island,  in  Großbritannien, 
Skandinavien,  Finnland,  Nordrußland,  Krim,  Kau- 
kasus, Kleinasien,  Süd-  und  Ostsibirien,  Amur- 
gebiet, in  Nordamerika  bis  Grönland. 

23.  IV.  alpina,  die  kleinere  Alpenform  der 
vorigen,  doch  wohl  als  Art  zu  trennen,  felsliebend, 
kalkmeidend.  Findet  sich  an  je  einer  Stelle  im 
Riesengebirge  (Basalt  der  Kleinen  Schneegrube) 
und  des  Altvaters  (Kessel),  desgl.  in  der  Hohen 
Tatra,  zerstreut  in  den  Schweizer  und  Tiroler, 
auch  Salzburger  und  Kärntener  Alpen,  bis  2200  m 
ansteigend.  Außerdem  in  Großbritannien,  auf  den 
Pyrenäen,  Nordrußiand,  im  Ural,  in  Nordasien 
und  Nordamerika.  (Eine  dritte  Art,  //'  glabclla, 
alpin  und  kalkstct  in  den  Südtiroler  Dolomiten, 
ebenfalls  weit  über  die  Erde  zerstreut.) 

24.  Blechiinm  spicanl,  an  feuchten,   humosen, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schattigen  Stellen  —  verkümmernd,  wo  der  Wald 
abgeholzt  ist.  Von  seinem  häufigen  Zusammen- 
vorkommen mit  Nephrodium  montanum  war  oben 
unter  1 1.  die  Rede.  Auch  von  B.  s.  gilt,  was 
dort  von  der  Notiz  „häufig  im  Riesen-  und  Iser- 
gebirge"  gesagt  ist :  im  eigentlichen  Riesengebirge 
ist  die  Art  ausgesprochen  selten,  erst  wenn  man 
von  Josephinenhütte  westwärts  nach  dem  Iser- 
gebirge  hinaufsteigt,  sieht  man  sie  in  größeren 
Mengen;  wirklich  häufig  ist  sie  an  vielen  Stellen 
des  Isergebirges.  In  ganz  Deutschland  verbreitet, 
nur  in  Ostpreußen  fast  fehlend,  auch  sonst  im 
Flachland  entschieden  seltener  als  in  den  Gebirgen, 
in  denen  unser  Farn  bis  2400  m  emporsteigt. 
Weiter  in  West-  und  Nordeuropa,  doch  wenig  in 
Rußland,  Gebirge  der  IVIittelmeerländer  bis  Ma- 
rokko, Syrien,  Kleinasien,  Kaukasus,  Nordatlan- 
tische  Inseln,  Kamtschatka,  Japan,  westliches 
Nordamerika. 

25.  Scvlopciidriiiiit  vulgare,  an  schattigen, 
feuchten  Hängen  oder  Felsen,  gern  auf  Kalk, 
doch  zuweilen  auch  auf  Tonschiefer  u.  a.  Gestein, 
nicht  oft  an  Mauern  (wegen  zu  starker  Austrock- 
nung ?),  aber  gern,  z.  B.  öfter  in  den  Rheingegen- 
den, in  den  Mauern  von  Brunnen.  In  Westdeutsch- 
land häufiger  als  im  Osten,  in  Schlesien  nur  an 
einer  Stelle  in  wenigen  Stücken,  im  ganzen  Alpen- 
gebiet verbreitet.  Außerdem  in  Großbritannien, 
vereinzelt  in  Norwegen,  Schweden  und  Dänemark, 
auf  den  Azoren  und  Madeira,  in  den  Mittelmeer- 
und  den  Balkanländern,  Südwestrußland,  Kaukasus, 
Armenien,  Persien,  Turkestan,  Japan,  Nordamerika, 
Mexiko. 

26.  CeteracJi  o/ficii/ar/ii/i ,  kalkliebend ,  ohne 
kalkstet  zu  sein,  an  trockenen  Felsen  und  an 
Mauern,  durch  die  lederige  Beschaffenheit  und  die 
unterseitige  starke  Spreuhaarbekleidung  der  bei 
Austrocknung  sich  nach  oben  einkrümmenden 
Wedel  wohl  an  Trockenschutz  angepaßt.  Eine 
südliche  Pflanze,  die  in  Belgien  und  Mitteldeutsch- 
land ihre  Nordgrenze  erreicht,  und  in  Deutsch- 
land fast  ganz  auf  den  Westen  beschränkt  ist, 
freilich  auch  noch  an  zwei  Stellen  in  Böhmen 
vorhanden.  Ein  Fundort  ist  bei  Bregenz  ange- 
geben, von  da  findet  sich  die  Art  erst  wieder  in 
Südtirol,  und  weiter  östlich  durch  Steiermark  und 
Krain  bis  Ungarn  und  Montenegro.  Ferner  in 
Großbritannien ,  P" rankreich ,  Portugal ,  auf  den 
Nordatlantischen  Inseln ,  im  Mittelmeergebiet  bis 
zur  Krim ,  in  den  Balkanländern ,  im  Kaukasus, 
Armenien,  Persien,  Turkestan,  Afghanistan,  Hi- 
malaja, Nordafrika. 

27.  Aspkii/iDi  in'c/ioßiuuics,  bodenvage  Felsen- 
pflanze, oft  auch  massenhaft  an  alten  Mauern,  an 
kiesigen,  etwas  feuchten  Abhängen,  auch  auf  ver- 
morschten Baumstümpfen ,  in  den  Bergen  viel 
häufiger  als  in  der  Ebene,  in  allen  Gebirgen  und 
auf  allen  Gesteinsarten  verbreitet,  nur  sehr  nähr- 
stoffarme quarzitische  Gesteine  meidend,  doch  im 
Kalkgebirge  meist  seltener  als  29.,  in  den  Alpen 
bis  i6oo  m  aufsteigend.  Ungemein  weit  über  die 
Erde  verbreitet:    Europa,  Nordafrika,   Nordatlanti- 


sche Inseln,  Westasien,  Himalaja,  China,  Japan, 
Australien,  Tasmanien,  Neuseeland,  Hawai,  fast 
ganz  Amerika,  Kapland,  Madagaskar. 

28.  A.  ifihiltciiiiinii,  ausgesprochene  Serpentin- 
pflanze, nur  ganz  ausnahmsweise  auf  anderes  Ge- 
stein ,  gelegentlich  auch  auf  Mauern  übergehend. 
Auf  Felsen  und  im  Geröll  der  Serpentinberge  in 
Nordbayern,  Sachsen,  Schlesien,  Böhmen,  Mähren, 
Steiermark  und  Ungarn,  auch  von  Davos  in  der 
Schweiz  angegeben. 

Anmerkung :  Die  Art  ist  olme  Zweifel  mit  27 
und  29  nahe  verwandt;  durch  die  unten  braun, 
oben  grün  gefärbte  Spindel  lag  der  Verdacht,  es 
könne  ein  Bastard  der  beiden  sein,  recht  nahe, 
was  ja  auch  der  Name  andeutet.  Doch  hat  28  ein 
Merkmal,  das  keine  der  beiden  anderen  Arten  be- 
sitzt :  den  Habitus,  der  durch  die  steile  Aufrich- 
tung der  Wedel,  namentlich  der  fertilen,  und 
durch  die  Wagrechtstellung  der  in  ihren  Stielchen 
gedrehten  F"iedern  bedingt  ist.  Den  wirklichen 
Bastard  A.  trichomanes  >  viride  fand  ich  i.  J. 
191 5  im  Königlichen  Garten  zu  Oliva  bei  Danzig, 
in  dem  Alpinum,  das  dort  Garteninspektor  Wocke 
angelegt  hatte;  die  beiden  Eltern  standen  nicht 
weit  davon.  Die  dort  entstandene  Bastardpflanze 
sah  aber  ganz  anders  aus  als  A.  adulterinum  1 

29.  A.  virt'dc,  Felsenpflanze,  mit  Vorliebe  auf 
Kalk,  und  in  den  Alpen  diesen  entschieden  be- 
vorzugend, oft  zusammen  mit  5  "nd  8,  aber  auch 
auf  anderem  Gestein.  Sowohl  im  Riesengebirge, 
wie  im  Schwarzwald  habe  ich  die  Art  an  isoliert 
stehenden  Gneisfelsen  gesehen ,  an  denen  von 
einer  Kalkanreicherung  durch  herabrinnendes 
Wasser  (s.  Einleitung)  nicht  die  Rede  sein  konnte. 
Zuweilen  auch  an  gemörtelten  Mauern;  im  allge- 
meinen mehr  Schatten  und  Feuchtigkeit  liebend 
als  27.  In  der  Ebene  sehr  selten,  in  den  nord- 
deutschen Gebirgen  verstreut,  im  süddeutschen 
Jura  etwas  verbreiteter,  in  allen  kalkreichen  Teilen 
der  Alpenkette,  stellenweise  häufig,  bis  über 
2000  m,  bis  Dalmatien,  Westungarn,  im  Westen 
der  Balkanhalbinsel.  Weiter  in  Nordeuropa, 
höhere  Gebirge  von  Spanien  und  Italien ,  Klein- 
asien, Kaukasus,  Sibirien,  im  gemäßigten  Nord- 
amerika. 

30.  A.  laiiccolaliiiii  bewohnt  beschattete  Preisen 
meist  kalkarmer  Gesteine;  atlantische  Pflanze, 
deren  Verbreitungsgrenze  in  unser  Gebiet  nur  im 
äußersten  Westen  übergreift :  je  ein  Standort  in 
der  Pfalz  und  im  Elsaß.  Weiter  in  Irland  und 
Süd-  und  Westengland,  Frankreich,  Spanien,  Por- 
tugal, Azoren,  Madeira,  Kanaren,  St.  Helena;  Süd- 
europa bis  zu  den  griechischen  Inseln,  Nordafrika. 

31.  A.  /viittiiiiini,  die  zierliche,  an  Blätter  der 
Schafgarbe  erinnernde  Pflanze  ist  ausgesprochen 
kalkhold,  findet  sich  an  feuchten,  schattigen  Felsen 
oder  Mauern.  Im  ganzen  selten,  nur  im  Schweizer 
Jura  stellenweise  häufig;  zwei  Standorte  im  süd- 
lichen Baden,  einer  in  der  Schwäbischen  Alb ; 
vereinzelt  von  den  Seealpen,  nach  Osten  immer 
seltener,  bis  Vorarlberg,  je  ein  Standort  in  Belgien 
und  Westfrankreich.      Weiter  in  England,    Frank- 


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reich,  Pyrenäen,  Nord-  und  Ostspanien,  Kreta, 
Turkestan,  nordwestliches  Indien.  Eine  vorwiegend 
durch  kräftigeren  Wuchs  unterschiedene  Unterart, 
A.  Hallen',  ist  von  ähnlicher  Verbreitung,  doch 
auf  deutschem  Boden  noch  nicht  gefunden. 

32.  A.  septentrioualc,  durch  seine  mehr  einem 
Gras  als  einem  Farnkraut  ähnliche  Tracht  den 
Eindruck  einer  xerophilen  Pflanze  machend,  aber 
nicht  sehr  gegen  Vertrocknen  geschützt,  denn  in 
heißen  Sommern  findet  man  an  sonnigen  Felsen 
oft  vom  August  oder  schon  von  Ende  Juli  an 
sämtliche  Wedel  völlig  verdorrt  (vgl.  dazu  Nr.  34). 
Die  Art  bewohnt  Felsen  oder  Feldmauern,  findet 
sich  fast  nie  auf  Kalk.  Auf  anstehendem  Fels 
von  Granit  usw.,  von  Tonschiefer  und  Sandstein 
ziemlich  häufig,  im  Hachlande  naturgemäß  seltner, 
weil  es  an  passenden  Standorten  mangelt.  Sonnige 
oder  doch  helle  Plätze  werden  entschieden  bevor- 
zugt; im  Schatten  bringt  es  die  Pflanze  nicht  zur 
Sporenbildung.  In  fast  allen  Gebirgen  Europas, 
bis  zu  2500  m  IMeereshöhe,  weiter  in  Nordafrika, 
Kleinasien,  Kaukasus,  Hochgebirge  Mittelasiens, 
in  Neumexiko  und  Kalifornien. 

33.  .L  fissnui,  seltene,  Kalkfelsen  und  -Geröll 
bewohnende  Art,  an  wenigen  Stellen  der  bayrischen 
Alpen  gefunden,  in  vereinzelten  Standorten  über 
die  Alpenkette  zerstreut,  bis  2000  m  hinauf;  von 
den  Ostalpen  bis  auf  die  Balkanhalbinsel,  auch  in 
Süditalien. 

34.  A.  rufa  murnria,  ausgesprochen  kalkholde 
Art,  die  ihren  Namen  „Mauerraute"  mit  Recht 
trägt,  denn  geeignete  Mauern  (natürlich  solche 
mit  Kalkmörtel)  bedeckt  sie  oft  zu  Hunderten, 
während  man  im  Kalkgebirge  oft  recht  lange 
suchen  kann,  bis  man  einen  einzelnen  Stock  oder 
einen  kleinen  Bestand  davon  findet.  Das  Pflänz- 
chen  ist  trotz  seines  zarten  Aussehens  besser  auf 
Trockenschutz  angepaßt  als  32,  selbst  an  der  Süd- 
seite von  Mauern,  die  doch  leichter  austrocknen 
müssen  als  größere  Felsblöcke,  findet  man  es  auch 
in  heißen  Sommern  meist  noch  frisch.  Die  Art 
wächst  gelegentlich  auch,  z.  B.  im  Südharz,  auf 
Gips,  wo  auch  8  vorkommt;  man  darf  wohl  an- 
nehmen, daß  durch  Verwitterung  ein  Teil  des 
CaSO^  in  CaCOj  übergegangen  sei.  Einmal  sah 
ich  die  Art  auch  auf  Serpentin  (am  Geiersberg 
beim  Zobten  in  Schlesien),  auch  das  ist  nicht  allzu 
auffallend,  da  Serpentin  ein  Magnesiagestein,  und 
Mg  mit  Ca  chemisch  nahe  verwandt  ist.  Über- 
rascht war  ich,  auch  einmal,  bei  Eimelrod  am 
Nordrande  des  Sauerlandes,  die  Art  in  zwei 
Exemplaren  auf  Devonschiefer  zu  sehen.  Mit  ein 
paar  mitgenommenen  Gesteinsstücken  habe  ich 
dann,  mit  sehr  primitiven  Hilfsmitteln,  eine  Art 
von  Analyse  vorgenommen,  die  mir  einen  ge- 
wissen Kalkgehalt  dieses  Schiefers  gezeigt  hat. 
Die  Mauerrautc  ist,  obwohl  nicht  an  Naturgestein 
gebunden,  doch  in  den  gebirgigen  Teilen  Deutsch- 
lands viel  häufiger  wie  im  Flachland,  kommt  je- 
doch noch  auf  einigen  Nordseeinseln  vor.  Sonst 
in  fast  ganz  Europa,  Nordafrika,  Asien  bis  zum 
I  iimalaja  und  Nepal,  im  gemäßigten  Nordamerika. 


35.  A.  adiaiituvi  nigrum,  durch  überwinternde 
Wedel  ausgezeichnet,  an  Felsen,  auf  steinigem 
Waldboden,  auch  an  Baumwurzeln,  fast  nie  auf 
Kalk,  im  rheinischen  Schiefergebirge  gern  in 
(ungekalkten)  Weinbergsmauern.  In  Deutschland 
nur  im  gebirgigen  Teil  (einer  der  nördlichsten 
deutschen  Standorte  an  Felsen  des  Ruhrtales  bei 
Essen),  doch  nicht  in  höhere  Lagen  hinaufgehend, 
und  im  Westen  weit  häufiger  als  im  Osten,  doch 
auch  in  Schlesien  noch  an  einigen  Stellen,  ver- 
einzelt noch  in  Ungarn.  Sonst  in  Belgien,  Hol- 
land, Südschweden,  Südnorwegen,  Großbritannien, 
Frankreich ,  Mittelmeergebiet ,  Balkanhalbinsel, 
Persien,  Afghanistan,  Afrikanische  Inseln,  Hochge- 
birge im  tropischen  Afrika,  Kapland. 

36.  -i.  sirpeiitini  ic/tinifüli/imi,  als  Unterart 
zu  35  gestellt,  von  der  sie  durch  zarteres,  nicht 
überwinterndes  Laub  abweicht.  Typische  Serpen- 
tinpflanze, in  Felsen  und  auf  steinigem  Boden, 
auch  in  Wäldern,  selten  auf  anderem  Untergrund. 
Auf  seinem  zugehörigen  Substrat  häufiger  als  die 
Hauptart  auf  dem  ihrigen,  dort  auch  meist  in 
größerer  Zahl  als  28.  Findet  sich  auf  Serpentin- 
bergen von  Nordbayern  und  Nordböhmen,  Sachsen, 
Schlesien  (Zobtengebirgel),  auch  an  einzelnen 
Stellen  weiter  östlich  und  südöstlich  bis  Sieben- 
bürgen und  Bosnien ,  außerdem  in  Schottland, 
Frankreich,  Spanien,  Balkanländer,  in  den  Apen- 
ninen,  in  Transkaukasien  und  Südchina.  Eine 
zum  gleichen  Formenkreis  gehörige  Unterart, 
A.  onoptcris,  ist  in  Deutschland  nur  vom  Zobten- 
gebirge  bekannt,  sonst  von  südlicher  Verbreitung: 
Mittelmeergebiet  bis  zum  Südfuß  der  Alpen, 
Irland,  Portugal,  Bulgarien,  Nordatlandische  Inseln, 
Portoriko,  Hawaiinseln. 

Anmerkung:  Wie  und  wodurch  eigentlich  diese 
Serpentinfarne,  28  und  36,  entstanden  sind,  ist  noch 
recht  strittig.  Zwar  ist  eine  Abhandlung  von  Sade- 
beck,  1887,  bekannt,  nach  welcher  bei  fortge- 
setzter Kultur  auf  serpentinfreiem  Boden  die 
beiderlei  Formen  in  der  5.  bzw.  6.  Generation 
in  A.  viride  bzw.  A.  adiantum  nigrum  zurück- 
geschlagen seien,  nachdem  zuvor  nur  je  einige 
Wedel  die  Eigenschaften  von  29  bzw.  35  gezeigt 
hätten.  Doch  ist  diese  Mitteilung  angezweifelt 
worden,  so  von  Ascherson  (vgl.  Synopsis),  der 
mir  auch  persönlich  versicherte,  die  Sache  sei  sehr 
ungewiß,  es  habe  niemals  jemand  die  Züchtungs- 
ergebnisse Sadebecks  gesehen.  Letzterer  be- 
richtet übrigens,  es  sei  ihm  nicht  gelungen,  aus 
den  Stammarten  durch  Kultur  auf  Serpentin  die 
Serpentinformen  zu  erzielen.  Die  Frage  läßt  zwei 
Möglichkeiten  zu :  entweder  hat  die  Stamm- 
form auf  ihrem  zugehörigen  Boden  die  Varietäten 
abgespalten ,  welche  außer  anderen  Merkmalen 
noch  die  Eigenschaft  hatten,  auf  keinem  anderen 
Boden  so  gut  zu  gedeihen  wie  auf  Serpentin,  oder 
auf  Serpentin  gelangte  Abkömmlinge  der  Stamm- 
arten sind  durch  die  neue  Unterlage  morpholo- 
gisch und  physiologisch  abgeändert  worden,  durch 
„direkte  Hcwirkung".  Nun  wissen  wir  ja,  daß  ein 
ungewohnter  Standort    die  Pflanzengestalt  „modi- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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fizieren"  kann,  aber  nahezu  alle  Vererbungsforscher 
sind  darin  einig,  daß  solche  Modifikationen  nicht 
erblich  sind!  Jedenfalls  ist  dieses  für  eine 
große  Zahl  von  Fällen  direkt  bewiesen.  Auch 
gibt  es  in  der  gesamten  Pflanzenwelt  der  Serpentin- 
standorte nicht  mehr  als  drei  (1)  abgeänderte 
Pflanzen,  außer  den  beiden  Farnen  nur  noch 
Cerastium  arvense  var.  alsinifolium ,  an  einer 
einzigen  solchen  Stelle  gefunden.  Man  vergleiche 
auch  was  unter  3,  37  und  40  gesagt  ist,  besonders, 
daß  die  stark  behaarte  Form  des  Adlerfarns  zwar 
Kalkboden  bevorzugt,  daß  aber  meistens,  wo  die 
Art  auf  Kalk  vorkommt,  nicht  die  Varietät, 
sondern  der  Typus  sich  findet;  also:  es  ist  nicht 
der  Kalk,  der  die  Abweichung  hervorruft.  Die 
Erzeugung  erblicher  Abänderungen  durch  „direkte 
Bewirkung"  findet  also  auch  in  den  hier  be- 
sprochenen Fällen  keine  Bestätigung.  Nach  allem, 
was  darüber  bekannt  ist,  entstehen  neue  Formen 
stets  nur  in  einzelnen  Stücken,  die  ihre  Eigen- 
schaften, wenn  sie  erhaltungsfähig  sind,  auf  ihre 
Artgenossen  übertragen  können;  was  aber  die 
Ursache  des  Auftretens  neuer  Formen  (von 
Kreuzungen  abgesehen)  eigentlich  sei,  das  bleibt 
noch  zu  erforschen. 

37.  Ptcridiiiiii  aquiliiiuin,  der  bekannte,  durch 
seine  weithinkriechenden  Erdstämme  meist  herden- 
weise wachsende  „Adlerfarn",  bevorzugt  entschie- 
den Sandboden,  nur  nicht  die  allzu  sterilen  und 
trockenen  Sandfelder;  er  wächst  viel  in  Heiden, 
auch  in  Wäldern,  und  meidet  im  allgemeinen 
Kalk ,  ohne  ihn  doch  gänzlich  zu  fliehen.  Eine 
stark  behaarte  Varietät,  lanuginosum,  scheint 
kalkhaltigen  Boden  zu  bevorzugen,  ist  aber  nicht 
die  typische  Form  aller  Kalkstandorte.  Die  Art 
ist  in  ganz  Europa  mit  Ausnahme  des  hohen 
Nordens  häufig,  sonst  fast  über  die  ganze  Erde 
verbreitet,  fehlt  nur  in  eigentlichen  Wüsten-  und 
Steppengebieten. 

38.  ^Ulosonis  crispits,  alpine  Geröll-  und 
F"elsenpflanze  von  1000  bis  rund  2500  m  Meeres- 
höhe, nur  auf  kalkarmem  Boden.  Außer  den 
Alpen  im  Riesengebirge,  im  Schwarzwald,  Vo- 
gesen,  Bayrischen  Wald;  im  Harz  (Königskutsche 
am  Steinberg  bei  Goslar)  früher,  doch  lange  aus- 
gerottet; an  je  einer  Stelle  in  Luxemburg  und 
im  Hohen  Venn,  nicht  weit  davon  mehrere  Stand- 
orte in  den  belgischen  Ardennen.  In  den  Alpen 
ostwärts  bis  Steiermark  und  Kärnten;  weiter  in 
Nordeuropa,  Großbritannien,  im  mittleren  Frank- 
reich, in  den  Pyrenäen  und  den  Gebirgen  Spaniens, 
Apenninen,  Korsika,  Bulgarien,  Kleinasien,  Afghani- 
stan. Die  Art  scheint  sich  nicht  leicht  zu  ver- 
breiten, auch  sind  die  Sporen  schwierig  zur  Kei- 
mung zu  bringen. 

y^.  Nvflwlaciia  ]\laraiüiu',^\jA\\z\\&,  an  steinigen 
Hängen,  mit  Vorliebe  auf  Serpentin  wachsende 
Art,  an  wenigen  Stellen  in  Mähren,  Niederöster- 
reich, Steiermark,  sonst  im  Mittelmeergebiet, 
Nordatlantische  Inseln,  Portugal,  Südwestfrankreich, 
Balkanhalbinsel,  Abyssinien,  Südwestasien  bis  zum 
Himalaja. 


40.  Polypodiurn  vulgare,  eine  unserer  häufig- 
sten Arten,  wächst  gern  auf  schattigem,  etwas 
steinigem  Boden,  auch  an  Felsen  und  Mauern, 
doch  sehr  selten  auf  Kalk;  im  Flachland  oft  auf 
alten  vermorschten  Baumstubben ,  zuweilen  auch 
als  Epiphyt  auf  Kopfweiden  u.  a. ;  es  bevorzugt 
nährstoffarme  Standorte,  und  scheint  sich  an  oder 
auf  Sandsteinfelsen  besonders  wohlzufühlen.  Die 
sehr  seltenen  Vorkommen  auf  Kalk  oder  in  den 
Ritzen  gemörtelter  Mauern  erklären  sich  wohl 
weniger  durch  Wahllosigkeit  der  Art,  als  durch 
eine  besondere,  nur  morphologisch  nicht  unter- 
scheidbare „physiologische"  Rasse.  So  wächst 
z.  B.  typisches  Aconitum  napellus  in  der  Eifel 
nur  auf  Dolomit,  ohne  auf  den  nahen  Devon- 
schiefer überzugehen,  während  die  gleiche  Art 
sonst  allenthalben  auf  kalkarmen  Böden  zu  Hause 

ist.  Auch  die  „spezialisierten  Formen"  vieler  ^ 
parasitischer  Pilze  könnte  man  als  Beispiel  an- 
führen ;  sie  sind  für  uns  durch  nichts  anderes 
unterscheidbar,  als  durch  die  Fähigkeit  bzw.  Un- 
fähigkeit, bestimmte  Arten  von  Wirtspflanzen  zu 
befallen.  —  P.  v.  ist  über  die  ganze  nördliche 
Zone  der  Erde,  bis  über  den  Polarkreis,  verbreitet, 
findet  sich  außerdem  in  Mexiko,  Südafrika,  auf 
den  Kerguelen-  und  Hawaiinseln. 

41.  Osmil II i/ii  rcgalis,  der  stattliche  „Königs- 
farn", liebt  den  Schatten  der  Wälder  und  feuchten 
humosen,  auch  torfigen  Untergrund,  wächst  gern 
in  der  Nähe  der  Bachränder.  Er  ist  leidlich 
häufig  in  Nordwestdeutschland,  meidet  aber  die 
höheren  Gebirge  und  wird  nach  Osten  immer 
sehener,  schon  in  ganz  Osterreich  nur  an  wenigen 
Stellen.  Übrigens  im  größten  Teil  von  Europa, 
zumal  im  Westen  und  Süden,  in  West-,  Süd-  und 
Ostasien,  auch  in  Afrika  einschließlich  vieler  seiner 
Inseln  und  in  einem  großen  Teile  von  Amerika. 
Wichtig  als  der  einzige  europäische  Vertreter 
einer  kleinen,  nur  11  Arten  zählenden  Familie, 
welche  den  Übergang  bildet  von  den  jüngeren 
leptosporangiaten  Polypodiaceae  zu  den  älteren, 
vielfach  ausgestorbenen,  jetzt  fast  ganz  tropischen 
eusporangiaten  Farnen. 

Von  diesen  kommt  bei  uns  nur  eine  wenig 
artenreiche  Familie  vor,  die  Ophioglossaceae: 

42.  Ophioglussuni  vnlgatinn,  43.  Bofrychiiiin 
hinaria,  44.  B.  raiiiusinii,  45.  B.  siiuple.x,  46.  B. 
mafricariae ,  47.  B.  virgiiiiaiiinn,  die  wir  sum- 
marisch behandeln  können,  da  sie  an  den  Stand- 
ort ziemlich  gleiche  Ansprüche  stellen,  sie  be- 
wohnen meist  trockene  Wiesen  oder  Heiden,  ge- 
legentlich Dünen,  auch  zuweilen  Wälder;  42  liebt 
etwas  mehr  die  Feuchtigkeit.  Eigentlich  häufig 
ist  keine  Art,  am  verbreitetsten  noch  42  und  43 ; 
die  anderen  sind  ziemlich  bis  sehr  selten  und  weit 
zerstreut.  In  den  Bergen  gehen  43  und  46  am 
höchsten  hinauf,  bis  über  die  Baumgrenze;  47  in 
Deutschland  nur  in  den  Bayrischen  Alpen  und  in 
Ostpreußen.  Auch  diese  sechs  Arten  sind  weit 
über  Europa  und  die  anderen  Erdteile  verbreitet. 

Diese  weite  Verbreitung  vieler  F'arnarten  ist 
darum    von    besonderem    Interesse,    weil   sich   ihr 


346 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


kaum  etwas  aus  dem  ganzen  Reich  der  Blüten- 
pflanzen an  die  Seite  stellen  läßt  (daß  manche 
Arten  erst  durch  den  Menschen  als  „Unkräuter" 
weithin  verbreitet  worden  sind,  ist  ein  besonderer 
Punkt,  von  dem  hier  nicht  weiter  die  Rede  sein- 
soll). Jene  weite  Verbreitung  erklärt  sich  wohl 
zum  Teil  aus  der  leichten  „passiven  Wanderungs- 
fähigkeit" der  staubfeinen  Sporen,  aber  wohl  auch 
aus  dem  hohen  Alter  der  ganzen  Klasse;  —  wo- 
bei wir  freilich  nicht  vergessen  dürfen,  daß  fast 
alle  Arten  unserer  Liste  von  2  bis  40  zu  der 
geologisch  jüngsten  aller  Familien  der  Filices 
gehören. 

Farnbastarde  sind  in  unserem  Gebiet  ziem- 
lich viele  gefunden,  doch  meist  als  große  Selten- 
heiten in  vereinzelten  Stücken.  Merkwürdig  ist, 
daß  der  häufigste  von  allen,  ^hpkninn  ^crmaiii- 
c/ii/i,  gerade  von  zwei  Elternarten  mutmaßlich 
abstammt,  die  wir  als  morphologisch  einander 
recht  fernstehend  ansehen  müssen:  A.  septentrio- 
nale  und  A.  trichomanes,  in  deren  Gesellschaft 
die  Hybride  regelmäßig  gefunden  wurde.  Daraus 
geht  also  hervor,  daß  A.  g.  nur  auf  Kieselgestein 
bzw.  an  Feldmauern  vorkommt.    Es  ist  immerhin 


eine  seltene  Pflanze,  aber  doch  in  Deutschland  an 
mehreren  Hunderten  von  Stellen  gesammelt.  Die 
Angaben  in  den  Floren  beziehen  sich  freilich  viel- 
fach auf  Plätze,  an  denen  A.  g.  heute  nicht  mehr 
vorhanden  ist.  Es  ist  ein  übler  Mißbrauch,  solch 
seltene  und  interessante  Pflanze  gleich  mit  Stumpf 
und  Stiel  auszurotten,  wo  es  doch  mit  den  Ein- 
legen einiger  Wedel  genug  wäre.  Einige  Formen 
sind  als  Rückkreuzungen  mit  einer  der  beiden 
Eiterarten  bezeichnet  worden;  das  kann  zutreffen, 
denn  wenn  auch  A.  g.  sich  vermutlich  nur  aus 
apogamen  Vorkeimen  fortpflanzt,  so  erzeugen 
diese  doch  Antheridien  mit  seh  wärm  fähigen  Samen- 
fäden, so  daß  eine  erneute  Kreuzung  wohl  mög- 
lich sein  könnte.  Andererseits  ist  zu  bemerken, 
daß,  wie  wir  von  Blütenpflanzen  wissen,  auch  ein 
einfacher  Bastard  mehr  zu  dem  einen  als  zu  dem 
anderen  Elter  hinneigen  kann  (patrokline  und 
metrokline  Bastarde).  —  Xephrodiiiin  rcnioiiiiii. 
der  Bastard  von  N.  filix  mas  und  N.  spinulosum 
bzw.  N.  dilatatum,  ist  viel  seltener,  nur  an  wenigen 
Punkten  bisher  gefunden ;  an  den  meisten  Stellen, 
welche  die  Eiterarten  gemeinsam  bevölkern,  wird 
man  diese  Hybride  vergeblich  suchen. 


Über  die  neuen  Zeißscheu  Mikroskop-Okjektive  und  Okulare. 

I Nachdruck  verboten.]  Von  Prof.   Dr.   MllX   Wolff  (Eberswalde). 


Bislang  waren  nur  die  Apochromate  nebst  den 
zugehörigen  Kompensationsokularen,  und  m.  W. 
übereinstimmend  von  allen  Firmen,  die  sich  mit 
der  Erzeugung  von  solchen  beschäftigten,  unter 
Befolgung  einer  gewissen  Ratio  bezeichnet  wor- 
den, die  eine  leichte  Berechnung  der  resultieren- 
den Vergrößerung  ermöglichte  und  sich  also  vor- 
teilhaft von  der  Willkür  unterschied,  mit  welcher 
man  Achromate  und  zugehörige  Okulare  durch 
Buchstaben  oder  Ziffern    zu  kennzeichnen  pflegte. 

Wie  bekannt,  beruht  jenes  von  Abbe  aufge- 
stellte Klassifikationsprinzip  auf  der  Übervergröße- 
rung der  Kompensationsokulare,  die  im  Verhältnis 
2:4;  6:8:12:18  abgeglichen  ist.  Das  mit  Nr.  2 
bezeichnete  Kompensationsokular  erhöht  bei  einer 
(mechanischen  I)  Tubuslänge  von  160  mm  die 
Eigenvergrößerung  des  Apochromaten  auf  den 
zweifachen  Betrag,  die  andern  tun  das  in  dem 
durch  ihre  Nummer  ausgedrückten  Maße  und  im 
entsprechenden  Verhältnis  zu  der  soeben  ange- 
gebenen des  „Schwerokulars"  Nr.  2. 

Da  die  Apochromate  immer  außer  der  num. 
Apertur  auch  die  Äquivalentbrennweite  (in  mm 
ausgedrückt)  auf  ihrer  Fassung  eingraviert 
tragen,  nach  der  man  sie   ja   zu  benennen  pflegt, 

—  8  mm  -  Apochromat,    3  mm-Apochromat  usw., 

—  kennt  man  ohne  weiteres  die  zur  schnellen  Berech- 
nung der  resultierenden  Vergrößerung,  ohne  daß 
irgendeine  Messung  erforderlich  wäre,  notwendigen 
Zahlen.  Immerhin  muß  eine  wichtige  Größe,  die 
Eigenvergrößerung  des  Objektives  erst  be- 
rechnet werden.      Sie    ist    gleich    der    Weite   des 


deutlichen  Sehens  (in  mm  ausgedrückt,  also=^  250) 
dividiert  durch  die  Äquivalentbrennweite  des  Ob- 
jektives (ebenfalls  in  mm  ausgedrückt). 

Die  bei  der  Kombination  eines  Apochromaten 
mit  einem  Kompensationsokular  resultierende 
Vergrößerung  (NB.l  für  eine  Projektion  auf  250  mm) 
ergibt  sich  also  sehr  einfach,  indem  man  die  aus 
der  bekannten  Äquivalentbrennweite  berechnete 
Eigenvergrößerung  des  Objektivs  mit  der  durch 
die  Okularnummer  ausgedrückten  Übervergröße- 
rung des  Okulars  multipliziert.  Der  16  mm- 
Apochromat  a.  e.  hat  eine  Eigenvergrößerung  von 

2  CO 

-     =   iq,i;.      Mit    dem    Kompensationsokular    4 
16 

resultiert  demnach  die  Gesamtvergrößerung 
15,5-4=- 62. 

Diese  Berechnung  ist  also  zwar  einfach,  aber 
die  Bezeichnung  der  Elemente  gestattet  doch 
nicht,  durch  einfache  MuUiplikation  bequemer 
Zahlen  sofort  die  Vergrößerung  des  Systems  zu 
finden.  Und,  wie  gesagt,  bei  den  achromatischen 
Objektiven  und  Okularen  hatte  die  Bezeichnung 
bisher  überhaupt  keine  Beziehung  zur  Eigen- 
bzw. Übervergrößerung.  Hier  mußte  die  Ver- 
größerung gemessen,  oder,  wenn  es  nicht  auf 
größte  Genauigkeit  ankam,  den  Zusammenstellun- 
gen in  den  Katalogen  entnommen  werden.  Es 
wird  kaum  einen  Mikroskopiker  gegeben  haben, 
der  die  aus  der  Kombination  von  in  einem  halben 
Dutzend  Objektiven  und  ebenso  vielen  Okularen 
resultierenden  Vergrößerungen  auswendig  gelernt 
hätte ! 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


347 


Diesem  Zustande  hat  nun  die  Firma  Carl 
Zeiß  ein  Ende  gemacht.  Ihre  neue  Bezeichnung 
von  Objektiven  und  Okularen  macht  alle  Tabellen 
überflüssig.  Man  hat  lediglich  die  Nummer  des 
Objektivs  mit  der  des  Okulars  zu  multiplizieren 
und  erhält  dann  ohne  weiteres  die  erzielte  Ver- 
größerung. Und  zwar  gilt  das  für  alle  von  ihr 
erzeugten  Mikroskop  -  Objektive  und  -Okulare, 
Apochromate  und  Achromate,  Kompensations- 
wie  gewöhnliche  Huygenssche  und  orthoskopische 
Okulare. 

Die  Objektive  haben  durchweg  als  Nummer 
den  Wert  ihrer  „Einzel Vergrößerung"  erhalten, 
d.  h.  der  Vergrößerung,  in  der  das  reelle  Zwischen- 
bild, welches  vom  Objektiv  bei  richtiger  Einstellung 
nahe  am  oberen  Ende  des  Tubus  entworfen 
wird,  das  Objekt  abbildet. 

Die  Okulare  haben  durchweg  den  Wert  ihrer 
Lupenvergrößerung  als  Nummer  erhalten. 

Wie  die  folgende  Zusammenstellung  sämt- 
licher   Einzelvergrößerungen    (=  Nummern!)    der 


neuen  Zeißschen  Objektive  und  der  Lupen- 
vergrößerungen der  neuen  Zeißschen  Okulare') 
zeigt,  sind  die  Vergrößerungswerte  von  Objek- 
tiven und  Okularen  auf  derart  bequeme,  runde 
Zahlen  gebracht  werden,  daß  die  Multiplikation 
von  Objektiv-  und  Okular-Nummer,  die  die  resul- 
tierende Vergrößerung  ergibt,  ohne  weiteres 
schnell  im  Kopfe  ausgeführt  werden  kann ;  ein 
Blick  auf  Objektiv-  und  Okular-Nummer,  —  und 
man  hat  die  Vergrößerung  der  betreffenden  Kom- 
bination. Und  zwar  mit  einer  den  früher  benutzten 
Tabellen  mindestens  ebenbürtigen  (Tcnauigkeit, 
da  Zeiß  (im  Gegensatz  zu  vielen  sonst  ebenfalls 
hervorragend  arbeitenden  Firmen,  bei  denen  diese 
Werte  starken  Schwankungen  unterworfen  sind, 
wie  schon  der  Einblick  in  die  einzelnen  Jahrgänge 
ihrer  Preislisten  lehrt)  die  Vergrößerungswerte 
(Einzelvergrößerung  der  Objektive)  bis  auf  wenige 
Prozente  genau  einhält. 

')    Auf    die    Bedeutung    der    Sebfeldzahleu    der    Ukulare 
werde   ich   am   Schluß   noch   näher  eingehen. 


l'bcr 

iehl 

der    uc 

ucn    Nuinmt 

rn    der    Zeit 
Achromalc 

s  c  h  c  n 

Obje 

k  t  i  V  e 

und    ( 

)  k  u  1 .1  r 

Nr. 

3           5 

6             8 

10 

20 

40 
XX 

60 

90 

Trockensysteme 
mit    fester    Ver- 
größerung 

Nr. 

1-1,5  1,5-2 

1,2-2,5 

Trockensysteme 

mit      variabeler 

Vergrößerung 

Nr. 

6 

40 

90 

IOC 

Wasser- 
immersionen 

Nr. 

XX 

j 

5° 

90 

Homogene 
Ölimmersionen 

wird 
NTrn.  6o 

uil  der 
und  gc 

Apertu 
3  der  T 

0,65   i 
rockens 

nd  0,8 
ysteme 

gebau 
und   die 

t,  mit  1 
homo 

etzterer 
jene  Öl 

als  Flu 
immersi 

oritsyst 
on   100 

■m;    de 
Fluorit 

gl.  sind 
Systeme  ' 

die 

Apochromate 

Nr. 

10           20          40                        60 

Trockensystemc 

Nr. 

. 

1 
70 

Wasser- 
immersion 

Nr. 

58 

60 

XX 

9°         .00 

XX 

Homogene 
Ölimmersionen 

XX  wir 

i  mit  der  Aper 

tur   1,3 

und    I, 

[  gebau 

t! 

Huygenssche  Okulare 

( )rthoskopischc 
Okulare 

Kompensationsokul 

ir 

Nr. 

4 

s 

7       ;       10 

15 

12.5 

17 

2S 

S             7            10 

'5 

20 

Sehfeld- 
zahl 

24 

23 

18             14 

8 

16 

>3 

6.5 

23 

23     1     18           13 

II 

8 

348 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


Um  einen  Anhalt  für    den  Vergleich    mit  den  lare    Nr.  4,   5,  7,   10,   15    mit    den    älteren    Nrn.   i, 

gebräuchlichsten  älteren  Objektiven  zu  geben,  sei  2,  3,  4,  5  annähernd  übereinstimmen, 
erwähnt,  daß  der  Achromat  Nr.  8  mit  dem  frühe-  ^^  entsprechen  sich  also,  wie  die  resultieren- 

ren  A,    der    Achromat    Nr.  40   (mit    der   Apertur  ^^^^  Vergrößerungen    zeigen,    folgende    Kombina- 

0,65)  mit  dem  früheren  D,    die    homogene  Ohm-  jj^^^^,^    ^^^    ^^^^n    ^^^    ^^r    alten  Objektive    und 

mersion    Nr.  90    mit    der    früheren   >/,.,"    (mit  der  okulare  annähernd: 
Apertur  1,25),  daß  ferner  die  Huygensschen  Oku- 


Neu 

c   Bezeichnung 

Iluygen 

sehe  1 

ikulare 

4 

5      ' 

7 

10 

15 

> 

8 

32 

40 

50 

80 

]20 

3- 

1 

0 

1 

40 

160 

200 

280 

400 

600 

yo 

360 

1 
450 

630 

900 

1350 

Es  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  die  von 
der  Firma  Carl  Zeiß  durchgeführte  Normung 
ihrer  sämtlichen  Mikroskop-Objektive  und  Okulare, 
die  eine  so  bequeme  Berechnung  der  Vergröße- 
rung ermöglicht ,  einen  Fortschritt  bedeutet ,  der 
nicht  hoch  genug  bewertet  werden  kann.  Daß 
sich  die  Firma  zu  dieser  Normung  entschloß,  ver- 
dient gerade  in  heutiger  Zeit  besondere  An- 
erkennung, da  sämtliche  Objektive  und  Okulare 
ja  zu  diesem  Zweck  einer  kostspieligen  Umkon- 
struktion  unterworfen  werden  mußten.  Bei  Ver- 
öffentlichungen von  Zeichnungen  u.  dgl.  (sofern 
die  Projektion  mittels  Zeichenapparates  auf  eine 
in  natürlicher  Sehweite  stehende  Zeichenfläche 
erfolgte)  ist  es  künftig  nur  notwendig,  das  aus 
Objektiv-  und  Okular-Nummer  gebildete  Produkt 
(z.  B.  40-5)  beizufügen,  um  nicht  nur  die  ver- 
wendete Objektiv- Okular -Kombination,  sondern 
auch  die  resultierende  Vergrößerung  ausreichend 
genau  anzugeben. 

Außerdem  teilt  Zeiß  jetzt  aber  bei  seinen 
sämtlichen  Okularen  noch  ein  wichtiges  Datum 
mit,  die  sog.  Sehfeldzahl,  die  der  Leser  in 
der  obenstehenden  Tabelle  unter  den  Okular- 
nummern  findet.  Das  Produkt  von  Okularnummer 
und  Sehfeldzahl  ist  gleich  dem  Durchmesser  (in 
mm)  des  vom  Mikroskop  (gleichgültig  mit  welchem 
Objektiv)  bei  Benutzung  des  betreffenden  Okulars 
in  250  mm  Entfernung  projizierten  virtuellen  Bil- 
der. Es  gibt  also  Okular  4  in  250  mm  Entfer- 
nung einen  Lichtkreis  von  424  =  96  mm  Durch- 
messer; in  500  mm  Entfernung  ist  der  Lichtkreis 
natürlich  doppelt  so  groß,  =  192  mm  Durch- 
messer, usw.  Die  Sehfeldzahl  ist  also  sehr  wichtig 
für  alle  mikrophotographischen  Arbeiten.  Sie 
gestattet  schon  am  Mikroskopiertisch  über  die 
Plattenformate,  die  zur  Verwendung  kommen 
sollen,  oder  über  die  für  eine  Aufnahme  erforder- 
liche Okularnummer,  falls  man  auf  ein  bestimmtes 


Alte 

Bezeichnung 

Huygenssche 

Okulare 

I 

2 

3 

4 

5 

> 

A 

42           54 

79 

97 

130 

3- 

1 

0 

D 

175         220 

35° 

38s 

550 

1,    II 

410 

515 

750 

920    1 

1280 

Format  sich  festlegen  muß,  zu  disponieren.  Das 
ist  dann  stets  von  Bedeutung,  wenn  das  ganze 
Gesichtsfeld  abgebildet  werden  soll. 

Der  aus  der  Sehfeldzahl  als  Zähler  und  der 
Objektivnummer  als  Nenner  gebildete  Quotient 
dagegen  gibt  in  mm  den  Durchmesser  der  kreis- 
förmigen Objektebene  an,  die  mit  dem  verwen- 
deten Okular  und  Objektiv  auf  einmal  übersehen 
werden  kann.  So  würde  bei  der  Kombination 
des  Achromaten  Nr.  40  und  des  Huygensschen 
Okulars  Nr.  5,  dessen  Sehfeldzahl  23  ist,  ein 
flächenhaftes  Untersuchungsobjekt  einen  Durch- 
messer von  - '  1,1  0,575  mm  haben  dürfen,  um 
gerade  noch  voll  überblickt  werden  zu  können. 
Die  Vergrößerung  wäre  dabei  40-5  =  200  fach. 
Genau  dieselbe  Vergrößerung  erhält  man  auch, 
wenn  man  das,  annähernd  dem  alten  Objektiv  C 
entsprechende  neue  Objektiv  Nr.  20  mit  dem, 
ebenfalls  angenähert  dem  alten  Okular  Nr.  4  ent- 
sprechenden neuen  Okular  Nr.  10  kombiniert, 
dessen  Sehfeldzahl  14  ist.  Man  sieht  sofort,  daß 
man  mit  dieser  Kombination  ein  nicht  unbeträcht- 
lich größeres  Objekt  auf  einmal  überblickt,  denn 
seine  größte  Ausdehnung  darf  nunmehr  schon 
"/gj  =  0,7  mm  betragen.  Diese  bequeme  Be- 
rechnung der  größten  zulässigen  Ausdehnung 
eines  in  einem  Gesichtsfelde  abzubildenden  Unter- 
suchungsobjektes wird  sehr  häufig  praktische 
Bedeutung  erlangen ,  besonders  wenn  Hilfskräfte 
(Zeichner,  Photographen,  Bedienung  des  Projek- 
tionsapparates) kurz  darüber  instruiert  werden 
sollen,  mit  welcher  Kombination  zu  arbeiten  ist, 
und  zwar  vor  allem  dann,  wenn  es  sich  um  eine 
größere  Zahl  von  Präparaten  handelt,  die  sonst 
einzeln  zu  diesem  Zweck  durchgesehen  werden 
müßten.  Das  wird,  wenn  man  sich  der  Sehfeld- 
zahl bedient,  überflüssig,  sofern  man  die  ungefähre 
Größenordnung  der  zu  untersuchenden  Objekte 
kennt. 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


349 


Die  besprochenen  Neuerungen  in  der  Bezeich- 
nung mikroskopischer  Objektive  und  Okulare  er- 
scheinen mir  wichtig  genug,  um  eine  kurze  Be- 
handlung   zu     rechtfertigen.       Denn     man     wird 


künftig  ohne  Zweifel  bei  Neuanschaffungen  stets 
Instrumenten  den  Vorzug  geben,  deren  Objektive 
und  Okulare  in  der  geschilderten  Weise  genormt 
sind. 


Einzelberichte. 


Der  Farbensinu  der  Bleue. 


Im  Jahre  1913  sprach  der  Ophthalmologe 
C.  V.  Heß  die  Meinung  aus,  daß  die  Honigbiene 
keine  Farben  sehe,  sondern  nur  verschiedene 
„Helligkeitswerte"  unterscheiden  könne.  Dem- 
entgegen wurde  nun  der  Farbensinn  der  Bienen 
durch  die  sinnreichen  Versuche  des  Zoologen 
K.  v.  P^risch  sicher  erwiesen,  v.  Frisch  hat 
Bienen  auf  eine  Farbe,  z.  B.  auf  Blau  dressiert; 
wenn  er  ihnen  dann  unter  einer  Anzahl  ver- 
schieden abgestufter  Graupapiere,  welche  ver- 
schiedene Helligkeiten  darstellten ,  die  Dressur- 
farbe darbot,  fanden  sie  diese  sofort  heraus.  Würde 
das  Bienenauge  das  Blau  nur  als  ein  bestimmtes 
Grau  sehen,  so  hätten  die  Bienen  die  Dressurfarbe 
zweifellos  mit  einem  der  Graupapiere  verwechselt, 
das  den  gleichen  Helligkeitswert  wie  das  Blau 
besaß.  Die  Versuche  wurden  in  solcher  Mannig- 
faltigkeit dargestellt,  daß  alle  Einwände  ausge- 
schlossen waren; 

1.  Die  Graupapiere  waren  in  genügend  starker 
Abstufung  vorhanden  und  die  Bienen  konnten 
nicht  einmal  die  verschiedenen  Grau  mittlerer 
Helligkeit  voneinander  unterscheiden. 

2.  Die  Bienen  erkannten  das  farbige  Papier 
nicht  etwa  an  einem  für  die  Bienen  vielleicht 
wahrnehmbaren  spezifischen  Geruch  der  Farbe. 
Die  Versuche  gelangen  nämlich  ebensogut,  als 
sämtliche  Versuchspapiere  mit  einer  großen  Glas- 
platte bedeckt  wurden. 

3.  Das  farbige  Papier  hob  sich  nicht  durch 
besonderen  Glanz  von  den  Graupapieren  ab.  Als 
nämlich  die  Graupapiere  mit  Firnis  überzogen 
wurden,  war  das  Ergebnis  ebenso  positiv  wie 
vorher. 

4.  Daß  die  Bienen  einen  ausgeprägten  Orts- 
sinn besitzen,  ist  unbestritten.  Um  nun  zu  ver- 
hindern, daß  die  Bienen  etwa  durch  ihren  Orts- 
sinn das  farbige  Papier  wieder  auffinden  könnten, 
wurde  die  Anordnung  der  Versuchspapiere  häufig 
gewechselt. 

5.  Da  zu  den  Versuchen  immer  neue,  von 
den  Dressurpapieren  verschiedene ,  ganz  reine 
Papiere  verwendet  wurden,  ist  es  nicht  möglich, 
daß  die  Bienen  durch  einen  spezifischen  Bienen- 
geruch oder  durch  Verunreinigungen  von  Putter- 
mitteln  (Zuckerwasser  oder  Honig)  zum  Farben- 
papier hingelenkt  wurden. 

Weiterhin  untersuchte  v.  Frisch  aufs  ein- 
gehendste die  Beschaffenheit  des  Farbensinns, 
wobei  er  zu  folgenden  Ergebnissen  kam :  Für  das 
Bienenauge    ist    das    Spektrum    am    langwelligen 


Ende  verkürzt.  Ein  reines  Rot  wird  also  nicht 
von  Schwarz  unterschieden.  Die  Biene  kann  nur 
„kalte"  und  „warme"  Farben  unterscheiden.  Sie 
verwechselt  Orangerot  mit  Gelb  und  mit  Grün, 
Blau  mit  Violett  und  Purpurrot.  Das  Spektrum 
besteht  für  die  Biene  also  aus  zwei  Hälften,  einer 
gelben  und  einer  blauen.  Dazwischen  bleibt  ein 
indifferenter  Teil  des  Spektrums,  denn  die  Bienen 
können  ein  Blaugrün  weder  zu  der  ersten  noch 
zu  der  zweiten  Hälfte  zählen  und  verwechseln 
dieses  Blaugrün  mit  Grau.  Der  Farbensinn  der 
Biene  zeigt  somit  weitgehende  Übereinstimmung 
mit  dem  Farbensinn  eines  rotgrünblinden  Menschen. 

Was  die  Blütenfarben  betrifft,  so  werden  den 
Bienen  weiße,  gelbe  und  blaue  Blüten  auffallend 
erscheinen.  Blaue  und  purpurrote  ')  Blumenfarben, 
die  so  häufig  vorkommen,  müssen  stärker  hervor- 
treten als  gelbe,  da  das  Blattgrün  für  die  Biene 
auch  ähnlich  wie  gelb  aussieht.  Die  Farben, 
welche  die  Biene  nicht  wahrnimmt,  kommen  als 
Blumenfarben  nur  selten  vor;  es  gibt  nur  sehr 
wenig  scharlachrote  Blumen  bei  uns,  die  von 
Bienen  besucht  werden.  Auch  das  Blaugrün  ist 
als  Blütenfarbe  sehr  selten.  Anders  liegen  die 
Verhältnisse  natürlich  bei  Blumen,  die  von  anderen 
Tieren  besucht  werden,  z.  B.  von  Schmetterlingen 
oder  von  Vögeln;  für  Vögel  ist  gerade  die  rote 
Farbe  auffällig. 

Auch  die  Kontrastfarben  im  Innern  der  Blüten 
hat  man  als  Anpassung  an  den  Insektenbesuch 
gedeutet,  vor  allem  da,  wo  sie  als  „Saftmale"  auf- 
treten. V.  Frisch  hat  nachgewiesen,  daß  die 
Bienen  tatsächlich  auf  Farbenkontraste  reagieren, 
natürlich  nur  solche,  die  auch  für  das  Bienenauge 
Kontraste  darstellen;  z.  B.  gelb- blau,  schwarz- 
weiß. In  der  Natur  kommen  bei  Immenblumen 
auch  nur  solche  Farbendifferenzen  vor,  die  auch 
für  das  Bienenauge  als  Gegensätze  wahrgenommen 
werden. 

Zu  all  seinen  Versuchen  hat  v.  Frisch  Pig- 
mentfarben verwandt  (sog.  Herin gsche  Papiere, 
oder  Anstrichfarben).  Da  diese  aber  stets  Wellen- 
längen eines  breiten  Spektralbereiches  reflektieren 
und  zwar  die  verschiedenen  Wellenlängen  in  ver- 
schiedenem Maße,  so  werden  die  früheren  Ver- 
suche durch  neuere  Experimente  mit  Spektral- 
farben in  erfreulicher  Weise  ergänzt.  A.  Kühn 
und  R.  Pohl  dressierten  die  Bienen  auf  physi- 
kalisch-monochromatisches   Licht    und    entwarfen 


')  Da  die  Bienen  das  Rot  nicht  sehen,  erscheinen  ihnen 
solche  Farben,  die  aus  Hlau  und  Rot  bestehen,  wie  z.  B. 
Purpurrot,  als  Blau. 


350 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


zu  dem  Zweck  ein  Quecksilberspektrum  auf  eine 
horizontale  Tischplatte,  wobei  das  Spektrum  be- 
liebig gedreht  und  verschoben  werden  konnte. 
Im  wesentlichen  kamen  Kühn  und  Pohl  zu  den 
gleichen  Ergebnissen  wie  v.  Frisch. 

Bei  der  Dressur  wurden  alle  Farben  bis  auf 
eine  abgeblendet  und  die  Bienen  auf  diese  dressiert. 
Nun  wurde  auf  einem  frischen  Papierblatt  wieder 
das  ganze  Spektrum  in  anderer  Lage  entworfen. 
Die  Bienen  fanden  immer  unter  den  anderen 
Spektralfarben  die  Dressurfarbe  heraus.  Die 
Wellenlängen  des  Spektralbereiches  ca.  400  bis 
440  Uli  (violett  bis  blau)  einerseits  und  ca.  540  bis 
580  iij^i  (grün  bis  gelb)  andererseits  werden  da- 
nach durch  das  Bienenauge  voneinander  unter- 
schieden. Besonders  wichtig  ist  auch  das  Ver- 
halten gegen  Ultraviolett,  v.  Frisch  konnte  mit 
seinen  Pigmentfarben  die  Wirksamkeit  des  Ultra- 
violetts  nicht  beobachten;  die  Dressurversuche 
mit  dem  Linienspektrum  gehen  deshalb  über  das 
mit  den  Pigmentfarben  Erreichte  hinaus.  Kühn 
und  Pohl  fanden,  daß  das  Bienenauge  für  ultra- 
violettes Licht  empfindlich  ist  (wie  dies  bei  Ameisen 
schon  früher  bekannt  war)  und  daß  „Wellen  in 
der  Umgebung  von  365  /<;t  (ultraviolett)  sowohl 
von  spektral  unzerlegtem  Licht  als  auch  von  dem 
Spektralbereich  ca.  400 — 440  //((  (violett  bis  blau) 
und  auch  von  dem  Bereich  ca.  540 — 580  ftu  (grün 
bis  gelb)  qualitativ  unterschieden  werden". 

Durch  weitere  Versuche  wurde  gezeigt,  „daß 
auch  die  Linie  492  /(/<  (blaugrün)  von  den  übrigen 
Linien  des  Quecksilberspektrums  und  von  spektral 
unzerlegtem  Licht  unterschieden  wird",  v.  F  r  i  s  c  h 
fand,  daß  die  Bienen  Blaugrün  mit  Grau  ver- 
wechselten. Das  erklären  Kühn  und  Pohl  da- 
durch, daß  sie  eine  starke  Weißverhüllung  für 
das  Bienenauge  beim  blaugrünen  Pigmentpapier 
annehmen.  Sie  fanden  nämlich,  daß  das  betreffende 
Papier  „von  492  ///<  bis  365  /(/<  abwärts  in  steigen- 
dem Maße  reflektiert",  also  Strahlen  von  sehr 
verschiedener  Wellenlänge  enthält. 

Aus  allen  den  Versuchen  mit  den  Pigment- 
papieren und  mit  den  Spektralfarben  geht  her- 
vor, daß  die  Biene  Farbensinn  besitzt  und  daß 
der  von  ihr  wahrnehmbare  Teil  des  Spektrums 
nach  dem  kurzwelligen  Ende  hin  verschoben  ist 
gegenüber  dem  uns  sichtbaren  Teil.  Der  ihr 
sichtbare  Teil  des  Bandes  ist  fast  gleich  lang  wie 
der  uns  sichtbare  Teil.  Ob  die  Bienen  die  Farben 
subjektiv  so  wie  wir  empfinden,  bleibt  allerdings 
fraglich  und  tut  nichts  zur  Sache.  Das  Wesent- 
liche ist,  daß  die  Bienen  die  Lichtstrahlen  ver- 
schiedener Wellenlänge  zu  unterscheiden  ver- 
mögen. 

Oswin  Mutschier 

(Zoologisches  Institut  d.  Techn.  Hochschule, 

Stuttgart). 


Literatur. 
C.  V.   Hefl,  Experimentelle  UntcrsucUuiigen  über  den  au- 
geblichen   Farbensinn     der    Bienen       Zoologisehe    Jahrbücher 
Bd.  34,    1913. 


Karl  V.  Krisch,  Uer  Farbensinn  und  der  Forraensinn 
der  Biene.     Zoolog.  Jahrbücher  Bd.  35,   1914. 

A.  Kühn  und  R.  Pohl,  Dressurfähigkeit  der  Bienen 
auf  Spektrallinien.     Die    Naturwissenschaften    Heft    37,    1921. 


Zur  Bedeutung  der  Keimdrüsenzwischenzellen. 

„Beweise"  und  „Gegenbeweise"  der  Anhänger 
und  Gegner  der  Zwischenzellentheorie  folgen  in 
rascher  Folge,  ohne  die  Entscheidung  in  der 
Frage  nach  der  Bedeutung  der  Zwischenzellen 
der  Keimdrüsen  herbeizuführen.  Die  Forscher, 
die  behaupten,  die  Zwischenzellen  lieferten  die 
Sexualhormone,  bleiben  auf  ihrem  Standpunkt 
ebenso  bestehen,  wie  diejenigen,  die  den  inter- 
stitiellen Zellen  der  Geschlechtsdrüsen  eine  rein 
nutritive  Bedeutung  zusprechen,  sie  also  als  Zellen 
mit  trophischer  Funktion  bezeichnen.  Daß  hier 
in  beiden  Lagern  vorgefaßte  Meinungen  eine 
große  Rolle  spielen,  darüber  besteht  für  mich 
kein  Zweifel.  Ja,  meistens  sind  die  „Beweise" 
für  oder  gegen  die  Zwischenzellentheorie  wenig 
„beweiskräftig".  So  kommt  es,  daß  man  auf  ge- 
radezu groteske  Widersprüche  stößt,  die  nur 
durch  klinische  Erfahrungen  aus  der  Welt  geschafft 
werden  können,  denn  hier  scheinen  dem  Tier- 
experiment stets  Schwierigkeiten  im  Wege  zu 
stehen.  Dazu  kommt,  daß  zwischen  der  inkre- 
torischen  Funktion  von  tierischen  und  mensch- 
lichen Keimdrüsen  gewisse  Unterschiede  bestehen. 

An  dieser  Stelle  sei  über  eine  neue  Mitteilung 
berichtet,  die  Anhänger  der  St  ei  nach  sehen 
Lehre:  A.  Lip  schütz,  F.  Bormann  und  K. 
W  a  g  n  e  r  in  der  Deutschen  Medizinischen  Wochen- 
.Schrift  (Nr.  10,  48.  Jahrg.,  1922)  „über  Eunuchoi- 
dismus beim  Kaninchen  in  Gegenwart  von  Sper- 
matozoen  in  den  Hodenkanälchen  und  unterent- 
wickelten Zwischenzellen"  veröffentlichen.  Wäh- 
rend die  Gegner  Steinachs  feststellen,  daß 
sekundäre  Geschlechtsmerkmale  fehlen  können, 
obwohl  Zwischenzellen  in  den  Keimdrüsen  vor- 
handen sind,  teilen  hier  die  Verff.  mit,  daß  sie 
an  Kaninchen  ausgesprochenen  Eunuchoidismus 
beobachteten,  trotzdem  Spermatozoen  vorhanden 
waren.  Ja,  die  Zwischenzellen  waren  sogar  — 
in  einem  Fall  ganz  besonders  —  unterentwickelt. 
Diese  Ergebnisse  bestärken  die  Verff.  in  der  An- 
sicht, daß  von  den  interstitiellen  Zellen  die  In- 
kretion ausgehe,  die  auf  die  äußeren  Sexual- 
charaktere ihren  Einfluß  ausübt.  Es  wird  hier 
also  nicht  nur  ein  Gegenbeweis  den  obenge- 
nannten Feststellungen  der  Gegner  der  Zwischen- 
Zellentheorie  gegenübergestellt,  sondern  ein  neuer 
Beweis  für  die  Lehre  von  der  inkretorischen 
Funktion  des  Interstitiums  geliefert.  Die  Verff. 
stellen  folgende  Schlußfolgerungen,  die  sie  aus 
den  Versuchsergebnissen  ziehen ,  zusammen  (sie 
seien  wörtlich  der  Mitteilung  entnommen) : 

„I.  Es  kann  Eunuchoidismus  bestehen,  auch 
wenn  die  Spermatogenese  bis  zur  Ausreifung  von 
Spermatozoen  gediehen  ist. 

2.  Das   spermatogene  Gewebe    allein    für    sich 


N.  F.  XXI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


351 


kann  die  innersekretorische  Funktion  des  Testikels 
nicht  besorgen. 

3.  Die  Rolle  der  Zwischenzellen  ist  mit  ihrer 
postulierten  trophischen  Funktion  nicht  erschöpft. 
Auch  wenn  die  trophische  Funktion  erledigt  ist, 
kann  bei  Unterentwicklung  der  Zwischenzellen 
Eunuchoidismus  vorhanden  sein. 

4)  Die  Zwischenzellen  bilden  bei  den  Säuge- 
tieren einen  integrierenden  Bestandteil  des  inner- 
sekretorischen Apparates  des  Testikels." 

Die  Verff.  sprechen  wohl  von  einem  „inte- 
grierenden') Bestandteil  des  innersekretorischen 
Apparates",  den  die  interstitiellen  Zellen  bilden 
sollen.  Sie  behaupten  aber  grundsätzlich,  daß 
eine  Produktion  von  Hormonen  in  den  Zwischen- 
zellen auf  jeden  Fall  stattfinde.  Auch  die  ver- 
mittelnden Theorien  werden  negiert,  wie  die  von 

')  In  diesem  Wort  liegt  die  Bedeutuog:  „zum  Ganzen  ge- 
hörend". Darauf  sei  besonders  aufmerksam  gemacht.  In 
diesem  Zusammenhang  sei  bemerkt,  daß  das  Wort  ,, Puber- 
tätsdrüse" in  der  Abhandlung  vermieden  ist. 


Berblinger,  daß  das  spermatogene  Gewebe 
die  Sexualhormone  produziere,  in  den  Zwischen- 
zellen aber  die  Resorption  erfolge.')  Die  Verff. 
halten  eine  derartige  Auffassung  für  unbegründet, 
obwohl  manches  dafür  spricht,  wie  auch  die 
Untersuchungen  von  Harms  am  Bidderschen 
Organ  zeigen. 

Die  Versuchsergebnisse  von  Lipschütz  und 
seinen  Mitarbeitern  stellen  wohl  eine  Stufe  in  der 
Entwicklung  des  Problems  dar,  zeigen  aber  von 
neuem,  daß  hier  unüberbrückbare  Widersprüche 
vorliegen,  solange  die  klinischen  Erfahrungen 
ungenügend  sind  und  solange  andere  Theorien 
nur  dann  wirklich  berücksichtigt  werden,  wenn 
sie  IVIaterial  für  die  eigene  Anschauung  liefern. 
Gustav  Zeuner. 


')  Ich  nenne  diese  Theorie  vermittelnd,  weil  sie  wohl 
die  Produktion  von  Hormonen  in  den  Zwischenzellen,  nicht 
aber  den  Anteil  dieser  Zellen  am  Vorgang  der  inneren 
Sekretion  negiert. 


Bücherbesprechungen. 


Linnes     Föreläsningar     öfver     Dyrriket. 
IVled    understöd    af  Svenska  Staten  för  Uppsala 
Universitet  utgifna  och  försedda  med  förklarande 
anmärkningar  af  Einar  Lönnberg.     8".    XIII, 
607  S.     Uppsala,  Berlin   191 3. 
Obwohl  vor  bereits  9  Jahren  erschienen,  haben 
Linnes  „Vorlesungen"    nicht    die  Beachtung  ge- 
funden, die  sie  allein  schon  durch  die  beiden  auf 
dem    Titel    genannten    Autoren    verdient    hätten. 
Sind  sie  doch  in  keiner  zoologischen  Bibliographie 
auch  nur  erwähnt,  oder  in  einem  der  bekannteren 
Referierorgane  besprochen. 

Linne  hielt  vor  der  Universität  Uppsala  von 
1744 — 1777  etwa  20  Vorlesungen  über  Natur- 
geschichte, die  zu  Beginn  des  Werkes  angeführt 
werden.  Drei  davon  behandelten  in  den  Jahren 
1748 — 52  das  Tierreich.  Sie  wurden  offenbar 
von  seinen  Schülern  eifrig  nachgeschrieben.  41 
solcher  Kolleghefte  aus  den  Jahren  1746—71 
liegen  in  den  Bibliotheken  zu  Uppsala  usw.  Frl. 
Greta  Ekelöf  hat  sie  zu  vorliegendem  Werke 
zusammengestellt,  E.  Lönnberg  sie  bearbeitet, 
unter  möglichster  Anlehnung   an  die  Originale. 

Das  Ganze  ist  sozusagen  ein  Lehrbuch  der 
damals  bekannten  Tierkunde,  in  dem  nach  einer 
allgemeinen  Einleitung  („Prolegomena")  die  Grup- 
pen des  Tierreiches  in  absteigender  Reihe  be- 
handelt werden,  bis  auf  die  Arten  herunter. 
Selbstverständlich  ist  von  binärer  Nomenklatur 
noch  keine  Rede ;  die  Arten  werden,  außer  durch 
ihre  schwedischen  und  lateinischen  Vulgärnamen, 
durch  kurze  lateinische  Definitionen ,  wie  damals 
üblich ,  bezeichnet ,  z.  B. :  „Felis  cauda  elongata, 
auribus  aequalibus.  Catus.  Katta".  Ebenso  selbst- 
verständlich steht  die  Systematik  noch  nicht  auf 
der  Höhe   der  10.  Auflage   des  Systema  Naturae. 


Die  Fische  z.  B.  sind  nach  Artedi  angeordnet, 
beginnend  mit  der  Seekuh,  genus  Trichechus,  sp. 
Manatus,  der  die  wichtigsten  Wale  und  Delphine 
folgen;  dann  erst  kommen  die  heutigen  Fische. 
Unsere  heutigen  Ordnungen  heißen  Classes  (im 
ganzen  6);  dann  kommen  die  Ordines,  z.T.  heu- 
tige Ordnungen,  z.  T.  Familien,  dann  die  genera 
(238),  schließlich  die  Arten.  Die  Klasse  der 
Quadrupedia  umfaßt  6  Ordines,  34  gg.  und  ist 
auf  81  Seiten  behandelt.  Nach  Li nn escher  Auf- 
fassung beginnt  sie  mit  der  Ordo  Anthropomorpha, 
mit  den  genera  Homo,  Simia,  Bradypus.  Die 
Vögel  werden  in  6  Ordines  und  35  gg.  auf 
68  Seiten  behandelt,  die  Amphibia  (heutige  Rep- 
tilien und  Amphibien)  in  10  gg.  auf  18  S., 
die  Pisces  (siehe  oben)  in  53  gg.  auf  42  S.,  die 
Insecta  (heutige  Arthropoden)  in  60  gg.  und 
927  Species  auf  75  S.,  die  Vermes  (die  übrigen 
damals  bekannten  Wirbellosen)  mit  den  Ordines 
Replilia,  Zoo-  und  Litophyta  in  31  gg.  auf 
75  S.  Besonders  den  größeren  Gruppen  werden 
ausführliche  geschichtliche,  anatomische  und  bio- 
logische Übersichten  vorausgeschickt;  nach  den- 
selben Gesichtspunkten,  besonders  aber  auch  nach 
ihrer  medizinischen,  z.  T.  auch  nach  der  ökono- 
mischen Bedeutung,  sind  die  Arten  behandelt. 

So  sind  Linnes  Vorlesungen  eine  reiche 
Fundgrube  nicht  nur  für  den  Kulturhistoriker  und 
den  historisch  interessierten  Zoologen,  sondern 
für  letzteren  schlechthin;  denn  die  Bedeutung 
Linnes  als  Naturforscher  gibt  seinen  Ausführun- 
gen besonderen  Nachdruck. 

Den  vollen  Wert  erhält  das  Werk  aber  erst 
durch  die  ausführlichen,  216  S.  umfassenden  An- 
merkungen Lönnbergs,  die  in  erster  Linie  na- 
türlich   die  191 3    gültigen    Namen    sonst   schwer 


352 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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erkennbarer  oder  zweifelhaft  bleibender  Arten 
geben,  aber  auch  sonst  die  Verbindung  der 
Linneschen  Angaben  mit  der  Jetztzeit  herstellen 
und  wertvolle  oder  wichtige  Erläuterungen  zu 
seinen  Ausführungen  enthalten.  Bei  den  Insekten 
erfreute  sich  der  Herausgeber  dabei  der  Mitarbeit 
von  Aurivillius,  Tullgren   und  Trägärdh. 

Den  Schluß  bilden  auf  27  Seiten  IVlitteilungen 
über  die  in  den  Vorlesungen  genannten  Personen 
(120),  eine  Arbeit,  für  die  viele  Biologen  dem 
Herausgeber  besonderen  Dank  wissen  werden. 

Es  wäre  zu  wünschen,  wenn  durch  diesen 
Hinweis  das  interessante  und  wertvolle  Werk  der 
Unbeachtetheit  entrissen  würde,  in  die  es  ganz 
unverdienterweise  geraten  ist.  Reh. 


Auerbach,  F.,  Raum  und  Zeit,  Materie 
und  Energie,  eine  Einführung  in  die 
Relativitätstheorie.  134S.  m.  30  Textabb. 
Leipzig  i92i,Dürrsche Buchhandlung.  Geh.  14M. 
Felix  Auerbach  hat  bereits  durch  eine 
Reihe  volkstümlicher  Darstellungen  physikalischer 
Wissensgebiete  gezeigt,  daß  er  es  vortrefflich  ver- 
steht, wissenschaftliche  Probleme  in  einer  Weise 
zu  behandeln,  die  der  Voraussetzung  der  Allge- 
meinverständlichkeit ebenso  wie  der  vollen,  auch 
den  Kenner  befriedigenden  Strenge  zu  genügen  ver- 
mag. Auch  die  schwierige  Aufgabe,  die  er  sich 
mit  der  vorliegenden  Betrachtung  der  Relativitäts- 
theorie gestellt  hat ,  ist  in  dieser  Hinsicht  als 
meisterhaft  gelöst  zu  bezeichnen.  In  anspruchs- 
losem Unterhaltungston,  nur  naturwissenschaft- 
liches Anschauungs-  und  logisches  Denkvermögen 
voraussetzend,  durchweg  bezugnehmend  auf  ein- 
fache konkrete  Beispiele  des  täglichen  Lebens, 
führt  er  den  Leser  von  der  klassischen  zur  speziellen 
und  schließlich  zur  allgemeinen  Relativitätstheorie, 
deren  voller  Gedankeninhalt  ihm  nahe  gebracht 
wird ,  ohne  daß  er  sich  recht  eigentlich  der 
Schwierigkeiten  bewußt  wird,  die  in  ihr  liegen. 
Vielleicht  ebnet  hier  der  Verf.,  der  selbst  ganz 
auf  dem  Boden  der  Einstein  sehen  Theorie  steht, 
den  Weg  sogar  allzusehr.  Sofern  er  aber  alle 
Gesichtspunkte,  welche  die  Entwicklung  der 
Theorie  geleitet  haben,  mit  voller  Klarheit  her- 
vorhebt, wird  die  Möglichkeit  der  Kritik  für  den 
aufmerksamen  Leser  nicht  ausgeschaltet. 

Ref  steht  nicht  an,  diese  Schrift  als  die  beste 
ihm  bekannte  wirklich  volkstümliche  Darstellung 
des  vollen  Uinfangs  der  Relativitätstheorie  zu  be- 
zeichnen, deren  besondere  Vorzüge  in  der  mög- 
lichsten Vermeidung  abstrakter  Betrachtungen  und 
der  fortlaufenden  Bezugnahme  auf  konkrete,  dem 
Verständnis    ohne  weiteres  zugängliche,    anschau- 


liche Beispiele  liegen.  Sie  erreicht  damit  zweifel- 
los, daß  jeder  Leser  am  Schluß  mit  Befriedigung 
feststellen  kann,  daß  er  von  der  Relativitätstheorie 
jedenfalls  gründlich  erfahren  hat,  „um  was  es  sich 
handelt".  A.  Becker. 

Paehler,  Fr.,  Die  Auskunft.  Heft  III.  Physik. 
91  S.  Heidelberg,  W.  Ehrig. 
Das  vorliegende  Heft  bildet  den  die  Physik 
betreffenden  1  eil  einer  vom  Verf.  herausgegebenen 
,, Sammlung  lexikalisch  geordneter  Nachschlage- 
büchlein über  alle  Zweige  von  Wissenschaft,  Kunst 
und  Technik",  die  dem  bildungsbedürftigen  Laien 
schnell  und  kurz  Auskunft  geben  wollen  über  alle 
wichtigeren  in  das  betreffende  Gebiet  einschlagen- 
den Fragen,  die  etwa  bei  der  Lektüre  oder  bei 
Vorträgen  auftreten  könnten.  Das  physikalische 
Wörterbuch  kann  in  dieser  Hinsicht  als  gut  ge- 
eignet bezeichnet  werden.  Die  Auswahl  der 
Stichwörter  ist  gut  getroffen,  und  ihre  Definition 
erscheint  klar  und  einwandfrei;  ganz  besonderer 
Wert  ist  auf  biographische  Angaben  gelegt  worden. 
Natürlich  vermag  eine  solche  kurze  Zusammen- 
stellung nur  beschränkten  Ansprüchen  zu  genügen. 

A.  Becker. 

Kayser,  H. ,  Lehrbuch  der  Physik  für 
Studierende.  Sechste  verbesserte  Auflage. 
562  S.  mit  349  in  den  Text  gedruckten  Ab- 
bildungen. Stuttgart  192 1,  F.  Enke. 
Daß  das  erstmalig  im  Jahre  1890  erschienene 
Kays  er  sehe  Lehrbuch  in  seiner  im  wesentlichen 
ursprünglichen  Bearbeitung  auch  heute  noch  sich 
der  Wertschätzung  der  Studierenden  erfreuen  darf, 
verdankt  es  zweifellos  der  großen  Übersichtlich- 
keit und  Klarheit,  mit  der  es  die  elementaren 
Grundlagen  der  Experimentalphysik  in  einem 
Umfang  behandelt,  wie  er  etwa  dem  Bedürfnis 
derjenigen  entspricht,  die  Physik  als  Nebenfach 
haben.  Diesem  Leserkreis  werden  auch  die  in 
jeder  Neuauflage  dem  jeweiligen  P^ortschritt  der 
F"orschung  folgenden  kurzen  Ergänzungen  und 
Verbesserungen  im  allgemeinen  genügen,  wenn 
auch  der  Fortgeschrittenere  an  manchen  Stellen 
eine  gründlichere  Berücksichtigung  der  neueren 
physikalischen  Kenntnis  wünschen  möchte.  Die 
vorliegende  Auflage  erwähnt  zum  erstenmal  die 
Relativitätstheorie  und  die  Quantentheorie.  Die 
erstere  wird  im  Anschluß  an  die  Betrachtung  des 
Stoßes  auf  etwa  2  Seiten  besprochen,  die  letztere 
bei  der  Behandlung  der  Strahlungstheorie  kurz 
angedeutet.  Die  Darstellung  der  Gitterbeugung 
gibt  schließlich  Gelegenheit,  auf  die  Laue  sehe 
Entdeckung  der  Beugung  der  Hochfrequenzwellen 
hinzuweisen.  A.  Becker. 


IlihMit:  H.  Kischer,  Bemerkungen  über  Standorte  und  Verbreitung  der  deutschen  Farnkräuter.  S.  337.  M.  Wolff, 
i'ber  die  neuen  Zeißschen  Mikroskop-Objektire  und  Okulare.  S  346.  —  Einzelberichte:  Der  Karbensinn  der  Biene. 
S.  349.  A.  I.ipschütz,  K.  Bormann  und  K.  Wagner,  Zur  Bedeutung  der  Keimdrüsenzwischenzellen.  S.  350.  — 
Bücberbesprecbungen:  Linne,  Forclasningar  öfer  Dyrrikel.  S.  351.  F.  Auerbach,  Raum  und  Zeit,  Materie  und 
Energie,  eine  iMnführung  in  die  Relativitätstheorie.  S.  352.  Kr.  Paehler,  Die  .Auskunft.  S.  352.  H.  Kayser,  Lehr- 
buch  der  l'hysik  für  Studierende.  S.   352. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.   Dr.   11.   Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von   Gustav   Kischer   in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
T  ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  25.  Juni  1922. 


Nummer  26. 


Der  österreichische  Anteil  am  Böhmischen  Massiv.') 

(Oberösterreichisches  Mühlviertel  und  niederösterreichisches  Waldviertel.) 
,rbocen.i  Von  OskaF  Kcudc. 


[Nachdruck  verbocen.] 

I.  Das  oberösterreichische  Mühlviertel  (im 
ganzen  das  Bundesland  Oberösterreich  nördlich 
der  Donau)  und  das  niederösterreichische  Wald- 
viertel (im  ganzen  das  durch  Donau  und  Man- 
hartsberg  begrenzte  nordwestliche  „Viertel"  des 
Bundeslandes  Niederösterreich)  sind  Stücke  des 
Böhmischen  Massivs.  Böhmerwald  (und  Bayrischer 
Wald)  wie  innerböhmische  Rumpffiäche  gehen 
ohne  jede  geographische  Grenze  von  tschecho- 
slowakischem auf  österreichischen  Boden  über. 
Vielleicht  ist  das  westliche  Mühlviertel  bis  zur 
meridionalen  Senke  der  Feidaist  -)  (den  Oberlauf 
hat  sie  vom  Stegmühlbache  angezapft:  3;  166) 
mit  dem  deutlich  nordwest-südöstlichen  (harzyni- 
scher)  Streichen  seiner  Hauptrücken  enger  mit 
der  Entwicklung  von  Böhmer-  und  Bayrischem 
Wald  verknüpft  (i ;  12  ff.),  das  übrige  östliche  Land 
aber  mit  den  Schicksalen  der  innerböhmischen 
Rumpffläche  (2 ;  242  f.) :  was  bedeuten  würde,  daß 
die  Grundzüge  des  Reliefs  beider  Gebiete  ver- 
schiedenartig und  möglicherweise  im  Böhmer- 
waldanteil stärker  durch  Brüche  bestimmt  wären. 
Sokol  (9  und  10)  hält  die  (über  einer  Rumpf- 
fläche sich  erhebenden)  Gipfel  und  Rücken  des 
Böhmerwaldes  für  das  Abtragungsergebnis  eines 
ältesten  ersten  Zyklus,  die  innerböhmische  Rumpf- 
fläche dagegen  für  das  Endstadium  eines,  durch 
eine  Hebung  unbekannten  Alters  eingeleiteten 
zweiten  Zyklus,^)  der  im  Gebiete  des  Böhmer- 
waldes zwar  die  erste  Fastebene  neuerlich  zer- 
talte,  die  »Zwischental formen«  und  damit  die 
Böhmerwaldhöhen  als  Reste  eines  ersten  Zyklus 
stehen  ließ,  beziehungsweise  bloß  um  einige  Meter 
erniedrigte.  Zur  Kreidezeit  hätte  der  Böhmer- 
wald also  schon  als  ziemlich  hohes,  dem  heutigen 
ähnliches  Gebirge  aufgeragt.  Die  tertiären  (mio- 
zänen)  Krustenbewegungen  mit  erneuerter  Hebung 
aber  führen  einen  dritten  Zyklus  herauf,  bei  dem 
die  Arbeit  der  fließenden  Gewässer  im  bereits 
»reifen«  Böhmerwald  „an  die  durch  den  vor- 
handenen und  unterbrochenen  Zyklus  erzeugten 
Vorbedingungen  gebunden"  ist  (10  a;  294).'')  Die 
heutigen  Formen  des  westlichen  Mühlviertels 
wären  also  mit  dem  dreizyklischen,  das  übrige 
Gebiet  mit  seinem  zweizyklischen  Vorland  in  Zu- 
sammenhang zu  bringen.  Puffer  (3;  169 f.)  läßt 
dagegen  Böhmerwald  und  innerböhmische  Rumpf- 
fläche gemeinsam  als  Reste  eines  (postkarbonischen 
und  präkretazischen)  Rumpfes  von  einer  ober- 
miozänen  Aufwölbung  und  Zerbrechung  betroffen 
werden  und  sieht  in  der  jüngeren  Oberfläche  des 
Böhmerwaldes      (Senkenlandschaften       zwischen 


Rücken  und  Quellgebiet  der  Flüsse:  Fernlinge :^ 
Restberge)  gegenüber  der  alten  der  innerböhmi- 
schen Rumpffläche  (die  frühere  Fastebene  mit 
einzelnen  höheren  Kuppen  widerstandsfähigeren 
Gesteins:  Härtlinge  ^  Monadnocks)  nur  die  Folge 
einer  ungleich  stärkeren  Verwerfung.^)  Nach 
dieser  Anschauung  wären  zur  Erklärung  der 
heutigen  Formen  des  westlichen  Mühlviertels, 
z.  B.  auch  mancher  Talprobleme  (8;  426)  in 
größerem  Ausmaße  die  Wirkung  von  Brüchen 
heranzuziehen,  die  für  die  übrigen  Teile  als  Ganzes 
neben  bloßen  Verbiegungen  keine  so  wesentliche 
Rolle  spielen.  Grund  (4;  180 f.)  ist  freilich  für 
das  Waldviertel  zu  genaueren  Schlüssen  ge- 
kommen. Er  unterscheidet  zwei  jüngere  Störungs- 
phasen, welche  die  alte  Rumpffläche  betrafen. 
Während  der  ersten,  die  im  Prä-Miozän  begann, 
entstand  u.  a.  das  Einbruchsbecken  von  Hörn, 
wurde  „die  Rumpffläche  am  Ostrande  in  der 
F"lexur  emporgewölbt  und  durch  Erosion  zertalt"; 
im  Westen  lag  damals  die  den  Störungen  ange- 
paßte neue  Hydrographie  in  der  Höhe  der  Rumpf- 
fläche, im  Osten  hielt  sie  sich  an  bereits  be- 
stehende, in  die  Rumpffläche  eingeschnittene 
Täler.  Dieser  Teil  geriet  durch  eine  diese  Störungs- 
phase abschließende  miozäne  Senkung  unter  den, 
in  rund  490  bis  500  m  Höhe  liegenden  Spiegel 
des  (ersten)  Mediterranmeeres,  das  in  die  Täler 
und  in  die  übrigen  Hohlformen  des  Randgebietes 
eindrang  und  seine  Höhen  auf  Koslen  der  Rumpf- 
fläche in  eine  Abrasionsebene  verwandelte.  Eine 
zweite  (postmiozäne)  Störungsphase  brachte  eine 
neuerliche,     wiederum     ungleichmäßige     Hebung 


•)  Die  wichtigste  Literatur  ist  am  Ende  des  Aufsatzes 
zusammengestellt;  wo  im  Text  Literaturbelege  gegeben  sind, 
weist,  in  Klammern  gesetzt,  eine  erste  Ziffer  auf  die  ent- 
sprechende des  Literaturverzeichnisses,  eine  zweite  auf  die 
Seitenzahl  der  betreffenden  Arbeit  hin. 

■-)  Sie  verläuft  westlich  von  dem  bekannten,  zur  Maltsch 
hinabführenden  Kerschbaumer  Sattel  (707  m)  etwa  über  den 
Markt  Oberhaid  zum  Moldauknie  {l ;  15).  Puffer  (3;  166) 
denkt  hier  an  eine  wirkliche  tektonische  Senke. 

')  Skizze  bei   loa;   293. 

*)  Die  Veränderungen  des  Böhmerwaldes  seit  der  Kreide- 
zeit bestehen  für  Sokol  im  wesentlichen  eben  bloß  in  einer 
tertiären  Erosionsbeiebung,  die  einige  kafionartige  Talstrecken 
schuf.  O.Lehmann  (8;  424  ff.)  hat  sich  gegen  die  Sokol- 
schen  Annahmen  (daß  der  Böhmerwald  auch  im  Tertiär  noch 
ein  ansehnliches  Erosionsgebirge  gewesen  ist,  die  Entwicklung 
von  Engen  und  Weitungen  der  Täler  auf  eine  schräge  Hebung 
des  Landes  mit  südlichem  Anstieg  zurückzuführen  sei)  ge- 
wendet und  ist  zugunsten  der  (Puffer sehen)  Schollentheorie 
als  Arbeilshypothese  eingetreten. 

")  Es  sei  hier  nochmals  betont,  daß  Sokol  (loa)  die 
Schollenhypothese  Puffers  für  den  Böhmerwald  ablehnt. 


354 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


einzelner  Teile  (im  Osten  größer  als  im  Westen), 
wodurch  auch  die  folgende  Zertalung  verschieden 
intensiv  gestaltet  wurde.') 

2.  Landschaftlich  ergibt  sich  für  den  ganzen 
Anteil  Österreichs  am  Böhmischen  Massiv  ein  ge- 
wisser einheitlicher  Charakter.  Überall  kann  man 
von  einer  eigentümlichen,  oft  schwermütig  stim- 
menden IVIonotonie  der  sanft  geschwungenen 
Höhen  sprechen,  die  in  auffallendem  Gegensatz 
steht  zur  Enge  zahlreicher  Talstrecken,  die  be- 
sonders bei  den  donauwärts  gerichteten  Flüssen 
sich  immer  wieder  findet.-)  Auch  die  tiefe  (7  bis 
8  m  abwärts)  reichende  Verwitterungsschichte 
hat  durch  Begünstigung  von  Rutschungen  und 
Gekriech  mit  ihren  die  schroffen  Unebenheiten 
mildernden  Wirkungen  zur  Verstärkung  des 
Plateaucharakters  beigetragen ;  um  so  schärfer  der 
Gegensatz,  der  sich  zwischen  den  dichter  be- 
siedelten, stellenweise  ziemlich  intensiven  Land- 
bau treibenden  Höhen  und  den  kaum  bevölkerten, 
auf  den  steilen  Gehängen  ein  schweres  Waldkleid 
tragenden  Tälern  auftut  (i  a;  106).  Eine  kleine 
Änderung  des  landschaftlichen  Ausdrucks  bringt 
höchstens  die  Gesteinsverschiedenheit  beiderseits 
einer  Linie  mit  sich,  die  von  der  nördlichen  nieder- 
österreichischen   Landesgrenze    am    Hohen    Stein 


')  Durch  eine  breite ,  bald  abradierte  Pforte  flutete  das 
Mediterranmeer  z.  B.  zwischen  Pernegger  Wald  und  Man- 
hartsberg  über  Eggenburg  ins  (prämiozäne)  Horner  Becken 
hinein  (Hörn  liegt  rund  309  m  hoch)  und  erfüllte  es  mit 
den  Produkten  seiner  zerstörenden  Tätigkeit;  die  verwickelte 
Geschichte  des  erst  nach  dem  Miozän  wieder  ausgeräumten 
Horner  Beckens  angedeutet  bei  Grund  (4;   177  f.). 

^)  „Diese  Schluchten  sind  oft  so  schmal,  daß  man,  auf 
der  Höhe  der  Plateauwelle  stehend,  über  sie  hinwegsehen 
kann,  ohne  ihrer  gewahr  zu  werden"  (i;  15).  Und  ähnliche 
Beobachtungen  finden  sich  bei  M.  Michl  (5;  220  f.),  die 
einerseits  die  starke  Zertalung  des  südseitigen  .Abfalles  (zur 
Donau)  hervorhebt,  andererseits  als  besonders  eindrucksvoll 
nach  dem  steilen  Aufstieg  die  Wanderung  über  das  850 — 
900  m  hohe,  flachwellige,  fast  gar  nicht  gegliederte  Hochland 
schildert;  ,,die  weite  Fläche,  die  sich  mit  einer  kaum  merk- 
lichen Wellenlinie  gegen  den  Horizont  abgrenzt,  unterbrach 
nur  hier  und  da  die  Silhouette  eines  spitzen  Kirchturms  oder 
einer  etwas  höher  ansteigenden  Bodenschwelle".  Oder, 
wiederum  übereinstimmend,  die  Charakteristik  bei  Mayer 
(6;  12),  der  erwähnt,  wie  die  langgestreckten,  in  ihren  For- 
men oft  einander  gleichenden  Höhen,  von  der  Entfernung  be- 
trachtet, eintönig,  langweilig  wirken;  „zwischen  den  Höhen 
aber  entspringen  in  der  Nähe  der  flachen  Sättel  in  sumpfigen 
Mulden  und  nassen  Wiesen  die  Bäche,  die  sich  nach  kurzem 
Laufe  tiefe,  viel  gewundene  und  oft  schwer  passierbare  Rinn- 
sale graben ,  häufig  eher  als  Schluchten ,  denn  als  Täler  zu 
bezeichnen;  da  eilt  das  braune  Wasser  über  mächtige  Blöcke 
dahin,  hier  und  da  einer  Mühle,  einer  Säge,  einem  Hammer 
eine  wegen  der  sommerlichen  Trockenheit  unsichere  Wasser- 
kraft bietend  .  .  .  die  Einsamkeit  trägt  dazu  bei,  den  schwer- 
mütig schönen  Anblick  dieser  Talgründe  zu  einem  unvergeß- 
lichen zu  machen."  Leicht  ist  es ,  von  irgendwo  die  Hoch- 
fläche, die  durch  die  100  bis  200  m  die  Umgebung  über- 
ragenden Höhenzüge  an  vielen  Punkten  gewellt  erscheint,  zu 
überschauen;  man  sieht  da,  und  Mayer  zitiert  hier  Franz 
Ed.  Sueß,  „in  der  Kegel  weithin  zerstreute  Kirchtürme  und 
weiße  Mauerwände  entfernter  Ortschaften  oder  Meierhofe,  da- 
zwischen Ackerland ,  auf  dem  Kartofi"eln  oder  Korn  gebaut 
werden,  und  allzu  regelmäßig  umgrenzte  dunkle  Flecken  von 
Waldbestand.  Lange  Baumreihen  bezeichnen  die  Straßen,  die 
gezwungen  sind,  die  engen  Täler  zu  vermeiden  und  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  ganz  beträchtlich  auf-  und  nieder- 
steigend,   die  Ortschaften    und  Höfe    miteinander    verbinden." 


(680  m)  in  leichter  südsüdwestlicher  Biegung  über 
Zwettl  zur  oberösterreichischen  Landesgrenze  am 
linken  Donauufer  zieht.*)  A.  Grund  (4;  167) 
hat  diesen  Wechsel  östlich  von  Gmünd  (an  der 
Franz  Josefsbahnstrecke)  so  geschildert:  „In  ganz 
flachen  Geländewellen ,  die  mit  sanftem  Gefälle 
ineinander  übergehen,  wogt  die  Oberfläche  auf 
und  ab.  Sie  bekommt  im  Granit  noch  ihr  be- 
sonderes Gepräge  durch  die  herausgewitterten 
Blöcke,  die  auf  den  Hügeln  herumliegen.-)  Große, 
geschlossene  Wälder  mit  zahlreichen  Teichen,  in 
deren  dunklem  moorigen  Wasser  der  ernste  Nadel- 
wald sich  düster  spiegelt,  bezeichnen  den  wenig 
fruchtbaren  Granitboden."  Sobald  man  aber  (bei 
Vitis)  den  Gneisboden  betritt,  bekommt  die  Wald- 
bedeckung größere  Lücken  durch  Feld-  und  Wiesen- 
flächen und  hört  vor  allem  die  Blockbestreuung 
der  Hügelwellen  auf;  „aber  sonst  bleibt  auch  hier 
der  Charakter  der  sanftwelligen  Fastebene  ge- 
wahrt, in  den  flachen  Mulden  nehmen  die  Ge- 
wässer als  Abflüsse  mooriger  Wiesen  ihren  Ur- 
sprung, soweit  nicht  die  Mulden  zu  seichten  Teich- 
flächen gestaut  sind".^)  Die  Entstehung  der,  oft 
kanonartigen  Engstrecken  der  Täler,  von  denen 
wir  vorhin  wegen  ihres  landschaftlichen  Gegen- 
satzes zu  den  Höhen  sprachen,  ist  durchaus  noch 
nicht  widerspruchslos  klargestellt.  Puffer  hat 
neben  epigenetischer  Bildung  für  die  Engen  viel- 
fach antezedente  Erosion  in  die  aufsteigenden 
Schollen  und  Schollenteile  (für  die  Weitungen  das 
Vorhandensein  von  Senken)  angenommen  (8;  417). 
Lehmann,  der  ein  zu  häufiges  Heranziehen 
epigenetischer  Talentstehung  in  unseren  Gebieten 
zurückweist,  will  Engen  (und  Weitungen)  durch 
Schollenbildung  allein  erklären  können,  nach 
Sokol  (loa;  290 f.)  nehmen  sie  doch  (gegen 
Lehmann)  von  einer  schrägen  Hebung  des 
Landes  mit  südlichem  Anstieg  (ohne  Schollen- 
bildung)    ihren    Ausgang.*)       Und     ähnlich     hat 


')  Auf  den  Granitblock  östlich  von  Zwettl  zwischen  Kamp 
und  Thaya  genügt  es  an  dieser  Stelle  hinzuweisen  ;  auch  öst- 
lich von   Eggenburg  ragt  noch  einmal   Granit  auf. 

'')  Die  ,, matratzenartig  übereinander  getürmten"  Felsblöcke 
erwähnt  auch  Hackel  (I  ;  17)  als  typisches  Kennzeichen 
nicht  bloß  des  Böhmerwaldes  (auf  oberösterreichischem  Boden; 
Hochfichtel,  Sternstein),  sondern  auch  der  höher  gelegenen 
Teile  des  Mühlviertels  (Greinerwald).  Diese  Erscheinung  der 
Block-  oder  Felsenmeere  findet  sich  in  den  meisten  deutschen 
Mittelgebirgen.  Das  in  die  Klüfte  des  Urgesteins  eindringende 
Regenwasser  läßt  die  Grenzflächen  schneller  verwittern ;  die 
hierbei  zwischen  den  Fugen  gebildeten  lockeren  Massen  aber 
werden  durch  Abspülung  und  Auswaschung  entfernt,  so  daß 
ein  Trümmergewirr  übrig  bleibt. 

')  An  die  allmählich  vertorfenden  Hochmoore  auf  den 
Höhen  der  Plateauwcllen,  die  sich  über  einem  tonig  und 
wasserundurchlässig  gewordenen  Verwitterungslehm  bilden, 
erinnert  auch   Hackel  (i  ;    16). 

*)  „Das  Vorhandensein  von  breiten,  reifen  und  engen, 
jungen  Tälern  in  einem  und  demselben  Gebirge  kann  man 
durch  eine  vertikale  und  zugleich  horizontale  Veränderung  der 
Erosionsbasis  erklären.  Es  muß  dann  ein  neuer  Zyklus  mit 
engen.  V-förmigen  Tälern  anfangen.  In  denselben  Zyklus 
werden  die  breiten,  aus  dem  reifen  Stadium  des  vorangehen- 
den Zyklus  hervorgegangenen  Täler  als  «frühreif«  übernommen. 
Infolge  der  seitlichen  Verschiebung  der  Erosionsbasis  können 
sich  diese  frühreifen  Täler  nicht  merklich  vertiefen"  (9 ;  445). 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


3SS 


M.  Brust  die  Engen  der  Donaunebenflüsse  west- 
lich von  Linz  als  jugendliche  Talbildung  infolge 
einer  (gegenüber  dem  westlichen  Teil  stärkeren) 
Hebung  aufgefaßt  und  auch  die  unfertigen  Ge- 
fällsverhältnisse dieser  Flüsse  (Stufenmündungen, 
Gefällsknicke  im  Unterlaufe),  die  der  Tiefenerosion 
der  Donau  noch  nicht  nachgekommen  wären,  zu- 
gunsten seiner  Annahme  angeführt. 

3.  Das  Böhmische  Massiv  betritt  im  Westen 
als  Passauer  Wald  österreichischen  Boden; 
dieses  im  Ameisberg  (940  m)  gipfelnde  Stück  des 
Bayrischen  Waldes ,  das  hier  nicht  „als  Rücken- 
zug, sondern  als  Plateauwelle"  (i ;  13)  auftritt, 
erstreckt  sich  südwärts  als  Sauwald  (876  m)  über 
die  Donau  hinaus,  im  Osten  reicht  es  bis  zu 
einem  dreieckförmigen,  wohl  tektonisch  bedingten 
Streifen  niedrigen  Landes,  der  im  Westen  von 
der    Kleinen,    im    Osten    von    der    Großen    Mühl 

'  durchmessen  wird  und  dessen  Nordende  etwa  bei 
dem  Orte  Rohrbach  liegt.  In  den  Nordwestteil 
Oberösterreichs  sendet  auch  der  Böhmerwald 
noch  seine  Ausläufer  hinein;  nahe  der  Grenze 
gegen  den  tschechoslowakischen  Staat  erhebt  sich 
der  Hochfichtel  (1337  m)  im  Zuge  des  Haupt- 
kammes, der  sich  dann  östlich  des  Sattels  von 
St.  Oswald-Aigen  (790  m)  in  mehrere,  auch  gegen 
Süden  sich  vorschiebende  und  nach  Osten  hin 
verflachende  Rücken  auflöst.  Solche  Rücken  sind 
jenseits  des  Aigner  Sattels  das  St.  Thomagebirge 
(1032m)  und  der  Stern  wald  (Sternstein  1125  m), 
im  Süden  eine  Anzahl  unter  dem  Namen  des 
Linzer  Waldes  zusammengefaßte  Züge ;  sie 
gipfeln  im  St.  Johannesberg  (850  m),  Oberneu- 
kirchen  (867  m),  Lichtenberg  (926  m),  Pöstling- 
berg  (537  m)  und,  jenseits  der  Donau,  im  Kirn- 
berg (525  m).  Die  Flüsse  hat  Puffer  im 
Böhmerwald  meist  für  konsequent,  an  seiner 
Peripherie  jedoch  größtenteils  für  antezedent  ge- 
halten (3;  169),  im  besonderen  den  Oberlauf  der 
Gr.  Mühl  und  die,  bei  Haslach  in  sie  mündende 
Helfernberger  Mühl  als  konsequente  Grabenflüsse, 
den  Unterlauf  der  Gr.  Mühl  als  antezedent  mit 
jugendlichem  Erosionstal  angesprochen,  den  Ober- 
lauf der  Gr.  Rotel  als  antezedent  (3;  166);  der 
Oberlauf  der  Gr.  Mühl  und  die  Helfernberger 
Mühl  liegen  also  nach  ihm  in  tektonischen  Furchen 
der  herzynischen  (nordwest-südöstlichen)  Richtung. 
Nach  M.  Brust  (la;  106)  kommt  in  den  meri- 
dionalen  Unterläufen  der  Mühlviertelflüsse  die  alte 
Landabdachung  gegen  das  Miozänmeer  hin  zum 
Ausdruck.  Noch  nicht  genannte  Flüsse  unseres 
Gebietes  sind  die  Kleine  Mühl  (westlich  von  der 
Großen),  die  Kleine  Rotel  (als  rechtsseitiger  Neben- 
fluß der  Großen),  der  >  Haselgraben  <;  nördlich  von 
Linz,  die  Gr.  Gusen  (die  im  südlichen  Ausgang 
des  Beckens  von  Gallneukirchen  links  die  Kl. 
Gusen  aufnimmt)  und  die  Feidaist;  die  ihr  von 
links  zuströmende  Waldaist  gehört  bereits  den 
ins  Gebiet  der  innerböhmischen  Rumpffläche 
weisenden  Teilen  an. 

4.  Die  mittlere  Höhe  unseres  Anteiles  an  der 
innerböhmischen    Rumpffläche    beträgt    zwischen 


400  und  600  m,  seine  Abdachung  ist  im  wesent- 
lichen nach  Süden  und  Osten  gerichtet.  Folgende 
Teile  führen  bekanntere  Namen.  Östlich  von  der 
Feldaister  Senke  erhebt  sich  der  P"reiwald  (die 
Gruppe  der  Tiergartenberge),  in  seinen  südlichen 
Ausläufern  Grein  er  Wald  geheißen,  der  die 
Maltsch  und  Lainsitz  nach  Norden  zur  Moldau, 
Waldaist  und  Kl.  Naarn  gegen  Süden,  Zwettl  und 
Gr.  Kamp  gegen  Osten  zur  Donau  entsendet;  er 
gipfelt  nahe  der  tschechoslowakischen  Grenze  im 
Viehberg  (im  m),  Tischberg  (1073  m),  Aichel- 
berg  (1041  m)  und  Ochsenberg  (1024  m).^)  Süd- 
östlich reiht  sich  der  Weinsbe  rger  Wald  (1039m) 
an,  der  nach  Südwesten  die  Gr.  Naarn,  den  Sar- 
mingbach  und  die  beiden  Isperbäche  gegen  Süden, 
den  Weitenbach  gegen  Südosten  und  den  Kl.  Kamp 
wie  die  Krems  gegen  Osten  zur  Donau  schickt.^) 
Ostlich  von  der  Gr.  Isper  gewinnt  der  gegen 
Südosten  zur  Platte  von  Maria  Taferl  absteigende 
Ostrong  im  Peilstein  1060m,  zwischen  Weiten- 
und  Spitzer  Bach  der  Jauerling  959  m.^)  Öst- 
lich des  Spitzer  Baches  gipfeln  die  Wachauer 
Höhen  in  Sandlberg  (722  m)  und  Kuhberg  (715  m), 
um  sich  jenseits  der  Krems  über  Gföhler  Wald 
(644  m)  und  über  den  Kamp  hinaus  gegen  Geras 
hin  allmählich  abzudachen.  Auch  östlich  und 
südlich  der  obersten  (deutschen)  Thaya  steigt  die 
Rumpffläche  des  Waldviertels  in  den  beiden  Zügen 
des  Wieninger  Berges  (Predigtstuhl)  zu  718  m 
und  des  Speisenberges  zu  667  m,  am  Massivrande 
südlich  von  Eggenburg  der  Manhartsberg  zu 
536  m  auf.  Während  Puffer  (2;  249 ff.)  diese 
Erhebungen  (auch  4;  170  und  176)  wie  die  Gruppe 
der  Tiergartenberge  als  Härtlinge  (Partien  wider- 
standsfähigsten Gesteins)  betrachtet,  faßte  er 
Greiner-  und  Weinsberger  Wald  mit  ihrem  über- 
wiegend nordsüdlichen  Streichen  als  Riedel  (höher 
gelegene  Zwischenstücke  zwischen  zwei  Tälern) 
auf,  die  durch  die  in  gleicher  Richtung  verlaufen- 
den Donaunebenflüsse  aus  einem  einst  westöstlich 
ziehenden,  infolge  der  tertiären  (Verwerfungen 
und)  Verbiegungen  gebildeten  Landblock  heraus- 
geschnitten wurden ;  und  eine  ähnliche  Entstehung 
durch  jüngere  Aufbiegung  schreibt  er  dem  oben 
erwähnten  Höhenzuge:  Sandlberg  und  Gföhler 
Wald  mit  der  Fortsetzung  bis  über  Geras  hinaus 
zu.  Für  eine  gegen  Norden  und  Süden  gestellte 
Muldenauf biegung  hält  Grund  (4;  167)  das  Ge- 
lände beiderseits  der  Linie  Gmünd-Vitis;  quer  zu 
dieser  Linie  verläuft  übrigens  heute  die  europäische 

')  Der  Tischberg  und  Aichelberg  auf  niederösterreichi- 
schem Boden  (jener  der  höchste  Berg  des  Waldviertels),  die 
beiden  anderen  Berge  in  Oberösterreich  gelegen. 

^)  Einige  Bemerkungen  über  den  Weinsberger  Wald,  über 
die  Isperklamm  und  das  Weitental  bei  M.  Michl  {5;  221  ff.). 
Genaueres  über  die  einzelnen  Teile  des  Waldviertels  in  der 
Landeskunde  von  Niederösterreich  (7;  138  ff.);  auch  Mayer 
gibt  einen  guten  Überblick  (6;   11  ff.). 

^)  Die  Bergrücken  an  der  Donau  machen  trotz  geringerer 
absoluter  Erhebung  infolge  der  tief  eingeschnittenen  Täler, 
aus  denen  sie  ansteigen,  durch  ihre  relativ  stärkeren  Höhen- 
unterschiede einen  großartigeren  Eindruck  als  die  absolut 
höheren  Züge  des  Weinsberger-  und  des  Freiwaldes,  die  ihre 
Umgebung  blofi   100  bis  200  m  überragen. 


556 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXl.  Nr.  26 


Wasserscheide  zwischen  Moldau  (durch  die  Elbe 
zur  Nordsee),  in  die  die  Lainsitz  mit  ihren  Seiten- 
gewässern fließt,  und  der  durch  die  March  zur 
Donau  (Schwarzes  Meer)  gehenden  Thaya.^)  Die 
östlichsten  Teile  des  Massivs  (östlich  der  500  m- 
Isohypse)  stellen  hingegen  die  Abrasionsebene  des 
brandenden  Mediterranmeeres  dar,  aus  dem  der 
Manhartsberg  als  Insel  herausgeragt  haben  muß; 
dieses  Mediterranmeer  ertränkte  die  in  einer  Flexur 
gegen  Osten  hinabtauchende  prämiozäne  Berg- 
und  Tallandschaft  des  östlichsten  Waldviertels,  so 
daß  heute  auch  vor  dem  geschlossenen  »Steilab- 
fall« des  Massivs  einige  Granitrücken  aus  dem  sie 
rings  umgebenden  Tertiär  auftauchen.-)  Die 
Täler  der  Waldviertler  Flüsse  sind  (nach  Puffer) 
fast  ausnahmslos  ■')  Erosionstäler  mit  deutlichen 
Anzeichen  epigenetischer  Bildung ;  wo  sie  von 
den  weicheren  jungtertiären  Aufschüttungen,  mit 
denen  aus  Nordwesten  kommende  Ströme  das 
Waldviertel  stark  überdeckten,  auf  das  schwerer 
angreifbare  Urgestein  übertraten,  mußten  sie  einen, 
an  Stromschnellen  oder  Wasserfällen  sich  auf- 
zeigenden Gefällsknick  erfahren ;  das  scharfe  Knie, 
mit  dem  z.  B.  Krems  und  Kamp  von  der  Ost- 
zur  Südrichtung  übergehen,  wird  auf  Anzapfung 
dieser  Flüsse  durch  die  Donau  zurückgeführt 
(2;  247  ff.  und  251  f.).  Doch  dürfte  die  Talge- 
schichte unseres  Gebietes  nicht  durchweg  so 
einfach  sein.  Grund  hat  Teile  des  sehr  eigen- 
artigen, mehrfach  die  Richtung  wechselnden 
Thayalaufes  untersucht  und  sich  bemüht,  die  ver- 
wickelte Entstehung  klarzulegen.  Die  beiden 
lehrreichsten  Ergebnisse  sind,  daß  im  oberen 
Thayagebiet  die  Hydrographie  dem  Zuge  der 
Monadnock-Rücken  angepaßt  sind  und  daß  das 
Tempo  der  (gegenwärtig  zu  Ende  gekommenen) 
Hebung  des  Massivs,  welche  die  Thaya  zum  Ein- 
schneiden zwang,  in  einzelnen  Teilen  gegen  den 
Ausgang  der  Hebung  hin  ein  schnelleres  wurde 
(von  unterhalb  Raabs  bis  Waydhofen  „wandert 
ein  Gefällsknick  im  Thayatal  aufwärts,  der  den 
Oberlauf  dieses  Flusses  noch  nicht  erreicht  hat": 
4;  169  ff.).  Und  eine  ähnlich  verwickelte  (und 
stellenweise  mit  der  Thaya  übereinstimmende) 
Geschichte  glaubt  Grund  auch  für  die  merk- 
würdige Hydrographie  des  Kamp  annehmen  zu 
müssen;  Epigenese  bzw.  prämiozäne  Anlage  des 
Tales  werden  herangezogen,  um  das  Vorbeifließen 
des  Kamps  am  Horner  Becken  durch  höheres 
Land    und    seinen   Durchbruch   zwischen   Horner 


'■)  Diese  Wasserscheide  ist  postmiozänen  Alters ;  im  Mio- 
zän (als  das  Wittingauer  Becken  hoch  zugeschüttet  war)  nahm 
wahrscheinlich  noch  die  Lainsitz  ihren  Lauf  über  sie  hinweg 
durch  das  Thayatal  nach  Osten  (4;   168  f.). 

^)  Z.  B.  der  Hochsteiner  Berg  (334  m)  bei  Pillersdorf, 
die  Granitkuppe  bei  Schrattenthal,  der  Kücken  vom  Keldberg 
(370  m)  bei  Groß  Kcipersdorf  bis  zum  Kalvarienberg  (414  ra) 
bei  Eggenburg  (4;   175  f.). 

')  Der  (auch  bereits  an  anderer  Stelle  erwähnte:  „Das 
Donautal  in  Osterreich",  in  dieser  Zeitschrift  1922,  S.  189  f.) 
Talzug,  dessen  westliches  Stück  der  obere  Weitenbach  benutzt, 
wäre  nach  Puffer  (2;  251)  ein  Graben;  ebenso  fließe  der 
TafTabach  in  einer  Senke. 


Wald  (rechts)  und  Buchberg  (links)  erklären  zu 
können. 

5.  Wie  die  Landschaft  so  zeigt  auch  das  Klima 
für  unser  ganzes  Gebiet  eine  gewisse  Einheitlich- 
keit. Beide  können,  zumal  in  den  höheren  Teilen 
als  verhältnismäßig  rauh  bezeichnet  werden.  Im 
Mühlviertel  bleibt  die  Temperatur  in  allen  Monaten 
durchschnittlich  um  0,5^0  hinter  dem  allgemeinen 
Mittel  des  ganzen  Landes  zurück  (Januar  — 3,7" 
gegenüber  — 3,3",  Juli  16,2"  gegenüber  16,6", 
Jahr  6,3"  gegenüber  6,8"  C)  und  das  Waldviertel 
unterschreitet  bis  zu  looo  m  Höhe  die  gleichen 
Lagen  der  niederösterreichischen  Alpen  im  Herbst 
um  0,5 '',  im  Winter  um  0,3"  C.  Die  mittlere 
Jahrestemperatur  nimmt  von  8,1"  im  oberöster- 
reichischen und  8,2"  im  niederösterreichischen 
Donautal  bei  200  m  bis  zu  4,5"  C  in  looo  m 
Höhe  ab;  überhaupt  unterscheiden  sich  die  mitt- 
leren Temperaturen  für  die  verschiedenen  Höhen- 
stufen im  Mühlviertel  höchstens  um  0,2"  von  jenen 
des  Waldviertels,  so  daß  „das  Waldviertel  mit 
Rücksicht  auf  die  Wärmeverhältnisse  als  die  natür- 
liche Fortsetzung  des  Mühlviertels  angesehen  wer- 
den" kann  (11  a;  91.  Vgl.  auch  die  folgende 
Tabelle).  Die  Niederschlagsmengen  sind  (im  Ver- 
hältnis zu  den  östlicheren  Landschaften)  nicht 
gering ;  sie  nehmen  im  ganzen  Gebiete  von  Westen 
nach  Osten  ab  (lOa;  97  u.  lOb;  27).  Die  Nieder- 
schlagsmengen des  Passauer  Waldes  (80 — 97  cm) 
steigern  sich  an  den  Südabhängen  des  Böhmer- 
waldes bis  über  100  cm,  gehen  dann  in  der 
niedrigeren  Senke  der  Aist  bis  unter  70  cm  herab 
und  erheben  sich  wieder  im  höheren  Grenzgebiet 
zwischen  Oberösterreich  und  Niederösterreich  auf 
80  bis  90  cm;  daran  schließt  sich  eine  schmale, 
nordsüdlich  (quer  über  obersten  Kamp  und  Weiten- 
bach) verlaufende  Zone  mit  70  bis  80  cm ;  bei- 
nahe der  ganze  übrige  Teil  des  Waldviertels  hat 
aber  55  bis  60  cm  Niederschlag,  also  geringere 
Mengen  als  irgend  ein  Teil  des  Mühlviertels,  das 
Becken  von  Hörn  bleibt  sogar  unter  50  cm.  Was 
die  Verteilung  des  Niederschlags  auf  die  einzelnen 
Monate  betrifft,  so  fallt  im  Mühlviertel  der  meiste 
Niederschlag  im  Juli,  der  wenigste  im  Januar, 
Februar  und  November;  im  Waldviertel  ist  der 
Juni  am  niederschlagsreichsten,  Februar  und  No- 
vember sind  am  niederschlagsärmsten,  dann  folgen 
Dezember  und  Januar. 

6.1)  Die  prähistorische  Besiedlung  unseres  Ge- 
bietes dürfte  sich  bloß  auf  seinen  Ostrand  (und 
das  Donautal)  beschränkt  haben,  die  keltischen 
Bojer  mögen  von  Norden  her  höchstens  in  einige 
Tiefenfurchen  wenig  zahlreich  vorgedrungen  sein. 
Germanische  Markomannen  und  Quaden,  die  sich 
von  Böhmen  und  Mähren  her  auch  über  unser 
ganzes  Gebiet  ausgebreitet  haben  werden,  sind 
seit  Christi  Geburt  längs  der  Donau  die  Nach- 
barn des  römischen  Imperiums;  zwischen  beiden 
ergeben  sich  in  diesen  als  Waldland  doch  ziem- 
lich abgeschlossenen  Gegenden   kriegerische   und 


•)  Hauptquellen  i ;  33  ff.  und   12;  5  ff. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


357 


Höhenstufe 

Winter 

Frühling 

Sommer 

Herbst          Januar 

Juli 

Jahr 

(   Mühlviertel 
400  m    < 

1   Waldviertel 

—2,3 
—2,1 

7.2 

7,1 

16,5 

16,5 

7.5 
7.7 

—3,3 
—3,1 

17,3 
17.3 

7.2 

7.3 

(   Mühlviertel 
600  m    < 

(   Waldviertel 

—2,9 

—2,8 

6,1 
6,0 

15,4 
15.4 

6,7 
6,8 

—3,7 
-3,6 

l6,2 

16,2 

6.3 
6,4 

r  Mühlviertel 
800  m    ^ 

\  Waldviertel 

-3.5 
—3.4 

4.9 
4,9 

14.3 
14.3 

5.9 
5,9 

—4.1 
—4.1 

I5.I 
15,' 

5.4 
5,4 

(  Mühlvierlel 
1000  m   ' 

1    Waldviertel 

—4,1 
—4.1 

3.8 
3,8 

13,0 
13.1 

5,1 
5,0 

-4,5 
—4,7 

14,1 
14,0 

4.5 
4.5 

Mittlere  Temperaturen  im  oberösterr.  Mühlviertel  und   niederösterr.  Waldviertel 
in  verschiedenen  Seehöhen  (in  C  "). 


friedliche  Beziehungen  von  wechselvollem  Inhalte. 
Auch  die  Völkerwanderungszeit  (die  Rugierherr- 
schaft)  läßt  unser  Waldland  überwiegend  unbe- 
rührt. Slawen  sind  seit  dem  Ende  des  6.  oder  An- 
fang des  7.  Jahrhunderts  von  Südosten  her  in  unser 
Gebiet  eingedrungen ,  den  fruchtbaren  Boden  an 
Waldrand  und  in  Senken  bevorzugend;  nur  der 
Westen  (westliches  Mühlviertel)  und  der  Norden 
bleiben  von  slawischen  Siedlungen  so  gut  wie  frei 
(Ortsnamen  bei  i;  34  f.  und  12 ;  88  ff.).  Die  spätere 
Karolingerzeit  ändert  hier  nicht  viel;  die  bayrische 
und  fränkische  Kolonisation  greift  nördlich  der 
Donau  über  einen  schmalen  Streifen  kaum  hinaus,^) 
das  (freilich  kurzlebige)  Großmährische  Reich  hat 
unsere  Landschaften  in  seine  Machtsphäre  einbe- 
zogen. So  hat  sich  auch  die  vom  8.  bis  10.  Jahr- 
hundert an  einsetzende  slawische  Besiedlung  aus 
dem  Norden  ungestört  vollziehen  können,  zu  Ende 
des  12.  Jahrhunderts  darf  das  böhmisch-niederöster- 
reichische Grenzgebiet  als  nicht  schlecht  be- 
siedeltes, freilich  auf  leichtere  Böden  beschränktes 
Slawenland  gelten;  Straßendörfer  sind  im  Wald- 
viertel die  typische  Dorfform  (12;  13  ff.  und  22). 
In  dieses  Slawenland,  dessen  Waldmassen  aller- 
dings völlig  ungerodet  und  unbesiedelt  bleiben, 
dringt,  nachdem  die  spärliche  deutsche  Koloni- 
sation seit  der  Wende  des  8.  zum  9.  Jahrhunderts 
durch  den  Magyarensturm  zu  Anfang  des  10.  Jahr- 
hunderts vernichtet  worden  war,  von  der  2.  Hälfte 
des  10.  Jahrhunderts,  außerhalb  des  engsten  Donau- 
tales wohl  erst  von  looo  an  (12;  27),  zunächst 
im  unmittelbaren  Anschluß  an  bestehende  Sied- 
lungen langsam  die  (anfangs  gewiß  ebenfalls  dünne) 
deutsche  Siedlungsschichte  ein,  im  Mühlviertel 
hauptsächlich  von  Süden,  im  Waldviertel  von 
Süden  und  Osten  her  (12 ;  26 f.).")     Zu  Ende  des 

')  Über  den  allgemeinen  Charakter  dieser  ersten  schwachen 
Karolingischen  Kolonisation  s.  12;  43 f.;  ihre  wesentliche  Be- 
deutung liegt  darin,  daß  sie  der  späteren  Kolonisation  die 
Wege  vorgezeichnet  hat. 

'■')  Weder  das  in  seiner  Expansionsrichtung  doch  wesent- 
lich gegen  Osten  orientierte  Böhmen  verwendete  besondere 
Energie  auf  die  Gewinnung  des  Waldviertels ,  ,,noch  gab  es 
hier  von  österreichischer  Seite  eine  Veranlassung  zu  einer 
Grenzkolonisation  in  gleichem  Maße  wie  gegen  Ungarn" 
(12;  53). 


II.  Jahrhunderts  ist  die  von  Passau  (durch  Ver- 
gebung an  Ministerialen)  ausgehende  Kolonisation 
des  westlichen  Mühlviertels  kaum  viel  über  die 
Donau  hinaus  fortgeschritten  (l;  38 f.),')  durch 
das  Donautal  selbst  ist  schon  im  10.  Jahrhundert 
hier  wie  im  Waldviertler  Anteil  (12;  23)  eine 
größere  Kolonisationswelle  hindurchgegangen;-) 
am  Ausgang  des  11.  Jahrhunderts  ist  im  Wald- 
viertel schon  ein  etwa  20  km  breiter  Streifen 
westlich  vom  Manhartsberg  in  den  fruchtbareren, 
klimatisch  begünstigteren Teilen  kolonisiert  (i2;  20 f. 
und  23  f.).^)  Um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
ist  man  im  Mühlviertel  meist  die  Müsse  aufwärts 
nach  Norden  bis  in  Höhen  von  ungefähr  700  m 
gekommen,*)  nördlich  einer  im  einzelnen  recht 
verschlungen  verlaufenden  Linie,  die  etwa  südlich 
von  Rohrbach  über  Oberneukirchen,  Zwettl  (an 
der  Gr.  Rotel),  Freistadt,  St.  Oswald,  Königs- 
wiesen (an  der  Gr.  Naarn)  zur  niederösterreichi- 
schen Grenze  zieht,  bleibt  über  zwei  Menschen- 
alter bis  ins  13.  Jahrhundert  hinein  der  große 
»Nordwaldi   ganz  unberührt  (i;  40 ff.  und  52ff.).*) 


')  Im  Westen  der  Gr.  Mühl  in  den  ehemals  unter  passau- 
ischer  Herrschaft  stehenden  Gebieten  herrschen  im  allgemei- 
nen als  Siedlungstypus  Weiler  und  kleine  Dörfer  (l;  57  f.), 
als  Hausform  das  Alpenhaus  (l;  68f.). 

^)  Für  diese  älteste,  vorzüglich  dem  zehnten  Jahrhundert 
angehörende,  deutsche  (sicher  an  die  slawische  anschließende) 
Besiedlung  ist  in  den  Donauebenen  des  Mühlviertels  (und  im 
Gallneukirchner  Becken  längs  Aist  und  Gusen)  die  Anlage 
geschlossener  Orte  (Haufendörfer)  charakteristisch  ;  es  sind  das 
die  ,, niedrig  gelegenen,  mit  fruchtbarem,  tertiärem  Boden  geseg- 
neten*' und  leicht  zugänglichen  Gebiete  (I ;  50)  Die  typische, 
doch  nicht  alleinige  Hausform  ist  hier  der  große  Vierkant 
(l;  67  ff.). 

^)  Den  Verlauf  der  Waldgrenze  im  Waldviertel  um  1100 
erhält  man  im  allgemeinen  als  Grenzlinie  der  Rodungs- Orts- 
namen (Endungen  -schlag  und  -reut);  sie  zieht  von  Drosen- 
dorf  südwärts  bis  Pernegg,  weicht  dem  Horner  Becken  und 
Gföhler  Wald  aus,  geht  erst  westlich  bis  Allentsteig,  dann  un- 
gefähr südwärts  bis  gegen  Raxendorf  bzw.  Mühldorf  im  Spitzer 
Graben,  endlich  westwärts  parallel  dem  Donaulauf  bis  zur 
oberösterreichischen  Grenze  (St.  Oswald).  ,,Aber  noch  im 
12.  Jahrhundert  steht  das  Waldviertel  der  übrigen  Ostmark 
einigermaßen  fremd  gegenüber"  (12;  2  1   u.  27). 

*)  Der  (sehr  weit  gegen  Süden  reichende)  Verlauf  der 
Nordwaldgrenze  im   12.  Jahrhundert  auf  Taf.  2  bei  Hack  el  (l). 

^)  In  den  während  der  zweiten  Besiedlungsperiode,  haupt- 
sächlich   also    im    II.    und     12.,    weniger  im   13.  Jahrhundert 


358 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Im  Waldviertel  hat  sich  die  Kolonisation  zwischen 
iioo  und  II 50  gegen  Westen  und  Norden  vor- 
geschoben; die  neue  Grenze  zieht  vom  Ispertale 
nach  Norden  gegen  IVIartinsberg,  zu  den  Quellen 
der  Gr.  Krems,  ihr  ein  Stück  folgend  und  dann 
genau  gegen  Norden  bis  Zwettl  und  von  da  weiter 
bis  gegen  Vitis  nahe  der  Thaya;  von  hier  wieder 
in  nordöstlicher  Richtung  nach  Weikertschlag  an 
der  tschechoslowakischen  Grenze  (12 ;  28).  So 
ist  im  Mühlviertel  dem  folgenden  Jahrhundert 
mehr  zu  tun  übrig  geblieben  als  im  Waldviertel. 
Erfolgte  hier  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des  12. 
Jahrhunderts  die  Kolonisierung  in  westnordwest- 
licher Richtung  gegen  Weitra,  bis  zur  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  dann  in  den  beiden  letzten  Ge- 
bieten nach  Norden  gegen  Litschau  und  nach 
Westsüdwesten  gegen  Gr.  Gerungs  hin  (i2;  28), 
so  ist  dort  die  Urbarmachung  des  ganzen  Nord- 
waldes bis  an  die  Moldau  und  Maltsch  ein  Werk 
erst  des  1 3.  Jahrhunderts,  worauf  die  eine  Rodung 
bezeichnenden  Ortsnamenendungen  hindeuten.  Gibt 
es  im  Wald  viertel  schon  nach  1250  kein  größeres 
zusammenhängendes  Gebiet  mehr,  das  unbesiedelt 
wäre  und  auch  kirchlicher  Organisation  entbehrt 
hätte  (12;  28),  so  ist  im  Mühlviertel  erst  Ende 
des  13.  Jahrhunderts  die  friedliche,  die  Slawen 
aufsaugende  Kolonisation  im  wesentlichen  zum 
Abschluß  gebracht,  Ende  des  14.(1383)  Jahrhunderts 
gehört  das  ganze  Mühlviertel  im  \A'esten  gegen- 
über Bayern,  d.  h.  den  Passauer  Bischöfen  (i ;  45) 
bereits  zu  Österreich.')  Was  die  Herkunft  der 
Kolonisten  betrifft,  so  dürften  es  im  Mühlviertel 
zum  größeren  Teil  Bayern ,  nur  im  äußersten 
Westen,  im  Norden  und  Nordosten  wie  an  der 
Donau  Franken  gewesen  sein.'-)  Auch  im  Wald- 
viertel gehörte  zweifellos  die  Mehrzahl  der  Kolo- 
nisten dem  bayrischen  Stamme  an;  doch  scheint 
auch  hier  sehr  viel  (12;  81  ff.)  für  eine  nicht  ge- 
ringe fränkische  Einwanderung  im  Gefolge  des 
fränkischen  Kaiserhauses  wie  des  fränkisch-baben- 
bergischen  Markgrafengeschlechtes    zu  sprechen.'') 


kolonisierten  Gebieten  des  Müblviertels,  aber  selbst  in  Teilen 
des  am  spätesten  besetzten  Nordwaldes  herrscht  östlich  der 
Gr.  Mühl  (und  südlich  einer  i  ;  i;l  genau  beschriebenen,  im 
allgemeinen  mit  der  Nord  waidgrenze  übereinstimmenden  Linie; 
also  in  verhältnismäßig  weiten  Gegenden),  vom  Gallneukirchner 
Becken  abgesehen,  die  Einzelsiedlung,  wohnt  der  größte  Teil 
der  Bevölkerung  in  einzclstehenden  Gehöften,  die  charakte- 
ristische I lausform  ist  der  kleine  Vierkant  (i  ;  67  u.  69).  In 
den  übrigen  Nordwaldstrecken  überwiegt  wieder  die  auf  die 
Kolonisation  des  13.  Jahrhunderts  zurückgehende  dorfmäßige 
Siedlung  als  Typus  der,  in  der  Regel  auf  -schlag  endenden 
Waldhufendörfer  (i;  54 f.),  die  charakteristische  Hausform  ist 
hier  das  sog.   fränkische  Haus  (l ;  67  u.  69). 

')  Der  Passauer  Wald  südlich  der  Donau  war  auch  noch 
später  zwischen  Bayern  und  Österreich  geteilt  und  kam  erst 
1779  n>''  der  Beendigung  des  bayrischen  Erbfolgekrieges  an 
Österreich. 

^)  Ortsnamen:  bayrisch  die  Endungen  auf -ing,  -gschwend, 
-schlag,  -reit,  fränkisch  die  Endungen  auf  -reut,  -heim,  -hausen, 
Zusanimenselzungcn  mit  franken- ;  auch  dialektisch  ergeben 
sich  Unterschiede  (i;  46f.). 

')  A.  Haberlandt  (13;  2)  weist  darauf  hin,  daß  sich 
die  fränkische  Mundart  in  Niederösterreich,  besonders  im 
Waldviertel,  rein  erhalten  habe.  Kr  betont  (13;  5),  daß  die 
(hier    wohl    planmäßig  von    den  Ministerialen    für   ihre  Grün- 


Als  ganzes  genommen  ist  die  Kolonisation 
im  Mühlviertel  ein  rein  wirtschaftlicher  Vorgang 
gewesen,  die  politische  Grenze  wird  nicht  zielbe- 
wußt festgelegt,  sie  schwankt  gegen  Böhmen  in 
ihrem  Verlaufe  und  in  ihrer  zeitlichen  Fixierung 
(Besitzungen  beiderseits  der  Landesgrenze  in  den- 
selben Händen  1).')  Dagegen  folgt  im  Waldviertel, 
das  einerseits  eine  Mittelstellung  einnimmt  zwischen 
jenen  Gebieten,  in  denen  die  Kolonisation  ausge- 
sprochen militärischen  Charakter  trägt  wie  im 
östlichen  Niederösterreich  und  denen,  wo  sie  zu- 
nächst nur  eine  wirtschaftliche  Expansionsbe- 
wegung war  wie  im  Mühlviertel  (12 ;  81),  anderer- 
seits den  Übergang  darstellt  von  einer  „rein  grund- 
herrlichen Expansion  zur  planmäßigen  norddeut- 
schen Kolonisation"  (12;  72),-)  der  wirtschaftlichen 
Erschließung  sogleich  die  politische  Grenzbildung 
(die  Landesgrenze  ist  im  großen  und  ganzen  auch 
Guts-  und  Ortsnamengrenze).*)  Daß  die  wirt- 
schaftliche Ausbreitung  überdies  im  Mühl-  gegen- 
über dem  Waldviertel  bloß  etwa  halb  soweit  nach 
Norden  sich  vorschob,  mag  sich  daraus  erklären, 
daß  im  niederösterreichischen  Marklande  viel 
,, größere  wirtschaftliche  und  vor  allem  politische 
Energien"  zu  Gebote  standen  (i2;  18 f.).  Es  ist 
wenigstens  für  das  Waldviertel  wahrscheinlich,  daß 
gleich  die  erste  Kolonisation  ziemlich  schnell  den 
Ausbau  des  ganzen  Landes  in  Angriff  nahm;  die 
Mehrzahl  der  heute  bestehenden  Ortschaften  wer- 
den schon  bis  zum  Abschluß  der  ersten  Koloni- 
sationsperiode um  1250  in  den  Urkunden  genannt. 

7.  Unser  Massivanteil  ist  wenig  dicht  bevölkert 
und  eigentlich  arm  an  größeren  Orten.  Dies 
hängt  vor  allem  mit  der  wirtschaftlichen  Struktur 
des  Gebietes  zusammen,  die  ja  wiederum  das 
Ergebnis  mannigfacher  Umstände  ist:  der  Acker- 
dungen übernommenen:  12;  70)  Straßendörfer  in  weitgehen- 
dem Maße  den  Bodenformen  angepaßt  sind,  indem  ,,die 
Häuserreihen  eng  den  unregelmäßigen  Talfurchen  folgen";  im 
oberösterreichischen  Grenzgebiet  herrschen  als  Siedlungsform 
der  Kolonisation  des  13.  Jahrhunderts  ,, wegen  der  ungünstigeren 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  Dörfer  mit  besser  bestifteten  und 
darum  weiter  auseinandergebauten  Gehöften  vor  (Waldhufen- 
dörfer)". Nebenbei  bemerkt  sei,  daß  im  Waldviertel  als  Ge- 
höfteform vielfach  der  Dreiseithof  zu  linden  ist. 

')  Die  Festlegung  der  Grenze  gegen  Böhmen  erfolgte 
im  einzelnen  wahrscheinlich  ,,ganz  allmählich  durch  Konsoli- 
dierung und  Abgrenzung  der  verschiedenen  Gutsbezirke";  da- 
her fehlte  es  auch  während  des  ganzen  Mittelalters  nicht  an 
Grenzstreitigkeiten  (12;  19).  Als  nach  1526  Böhmen  mit 
Österreich  vereinigt  wurde,  „geriet  auch  der  Grenzverlauf 
vielfach  in  Vergessenheit;  so  wurde  z.  B.  erst  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  die  Grenze  des  Mühlviertels  gegen  Böhmen 
neu  bestimmt"  (1;  44). 

■^)  Grundherren,  Kitter  und  Ministerialen  besitzen  einen 
weitgehenden  Anteil  an  der  Organisation  der  Kolonisierung, 
doch  kommt  es  zu  keiner  Verselbständigung  der  Masse  der 
Kolonisten  gegenüber  den  Grundherren  (12;  81).  Über  Vor- 
gang und  Organisation  der  Kolonisierung  bis  zum  Ende  des 
ersten  Drittels  des  II.  Jahrhunderts  im  allgemeinen  und  als 
Voraussetzung  der  Besiedlungsgeschichte  des  Waldviertels: 
einerseits  12;  42  tT.  und  461!".,  andererseits  mit  geändertem 
Charakter  seit  ca.   1030   12;  49  fl'. 

'■'}  Die  Grenze  des  Waldviertels  gegen  Böhmen  wird  (bis 
auf  einen  kleinen  Rest  in  der  Gegend  von  Raabs  zu  Ende 
des  13.  Jahrhunderts —  12S2 — )  bereits  zu  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts (II 79,  1185)  festgelegt  {12;   16  f.). 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


359 


bau  leidet  unter  der  Rauheit  des  Klimas  und 
Kargheit  des  Bodens,  große  Flächen  nimmt  daher 
noch  immer  der  Wald  ein,  die  Entwicklung  der 
Großindustrie  ist  relativ  gering,  das  Mühlviertel 
besitzt  keine  einzige  westöstliche  Eisenbahnlinie. 
Die  mittlere  Dichte  des  ganzen  Mühlviertels  mag 
heute  rund  67  betragen,  doch  bleibt  mehr  Land 
darunter  als  darüber;  nur  das  Gallneukirchner 
Becken  und  die  Mühlsenke  sind  stärker  bevölkert, 
unter  dem  Mittel  halten  sich  weite  Waldstrecken 
(Böhmerwaldausläufer,  Freiwald,  an  der  nieder- 
österreichischen Grenze  der  Weinsberger  Wald) 
und  die  Gebiete  der  Einzelsiedlung.  Noch  dünner 
besiedelt  (unter  58  im  Mittel)  ist  das  Waldviertel 
und  auch  hier  bewirken  nur  einige  wenige  besser 
bevölkerte  Teile  —  die  Industriegebiete  im  Nord- 
westen haben  stellenweise  eine  Dichte  von  über 
90  —  diese  (geringe)  Höhe,  große  Flächen  wie 
die  Ostabdachung  des  Freiwaldes  und  Weinsberger 
Waldes  erreichen  nicht  einmal  sie.  Die  meist  die 
allzu  engen  Täler  meidenden,  auf  den  Höhen  er- 
bauten Märkte  des  Mühlviertels,  die  das  Gebiet 
der  Einzelsiedlung  durchsetzen,  sind  klein  geblie- 
ben, da  sie  nur  ganz  lokale  Bedürfnisse  zu  be- 
friedigen haben;  selten  haben  sie  mehr  als  600 
Einwohner;  das  Gebiet  der  Einzelsiedlung  aber, 
historisch  als  gutsherrliche  Anlage  verständlich, 
doch  nicht  notwendig  durch  die  Landesnatur  be- 
dingt, nimmt  verhältnismäßig  große  Flächen  ein. 
Auch  im  Waldviertel  hat  die  größere  Zahl  der 
Ortschaften  bloß  örtliche  Bedeutung  als  Markt- 
mittelpunkte eines  kleineren  Verkehrsgebietes. 

Übersicht  über  die  wichtigste  Literatur. 

I.  A.  Hackel,  Die  Besiedlungsverhältnisse  des  ober- 
österreichischen Mühlviertels  in  ihrer  Abhängigkeit  von  natür- 
lichen und  geschichtlichen  Bedingungen  (==  Forschungen  zur 
deutschen  Landes-  und  Volkskunde,  XlV/i).      Stuttgart   1912. 

I  a.  M.  Brust,  Die  Exkursion  des  geographischen  In- 
stituts   der  Wiener  Universität    ins    österr.    Alpenvorland    und 


Donautal    (=   Geogr.   Jahresbericht    aus    Österreich ,    Bd.  IV, 
1906,  S.  86—118). 

2.  L.  Puffer,  Physiogeographische  Studien  aus  dem 
Waldviertel  (=  Monatsblätter  des  Vereins  für  Landeskunde 
von  Niederösterreich,  VI.  Jahrg.,  Nr.  16,  April  1907,  S.  241  fl.). 

3.  Derselbe,  Der  Böhmerwald  und  sein  Verhältnis  zur 
innerböhmischen  Rumpffläche  (=  Geographischer  Jahresbericht 
aus  Österreich,  Bd.   VIII,   1910,  S.    113 — 170). 

4.  A.  Grund,  Die  Pfingstexkursion  der  Prager  Geo- 
graphen ins  niederösterreichische  Waldviertel  (=  ebenda, 
Bd.  .XI,   1915,   S.   166— iSi). 

5.  M.  Michl,  Bericht  über  die  Exkursion  ins  Waldviertel 
1912  (=  ebenda,  Bd.  X,   1912,  S.  2l6ff.). 

6.  J.  Mayer,  Niederösterreich,  nach  seinen  Landschaften 
geschildert  (=  56.  Jahresbericht  der  Staatsrealschule  im  7.  Wie- 
ner Gemeindebezirke).     Wien   1907. 

7.  G.Rusch,  H.Vetters,  Fr.  Koenig,  H.  Pabisch, 
Landeskunde  von  Niederösterreich.  3.  Aufl.,  Wien  (o.  J.) 
1908. 

8.  O.  Lehmann,  Bemerkungen  zu  Puffers  .Ansichten 
über  die  Formen  des  Böhmerwaldes  {=  Mitteilungen  der 
Geogr.  Gesellschaft  in  Wien,  60.  Bd.,   1917,  S.  4140.). 

9.  A.  Sokol,  Morphologie  des  Böhmerwaldes  (=  Peter- 
manns Mitteilungen,   1916,  S.  445  ff.). 

10.  a)  Derselbe,  Zur  Beurteilung  der  Ansichten  Puffers 
über  die  Böhmerwaldformen  und  b)  Erwiderung  darauf  durch 
O.  Lehmann  (=  Mitteilungen  der  Geogr.  Ges.  in  Wien, 
61.  Bd.,   191S,  S.  290  ff.). 

11.  a)  Th.  Schwarz,  Kliroatographie  von  Oberöster- 
reich. Wien  1919.  b)J.  Hann,  Klimatographie  von  Nieder- 
österreich.   Wien    1909. 

12.  Fr.  Heilsberg,  Geschichte  der  Kolonisation  des 
Waldviertels  (:=  Jahrbuch  des  Vereins  für  Landeskunde  von 
Niederösterreich,  N.  F.  Bd.  VI,   1907). 

13.  A.  Haberlandt,  Volkskunde  von  Niederösterreich 
(=  Heimatkunde  von  Niederösterreich,   12).     Wien   1921. 

14.  Aufsätze  von  A.  Strassacker  über  Landschaft  und 
Wirtschaft  des  Waldviertels,  Fr.  Biffl  über  Ortsnamen  und 
Hausformen  des  Waldviertels  in  »Studien  zur  Heimatkunde 
von  Niederösterreich«,  herausgeg.  von  A.  Becker,  Wien   1910. 

NB.  Der  oberösterreichische  Anteil  bedürfte  noch  einer 
gründlichen  Erforschung,  hier  mangelt  es  vollständig  an  neuerer 
Literatur;  die  .Studie  Grabers  in  Peterm.  Mitteilungen  Bd.  48 
(1902)  S.  121  ff.  wurde  nicht  erwähnt,  da  ihre  Ergebnisse  stark 
bestritten  sind.  Das  Waldviertel  wird  in  Kürze  eine  kleine 
Monographie  durch  R.  Rosenkranz  (=  Heimatkunde  von 
Niederöslerreich,  Heft  2)  erhalten. 


Einzelberichte. 


Taxiu,  ein  Alkaloid  der  Eibe. 

Über  die  Giftstoffe  der  Eibe  (Taxus  baccata) 
war  bisher  nur  wenig  bekannt.  Nunmehr  ist  es 
E.  Winterstein  und  D.  Jatrides  gelungen, 
ein  definiertes  Alkaloid,  dem  die  Forscher  den 
Namen  Tax  in  geben,  zu  isolieren.^)  Die  Rein- 
darstellung des  Stoffes  unterliegt  insofern  gewissen 
Schwierigkeiten,  als  die  Menge  in  Form  von  Alka- 
loid gebundenen  Stickstoffs  in  den  Blättern  der 
Eibe  nur  0,04  "'„  beträgt.  In  den  getrockneten 
Nadeln  des  Baumes  finden  sich  etwa  0,7 — 1,4  "/o 
wahrscheinlich  reinen  Taxins. 

Will  man  das  Taxin  aus  den  Nadeln  in  Frei- 
heit setzen,  so  digeriert  man  mehrere  Tage  mit 
I  proz.  Schwefelsäure   bei   einer   Temperatur,    die 


')  Zeitschr.  f.  pbysiolog.  Chemie   117,  S.  240,   1921. 


15  Grad  nicht  übersteigen  soll.  Durch  aufein- 
anderfolgendes Alkalisieren  mit  Ammoniak,  Aus- 
äthern  und  Abdampfen  des  Äthers  erhielt  man 
eine  sirupöse  Masse,  die  im  Vakuum  in  eine  rein 
weiße,  blättrige,  leicht  zerreibliche  Substanz  über- 
ging, die  das  Taxin  darstellt.  Bisher  gelang  es 
nicht,  es  in  kristallinischen  Zustand  überzuführen. 
Das  Taxin  ist  duftlos,  hat  stark  bitteren  Ge- 
schmack, ist  unlöslich  in  Wasser  und  Petroläther, 
dagegen  leicht  löslich  in  Säuren  sowie  in  den 
gebräuchlichen  organischen  Lösungsmitteln.  Neben 
den  üblichen  Alkaloidfällungen  sind  einige  Farb- 
reaktionen kennzeichnend:  mit  konz.  Schwefel- 
säure befeuchtet  wird  der  Stoff  tief  veilfarben, 
mit  konz.  Schwefelsäure  und  Kaliumbichromat 
tritt  ublaue  Färbung  auf  Nimmt  man  konz. 
Schwefelsäure  und  Phosphormolybdänsäure,  so 
erhält  man  eine  grüne  Farbe. 


36o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Wichtiger  als  diese  mehr  zur  Analyse  verwert- 
baren Eigenschaften  sind  die  Versuche  Winter- 
steins, etwas  über  die  Konstitution  des  Stoffes 
zu  ermitteln.  Durch  Molekulargewichtsbestimmung 
ist  die  empirische  Formel  Cg-HjjOjoN  sicher  ge- 
stellt, die  durch  ein  Pikrat  und  ein  Pikrolonat 
gestützt  wird.  Bei  der  Spaltung  des  Taxins  mit 
verdünnten  Säuren  entstehen  neben  anderen,  nicht 
näher  erkannten  Stoffen  Zimt-  und  Essig- 
säure. Im  übrigen  ließ  sich  wahrscheinlich 
machen,  daß  der  Stickstoff  nicht  einem  hetero- 
zyklischen System  angehört. 

Wichtig  ist  endlich  die  physiologische  Unter- 
suchung des  neuen  Stoffes.  Das  Taxin  ist  ein 
spezifisches  Herz  glft.  Intravenös  einem  Kaninchen 
einverleibt,  genügen  0,004 — 0,005  Si  ^^  den  Tod 
herbeizuführen.  Zunächst  tritt  beschleunigtes 
Atmen,  erhöhter  Puls  ein,  dann  verlangsamt  sich 
der  Herzschlag,  um  schließlich  in  Diastole  über- 
zugehen, worauf  der  Tod  unter  Krämpfen  und 
Bluldrucksenkung  eintritt.  Die  Erscheinungen 
entsprechen  mithin  im  wesentlichen  den  bei  Eiben- 
vergiftungen auch  sonst  beobachteten,  so  daß 
man  im  Taxin  das  eigentliche  Gift  dieses  Baumes 
zu  erblicken  hat.  H.  Heller. 


Znr  Theorie  der  Substitutionsvorgänge. 

Die  Substitution,  d.  h.  der  Eintritt  chemischer 
Gruppen  in  Verbindungen  unter  Verdrängung  von 
einem  oder  mehreren  Wasserstoffatomen,  ist  ein 
wichtiges  Mittel,  von  einer  gegebenen  Stamm- 
substanz  sich  herleitende  Abkömmlinge  zu  ge- 
winnen. Bekanntlich  wird  beispielsweise  dem 
Benzol  die  Nitrogruppe  —  NO.,  leicht  substituiert, 
wenn  Benzol  mit  Salpetersäure  behandelt  wird. 
Über  den  feineren  Verlauf  dieser  wie  der  meisten 
Substitutionen  ist  man  bisher  allerdings  keines- 
wegs im  Klaren.  Gewiß  scheint  nur,  daß  einer 
jeden  Verdrängung  von  Wasserstoff  eine  An- 
lagerung der  verdrängenden  Gruppe  voraus- 
geht. Welches  aber  die  Bedingungen  interatomarer 
und  intermolekularer  Art  sind,  die  zu  einer  An- 
und  nachheriger  Einlagerung  führen,  ist  noch 
ein  durchaus  offenes  Problem.  1899  hat  Thiele 
die  ersten  experimentell  gestützten  Ansichten  über 
die  Frage  ausgesprochen.  Nach  Thiele  ist  uns 
die  Wirkungsweise  der  sog.  „doppelten",  unge- 
sättigten Bindungen  verständlich  geworden.  Die 
vier  nach  den  Ecken  eines  Tetraeders  strebenden 
Valenzeinheiten  des  Kohlenstoffatoms  suchen  nach 
Möglichkeit  diese  symmetrische  Anordnung  bei- 
zubehalten. Werden  nun  zwei  von  ihnen  mit 
zwei  anderen  eines  zweiten  Kohlenstoffatoms  ver- 
einigt, so  daß  wir  das  Bild  einer  „doppelten" 
Bindung  gewinnen,  so  entsteht  mithin  eine 
Spannung.  Baeyer,  der  diese  Vorstellung 
schuf,  deutet  damit  die  leichte  Lösbarkeit  der 
doppelten,  also  scheinbar  um  so  festeren  Bindungen. 
Thiele  ging  weiter,  indem  er  die  Störung  des 
Valenzgleichgewichtes  allgemein  für  die  Leichtig- 
keit  von  Umsetzungen   überhaupt,   von  Substitu- 


tionen im  besondern  verantwortlich  machte.  Ins- 
besondere studierte  er  auch  den  Einfluß  benach- 
barter Gruppen  auf  die  Substitutionsfähigkeit. 

Es  ist  bekannt,  daß  dem  Phenol,  C^HsOH, 
eine  ganz  bedeutend  größere  Reaktionsfähigkeit 
zukommt  als  seiner  Stammsubstanz,  dem  Benzol 
CßHg.  Obwohl  also  scheinbar  der  Kohlenstoff- 
sechsring des  Benzols  erhalten  geblieben  ist  und 
lediglich  eines  seiner  Wasserstoffatome  durch  eine 
Hydroxylgruppe  ersetzt  ist,  ist  die  Willigkeit  des 
Ringes  zu  weiteren  Substitutionen  ganz  bedeutend 
gesteigert.  Thiele  deutete  das  durch  die  An- 
nahme, das  Phenol  enthalte  gar  keine  OHGruppe, 
sondern  bilde  eine  tautomere  P"orm  mit  einer 
CO-Gruppe  einerseits,  einer  CHjGruppe  anderer- 
seits, im  Sinne  der  Formel 


Man  hätte  also  einen  Chinon  ähnlichen  Stoff  mit 
der  dieser  Verbindungsklasse  eigenen  hohen 
Reaktionsfähigkeit  vor  sich.  Diese  Auffassung 
wie  verwandte  Deutungen  sind  durch  das  Experi- 
ment widerlegt  worden.  In  einer  wichtigen 
Untersuchung  von  K.  H.  Meyer  und  L  e  n  h  a  r  d  t') 
wurde  nämlich  nachgewiesen,  daß  Phenoläther, 
z.  B.  C,;Hr,0-C.,H5,  fast  eben  so  reaktionsfähig 
sind  wie  das  Phenol  selbst.  Da  in  diesen 
Stoffen  laut  Formel 

C— O-QHs 

/ 


weder  eine  CO-Gruppe,  noch  eine  chinonartige 
Struktur  vorliegen  kann,  so  ist  Thiel  es  Theorie 
unhaltbar.  Meyer  formulierte  stattdessen  eine 
auch  durch  anderweitige  Befunde  gestützte  Theorie. 
Aus  dem  F"ormelbild  des  Phenoläthers  ist  ersicht- 
lich, daß,  wenn  man  die  Kekulesche  Schreib- 
weise des  Benzolrings  anerkennt,  an  dem  sub- 
stituierten C-Atom  eine  Doppelbindung  und  eine 
—  0-C.,H5  Gruppe  sitzen.  Es  zeigte  sich  nun, 
daß  ganz  allgemein  Doppelbindungen  in  den  ver- 
schiedenartigsten Kohlenstoffsystemen  immer  dann 
eine  besonders  hohe  Reaktionsfähigkeit  besitzen, 
wenn  in  ihrer  unmittelbaren  Nähe  eine  OH  Gruppe, 
Amino-  oder  Dimethylaminogruppe  sich  befinden. 
Diese  Gruppen  „aktivieren"  die  ohnehin  nicht 
eben  stabile  Bindung,  die  so  zur  „aktiven 
Doppelbindung"  wird.  Auch  das  Phenol 
gehört  zu  der  großen  Stoffkiasse,  die  jener  aktiven 
Doppelbindung  teilhaftig  ist.  Hieraus  erklärt  sich, 
wenigstens  in  erster  Annäherung,  seine  unver- 
hältnismäßig hohe  Reaktionsfähigkeit. 

Um  die  Brauchbarkeit  dieser  Theorie  zu  prüfen, 
handelt    es    sich    um  die  Feststellung   der  Eigen- 

')  Annalen  d.  Chemie  398,  S.  66,   19 13. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


361 


Schäften  einfachster  Verbindungen,  die  jene 
Bindungsverhältnisse  aufweisen.  Denn  in  ihnen 
muß  die  aktive  Doppelbindung  vorherrschend 
wirksam  sein,  der  Molekülrest  dagegen  in  den 
Hintergrund  treten.  Ein  solch  einfaches  Beispiel 
zu  geben,  ist  K.  H.  Meyer  und  H.  Hop  ff*) 
neuerdings  gelungen.  Sie  stellten  das  (bisher  un- 
bekannte) Dimethyl-vinyl-amin  von  der 
Formel 

CH,  =  CH  •  N(CH3)3 
dar.  Dieses  Amin  stellt  eine  leicht  bewegliche 
Flüssigkeit  von  äußerst  hoher  Reaktionsfähigkeit 
dar,  wie  es  die  Theorie  erwarten  ließ.  Schon 
nach  wenigen  Stunden  ist  der  Stoff  polymerisiert. 
Er  addiert  leicht  Brom  und  läßt  sich  mit  Nitra- 
nilin  sofort  in  einen  Azokörper  überführen. 
Während  also  das  jenem  Stoff  zugrundeliegende 
Äthylen-  CH.,  =  CH.>  von  vergleichsweise  träger 
Umsetzungsfahigkeit  ist,  wird  die  in  ihm  ent- 
haltene Doppelbindung  durch  den  angefügten  Rest 
bedeutend  „aktiviert",  und  es  entsteht  ein  Stoff, 
der  dem  für  die  Azoverbindungen  hochwichtigen, 
weil  leicht  kuppelnden  Dimethyl-anilin  völlig 
zur  Seite  gestellt  werden  kann. 

Die  Doppelbindung,  gleich  in  welcher  Um- 
gebung sie  sich  befindet,  ist  mithin  zu  den  Um- ' 
Setzungen  befähigt,  die  im  allgemeinen  als  für 
Phenole,  Anilin  usw.  kennzeichnend  gelten,  in 
allen  Fällen,  in  denen  sie  durch  unmittelbar  be- 
nachbarte aktivierende  Gruppen  hinreichend  un- 
gesättigt gemacht  ist.  Umgekehrt  darf  man  die 
leichte  Substitutionsfähigkeit  des  Phenols  der  in 
ihm  gegebenen  aktiven  Doppelbindung  zuschrei- 
ben. Der  Substitution  geht  eine  Addition  an  der 
aktivierten  Doppelbindung  voraus!-)  Die  nahe- 
liegende Folgerung  ist,  daß  Substituenten  an  einer 
aktivierten  Doppelbindung  besonders  fest  haften 
müssen.  In  der  Tat  ist  dem  so.  Meyer  kann 
zeigen,  daß  beispielsweise  Brom  am  Benzolring 
um  so  fester  sitzt,  d.  h.  um  so  schwerer  abge- 
spalten wird,  je  leichter  es  sich  ursprünglich  ad- 
dierte. *)  Noch  nicht  ganz  geklärt  erscheint  ledig- 
lich der  Einfluß  aktivierender  Gruppen  auf  die 
Molekularrefraktion.  *) 

Bisher  galt  die  Regel,  daß  aromatische  Stoffe 
substituieren,  Fettverbindungen  dagegen  ad- 
dieren. Durch  die  Kuppelung  von  M  esi  ty  len, 
also  einem  reinen  Benzolkohlenwasserstoff,  zu 
einem  Azokörper  ist  Meyer  endlich  auch 
der  Nachweis  gelungen,  daß  selbst  jener  auf- 
fallende Gegensatz  im  Verhalten  der  beiden 
großen  Klassen  der  organischen  Verbindungen 
verschwindet,  wenn  durch  „Aktivieren"  im  oben 
erläuterten  Sinne  für  hinreichende  Beweglichkeit 
der  Bindungen  im  Benzolring  gesorgt  ist.  ^)  Als 
Aktivatoren    haben    im    Falle    des    Mesitylens    die 


')  Ber.  d.  D.   Chem.  Gesellsch.   54,  S.   2274,   1921. 
^)   Ebenda  54,   S.  2265,    1921. 
')  Ebenda   S.   2269. 

')  Vgl.  hierzu  v.  Auwers,  Ber.  d.  D.  Chem.   Gesellsch. 
54,  S.  3000.    1921. 

»)  Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.  2283,  1921. 


Methylgruppen  zu  gelten,  —  gewiß  ein  be- 
merkenswertes Ergebnis.  Es  scheint  geeignet,  die 
von  H.  Kauffmann  betonte  Wirkung  der 
„Häufung"  von  Gruppen  auf  den  Gesamtcharakter 
eines  Stoffes  verständlich  und  in  erster  Annähe- 
rung erklärlich  zu  machen. ')  H.  Heller. 

Die  Desensibilisierung  des  Bronisilbers. 

Im  Jahre  1873  entdeckte  Herm.  Vogel  die 
sog.  „optischen  Sensibilisatoren".  Wie  ihr  Name 
zum  Ausdruck  bringt,  sind  dies  Stoffe,  die  optisch 
empfindlich  machen,  die  insbesondere  die  Unemp- 
findlichkeit  der  photographischen  Bromsilberplatte 
gegen  die  Strahlen  großer  Wellenlänge  (roter  bis 
grüner  Teil  des  Spektrums)  aufheben.  Die  Emp- 
findlichkeit der  Platte  gegen  Tageslicht,  d.  h. 
Licht  aller  Wellenlängen  wurde  durch  solche 
Sensibilisatoren  nicht  gesteigert,  wohl  aber  war 
es  möglich,  wie  jedem  Lichtbildner  bekannt  ist, 
die  Wirkung  roter,  kreßgefärbter  und  verwandter 
Gegenstände  auf  die  Platte  zu  erhöhen.  Die 
Photographie  in  natürlichen  Farben  beruht  zum 
wesentlichen  Teil  auf  den  optischen  Sensibili- 
satoren. 

Die  umgekehrte  Wirkung,  eine  Desensi- 
bilisierung des  Silberbromids,  hat  man  auf- 
fallenderweise nie  auch  nur  aus  theoretischen  Er- 
wägungen bearbeitet;  vermutlich  deshalb,  weil 
der  Lichtbildner  begreiflicherweise  stets  nach 
einer  Erhöhung  bzw.  Verfeinerung  der  Empfind- 
lichkeit der  Platte  strebte.  Nun  gibt  es  allerdings 
einen  Fall,  in  dem  man  die  Empfindlichkeit  jeder 
Platte  gern  auf  ein  Mindestmaß  herabgesetzt  sähe, 
—  die  Entwicklung  des  Bildes  auf  der  belichteten 
Platte.  Naturgemäß  muß,  solange  das  empfind- 
liche Silberbromid  auch  nur  in  Spuren  in  der 
Schicht  vorhanden  ist,  der  Zutritt  des  Lichtes 
auf  ein  Mindestmaß  eingeschränkt  werden.  Die 
zu  diesem  Behufe  meistbenutzte  Dunkelkammer 
hat  man  seit  einigen  Jahren  schon  zu  umgehen 
versucht,  es  sei  an  die  Verfahren  von  Ludwig, 
Lumiere  und  von  Freund  erinnert.  In  der 
Regel  beruhen  sie  darauf,  die  Entwicklerflüssigkeit 
mit  einem  roten  Farbstoff  anzufärben,  der  ähn- 
lich wie  das  rote  Glas  der  Lampe  in  der  Dunkel- 
kammer wirken  sollte. 

Erst  in  jüngster  Zeit  gelang  es  Lüppo- 
C  r a  m  e  r,  einen  Entwicklungsprozeß  auszuarbeiten, 
der  auf  der  Wirkung  eines  D  esensibilisators 
beruht  und  die  Nachteile  der  erwähnten  Verfahren 
dadurch  vermeidet,  daß  die  Lichtempfindlichkeit 
des  Silberbromids  an  sich  herabgesetzt  wird. ') 
Als  Desensibilisatoren  erwiesen  sich  die  Oxyda- 
tionsprodukte einiger  Entwickler,  in  erster 
Linie  des  Amidols.  Unter  ihrer  Einwirkung 
gelingt  es,  Entwicklungen  bei  ganz  hellem 
gelben    Licht    vorzunehmen.       Der    Umstand, 


')  Kauffmann,    Beziehungen    zwischen    physikalischen 
Eigenschaften    und    chemischer  Konstitution.      Stuttgart  1920. 
")  Zeitschr.  f.  angewandte  Chemie  35,  S.  69,  1922. 


362 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


daß  die  derart  wirkenden  Stoffe  der  Konstitution 
nach  Farbstoffe  sind,  veranlaßte  dann  Lüppo- 
Gramer,  unter  den  in  diese  Gruppe  fallenden 
Verbindungen  eine  Reihe  besonders  wirksamer 
auszuwählen,  die  eine  bedeutende  Schwächung 
der  Lichtempfindlichkeit  des  Silberbromids  be- 
wirken. Als  bestgeeignet  erwies  sich  das  Pheno- 
safranin,  der  einfachste  Vertreter  der  Safranine 
überhaupt.  ^)  Schon  in  äußerst  geringer  Menge 
dem  Entwicklerbade  zugesetzt  gestattet  es,  eine 
Entwicklung  bei  gelbem  Licht  (Kerzenlicht!)  vor- 
zunehmen, wobei  die  Platte  dem  Bade  zur  An- 
sicht entnommen  und  bis  in  die  letzten  Feinheiten 
entwickelt  werden  kann. 

Die  hohe  Bedeutung  dieser  Entdeckung,  die 
übrigens  bereits  praktisch  mannigfach  bestätigt 
ist,  liegt  nicht  allein  in  der  Aussicht,  nunmehr 
auch  panchromatische,  also  hochrotempfindliche 
Platten  leicht  entwickeln  zu  können  und  auch  im 
übrigen  die  Entwicklung  weit  einfacher  als  bisher 
auszugestalten,  sondern  ebenso  auf  theoretischem 
Gebiet.  Durch  das  Safraninverfahren  ist  der  Be- 
weis einer  weitgehenden  Herabsetzung  der  Emp- 
findlichkeit des  Silberbromids  geliefert.  So  un- 
klar, wie  man  sich,  trotz  der  nach  Hunderten 
zählenden  Arbeiten  über  die  Theorie  der  Bild- 
entstehung  noch  immer  ist,  so  erscheint  es  doch 
sicher,  aus  der  Desensibilisation  Rückschlüsse  auf 
die  Lichtreaktionen  des  Bromsilbers  im  allgemeinen 
ziehen  zu  dürfen.  Einen  Anfang  in  dieser  Rich- 
tung sind  die  Erwägungen  von  Lüppo-Cramer 
selbst.  Nach  ihm  wird  das  unter  dem  Einfluß 
des  Entwicklerlichtes  photochemisch  nascierende 
Silber  durch  die  Safranine  alsbald  oxydiert,  kann 
also  zu  Schleierbildungen  keinen  Anlaß  geben. 
Da  sich  Desensibilisation  schon  in  oxydierten 
Amidolentwicklern  nachweisen  läßt,  so  ist  diese 
Erklärung  wahrscheinlich.  Die  Oxydationsprodukte 
oxydieren  ihrerseits  wieder.  Dem  Safranin 
kommt  die  Formel 


/\/'\/\ 


NH,- 


I    ^Cl 


zu.  Der  naheliegende  Angriffspunkt  der  Oxyda- 
tion sind  offenbar  die  Amidogruppen.  Ersetzte. 
Lüppo-Cramcr  diese  stufenweise  durch  Sauer- 
stoff oder  Hydroxyl ,  so  nahm  die  Desensibilisa- 
tionsstärke  ab,  um  schließlich  im  amidogruppen- 
freien  Safranol  von  der  F'ormel 


0-. 


ganz  aufzuhören.  (Die  Oxydation  des  Anilins  zum 
Chinon  ist  ein  bekanntes  einfacheres  Beispiel  für 
die  Leichtigkeit  der  Oxydation  und  folgenden 
Desoxydation  der  Amidogruppe.  Ref.) 

H.  Heller. 


Der  Kiefernspaiiiicr  und   seine  Schmarotzer. 

Die  Vermehrung  schädlicher  Schmetterlinge 
ist  dadurch  begrenzt ,  daß  Schlupfwespen  und 
Raupenfliegen  in  den  Raupen  und  Puppen 
schmarotzen  und  um  so  häufiger  auftreten,  je 
größer  die  Zahl  der  Schmetterlinge  und  Raupen 
geworden  ist.  In  dem  Zoologischen  Institut  der 
Universität  in  Posen  hat  Prof.  Sitowski  die 
Parasiten  des  Kiefernspanners  (Bupalus  pini- 
arius  L.)  studiert,  der  als  Schädling  in  den  Wäldern 
der  Tiefebene  von  Sandomierz  massenhaft  aufge- 
treten war.*)  Im  Jahre  1918  wurden  durch 
Schlupfwespen  über  72  '%  der  Kieferspannerpuppen 
vernichtet  (50  "/q  durch  Anomalon  biguttatum 
Grav.,  12  "Iq  durch  Heteropelma  calcator  Wesm., 
10  "/o  durch  Ichneumon  nigritarius  Grav.  und  ver- 
einzelte durch  Ichneumon  pachymerus  Ratz., 
rufipes  Gr.,  pallidifrons  Gr.  und  albicinctus  Gr.). 
Massenhaft  traten  auch  Raupenfliegen  auf,  die 
ihre  Eier  in  die  Raupen  legten,  hauptsächlich 
Lydella  (Dexodes)  nigripes  Fall,  und  selten  Car- 
celia  excisa  Fall.  Man  findet  die  Made  der  Fliege 
im  7. — 9.  Segment  der  Raupe.  Als  der  Kiefern- 
spanner im  Jahre  1916  massenhaft  auftrat,  und 
mehrere  Tausende  von  Hektaren  des  Waldes  zer- 
störte, waren  nur  wenige  Raupen  mit  Parasiten 
infiziert.  Aber  im  folgenden  Frühjahr  fand  Si- 
towski die  Raupenfliegenmaden  schon  in  25  "/(, 
der  Raupen  und  im  September  schon  in  60  "/q. 
Die  Zahl  der  Kiefernspanner  mußte  also  rasch 
zurückgehen.  Aber  auch  die  Vermehrung  der 
Raupenfliegen  hatte  ihre  natürliche  Grenze.  Denn 
in  den  Maden  der  Raupenfliege  trat  als  sekun- 
därer Parasit  eine  kleine  SchlupTwespe  auf,  welche 
die  F"liegenmaden  im  Innern  der  Raupe  anzu- 
stechen vermag  (Mesochorus  politus  Grav.). 

Abgesehen  von  den  Parasiten  aus  der  Klasse 
der  Insekten  wirkte  auch  eine  auf  Protozoen  be- 
ruhende Epidemie  (Polyederkrankheit)  bei  der 
Vertilgung  der  Kiefernspannerraupen  mit,  und 
auch  diese  nahm  von  Jahr  zu  Jahr  an  Ausdehnung  zu. 

Die  ganze  Untersuchung  liefert  ein  neues  Bei- 


')    Lüppo-Cramer,     Neß-itiventwicklung    bei    hellem 
I.icht  (Safraninverfahren).      Leipzig   1922,    Liesegangs  Verlag. 


')  Bulletin  de  l'Academio  des  sc.  de  Cracovie.  Juillet  191S. 
—  Travaux  de  l'Univcrsitc  de  Poznan,  Seclion  d'agriculture 
et  de  sylviculture  1922  (polnisch). 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


363 


spiel  zu  der  Lehre  vom  Kampf  ums  Dasein  in 
dem  Sinne,  daß  der  ungehemmten  Vermehrung 
einer  Tierart  meistens  die  Vermehrung  ihrer 
natürlichen  Feinde  entgegentritt. 

H.  E.  Ziegler  (Stuttgart). 


Pflanzenreste  aus  Pfahlbauten. 

Für  die  sorgsame  Untersuchung  einiger  in 
Pfahlbauten  bei  Schussenried  (Württemberg)  auf- 
gefundenen Pflanzenreste  sind  wir  G.  Lindau^) 
zu  Dank  verpflichtet.  Dadurch  erfahren  die  älte- 
ren Angaben  von  O.Heer  über  die  Pflanzen  der 
Pfahlbauten  (in  Mitteil.  d.  antiq.  Gesellschaft  zu 
Zürich  1865)  eine  wertvolle  Ergänzung.  Es  kann 
jetzt  als  sicher  gelten,  daß  schon  zur  Pfahlbauzeit 
bei  Schussenried  Eichen,  Kiefern,  Aspen  {Poptd/is 
ircDuila  L.),  Linden  {Tilia  plalypltyllos  Scop.J  und 
Eschen  vorkamen.  Von  menschlichen  Nährpflan- 
zen konnten  festgestellt  werden:  Weizen  {Triti- 
cum  fenax  A.  et  Gr.  var.  ridgarc  (Vill.)  A.  et 
Gr.),  Gerste  (Hordeum  polysfi'cliinii  Hall.  var. 
hexasticJwn  Doli.),  Himbeere  und  Haselnuß  {Cory- 
lus  avcllana  L.  f.  oblonga  G.  Andr.).  Vielleicht 
wurden  auch  noch  einige  Knötericharten  {Poly- 
goinim  coiivulv/iliis  L.  und  F.  mite  Schrank)  an- 
gebaut. Stcllaria  media,  Triticum  repeiis  L.  und 
Atriplex  hastatum  L.  müssen  auch  damals  schon 
verbreitete  Unkräuter  gewesen  sein.  Zur  Her- 
stellung von  Matten  wurde  Aira  caespitosa  L., 
die  Rasenschmiele  verwendet,  deren  Blätter  an 
den  stark  vorspringenden,  sehr  rauhen  Nerven 
leicht  kenntlich  sind.  Außerdem  konnten  noch 
zwei  Sumpfmoose  {Drepaiiocladiis  lycopodioides 
und  Calliergü)!  cordifolium)  ermittelt  werden,  die 
aus  Pfahlbauten  bisher  noch  unbekannt  waren. 
E.  Schalow  (Breslau). 

Di-  und  Triphenylblei. 

Die  Verbindungen  der  Metalle  mit  organischen 
Gruppen  sind  in  mehrfacher  Hinsicht  von  Bedeu- 
tung. Einesteils  gestatten  sie  infolge  der  eindeu- 
tigen Wertigkeitsverhältnisse  bei  organischen 
Resten  (wie  Methyl-,  Phenyl-  und  anderen  Resten) 
eine  Bestimmung  der  ausgezeichneten  Wertigkeits- 
stufen der  Metalle  selbst.  Andererseits  ermög- 
lichen sie  einen  Vergleich  mit  solchen  Verbin- 
dungen, in  denen  das  Metall  durch  Kohlenstofi" 
vertreten  ist,  also  mit  rein  organischen  Verbin- 
dungen. Die  so  gewonnenen  Parallelen  lassen 
ihrerseits  Rückschlüsse  auf  die  Natur  des  Kohlen- 
stoffs hinsichtlich  seiner  Stellung  im  periodischen 
System  zu.  Neben  dem  Silizium,  dem  dem 
Kohlenstoff  nächst  verwandten  Element,  ist  das 
Blei  zu  derartigen  vergleichenden  Studien  gern 
herangezogen  worden.  Aus  der  Existenz  des 
Tetraphenylbleis,    eines   leicht    zu    erhaltenden, 

')  Vgl.  G.  Lindau,  Das  Pfahldorf  Riedschachen  bei 
Schussenried  und  ähnliche  Lokalitäten.  Verhandl.  bot.  Ver. 
Prov.  Brandenb.  63.  Jahrg.   1920/21. 


recht  beständigen  Stoffes,  ließ  sich  der  bündige 
Beweis  für  die  Vi  er  Wertigkeit  des  Bleis  herleiten. 
Aus  den  anorganischen  Verbindungen  des  Bleis 
läßt  sich  nun  folgern,  daß  die  Stufe  der  Zwei- 
wertigkeit dieses  Metalls  die  beständigere  ist. 
Nicht  so  bei  den  organischen  Verbindungen  des 
Bleis.  In  ihnen  zeigt  sich  vielmehr  ein  Bestreben, 
gerade  die  vierwertige  Stufe  zu  gewinnen.  Da- 
neben aber  tritt  auch  die  anorganisch  bisher 
nicht  festgestellte  drei  wertige  Form  des  Bleis 
auf. 

1 9 1 9  zuerst  beschrieb  Erich  Krause')  einige 
Verbindungen,  die  sich  vom  dreiwertigen  Blei 
herleiten.  Neuerdings  gelang  es  ihm,  in  Gemein- 
schaft mit  G.  Reißaus,  unter  anderem  das  be- 
sonders interessante  Triphenylblei  darzu- 
stellen. '-)  Dieser  Stoff  von  der  Formel  Pb(C8H5)3 
läßt  sich  darstellen  aus  Phenylmagnesiumbromid 
und  Blei(lI)chlorid.  ^)  Er  steUt  (mit  i  Molekül 
Kristallbenzol)  gut  kristallisierende,  diamant- 
glänzende Rhomboeder  dar,  die  an  der  Luft  ver- 
wittern, ohne  sich  zu  zersetzen.  Seine 
Lösungen  sind  blaßgelb  gefärbt;  die  Farbe  ver- 
stärkt sich  beim  Erhitzen  und  geht  beim  Ab- 
kühlen wieder  zurück.  Diese  Erscheinungen 
deuten  darauf  hin,  daß  im  Triphenylblei  das  Me- 
tall einen  nicht  völlig  „gesättigten"  Bindungs- 
zustand hat,  sondern  offenbar  freie  Valenzbeträge 
aufweist.  Damit  tritt  der  Stoff  in  unmittelbare 
Parallele  zum  Triphenylmethy  1  C(QH5)3,  in 
dem  der  Kohlenstoff  die  Stelle  des  Bleis  ein- 
nimmt. Ebenso  wie  der  hier  dreiwertig  anzu- 
sprechende Kohlenstoff  bestrebt  ist,  in  den  Zu- 
stand der  gesättigten  Vierwertigkeit  überzugehen, 
so  strebt  das  Blei  den  vierwertigen  Verbindungs- 
zustand an :  schon  beim  Erhitzen  geht  das  Tri- 
phenylblei in  Bleitetra  phenyl  über.  Der  un- 
gesättigte Charakter  des  Stoffes  kommt  auch  in 
einer  sehr  willigen  Addition  von  Jod  zum  Ausdruck. 
Der  Vergleich  des  Bleis  mit  dem  in  der  glei- 
chen Gruppe  des  periodischen  Systems  stehenden 
Kohlenstoff  zeigt  mithin  weitgehende  Analogie. 
Nicht  so  der  des  Bleis  in  Kohlenstoff bindung 
mit  Blei  in  anorganischer  Verkettung!  In  dieser 
wird,  wie  erwähnt,  die  Zwei  Wertigkeit  bevorzugt, 
d.  h.  die  gesamten  Valenzbeträge  des  Bleiatoms 
drängen  sich  zu  zwei  ausgesprochenen  Kraftfeldern 
zusammen.  Dem  Kohlenstoff  gegenüber  lockern 
sich  diese  Felder:  die  Vierwertigkeit  wird  nicht 
nur  leicht  erreicht,  sondern  bevorzugt,  so  daß 
niedrigere  Wertigkeitsstufen  gelockerte  Kraftfelder 
enthalten,  also  minder  gesättigte  Verbindungen 
von  entsprechender  Farbigkeit  sind.  Dies  ist 
mehr  noch  als  am  Triphenylblei  zu  erkennen 
am  Diphenylblei,  dessen  Auffindung  und  Eigen- 
schaften Krause  in  der  gleichen  IWitteilung  be- 
schreibt. 


")  Ber.  d.  D.  Chem.   Gescllsch.   52,  S.   2165,    1919. 

")  Ebenda  Bd.   55,  S.   S8S,   1922. 

^)  Über  diese  Schreibweise  vgl.  „Zum  Nomenklaturpro- 
blem in  der  organischen  Chemie"  v.  Verf.,  Naturw.  Wochen- 
schrift N.  F.  Bd.  XIX,  S.  257. 


364 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Diphenylblei  stellt  ein  blutrotes  Pulver 
dar,  dessen  Lösungen  die  gleiche  Farbe  aufweisen. 
An  der  Luft  ist  es  außerordentlich  unbeständig, 
auch  unter  den  meisten  anderen  Bedingungen 
zersetzt  es  sich  mit  Leichtigkeit.  So  verbindet 
es  sich  sofort  mit  Jod,  reduziert  augenblicklich 
Silbernitratlösung  usw.  In  Lösung  befindet  sich 
Diphenylblei,  laut  Molekulargewichtsbestimmung, 
in  monomolekularer  Form,  also,  da  die  rote  Farbe 
in  festem  Zustand  erhalten  bleibt,  auch  in  diesem, 
so  daß  man  es  wirklich  mit  einem  Abkömmling 
des  zweiwertigen  Bleis  zu  tun  hat. 

Die  hier  nur  angedeuteten  Eigenschaften  einer 
zweiwertigem  Blei  verketteten  organischen 
Verbindung,  die  übrigens  an  mehreren  Homologen 
wiederkehren,  sagen  über  die  Wertigkeitsverhält- 
nisse also  das  Gegenteil  dessen  aus,  was  man  aus 
anorganischen  Bleiverbindungen  zu  folgern  ge- 
wohnt ist.  Der  Widerspruch  löst  sich  jedoch 
sofort,  wenn  man  bedenkt,  daß  im  ersten  Falle 
der  Kohlenstoff,  im  zweiten  die  sehr  andersartigen 
Nichtkohlenstoffelemente  die  Valenz  des  Bleis  be- 
anspruchen. Man  erfährt  aufs  neue  die  Bestäti- 
gung  der   Erkenntnis,    daß   die  Wertigkeit   eines 


Elementes  nicht  eine  diesem  immanente  Eigen- 
schaft ist,  die  etwa  aus  der  Anzahl  der  im  äußer- 
sten Ring  befindlichen  Elektronen  gedeutet 
werden  könnte.  Was  wir  ,Wertigkeit'  nennen  ist 
die  Resultante  aus  den  Kraftfeldern  aller  dem 
jeweiligen  Zentralelement  verbundenen  Atome. 
Wechsel  der  Wertigkeit  ist  also  nichts  Auf- 
fallendes ,  sondern  notwendig.  Der  Umstand, 
daß  neben  den  zwei-  und  den  vi  er  wertigen 
Zustand  nun  auch  der  vergleichsweise  recht  be- 
ständige dreiwertige  Zustand  des  Bleis  (IV. 
Gruppe  des  periodischen  Systems!)  tritt,  beweist, 
daß  die  Vorstellung  der  Valenz  als  gerichteter 
Einzelkraft  in  höchstem  Grade  unzulänglich  ge- 
worden ist.  Auch  der  Versuch ,  ihr  im  Atom- 
modell von  Rutherford  und  Bohr  eine  feste 
Grundlage  zu  geben ,  ändert  an  dieser  Sachlage 
nichts. 

(Berichterstatter  betont,  daß  die  aus  den  Be- 
funden Krauses  gefolgerten  Betrachtungen  über 
Wertigkeit  und  Kraftfeldbelastung  in  allem  seine 
persönliche  Auffassung  sind.  In  der  Krause- 
schen Arbeit  fehlen  derartige  Folgerungen  gänz- 
lich.) H.  Heller. 


Bticherbesprechunsen. 


Plate,  S.,  Fauna  et  anatomia  ceylanica. 
Zoologische  Ergebnisse  einer  Ceylonreise,  aus- 
geführt mit  Unterstützung  der  Ritterstiftung 
1913/14.  Bd.  L  76  Abb.  und  29  Tafeln.  8". 
364  S.  Jena,  G.  Fischer. 
Die  in  der  Jenaischen  Zeitschrift  zur  Veröffent- 
lichung gelangenden  Untersuchungen  an  den  zoo- 
logischen Ceylonsammlungen  Pia  t  es  gelangen  in 
dem  Werk  „Fauna  et  anatomia  ceylanica"  zu- 
sammengefaßt zur  Herausgabe,  welches  somit  ein 
Seitenstück  zu  Plates  „Fauna  chilensis"  (in  den 
Supplementbänden  der  Zoolog.  Jahrbücher)  dar- 
stellt. Namentlich  wer  sich  mit  der  ceylonischen 
Tierwelt  beschäftigt,  wird  es  begrüßen,  daß  somit 
diese  Arbeiten  nicht  verstreut  werden,  sondern 
die  wichtige  zoologische  Ceylonliteratur  um  ein 
neuzeitliches  Werk  vermehrt  wird.  Der  erste 
Band  liegt  soeben  vor.  Er  enthält  folgende  Ar- 
beiten: Zunächst  drei  von  Plate,  über  welche 
schon  während  des  Krieges  an  dieser  Stelle  be- 
richtet wurde :  „Über  zwei  ceylonische  Temno- 
cephaliden",  „Übersicht  über  biologische  Studien 
auf  Ceylon"  und  ,,Die  rudimentären  Hinterflügel 
von  Phyllium  pulchrifolium  Serv.  $".  F"erner  zwei 
Molluskenarbeiten:  Ch.  Kretzschmar,  „Das 
Nervensysten  und  osphradiumartige  Sinnesorgan  der 
Cyclophoriden"  und  E.  Schneider,  „Das  Darm- 
system von  Cyclophorus  ceylanicus".  Ferner : 
I'".  Prinzhorn,  „Die  Haut  und  die  Rückbildung 
der  Haare  beim  Nackthunde".  Diese  Unter- 
suchung beruht  auf  einem  von  Plate  aus  Ceylon 
lebend  mitgebrachten  Nackthund  und  seiner  mit 
normalen     Hunden      zu     Vererbungsstudien      ge- 


züchteten Nachkommenschaft;  sie  beschäftigt  sich 
mit  der  Histologie  des  Haarrudiments  und  findet, 
daß  die  zur  Anlage  gelangenden  Haarbälge  sich 
regelmäßig  mit  einem  Hornlamellenpfropf  anfüllen, 
der  die  weitere  Entwicklung  des  Haares  hindert; 
Vergleiche  zeigen,  daß  auch  die  als  Anpassung 
eingetretene  Haarrudimentation  bei  Zetazeen  und 
Sirenen  sowie  an  den  Labia  minora  des  Menschen 
oft  auf  einer  solchen  Einwucherung  des  Stratum 
corneum  der  Epidermis  in  primitiv  gebliebene 
Haarbälge  beruht.  —  R.  Vogel  bringt  „Be- 
merkungen zur  Topographie  und  Anatomie  der 
Leuchtorgane  von  Luciola  sinensis",  endlich 
F.  Preiß  eine  Arbeit  „Über  Sinnesorgane  in  der 
Haut  einiger  Agamiden".  Die  Befunde  an  diesen 
Eidechsen  tragen  den  Untertitel :  „Zugleich  ein 
Beitrag  zu  r  Phylogenie  der  Säugetier- 
haare" und  treten  für  die  Maurersche  Hypothese 
der  Ableitung  des  Säugetierhaars  von  Hautsinnes- 
organen, wie  sie  bei  Amphibieniarven  vorhanden 
sind,  ein,  welche  Hypothese  ja  nicht  nur  berühmt, 
sondern  auch  umstritten  ist,  aber  dem  Ref.  stets 
ziemlich  gut  begründet  erschien.  Man  darf  sagen, 
sie  wird  durch  die  vorliegende  Arbeit  verbessert. 
Was  Preiß  hinzufügt,  ist  etwa  folgendes:  Auch 
die  Reptilien  haben,  wie  seit  1868  und  späterhin 
genauer  bekannt  ist,  Hautsinnesorgane  vom  ähn- 
lichem Bau  wie  die  Amphibienlarven  und  wasser- 
lebigen  Urodelen,  insbesondere  gleichfalls  mit 
knospenförmig  angeordneten,  innervierten  epi- 
dermalen Zellen,  einem  Kranz  von  Deckzellen 
und  dem  bekannten  Kutiszapfen  am  Boden.  Sie 
liegen  in   den  Schuppen,   oft  deren   freiem  Rand 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


36s 


genähert,  in  Gruppen  und  durchbohren  die  dicke 
Hornschicht,  freilich  nicht  ganz,  sondern  ein 
dünnes  Häutchen  verhornter  Epidermiszellen  zieht 
deckelartig  über  sie  hinweg  und  trägt  ein  gleich- 
falls aus  solchen  Zellen  bestehendes  Tasthaar. 
Nun  findet  sich,  daß  das  Säugerhaar  mit  dem 
Hautsinnesorgan  der  Reptilien  mehr  Ähnlichkeit 
hat  als  mit  jenem  der  Lurche.  (Und  das  ist  ge- 
rade, was  wir  bei  der  heute  wohl  sichergestellten 
Reptilien  herkunft  der  Säugetiere  fordern 
müssen.  Ref.)  Da  würde  man  zwar  das  eben 
erwähnte  Tasthaar  zu  sehr  betonen,  wenn  man 
es  so  verstände,  als  ob  aus  ihm,  dem  Besitz  der 
heutigen  Eidechsen,  das  Säugetierhaar  entstanden 
wäre.  Gewichtiger  ist,  daß  jene  Organe,  wie  ge- 
sagt, in  Gruppen  und  meist  dem  Hinterrand 
der  Schuppe  genähert  stehen :  denn  wo  bei  Säugern 
neben  den  Haaren  Schuppen  vorkommen,  wie  es  bei 
Beuteltieren  und  niederen  Plazentaliern  am  Schwanz 
sehr  häufig  der  Fall  ist,  da  stehen  jene  gleichfalls 
in  Gruppen,  nur  hinter  dem  Rand  der  Schuppen, 
unter  ihm  hervorragend ,  selten  eins  auf  der 
Schuppenspitze;  das  ist  wohl  mehr  Ähnlichkeit 
als  Unterschied,  zumal  bei  der  indisch-ceylonischen 
Baumagame  Otocryptis  ein  starker  Stachelkiel  die 
Organe  bedeckt  und  bereits  scheinbar  auf  die  Unter- 
seite bringt.  Nicht  minder  gewichtig  ist  der  durch- 
führbare Vergleich  zwischen  dem  Haarwechsel 
und  dem  wiederholten  Abwerfen  und  Erneuern  der 
Reptilienorgane,  bei  der  Häutung  nämlich:  Beim 
Beginn  der  Wachstumsperiode  der  Epidermis  legt 
sich  unter  der  alten  Sinnesknospe  eine  neue  an; 
das  alte  Organ  bleibt  mit  dem  jungen  stets  in 
Verbindung,  die  verbindenden  Zellen  zwischen 
beiden  werden  zum  Sinneshaar  des  neuen  Organs. 
Das  histologische  Bild  ähnelt  dem  der  in  der 
Tiefe  des  Follikels  erfolgenden  Haarbildung  na- 
mentlich durch  eine  schützend  die  junge  Knospe 
überlagernde  Schicht  vom  Stratum  intermedium 
der  Epidermis.  —  Somit  sind  die  Hauptbedenken, 
die  man  gegen  Maurer  aussprach,  behoben,  und 
es  bleibt,  daß  die  Haare  aus  Hautsinnesorganen 
hervorgingen.  Wahrscheinlich  in  dem  Maße,  wie 
sie  durch  ihre  eigene  Verlängerung  und  gleich- 
zeitige Ausbildung  zum  Wärmeschutz  die 
Schuppen  verdeckten,  ohne  die  Tastfunktion  je 
zu  verlieren,  machten  sie  die  Schuppen  entbehr- 
lich und  führten  somit  deren  Verdrängung  herbei. 
V.  Franz,  Jena. 


Kretschmer,   Ernst,   Medizinische  Psycho- 
logie.    Ein  Leitfaden  für  Studium  und  Praxis. 
300  S.     Leipzig  1922,  Georg  Thieme. 
Der  Verf.  führt  uns  in  die  komplizierte  Struktur 
der   menschlichen  Seele   an   der  Hand   ihrer  Ent- 
wicklungsgeschichte   ein   und  verwendet  dazu  am 
ausgiebigsten     die    Völkerpsychologie.      Hiermit 
wird   die  Grundlage    gegeben   für    das  Erforschen 
der  Seele  durch  naturwissenschaftliche  Methoden. 
Wir  werden  dem  Verf   von  vorneherein  zugeben 
müssen,    daß   er   sich   in   den  Kapiteln,    die    sich 


mit  der  fertigen  Seele  des  Kulturmenschen  be- 
fassen und  die  von  den  „seelischen  Apparaten", 
von  den  Trieben  und  Temperamenten,  von  den 
Persönlichkeiten  und  Reaktionstypen  handeln,  von 
diesen  Gesichtspunkten  in  erfreulicher  Weise  hat 
leiten  lassen.  Ob  die  Einteilung  des  Verf.  die 
richtige  ist,  ob  hier  und  da  schärfere  Definitionen 
am  Platze  wären,  vermag  der  Ref.  nicht  zu  ent- 
scheiden. Aber  eins  ist  außer  Zweifel:  das  Buch 
ist  —  alles  in  allem  genommen  —  mit  einer 
solchen  Klarheit  und  mit  einer  so  hervorragenden 
Sprachbeherrschung  geschrieben,  daß  es  ebenso 
mit  Genuß  wie  mit  Erfolg  gelesen  werden  kann. 
Der  Verf  fesselt,  weil  er  nicht  schematisiert.  Er 
beherrscht  aber  den  Gegenstand  und  die  Dar- 
stellungsmittel so  weit,  daß  die  führenden  Ge- 
danken sich  nie  verlieren.  —  Niemand  wird  durch 
eine  derartige  Lektüre  ein  fertiger  Psychologe 
werden  können.  Wer  aber  überhaupt  für  psycho- 
logische Probleme  Interesse  hat,  wird  Anregung 
und  Belehrung  finden.  Nun  ist  aber  das  Buch 
im  wesentlichen  für  Ärzte  und  Studierende  der 
Medizin  geschrieben.  Das  findet  schon  seinen 
Ausdruck  darin,  daß  alle  fließenden  Übergänge 
vom  normalen  psychischen  Geschehen  zu  den 
pathologischen  Vorgängen  in  weitem  Maße  be- 
rücksichtigt sind,  oft  so,  daß  die  Grenzgebiete 
ganz  in  den  Vordergrund  treten.  Das  wird  den 
ernstlich  mit  psychischen  Problemen  beschäftigten 
Nichtmediziner  nicht  stören,  werden  uns  doch 
manche  Regungen  des  Seelenlebens  erst  bei  ihrer 
Übertreibung  ins  Krankhafte  ganz  besonders  gut 
verständlich.  Rein  für  den  Mediziner  bestimmt 
sind  aber  die  Schlußkapitel  über  Begutachtungen 
vom  psychologischen  Standpunkt  aus  und  über  die 
Psychotherapie.  Hier  lernen  wir  also  die  prak- 
tische Verwertung  der  Methoden  der  Seelen- 
forschung kennen,  desgleichen  ihre  Anwendung 
zur  Behandlung  „nervöser"  Menschen.  Diesen 
ungemein  wichtigen  Kapiteln  wird  nur  ein  ver- 
hältnismäßig kurzer  Raum  gewidmet,  und  das  ist 
ein  gewisser  Mangel.  Ich  möchte  empfehlen,  in 
einer  Neuauflage  diese  Kapitel  etweder  weiter 
auszuarbeiten  und  dadurch  das  Buch  für  Mediziner 
noch  brauchbarer  zu  gestalten,  oder  ganz  wegzu- 
lassen, dafür  manches  Vorhergehende  noch  breiter 
auszuführen  und  die  Freudsche  Psychoanalyse  mit 
hineinzunehmen.  Dadurch  entstände  dann  eine 
für  weitere  Kreise  rückhaltlos  empfehlenswerte 
Seelenlehre.  Der  Verf  darf  sich  für  eine  solche 
Aufgabe  für  besonders  legitimiert  halten. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Weiser,  Dr.  Martin,  Das  Atom.    Eine  gemein- 
verständliche Darstellung.    Dresden   1922,  Emil 
Pahl. 
Hier  ist  wirklich    einmal    die  gemeinverständ- 
liche  Darlegung    eines    dem  Nichtfachmann   sehr 
schwer    zugänglichen   Gebietes    gelungen  1      Von 
vornherein   wendet    sich  der   Verf.    verständiger- 
weise  nicht  an  Laien,   sondern   an  Leute,   denen 


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Naturwissenscliaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  26 


wenigstens  die  Grundvorstellungen  der  Chemie 
keine  begrifflichen  Schwierigkeiten  mehr  machen. 
Im  übrigen  geht  es  sofort  in  medias  res,  in  ge- 
radezu militärisch  frischer  Weise  werden  die  Er- 
gebnisse der  neueren  Strahlenforschung  erläutert, 
ihre  Auswertung  für  die  Atomstruktur  in  bündiger 
Weise  gezeigt,  und  den  Beschluß  bildet  eine 
knappe  Erklärung  des  Phänomens  der  Stickstoff- 
spaltung. So  gut  wie  ni  chts  Überflüssiges  findet 
sich  in  dem  64  Seiten  starken  Heftchen  I  Gewiß 
eine  Leistung  angesichts  der  Überfülle  der  hier 
in  Betracht  kommenden  Arbeiten,  angesichts  auch 
des  Wortschwalls,  dessen  sich  die  leider  zahl- 
reichen „populären"  Darsteller  dieses  Gebietes  zu 
bedienen  pflegen.  Der  Name  Einstein  wird  in 
dem  Zusammenhange  genannt,  der  ihm  seinen 
guten  Klang  verschaff"!  hat;  von  dem,  was  heute 
unter  ,, Relativitätstheorie"  mißverstanden  wird,  ist 
also  nicht  die  Rede.  Logisch  im  Aufbau,  äußerst 
klar  in  der  Darstellung,  mit  meist  durchaus  ver- 
ständlichen Abbildungen  (Ausnahme:  S.  36)  ver- 
sehen stellt  das  Büchlein  eine  höchst  erfrischende 
Gabe  dar,  deren  Studium  angelegentlich  empfohlen 
werden  kann  allen  denen,  die  sich  mit  Ergeb- 
nissen vertraut  machen  wollen,  deren  experimen- 
telle Grundlegung  restlos  zu  verfolgen  ihnen  aus 
bekannten  Gründen  versagt  blieb. 

Als  gelinden  Schönheitsfehler  merkt  der  Be- 
richterstatter die  etwas  zu  ausführliche  Darstellung 
des  Kapitels  Röntgenröhren  an.  Auch  eine  Reihe 
Druckfehler  müssen  getilgt  werden,  so  S.  57  letzte 
Zeile,  S.  20  (Geschwindigkeit  der  Kanalstrahlen); 
S.  14  ist  versehentlich  von  einer  „Abscheidung 
von  Jonen"  an  den  Elektroden  die  Rede. 

H.  H. 


Dahl,  Fr.,  Grundlagen  einer  ökologi- 
schen Tiergeographie.  113  Seiten.  8". 
II  Textabbildungen,  2  Karten.  Jena  1921, 
G.  Fischer.  Preis  geh.  22  M.,  geb.  28  M. 
Der  Verf.  behandelt  die  Tiergeographie  unter 
starker  Betonung  der  Notwendigkeit,  zur  Erklärung 
der  feststellbaren  Erscheinungen  in  jedem  Falle 
auch  die  ökologischen  Verhältnisse  viel  mehr  als 
bisher  in  Betracht  zu  ziehen.  Fehlt  irgendwo 
eine  Tierart,  so  muß  man  wissen,  ob  sie  dort 
geeignete  Lebensbedingungen  —  „Biotope",  wie 
Verf.  sagt,  und  wir  haben  ein  Fremdwort  mehrl 
—  fände.  Aranea  (Epeira)  silvicultrix  findet  sich 
nur  im  Norden  Europas,  z.  B.  Finnland,  und  in 
Nordbayern  —  weil  sie  flechtenbewachsene  Krüppel- 
kiefern auf  feuchtem,  aber  nicht  moorigem  Boden 
verlangt.  „Eine  gründliche  ökologische  Unter- 
suchung wird  vielleicht  noch  manches  andere 
sog.  „Eiszeitrelikt"  der  Ebene  als  Truggebilde 
entlarven."  Folgt  man  den  Ausführungen  des 
Verf.  weiter,  so  findet  man  ungemein  viel  An- 
regendes. Von  Einzelheiten  sei  aus  der  Fülle 
des  Stoffes  nur  noch  eins  hervorgehoben :  IVIada- 
gaskar  ist  bekanntlich  für  jeden  Tiergeographen 
ein    hochinteressantes    Problem,    und    man    neigt 


heute  für  die  Besiedelung  dieser  Insel  mit  Säuge- 
tieren zur  Annahme  einer  ehemaligen  Land'ver- 
bindung,  vor  allem  mit  dem  nahen  Afrika  (da  die 
Lemuria  -  Hypothese  sich  wohl  erledigt  hat). 
Dahl  bekämpft  jene  Annahme  zwar  nicht  — 
aber  er  braucht  sie  selber  gar  nicht,  sondern  be- 
tont, daß  Hippopotamus  (fossil)  und  Potamochoe- 
rus  von  vornherein  in  näherer  Beziehung  zum 
Wasser  stehen  und  Centetidae,  Lemuridae  und 
Viverridae  Tiere  sind,  die  entweder  klein  oder 
Klettertiere  sind,  also  verhältnismäßig  leicht  eine 
kleine  Wanderung  auf  natürlichen  Flößen  machen 
konnten.  Wir  wollen  nicht  sagen,  daß  damit  das 
letzte  Wort  über  die  Herkunft  der  madagassischen 
Säuger  gesprochen  wäre,  doch  verdient  die 
Betrachtung  Aufmerksamkeit.  —  Die  versprengte 
Verbreitung  von  Papio  wird  damit  erklärt,  daß 
sich  vielleicht  die  Gattung  Mandrill  sich  aus  jener 
heraus  entwickelt  und  sie  aus  den  von  ihr  selbst 
beanspruchten  Urwaldgebieten  verdrängt  habe. 

Das  ganze  Buch  Dahls  ist  mehr  eine  Pro- 
grammschrift, reich  an  methodologischen  und 
allgemeinen  Erörterungen  und  ungleich  in  der 
Berücksichtigung  der  einzelnen  Tiergruppen  (Spin- 
nen, Isopoden  und  Säugetiere  bevorzugt),  als 
geradezu  eine  Tiergeographie.  Eine  solche  wird 
gleichwohl  in  den  Schlußkapiteln  im  Überblick 
geboten.  Nur  wer  einigermaßen  in  die  schweben- 
den Probleme  eingearbeitet  ist,  wird  das  Buch 
mit  größerem  Gewinn  lesen.  Das  heißt  aber  zu- 
gleich, daß  der  Forscher  an  ihm  kaum  vorbei- 
gehen kann.  Betonen  möchte  ich  noch,  daß  nicht 
alles  mit  der  ökologischen  Betrachtung  erklärt 
werden  kann  und  soll.  Sondern  sie  muß  mit  der 
geschichtlichen  —  die  Verf.  nicht  außer  acht 
läßt,  aber  weniger  betont  —  Hand  in  Hand  gehen. 
Diesem  Ziele  näher  zu  kommen,  möge  das  Dahl- 
sche  Buch  helfen.  V.  Franz. 


Stern,  E. ,  Die  krankhaften  Erscheinun- 
gen des  Seelenlebens.  Allgemeine  Psycho- 
pathologie. 764.  Band  der  Sammlung  „Aus 
Natur  und  Geisteswelt".  Leipzig  und  Berlin 
1921,  B.  G.  Teubner. 

Es  ist  fraglos  ein  Zeichen  der  Zeit,  daß  die 
Literatur  über  psychologische  Fragen  einen  großen 
Aufschwung  genommen  hat.  Das  große  Publikum 
verlangt  nach  derartigen  Büchern.  Ich  habe  schon 
an  anderen  Stellen  die  Frage  aufgeworfen,  ob  das 
nur  mit  dem  Wissensdurst,  mit  dem  Streben 
nach  Verinnerlichung  zusammenhängt.  Hier  muß 
man  wohl  sehr  skeptisch  sein.  Denn  ein  großer 
Teil  dieses  Strebens  nach  Erkenntnis  der  seelischen 
Vorgänge  kommt  sicher  erst  auf  einem  Umwege 
zustande,  nämlich  über  den  Hang  nach  dem 
IMystischen.  —  Nun  ist  es  aber  keine  Frage,  daß, 
da  jene  Bestrebungen  nun  einmal  bestehen,  es 
am  besten  ist,  ihnen  in  der  richtigen  Weise  ent- 
gegenzukommen, nützend  und  richtig  belehrend. 
Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  kann  man  allen 
den  Autoren,   die  in  gemeinverständlicher  Weise 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


367 


über  psychologische  Dinge  schreiben,  nur  dank- 
bar sein,  sofern  sie  die  Sache  vom  streng  wissen- 
schaftlichen Standpunkt  aus  anfassen.  Zu  diesen 
gehört  auch  der  Verf.  des  vorliegenden  Buches, 
das  sich  mit  den  krankhaften  Erscheinungen 
des  Seelenlebens  beschäftigt.  Dies  ist  ein  be- 
sonders heikles  Gebiet.  Bei  Besprechung  des 
Buches  von  Ilberg  über  Geisteskrankheiten 
(Nr.  6,  1920)  wurde  schon  auf  die  Gefahren  hin- 
gewiesen, die  dem  empfindlichen  Laien  drohen, 
wenn  er  selbst  bei  sich  allerhand  Symptome 
wiederfinden  wird,  die  in  psychiatrischen  Werken 
als  Zeichen  der  geistigen  Erkrankungen  genannt 
werden.  Solche  Gefahren  drohen  natürlich  auch 
in  diesem  Büchlein.  Aber  wir  müssen  uns  auch 
damit  abgeben  und  müssen  uns  fragen,  ob  es 
trotzdem  empfehlenswert  ist.  Diese  Frage  kann 
anstandslos  bejaht  werden.  Der  Leser  darf  aber 
nicht  eine  unterhaltende,  spannende  Lektüre  er- 
warten. Wir  haben  hier  ein  kleines  Lehrbuch 
vor  uns,  das  studiert  sein  will.  Der  Verf.  führt 
uns  über  die  Methoden  der  Psychopathologie  und 
die  normalpsychologischen  Grundbegriffe  ganz 
allmählich  in  die  krankhaften  Störungen  des 
Seelenlebens  ein  und  behandelt  diese  dann  durch- 
aus lehrbuchmäßig,  objektiv  und  ich  glaube  auch 
in  so  verständlicher  Weise,  daß  gebildete  Laien 
werden  folgen  können. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Brehm,  Alfred,  Kleine  Schriften.  319  S.  8". 
Mit  einem  Bildnis  des  Verfassers  und  26  Abb. 
auf  8  Tafeln.  (Sammlung  „Kultur  und  Welt".) 
Leipzig  1921,  Bibliographisches  Institut.  Ge- 
bunden 37  M.  (zuschlagfrei). 
Jeder,  der  „Brehms  Tierleben"  auch  nur  von 
ferne  kennt,  kann  sich  sagen,  daß  die  uns  hier 
gebotene  Sammlung  etwas  Gutes  ist.  Da  handelt 
sichs  nicht  um  die  Frage,  inwieweit  „Brehm" 
wissenschaftlich  sei  oder  inwieweit  bloß  populär 
oder  an  Kritik  nicht  auf  der  Höhe  der  Jetztzeit 
stehend,  sondern  einzig  und  allein  um  die  unge- 
suchte Größe  der  Naturschilderung  des  Mannes, 
bei  dem  auch  der  Gelehrteste  zuweilen  gern  in 
die  Lehre  geht.  Es  werden  hier  vierundzwanzig 
Bilder  aus  dem  Tierleben  geboten,  meist  aus  alten 
Jahrgängen  1859  bis  1871  der  „Gartenlaube" 
sowie  aus  einigen  anderen  Quellen  seit  1855, 
ferner  zwölf  afrikanische,  nordeuropäische  und 
morgenländische  „Reiseskizzen  eines  Naturforschers" 
aus  verschiedenen  Quellen  gleichen  Alters.  Be- 
sonders ergreifend  ist  das  letzte  Stück,  „Zwei 
Weihnachtsabende".  Eine  wissenschaftliche  Neu- 
redigierung,  wie  sie  das  jetzt  dreizehnbändige 
„Tierleben"  unter  zur  Straßens  Leitung  be- 
kanntlich zu  einem  uns  Heutigen  wertvollen  Nach- 
schlagewerk gemacht  hat,  ist  hier  unterblieben, 
sicher  mit  Recht.  In  der  Ausstattung  des  Buches 
mit  Bildern  aus  jenem  Werk  hat  eine  sehr  glück- 
liche Hand  gewaltet,  denn  da  begegnen  wir 
wieder   so   manchem   vortrefflichen  Bild   aus  den 


älteren  „Tierleben"-Auflagen,  das  in  der  neuesten 
durch  ein  Farbenbild  oder  —  eine  F"orderung  der 
Zeit  —  ein  Lichtbild  ersetzt  wurde.  Auch  muß 
man  dankbar  sein,  daß  als  Titelbild  Brehms 
Bildnis  aus  dem  Jahre  1869  wiedererscheint,  das 
in  der  Neuauflage  des  ,, Tierlebens"  aus  nicht  zu 
durchschauenden  Gründen  zwei  weniger  ein- 
drucksvollen hat  weichen  müssen.  Somit  ist  der 
Buchschmuck  auch  von  dem  nicht  zu  gering  zu 
veranschlagenden  Wert,  den  Einheitlichkeit  ver- 
leiht, da  alle  Bilder  Holzschnitte  und  fast  alle  aus 
der  Zeit  sind,  wo  die  heute  aussterbende  Zunft 
der  Holzschneider  noch  etwas  konnte.  Da  man 
ästhetische  Gesichtspunkte  bei  der  Betrachtung 
dieses  Buches  nicht  zurückdrängen  kann  noch 
soll,  darf  gesagt  werden,  daß  die  Bilder,  mindestens 
die  nicht  ganzseitigen,  wohl  noch  besser  im  Text 
zu  bringen  wären,  da  auch  der  alte  „Brehm"  zer- 
legte Tafeln  nicht  kennt.  Oder  verlangt  das 
Publikum  durchaus  so  und  so  viele  ,, Tafeln"  ?  Papier 
und  Leineneinband  sind  von  der  vor  dem  Kriege 
gewohnten  Güte. 

Nicht  zum  wenigsten  empfiehlt  sich  das  Buch 
als  Geschenkwerk  für   tierliebende  Jugend.     Aber 
auch  für  Erwachsene  kann  es  nicht  veralten. 
V.  Franz,  Jena. 


Kaufmann,  H.  P. ,  Lehrbuch  der  Chemie 
für  Mediziner  und  Biologen.  I.  Anorga- 
nischer Teil.  156  u.  41  S. 
An  diesem  „Lehrbuch"  wäre  manches  auszu- 
setzen, wenn  man  eben  den  gebräuchlichen  Maß- 
stab dessen  anlegt,  was  man  gewöhnlich  ein  Lehr- 
buch nennt.  Das  Buch  ist  kein  Lehrbuch  in  die- 
sem Sinne.  Der  Verf.  bringt  keine  theoretische 
Einleitung  über  die  der  Chemie  eigenen  Begriffe, 
sondern  tritt  von  vornherein  in  die  Besprechung 
der  einzelnen  chemischen  Stoffe  und  ihrer  Eigen- 
schaften ein,  bei  deren  Auswahl  den  Interessen 
der  Mediziner  und  Biologen  überhaupt  in  weitem 
Maße  Rechnung  getragen  wird.  Die  wichtigsten 
theoretischen  Begriffe  werden  jeweils,  wenn  sie 
zum  Verständnis  nicht  mehr  zu  entbehren  sind, 
an  passender  Stelle  besprochen.  Der  Verf.  ist 
sich  selbst  bewußt,  daß  bei  dieser  Methode  dem 
Lernenden  anfänglich  manches  unklar  bleiben 
wird.  Er  glaubt  aber,  daß  nach  der  Durch- 
arbeitung des  ganzen  Buches  die  Ordnung  und 
Gesetzmäßigkeit  der  regellos  anmutenden  Vor- 
gänge ersichtlich  werden  muß,  und  empfiehlt  des- 
wegen nach  der  ersten  Durcharbeitung  sein  Buch 
noch  einmal  durchzulesen.  Ich  kann  dem  bei- 
pflichten und  bin  der  Meinung,  daß  die  Methode 
des  Verf.  sich  bewähren  muß.  Das  Buch  ist  nicht 
geeignet  zum  Einpauken  für  ein  Examen,  wohl 
aber  als  Wegweiser  für  den  Studierenden,  der 
außerdem  Kolleg  und  Praktikum  nicht  versäumt. 
Dadurch,  daß  zum  Schluß  noch  eine  sehr  klare 
Anleitung  zur  Ausführung  einfacher  Versuche  ge- 
geben ist,  wird  die  Brauchbarkeit  des  Buches  noch 
erhöht.     Hoffentlich   folgt    bald   der   zweite  Teil, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  die  organische  Chemie  enthalten  soll.  Wird 
er  so  gut  wie  der  erste,  so  wird  man  ein  Werk 
vor  sich  haben,  das  den  Bedürfnissen  der  Medizin 
oder  andere  biologische  Fächer  Studierenden  voll 
gerecht  sein  wird. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Mannheim,  Prof.  Dr.  E.,  Pharmazeutische 
Chemie.  IV.  Übungspräparate.  2.  Auflage. 
Berlin  und  Leipzig  192 1,  Vereinigung  wissen- 
schaftlicher Verleger.  9  M. 
Da  erfahrungsgemäß  der  praktische  Apotheker 
so  gut  wie  alle  pharmazeutischen  Präparate  von 
der  Industrie  bezieht,  die  sie  in  der  Regel  billiger 
und  besser  herstellt  als  es  im  Kleinbetrieb  mög- 
lich ist,  so  ist  eine  Ausbildung  im  Präparieren 
gerade  solcher  Stoffe  nicht  mehr  zeitgemäß. 
Die  Mannigfaltigkeit  an  Wissenschaft,  die  vom 
Pharmazeuten  in  seinen  akademischen  Prüfungen 
gefordert  wird,  schließt  es  ebenfalls  aus,  daß  er 
sich  die  feinen  Sonderkenntnisse  selbst  im  Che- 
mischen aneignet,  die  doch  nun  einmal  nötig  sind, 
um  in  jeder  Richtung  befriedigendes  Präparieren 
zu  gewährleisten!  Versagt  doch  die  Mehrzahl 
der  Pharmazeuten  selbst  in  der  Analyse,  wie  Be- 
richterstatter immer  wieder  feststellen  mußte. 
Ein  Buch  wie  das  vorliegende  erscheint  ihm  da- 
rum grundsätzlich  entbehrlich,  in  Anbetracht  der 
bereits  vorhandenen  reichen  pharmazeutischen 
Literatur. 

Von  diesen  Erwägungen  abgesehen,  kann  dem 
Bändchen,  das  in  der  bekannten  Ausstattung  der 
Sammlung  Göschen  erschien,  das  Zeugnis  großer 
Gewissenhaftigkeit  in  allen  Angaben  ausgestellt 
werden.  Die  zu  verarbeitenden  Stoffmengen  er- 
fordern allerdings  den  Geldbeutel  eines  —  Apo- 
thekenbesitzers. H.  Heller. 


Register  zum  Zoologischen  Anzeiger   Band  36 
bis  40  und  Bibliographia  zoologica  vol.  18  bis  22. 
V  und  695  Seiten.   8".    Leipzig   1922,  W.  Engel- 
mann.    Preis  280  M. 
Es    handelt   sich    nicht,    wie  man  nach  dem 
Titel  annehmen  könnte,    um    ein  Register  zu  den 
genannten    Bänden    (1910    [Juli]    bis     191 2)     des 
Zoologischen   Anzeigers,  sondern  um   eins  zu  den 
diesen    angehängten    Bänden     der     Bibliographia 
zoologica,  welche  bekanntlich,  solange  sie  erschien, 


d.  i.  bis  1916,  die  gesamte  zoologische  Lite- 
ratur registrierte.  Da  letzteres  selbstverständlich 
nicht  anders  als  hinterherfolgend  geschehen  kann 
und  der  zeitliche  Abstand  zwischen  dem  Erschei- 
nen einer  Arbeit  und  ihrer  Registrierung  in  der 
Bibliographie  ein  sehr  verschiedener,  noch  nicht 
einjähriger  bis  etwa  zehnjähriger  war,  so  darf 
man  nicht  erwarten,  daß  das  vorliegende  Register 
einen  bestimmten  Zeitraum  vollständig  umfaßte. 
Zu  etwas  Vollständigem  wird  es  vielmehr  erst 
zusammen  mit  den  gleichartigen  früheren  und  den 
wohl  zu  erwartenden  späteren  Registern  und  mit 
der  Taschenbergschen  Bibliotheca  zoologica  des 
gleichen  Verlags,  welche  die  ältere  Literatur,  aus 
den  Jahren  1846  bis  1880,  registriert  und  durch 
die  Bibliographia  zoologica  und  deren  Register- 
bände fortgesetzt  wird.  —  In  der  Nomenklatur 
wird  möglichst  der  Leunis-Ludwigschen  „Synopsis 
der  Tierkunde"  gefolgt.  Das  Register  enthält: 
I.  alle  Autoren  nebst  den  von  ihnen  verfaßten 
Artikeln  in  Schlagwörtern,  2.  alle  systematischen 
Namen,  soweit  sie  aus  den  Titeln  der  Aufsätze 
oder  den  in  der  Bibliographie  beigegebenen  No- 
tizen zu  entnehmen  waren,  insbesondere  alle  auf- 
geführten neuen  Gattungsnamen;  bei  diesen  und 
Speziesnamen  wurde  auch  das  Wohngebiet  ange- 
geben. 

Durch   diese   Art   der  Anlage  wurde   das  Re- 
gister so  wenig  umfangreich  wie  möglich  gestaltet. 
V.  Franz,  Jena. 


Schilder,  Paul,  Über  das  Wesen  der  Hyp- 
nose. 32  S.  Berlin  1922,  Julius  Springer. 
Der  gebildete  Laie  habe  Anspruch  darauf, 
„auch  außerhalb  der  Varietes  etwas  über  Dinge 
zu  erfahren,  die,  ihrer  Natur  nach  an  die  großen 
Probleme  der  Menschheit  streifend,  das  Interesse 
der  Allgemeinheit  erwecken  müssen".  • —  So  der 
Verf.  in  seinem  Vorwort.  Er  bringt  dann  eine 
sehr  interessante  Studie,  die  in  dem  Satze  gipfelt, 
„daß  der  psychologische  Zustand  der  Hypnose 
ein  Zustand  der  Wiederkehr  des  Undifferenzierten 
ist",  „eine  Rückkehr  zu  einer  früheren  Stufe  der 
Entwicklung,  psychoanalytisch  gesprochen  eine 
Regression".  —  Die  Ausführungen  des  Verf  sind, 
wie  gesagt,  sehr  interessant,  aber  ein  wirklicher 
Laie  in  psychologischen  Dingen  wird  ihnen  doch 
nicht  zu  folgen  vermögen. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Inhftlt:  O.  Kende,  Der  österreichische  Anteil  am  Böhmischen  Massiv.  S.  353.  —  Einzelberichte:  E.  Winterstein 
und  D.  Jatrides,  Taxin,  ein  Alkaloid  der  Eibe.  S.  359.  K.  H.  Meyer  und  H.  Hopff,  Zur  Theorie  der  Substi- 
tutionsvorgänge. S.  360.  Lüp  p  o-C  ramer  ,  Die  Desensibilisierung  des  Bromsilbers.  S.  361.  Sitowski,  Der  Kiefern- 
spanner und  seine  Schmarotzer.  S.  362.  G.  Lindau,  Pflanzenreste  aus  Pfahlbauten.  S.  363.  E.  Krause,  Di-  und 
Triphenylblei.  S.  363.  —  Bücberbesprechungen:  S.  Plate,  Fauna  et  anatomia  ceylanica.  S.  364.  E.  Kretsch- 
mer,  Medizinische  Psychologie.  8.365.  M.  Weiser,  Das  Atom.  S.  365.  Kr.  Dahl,  Grundlagen  einer  ökologischen 
Tiergeographie.  S.  366.  E.  Stern,  Die  krankhaften  Erscheinungen  des  Seelenlebens.  S.  366.  A.  Brehm,  Kleine 
Schriften.  S.  367.  II.  P.  Kaufmann,  Lehrbuch  der  Chemie  für  Mediziner  und  Biologen.  S.  367.  E.  Mannheim, 
Pharmazeutische  Chemie.  S.  368.  Register  zum  Zoologischen  Anzeiger.  S.  36S.  P.  Schilder,  Über  das  Wesen  der 
Hypnose.    S.  368. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  II.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m,  b,  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  2i.  Band; 
sr  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  2.  Juli  1922. 


Nummer  JJ7. 


Die  Eiszeit  in  Deutschland  und  der  vorgeschichtliche  Mensch. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  K.  Olbricht-Breslau. 

Mit  3  Abbildungen. 


Vor  eineinhalb  Jahren  berichtete  ich  in  dieser 
Zeitschrift  kurz  über  „den  Verlauf  des  Eiszeit- 
alters in  Nordeuropa"  (35.  Band,  S.  311  bis  316) 
und  ergänzte  diesen  Aufsatz  durch  eine  Berech- 
nung über  „die  Dauer  der  Eiszeit"  (36.  Band, 
S.  229). 

Im  Anschluß  an  eigene  zum  Teil  schon  im 
Druck  befindliche  Forschungen  und  in  Anlehnung 
an  wichtige  Neuerscheinungen  berichte  ich  in 
folgenden  Zeilen  über  den  Verlauf  der  Eiszeit  in 
Deutschland  und  die  Bedeutung  derselben  für  die 
Landschaftsformen  unseres  Vaterlandes.  Da  es 
sich  immer  deutlicher  herausstellt,  daß  die  eiszeit- 
lichen Klimaschwankungen  über  die  ganze 
Erde  hin  gleichzeitig  erfolgten,  schneide 
ich  auch  hin  und  wieder  die  Frage  nach  der 
Parallelisierung  der  Ablagerungen  ver- 
schiedener Vereisungs  gebiete  an.  Ist 
diese  doch  auch  von  allergrößter  Bedeutung  für 
die  Chronologie  der  eiszeitlichen  menschlichen 
Kulturen! 

Dementsprechend  gliedere  ich  die  folgenden 
Betrachtungen  in  drei  Hauptteile. 

I.  Der  Verlauf  der  Eiszeit  in  Norddeutschland. 

II.  Die  Dauer  der  Eiszeit. 

III.  Eiszeit  und  Mensch  im  deutschen  Ver- 
eisungsgebiet und  die  Entwicklung  der  Besiedlung 
Deutschlands  nach  der  Eiszeit. 

I.  Von  der  ältesten  Vereisung,  die  in 
den  Alpen  durch  die  älteren  Deckenschotter 
vertreten  wird  und  deren  Ablagerungen  in  Nord- 
amerika als  „oldest  drift"  (Jerseyau)  bekannt  sind, 
besitzen  wir  im  nordeuropäischen  Vereisungsge- 
biet keinerlei  Ablagerungen. 

Wir  dürfen  daraus  nicht  den  Fehlschluß  ziehen, 
daß  sie  überhaupt  nicht  vorhanden  gewesen  sind, 
sondern  wir  müssen  eher  annehmen,  daß  sie 
später  wieder  zerstört,  beziehungsweise 
bis  zur  Unkenntlichkeit  umgelagert 
wurden.  Die  Ablagerungen  dieser  ältesten  Ver- 
eisung (Günzeiszeit)  erreichten  —  wie  aus  Ana- 
logien mit  den  Alpen  gefolgert  werden  muß  — 
wahrscheinlich  nur  die  südlichen  Randgebiete  der 
Ostsee,  kamen  später,  einschließlich  des  nur  wenig 
entwickelten  Lößgürtels,  in  die  Abtragungszone 
der  Hauptvereisung  und  wurden  so  ganz  zerstört 
oder  umgelagert. 

Ein  wichtiger  Punkt  für  diese  Fragestellungen 
ist  die  englische  Ostküste  bei  Cromer,  deren 
Forest  beds  (F  der  Karte)  unter  Moränen  der 
Hauptvereisung  liegen  und  Bildungen  der  ältesten 
Sonst      im      nordeuropäischen      Vereisungsgebiet 


nirgends  bekannten  Zwischeneiszeit  sind.  Unter 
diesen  Forest  beds  mit  ihrer  warmen  und  tertiäre 
Anklänge  zeigenden  Fauna  (Elephas  meridionalis, 
El.  antiquus,  Rhinoceros  merckii)  lagern  die  Chilles- 
fords  beds  mit  deutlich  nordischem  Ein- 
schlag und  vor  allem  22  "/q  arktischen  und  50"/^ 
nordischen  Mollusken.  In  ihnen  kann  man 
nur  die  letzte  Fernwirkung  eines  ältesten 
Inlandeises  sehen. 

Bei  der  geringen  Ausdehnung  und  kurzen 
Dauer  dieser  ältesten  Vereisung  (bedingt  vielleicht 
durch  das  damals  noch  wenig  aufgewölbte  Skan- 
dinavien mit  seinen  ausgedehnten  jungtertiären 
Einebnungsflächen)  erklärt  es  sich,  daß  die  warme 
pliozäne  Tierwelt  nur  wenig  verdrängt  wurde 
und  in  der  ältesten  Zwischeneiszeit  wieder  nach 
dem  mittleren  Europa  zurückwanderte. 

Da  die  Mosbacher  Sande  und  die  Ab- 
lagerungen von  Mauer  faunistisch  enge  Be- 
ziehungen zu  den  Forest  beds  aufweisen,  möchte 
ich  auch  diese  beiden  Ablagerungen  in  das  älteste 
Interglazial  stellen.  Wir  erhalten  hierdurch  für 
den  Homo  heidelbergensis  ein  außerordent- 
lich hohes  Alter,  auf  das  aber  auch  andere  Er- 
scheinungen hinweisen.  In  Nordamerika  stammen 
aus  dieser  Zwischeneiszeit  die  im  Staate  Iowa 
erschlossenen  Aftonian  Beds  mit  einer  starke 
tertiäre  Anklänge  zeigenden  Fauna.  Da  findet 
sich  nicht  nur  das  später  ausgestorbene  Pferd  und 
der  Kolumbuselefant  vereint  mit  dem  aus  kühleren 
Abschnitten  dieser  Zeit  hier  zum  erstenmal  auf- 
tretenden Mammut  (Elephas  primigenius),  sondern 
auch  das  aus  Südamerika  eingewanderte  Mylodon 
als  Vertreter  der  Riesenfaultiere. 

Nunmehr  folgt  die  zweite  oder  Hauptver- 
eisung, deren  freien  Eisrand  wir  nur  im  russischen 
Flachland  finden,  während  sich  in  Mitteleuropa 
das  Eis  an  den  Gebirgen  staute  und  nicht  zur 
vollen  Entfaltung  kam  und  im  niederrheinischen 
Tiefland  endlich  infolge  späterer  jüngerer  Senkungs- 
vorgänge von  den  Schottern  des  Rheins,  der 
Maas  und  den  Ablagerungen  flacher  sandiger 
Meere  überschüttet  wurde.  Das  nordische  Inland- 
eis ergoß  sich  auch  über  den  Ostsporn  Südeng- 
lands (Karte,  wo  M  den  Rand  der  Haupt-  oder 
Mindelvereisung  bedeutet).  In  Schlesien 
überschritt  das  Eis  auch  die  Wasserscheide  zwischen 
Oder  und  March  und  schüttete  in  das  Beczwatal 
einen  großen  Sandrkegel,  in  den  sich  in  der 
folgenden  Zwischeneiszeit  der  Fluß  ein  über  60  m 
tiefes  Tal  eingrub. 

Der  periglaziale  zur  Hauptvereisung  gehörige 


370 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


Durch  das  Zeichen  von  Grasland  ist  das  unvereiste  Gebiet  zwischen  den  Alpengletschern  und  dem  skandinavischen  Inlandeis 
wiedergegeben.  Die  Lü6e  sind  punktiert.  Die  wagerechte  Strichelung  bezeichnet  Flüsse  mit  Scholterterrassen.  Der  äußerste 
Rand  des  nordischen  Inlandeises  ist  durch  eine  dick  gestrichelte  Linie  (M)  gekennzeichnet,  wobei  die  Gebirge,  an  denen  das 
Eis  sich  stauen  mufite,  senkrecht  gestrichelt  wurden.  Die  Pfeile  bezeichnen  die  Richtung  der  den  Löß  aufwehenden  Eisföhne, 
die  gekreuzelte  Linie  die  Begrenzung  der  diluvialen  Depression,  die,  wie  ein  Vergleich  mit  dem  schematischen  Profil  lehrt, 
wahrscheinlich  das  Zungenbecken  des  Inlandeises  der  Hauptvereisung  ist.  Die  von  Ostseebuchten  erfüllten  Teilzungenbecken 
der  Ostsee,  die  aus  der  Würmeiszeit  stammen,  sind  wagerecht  gestrichelt.  Die  den  Ancylussee  entwässernden  Klußrinnen,  die 
durch  die  Litorinasenkung  von  der  Ostsee  überflutet  wurden,  sind  ebenfalls  zwischen  den  dänischen  Inseln  eingezeichnet. 
Das  Altmoränengebiet  mit  seiner  eisenschüssigen  Verwitterung  ist  schräg  schraffiert,  die  Fundorte  diluvialer  Kulturen  sind 
durch  liegende  Kreuze  bezeichnet.     Alle  übrigen  Bezeichnungen  sind  im  Text  erklärt. 


älteste  Löß  (iVIindellöß)  ist  in  der  folgenden 
Zwischeneiszeit  zumeist  wieder  abgetragen  worden 
und  findet  sich  in  großer  Erstreckung  unter  den 
jüngeren  Lößen  nur  in  den  russischen  Steppen 
(Steilküste  bei  Odessa)  und  in  Ungarn,  wo  er  in 
großer  Ausdehnung  am  Steilufer  der  Donau  von 
Budapest  bis  Belgrad  aufgeschlossen  ist.  In 
Deutschland  sind  nur  wenige  nicht  ganz  sichere 
Reste  bekannt,  so  vor  allem  bei  Achenheim  (bei 
Straßburg).  Auch  in  der  eigenartigen  2,25  m 
mächtigen  Lettenbank,  welche  die  Maurer  Sande 
über  der  Fundschicht  des  Homo  heidelbergensis 
durchzieht,  möchte  ich  einen  fluviatil  umgelagerten 
ältesten  Löß  sehen,  wofür  auch  andere  Erschei- 
nungen sprechen. 

Auf  die  Haupt vere  isung  folgt  eine 
lange  warme  Zwischen  eiszeit  mit  An- 
deutungen heißen  mediterranen  Klimas  und  aus- 
gedehnten Abtragungsvoigängen,  das  ist  die  „große 
Interglazialzeit"  der  Schweizer  Geologen. 

In  ihr  wanderte  die  an  warmes  Klima  ange- 
paßte Tier-  und  Pflanzenwelt  teilweise  zurück,  wie 
vor  allem  die  Funde  der  Tegelenstufe  am  Nieder- 
rhein zeigen,  die  sogar  Magnolien  enthalten.  Der 
Altclefant  (Elephas  antiquus)  und  das  Merckiische 
Nashorn  (Rhinoceros  mcrckii)  sind  weit  verbreitet, 


die  heute  nur  in  Nordafrika  und  Vorder-  und 
Südasien  lebende  Corbicula  fluminalis  wandert  bis 
nach  Dänemark.  Häufig  ist  die  Paludina  dilu- 
viana  und  ein  breiter  Meeresarm  mit  warmer 
lusitanischer  Molluskenfauna  flutet  über  tiefe  offen- 
bar als  Zungenbecken  dieser  Hauptvereisung  (2.  T. 
Linstows  „diliiviale  Depression")  entstandene  eine 
vergrößerte  Ostsee  darstellende  Senken  weit  nach 
West-  und  Ostpreußen.  Die  Alpen  erstickten  in 
dieser  Zwischeneiszeit  wahrscheinlich  in  ihrem 
eigenen  Schutt,  der  sie  bis  über  2000  m  verhüllte 
und  von  einer  warmen  Pflanzenwelt  bewachsen 
war  (Funde  der  pontischen  Alpenrose  in  der 
Höttinger  Breecie).  Das  weist  auf  ein  trockenes 
Steppenklima  hin,  welches  möglicherweise  zum 
Teil  dadurch  bedingt  war,  daß  der  Westeuropa 
in  großer  Breite  umgebende  Flachseegürtel  ver- 
landet war  und  die  regenspendende  See  viel  weiter 
westlich  lag. 

Wichtiger  aber  sind  die  auf  warmes  heißes 
Klima  hinweisenden  Verwitterungserschei- 
nungen, die  vor  allem  die  Deckenschotter  der 
Südalpen  zu  dem  leuchtend  roten  lateritartigen 
Feretto  umwandelten.  In  abgeschwächtem 
Umfange  konnte  ich  ähnliche  Erscheinungen  an 
zahlreichen  Stellen  Süd-Hannovers  und  Schlesiens 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


37t 


im  Liegenden  der  dortigen  Rißmoränen  beobachten. 
Vielfach  sind  die  älteren  Ablagerungen  der  Haupt- 
vereisung stark  verkittet.  Die  Feuersteine  sind,  wie 
die  gleichaltrigen  Fäustel  der  Chelelen  und  Alt- 
acheuleen  in  Frankreich,  mit  leder-  bis  blutroter 
Patina  überzogen  und  manche  der  völlig  ver- 
morschten Geschiebe  zeigen  schalenartige  Ab- 
sonderung, gewaltige  Manganrindenbildung  und 
wüstenlackähnliche  Politur.  Derartig  dunkelrote 
Verwitterungsdecken  (Laimenrinden)  überziehen 
auch  den  ältesten  Löß.  Daß  auch  die  unteren 
Abteilungen  des  chinesischen  Lößes  rot- 
braun verfärbt  sind,  ebenso  die  älteren  Teile  der 
Pampaslehme  Südamerikas,  ist  ein  weiterer  wich- 
tiger Hinweis  auf  die  Universalität  dieser  Er- 
scheinungen, auf  die  auch  jeder  Erklärungsver- 
such der  Eiszeit  sich  einstellen  muß. 

Auf  die  Länge  dieser  Zwischeneiszeit  weisen 
nicht  nur  mächtige  tiefgehende  Zer- 
setzungserscheinungen —  vor  allem  in 
den  alpinen  Schottern  —  hin,  sondern  auch  die 
Tatsache  der  weitgehenden  Abtragung  des  ältesten 
Löß  und  der  zugehörigen  Glazialbildungen,  wie 
endlich  auch  die  starke  Hebung  der  Alpen,  die 
erheblich  größer  war,  als  in  den  folgenden  jüngeren 
Abschnitten  des  Diluviums. 

Da  in  der  Hauptvereisung  das  Renntier  bis 
Nordspanien  wanderte,  und  umgekehrt  in  der 
großen  Zwischeneiszeit  wärmeliebende  südliche 
Mollusken  sich  bis  zum  mittleren  Europa  ver- 
breiteten, kann  man  aus  diesen  Verbreitungser- 
scheinungen, erweitert  durch  die  klimatischen 
Faktoren  —  Ausbreitung  der  Eisdecken  einerseits, 
der  Roterden  andererseits  —  den  Schluß  ziehen, 
daß  die  Hauptvereisung  etwa  ein  Verschieben  der 
Klimaverhältnisse  Europas  um  18  Breitenkreise 
nach  Süden,  die  große  Zwischeneiszeit  eine  solche 
von  etwa  10  Breitenkreisen  nach  Norden  bedeutet. 
Das  sind  rohe  Annäherungswerte  für  die  relative 
Länge  beider  Zeiten  —  vorausgesetzt  daß  die 
eiszeitlichen  Klimawellen  wie  alle  Wellenerschei- 
nungen eine  gewisse  Regelmäßigkeit  zeigen  — , 
deren  Bedeutung  wir  noch  kennen  lernen  werden. 

Es  folgt  die  vorletzte  oder  Rißvereisung 
(Rj  der  Karte).  Sie  erreichte  in  den  Alpen,  die 
in  der  vorhergehenden  Interglazialzeit  um  mehr 
als  200  m  gehoben  wurden,  die  größte  Ausdeh- 
nung. Im  nordeuropäischen  Vereisungsgebiet 
bleiben  ihre  Moränenwälle  jedoch  hinter  dem 
Verbreitungsgebiet  der  Hauptvereisung  zurück 
und  auch  in  Nordamerika  erreicht  diese  als 
lllinoiandrift  bezeichnete  Vereisung  nicht  die 
Ausdehnung  der  älteren  Kansasvereisung. 

Im  schlesisch  polnischen  Grenzgebiet  hat  das  In- 
landeis den  Karpathenrand  nicht  mehr  erreicht,  so 
daß  die  aufgestaute  obere  Oder  eine  50  m  über  dem 
Fluß  gelegene  Hochterrasse  bildete.  Im  Saale- 
gebiet drang  das  Eis  bis  in  die  Gegend  von  Jena, 
im  Leinetal  bis  Alfeld  und  vermengte  seine 
Sandr  bei  Hameln  bis  an  die  Weser  vorstoßend 
mit  der  durch  Aufstau  dieses  Flusses  entstandenen 
mittleren  Weserterrasse.  *)     Am  Niederrhein  end- 


lich wurden  die  von  Krefeld  und  Kleve  bis  an 
die  Zuidersee  sich  hinziehenden  Moränenwälle 
aufgepreßt,  wobei  durch  Stauwirkung  die  mäch- 
tige breite  Hauptterrasse  entstand,  unter 
welcher  das  warme  Tegeleninterglazial  erbohrt 
wurde. 

Nicht  erweisbar  ist  es,  ob  das  Eis  noch  Süd- 
ostengland erreichte.  Es  ist  jedoch  nicht  ausge- 
schlossen, daß  die  Moränenwälle  bei  bei  Norwich 
(R?  auf  der  Karte)  den  äußersten  Rand  der  Riß- 
vereisung bezeichnen,  zumal  das  über  den  Forest- 
beds  lagernde  Glazialdiluvium  eine  Zweiteilung 
anzudeuten  scheint  und  deutliche  Endmoränen- 
wälle aus  der  Mindeleiszeit  sonst  nirgends  erhalten 
sind.  Nur  eine  Untersuchung  an  Ort  und  Stelle 
mit  den  im  alpinen  und  norddeutschen  Gebiet 
ausgebauten  Methoden  könnte  diese  Frage  ein- 
wandfrei entscheiden,  da  die  vorhandenen  Be- 
schreibungen der  Aufschlüsse  dazu  nicht  ausreichen. 

Eine  wichtige  Phase  bei  dem  Abschmelzen 
des  Rißeises  bezeichnen  die  Moränenwälle  an  der 
Ems  und  Glatzer  Neiße  (R2  der  Karte),  die  in 
annähernd  gleicher  Entfernung  vom  Rande  des 
letzten  Würmeises  liegen.  Eine  noch  jüngere 
Staffel  wird  in  Schlesien  durch  mit  Zungen- 
becken verknüpfte  Moränenwälle  angezeigt,  die 
von  Görlitz  über  die  Liegnitzer  Gegend  (nördlich 
von  Lüben)  bis  zu  den  Wartenberger  Höhen  zu 
streichen  scheinen.  Vielfach  weisen  langgestreckte 
Hügelzüge,  die  verebneten  Drumlins  nicht  un- 
ähnlich sind,  auf  die  Eisbewegung  hin.  In  groß- 
artigem Umfange  finden  wir  solche  Formen  zwi- 
schen Breslau  und  dem  Zobten,  sowie  südöstlich 
von  Liegnitz.  Wir  müssen  aus  ihrer  Anordnung 
schließen,  daß  das  Eis  in  südöstlicher  Richtung  floß. 

Die  randlichen  Löße  der  Rißver- 
eisung erreichen  ihre  größte  flächenhafte  Aus- 
bildung in  Osteuropa  und  Ungarn,  wo  sie  bis 
Odessa  und  Belgrad  verfolgt  werden  können. 
Auch  in  Südbelgien  und  Nordfrankreich  sind  sie 
weit  verbreitet  und  überlagern  die  Terrassen  des 
Somme-  und  Seinetales,  die  also  älter  sein  müssen 
und  zumeist  in  der  großen  Interglazialzeit  auf- 
geschüttet wurden,  wie  ihre  warme  Fauna  mit 
großen  Dickhäutern  zeigt. 

Inzwischen  hat  sich  das  Mammut  weiter  ent- 
wickelt und  seine  Reste  finden  wir  vielfach  in 
Moränen  und  Lößen  der  Rißvereisung  vereint 
mit  polaren  Säugern  wie  Wollnashorn,  Renntier, 
Elch  und  Moschusochse. 

Die  Löße  der  Rißeiszeit  sind  auch  in  der 
Oberrheinischen  Tiefebene  weit  verbreitet,  sowie 
im  Wesergebiet  südlich  von  Hameln  und  in 
Thüringen  vor  allem  in  der  Gegend  südlich  von 
Erfurt.  Auch  die  unteren  Teile  der  Löße  des 
Donautales  in  der  Wachau  stammen  aus  dieser 
Zeit. 

Die    Ablagerungen    der    Rißvereisung   wurden 

')  Die  ältere  Weserterrasse  entstand  durch  Aufstau  des 
Flusses  am  Rande  der  Hauptvereisung  und  ihre  stark  verwach- 
senen Formen  sind  ein  weiterer  Beweis  für  die  Länge  der 
grofien  Interglazialzeit. 


5^^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  2; 


in  der  folgenden  Rißwürminterglazialzeit 
(der  letzten  Interglazialzeit  der  norddeutschen 
Geologen)  zu  ausgeglichenen  Altmoränen  ver- 
ebnet, denen  vor  allem  Seen  und  frischere  End- 
moränenwälle fehlen.  Das  Klima  war  wärmer, 
wie  das  der  Jetztzeit,  so  daß  die  Altmoränen  stark 
eisenschüssig  und  die  Löße  zu  braunroten  Laimen- 
rinden  verwitterten,  oder  stark  verlehmten,  wie 
die  Göltweiger  Zone.  Auch  entstanden  in  trocke- 
nen Zeiten  „vergrabene"  Schwarzerden,  wie  sie 
vor  allem  aus  Rheinhessen  bekannt  wurden. 
Doch  sind  die  eisenschüssigen  Verwitterungs- 
rinden weniger  stark  ausgeprägt,  wie  in  der  vor- 
hergehenden Zwischeneiszeit.  Vor  allem  fehlen 
die  intensiv  vermorschten  Geschiebe  und  die  IVIan- 
ganrinden  und  lederbraunen  Patinierungen.  Ab- 
lagerungen dieser  Interglazialzeit  sind  recht  häufig. 
Das  sind  vor  allem  die  Kieselgur-  und  Süß- 
wasserkalklager der  Lüneburger  Heide  mit 
ihrer  der  heutigen  durchaus  gleichenden  Lebewelt. 
iVIit  stellenweise  mehr  als  20  m  IVIächtigkeit  weisen 
sie  auf  eine  nicht  unbeträchtliche  Länge  dieser 
Zwischeneiszeit  hin.  Ebenso  finden  wir  in  der 
Lüneburger  Heide  mehr  als  20  m  mächtige  Ver- 
witterungsrinden. Auf  die  Wichtigkeit  des  Inter- 
glazials  von  Hernösand  (250  krp  nördlich  von 
Stockholm)  mit  seiner  gemäßigten  Flora  wies  ich 
schon  früher  hin. 

In  Mitteldeutschland  gehört  in  diese  Zwischen- 
eiszeit der  berühmte  Kalktuff  von  Weimar- Tau- 
bach-Ehringsdorf,  der  19  m  mächtig  ist  und  in 
seinen  mittleren  Schichten  das  Merckiische  Nas- 
horn und  den  Altelefanten  mit  anderen  warm  ge- 
mäßigten Säugern  enthält. 

Daß  auch  in  Nordamerika  in  dieser  Zeit  wär- 
mere Klimaverhältnisse  vorlagen  als  heute,  zeigen 
die  interglazialen  Ablagerungen  von  Toronto  und 
die  Sangamonbeds  in  Illinois.  Zahlreiche  Andeu- 
tungen von  Krustenbewegungen  liegen  aus  dieser 
Zeit  für  Norddeutschland  vor.  Nur  durch  solche 
konnten  die  Kreidehorste  von  Möen  und  Rügen 
emporgehoben  werden,  die  von  dem  letzten  In- 
landeis stellenweise  als  wurzellose  Schollen  ver- 
schleppt wurden.  Auch  die  Trebnitzer  Hügel 
mit  ihrem  mehrere  Kilometer  langem  ganz  gerad- 
linig verlaufenden  Südabbruch  kann  man  wohl 
nur  tektonisch  erklären  und  in  diese  Zwischen- 
eiszeit setzen,  da  sie  aus  Rißdiluvium  bestehen 
und  der  Würmlöß  schon  in  den  in  sie  eingetieften 
Tälern  lagert.  Auch  andere  Höhenrücken  wie 
die  Dalkauer  Berge  bei  Glogau  halte  ich  für  ver- 
waschene Horste  (T  auf  der  Karte  bedeutet  tek- 
tonische  Linien). 

Die  Grenzen  der  letzten  Vereisung 
(Würmeiszeit,  in  Amerika  Wisconsin)  sind 
schon  verhältnismäßig  gut  festgelegt. 

Ihre  Moränenwälle  werden  wegen  der  frische- 
ren Formen  als  Jungendmoränen  bezeichnet. 
Die  äußersten  Jungendmoränenwälle  streichen  von 
Plozk  an  der  Weichsel  über  das  Warteknie  bei 
Kolo  zur  Lissa  Gora,  lassen  sich  weiterhin  über 
Lissa    nach    Grünberg    verfolgen,    wo    schön  ent- 


wickelte Jungmoränenwälle  Braunkohlen  aufge- 
staucht haben.  Dasselbe  gilt  von  dem  wunder- 
vollen bogenförmigen  Moränenwall,  den  die  Gör- 
litzer Neiße  bei  Muskau  durchbricht.  Von  hier 
aus  streichen  Jungendmoränenwälle  über  Sprem- 
berg  in  die  Dübener  Heide  (südöstlich  von  Dessau) 
und  lassen  sich  über  Köthen  und  Kalbe  bis 
Magdeburg  verfolgen.  Weiter  westlich  hat  das 
Würmeis  die  Täler  der  Aller  und  Weser  nicht 
mehr  überschritten  (W  auf  der  Karte)  und  seine 
äußersten  gut  erkennbaren  Endmoränen  bilden 
die  Höhen  der  Wingst  zwischen  Stade  und  Bremer- 
haven. 

In  Schleswig- Holstein  tauchen  die  Jungmoränen- 
gebiete, überragt  von  inselartig  aufragenden  Alt- 
moränenhöhen mit  eisenschüssiger  Verwitterung, 
infolge  jüngerer  Senkungsvorgänge  unter  die  Nord- 
see, so  daß  die  auf  der  Karte  dargestellte  ge- 
strichelte Fortsetzung  hypothetisch  bleibt.  Eine 
solche  Altmoräneninsel  bildet  auch  den  Kern  von 
Sylt  mit  dem  berühmten  Roten  Kliff. 

Die  äußersten  Sandr  des  Jungmoränen- 
gebietes kontrastieren  durch  ihre  hellen  gelb- 
lichweißen Farben  lebhaft  von  den  eisenschüssig 
verwitterten  Altmoränen  und  verknüpfen  sich 
mehrfach  mit  breiten  sandigen  Schuttkegeln 
der  von  Süden  kommenden  und  am  Eisrande  ge- 
stauten Flüsse.  Bei  der  Görlitzer  Neiße  ist  dieser 
Schuttkegel,  in  den  sich  der  Fluß  später  20  m  tief 
eingrub,  besonders  gut  entwickelt,  aber  auch  Bober, 
Spree,  Saale,  Elbe  und  Weser  zeigen  Terrassen- 
bildungen, die  mit  dem  Aufstau  am  Rande  des 
Inlandeises  in  Zusammenhang  stehen. 

Aus  dem  Vorhandensein  derartiger  Schutt- 
massen, welche  die  Flüsse  nach  N  verfrachteten, 
müssen  wir  schließen,  daß  das  Vorland  wenig 
durch  Pflanzenwuchs  gefestigt  war,  von  regen- 
spendenden Winden  überweht  wurde  und  einen 
tundraartigen  Eindruck  machte.  Eine  solche 
periglaziale  Tundra  überzog  wahrscheinlich 
das  ganze  unvergletscherte  Deutschland  zwischen 
dem  skandinavischen  und  alpinen  Vergletsche- 
rungsgebiet,  wie  dies  auf  der  Karte  für  die 
Mindelvereisung  dargestellt  ist.  Bewegungen  des 
durchfeuchteten,  gefrierenden  und  dann  wieder 
auftauenden  Bodens  spielten  im  hügeligen  Ge- 
lände sicher  eine  Rolle.  So  erklären  sich  wahr- 
scheinlich die  Steinströme  und  Blockmeere,  die 
im  deutschen  Mittelgebirge  so  zahlreich  sind; 
aber  auch  die  ausgedehnten  Gehängeschuttdecken, 
die  teilweise  von  Löß  überlagert  werden,  und 
leider  bisher  von  geologischer  Seite  recht  stief- 
mütterlich behandelt  sind.') 


')  In  großem  Umfange  beobachtete  ich  solche  Gehänge- 
schuttdecken im  Böhmerwald,  in  den  Bergen  südlich  von 
Hildesheim  —  hier  stellenweise  unter-  und  überlagert  von 
Lößen  — ,  sowie  in  der  Lüneburger  Heide.  Hier  entstanden 
sie  in  der  Tundrazeit  beim  Abschmelzen  des  Würmeises,  als 
die  Landschaft  mit  ihren  großen  Höhenunterschieden  (vgl. 
meine  Höhenkarte  der  Lüneburger  Heide  in  Petermanns  Mit- 
teilungen 1910,  11.  Teil,  Tafel  21)  mehrere  Jahrtausende  ohne 
schutzende  Pflanzendecke  lag  und  stark  zertalt  wurde.  Dieser 
natürlichen    Erklärung    steht    die    gekünstelte    durch  keinerlei 


N.  F.  XXI.  Nr.  z^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


373 


Einen  besonders  interessanten  Fall  stellt  der 
unter  einer  dünnen  Lößdecke  lagernde  Schutt- 
strom vom  Breiten  Berge  bei  Striegau  dar.  In 
ihm  wurden  Renntierknochen  gefunden  als  erster 
paläontologischer  Beweis  des  Alters  derartiger 
Bildungen. 

Die  periglaziale  Tundra  reichte  wohl  kaum 
bis  zum  Eisrande,  sondern  es  schob  sich  das  von 
den  Eisföhnen  übervvehte  Randgebiet  ein,  das  mit 
seinen  Dreikanterpflastern  große  Teile  vor  allem 
Schlesiens  und  Südposens  bildet.  Diese  Eisföhne 
bliesen  aus  den  Schottern,  Moränenlehmen  und 
Sandern  den  feinen  Staub  heraus  und  verfrachteten 
ihn  als  Löß  bis  an  den  Rand  der  Mittelgebirge, 
auf  die  er  stellenweise  bis  über  400  m  Höhe 
herauf  geweht  wurde.  So  entstand  zur  Würm- 
eiszeit der  jüngere  Löß  mit  seiner  hellgelben 
Farbe  und  fehlenden  rotbraunen  Laimenrinde. 
An  vielen  Stellen  verlehmte  er  später,  so  in 
großen  Teilen  Schwabens  und  im  südlichen  Ober- 
schlesien. Der  jüngere  Löß  überhüllt  in  großer 
Mächtigkeit  (im  Durchschnitt  5  bis  10  m)  die 
älteren  Löße  und  ist  auf  der  Karte  punktiert 
wiedergegeben.  Er  bedeckt  auch  einen  großen 
Teil  Ungarns  und  reicht  nach  Südosten  bis  an 
das  Schwarze  Meer  bei  Odessa.  Es  läßt  sich  so 
auf  der  Karte  leicht  feststellen,  daß  die  periglaziale 
Trockenzone  sich  strichweise  bis  600  km  vom 
Eisrande  entfernte,  es  also  keine  Schwierigkeiten 
macht,  die  Löße  Nord-  und  Mitteldeutschlands, 
sowie  auch  großer  Teile  von  Süddeutschland  als 
Erzeugnisse  der  Eisföhne  des  großen  nordischen 
Inlandeises  anzusehen.  Daß  die  Alpen  nicht  auch 
in  das  Bereich  dieser  Trockenzone  gerieten,  haben 
sie  wohl  nicht  zum  wenigsten  der  Tatsache  zu 
verdanken,  daß  sich  die  Kämme  der  Mittelgebirge 
dazwischenlegen  und  die  wohl  nur  in  den  unteren 
Teilen  der  Atmosphäre  sich  bewegenden  Eisföhne 
am  Vordringen  aufhielten,  während  die  R  lesen - 
gebirgsvergletscherung  sich  im  Schutze 
des  über  700  m  hohen  Bober- Katzbachgebirges 
entwickelte. 

Der  Reichtum  des  Löß  an  arktischen  Säugern 
zeigt,  daß  auf  der  periglazialen  Tundra  große 
Herden  von  Elchen,  Renntieren,  Moschusochsen 
und  Mammuten  weideten  und  daneben  scharen- 
weise kleine  Nager  lebten.  Interessant  sind  die 
Funde  von  Predmost  (17  der  Karte),  die  zur  An- 
nahme berechtigen,  daß  die  mittelhohen  Gebirge 
als  Waldinseln  die  Tundra  überragten  und  zahl- 
reiche Waldtiere  beherbergten.  Die  höchsten 
Teile  der  Mittelgebirge  ragten  aus  dem  peri- 
glazialen Trockenraum  in  das  Bereich  westlicher 
regenspendender  Winde  und  trugen  lokale 
kleine  Gletscher,  die  Karnieschen  aushobelten 
und  mit  Moränenwällen  Seen  abdämmten.    Solche 


zwingende  Beobachtungen  zu  beweisende  Deutung  Stollers 
gegenüber,  wonach  über  der  Heide  eine  riesige  tote  Eismasse 
liegen  blieb,  allmählich  in  ihre  Teile  zerfiel  und  durch  ihre 
Schmelzwässer  die  Täler  ausfurchte.  Das  Abbrechen  dieser 
riesigen  ,, toten  Eismasse"  soll  die  „Auskehrung  des  Eibtales" 
verursacht  haben. 


Bilder  zeigen  Vogesen,  Schwarzwald,  Böhmerwald, 
Erzgebirge  und  Riesengebirge,  aber  auch  am  Alt- 
vater und  Glatzer  Schneeberg  sind  Spuren  un- 
deutlich entwickelter  Karnieschen  angedeutet  (auf 
der  Karte  die  Dreiecke  mit  den  Anfangsbuch- 
staben der  Gebirge). 

Das  Jungmoränengebiet  unterscheidet  sich 
nicht  nur  durch  das  Fehlen  eisenschüssiger  Ver- 
witterung und  das  Vorhandensein  ausgedehnter 
kalkhaltiger  weniger  verlehmter  Geschiebemergel 
von  dem  Altmoränengebiet,  sondern  auch  durch 
die  Landschaftsformen.  Die  Endmoränenwälle 
sind  frischer  und  in  geschlossenerem  Zusammen- 
hang erhalten,  zahlreiche  Seen  sind  einge- 
streut —  meist  lange  vom  Eise  ausgehobelte 
Rinnenseen.  Auf  den  Grundmoränenböden 
finden  sich  kleine  trichterartige  Solle  und  die 
Flüsse  werden  von  deutlicher  erhaltenen  Ter- 
rassen begleitet. 

Die  Lößbildung  bezeichnet  das  Maximum 
der  Vorstoßphase  jeder  Vergletscherung  und 
setzte  ein,  sobald  das  jeweilige  Inlandeis  eine  ge- 
nügende Größe  erreicht  hatte. 

Die  Maximalausdehnung  der  Eisdecke  be- 
zeichnet einen  klimatischen  Wendepunkt.  Offen- 
bar unter  dem  Einfluß  eines  wärmer  werdenden 
Klimas  überwiegt  von  neuem  das  Abschmelzen 
das  Vorrücken  und  das  Gletscherende  schmilzt 
allmählich  ab,  wobei  vielfach  die  Verdunstung 
eine  wichtige  Rolle  scheint,  so  daß  ausgedehnte 
nicht  von  Schmelzwässersanden  überlagerte  Grund- 
moränendecken in  großer  Ausdehnung  unter  dem 
abschmelzenden  Eise  zum  Vorschein  kommen. 

Schon  diese  Darstellung  zeigt,  wie  gedankenlos 
es  ist,  von  einem  „Rückzug"  der  Gletscher  zu 
sprechen. 

Zahlreiche  Endmoränenwälle  mit  stellenweise 
vorgelagerten  Sandern  zeigen  Unterbrechungen 
des  Abschmelzens  an.  Da  kein  einziger  lebender 
Gletscher  dauernd  seinen  Rand  an  derselben  Stelle 
liegen  hat,  sondern  bald  vorrückt  und  dann  das 
Vorland  zu  Moränenwällen  aufpreßt,  bald  ab- 
schmilzt, so  widerspricht  es  der  Wirklichkeit,  in 
diesen  meist  als  Staumoränen  gebildeten  Moränen- 
wällen „Stillstandslagen"  zu  erblicken.  Es  han- 
delt sich  um  die  jeweiligen  Enden  kurzer 
Vorstöße,  welche  die  Abschmelzphase  unter- 
brechen, um  versteinerte  Obertöne  der 
großen  glazialen  Klimawellen. 

Die  dem  abschmelzenden  Inlandeise  entströ- 
menden Schmelzwässer  sammeln  sich  in  den 
Urstromtälern  an,  deren  Verlauf  im  einzelnen 
noch  recht  verwickelt  i*t,  zumal  nicht  jedes  dieser 
Täler  einer  und  derselben  Eisrandlage  angehört. 
Vielfach  scheinen  ältere  Täler  den  abschmelzen- 
den Wassermassen  als  Leitlinien  gedient  zu  haben. 

Die  wichtigste  Phase  während  der  Abschmelz- 
zeit bildet  die  baltische  Endmoräne.  Ist 
doch  der  Unterschied  der  Landschaftsformen 
zwischen  ihrem  Vorland  und  Hinterland  ein  derart 
großer,    daß    manche  Geologen  (z.  B.  Wolff)  in 


374 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


ihr  den  Rand  einer  neuen  selbständigen  Vereisung 
erblicken. 

Zum  ersten  Male  betonte  ich  die  damals  be- 
sonders von  Machatscheck,  Wahnschaffe, 
B  r  a  u  n  -  Greifswald  und  Gagel  bekämpfte  An- 
sicht der  größeren  Selbständigkeit  dieses  End- 
moränengürtels, indem  ich  1909  von  einem  bal- 
tischen Vorstoß  sprach,  der  auf  ein  wär- 
meres Zwischenstadium  folgte. 

Die  Forschung  der  Folgezeit  hat  meine  Ver- 
mutung aufs  schönste  gerechtfertigt,  indem  bei 
der  Kartierung  sich  herausstellte,  daß  die  balti- 
sche Endmoräne  tatsächlich  bei  einem  Vorstoß 
entstand,  der  auf  eine  etwas  wärmere  —  wenn 
auch  arktische  —  Zwischenphase  folgte,  deren  Vor- 
handensein besonders  Heß  v.  Wichdorff  durch 
das  Auffinden  der  masurischen  Intersta- 
dialablagerungen erbrachte.  Ihnen  folgten 
ähnliche  Funde  in  Schleswig-Holstein.  Das 
sind  an  Mollusken  reiche  bis  1,8  m  mächtige 
Kalke,  deren  Flora  einen  „etwas  arktischen"  Ein- 
schlag zeigt  und  die  von  Decktonen  bis  12  m 
Mächtigkeit  überlagert  und  von  dem  sie  über- 
schreitenden Eisvorstoß  stark  gestört  und  zer- 
quetscht wurden.  Im  Vergleich  mit  postglazialen 
Ablagerungen  zeigt  es  sich,  daß  die  Dauer  dieser 
von  mir  als  baltische  Schwankung  bezeichneten 
Phase  mindestens  ein  Jahrtausend  umfassen  muß. 

Die  Karte  zeigt,  daß  der  baltische  Moränen- 
gürtel (mit  B  bezeichnet)  ungefähr  den  äußersten 
Jungendmoränen  parallel  geht  und  nur  in  Hinter- 
pommern erheblich  zurückbleibt.  Darin  erblicke 
ich  die  stauende  Wirkung  des  hohen  hinter- 
pommerschen  Landrückens,  der  bekanntlich  im 
Turmberg  die  höchste  Erhebung  Norddeutschlands 
trägt.  Die  abfließenden  Schmelzwasserströme 
sammelten  sich  in  dem  auf  der  Karte  punktiert 
angedeuteten  Thorn-EberswalderUrstrom- 
tal. 

Mit  dem  baltischen  Vorstoße  ist  eine  kurze 
Phase  neuer  Lößbildung  verbunden.  Die 
hierbei  entstandenen  Löße  sind  höchstens  zwei 
Meter  mächtig,  vielfach  sandig-lehmig  entwickelt 
und  unterscheiden  sich  auch  durch  das  Fehlen 
von  Kindein  von  den  älteren  Lößen.  Man  kann 
sie  als  jüngster  Löß  oder  baltischer  Löß 
bezeichnen  (fi  des  Profils). 

Im  allgemeinen  lagern  sie  an  den  nordöstlichen 
Hängen  der  Lüneburger  Heide  und  des  Fläming; 
das  sind  die  in  der  Literatur  als  Feinsande  und 
Flottlehme  bezeichneten  Bildungen,  deren  Lößnatur 
noch  nicht  von  allen  Geologen  (Stoller  hält 
sie  noch  heute  für  ein  „üissediment")  anerkannt 
wird,  obwohl  sie  stellenweise  auf  deutlichen 
Pflasterzonen  mit  vereinzelten  Dreikantern  liegen. 

Durch  die  breite  Lücke  zwischen  Fläming 
und  der  Lüneburger  Heide  wurden  die  jüngsten 
Löße  weiter  nch  S  geweht  und  dementsprechend 
auch  (einkörniger.  So  entstand  der  etwa  2  m 
mächtige  Bördelöß.  Auch  in  Nordamerika  finden 
sich  jüngste  bis  höchstens  2  m  mächtige  Löße  auf 


den  äußersten  Jungendmoränenflächen.  Sie  ent- 
sprechen offenbar  dem  norddeutschen  baltischen 
Löß.  Bei  der  Verbreitung  der  Flottlehme  zeigt 
sich  besonders  schön  das  Gesetz,  welches  die 
heutige  Verbreitung  der  Löße  beherrscht.  Alle 
Löße  sind  nur  Reste  einst  viel  ausge- 
dehnterer Aufschüttungen,  die  unter 
dem  Einfluß  der  heute  —  und  auch  in  den 
Zwischeneiszeiten  —  wehenden  Westwinde 
auf  weiten  Strecken  wieder  abgetragen 
sind,  und  nur  an  solchen  Stellen  in 
größerem  Umfange  lagern,  die  im 
Schatten  dieser  Winde  liegen.  Daher  die 
große  Verbreitung  in  der  Bonner  und  Thüringer 
und  Schlesischen  Bucht,  daher  ist  starke  Ver- 
breitung gerade  an  den  westlichen  Hängen  nord- 
südgestreckter  Täler,  oder  an  den  Ostabhängen 
der  Höhenzüge  in  der  Lüneburger  Heide,  des 
Fläming,  des  Annaberges  oberhalb  Oppeln,  des 
Zobten  und  des  polnischen  Mittelgebirges. 

Das  Hinterland  der  baltischen  Endmoräne  zeigt 
besonders  frische  Landschaftsformen,  gut  erhaltene 
Solle,  frische  Terrassen  und  wenig  entkalkte  Ge- 
schiebemergelböden. Reich  ist  es  an  langge- 
streckten, im  Grundriß  ovalen  Drumlins- 
hügeln,  die  häufig  in  ganzen  Schwärmen  auf- 
treten und  meist  saumartig  den  Innenrand  der 
baltischen  Endmoräne  begleiten.  Die  Drumlins 
werden  am  besten  als  subglaziale  Exarations- 
formen  erklärt,  wobei  entweder  hügelartige 
Grundmoränengebiete,  oder  Endmoränenwälle 
„umgepreßt"  wurden.  Für  die  letztere  Auffassung 
scheint  es  sehr  wichtig  und  durch  nähere  Einzel- 
untersuchungen zu  erhärten,  daß  die  Drumelins 
der  nördlichen  Neumark  aus  „begrabenen"  Mo- 
ränenwällen entstanden  zu  sein  scheinen,  die 
weiter  östlich  —  wo  das  baltische  Eis  den  hier 
höheren  Sandrücken  nicht  mehr  zu  überschreiten 
vermochte  —  unzerschnitten  auftauchen  und  sich 
bis  an  die  Weichsel  verfolgen  lassen.  Schon 
diese  „Diskordanz"  der  Endmoränen  wäre  ein 
Beweis  für  die  selbständige  Stellung  der  baltischen 
Endmoräne  (auf  der  Karte  sind  diese  Moränen- 
wälle gestrichelt  angedeutet). 

Nach  diesem  Reichtum  an  Drumlins  könnte 
man  die  baltische  Endmoräne  direkt  als  Drum- 
linphase  des  abschmelzenden  Würmeeises  be- 
zeichnen. In  diesem  Wort  liegt  aber  eine  tiefere 
Bedeutung,  denn  Drumlins  finden  wir  nicht  nur 
bei  den  alpinen  eiszeitlichen  Vorlandgletschern  in 
einer  bestimmten  Entfernung  innerhalb  der  Jung- 
endmoränenwälle (auf  der  Karte  sind  auch  im 
Alpenvorlande  die  Drumlinschwärme  gestrichelt), 
wir  finden  sie  sogar  in  einer  ähnlichen  Lage  in 
Nordamerika,  wo  sie  wie  in  Deutschland  den  süd- 
lichen Rand  der  Ostsee,  so  hier  den  Südsaum  der 
großen  Seen  begleiten.  Auch  die  alpinen  Drum- 
lins liegen  außerhalb  der  großen  meist  durch 
Seen  —  Bodensee!  —  angedeuteten  Zungenbecken, 
die  in  Norddeutschland  dem  einheitlichen  Zungen- 
becken der  Ostsee  mit  seinen  durch  Buchten 
(Lübecker     Bucht,     Stettiner     Bucht,     Danziger 


I 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


375 


Bucht  usw.)  bezeichneten  Nebenzungenbecken  ent- 
sprechen. 

Das  ist  ein  weiterer  wichtiger  Hin- 
weis auf  die  Universalität  und  Gleich- 
zeitigkeit der  eiszeitlichen  Klima- 
schwankungen. 

Innerhalb  der  Drumlinzone  liegt  auch  der 
Niagara  fall,  auf  dessen  Bedeutung  für  die  eis- 
zeitliche Zeitbestimmung  ich  noch  zu  sprechen 
kommen  werde. 

Wohl  ziemlich  allgemein  parallelisiert  man  die 
baltische  Endmoräne  mit  dem  Bühlstadium  der 
Alpen.  Diese  zuerst  von  mir  vertretene  Ansicht 
kann  nicht  mehr  aufrecht  gehalten  werden,  sondern 
es  muß  die  baltische  Schwankung  mit 
der  alpinen  Laufenschwankung  gleich  ge- 
setzt werden.  Beide  sind  mit  Drumlins  verknüpft 
und  entsprechen  Vorstößen,  die  auf  Zeiten 
stärkerer  Abschmelzung  folgten.  Für  das  Bühl- 
stadium, welches  auch  in  den  Alpen  innerhalb 
der  Zungenbecken  liegt  und  dessen  Selbständig- 
keit von  zahlreichen  Forschern  ')  sogar  bestritten 
wird,  kommt  in  Nordeuropa  nur  eine  Moränen- 
lage in  Frage,  die  nicht  südlich  des  Ostseebeckens 
liegt.  Das  sind  möglicherweise  die  Moränenwälle 
im  südlichen  Schonen  (Scanische  Phase),  deren 
östliche  Fortsetzung  leider  von  der  Ostsee  über- 
flutet wurde,  aber  restweise  in  Gotland  auf  Dago 
und  in  Estland  zum  Vorschein  zu  kommen  scheint. 
Diese  Moränenstaffel  ist  um  so  wichtiger,  weil 
bis  zu  ihr  die  Messungen  de  Geers  südwärts 
reichten. 

Mit  dem  Abschmelzen  des  Eises  über  die 
Ostsee  beginnt  für  Norddeutschland  die  Post- 
g  1  a  z  i  a  1  z  e  i  t. 

Die  letzte  Phase  beim  Abschmelzen  des  skandi- 
navischen Inlandeises  liefert  die  großen  End- 
moränenwälle, die  sich  von  Christiania  durch 
Mittelschweden  ziehen  und  dann  jenseits  der  Ostsee 
in  wundervoller  Ausbildung  die  Finnische  Seen- 
platte begrenzen.  Vergleichende  Längenmessungen 
mit  dem  alpinen  Rhein--  und  Rhonegletscher 
machen  es  wahrscheinlich,  daß  wir  es  hier  mit 
einem  Gegenstück  zu  dem  alpinen  Gschnitz- 
stadium  zu  tun  haben. 

Beim  Abschmelzen  des  Inlandeises  lag  Fenno- 
skandia  offenbar  infolge  isostatischer  Gegen- 
wirkungen zum  Ausgleich  der  Eisbelastung  tief. 
Das  Eismeer  stand  in  Verbindung  mit  der  Ost- 
see, aus  der  Südschweden  als  Insel  ragte.  Das 
ist  das  Yoldiameer,  dessen  am  Rande  des  ab- 
schmelzenden Inlandeises  gebildeten  Jahres- 
schichten zeigende  Bändertone  die  de  Geersche 
Chronologie  ermöglichten. 

Als  das  Inlandeis  etwa  die  Eisscheide  erreicht 
hatte  und  der  Druck  nachließ,  hob  sich  das  ent- 
lastete Land  und  infolge  der  Verbindung  Däne- 
marks mit  Südschweden  wurde  die  Ostsee  zu 
einem  Binnensee.  Das  ist  der  Ancylussee, 
dessen  Beginn  noch  in  die  Abschmelzzeit  fällt. 

')  Penck  selbst  betrachtet  jetzt  im  Inntal  die  dem  Bühl- 
vorstoß zugeschriebenen  Moränen  als  Würmmoränen ! 


Allmählich  wurde  das  Klima  wärmer  und 
kontinental  trocken.  Das  ist  die  Allerödzeit, 
die  warme  boreale  Zeit  der  schwedischen  Geo- 
logen. In  ihr  war  die  Kiefer  der  herrschende 
Baum,  Ulme  und  Hasel  wanderten  nach  Norden. 
Nach  einem  kurzen  Kälterückschlag,  der  vielleicht 
dem  Daunstadium  der  Alpen  entspricht  und  sich 
in  den  dänischen  Mooren  zeigt,  begann  etwa 
gleichzeitig  mit  der  Litorinasenkung,  in  der 
die  Ostsee  weit  nach  Süden  flutet  und  ehemalige 
Binnenseen  als  Förden  ertränkt,  eine  neue  warme 
Zeit,  die  bis  ins  dritte  nachchristliche  Jahrhundert 
reicht  und  ihren  Höhepunkt  um  das  Jahr  5000 
vor  Christus  zu  haben  scheint.  In  ihr  erreicht 
die  Waldgrenze  ihre  höchste  Lage,  die  Haselnuß 
erreicht  ihre  höchste  nördliche  Ausdehnung  und 
Trockenpflanzen,  wie  Stipa  pennata,  und  die 
wärmebedürftige  Wassernuß  wandern  bis  in  die 
Gegend  der  mittelschwedischen  Seen.  Gegen 
heute  muß  die  Temperatur  dieser  Zeit  etwa 
2  Grad  wärmer  gewesen  sein. 

In  nachchristlicher  Zeit  sinkt  die  Temperatur 
nochmals,  die  Baumgrenze  senkt  sich  um  150 
bis  200  m  und  ausgedehnte  junge  Moränenwälle 
entstehen  im  skandinavischen  Hochgebirge.  Das 
sind  die  altrezenten  Moränen  der  alpinen 
Gletscher,  für  die  der  von  Frech  vorgeschlagene 
Namen  Tribulaunstadium  recht  passend  er- 
scheint. Da  die  heutigen  Gletscher  weit  hinter 
diese  Moränenwälle  abgeschmolzen  sind,  haben 
wir  wohl  das  Maximum  dieser  kühlen  Zeit  schon 
hinter  uns  und  befinden  uns  am  Ende  des  Eis- 
zeitalters, dessen  Nachzuckungen  diese  postglazialen 
Klimaschwankungen  wahrscheinlich  sind. 

Schwieriger  ist  es,  in  Deutschland  die  Spuren 
dieser  postglazialen  Schwankungen  festzustellen. 
In  der  trockenen  Ancyluszeit  scheinen  unsere 
Binnendünen  in  der  heutigen  Grundform  ent- 
standen zu  sein,  ebenso  die  gewaltigen  mit  Ter- 
rassen verknüpften  Schuttkegel,  welche  die  Flüsse 
der  nördlichen  Lüneburger  Heide  weit  ins  Elbtal 
schoben  und  die  sicher  jünger  sind  als  die  von 
N  ins  Elbtal  mündenden  Sandrkegel  des  bal- 
tischen Vorstoßes  und  die  Flottlehmlöße.  Funde 
weisen  darauf  hin,  daß  diese  Schuttkegel  und  Ter- 
rassen schon  in  vorneolithischer  Zeit  aufgeschüttet 
wurden.  Da  damals  wahrscheinlich  —  wie  unter- 
getauchte Wälder  zeigen  —  der  größte  Teil  der 
Nordsee  Festland  war,  wurde  hierdurch  die 
Trockenheit  des  Klimas,  die  in  der  Schuttkegel- 
und  Dünenbildung  zum  Ausdruck  kam,  noch  ver- 
stärkt. Noch  in  vorneolithischer  Zeit  entstand 
dann  der  ältere  Torf  der  norddeutschen  Moore 
und  die  Dünen  bewuchsen. 

Etwa  mit  Beginn  des  Neolithikums  setzt  dann 
eine  lange  warme  Zeit  ein,  in  welcher  die  Steppen- 
pflanzen sich  weit  verbreiteten,  der  Waldwuchs 
in  den  regenärmeren  Gebieten  Grassteppen  wich 
und  hier  vermodernde  Pflanzen  sich  zu  der  für 
Trockenklimate  bezeichnenden  Schwarzerde 
anhäuften.  Diese  finden  wir  auf  Löß  nicht  nur 
in    Mittelschlesien   und    in   der    sächsischen   Tief- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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landsbucht,  sondern  auf  Geschiebemergel  auch  bei 
Meve  und  Hohensalza.  Diese  große  Trockenzeit 
bedingte  wahrscheinlich  die  starke  Zunahme 
der  Besiedlung  der  deutschen  Löß-  und 
Schwarzerdegebiete  mit  Beginn  des  Neolithikums, 
während  vorher  der  den  Wald  meidende  Mensch 
zumeist  als  Mesolithiker  an  den  Küsten  und  im 
waldärmeren  Belgien  und  Westfrankreich  siedelte. 

Eine  geologische  Bildung  dieser  Zeit,  in  der 
die  Dünen  teilweise  von  neuem  überwehten,*)  ist 
der  Grenzhorizont  der  Moore.  Etwa  um  das 
Jahr  300  nach  Christus  hört  die  Bildung  des 
Grenzhorizontes  auf  und  der  jüngere  Torf, 
dessen  Weiterbildung  noch  heute  fortzudauern 
scheint,  setzt  sich  ab.  Das  ist  der  Stand  nach 
der  Frage  der  postglazialen  Klimaschwankungen, 
wenn  wir  nur  auf  sicher  zu  beobachtende  Tat- 
sachen aufbauen. 

II.  Die  Dauer  der  Eiszeit  hat  seit  langem 
die  Geologen  beschäftigt,  da  mit  ihr  auch  die 
Lösung  der  Frage  nach  dem  Alter  der 
Menschheit  eng  zusammenhängt. 

Wie  ich  in  dieser  Zeitschrift  schon  eingehen- 
der ausführte,  gelang  mir  eine  Fortentwicklung 
der  Ergebnisse  der  Messungen  de  Geers  und 
seiner  Schüler,  wobei  ich  von  der  Annahme  aus- 
gehe ,  daß  die  Länge  der  einzelnen  Ver- 
eisungen eine  Funktion  der  Maximal- 
mächtigkeit der  in  ihnen  gebildeten 
Eiskuchen  ist.  Ich  habe  durch  neuere  Karten 
diese  Messungen  vervollständigt  und  erhalte  fol- 
gende Zahlen: 

Würmvereisung  55000  Jahre  (davon  iSooo 
seit  dem  baltischen  Vorstoß) 
Rißvereisung         1 10000  Jahre 
Mindelvereisung    125000  Jahre 
Günzvereisung        50000  Jahre? 

Diese  Zahlen  gelten  aber  nur  für  die  Zeiten 
vom  Vorrücken  der  Gletscher  von  der  Eisscheide 
bis  zum  Maximalstadium  und  für  das  Abschmelzen 
bis  zur  Eisscheide  zurück. 

Da  in  den  Zwischeneiszeiten  das  Klima  wärmer 
war  als  das  heutige,  gilt  es  auch  hierfür  Zahlen 
zu  erhalten,  die  dann  zwischen  die  Glazialzahlen 
eingeschoben  werden  müssen. 

Ganz  absehen  möchte  ich  bei  diesen  Rech- 
nungen von  den  Talvertiefungen  in  den  Alpen, 
die  uns  nur  relative  Werte  („Gefühlswerte")  geben, 
aber  sonst  unbrauchbar  sind.  Denn  sie  setzen 
eine  gleichmäßige  Hebung  voraus,  die  nicht 
beweisbar  und  auch  nicht  gerade  wahrschein- 
lich ist.'') 

')  Bei  den  spärlichen  Forschungen  über  den  Bau  der 
deutschen  Binnendünen  ist  es  vielleicht  interessant,  daß  die 
Grabungen  auf  der  Düne  der  Schwedenschanze  bei  Oswitz- 
Breslau  unter  einer  alten  Humusdecke  orangegelbe  Dünen- 
sande, darüber  gelblich- weiße  feststellten.  Ebenso  sind  nach 
Keil  hack  an  der  Swinemündung  die  älteren  Dünen  Gelb- 
und BraundUnen,  die  seit  der  Entstehung  des  jüngeren  Torfes 
gebildeten  hingegen  Weißdünen. 

')  Das  gilt  auch  von  der  neuesten  Berechnung  Hans 
und  Richard  Lehmanns  (Mannus  13.  Bd.,  S.  269  usw.), 
welche  auf  der  Talvertiefung  im  Saalegebiet  beruht  und  z.  B. 
für  die  gesamte  Würmeiszeit  nur  25000  Jahre  annimmt 


Aus  der  Mächtigkeit  der  Verwitte- 
rungsrinden schließt  Penck,  daß  die  Riß- 
würmzwischeneiszeit  dreimal  so  lange  dauerte, 
wie  die  Postglazialzeit,  die  Mindelrißzwischeneis- 
zeit  sogar  zwölfmal  so  lange.  Das  zeigt  aber 
neue  Schwierigkeiten.  Was  haben  wir  als  Post- 
glazialzeit zu  betrachten?  Ist  es  wahrscheinlich, 
daß  die  Verwitterungsmächtigkeit  direkt  propor- 
tional der  Zeit  ist,  oder  nicht  eher  wahrscheinlicher, 
daß  in  warmen  Klimaten  —  wie  das  auch  die 
Bodenforschungen  und  Beobachtungen  in  den 
Tropen  lehren  —  die  Verwitterung  schneller  vor 
sich  geht?  Und  hängt  nicht  zuletzt  die  Mächtig- 
keit der  Verwitterungsböden  auch  von  dem  Ma- 
terial, seiner  Höhenlage  und  der  Möglichkeit  der 
Sickerwasserzirkulation  ab?  Überall  also  Unsicher- 
heiten und  Erschwerungen. 

Schließen  wir  die  letzten  Fragestellungen  ein- 
mal aus  und  nehmen  an,  Zeiten  wie  die  Mächtig- 
keit der  in  ihnen  entstandenen  Verwitterungs- 
decken verhielten  und  bezeichnen  wir  als  Post- 
glazialzeit die  Zeit,  die  seit  dem  Abschmelzen  des 
Eises  bis  zur  Eisscheide  verfloß.  Da  diese  etwa 
1 1  000  Jahre  beträgt ,  erhielten  wir  für  die  Riß- 
würmzeit 33000,  für  die  Mindelrißzeit  1 20000 
Jahre.  Diese  Zahlen  sind  nun  sicher  für  die  Haupt- 
zwischeneiszeit mit  ihrem  heißwarmen  Klima  zu 
groß,  aber  auch  für  die  letzte  Zwischeneiszeit  mit 
ihrer  eisenschüssigen  Verwitterung  noch  um  einen 
kleinen  Betrag  zu  kürzen. 

Eine  andere  Berechnungsmöglichkeit  erwähnte 
ich  vorher,  indem  ich  darauf  hinwies,  daß  sich 
die  Länge  der  Mindeleiszeit  zu  derjenigen  der 
darauf  folgenden  großen  Interglazialzeit  etwa  wie 
9 :  5  verhielt.  Aus  der  Proportion  1 2 5  000  :  x  =  9  :  5 
erhalten  wir  x  =  70  000  Jahre  als  Länge  der 
großen  Interglazialzeit.  Da  aber  auch  diese  Be- 
rechnung noch  nicht  ganz  einwandfrei  ist,  emp- 
fiehlt es  sich,  für  sie  einen  Mittelwert  von  etwa 
90000  Jahren  und  für  die  Rißwürmzwischeneiszeit 
etwa  28000  Jahre  zu  nehmen  (d.  h.  nur  7  "/„ 
weniger),  ebensoviel  für  die  erste  Zwischeneiszeit. 

Die  ganze  Eiszeit  vom  Beginn  der  Günz- 
vereisung bis  zum  Abschmelzen  des  Würmeises 
bis  zur  Eisscheide  hätte  dann  etwa  500000  Jahre 
gedauert,  wozu  noch  4000  Jahre  (Schätzung  von 
W  e  r  t  h)  für  die  Ancyluszeit  und  etwa  7000  Jahre 
für  die  Zeit  nach  dem  Maximum  der  Litorina- 
senkung  (nach  Keilhack)  kämen.  Für  die  Zeit 
nach  dem  Abschmelzen  bis  zur  Eisscheide  ergäbe 
das  etwa  1 1  000  Jahre ,  wobei  aber  die  Ancylus- 
zeit noch  etwas  länger  gedauert  haben  kann,  für 
die  Zeit  seit  der  Bildung  der  baltischen  Endmoräne 
etwa  30000  Jahre.  Dafür  haben  wir  zwei  weitere 
Kontrollen. 

Die  eine  ist  das  Muotadelta  am  Vierwald- 
stättersee,  dessen  Alter  Heim  auf  etwa  16 000 
Jahre  berechnet.  Dieses  liegt  nach  meinen  Um- 
rechnungen auf  das  skandinavische  Gebiet  über- 
tragen an  einer  Stelle,  die  den  Endmoränen 
Schönens  entsprechen  würde ,    für   welche   die 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


377 


obige  Rechnung  mit  de  Geer  kombiniert  5700 
-\-  4000\-j-  7000  =   16700  Jahre  ergibt. 

Die  zweite  Kontrolle  gibt  der  Niagarafall, 
dessen  Schlucht  zu  ihrer  Eintiefung  etwa  30000 
Jahre  brauchte.  Dieser  Fall  entspricht  aber  in 
seiner  Lage  in  der  Drumiinzone  einem  Stadium, 
das  ungefähr  gleichalt  mit  der  baltischen  End- 
moräne ist. 

Meine  Chronologie  ergibt  hierfür  18000  -j- 
4000  -j"  7000^  29000  Jahre.  Auch  das  scheint 
in  Anbetracht  der  Schwierigkeiten,  die  der  Be- 
rechnung des  Alters  des  Niagarafalls  entgegen- 
stehen, eine  erstaunliche  Übereinstimmung  und 
wir  dürfen  wohl  sagen,  daß  wir  einer 
brauchbaren   Glazialchronologie  recht 


nahe  gekommen  sind.  Aber  auch  die  Be- 
deutung der  Möglichkeit,  Glazialablagerungen 
verschiedener  Vereisungsgebiete  miteinander  zu 
vergleichen  und  zu  parallelisieren,  wird  hierdurch 
so  recht  in  ihrer  ganzen  Tragweite  klar  und  man 
lächelt  darüber,  daß  noch  vor  12  Jahren  der 
Geograph  B  r  a  u  n  •  Greifswald  schreiben  konnte, 
daß  für  eine  Parallelisierung  „keinerlei  Be- 
dürfnis vorliege"  und  ein  Geologe  wie  Gagel 
die  Möglichkeit  einer  solchen  auf  das  schärfste 
bekämpfte. 

III.  Wir  kommen  zum  letzten  und  wichtigsten 
Teile,  der  Frage  nach  dem  Alter  und  der  Weiter- 
entwicklung des  Menschen. 


Lösse 


Klimakurve  der  Eiszeit 


Einleitend  gebe  ich  eine  Klimakurve  der  Eis- 
zeit, in  deren  Länge  jedes  Millimeter  5000  Jahren 
entspricht.  Die  wagerechte  Linie  ist  die  heutige 
Temperatur,  die  unteren  Wellenberge  glaziale,  die 
oberen  interglaziale  Zeiten.  Wie  jede  Wellenbe- 
wegung —  man  denke  an  die  Erdbebenwellen  — 
zeigt  die  eiszeitliche  Klimakurve  also  ein  An- 
schwellen bis  zum  Maximum  und  dann  wieder 
ein  Abschwellen.      Als  Nachläufer   kann   man  die 


postglazialen  Klimaschwankungen  betrachten. 
Ihnen  entsprechende  dürften  auch  die  Eiszeit  ein- 
geleitet haben.  Aus  Gründen  besserer  Über- 
sichtlichkeit sind  die  Oberwellen  nicht  mit 
eingezeichnet.  Hierfür  verweise  ich  auf  meine 
frühere  Kurve. 

Einen  besseren  Überblick  der  Chronologie  der 
eiszeitlichen  Kulturstufen  soll  die  Schemazeichnung 
vermitteln. 


w 

■-   - 

R 

liiiillfllD 

M 

riiiiiiiiijii 

Magdalenien  1 

ISoiutröen      }  Klingenkultur 
jAurignacien  j 

Mousiörien  | 

Oberes  Acheulöcn   [  Faustkeilkultur 
Unteres  Acheul6en 
Ghelleen 


Eolithikum 


X  hom.  heid.    ^ 


WürmlöB 


Mindellöß      Rißlöß 


diluviale  Depression 


Sie  zeigt  einmal,  wie  die  Ausräumungsgebiete 
der  verschiedenen  Vereisungen  sich  auch  der 
Größe  ihrer  Ausdehnung  anpassen.  Die  das 
Zungenbecken  der  Würmvereisung  ausfüllende 
Ostsee  ist  eingezeichnet.  Die  Verlängerung  ihres 
Spiegels  bis  zu  dem  Aufschüttungsgebiet  der 
Mindelvereisung  zeigt  die  wahrscheinliche  Lage 
des  warmen  die  Stelle  der  heutigen  Ostsee  ein- 
nehmenden Meeres  der  Hauplinterglazialzeit.    Die 


Löße  sind  punktiert  und  durch  senkrechte  Striche- 
lung  die  Verbreitung  der  rotbraunen  Verwitte- 
rungsrinden wiedergegeben,  die  auch  die  Alt- 
moränen überdecken.  Zur  besseren  Veranschau- 
lichung sind  die  Eisföhne,  die  vom  Würmeis  und 
dem  baltischen  Eise  herabwehten,  eingezeichnet. 
Zur  Ergänzung  des  Profiles  dient  die  Übersicht 
mit  Einschreibung  der  betreffenden  Kulturstufen. 
Da  der  nur  lokal  verbreitete  baltische  Löß  (ß  des 


3;8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


Profils)  kein  Kulturinventar  geliefert  hat,  ist  er  in 
dieser  Übersicht  weggelassen. 

In  Zusammenhang  mit  der  Klimakurve,  in 
welcher  die  Klingenkultur  als  Eburn^en  zusam- 
mengefaßt ist,  läßt  sich  die  Kulturentwicklung 
des  Eiszeit  menschen  gut  überblicken  und  zahlen- 
mäßig festlegen. 

Der  älteste  menschliche  Fund  ist  der  Heidel- 
bergmensch (i),')  dessen  Alter  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  auf  mehr  als  400  000  Jahre  anzusetzen 
ist.  Da  auch  in  England  anscheinend  sehr  alte 
z.  Zt.  in  vielen  Einzelheiten  noch  stark  umstrittene 
Funde  gemacht  sind  und  in  Europa  auch  Pithe- 
kiden  mit  sehr  menschlichem  Zahnbau  im  jüngsten 
Tertiär  vorkommen,  erhält  die  Lehre  von  der 
europäischen  Urheimat  d  er  Menschheit 
immer  weitere  Stützen.'-^)  Der  Heidelbergmensch 
ist  wahrscheinlich  Träger  der  Eolithkultur. 

Chelleen  und  Altacheuleen  liegen  nach 
einwandfreien  Feststellungen  unter  dem  Rißlöß 
an  verschiedenen  Stellen  des  Sommetales  (I.,  11). 
Ihre  Verknüpfung  mit  einer  warmen  Fauna  und  die 
lederbraune  (nach  Sa  ras  in  „wüstenartige")  Pati- 
nierung,  die  an  die  der  in  Ägypten  gefundenen 
Feuersteine  erinnert,  und  Beweise  dafür,  daß  beide 
Kulturen  einer  warmen  Zwischeneiszeit  sind.  Die- 
selbe Patinierung  zeigt  ein  Teil  der  als  Acheuleen 
anzusprechenden  Funde  von  IVlarkkleeberg  (2), 
die  z.  T.  wohl  erst  sekundär  durch  Umlagerung 
aus  einer  alten  Oberfläche  in  die  Sandr  der  Riß- 
eiszeit gelangt  sind. 

Da  die  typologische  Methode  mit  ihrem  starren 
Festhalten  an  alten  Begriffen  die  Möglichkeit  einer 
Parallelisierung  sehr  erschwert  und  sehr  viel  Un- 
heil angerichtet  hat,  schlägt  Wiegers  für  das 
Chelleen  die  Bezeichnung  Halberstädter  Stufe 
und  für  das  untere  und  obere  Acheuleen  die  Be- 
zeichnungen Hundisburger  Stufe  (3)  und 
Markkleeberger  Stufe  vor,  um  auch  hier  die 
größere  Selbständigkeit  der  deutschen  Forschung 
zum  Ausdruck  zu  bringen.  Die  obere  Faustkeil- 
stufe reicht  bis  in  die  Rißvereisung,  wie  die  Funde 
von  Markkleeberg  und  in  Nordfrankreich  zeigen, 
wo  Fäustel  im  Rißlöß  gefunden  sind. 

Eine  Interglazialkultur  ist  dagegen  das  nun 
folgende  untere  Mousterien,  für  welches  Hauser 
die  Bezeichnung  Micoquien  eingeführt  hat.  In 
Deutschland  ist  es  am  schönsten  in  den  Kalk- 
tuffen bei  Weimar  (Ehringsdorf  und  Taubach) 
vertreten  (6),  weshalb  Wiegers  mit  Recht  vor- 
schlägt, von  einer  Weimarer  Stufe  —  besser 
Weimarer  Zeit  —  zu  sprechen.  Hier  sind  auch 
Skelettfunde  gemacht,  die  zeigen,  daß  die  Träger 
dieser  ■  Kultur,    wie    der   des  Acheuleen    der  Ne- 


')  Die  eingeklammerten  Zahlen  bezeichnen  die  Kundorte 
auf  der  Übersichtskarte. 

'')  Vergleiche  hierzu  meinen  Aufsatz:  Gedanken  über  die 
Entwicklung  der  menschlichen  Kultur  und  die  Ausbreitung 
des  Menschengeschlechts.  (Naturw.  Wochenschr.  1921,  Nr.  33), 
dessen  Darlegungen  durch  die  Forschungen  von  W.  C. 
Matthew  (The  tertiary  sedimentary  record  and  its  problems, 
New  Haven   19' 5)    auch    für    die  Säugetiere    bestätigt  werden. 


andertalmensch  gewesen  ist.  Ein  inter- 
glaziales Alter  zeigt  auch  das  Mousterien  des 
südlichen  Polens  (Ojkow  nördlich  von  Krakau), 
welches  unter  dem  Würmlöß  auf  verwitterten 
Grundmoränen  der  Rißeiszeit  liegt  (20). 

Naturgemäß  ist  auf  Funde  dieser  älteren  Kul- 
turen in  dem  später  vom  Würmeis  begrabenen 
Gebiet  kaum  zu  rechnen,  da  diese  dann  meist 
umgelagert  worden  sind.  Hierfür  ist  es  von 
größter  Wichtigkeit,  daß  doch  Spuren  sich  in  den 
Interglazialschichten  gefunden  haben.  Das  sind 
unzweifelhafte  Spuren  verbrannter  Hölzer  bei 
Bispingen  (7)  und  ein  Skelettfund  bei  Wester- 
weyhe  in  dem  der  Bispinger  interglazialen  Kiesel- 
gur entsprechenden  Süßwasserkalklager.  Ahnliche 
Brandspuren  wurden  im  Interglazial  bei  Posen  (19) 
beschrieben. ')  Unklar  ist  noch  das  Alter  eines 
im  Geschiebemergel  der  Würmeiszeit  gefundenen 
Faustkeils    bei    Wustrow- Niehagen  (8  der  Karte). 

Das  obere  Mousterien  (nach  Wiegers 
die  Sirgensteiner  Stufe  —  2i  — ),  lagert  in 
den  unteren  Schichten  des  Würmlöß  und  wird 
bald  abgelöst  von  dem  Aurignacien,  welches 
mit  dem  Solutreen  zusammen  eine  typische  Löß- 
kultur ist,  also  dem  Höhepunkt  der  Würmeiszeit 
angehört.  Beide  Kulturen  sind  von  Löß  begraben, 
der  stellenweise  bis  10  m  Mächtigkeit  über  sie 
geweht  worden  ist. 

Das  Aurignacien  finden  wir  in  Deutschland 
bei  Metternich  (15)  und  vor  allem  in  den  Lößen  der 
Wachau  oberhalb  von  Wien,  weshalb  Wiegers 
von  einer  WillendorferStufe  spricht.  Haupt- 
fundorte des  Solutreen  sind  Canstatt  (13)  und 
Pfedmost  (17),  nach  dem  die  Bezeichnung  P  red - 
mosterStufe  geprägt  wurde.  Den  Beginn  der 
Abschmelzzeit  leitet  das  Magdalenien  ein,  die 
Thainger  Stufe  (14)  nach  Wiegers.  Es 
findet  sich  über  dem  älteren  Jungpaläolithikum  in 
zahlreichen  Höhlen  und  ist  mit  diesem  bis  weit 
nach  Rußland  herein  verbreitet.  Dies  spricht  für 
eine  weite  Ausbreitung  der  Menschheit  gegenüber 
dem  —  in  geologisch  alter  Lagerstätte  I  —  enger 
begrenzten  Altpaläolithikum.  Das  Jungpaläolithi- 
kum wird  von  den  P'ranzosen  nach  den  aus  Renn- 
tierhorn  gefertigten  Waffen  auch  als  T  a  r  a  n  d  i  e  n 
bezeichnet,  der  daneben  gebrauchte  Namen 
Eburneen  weist  auf  die  häufige  Verwendung 
der  Zähne  des  kurz  nach  dem  Höhepunkt  der 
Würmeiszeit  aussterbenden  Mammuts  hin.  Besser 
erscheint  uns  der  deutsche  Ausdruck  Klingen - 
kultur  nach  den  jetzt  zierlich  hergestellten 
Klingen,  von  denen  die  wundervollen  Lorbeer- 
blattspitzen des  Solutreen  an  Schönheit  voran- 
stehen. Eine  starke  Besiedlung  zeigen  auch  die 
Höhlen  des  südlichen  Polen  und  des  nördlichen 
Mähren. 

Wie  die  Funde  zeigen,  hielt  sich  der  plumpe 
Neandertalmensch    bis   in  die  ältesten  Phasen  der 


')  Wichtige  Mitteilungen  von  neuen  altsteinzeitlichen 
Kulturstufen  der  Gegend  um  Halle  machen  Hans  und 
Richard  Lehmann  in  ihrem  Aufsatz  über  ,,die  ältere 
Steinzeit  in  Mitteldeutschland"  (siehe  oben). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


379 


Klingenzeit,  wurde  aber  nachher  von  der  jüngeren 
Aurignacrasse  verdrängt.  Es  sind  dies  Er- 
scheinungen, wie  sie  sich  heute  noch  überall  da 
abspielen,  wo  höhere  und  tiefere  Rassen  aufein- 
anderstoßen. In  den  günstigsten  Fällen  ver- 
mischten sich  beide  Rassen  (Pfedmost),  vielfach 
jedoch  erfolgten  wahrscheinlich  Kämpfe,  die  mit 
kannibalischen    Siegesmahlen    endeten    (Krapina). 

In  der  ersten  Hälfte  der  VVürmeiszeit  ver- 
schwindet also  der  Neandertaler  und  macht  der 
zierlicher  gebauten  mit  besserem  Sprachvermögen 
(Ausbildung  des  Kinns)  ausgestatteten  Aurignac- 
rasse Platz. 

Diese  entwickelte  sich  wahrscheinlich  in  der 
letzten  Zwischeneiszeit  im  Ostseegebiet  und  wurde 
mit  der  sie  begleitenden  kalten  Fauna  beim  Vor- 
stoßen des  Würmeises  nach  Süden  verdrängt. 

Das  Aurignacien  und  Solutreen  (auch  Mammut- 
zeit genannt)  werden  an  vielen  Stellen  IVlittel- 
deutschlands  gefunden.  Die  großartigsten  Stationen 
liegen  bei  Willendorf  (18)  und  Pfedmost  (17), 
weshalb  Wiegers  von  einer  Willend orfer 
und  Predmoster  Stufe  spricht. 

Die  letztere  dauerte  etwa  bis  zum  Höhepunkt 
der  Würmvereisung  und  entwickelte  sich  zur 
Kultur  des  Magdalenien,  oder  der  jüngeren 
Renntierzeit.  Wie  schon  dieser  Name  besagt, 
treten  aus  Renntierknochen  angefertigte  Nadeln, 
Speerspitzen  und  Harpunen  immer  häufiger  auf 
und  das  Mammut  stirbt  in  den  jüngeren  Phasen 
aus.  Die  Steinwerkzeuge  verkümmern  zu  den 
mikrolithischen  Formen.  Großartige  in  Südfrank- 
reich und  Nordspanien  aufgefundene  Höhlen- 
malereien geben  einen  tieferen  Einblick  in 
diese  Zeit. 

In  Deutschland  finden  wir  das  Magdalenien 
an  zahlreichen  Stellen  sowohl  im  Mittelgebirge 
(vor  allem  im  Rheintal  und  in  Höhlen),  als  auch 
vereinzelt  im  Gebiet  der  jüngsten  Vergletscherung 
(Lübeck,  untere  Haveltone).  Der  großartigste 
Fundplatz  ist  das  Keßler  Loch  bei  Thaingen  (14) 
nordöstlich  von  Schaffhausen,  welches  wie  der 
gleichaltrige  Abfallhaufen  von  Schussenried  (19) 
im  Gürtel  der  Jungendmoränen  liegt.  Daher  die 
Bezeichnung  Thainger  Stufe.  Zu  ihr  gehören 
auch  die  Funde  am  Felsen  des  Schweizerbild  des 
bei  Schafifhausen ,  dicht  am  Rande  der  Jungend- 
moränen. Das  Alter  des  Magdalenien  des  Schweizer- 
bildes berechnet  Nüesch  auf  Grund  einer 
Schätzung  der  Mächtigkeit  der  Breccienbildung 
auf  24000  Jahre.  Diese  Zahl  paßt  durchaus  in 
den  Rahmen  der  nordeuropäischen  Chronologie, 
welche  die  Zeit  zwischen  dem  Maximum  der 
Würmvereisung  und  dem  Abschmelzen  bis  zu  den 
mittelschwedischen  Endmoränen  vom  Jahre  40  000 
bis  15000  geschehen  läßt. 

Dem  abschmelzenden  Inlandeis  folgt  der  Mensch 
und  entwickelt  sich  allmählich  zum  heutigen 
Europäer. 

Das  vom  Eise  verlassene  Gebiet  überzieht  sich 
mit  einer  dichten  Walddecke,  das  Renntier  wird 
durch    den    Hirsch    ersetzt    und    dementsprechend 


verfertigt  der  Mensch  seine  Waffen  —  jetzt  meist 
Harpunen  —  aus  Hirschgeweihen  und  züchtet 
den  Hund.  Zugleich  bestattet  er  seine  Toten 
nach  bestimmten  religiösen  Grundsätzen,  wie  es 
die  Funde  der  Ofnethöhle  zeigen.  Das  ist  die 
von  Wiegers  als  Of netstufe')  bezeichnete 
den  Übergang  zwischen  der  Eiszeit  und  Nach- 
eiszeit darstellende  in  das  Ende  der  Abschmelz- 
phase fallende  Kultur.  Besser  bezeichnet  man 
diese  Zeit  der  Hirschgeweihharpunen  nach  den 
geologischen  Kriterien  als  Ancyluskultur. 

In  der  folgenden  Periode  bleiben  die  Hirsch- 
geweihharpunen. Es  erscheinen  als  Neuerwerbung 
die  ersten  noch  plumpen  Tongefäße  und  an  der 
Schneide  geschliffene  Beile,  dazu  endlich  das  Rind 
und  Wohngruben. 

Das  ist  die  Litorinakultur,  von  welcher 
wir  in  Deutschland  wichtige  Funde  aus  der  Kieler 
Föhrde  haben,  wo  die  Siedlungen  infolge  der 
Senkung  heute  mehr  als  10  m  unter  dem  Meeres- 
spiegel liegen.  Gleich  alt  ist  in  Frankreich  das 
Campignien,  in  Dänemark  die  Kultur  der  Muschel- 
abfallhaufen (Kjökkenmöddinger). 

Ancylüs-  und  Litorinakultur  bezeichnet  man 
auch  als  Übergangssteinzeit  oder  Mesolithi- 
kum. Da  das  Land  meist  dicht  bewaldet  ist, 
siedelt  der  Mensch  überwiegend  an  der  Küste 
und  an  den  Binnenseen;  er  nährt  sich  von  Fisch- 
fang und  Sammelwirtschaft. 

Erst  im  folgenden  Neolithikum  erfindet  er  den 
Ackerbau  und  besiedelt  in  großem  Umfange  die 
ausgedehnten  sich  jetzt  bildenden  Grassteppen.  ^) 
Diese  bleiben  auch  bis  in  die  Karolingerzeit  sein 
wichtigstes  Wohngebiet.  Erst  vom  Jahre  1000 
an  wird  der  Wohnraum  zu  eng  und  in  großem 
Umfange  werden  die  Waldgebirge  gerodet.  — 

Das  ist  in  großen  Zügen  der  Gang  der  Be- 
siedlung des  deutschen  Bodens,  der  mit  den  um- 
liegenden Landschaften  sich  immer  deutlicher  als 
die  Urheimat  des  Menschengeschlechtes  und  die 
Geburtsstätte  jüngerer  hochentwickelter  Menschen- 
typen erweist. 

Die  folgende  Tabelle  soll  versuchen,  die  Er- 
gebnisse der  vorliegenden  Betrachtungen  über- 
sichtlich zusammenzufassen. 

Siehe  Seite  380. 

Zurückblickend  stellen  wir  fest,  daß  die  erste 
brauchbare  Chronologie  der  eiszeitlichen  Kulturen 
in  Frankreich  geschaffen  wurde.  Da  dieses  außer- 
halb der  großen  Vereisungsgebiete  liegt,  mußte 
naturgemäß  das  Hauptgewicht  auf  faunistisch- 
typologische  Methoden  gelegt  werden. 

Die  Forschungen  Pencks  und  Brücknets 
ermöglichten  die  Übertragung  der  typologisch  ge- 
wonnenen Ergebnisse  auf  des  alpine  Eiszeitschema, 
das  in  seinen  Grundlinien  feststeht,  aber  im 
einzelnen  noch  wandlungsfähig  ist.    Ist  doch  jetzt 


')  Schmidt  betont  hierbei  die  auffallendeD  Ähnlich- 
keiten dieser  Kulturstufe  nach  der  Ofnethöhle  (22)  benannten 
Stufe  mit  derjenigen  der  Tasmanier. 

'')  Vgl.  E.  Schalow,  Zur  Entstehung  der  schlesischen 
Schwarzerde.  (Beihefte  zum  Bot.  Centralblatt  1921,  S.  466  usw.). 


38o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


Geol.   Alter 

Kulturstufe 

Rasse 

Länge  (Jahre 

Hauptstätten 
in  Deutschland 

Günzeiszeit 

Eolithikum 

Heidelbergmensch 

4-  200  000 

I.  Interglazial 

Mindeleiszeit 

Hauptinterglazial 

Chelleen 

1 00  000 

Halberstadt 
Hundisburg 

Unteres  Acheuleen 

Wettin  und  Wangen 

Neanderlha.er 

RiBeiszeit 

Oberes  Acheuleen 

70000 

Markkleeberg,  Metz, 
Achenheim 

Jüngeres    Interglazial 

Unteres  Mousterien 

60000 

Weimar 

Oberes  Mousterien 

20000 

Sirgenstein 

Aurignacien 

40000 

Willendorf,    Koblenz 

Aurignacmensch 

Solutreen 

Pfedmost,    Cannstatt 

Magdalenien 

Thaingen,  Haveltone 

Heutiger  Europäer 

Ancyluskultur 

6  coo 

Ofnet,  Haveltone 

Alluvium 

Litorinakullur 

Eilerbeck  bei  Kiel 

Neolithikum 
Metallzeit 

3000 

Löfigebiete 

4000 

(1921)  Penck  selbst  geneigt,  die  Höttinger 
Breccie  in  das  Hauptinterglazial  zu  stellen  und 
den  bisher  dem  Bühlvorstoß  zugeschriebenen  Ge- 
schiebemergel in  die  Würmeiszeit,  womit  der 
Achenschwankung  die  wichtigste  Stütze  ent- 
zogen wird. 

Viel  günstiger  als  im  alpinen  Gebiet  liegen 
die  Verhältnisse  in  Norddeutschland,  wo  sich  die 
regionale  Verbreitung  der  in  den  Alpen 
eng  gedrängten  Ablagerungen  mit  einer  gründ- 
lichen Untersuchung,  vor  allem  durch  die  Kar- 
tierung der  Landesanstalt,  paart.  Von  hier  aus 
hat  die  Neugliederung  der  Kulturen  des  Eiszeit- 
menschen auszugehen,  dies  erkannt  und  begründet 
zu  haben  ist  ein  großes  Verdienst  von  Wiegers. 
Wir  blicken  jetzt  freier  und  werden  nicht  zu 
Sklaven  der  Typologie,  in  die  wir  mühsam  das 
Glazialschema  einzwängen. 

Zugleich  ermöglichte  die  Weiterausspinnung 
der  Forschungen  de  Geers  die  ersten  nicht  nur 
relativen  Zahlenangaben  über  die  Dauer  der  Eiszeit. 

Aber  überall  tauchen  neue  h'ragestellungen 
auf.  Aus  was  für  Vorfahren  entwickelten  sich 
unsere  Diluvialrassen,  die  nicht  ohne  weiteres 
voneinander  ableitbar  sind  r  Welches  Alter  haben 
die  den  europäischen  Stufen  entsprechenden  Kul- 
turen außerhalb  Europas?  Wie  sind  die  Lücken 
zwischen  den  einzelnen  Stufen  zu  erklären? 

Hier  ist  die  Forschung  noch  im  Muß  und 
neue  wichtige  Ergebnisse  sind  in  Kürze  von  ver- 
schiedenen   Seiten    zu    erwarten.       Eine    Voraus- 


setzung hierfür  ist  jedoch,  daß  alle  neuen  Funde 
eiszeitlicher  Kulturen  möglichst  bald  der  Wissen- 
schaft zugänglich  gemacht  werden ,  damit  ihre 
Einreihung  und  Verwertung  erfolgen  kann. 

Geheimnisvolle  Andeutungen  und  Verdäch- 
tigungen anderer  Forscher,  wie  sie  von  Otto 
Ha  US  er')  aus  neuerdings  öfters  durch  die  Presse 
gingen,  nützen  in  dieser  Form  der  Wissenschaft 
nichts  und  erregen  höchstens  das  Mißtrauen  der 
Laien,  den  sie  unnötigerweise  voreingenommen 
machen. 


')  Eine  dankenswerte  Mitteilung  von  Hugo  Möte- 
findt  über  ,, Neuere  Funde  aus  der  älteren  Steinzeit"  (Nalurw. 
Wochenschr.  1922,  S.  207),  weist  darauf  hin,  daß  es  sich  bei 
den  meisten  Ilauserschen  Kunden  in  Thüringen  um  belang- 
lose Eolithen  handelt  und  nur  bei  Sangerhausen  Klingen  des 
Aurignacien  mit   Resten  einer  Lößdecke  verknüp(t  sind. 


Wichtijrste  ueuere  Literatur. 

Pcnck,  Die  Höttinger  Breccie  und  die  Inntalterrasse  bei 
Innsbruck.      Abh.  d.  preuß.  .Akademie  der  Wissenschaften.    1920. 

Leverett,  Comparison  of  North  American  and  Euro- 
pean glacial  deposits.    Zeitschrift  für  Gletscherkunde   1909/10. 

Wiegers,  Diluvialprähistorie  als  geologische  Wissen- 
schaft.    Abh.  d.  preuß.  geol.  Landesanstalt,  Heft  84,   1920. 

Wah  nsc  h  a  f  f  c -S  c  h  uc  h  t ,  Geologie  und  Oberflächen- 
gestahung  des  norddeutschen  Flachlandes.  4.  Aufl.  Stuttgart 
1921.  Ist  wichtig  durch  eine  Fülle  von  Literaturangaben,  wo- 
bei jedoch  nur  die  aus  dem  Jahrbuch  der  Landesanstalt  stam- 
menden Arbeiten  vollständig  verarbeitet  sind,  während  manche 
wertvolle  Arbeiten   dem   Vcrt.   entgangen  sind. 

Wähle,  Die  Besiedlung  Südwestdeutschlands  in  vor- 
römischcr  Zeil  nach  Ihren  lalUrlichen  Grundlagen.  XII.  Be- 
richt der  römisch-gcrni  mischen   Kommission.   1920. 


N.  F.  XXI.  ^ir.   27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


381 


Heim,    Geologie  der  Schweiz.     Leipzig  1917. 

Richarz,  Die  geologischen  Grundlagen  der  Zeitbestim- 
mung vom  Bühlvorstoß  bis  jetzt.  Korrespondenzblatt  f.  An- 
thropologie usw.  1920,  S.  63 — 67.  Übt  eine  berechtigte  Kri- 
tik an  den  Methoden  von  Nüesch  und  Heim  und  der  Un- 
sicherheit der  durch  sie  errechneten  Zahlen. 

Seh  midie,  Die  diluviale  Geologie  der  Bodenseegegend. 
Die  Rheinlande  Heft  S,  1914.  Mustergültige  Darstellung  der 
Geschichte  des  diluvialen  Rheingletschers  und  wertvolle  Er- 
weiterung der  Bearbeitung  desselben  Gebietes  durch  Penck 
(Alpen  im  Eiszeitalter  S.  396—440).    Besonders  wichtig  ist  die 


Feststellung  der  Selbständigkeit  des  älteren  Deckenschotters, 
von  dem  schon  verkittete  Gerolle  im  jüngeren  Deckenschotter 
gefunden  wurden  (S.  80)  und  die  glänzende  Darstellung  der 
Drumlinlandschaft  und  ihrer  Entstehung  (S.  93  —  112). 

Interessante  Feststellungen  wirft  auch  Josef  Bayer  in 
seinen  neuesten  Arbeiten  auf  (vor  allem  :  Spaniens  Bedeutung 
für  die  Diluvialchronologie;  Mitt.  anthr.  Ges.  Wien  1921, 
S.  48 — 64),  wenngleich  seine  Parallelisierungen  sich  nicht  mit 
den  Beobachtungen  im  norddeutschen  Diluvium  in  Überein- 
stimmung bringen  lassen  und  sonst  anfechtbar  sind. 


Einzelberichte. 


Das  Memellaud. 


Über  Land  und  Bevölkerung  des  Memelge- 
bietes,  auf  das  nach  Artikel  99  des  Friedensver- 
trags von  Versailles  Deutschland  verzichten  mußte, 
unterrichtet  ein  Aufsatz  in  der  Zeitschrift  „Wirt- 
schaft und  Statistik"  (herausgegeben  vom  Statisti- 
schen Reichsamt,  2.  Jahrg.,  Nr.  i).  Das  Memel- 
gebiet  ist  ein  Streifen  von  270813  ha,  auf  dem 
zurzeit  rund  150000  Einwohner  leben.  Die  Grenzen 
werden  gebildet  von  der  alten  deutschen  Grenze 
von  Nimmersatt  bis  zur  Memel,  von  dem  Strom 
selbst  und  einer  Linie  in  seiner  Verlängerung  über 
die  kurische  Nehrung,  schließlich  von  der  Ostsee. 
Der  Boden  ist  mit  Ausnahme  der  Ostseeküste 
fruchtbares  Ackerland.  Große  Waldbestände  liegen 
verstreut  in  allen  Gegenden.  Etwa  90  v.  H.  der 
Gesamtfläche  wird  land-  und  forstwirtschaftlich 
genutzt;  der  bäuerliche  Betrieb  überwiegt  durch- 
weg. Im  Jahre  191 3  betrug  der  Ernteertrag  un- 
gefähr 5020  t  Weizen,  44800  t  Rogen,  15300  t 
Gerste,  50500  t  Hafer,  213400  t  Kartoffeln, 
61  900  t  Futterrüben,  64  t  Winterraps  und  -rübsen 
und  286200  t  Heu.  Das  ganze  Memelgebiet  ist 
mehr  zum  Futteranbau  als  zum  Anbau  von  Körner- 
früchten geeignet.  So  ist  denn  auch  seit  jeher 
die  Viehzucht  die  Hauptbeschäftigung  der  Be- 
völkerung gewesen.  Im  Dezember  1920  wurden 
gezählt  31  471  Pferde,  69956  Rinder,  23052  Schafe, 
76980  Schweine,  706  Ziegen  und  255000  Stück 
Geflügel.  Handel  und  Industrie  sind  im  Memel- 
gebiet von  wesentlicher  Bedeutung.  191 3  liefen 
799  Schiffe  mit  310360  Br.-Reg. -t  in  den 
Memeler  Hafen  ein,  790  mit  306649  Br.-Reg.-t 
gingen  aus.  Der  Gesamtwert  der  Ein-  und  Aus- 
fuhr stellte  sich  auf  113,4  Millionen  Mark.  Im 
Jahre  1920  betrug  der  Eingang  790  Schiffe  und 
der  Ausgang  795.  Der  Handel  mit  Holz  nimmt 
die  wichtigste  Stelle  ein.  Die  Grundlage  gibt 
der  heimische  Waldbestand  ab. 

Von  den  150  000  Einwohnern  spricht  fast  die 
Hälfte  litauisch  als  Muttersprache,  doch  weicht 
der  Dialekt  wesentlich  von  dem  in  Kowno  ge- 
sprochenen ab.  Die  Stadt  Memel  selbst  zählt 
rund  31000  Einwohner.  Von  100  Erwerbstätigen 
gehörten  60,5  der  Landwirtschaft,  13,7  der  In- 
dustrie und  8,3  dem  Handel  und  Verkehr  an. 
E.  W.  Neumann. 


Röntgenstralileii  als  Katalysatoreiigift. 

Katalysatoren  werden  durch  eine  Reihe  von 
Stoffen,  auch  wenn  diese  in  geringer  Menge  vor- 
handen sind,  unwirksam  gemacht.  Man  spricht 
geradezu  von  einer  „Vergiftung"  des  Katalysators. 
Als  Katalysatorengifte  stehen  Blausäure,  Schwefel- 
wasserstoff, Kohlenoxyd,  Arsenverbindungen  in 
erster  Linie,  bemerkenswerterweise  alles  Stoffe, 
die  auch  für  den  menschlichen  Organismus  stark 
giftig  sind.  Da  Röntgenstrahlen  im  Organismus 
tiefgreifende  Veränderungen  hervorzurufen  ver- 
mögen, die  nachweislich  vielfach  auf  einer  Be- 
einflussung organischer  kolloidaler  Systeme  be- 
ruhen, so  suchten  Robert  Schwarz  und  W. 
Friedrich')  nach  der  umgekehrten  Parallele  im 
Anorganischen.  Es  zeigte  sich,  daß  Röntgen- 
strahlen in  ähnlicher  Weise  wie  die  oben  ge- 
nannten StofTe  „vergiftend"  auf  gewisse  Kataly- 
satoren wirken. 

B  red  ig  hat  die  Umstände  näher  studiert, 
unter  denen  Hydroperoxyd  HjOj  zerfällt.  Er 
fand,  daß  dieser  Zerfall  (in  Wasser  und  Sauer- 
stoff) durch  geringe  Mengen  kolloidalen  Platins 
katalytisch  stark  beschleunigt  wird.  Schwarz 
und  Friedrich  bestrahlten  nun,  unter  sorgfältiger 
Ausschaltung  aller  Fehlerquellen,  ein  30proz. 
Hydroperoxydpräparat ,  dem  ein  Platinsol  (Ge- 
halt: 0,02  g  Platin  im  Liter)  zugesetzt  war,  mit 
Röntgenstrahlen  aus  einer  Coolidgeröhre  mit 
Wolframantikathode.  Es  erwies  sich,  daß  die 
Zerfallsgeschwindigkeit  beträchtlich  gelähmt  wurde 
gegenüber  einem  unbestrahlt  gebliebenen  Präparat. 
Die  Verzögerung  betrug  bis  zu  77  "/o-  Wurde 
das  Hydroperoxyd  allein  bestrahlt,  so  verlief 
die  Katalyse  normal.  Bestrahlte  man  jedoch  das 
Platinsol  allein  und  setzte  es  nachher  dem  Hydro- 
peroxyd zu,  so  zeigte  sich  eine  gleiche  Lähmung 
wie  wenn  beide  Stoffe  miteinander  gemischt  der 
Bestrahlung  ausgesetzt  gewesen  waren.  Die 
Röntgenstrahlen  wirken  mithin  nur  auf  den 
Katalysator  ein. 

Welcher  Art  ist  die  Wirkung  der  Röntgen- 
strahlen auf  das  Platinsol?  Es  konnte  festgestellt 
werden,  daß  weder  der  elektrische  Ladungssinn 
des   Soles    noch    die   Wanderungsgeschwindigkeit 

')  Berichte  d.  Deutschen  Chem.  Gesellschaft  55,  S.  I040, 
1922. 


382 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


durch  die  Bestrahlung  beeinflußt  werden.  Somit 
kann  es  sich  nur  um  eine  Veränderung  des  Dis- 
persitätsgrades handeln.  Darauf  deutet  auch,  daß 
nach  etwa  16  Stunden  die  Vergiftung  ver- 
schwunden war.    Der  Katalysator  hatte  sich  erholt. 

Die  theoretische  Erklärung  dieser  Erscheinung 
ist  nicht  restlos  gelungen.  Die  Autoren  nehmen 
die  von  Haber  aufgestellte  Theorie  der  Hydro- 
peroxydkatalyse  als  Ausgangspunkt  ihrer  diesbe- 
züglichen Darlegungen.  Danach  ist  für  die  Kata- 
lyse Sauerstoff  nötig,  der  im  Platin  gelöst 
oder  chemisch  gebunden  vorhanden  ist.  Nimmt 
man  an,  daß  durch  die  Röntgenbestrahlung  aus 
dem  ja  in  allen  Fällen  anwesenden  Wasser 
Wasserstoff  abgespalten  wird,  so  ist  denkbar, 
daß  dieser  den  im  Platin  vorhandenen  Sauerstoff 
unwirksam  macht.  Alsdann  nämlich  ist  es  un- 
möglich, daß  die  erste  Stufe  der  Katalyse  völlig 
überwunden  wird,  die  nach  Haber  in  der 
Gleichung  yH^Oa  +  nPt  =  Pt„Oy  -f  yH^O  ausge- 
drückt ist.  Infolge  der  Anwesenheit  des  Wasser- 
stoffs käme  es  nicht  zur  Bildung  der  Zwischen- 
verbindung PtnOy.  Wasser  wurde  durch  Röntgen 
strahlen  in  keiner  Weise  derart  verändert,  daß 
Lähmungserscheinungen  auftraten.  Die  Vergiftung 
ist  also  nicht  auf  etwa  entstandenes  Ozon  oder 
auf  Stickoxyde  zurückzuführen. 

Eine  belangvolle  Parallele  zu  diesen  Versuchen 
ist  ferner  die  Einwirkung  von  Röntgenstrahlen 
auf  solche  organischen  Fermente,  die  den  Zerfall 
des  Hydroperoxyds  gleichfalls  zu  katalysieren  ver- 
mögen. Von  solchen  wurde  Katalase  unter- 
sucht. Es  zeigten  sich  die  der  Art  und  Weise 
nach  gleichen  Lähmungserscheinungen  wie  beim 
Platinsol.  Auch  bei  der  Katalase  trat  nach  etwa 
16  Stunden  Erholung  und,  auffallenderweise!,  so- 
gar erhöhte  Wirksamkeit  auf  die  Zersetzungs- 
geschwindigkeit ein.  H.  Heller. 

Nene  Forschungeu  über  Nebelflecke. 

Die  im  Jahre  191 8  erschienene  Publikation 
„Studies  of  the  Nebulae  made  at  the  LickObser- 
vatory",  die  bei  uns  erst  vor  kurzem  bekannt 
wurde,  enthält  eine  Reihe  recht  bemerkenswerter 
Ergebnisse  über  die  sog.  planetarischen  oder  „Gas"- 
nebel ,  deren  wichtigste  hier  nach  einem  von 
Becker  in  der  „Himmelswelt"  gegebenen  Bericht 
zusammengestellt  werden  mögen. 

Die  Anzahl  der  planetarischen  Nebel  ist  im 
Vergleich  zu  den  nach  Tausenden  zählenden  Ne- 
beln und  Sternhaufen  der  Generalkataloge  recht 
gering,  es  gibt  deren  nur  150,  als  Hauptrepräsen- 
tanten derselben  seien  der  Orionnebel,  der  Amerika- 
nebel und  der  Ringnebel  in  der  Leyer  genannt. 
Auch  unter  den  200000  beobachteten  Stern- 
spektren des  neuen  Draper  Katalogs  hat  sich  nur 
ein  Objekt  gefunden,  das  seinem  Spektrum  nach 
zu  den  Gasnebeln  zu  rechnen  ist.  Die  kleineren 
und  kleinsten  der  planetarischen  Nebel  gehören 
ebenso  wie  die  großen,  diffusen  Nebel  fast  aus- 
schließlich der  Milchstraße  an,  während  die  größe- 
ren  und   helleren   gleichmäßig   über   den  ganzen 


Himmel  verteilt  sind.  Die  Gasnebel  gehören  also 
dem  Milchstraßensystem  an,  so  daß  die  entfern- 
testen von  unserem  Standpunkt  aus  sich  in  der 
Milchstraße  selbst  zusammendrängen,  die  näheren 
dagegen  sich  auch  auf  andere  Stellen  der  Him-" 
melskugel  projizieren.  Dies  wird  auch  durch  die 
bei  6  Objekten  von  van  Maanen  gefundenen 
Parallaxen  bestätigt. 

Die  absolute  Helligkeit  M,  d.  h.  diejenige,  in 
der  das  Objekt  aus  einer  Entfernung  von  32 
Lichtjahren  (entsprechend  0,1"  Parallaxe)  erschei- 
nen würde,  bestimmt  sich,  wenn  m  die  schein- 
bare Helligkeit  und  n  die  Parallaxe  ist,  nach  der 
Formel  M  =  m  +  5  +  log  ^-  Danach  ist  die 
durchschnittliche  Helligkeit  der  6  Nebel,  deren 
Entfernung  bekannt  ist,  nur  9,1";  während  die 
Durchmesser  Werte  zeigen,  die  den  der  Neptuns- 
bahn durchweg  um  das  40-  bis  50  fache  über- 
treffen, wie  folgende  Tabelle  zeigt: 

Durchmesser 
Nr.  desN.G.C.         Parallaxe  M  in  Erdbahn- 

halbmessern 

2392  0,022"  6,7  2  100 

6720  0,008  9,2  10  000 

6804  0,022  10,1  I  450 

6905  0,015  10,4  3  100 

7008  0,016  8,8  5900 

7662  0,023  9,7  I  350 

Die  Formen  der  Gasnebel  sind  mannigfache. 
Curtis  unterscheidet  sieben  Typen.  Die  Nebel 
sind  teils  schraubenförmig,  ringförmig,  scheiben- 
förmig, teils  auch  Nebelsterne. 

Verschiebungen  der  Spektrallinien  wurden  von 
Campbell  und  Moore  bei  125  Gasnebeln  fest- 
gestellt. Sie  ergeben  eine  Annäherung  zur  Sonne 
im  Betrage  von  durchschnittlich  29,6  km  in  der 
Sekunde,  allerdings  bilden  4  ausgedehnte  Nebel 
mit  nur  4,0  km  Annäherung  und  besonders  die 
Nebel  in  der  großen  Kapwolke  mit  einer  von  der 
Sonne  fort  gerichteten  Geschwindigkeit  von 
276  km  wichtige  Ausnahmen.  Wilson  glaubt, 
daß  die  abnorm  hohe  Geschwindigkeit  der  Nebel 
derKapvvolke  auch  der  ganzen  Wolke  einschließ- 
lich der  darin  enthaltenen  Wolf-Rayet-Sterne  und 
P  -  Cygni  -  Sterne,  sowie  der  Sterne  mit  hellen 
Wasserstofflinien  zukommt,  die  außerhalb  der 
Wolke  in  deren  Nachbarschaft  gänzlich  fehlen. 
Pickering  hält  die  Kap  wölke  für  einen  großen, 
der  Sonne  relativ  nahen  Spiralnebel.  Auch  sonst 
zeigen  die  Spiralnebel  meist  große  Geschwindig- 
keiten. 

Auch  Rotationen  der  Nebel  lassen  sich  nach 
dem  Dopplerschen  Prinzip  durch  Verschiebungen 
der  Spektrallinien  erkennen.  Für  den  Ringnebel 
in  der  Leyer  wurden  insbesondere  folgende  Werte 
gefunden : 

Bahngeschwindigkeit  eines  Teilchens 

in  25"  Abstand  vom  Kern        1,4  km/sec. 
Parallaxe  0,004" 

Entfernung  800  Lichtjahre 

Masse  13,8  Sonnenmassen 

Rotationsperiode  132900  Jahre 


N.  F.  XXI.  Nr.  2; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


383 


In  dem  berühmten  Spiralnebel  im  Sternbild 
der  Jagdhunde  (Messier  51  oder  N.G.C.  5194) 
konnte  van  Maanen  durch  Vergleichung  zweier 
mit  einem  60  zölligen  Reflektor  hergestellten, 
photographischen  Aufnahmen ,  die  um  1 1  Jahre 
auseinander  liegen,  innere  Bewegung  feststellen. 
Die  erste  Aufnahme  wurde  im  Februar  1910,  die 
zweite  im  April  192 1  gewonnen.  Der  Nebel  hat 
sich  in  dieser  Zeit  gegen  die  benachbarten  Fix- 
sterne jährlich  um  -j-  o,oo6"  in  Rektaszension  und 
um  -f-o,CXDi"  in  Deklination  bewegt,  außerdem 
zeigt  sich  aber  noch  eine  innere  Bewegung,  die 
nicht  in  einer  bloßen  Rotation  besteht,  da  neben 
einer  tangentialen  Drehbewegung  von  jährlich 
0,019"  irn  Sinne  O — N — W — S  eine  radiale  Ver- 
schiebung der  leuchtenden  Gebilde  nach  außen 
hin  gemessen  wurde,  die  42  "/(,  der  Tangential- 
bewegung  beträgt.  Es  findet  also  in  dem  Nebel 
eine  spiralige  Bewegung  längs  der  Arme  im  Be- 
trage von  jährlich  0,021"  zusammen  mit  einer  ge- 


ringen, nach  außen  gerichteten  radialen  Bewegung 
von  0,003"  statt. 

Die  in  den  Gasnebeln  auftretenden  Spektral- 
linien sind  außer  den  Wasserstofflinien  H«  bis  H^ 
mehrere  Linien  des  Helium,  auch  die  als  HcC,  H;', 
Hii',  Hi'  bezeichneten  Linien  der  c  Puppis- Serie, 
die  ebenfalls  dem  Helium  zugeschrieben  werden, 
sowie  die  noch  nicht  mit  bekannten  Elementen 
identifizierten  Hauptnebellinien  4959  N,  und 
5007  Nj.  Die  Kerne  der  Gasnebel  zeigen  außer- 
dem heile  Bänder  und  ein  recht  intensives,  konti- 
nuierliches Spektrum,  dessen  Energieverteilung 
nach  der  Planckschen  Gleichung  auf  eine  Tem- 
peratur von  etwa  50000"  schließen  läßt.  Diese 
Kernsterne  sind  durch  die  bei  4051,  4686  und 
4633  gelegenen  Bänder  den  Wolf-Rayet-Sternen 
sehr  ähnlich.  Bei  365  /</<  setzt  ganz  unvermittelt 
da,  wo  die  Balmerserie  des  Wasserstoffs  aufhört, 
ein  kontinuierliches  Spektrum  ein,  wie  es  von 
der  Bohrschen  Atomtheorie  für  den  Wasserstofif 
gefordert  wird.  Kbr. 


Bücherbesprechungen. 


Petersen,  H.,  Histologie  und  mikrosko- 
pische Anatomie.  I.  und  IL  Abschnitt: 
DasMikroskop  und  allgemeine  Histo - 
logie.  132  S.  mit  122  z.  T.  farbigen  Abbil- 
dungen im  Text.  München  u.  Wiesbaden  1922, 
J.  F.  Bergmann.  42  M. 
Das  vorliegende  Werk  stellt  den  allge- 
meinen Teil  eines  Lehrbuches  der  Histologie 
und  mikroskopischen  Anatomie  dar,  dessen  Schluß- 
(und  Haupt-)  Teil,  ca.  37  Druckbogen  stark,  so 
bald  als  möglich  folgen  soll.  Die  allgemeinen 
Probleme,  welche  nach  des  Verf  s  Auffassung  sich 
aus  der  hier  abgehandelten  Lehre  von  der  als 
Zelle  organisierten  lebenden  Substanz  ergeben, 
sind,  wie  der  Verf.  hervorhebt,  mehr,  als  das  bis- 
her in  den  einschlägigen  Lehrbüchern  üblich  war, 
betont  worden.  Die  Arbeit  ist  Hermann  Bruns 
gewidmet,  dem  Verf.  des  meistumstrittenen  mo- 
dernen Lehrbuches  der  Anatomie,  der  Petersen 
offenbar  nicht  wenig  beeinflußt  hat.  Dem  Re- 
ferenten will  es  auch  nach  der  Lektüre  dieser 
Arbeit  scheinen,  als  ob  doch  die  der  Fahne  von 
Bruns  folgende  jüngere  Anatomengeneration  all- 
zusehr „ad  usum  delphini"  schriebe,  was  schließ- 
lich mit  der  Not  der  heute  hastig  auf  das  Exa- 
men dressierten,  kaum  noch  im  früheren  Sinne 
des  Wortes  in  ein  Studium  sich  vertiefenden 
akademischen  Jugend  entschuldigt  werden  könnte, 
wenn  nicht  bei  jeder  Gelegenheit  die  klassische 
anatomische  Lehrbuchliteratur,  als  ob  sie  dem 
Wißbegierigen  Steine  statt  Brot  gereicht  hätte,  ab- 
fällig kritisiert  würde.  Wohl  wird  mancher  ori- 
ginelle Gedanke,  manche  didaktisch  sehr  geschickte 
Methode  der  Stoffbehandlung  in  dieser  Brunsschen 
Schule  herausgearbeitet.  Aber  von  der  impo- 
santen   Größe    der    Klassiker    —    es    seien    nur 


Henle,Gegenbaur,  Fürbringer  genannt  — 
sind  sie  doch  weit  entfernt.  Es  wird  viel  zu  viel 
verglichen,  Nachbargebieten  (z.  B.  technischen 
Disziplinen)  Zugehöriges  in  den  Kreis  der  Be- 
trachtungen einbezogen,  anstatt  streng  systematisch 
das  Gebäude  der  Disziplin  zu  entwickeln  und 
scharf  von  der  Nachbarschaft  zu  sondern,  vor  allem 
aber  die  vielen,  in  rein  deskriptiver  Hinsicht  be- 
stehenden Lücken  auszufüllen.  So  hat  nach 
des  Ref.  Überzeugung  die  Entwicklungsmechanik 
nichts  in  einem  histologischen  Lehrbuch  zu  suchen. 
—  Allein  es  kann  heute  über  alles  dies  nicht  gut 
mit  dem  Verf.  gerechtet  werden.  Zumal  man 
sich  andererseits  viel  Gutes  von  seiner  Arbeit 
versprechen  darf.  Was  er  behandelt  hat  (Mikro- 
skop, Anatomie  der  Zelle,  Theorie  der  lebendigen 
Struktur,  Beobachtungsmethoden,  die  Lebenser- 
scheinungen der  Zellen  —  um  nur  einige  wichtigste 
Kapitel  herauszugreifen),  ist  mit  anerkennenswerter 
Klarheit  und  Prägnanz  zur  Wiedergabe  gelangt, 
die  durch  ungewöhnlich  gute  Illustrationen 
wirkungsvoll  unterstützt  wird.  Die  Literatur  wird 
sorgfältig  zitiert. 

So  kann  das  Buch,  wenn  es  auch  im  Zeichen 
einer  Übergangsperiode  steht,  die  mit  ihrem  Be- 
mühen, den  Stoff  in  neue  Formen  zu  gießen, 
neue  Problemstellungen  zu  geben,  bevor  die  alten 
genügend  erschöpft  sind,  nicht  immer  eine  glück- 
liche Hand  zu  haben  scheint,  doch  warm  empfohlen 
werden.  M.  Wolff  (Eberswalde). 


Stark,  Prof  Dr.  Johannes,  Natur  der  chemi- 
schen Valenzkräfte.  Mit  4  Fig.  Leipzig 
1922,  S.  Hirzel.      10  M. 

Ein  Vortrag  des  großen  Physikers,  des  Nobel- 
preisträgers  von    1920,   der   zuerst   klar   die  Ge- 


384 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  27 


danken  der  elektrischen  Natur  der  Valenzkräfte 
aussprach ,  auf  denen  das  ganze  Gebäude  der 
heutigen  Valenzlehre  ruht.  Auffallend  gepflegt 
im  gedanklichen  sowohl  wie  im  stilistischen  Auf- 
bau, bildet  der  Vortrag  ein  ungemein  lehrreiches 
Seitenstück  zu  der  neulich  hier  besprochenen 
Schrift  von  Kossei  (Naturw.  Wochenschr.  N.  F. 
XXI,  S.  112,  1922).  Lehrreich  insbesondere  des- 
halb, weil  der  unbedenklichen  Selbstsicherheit  des 
Letzteren  hier  die  vorsichtige,  fast  möchte  man 
sagen :  weise  Bescheidenheit  des  echten  Physikers 
entgegensteht,  dem  die  Erfahrung  alles,  die 
Rechnung  nur  ein  Hilfsmittel  ist.  Fast  alle 
heutigen  Theoretiker  freilich  halten  es  mit  dem 
Primat  der  IVIathematik.  .  .  Immerhin  muß  man 
der  (von  Stark  nicht  geteilten)  Theorie  von 
Rutherford  und  Bohr  zugestehen,  daß  sie 
viele  exakte  Erfahrungen  quantitativ  deckt. 
Starks  Theorie  hingegen  ist  über  qualitative 
Beschreibung  nicht  recht  hinausgekommen. 

Die  Schrift  ist  sehr  zu  empfehlen.       H.  Heller. 


Romeis,  B.,    Taschenbuch    der  mikrosko- 
pischen Technik.     IX  und  472  S.  m.  5  Flg. 
im  Text  und  mehreren  Tabellen.     9.  u.  lO.  um- 
gearbeitete und  erweiterte  Auflage  des  Taschen- 
buches     der      mikroskopischen     Technik      von 
Alexander    Böhm    und    Albert    Oppel. 
München  und  Berlin  1922,  Verlag  von  R.  Olden- 
bourg.  —  Preis  geb.  70  M. 
Das  seit  Jahrzehnten  in  allen  zoologischen  und 
histologischen  Laboratorien  am  meisten  gebrauchte 
Taschenbuch,    dessen    vorausgegangene    Auflage 
ebenfalls    von  Romeis  sehr    glücklich  bearbeitet 
worden  war,  weist  auch  in  der  vorliegenden  eine 
IMenge    neuer    Nachträge    auf.       Abgesehen    von 
diesen     haben    vor     allem    die    Abschnitte    über 
Knochen,    Zähne,    IVIuskel    und    Vital  fär- 
bung  eine  neue,  übersichtlichere  Darstellung  er- 
fahren.    Eine  sehr  willkommene  Bereicherung  ist 
ein    Kapitel    über    das    Messen    mikroskopischer 
Präparate  und  über  die  (vorzüglich  von  Hammer 
ausgebildeten)  Methoden    einer   genauen  Mengen- 
bestimmung von  Organen  und  Organteilen.    Über 
die    Prinzipien     der     mikrometrischen    Messungs- 
methoden   wird    der  Anfänger  ja  im  allgemeinen 
orientiert   sein.     Damit   ist    es    aber    nicht  getan. 
Denn    es    sind    allerhand    technische  Einzelheiten 
zu  beachten,  über  die  leider  auch  in    den  Kursen 
viel    zu    wenig    Aufklärung    gegeben    zu    werden 
pflegt,  und  über  die  sich  die  Mehrzahl    der  sonst 
zur  Verfügung  stehenden  Handbücher  ausschweigen. 
Und  doch  sind  exakte  Bestimmungen  nur  bei 


Beachtung  dieser  Einzelheiten  zu  erhalten  (z.  B. 
Beseitigung  der  Parallaxe,  Behandlung  der  Objek- 
tive mit  Korrektionsfassung  usw.). 

Vermißt  hat  der  Ref.  eigentlich  nur  eine  Dar- 
stellung der  ChloracethylGefriertechnik,  die  doch 
—  vor  allem,  wenn  nicht  tagaus,  tagein  am  Mikro- 
tom gearbeitet  wird  —  bequemer,  billiger,  aber 
sonst  in  den  Resultaten  ebensogut,  wie  die 
Kohlensäuretechnik  ist,  sich  auch  in  Gestalt  des 
vom  Ref.  angegebenen  kleinen  Zimmermann- 
schen  Mikrotoms  gut  eingebürgert  hat,  ferner  die 
Erwähnung  der  Methode  des  Aufklebens  von  Ge- 
frierschnitten mit  Mallorys  Celloidin.  Das  wäre 
vielleicht  in  einer  Neuauflage  nachzutragen. 

Jedenfalls  ist  das  Taschenbuch  auch    in  seiner 
vorliegenden    Gestalt    dasjenige    Werk,   was   dem 
angehenden    und    fortgeschrittenen    Mikroskopiker 
in  erster  Linie  empfohlen  zu  werden  verdient. 
M.  Wolff  (Eberswalde). 


Müller,  L.  R.,  Über  die  Altersschätzung 
bei  Menschen.  62  S.  Berlin  1922,  Julius 
Springer. 
Während  man  bei  vielen  Pflanzen  und  bei 
manchen  Tieren  das  Alter  „bestimmen"  kann, 
kommt  für  den  Menschen  nur  eine  „ungefähre 
Schätzung"  in  Betracht,  die,  wie  Verf.  zeigt,  zu- 
dem mit  zahlreichen  F"ehlerquellen  behaftet  ist. 
Diese  Altersschätzung  hat  rein  wissenschaftliches 
Interesse  für  die  Anthropologie,  praktisches  aber 
auch  für  Ärzte  und  Juristen  und  schließlich  für 
jedermann.  Der  Verf.  stellt  in  dieser  Schrift  die 
Anhaltspunkte  zusammen,  die  bei  der  Alters- 
schätzung berücksichtigt  werden  müssen  und  gibt 
dazu  im  Text  87  lehrreiche  photographische  Re- 
produktionen. So  werden  die  Merkmale  am 
Skelett ,  dem  Fettpolster,  der  Haut,  den  Augen, 
den  Ohren,  dem  Mund,  den  Händen,  den  Ge- 
schlechtsorganen besprochen,  sodann  die  Wand- 
lungen des  Seelenlebens.  Auch  die  den  Alters- 
merkmalen zugrunde  liegenden  Zellveränderungen 
werden  behandelt,  sodann  die  Schätzung  des 
Alters  des  Menschengeschlechtes  und  des  Alters 
eines  einzelnen  Volkes.  —  Wenn  auch  der  Verf. 
zum  Schluß  noch  einmal  betont,  daß  von  einer 
wissenschaftlichen  Methode  der  Altersbestimmung 
beim  Menschen  nicht  die  Rede  sein  kann,  so  ist 
doch  seine  Schrift  als  ein  sehr  interessanter  und 
lesenswerter  Versuch  zu  bezeichnen.  Die  Aus- 
stattung des  Büchleins  ist,  was  das  Papier,  den 
Druck  und  insbesondere  die  Abbildungen  betrifft, 
auf  einer  bemerkenswerten  Höhe. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Inhalt:  K.  Olbricht,  Die  Eiszeit  in  Deutschland  und  der  vorgeschichtliche  Mensch.  (3  Abb.)  S.  369.  —  Einzelberichte: 
Das  MemcUand.  S.  381.  R.  Schwarz  und  W.  Friedrich,  Röntgenstrahlen  als  Katalysatorengift.  S.  381.  Becker, 
Neue  Forschungen  über  Nebelflecke.  S.  382.  —  Bücherbesprechungen:  11.  Petersen,  Histologie  und  mikroskopische 
Anatomie.  S.  383.  J.  Stark,  Natur  der  chemischen  Valenzkräfte.  S.  3S3.  B.  Rom  eis,  Taschenbuch  der  mikro- 
skopischen Technik.  S.  384.     L.  R.  Müller,  Über  die  Altersschätzung  bei  Menschen.  S.  384. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  11.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
•-T  ganzen  Reihe  37.  Hand. 


Sonntag,  den  g.  Juli  1922. 


Nummer  ä8. 


Der  Rhythmus  im  Leben  der  Pflanze.*) 

[Nachdruck  verboten.]  Von    HugO    Miche, 


Alljährlich  erleben  wir  das  eindrucksvolle  Schau- 
spiel, wie  sich  im  Lenz  das  kahle  Geäst  der 
Bäume  und  Sträucher  mit  grünem  Laube  und  die 
Erde  mit  einem  grünen  Teppich  von  Kräutern 
bekleidet,  wie  dann  aber  später  im  Herbst  die 
grüne  sommerliche  Pracht  zu  vergilben  beginnt, 
wie  die  Blätter  zu  Boden  taumeln,  die  Kräuter 
absterben  und  verdorren,  bis  nur  kahles  Zweig- 
werk in  die  winterliche  Luft  ragt  und  im  kalten 
Boden,  dem  Auge  verborgen,  die  dauerhaften  Teile 
der  Stauden  und  Kräuter  schlummern.  Und  wenn 
auch  manche  Pflanzen  mit  ihrem  Laube  einem 
oder  gar  mehreren  Wintern  zu  trotzen  vermögen, 
so  beteiligen  sich  auch  sie  in  gleicher  Weise  an 
dem  allgemeinen  Treiben  im  Frühjahr  und  an 
der  Ruhe  im  Winter.  So  offenbart  sich  im  Leben 
unserer  Gewächse  ein  ausgeprägter  Rhythmus,  ein 
Wechsel  zwischen  intensiver,  sich  in  Wachstum 
und  Neubildung  äußernder  Tätigkeit  und  zwischen 
Ruhe,  die  äußerlich  den  Eindruck  völligen  Still- 
standes macht.') 

Der  aufmerksame  Beobachter  der  Pflanzenwelt 
findet  aber  noch  viel  mehr  Anzeichen  eines  rhyth- 
mischen Geschehens,  die  weniger  auffallend  sind 
als  jene  Sommer -Winterperiodizität:  periodisch 
öffnen  und  schließen  sich  die  Blüten  der  Tulpen, 


Frage  auf:  was  wohl  ihre  Ursache  sein  mag. 
Viele  wird  vielleicht  schon  das  Aufwerfen  dieser 
Frage  verwundern.  Nichts  sei  doch  einfacher, 
meinen  sie,  zu  beantworten,  als  diese  Frage.  In 
der  einen  Jahreshälfte  begüngstigen  Wärme  und 
Licht  das  Wachstum,  in  der  anderen  werde  es 
durch  Dunkelheit  und  Kälte  gehemmt.  Die 
Pflanzenwelt  stehe  einfach  unter  der  Fuchtel  der 
Sonne  und  folge  ihrem  Gebot. 

Das  damit  aber  das  Problem  nicht  erledigt  ist, 
lehrt  uns  schon  eine  aufmerksame  Beobachtung 
unserer  heimischen  Flora.  Zunächst  einmal  treiben 
ja  durchaus  nicht  alle  Pflanzen  zu  gleicher  Zeit 
aus,  wie  sie  es  doch  tun  sollten,  wenn  sie  sich 
nur  nach  dem  Thermometer  richteten.  Manche 
Sträucher  öffnen  ihre  Laubknospen,  sobald  die 
erste  Wärme  einsetzt,  also  schon  im  Februar,  ja 
sogar  Ende  Januar,  wie  z.  B.  der  Stachelbeer- 
strauch und  seine  Verwandten ;  diesen  vorwitzigen 
folgen  dann  andere  nach;  zeitig,  aber  nicht  so 
früh,  beginnen  auch  verschiedene  Bäume,  Weiden, 
Linden,  Birken,  Kastanien,  Pappeln.  Dagegen 
verharren  Esche  und  besonders  Buche,  Eiche 
und  Akazie  in  starrer  Ruhe  und  stechen  noch 
anfangs  Mai  aus  dem  allgemeinen  Grün  mit  ihren 
kahlen  Ästen    heraus.     Sogar    individuelle  Unter- 


des   Krokus    unter    dem    Temperaturwechsel    der      schiede    gibt  es,    Bäume   der    gleichen  Art  zeigen 


wetterwendischen  ersten  Frühlingstage,  Löwen- 
zahn und  Mittagsblume  entfalten  ihre  strahlenden 
Kronen  nur  dem  hellen  Lichte,  und  verbergen 
sie  im  Dunkeln ;  -)  allnächtlich  sind  die  Blätter 
des  Klees,  der  Bohne,  der  Akazie  abwärts  ge- 
schlagen, jeden  Morgen  heben  sie  sich  wieder  dem 
Lichte  entgegen.^)  Und  wenn  wir  mit  feinen 
Methoden  den  Verlauf  des  Längenwachstums 
messen,*)  oder  das  Wuchern  eines  Schimmelpilzes 
auf  der  Agarfläche  beobachten,  oder  mit  dem 
Mikroskop  die  Kernteilungsvorgänge  in  den 
wachsenden  Vegetationspunkten  verfolgen,*)  oder 
das  Wachstum  der  Stärkekörner  oder  andere  in- 
time physiologische  Vorgänge  untersuchen,  die 
sich  innerhalb  des  Stoffwechselgetriebes  der 
lebenden  Zellen  abspielen,  so  gewahren  wir  wie- 
derum überall  Rhythmen  verschiedenster  Art. 

Alle  sind  sie  zweifellos  auf  das  feinste  aufein- 
ander abgestimmt,  sie  können  schließlich  auch  in 
größere  Rhythmen  zusammenklingen,  die  sich  in 
auffälligen  Erscheinungen  offenbaren.  Die  ein- 
drucksvollste dieser  Art  ist  wohl  die  periodische 
Wachstumstätigkeit,  die  die  heimische  Vegetation 
im  Wechsel  der  Jahreszeiten  zeigt.  Wir  wollen 
den  Versuch  machen,  diese  einer  wissenschaft- 
lichen  Analyse    zu    unterziehen    und   werfen    die 


oft,  obwohl  nebeneinanderstehend,  eine  bedeutende 
Phasendifferenz,  ja  nicht  selten  schlagen  gar  die 
Äste  desselben  Individuums  nicht  zu  gleicher 
Zeit  aus.  Staffelweise  sehen  wir  also  das  grüne 
Kleid  der  Erde  entstehen.  Ferner  wachsen  durch- 
aus   nicht,    wie   man  erwarten  sollte,   die   Triebe, 


*)  Nach  einer  am  23.  Mai  1922  in  der  Landwirtschaft- 
lichen Hochschule  zu  l^erlin  gehaltenen  Festrede. 

M  Allgemeine  Darstellungen  des  Rhythmus  z.  B.  bei 
H.  Kniep,  Über  den  rhythmischen  Verlauf  pflanzlicher  Le- 
bensvorgänge. Naturwissenschaften  1915,  Heft  36/37,  sowie 
H.  Schroeder,  Die  Pflanze  im  Wechsel  der  Jahreszeilen. 
Nalurw.  Wochenschr.  Bd.  XIX,  S.   52,   1920. 

''}  Literatur  bei  R.  Stoppel,  Über  den  Einfluß  des 
Lichtes  auf  das  Ofi'nen  und  Schließen  einiger  Blüten.  Zeitschr. 
f.  Botanik  Bd.  2,  S.   369,    1910. 

")  Vgl.  z.  B.  W.  Pfeffer,  Beiträge  zur  Kenntnis  der 
Entstehung  der  Schlaf  bewegungen.  Abhandl.  der  Math.-Phys. 
Kl.  d.  Kgl.  Sächsischen  Akad.  d.  Wissensch.  Bd.  XXXIV, 
Nr.  I,  1915  und  R.  Stoppel,  Die  Abhängigkeit  der  Schlaf- 
bewegungen von  Phaseolus  multiflorus  von  verschiedenen 
Außenfaktoren.     Zeitschr.  f.  Botanik  Bd.  8,  S.  609,   1916. 

*)  Vgl.  z.  B.  H.  Sierp,  Untersuchungen  über  die  durch 
Licht  und  Dunkelheit  hervorgerufenen  Wachstumsreaktionen 
bei  der  Koleoptile  von  Avena  sativa  und  ihr  Zusammenhang 
mit  den  phototropischen  Krümmungen.  Zeitschr.  f.  Botanik 
Bd.  13,  S.  113,  1921. 

*)  G.  Karsten,  Über  embryonales  Wachstum  und  seine 
Tagesperiode.     Zeitschr.  f.  Botanik  Bd.  7,  S.   I,   1915. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  28 


die  aus  den  Knospen  hervorkommen,  den  ganzen 
Sommer  weiter,  solange  es  die  Gunst  des  Klimas 
gestattet.*)  Bei  der  Buche  und  Eiche  z.  B.  sehen 
wir  nämlich,  wie  der  etwa  Mitte  Mai  anhebende 
Frühlingsschub  bereits  Ende  Mai,  spätestens  An- 
fang Juni  zu  Ende  ist,  also  mitten  im  besten 
Wetter  die  Zweigspitzen  sich  zur  Ruhe  begeben 
und  in  Knospenschuppen  einschließen,  ebenso  wie 
die  Kirsche,  schon  während  sie  blüht,  die  Knospen 
für  das  nächste  Jahr  ausbildet,  innerhalb  welcher 
dann  etwa  im  Juli  die  zarten  Blütenanlagen  ent- 
stehen, das  Hochzeitskleid,  das  bestimmt  ist,  den 
Baum  im  nächsten  April  zu  schmücken.') 

Ganz  merkwürdig  ist  nun  aber,  daß  nicht 
wenige  Bäume  unserer  Wälder  nach  dem  ersten 
Frühlingsschube  noch  einen  zweiten,  oft  sogar 
noch  einen  dritten  Schub  im  selben  Sommer 
machen.*)  So  bricht  z.  B.  an  der  Eiche  ein 
Fünftel  der  einige  Wochen  vorher  gebildeten 
Knospen  von  neuem  auf,  und  die  sommerlich- 
dunkle Krone  belebt  sich  durch  neue  helle  Blatt- 
büschel, die  nach  zwei  Wochen  ausgewachsen 
sind.  Meist  folgt  dann  im  August  noch  ein 
dritter  Schub,  der  ebenfalls  nur  auf  einen  Teil 
der  Krone  beschränkt  ist,  und  zieht  man  die 
Eiche  im  Gewächshause,  so  pflegt  die  Zahl  der- 
artiger Schübe  ganz  regelmäßig  vier  zu  betragen. 
Also  alljährlich  ein  großer  allgemeiner  Haupt- 
schub und  eine  Anzahl  ihm  folgender  Teilschübe. 
Diese  als  „Johannistriebe"  bezeichneten  Neubil- 
dungen sind  nun  keineswegs,  wie  vielfach  ange- 
nommen wird,  etwas  Absonderliches  oder  gar 
Pathologisches;  sie  gehören  vielmehr  durchaus  in 
den  normalen  Entwicklungszyklus  von  Eiche, 
Buche  und  anderen  Bäumen  hinein.  In  anderen 
Fällen  treten  sie  nur  gelegentlich  in  Erscheinung. 
So  sahen  wir  z.  B.  im  vergangenen  Jahre,  das 
klimatisch  von  der  Norm  abwich,  hier  in  Berlin 
im  September  die  schon  gänzlich  entblätterten 
Roßkastanienbäume  von  neuem  ausschlagen  und 
sogar  ein  zweites  Mal  blühen,  d.  h.  einen  Teil 
der  für  den  nächsten  Frühling  bestimmten  Knospen 
schon  vor  dem  Winter  entfalten,  und  in  dem 
heißen  und  trockenen  Sommer  191 1  konnte  man 
ähnliches  vielfach  beobachten. 

Auch  die  Tätigkeit  der  Wurzeln  ist  periodisch,*) 
die  Periode  ist  aber  wiederum  bei  einzelnen 
Arten  auffällig  verschieden  voneinander.  So  nimmt 
z.  B.  die  Tanne  ihre  Nährsalze  hauptsächlich  von 
Februar  bis  Mitte  Mai,  die  Fichte  dagegen  erst 
von  Mitte  Mai  bis  Mitte  Juli  auf,  beide  nahe 
verwandten  Bäume  zeigen  also  im  gleichen  Klima 
einen  verschiedenen  Rhythmus  dieser  physiologisch 
so  wichtigen  Funktion.'") 

Ähnliche  Zweifel  an  der  direkten  Wirkung 
des  Klimas  stoßen  uns  auf,  wenn  wir  den  Laub- 
fall betrachten.  Es  zeigt  sich  nämlich  auch  hier, 
daß  er  keinesfalls  eine  einfache  Folge  der  Kälte 
oder  der  Lichtabnahme  sein  kann.  Zunächst  ein- 
mal gibt  es  ja  auch  bei  uns  nicht  wenige  aus- 
dauernde Gewächse,  die  den  Winter  über  ihr 
Laub  behalten,  deren  Blätter  also   eine   über  ein 


Jahr  hinaus  sich  erstreckende  Lebensdauer  haben. 
Die  Blätter  der  Stechpalme  leben  über  zwei  Jahre, 
die  des  Efeus  und  der  Preißelbeere  fast  2^1^ 
und  die  Nadeln  der  Fichte  gar  bis  6  Jahre.'')  Das 
Abwerfen  solcher  mehrjähriger  Blätter  geschieht 
auch  durchaus  nicht  immer  im  Herbst,  die  Kiefer 
z.  B.  läßt  den  Hauptteil  ihrer  zum  Abwurf  be- 
stimmten Nadeln  im  Frühling  fallen.  Auch  die 
winterkahlen  Pflanzen  werden  nicht  unmittelbar 
durch  den  Frost  genötigt,  ihre  Blätter  abzuwerfen. 
Denn  in  der  Regel  werden  schon  lange  vorher, 
im  Sommer,  am  Blattstiel  die  Trennungsgewebe 
ausgebildet,  durch  die  später  der  Blattwurf  ein- 
geleitet wird.  Desgleichen  vollziehen  sich  schon 
lange,  bevor  die  Faust  des  Winters  zupackt,  im 
Blatte  gewisse  physiologische  Vorgänge,  die  auf 
den  Fall  hindeuten.  So  wandern  manche  Stoffe, 
wie  Phosphor-,  Stickstoff-,  Kaliverbindungen  aus 
dem  Blatte  aus,  der  grüne  Farbstoff  in  den  Chloro- 
plasten  wird  zerstört,  während  die  gelben  erhalten 
bleiben.'-) 

Wenn  nun  auch,  wie  sich  aus  den  soeben 
mitgeteilten  Tatsachen  ergibt,  die  Periodizität 
unserer  Pflanzen  gewiß  nicht  unmittelbar  vom 
Rhythmus  des  Klimas  verursacht  wird,  so  könnte 
man  sich  doch  vorstellen,  daß  sich  der  gegen- 
wärtige Zustand  zu  einem  wesentlichen  Teil  durch 
die  äonenlange  Einwirkung  des  Klimas  auf  den 
Pflanzenwuchs  herausgebildet  habe,  indem  sich 
dieser  allmählich  an  jenes  anpaßte.  Dann  müßte 
man  erwarten,  in  solchen  Ländern  die  kein  aus- 
geprägt periodisches  Klima  besitzen,  eine  Vege- 
tation ohne  Rhythmus  anzutreffen.  Zwischen 
den  Wendekreisen  zu  beiden  Seiten  des  Äquators 
nun  umzieht  eine  Zone,  die  sog.  Tropenzone,  die 
Erde,  in  welcher  der  starke  Wechsel  von  Kälte 
und  Wärme  fehlt,  und  wenn  auch  in  diesem 
Gürtel  gewisse  Schwankungen  anderer  Art,  näm- 
lich solche  zwischen  Trockenheit  und  Feuchtig- 
keit vorkommen  können,  so  gibt  es  doch  auch 
tropische  Landstriche,  wo  selbst  diese  Schwan- 
kungen sich  weit  außerhalb  der  etwa  dem  Pflanzen- 
wuchs gefährlichen  Grenzen  halten,  und  wo  das 
ganze  Jahr  hindurch  Tag  für  Tag  dieselben 
idealen  Bedingungen  für  das  Gedeihen  der  Pflanzen 
herrschen.  Solche,  wie  man  sagt,  „immerfeuchten" 
Tropengegenden,  zu  denen  z.  B.  das  westliche 
Java,  gewisse  Gebiete  Kameruns  gehören,  gleichen 


•)  Vgl.  M.  Bus  gen,  Bau  und  Leben  unserer  Waldbäutne. 
2.  Aufl.     Jena   1917. 

')  Askenasy,  Aber  die  jährliche  Periode  der  Knospen. 
Bot.  Zeitg.   1877. 

"}  H.  L.  Späth,   Der  Johannistrieb.     Berlin  1912. 

")  M.  Plaut,  Über  die  morphologischen  und  mikrosko- 
pischen Merkmale  der  Periodizität  der  Wurzel  usw.  Festschr. 
z.  Feier  des  100  jährigen  Bestehens  der  Kgl.  Würltemb.  Land- 
wirtsch.  Hochsch.  Hohenheim.     S.   129. 

'")  E.  Ramann  und  H.  Bauer,  Trockensubstanz,  Stick- 
stoff und  Mineralstoffe  von  Baumarten  während  einer  Vege- 
tationsperiode. Jahrb.  f.  wissensch.  Botanik  Bd.  50,  S.  67, 
1912. 

")  Angaben  bei  Büsgen  1.  c.  S.  218. 

")  N.  S  w  a  r  t ,  Die  Stoffwanderung  in  ablebenden  Blättern. 
Jena  1914. 


N.  F.  XXI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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einem  das  ganze  Jahr  hindurch  mit  aller  Kunst 
gleich  warm,  gleich  hell  und  gleich  feucht  ge- 
haltenen Treibhaus.  Wenn  irgendwo,  so  müssen 
wir  hier  Auskunft  über  unsere  Frage  nach  dem 
Rhythmus  erhalten.  Sehen  wir  nun,  welchen  An- 
blick uns  dort  das  Pflanzenleben  bietet. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  es  unseren  Er- 
wartungen zu  entsprechen.  Das  ganze  Jahr  hin- 
durch bedeckt  die  Erde  ein  Pflanzenkleid  von  er- 
staunlich gleichmäßiger  Dichte  und  Üppigkeit, 
in  dem  des  Blühens  und  Wachsens  kein  Ende  ist. 
Dieser  dauernde  Rausch  der  grünen  Farbe,  dieser 
überwältigende  Sieg  der  Vegetation  übertäubt 
alle  anderen  Eindrücke.  Sobald  wir  aber  be- 
ginnen, durch  längere  Zeit  hindurch  die  so  unge- 
heuer mannigfaltigen  Bäume  zu  beobachten,  die 
die  gründämmrigen  Urwälder  zusammensetzen, 
sehen  wir  zu  unserer  Überraschung,  wie  überall 
rhythmische  Erscheinungen  hervortreten,  und  daß 
die  Zahl  aperiodisch  fortwachsender  Pflanzen  da- 
gegen ganz  geringfügig  ist.  Aber  während  bei 
uns  die  Rhythmik  uniformiert  ist,  gewissermaßen 
unter  einheitlichem  Kommando  exerziert,  läuft 
dort  alles  wie  ein  führerloser  Haufe  durcheinander. 
Als  physiognomisch  bestimmend  greifen  wir  wieder 
Treiben  und  Blattfall  heraus.'-'') 

So  gibt  es  viele  Bäume  dort,  z.  B.  riesige 
Feigenbäume,  Verwandte  des  Gummibaumes,  bei 
denen  oft  binnen  weniger  Tage  die  gesamte  Laub- 
masse in  dichtem  Fall  zu  Boden  sinkt,  so  daß 
der  Baum  kahl  aus  der  grünen  Umgebung  heraus- 
ragt. So  steht  er  einige  Tage,  dann  treiben  die 
Knospen  aus  und  in  zwei  bis  drei  Wochen  hat 
sich  das  riesige  Blätterdach  wieder  völlig  erneuert. 
Diese  Vorgänge  wiederholen  sich  periodisch,  bei 
manchen  Bäumen  alle  5,  bei  manchen  alle  4,  ja 
bei  anderen  alle  2  Monate.  Dann  gibt  es  andere 
Bäume,  bei  denen  die  Rhythmik  insofern  weniger 
deutlich  hervortritt,  als  der  Schub  nicht  so  plötz- 
lich und  explosiv  erfolgt  und  auch  der  Blattfall 
sich  über  einen  längeren  Zeitraum  ausdehnt  und 
so  das  Ende  des  letzteren  noch  in  den  Anfang 
der  Triebperiode  hinübergreift.  Solche  Bäume 
sind  dann  immer  grün,  da  sie  nie  kahl  stehen, 
sind  aber  gleichwohl  einem  deutlichen  periodischen 
Wachstum  unterworfen.  Bei  anderen  Bäumen 
kommt  das  immergrüne  Kleid  auf  andere  Weise 
zustande.  In  regelmäßigen  Intervallen  treibt 
immer  ein  Teil  der  Knospen  aus.  Da  häufig 
solche  mit  außerordentlicher  Geschwindigkeit 
herausstürzenden  Triebe  anfänglich  samt  ihren 
weißlich  oder  rötlich  gefärbten  Blättern  schlaff 
herabhängen,  so  hat  man  eines  Tages  das  wunder- 
volle Schauspiel,  daß  sich  in  der  dunkelgrünen 
Krone  weiße  oder  rötliche  Wimpel  im  Winde 
wiegen.    Oft  genug  läßt  sich  nun  feststellen,  daß 


")  Vgl.  hierzu  G.  V  o  1  k  e  n  s ,  Laubfall  und  Lauberneue- 
rung in  den  Tropen.  Berlin  1912;  S.  Simon,  Studien  über 
die  Periodizität  der  Lebensprozesse  der  in  dauernd  feuchten 
Tropengebieteu  heimischen  Bäume.  Jahrb.  f.  wissenschaftl. 
Botanik  Bd.  54,  S.  71,  1914;  A.F.W.  Schimper,  Pflanzen- 
geographie auf  physiologischer  Grundlage.    S.  260.   Jena  1908. 


solche  verschiedenen  Perioden  bei  den  Individuen 
ein  und  derselben  Pflanzenart  nicht  etwa  zu 
gleicher  Zeit  eintreten,  vielmehr,  trotzdem  letztere 
nahe  beieinander  stehen,  zu  ganz  verschiedenen 
Zeiten.  So  kann  man  nebeneinander  Bäume  der- 
selber  Art  antreffen,  von  denen  der  eine  ganz 
kahl,  der  andere  voll  belaubt  ist.  Die  Individuen 
folgen  also  einem  individuellen  Rhythmus,  der 
sich  auch  darin  zeigt,  daß  z.  B.  oft  die  Steck- 
linge einer  Pflanze  dem  gleichen  Rhythmus  ge- 
horchen wie  der  Mutterstamm.  Noch  merk- 
würdiger ist,  daß  vielfach  die  Zweige  eines  und 
desselben  Baumes  nicht  synchron  arbeiten.  Dann 
sieht  man,  wie  einige  Äste  ganz  kahl,  andere  mit 
reifem  Laube  geschmückt  sind,  wieder  andere 
austreiben,  und  zieht  man  noch  die  in  meinen 
Erörterungen  zunächst  ausgeschaltete  Blührhyth- 
mik hinzu,  so  wird  das  Bild  noch  bunter.  So 
blühen  z.  B.  an  dem  berühmten  tropischen  Obst- 
baume, dem  Mangobäume,  nacheinander  die 
einzelnen  Hauptäste,  und  demgemäß  sind  auch 
die  Früchte  in  verschiedenem  Zustande  der  Ent- 
wicklung. Solche  Bäume  vereinen  dann  alle  die 
Phasen  der  Entwicklung,  die  sich  bei  uns  in  den 
Jahreszeiten  folgen.  Ein  wirklich  gleichmäßiges 
Treiben  derart,  daß  für  jedes  neugebildete  Blatt 
ein  altes  abfällt  und  alle  Blätter  in  ganz  gleich- 
mäßiger Folge  entstehen,  also  jener  Fall,  den  wir 
in  jenen  gesegneten  Strichen  als  Regel  erwarten 
sollten,  ist  ziemlich  selten.  Die  Palmen  z.  B. 
wachsen  recht  gleichmäßig;  die  Kokospalme  ent- 
wickelt jährlich  etwa  12  Blätter  und  stößt  dafür 
12  ab.  Kompliziert  ist  auch  das  Bild,  das  uns 
die  Vegetation  in  solchen  Tropenländern  zeigt, 
wo  ausgeprägte  Trocken-  und  Regenzeiten  vor- 
kommen. Hier  tritt  meist,  ganz  ähnlich  wie  bei 
uns,  auch  in  der  Physiognomie  der  Landschaft 
eine  deutliche  Rhythmik  hervor;  aber  sie  wird 
auch  hier  ebensowenig  durch  den  Wassermangel 
bzw.  Überfluß  eindeutig  bestimmt,  indem  die  dort 
wachsenden  Pflanzen  keineswegs  alle  in  ihren 
Phasen  übereinzustimmen  brauchen,  z.  B.  nicht 
alle  der  Regel  folgen,  in  der  Trockenzeit  im  blatt- 
losen Zustand  zu  blühen  und  in  der  Regenzeit 
ihr  Laub  zu  erneuern. 

Wie  würden  sich  nun  in  bezug  auf  ihre  Rhyth- 
mik die  Pflanzen  verhalten,  wenn  wir  sie  aus 
ihrem  heimatlichen  Klima  in  ein  anderes  ver- 
setzen würden  ?  wenn  wir  z.  B.  heimische  Pflanzen 
in  ein  gleichmäßiges  Tropenklima  und  tropische 
in  das  unserige  verpflanzten  ?  Nun,  die  letzteren 
würden,  sofern  es  sich  um  ausdauernde  Formen 
handelte,  dem  ersten  Winter  zum  Raube  fallen, 
und  selbst  wenn  wir  sie  in  einem  Warmhaus  der 
winterlichen  Kälte  entziehen  würden,  doch  unter  so 
verhältnismäßig  abnormen  Bedingungen  wachsen, 
daß  man  nicht  allzuviel  daraus  schließen  kann. 
Immerhin  wäre  es  ganz  interessant,  einmal  fest- 
zustellen, wie  sich  etwa  tropische  Bäume  mit 
genau  bekannter  heimischer  Rhythmik  in  unseren 
großen  Glashäusern  verhalten  würden,  die  ja 
immer    in   bezug    auf   das  Licht   und   trotz   aller 


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Technik  auch  in  bezug  auf  die  Temperatur  ein 
deutlich  rhythmisiertes  Klima  aufweisen.  Auch 
unsere  einheimischen  Pflanzen  kann  man  durch- 
aus nicht  überall  in  die  Tropen  versetzen ;  in  den 
heißen  Niederungen  wird  der  Versuch,  nament- 
lich wieder  bei  Holzgewächsen  mit  Sicherheit 
mißlingen.  Dagegen  halten  sich  viele  Bäume  im 
tropischen  Gebirgsklima  ganz  gut  und  viele  Jahre 
lang.  So  gibt  es  in  Hakgalla  auf  Ceylon,  1800  m 
ü.  M.  eine  Anpflanzung  von  Stieleichen,  Pyra- 
midenpappeln und  Obstbäumen  und  am  iVIassiv 
des  Pangerango  in  Java  in  1500  m  Höhe  eine 
ganze  Menge  Bäume  aus  Ländern  mit  Sommer- 
Winterklima.  Auf  dem  Gipfel  des  Pangerango 
selber  in  3000  m  Höhe  gedeiht  gar  eine  Buche, 
die  dorthin  vor  etwa  60  Jahren  verpflanzt  wurde. 
Alle  diese  künstlich  angesiedelten  Bäume  zeigen 
im  einzelnen  ein  verschiedenes  Verhalten,  stimmen 
jedoch  darin  überein,  daß  sie  durchaus  nicht 
aperiodisch  wachsen.  Sie  sind  zwar  vielfach 
immergrün,  ihre  Aste  treiben  aber  periodisch  aus, 
oft  ist  sogar  eine  weitgehende  Unabhängigkeit 
der  Äste  eingetreten,  so  daß  an  ein  und  dem- 
selben Exemplar  alle  Jahreszeiten  vertreten  sind.  ^*) 
Pfirsichbäume,  aus  europäischem  Saatgut  auf  der 
Insel  Reunion  erzogen,  ließen  gut  erkennen,  wie 
sich  ganz  allmählich  die  heimische  Periode  ver- 
änderte, sie  warfen  anfänglich  noch  jährlich  das 
Laub  einmal  ganz  ab,  wurden  aber,  indem  die 
Periode  des  gänzlichen  Kahlstehens  immer  kürzer 
wurde,  schließlich  „immergrün".  ^^)  Damit  ist 
aber  natürlich  nicht  gesagt,  daß  sie  wirklich 
aperiodisch  geworden  wären,  d.  h.  wirklich  gleich- 
mäßig gewachsen  wären.  Wir  können  vielmehr 
aus  anderen  Erfahrungen  mit  den  gleichen  Bäumen 
mit  Sicherheit  vermuten,  daß  auch  diese  Pfirsich- 
bäume noch  ruckweise  trieben.  Immerhin  zeigten 
sie,  wie  erst  allmählich  die  inneren  Dispositionen 
eine  Verschiebung  erfuhren,  wie  langsam  die  ge- 
wohnten Schwingungen  in  neue  kompliziertere 
übergingen. 

Aus  diesen  interessanten  Beispielen  geht  so- 
viel hervor,  daß  Bäume,  die  einem  mit  dem 
mörderischen  iVlittel  des  Frostes  operierenden 
Klima  entrückt  wurden ,  allmählich  frei  neuen 
rhythmischen  Dispositionen  folgen,  die  aus  dem 
Getriebe  ihres  Innenlebens  hervorgehen,  und  daß 
sie  dabei  nach  unseren  Begriffen  in  die  wunder- 
lichste Unordnung  geraten. 

Sehr  viel  Aufschluß  geben  uns  weiter  die 
höchst  interessanten  Versuche,  die  Ruheperiode 
einheimischer  Pflanzen  experimentell  zu  beein- 
flussen, sie  wo  möglich  zu  brechen.  Man  hat 
Eichen  jahrelang  in  Gewächshäusern  kultiviert.^") 
Sie  machten,  wie  ich  dies  schon  vorher  erwähnte, 
iährlich  mehrere  Schübe,  trieben  früher  aus,  be- 
hielten ihr  Laub  länger,  wuchsen  aber  ruckweis, 
d.  h.  blieben  ebenso  periodisch  wie  vorher.  Frei- 
lich ließ  sich  so  der  schwankende  Lichtfaktor 
nicht  konstant  machen.  Man  hat  deshalb  zu 
starker  künstlicher  Beleuchtung  gegriffen  und 
Buchen  nach  Eintritt  ihrer  normalen  herbstlichen 


Ruhe  zu  verschiedenen  Zeiten  einem  solchen 
Dauerlicht  ausgesetzt.'')  Jetzt  gelang  es,  ihre 
Knospen  im  September  nach  einem  Lichtbade 
von  10  Tagen  zum  Austreiben  zu  veranlassen,  im 
November  beginnend ,  brauchte  man  dazu  aber 
38,  im  Dezember  26,  Mitte  Februar  14  und  An- 
fang März  nur  8  Tage.  Es  erfolgte  in  allen  Fällen 
mithin  das  Austreiben  früher,  als  es  in  der  freien 
Natur  draußen  geschehen  wäre.  Aber  der  Reiz 
des  Dauerlichtes  war  doch  nicht  zu  allen  Zeiten 
der  Winterruhe  gleich  wirksam.  Das  stimmt  gut 
mit  den  Ergebnissen  jener  Versuche  am  Flieder 
überein,  die  vor  allem  zur  Klärung  des  Ruhe- 
problems und  überhaupt  zu  seiner  exakten  F"or- 
mulierung  beigetragen  haben.'*)  Es  handelte  sich 
da  um  die  für  die  gärtnerische  Praxis  wichtige 
Frage,  den  Flieder  vorzeitig  zum  Treiben  und 
Blühen  zu  bringen.  Daß  man  dies  etwa  von 
Ende  Dezember  an  dadurch  erreichen  kann,  daß 
man  die  Zweige  in  die  Wärme  bringt,  war  be- 
kannt. Man  kann  das  auch  bei  anderen  blühen- 
den Zweigen  im  Spätwinter  erreichen.  Es  ließ 
sich  nun  zeigen,  daß  man  durch  Anwendung  eines 
besonderen  Reizes  das  Austreiben  sehr  beschleu- 
nigen kann,  nämlich  durch  Ätherdämpfe.  Solche 
narkotisierten  Zweige  des  Flieders  ließen  sich 
Ende  August  und  Anfang  September  gut  „früh- 
treiben", wie  der  Gärtner  sagt.  Desgleichen 
glückte  dies  von  Ende  November  an  mit  zuneh- 
mender Sicherheit.  Aber  —  und  das  war  das 
Auffallende  —  im  September  und  Oktober  ließen 
sich  die  Zweige  nicht  durch  den  Ätherrausch  aus 
ihrer  Ruhe  aufwecken.  Auf  Grund  solcher  Er- 
fahrungen kann  man  nun  den  Begriff  der  Ruhe 
wesentlich  schärfer  fassen  und  die  Gesamtheit  der 
winterlichen  Untätigkeit  in  zwei  Abschnitte  glie- 
dern, nämlich  in  eine  eigentliche  Ruheperiode 
und  eine  Periode,  die  wir  als  „Starre"  bezeichnen 
wollen,  indem  wir  unter  Ruhe  einen  Zustand  ver- 
stehen, in  welchem  auch  bei  günstigen  Außen- 
bedingungen kein  Wachstum  erfolgt,  unter  Starre 
dagegen  einen  solchen,  in  welchem  eine  Pflanze 
trotz  völliger  irmerer  Bereitschaft  durch  einen  ins 
Minimum  getretenen  äußeren  Faktor,  wie  z.  B. 
Wärme,  Wasser  am  Treiben  gewaltsam  gehindert 
wird.  In  der  Ruhe  gleicht  der  Organismus  einer 
Uhr,  deren  Werk  durch  einen  Mangel  gehemmt 
ist,  und  die  nicht  geht,  auch  wenn  das  Pendel 
angerührt  wird,  in  der  Starre  einer  Uhr,  deren 
Werk  gangbereit  ist,  aber  noch  auf  das  Anrühren 


'•')  H.  Dingler,  Über  Periodizität  sommergrüner  Bäume 
Mitteleuropas  im  Gebirgsklima  Ceylons.  Sitzungsber.  d.  Kgl. 
Bayerischen  Ak.  d.  Wissensch.  Math. -Physik.  Kl.  Jahrg.  191 1, 
S.  217. 

">)  Edm.  Bor  dag  e,  A  propos  de  l'heredite  des  carac- 
tt-res  acquis.  Bull,  scientif.  de  la  France  et  de  la  Belgique 
7.  Serie,  Bd.  54,  1910. 

'")  G.  Bert  hold,  Untersuchungen  zur  Physiologie  der 
pflanzlichen  Organisation  Bd.  II.     Leipzig   1904. 

")  G.  Klebs,  Über  das  Treiben  der  einheimischen 
Bäume,  speziell  der  Buche.  Abh.  d.  Heidelberger  Ak.  der 
Wissensch.  Math.-naturw.  Kl.  3.  Abhandlung.      1914. 

'")  W.  Juhannscn,  Das  Ätherverfahren  beim  Früh- 
treiben.     2.  Aufl.     1906. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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des  Pendels  wartet.  Nach  dieser  Definition  ist 
der  F"lieder,  und  mit  ihm  sinngemäß  andere  bei 
uns  ruhende  Pflanzen  in  ähnlicher  Weise,  etwa 
von  Ende  Dezember  an  in  Starre,  vorher  ruht  er. 
Aber  auch  diese  Ruhe  ist  nicht  gleichmäßig  tief, 
wie  man  bemerkt,  wenn  man  durch  starke  Mittel 
versucht,  sie  zu  stören.  Zu  Beginn  der  Ruhezeit 
hat  man  damit  einen  gewissen  Erfolg,  desgleichen 
dann,  wenn  sie  sich  dem  Ende  zuneigt.  In  der 
mittleren  Zeit  gelingt  es  aber  auf  keine  Weise, 
die  Hemmung  im  Uhrwerk  des  Stoffwechsels  zu 
beseitigen.  Wir  müssen  uns  also  vorstellen,  daß 
sich  gegen  Ende  der  Wachstumsperiode  mit  zu- 
nehmender Stärke  antagonistische  Vorgänge  ent- 
wickeln, die  zum  Stillstand  des  Wachsens  führen, 
und  sich  auch  darüber  hinaus  zu  einer  maximalen 
Höhe  steigern,  dann  aber  wieder  ebenso  allmäh- 
lich abklingen.  Später  hat  man  noch  eine  große 
Zahl  anderer  Mittel  kennen  gelernt,  durch  welche 
die  Ruhezeit  verkürzt  werden  kann.''')  Es  gelingt, 
durch  Warmwasserbehandlung,  durch  Verwundung, 
durch  Injektion  mit  Wasser,  durch  Radiumbestrah- 
lung, durch  Sauerstoffentziehung,  durch  Azetylen, 
ja  durch  den  Rauch  des  Holzfeuers  die  Prozesse, 
die  während  der  Ruhe  verlaufen,  so  zu  beein- 
flussen, daß  sie  abgekürzt  wird,  ohne  daß  aber 
ihr  Wellencharakter  verwischt,  oder  gar  die  Ruhe 
ganz  beseitigt  wird.  Auch  starkes  Dauerlicht  ge- 
hört offenbar  zu  solchen  Reizen,  wie  uns  vorhin 
das  Beispiel  der  künstlich  beleuchteten  Buche 
zeigte,  deren  Knospenruhe  zu  verschiedenen 
Zeiten  sehr  ungleich  tief  ist.  Vielfach  hat  man 
auch  einen  Faktor  für  die  allmähliche  Herstellung 
der  Triebbereitschaft  während  der  Ruhe  wirksam 
gefunden,  der  offenbar  normal  bei  unseren  Pflanzen 
eine  Rolle  spielt,  nämlich  die  Abkühlung.  Viele 
Pflanzen  brauchen  notwendig  eine  Abkühlung,  um 
normal  auszutreiben  und  fortzuwachsen.  Bekannt 
ist,  daß  die  Kartoffel  im  Herbst  nicht  sofort  aus- 
treibt, auch  wenn  sie  warm  und  feucht  gehalten 
wird,  daß  sie  dagegen  zu  vorzeitigem  Keimen 
gebracht  werden  kann  durch  eine  vorhergehende 
Abkühlung.  -")  Dementsprechend  haben  Eschen 
und  Linden  länger  als  ein  Jahr  in  laublosem,  un- 
tätigem Zustande  verharrt,  wenn  sie  nach  Eintritt 
des  Blattfalls  ins  Warmhaus  verbracht,  also  der 
normalen  Abkühlung  entzogen  wurden.  Wurden 
sie  jedoch  zwischendurch  genügend  kräftig  und 
lange  abgekühlt,  so  wurde  diese  Ruhezeit  ganz 
erheblich  verkürzt.-')  Ähnliches  zeigt  sich  auch 
sehr  hübsch  bei  den  winterannuellen  Gewächsen, 
wie  beim  Wintergetreide. "-)  Dieses  entwickelt 
sich  nämlich,  wenn  es  im  Frühjahr  ausgesät  wird, 
nicht  normal.  Trotz  üppiger  Bestockung  gelangt 
es  nicht  zur  Blüte.  Das  liegt  aber  nicht  daran, 
daß  die  Zeit  zur  Vollendung  seines  Lebenszyklus 
zu  kurz  ist,  sondern  daran,  daß  es  notwendig  in 
seiner  Jugend  eines  hinreichend  kräftigen  Ab- 
kühlungsreizes bedarf.  Der  ist  beim  Sommer- 
getreide überflüssig.  Auch  zweijährige  Gewächse, 
wie  Kohl,  Runkel-  und  andere  Rüben,  entwickeln 
sich  nur  dann  zu  normal  blühenden  Pflanzen,  wenn 


sie  am  Ende  ihrer  ersten  vegetativen  Lebens- 
periode einer  Kälteeinwirkung  ausgesetzt  werden. 

Da  wir  eben  vom  Blühen  sprachen,  lassen 
sich  hier  einige  Bemerkungen  einschalten,  die  von 
allgemeinerem  Interesse  sind.  Ich  bin  bisher  auf 
diese  eigentümliche  Wachstums-  und  Bildungs- 
tätigkeit, trotzdem  sie  in  einem  besonders  auf- 
fälligen Rhythmus  verläuft,  nicht  eingegangen, 
um  das  Bild  nicht  zu  verwirren.  Die  mehrjährigen 
Pflanzen  bei  uns  blühen  ja  gewöhnlich  jedes  Jahr 
und  zwar  meist  zur  Zeit  der  Frühjahrstrieb^ 
periode,  z.  T.  vor  dem  Laubschube,  wie  der 
Haselstrauch ,  der  Herlitzenbaum ,  die  Magnolien 
und  Forsythien,  die  also  alle  in  laublosem  Zu- 
stande blühen,  oder  mit  dem  Laubschube,  wie 
die  Kirsche,  oder  am  Ende  des  Frühjahrstriebes, 
wie  die  weiblichen  Kätzchen  der  Birke,  oder 
schließlich  noch  später,  wie  die  prachtvoll  blühende 
Katalpa,  ein  aus  Ostasien  stammender  Baum  un- 
serer Anlagen,  und  die  Waldrebe.  Auch  in  den 
Tropen  schmücken  sich  die  Bäume  periodisch 
mit  ihrem  Hochzeitskleide,  entweder  in  ihrer  gan- 
zen Krone  oder  an  einzelnen  Ästen.  In  tropi- 
schen Ländern  mit  typischen  Regenzeiten  treten 
die  Bäume  häufig  in  den  blühreifen  Zustand  gegen 
Ende  der  Trockenzeit,  wenn  sie  noch  kahl  da- 
stehen. Manche  sind  dann  beladen  mit  brennend- 
rotem Blütenschmuck  und  stehen  gleich  riesigen 
Hochzeitsfackeln  in  der  Landschaft.  Im  ganzen 
spielen  aber  die  Blüten  durchaus  nicht  eine  so 
bestimmende  Rolle  im  tropischen  Landschafts- 
bilde, wie  bei  uns  z.  B.  im  Frühjahr.  Wenige 
Pflanzen  blühen  fortgesetzt,  wie  z.  IB.  die  Kokos- 
palme, die  mit  lobenswerter  Regelmäßigkeit  ihre 
Blüten  und  Früchte  entwickelt. 

Also  auch  das  Blühen  ist  an  einen  periodisch 
wiederkehrenden  Zustand  gebunden.  Sehr  merk- 
würdig ist  es,  daß  diese  Perioden  länger  als  ein 
Jahr,  unter  Umständen  Jahrzehnte  lang  sein 
können.  So  blühen  gewisse  Bäume  des  tropischen 
Asiens  ziemlich  regelmäßig  alle  6  Jahre,  und  für 
eine  Bambusart  wird  sogar  angegeben,  daß  sie  in 
einem  etwa  32  jährigen  Turnus  blüht. '-^J  Solche 
lange  Perioden  gibt  es  bei  uns  nicht.  Immerhin 
läßt  sich  bei  uns  Ähnliches  beobachten,  wenn  die 
Üppigkeit  des  Blühens  und  Fruchtansatzes  in  Be- 
tracht gezogen  wird.  Bekannt  ist  ja,  daß  der 
Apfelbaum  nicht  alle  Jahre  gut  trägt,  im  Unter- 
schiede vom  Kirschbaum,  die  Buchen  streuen  nur 
alle  5 — 8,  die  Eichen  in  noch  längeren  Intervallen 

'")  H.  Molisch,  Das  Warmbad  als  Mittel  zum  Treiben 
der  Pflanzen.  Jena  1919;  weitere  Literatur  bei  F.  Weber, 
Studien  über  die  Ruheperiode  der  Holzgewächse.  Sitzungs- 
berichte d.  Kaiserl.  Akad.  d.  Wissensch.  in  Wien.  Math.- 
naturw.  Kl.  Abt.  I,    125.   Bd.,   5.  u.  6.  Heft,   1916. 

-")  H.  MüUer-Thurgau,  Über  Zuckeranhäufung  in  Pflan- 
zenteilen infolge  niederer  Temperatur.  Landwirtsch.  Jahrb. 
Bd.   II,  S.   S18,   1S82. 

■•^')  F.  Weber  a.  a.  O.  S.  22. 

'')  G.  Gaßner,  Beiträge  zur  physiologischen  Charakte- 
ristik Sommer-  und  winterannueller  Gewächse,  insbesondere 
der  Getreidepflanzen.  Zeitschr.  f.  Botanik  Bd.  lo,  S.  417, 
1918. 

■'■')  Vgl.  Schimper  (siehe  Anm.   13)  S.   270. 


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besonders  reichen  Segen  aus  und  für  Koniferen, 
Haselsträucher  sind  ebenfalls  rhythmisch  wieder- 
kehrende Zeiten  reichen  Samenansatzes  beobachtet, 
während  Linden,  Birken,  Ahornbäume  und  Erlen 
alljährlich  mit  annähernd  gleicher  Kraft  blühen 
und  fruchten.  -*)  Wenn  auch  alle  diese  Rhythmen 
nicht  sehr  regelmäßig  sind  und  auch  gewiß  weit- 
gehend durch  klimatische  Faktoren  modifiziert 
werden  können,  so  läßt  sich  doch  auch  hier  kein  Zu- 
sammenhang mit  großen  Witterungsschwingungen 
feststellen.  Jedenfalls  zeigen  sie  Schwankungen, 
die  weit  über  die  übliche  Sommer- Winterperiodik 
hinausgreifen. 

Wenn  wir  nun  noch  einen  Blick  auf  den  Ver- 
lauf des  Längenwachstums  irgendeines  wachsenden 
Organs  werfen,  so  bemerken  wir  wiederum,  daß 
es  durchaus  nicht  stetig  verläuft.  Selbst  unter 
völlig  gleichen  Außenbedingungen  zeigt  ein  junger 
wachsender  Pflanzenteil  in  aufeinanderfolgenden 
Zeitabschnitten  nicht  die  gleichen  Zuwachsbelräge, 
vielmehr  beginnt  er  in  langsamem  Tempo,  steigert 
dieses  immer  mehr  bis  zu  einer  Höchstge- 
schwindigkeit, um  es  dann  wieder  bis  zum  völligen 
Stillstande  zu  verlangsamen.  Das  erste  Scheiden- 
blättchen  des  Hafers  z.  B.  zeigt  in  aufeinander 
folgenden  1 2  -  Stunden  -  Intervallen  bei  gleich- 
mäßiger Wärme  und  im  Dunklen  4,  14,  22, 
24,  13,  8,  I  mm  Zuwachs.'''*)  In  diesem  ganz 
allgemein  charakteristischen  Wachstumsverlauf 
offenbart  sich  das,  was  man  als  die  „große 
Wachstumsperiode"  bezeichnet.  Innerhalb  der- 
selben treten  noch  kleinere  Rhythmen  hervor,  die 
mit  dem  Wechsel  von  Tag  und  Nacht  zusammen- 
fallen. Doch  sind  diese  Oszillationen,  obwohl  sie 
vom  Tag -Nachtwechsel  reguliert  werden,  doch 
gewiß  nicht  durch  diesen  unmittelbar  hervorge- 
rufen, denn  sie  dauern  auch  bei  ganz  gleichen 
Außenbedingungen  fort.  Steckrüben,  die  bei 
gleichmäßiger  Wärme  im  Dunklen  austreiben, 
zeigen  die  gleichen  Schwankungen  des  Längen- 
wachstums ihrer  Triebe,  wie  die  im  F'reien  be- 
findlichen, und  das  gleiche  nahm  man  an  Bohnen- 
keimlingen wahr.-") 

Das  Tatsachenmaterial,  das  ich  ausbreitete,  hat, 
wie  ich  hoffe,  die  Vorstellung  von  der  Rhythmik 
im  Pflanzenleben  soweit  belebt,  daß  wir  den  Ver- 
such machen  können,  einige  theoretische  Erörte- 
rungen anzustellen.  Die  Frage  lautet:  ist  der 
rhythmische  Wechsel  von  Treiben  und  Ruhe  eine 
Folge  gleichlaufender  äußerer  Rhythmen,  oder 
liegt  die  Periodizität  im  Wesen  der  Lebensvor- 
gänge selber  begründet?  oder,  um  in  der  Sprache 
der  Pflanzenphysiologie  zu  sprechen :  ist  sie  in- 
duziert oder  autonom?  Diese  Frage  hat  in  der 
letzten  Zeit   einen    sehr    lebhaften  Streit  der  Mei- 


''*)  Vgl.  Hüsgen  (s.   Antn.  6)  S.  297. 

'"")  Sier  ]) ,   s.  Anm.  4. 

'^")  J.  Baranetzky,  Die  tägliche  Periodizität  im  Längen- 
wachstum des  Stengel.  Mcmoires  de  l'Acad.  des  sciences  de 
St.  Petcrsbourg.  7.  Serie,  Hd.  27,  Nr.  2,  1879;  E.  God- 
lewski,  Über  die  tägliche  Periodizität  des  Längenwachstums. 
Anzeiger  der  Akad.  d.  Wissensch.  in  Krakau.     1889. 


nungen  entfesselt.    Sie  ist  auch  nicht  von  der  Art, 
daß  eine  wirklich  überzeugende  und  einfache  Ant- 
wort   möglich    wäre.     Vielmehr    hängt   ihre   Be- 
antwortung ebenso    wie   bei  ähnlichen  grundsätz- 
lichen biologischen  Fragen  ganz  und  gar  von  der 
prinzipiellen    Einstellung    ab,    die    den    einzelnen 
Forscher    bei    der    Beurteilung    von    Lebensvor- 
gängen   überhaupt    bestimmt.       Diese    kommen, 
soviel   ist   allgemein   zugestanden,    zuwege   durch 
das  Reagieren   innerer,    d.    h.   mit   der  vererbten 
Struktur    gegebener    und    somit    im    spezifischen 
Bau    des    Lebensträgers,     des    Protoplasmas    be- 
gründeter    und     schwer     weiter     analysierbarer 
Faktoren   auf  äußere  Faktoren,   Chemikalien   und 
Physikalien.    Keine  Lebenserscheinung  kann  allein 
durch    das   eine   oder    das   andere   hervorgerufen 
werden.     Laufen    nun  Vorgänge   in  einem  leben- 
den System   auch    bei  experimentell  hergestellter 
Konstanz  der  äußeren  Faktoren  ab,  so  bezeichnet 
man    solche   als  autonome,    eigengesetzliche,    ant- 
wortet   aber    die    Pflanze    auf   eine    bestimmbare 
äußere    Veränderung    bei    Konstanz    der    übrigen 
Bedingungen    mit    einer   bestimmten    Lebensäuße- 
rung, so  nennen  wir  diese  eine  „induzierte".    Die 
einen    haben    nun    die    Neigung,     die    Innenbe- 
dingungen   als    das    wesentliche,    den    festen  Pol 
anzusehen,   und  schreiben  den  Außenfaktoren  nur 
eine  bescheidene  Rolle   als  Modifikatoren  zu,    die 
anderen,    tief  beeindruckt    von    gewissen  Erfolgen 
der  Experimentierkunst,    heften  den  Blick  auf  die 
Wirksamkeit  der  Umweltfaktoren  und  meinen,  es 
liege   nur   an   der  Unvollkommenheit  unserer  Er- 
fahrungen und  unserer  Methodik,  wenn  so  manches 
nicht     auf    die    Wirkung    äußerer    Veranlassung 
zurückgeführt   werden  könne.     Im  Prinzip    müsse 
das    möglich    sein,    und    solche    Naturen    spielen 
wohl     gar     mit     dem    Homunculusproblem    und 
träumen,    es    könne    eines    Tages    gelingen ,    das 
Leben    aus  seinen  Bedingungen   künstlich    zusam- 
menzusetzen, wenn  man  nur  erst  diese  Bedingungen 
kennen  gelernt  hätte.    Den  einen  ist  die  lebendige 
Substanz  ein  bei  aller  Schmiegsamkeit  im  einzelnen 
doch    starres    unzugängliches  Phänomen,    das  sich 
in    einer  grundsätzlichen  Vereinzelung    gegenüber 
allen    anderen  Phänomenen  befindet,    die    uns    in 
der  Natur   umgeben,    ein    Geheimnis,    ein    Rätsel, 
ungelöst    und    unlösbar.      Dem    anderen    ist    der 
Lebensstoff   ein    weiches    Wachs,    aus    dem    die 
Umwelt  knetet,  was  sie  will  und  der  Experimen- 
tator sich  zu  kneten  vermißt,    was    man  von  ihm 
verlange.      Auch   im    Periodizitätsproblem    stehen 
sich  diese  verschiedenen  Auffassungen  gegenüber. 
Die    eine    Seite    meint,    die    Schwankungen    der 
Lebenstätigkeit  gehen  Schwankungen  äußerer  Be- 
dingungen parallel,  wenn  wir  auch  diese  Parallelität 
noch    nicht   überall    durchschauen,'-'')    die    Gegen- 
seite  versichert,   der  Rhythmus    müsse    primär  in 
der    Eigenart    des    Ablaufs    des    lebendigen    Ge- 


"')  So  Klebs  in  zahlreichen  Publikationen.  Vgl.  Über 
das  Verhältnis  von  Wachstum  und  Ruhe  bei  den  Pflanzen. 
Biol.  Zentralbl.  Bd.  37,  S.  373,  1917. 


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schehens  begründet  liegen,  die  Umwelt  könne  ihn 
höchstens  modifizieren.  Eine  wirkliche  Einigung 
ist  schwer  möglich,  aber  —  und  das  ist  wieder 
erfreulich  — ,  jene  so  gegensätzlichen  Einstellungen 
ergänzen  sich  in  ihren  Wirkungen  vortrefflich. 
Der  frisch  zupackende  Rationalist  bringt  manchen 
neuen  Zug,  manche  neue  Tatsache  bei,  an  deren 
Aufsuchung  und  Auffindung  den  idealistischen 
Forscher  die  leicht  resignierte  Färbung  seiner 
philosophischen  Gesamtauffassung  hindert,  wie  ihn 
diese  andererseits  besser  befähigt,  die  Dinge  in 
ihrer  Tiefe  und  in  ihrem  Zusammenhange  zu  er- 
fassen und  dadurch  die  Probleme  vor  materialisti- 
scher Verflachung  zu  bewahren.  So  ist  auch  hier 
durch  rege  experimentelle  Untersuchung  manches 
als  von  außen  beeinflußbar  nachgewiesen,  manche 
wichtige  und  interessante  Einzelheit  gefördert 
worden,  ohne  daß  diese  allein  die  Frage  zu  ent- 
scheiden vermocht  hätte. 

Überblicken  wir  die  verschiedenen  Tatsachen, 
die  wir  kennen  lernten,  namentlich  das  so  merk- 
würdige Verhalten  der  tropischen  Pflanzen,  so 
weisen  alle  gleichsinnig  auf  eine  starke  innere 
Komponente  hin.  Man  kann  sich  das  Nebenein- 
andervorkommen so  vieler  individueller,  subindi- 
vidueller und  spezifischer  Rhythmen  in  demselben, 
so  außerordentlich  gleichmäßigen  Klima  kaum 
anders  vorstellen ,  als  daß  sie  auf  dem  Grunde 
starker  innerer  Periodizitäten  zustande  kommen, 
und  daß  unsere  heimische,  vertraute  Vegetations- 
rhythmik nur  einen  speziellen  Fall  darstellt,  dem 
das  stark  periodische  Klima  seinen  Stempel  auf- 
prägte. 

Wie  nun  aber  diese  starke  für  die  Pflanzen 
charakteristische  innere  Periodik  etwa  noch  weiter 
analysierbar  ist,  das  ist  eine  sehr  schwierige  Frage, 
die  uns  sofort  tief  in  das  Getriebe  des  lebendigen 
Stoffwechsels  hineinführt.  Ein  buntes  Getriebe, 
in  welchem  sehr  verschiedene  Teilprozesse  ver- 
laufen, die  nicht  alle  an  die  Oberfläche  des  Sicht- 
oder Faßbaren  emportauchen.  Das  Wasser  durch- 
strömt den  Körper  und  läßt  seine  anorganischen 
Bestandteile  in  der  Pflanze  zurück,  in  den  grünen 
Teilen  werden  am  Lichte  Kohlenhydrate  gebildet, 
aus  beiden  Quellen  schöpft  die  Pflanze  das  Mate- 
rial für  ihre  komplizierten  Synthesen ,  sie  spaltet 
die  Stoffe  wieder  durch  Enzyme,  um  aus  den 
Teilstücken  wieder  anderes  aufzubauen  oder  sie 
als  Abfälle  liegen  zulassen.  Und  dabei  wächst 
sie  dauernd. 

Das  ist  eine  besonders  merkwürdige  Eigen- 
tümlichkeit der  Pflanze.  Sie  wächst,  solange 
sie  lebt,  Leben  ist  bei  ihr  im  Gegensatz  zum 
Tier  untrennbar  mit  Wachsen  verknüpft,  d.  h.  mit 
dauernder  Zellteilung  und  Vermehrung  des  jungen 
embryonalen  Plasmas.  Ein,  wenigstens  über 
längere  Zeiträume  sich  erstreckendes  Leben  ohne 
Wachsen,  scheint  es  bei  der  Pflanze  überhaupt 
nicht  zu  geben.  Sie  baut  dauernd  an,  während 
das  Tier  sich  zeitlebens  mit  seinem  Haus  begnügt, 
nachdem  es  fertig  geworden  ist.  Theoretisch 
wäre   nun    wohl  denkbar,   daß   alle  die  zahllosen 


Einzelvorgänge,  die  im  lebenden  Plasma  verlaufen, 
so  genau  aufeinander  abgestimmt  sind,  daß  ein 
ganz  stetiges  Fortwachsen  resultierte,  das  Ausmaß 
der  Assimilation  und  der  Atmung,  der  Wasser- 
aufsaugung und  der  Transpiration,  der  Synthesen 
und  der  Spaltungen,  der  Speicherung  und  des 
Verbrauches  in  jedem  Zeitdifferential  streng  unter 
dem  Kommando  der  meristematischen  Zonen 
stünde.  Aber  wahrscheinlich  ist  diese  Art  wohl 
nicht,  viel  plausibler  erscheint  es,  daß  ein  nach- 
einander naturgemäßer  und  vernünftiger  wäre,  als 
dies  nebeneinander,  so  wie  wohl  niemand,  den 
das  Schicksal  mit  der  Verwaltung  von  fünf  Ämtern 
bedacht  hat,  gleichmäßig  an  allen  arbeitet,  son- 
dern sich  auf  eine  Periodizität  einrichten  muß. 
So  werden  auch  im  Haushalte  der  Pflanze  bald 
diese,  dann  wieder  andere  Funktionen  in  den 
Vordergrund  treten.  Eine  ist  ja  auf  alle  Fälle 
überall  auf  der  Erde  periodisch,  das  ist  die  Assi- 
milation, wodurch  auch  in  den  Tropen  ein  12- 
Stunden  Rhythmus  zum  mindesten  für  diese  Funk- 
tion gegeben  sein  würde.  Es  ist  nun  gut  vor- 
stellbar, daß  solche  aus  der  Einteilung  des  phy- 
siologischen Innengetriebes  entspringende  Periodik 
sich  schließlich,  leicht  sichtbar,  in  den  Wachs- 
tumsrhythmen zeigt  und  so  bei  den  Organismen 
besonders  hervortritt,  deren  auffälligste  Eigentüm- 
lichkeit eben  in  dem  lebenslänglichen  Wachstum 
besteht. 

Dazu  kommt  noch  eine  zweite,  mit  dieser  zu- 
sammenhängende Eigentümlichkeit,  das  ist  näm- 
lich die  räumliche  Verteilung  des  Wachstums  auf 
zahlreiche  begrenzte  Stellen,  wodurch  der  kolonie- 
artige Charakter  des  Pflanzenindividuums  bedingt 
wird.  Wenn  auch  auf  einem  Stamme  sitzend  und 
von  einem  Wurzelsystem  mit  Wasser  versorgt, 
arbeiten  doch  alle  die  zahllosen  Zweigenden  räum- 
lich weit  getrennt  voneinander  und  sind  relativ 
selbständig,  wie  sie  es  ja  auch  absolut  werden 
können,  wenn  sie  als  Stecklinge  abgetrennt  wer- 
den. Daß  auch  durch  diesen  eigenartigen  Kom- 
plex von  relativer  Eigenwirtschaft  und  von  gegen- 
seitiger Verknüpfung  der  Astsysteme  ein  Gesamt- 
kontinuum  erschwert  und  Periodik  begünstigt 
wird,  ist  ebenfalls  gut  vorstellbar.  In  den  Tropen 
sehen  wir  ja  in  der  Tat,  wie  die  einzelnen  Äste 
auseinanderarbeiten,  und  die  Neigung  ist  auch 
bei  unseren  Bäumen  vorhanden,  ja  wir  müßten 
uns  eigentlich  wundern,  daß  sie  es  nicht  noch 
viel  mehr  tun,  wenn  wir  nicht  wüßten,  wie  un- 
barmherzig die  Schere  des  Winters  jede  eigen- 
sinnige Knospe  erfaßt. 

Und  schließlich  gibt  es  noch  eine  dritte, 
abermals  mit  dem  dauernden  Wachstum  der 
Pflanze  in  Verbindung  stehende  Eigenheit  der 
pflanzlichen  Organisation,  das  ist  nämlich  die 
ganz  auffällige  Kurzlebigkeit  der  Zellen,  die 
sich  nicht  mehr  teilen,  d.  h.  also  der  fertigen 
Körperzellen.  Alle  sich  von  den  Meristemen, 
d.  h.  den  dauernd  embryonal  bleibenden  Kom- 
plexen abzweigenden,  die  An-  und  Umbauten 
des     Pflanzenkörpers     zusammensetzenden,     sog. 


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„Dauerzellen"  verdienen  diesen  Namen  inso- 
fern nur  in  sehr  beschränktem  Sinne,  als  sie  in 
Wahrheit  nur  eine  überraschend  kurze  Zeit  am 
Leben  bleiben.  Die  Protoplasten  sterben  bald, 
und  nur  ihre  festen  Zellgehäuse  dauern.  So  leben 
immer  nur  die  Meristeme  der  Enden  und  die 
Kambiummantelschichten  innerhalb  der  Zweige, 
Stämme  und  Wurzeln,  sowie  d  i  e  Gewebe  in  ihrer 
Nachbarschaft,  die  vor  nicht  allzu  langer  Zeit  aus 
jenen  hervorgingen,  alles  andere  ist  tot  und  ver- 
mehrt entweder  das  starre  leblose  Gerüst  im 
Innern  oder  wird  als  nutzloser  Ballast  in  Gestalt 
von  Borken  und  Blättern  abgestoßen.  Diese  Ab- 
stoßung ist  schlechthin  eine  Notwendigkeit,  die 
sich  aus  der  lebenslänglichen  Wachstumstätigkeit 
und  der  geringen  Lebensdauer  der  nicht  mehr 
teilungstätigen  Zellen  ergibt.  Das  Tier  ist  dem- 
gegenüber ganz  anders  organisiert,  Kambien  und 
Vegetationspunkte  fehlen  ihm,  es  wächst  auch  im 
allgemeinen  nur  während  seines  ersten  Entwick- 
lungsstadiums; ist  dies  beendet,  so  finden  Neu- 
bildungen nur  in  sehr  beschränktem  Umfange 
statt.  Dafür  haben  aber  seine  Körperzellen  wohl 
allgemein  ein  langes  Leben ;  wenigstens  weiß  man 
z.  B.  von  den  Nervenzellen,  daß  sie  ebenso  alt 
werden,  wie  das  Individuum  selber.'-^)  So  fehlt 
auch  eine  Abscheidung  toten  Gewebes  in  dem 
Umfange,  wie  er  für  die  Pflanze  notwendig  ist, 
ganz.  Wieder  können  wir  vermuten,  daß  in  dieser 
dauernd  notwendigen  Abstoßung  lebloser  Teile 
eine  Komplikation  des  pflanzlichen  Stoffwechsels 
liegt,  die  sich  leicht  zu  einem  die  Rhythmik  be- 
günstigenden Moment  ausbildet,  das  das  Tier 
nicht  kennt.  Gleichwohl  zeigt  auch  das  Tier  sehr 
auffallende  kleinere  und  größere  Rhythmen. 
Rhythmische  Nahrungsaufnahme,  rhythmische 
Ausscheidung  von  Stoffwechselendprodukten, 
Brunstperioden,  Schlaf  und  Wachen  sind  bekannt 
genug,  und  der  Winterschlaf  vieler  Tiere  erinnert 
ja  sehr  an  das  Verhalten  ausdauernder  Pflanzen 
in  unserem  Klima.  Ob  auch  im  pflanzlichen  Stoff- 
wechsel Ermüdungsstoffe  vorkommen,  wie  sie  im 
tierischen  nachgewiesen  wurden,  weiß  man  nicht. 
Sollten  sich  solche  finden,  so  hätten  wir  eine 
schöne  Einzelheit  entdeckt,  ohne  damit  die 
Rhythmik  selber  erklärt  zu  haben.  Denn  in  der 
Anhäufung  wachstumshemmender  Produkte  wäh- 
rend des  Wachsens,  in  der  damit  sich  allmählich 
steigernden  Hemmung  des  letzteren  und  Über- 
führung in  die  Ruhe,  sowie  in  der  nachfolgenden 
Beseitigung  der  Ermüdungsstoffe  käme  ja  selbst 
wieder  ein  rhythmischer  Vorgang  zum  Ausdruck, 
der  zur  Erklärung  auffordert. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  dem  reizvollen 
Gedanken  nachgehen,  wie  in  unserem  Klima  sich 
die  Pflanzen  mit  ihren  Rhythmen,  die,  wie  wir 
glauben  möchten,  eng  mit  inneren  Eigenheiten 
des    Lebensablaufes     zusammenhängen,     in     den 


-')  E.  Kor  seh  eil,  Lebensdauer,  Alter  und  Tod.  Beilr. 
zur  Pathol.  Anatomie  usw.  Bd.  63,  1917.  S  81  des  Sonder- 
druckes. 


Hauptklimarhythmus  einfügen.  In  einem  ganz 
gleichmäßigen  Klima,  wo  keiner  der  Außen- 
faktoren zu  irgendeiner  Zeit  auffallend  ins  Mini- 
mum tritt,  leben  sich  die  Pflanzen  schrankenlos 
aus  ohne  gemeinsame  Uniformierung  ihrer  Rhyth- 
men. In  unserem  Klima  jedoch  wo  ein  Teil  des 
Jahres  das  Pflanzenwachstum  unmöglich  macht,  ja 
das  Leben  der  Pflanze  bedroht,  können  offenbar 
nur  solche  Pflanzen  existieren,  deren  Rhythmus 
nicht  in  Widerspruch  mit  dem  klimatischen  ge- 
rät, die  außerdem  frostbeständig  sind  und  schließ- 
lich, gleich  der  aufgezogenen ,  aber  nicht  ange- 
rührten Uhr,  einen  längeren  erzwungenen  Starre- 
zustand überstehen  können.  Unsere  Pflanzen 
können  sich  nun  ganz  verschieden  in  den  Klima- 
rhythmus harmonisch  einordnen.  Die  kurzlebigen, 
einjährigen,  besser  einsömmrigen  Pflanzen  durch- 
laufen ihren  Lebenszyklus  rasch  ein  oder  gar 
mehrere  Male  und  überdauern  den  Winter  mit 
Samen,  eine  Rhythmik  der  ganzen  Generationen! 
Die  zweijährigen  Pflanzen  teilen  ihr  Dasein  in 
zwei  Hälften,  wachsen  vegetativ  im  ersten  Sommer, 
überdauern  mit  unterirdischen  oder  bodennahen 
Teilen  den  Winter  und  enden  im  zweiten  Sommer 
mit  der  Blüte.  Auch  die  winterannuellen  Pflanzen, 
wie  das  Wintergetreide,  fügen  sich  hübsch  mit 
ihren  besonderen  Fähigkeiten  in  den  khmatischen 
Rhythmus  ein.  Das  Wintergetreide  keimt  nach 
besonders  kurzer  Samenruhe  schon  im  Herbst, 
übersteht,  da  es  frostbeständig  ist,  die  erzwungene 
Starre  im  Winter  und  gewinnt  durch  den  Kälte- 
reiz die  Fähigkeit,  im  nächsten  Sommer  zu  reifen. 
Das  Sommergetreide  dagegen,  an  rascher  Keimung 
durch  längere  Samenruhe  gehindert,  keimt  erst 
im  Frühjahr,  entgeht  dadurch,  frostempfindlich 
wie  es  ist,  der  Winterkälte,  braucht  sie  aber  auch 
nicht,  da  es  ohne  Kältereiz  seinen  Lebensgang 
normal  beenden  kann.  Beide  Pflanzen  entsprechen 
vortrefflich  unserem  Klima.  Alle  die  anderen 
Pflanzen,  die  perennierenden,  müssen  ihre  Rhyth- 
men so  einrichten,  daß  sie  nicht  mit  dem  Klima 
in  Widerspruch  geraten.  Frosthart  überstehen 
sie  den  Winter,  in  den  sie  gleichzeitig  eine  Haupt- 
ruheperiode verlegen.  Im  Sommer  könnten  sie 
mehrere  Triebperioden  haben,  wenn  die  letzte 
vor  dem  Winter  sicher  zu  Ende  geht.  In  Wahr- 
heit ist  das  aber  nicht  verwirklicht  bei  uns.  Nur 
die  Johannistriebe  schieben  sich,  aber  nur  als 
partielle  Unterrhythmen,  ein.  Offenbar  sind  zwei 
volle  Triebperioden  mit  dazwischen  eingeschalteter 
Ruhe  zu  lang.  Nur  ausnahmsweise  kommt  etwas 
Ähnliches  zustande,  wie  voriges  Jahr  bei  den 
vorhin  erwähnten  Kastanienbäumen.  Das  unge- 
wöhnlich zeitige  Frühjahr  ließ  sie  ihr  Laub  rasch 
entwickeln.  Kam  dadurch  schon  der  P'rühjahrs- 
schub  ungewöhnlich  alt  in  den  Sommer,  so  be- 
schleunigte dessen  außerordentliche  Dürre  seinen 
Abschluß,  die  völlige  Ruhe  setzte  sehr  zeitig  ein, 
so  daß  sie  wenigstens  teilweise  im  Herbst  so  weit 
abgeklungen  war,  daß  sein  warmes  und  feuchtes 
Wetter  das  neue  Austreiben  erlaubte.  Hier  zeigte 
sich,  wie  das  Klima  modifizierend  eingreifen  kann. 


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Würde  irgendeine  Pflanze  spontan  anderen  Rhyth- 
men folgen,  so  würde  sie  unbarmherzig  von  dem 
gestrengen  Winter  ausgemerzt  werden.  Es  hält 
sich  in  einem  bestimmten  Klima  immer  nur  das, 
was  ihm  angepaßt  ist,  wobei  wir  die  Frage  ganz 
unerörtert  lassen,  wie  diese  Anpassung  zustande 
kam.  Demgemäß  können  sich  auch  Pflanzen  in 
neuen  Gegenden  ansiedeln,  bzw.  angesiedelt  wer- 
den, wenn  ihre  rhythmischen  Eigenschaften  den 
dort  waltenden  klimatischen  Perioden  nicht  wider- 
sprechen. Man  sieht  es  an  der  Kartoffel,  die 
wenigstens  dann,  wenn  sie  Winters  vor  der  Kälte 
geschützt  wird,  bei  uns  existenzfähig  ist,  man 
sieht  es  auch  an  den  Charakterpflanzen  der  süd- 
italienischen Landschaft,  den  Agaven  und  Kaktus- 
feigen, die  obwohl  aus  Mexiko  stammend,  sich  in 
das  mediterrane  Klima  einfügen  konnten,  während 
das  z.  B.  der  Sojabohne  bei  uns  nicht  recht  ge- 
lingen will. 

Solche  Überlegungen  tun  dar,  welche  Bedeu- 
tung das  Problem  des  Rhythmus  auch  für  die 
geschichtliche  Entwicklung  der  Pflanzendecke  hat, 
für  Wanderungen  und  Siedlungen  von  Pflanzen. 
So  kann  man  z.  B.  wahrscheinlich  machen,  -") 
daß  das  Schneeglöckchen  mit  seiner  ganz  eigen- 
tümlichen Rhythmik,  pflanzengeschichtlich  aus 
dem  Mittelmeergebiet  stammt.  Ende  Mai  bereits 
ist  es  von  der  Erdoberfläche  verschwunden,  nach- 
dem es  schon  Mitte  Februar  erschienen  ist,  seine 
Zwiebel  verschläft  also  8—9  Monate  des  Jahres. 
Doch  ist  diese  Periode  nur  etwa  bis  Anfang  Ok- 
tober ein  wirklicher  Schlaf,  später  eine  Starre. 
Denn  es  treibt  zu  dieser  Zeit  sofort,  wenn  es  in 
die  Wärme  gebracht  wird,  wie  es  auch  sofort 
im  Frühling  bei  der  ersten  Wärme  hervorkommt. 
Das  deutet  auf  eine  Heimat  mit  hoch-  und  spät- 
sommerlicher Trockenzeit  und  mildem  Winter, 
wie  sie  das  Mittelmeergebiet  darstellt.  Tatsäch- 
lich ist  hier  die  Sippschaft  des  Schneeglöckchens 


weit  verbreitet  und  eingesessen.  Die  Maiblume 
dagegen  schließt  sich  ganz  an  den  heimischen 
Klimarhythmus  an.  Sie  treibt  im  April,  dauert 
mit  den  Blättern  bis  zu  Ende  August  und  ruht 
dann,  und  zwar  wirklich,  denn  sie  läßt  sich  jetzt 
im  warmen  Zimmer  nicht  erwecken.  Dement- 
sprechend ist  auch  die  ganze  Sippschaft  außerhalb 
des  Mittelmeergebietes,  von  Mitteleuropa  durch 
den  entsprechenden  Gürtel  Asiens  hindurch  ver- 
breitet. Der  Waldmeister  schließlich  ruht  bei 
uns  gezwungen,  für  ihn  ist  der  ganze  Winter  eine 
Zeit  der  Starre,  die  zu  jeder  Zeit  sofort  durch 
Erwärmung  gehoben  wird.  Er  entbehrt  ganz 
einer  größeren  Rhythmik,  hält  sich  aber  wegen 
seiner  Frostbeständigkeit  und  Fähigkeit  lange  Starre- 
zeiten zu  überdauern.  Anderenfalls  müßte  er  mit 
dieser  aperiodischen  Veranlagung  sofort  verschwin- 
den. Es  ist  nun  auffallend,  daß  des  Waldmeisters 
Sippschaft  ganz  überwiegend  in  den  Tropen  be- 
heimatet ist.  Er  ist  also  vielleicht  ein  kleiner 
Pionier,  der  sich  keck  ins  periodische  Klima  vor- 
wagte. Ja  selbst  von  unserer  Eiche  ist  vermutet 
worden,  daß  sie  nicht  dem  allerältesten  Uradel  der 
mitteleuropäischen  Pflanzengesellschaft  angehört.''") 
Sie  ist  augenscheinlich  nicht  ganz  gut  unserem 
Klima  angepaßt.  Sie  treibt  spät,  hat  ausgeprägte 
Zwischenschübe,  viele  Individuen  werfen  ihre 
Blätter  nicht  beizeiten  ab,  sondern  lassen  sich 
vom  Frost  überraschen ,  behalten  dann  oft  die 
ganze  trockene  Belaubung,  bis  sie  kurz  vor  dem 
Frühjahrstrieb  abfällt.  Auch  die  Verwandten  der 
Eiche  sind  alle  in  einem  entschieden  weniger 
stark  periodischen  Klima  ansässig  als  es  das 
unsrige  ist. 

'^"j  L.  Diels;  Das  Verhältnis  von  Rhythmik  und  Ver- 
breitung bei  den  Perennen  des  europäischen  Sommerwaldes. 
Ber.  d.  deutsch.  Botan.  Gesellsch.  Bd.  36,  S.  337,   1918. 

^"J  W.  Magnus,  Der  physiologische  Atavismus  unserer 
Eichen  und  Buchen.     Biolog.  Zentralbl.  Bd.  33,   1913. 


Sollen  wir  die  Goldwiischerei  am  Oberrheiii  wieder  aufuehiueii^ 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Dr.  I.  L.  Wilser, 

Privatdozent  für  Geologie  an  der  Universität  Freiburg  i.  B. 


Heute,  da  mehr  denn  je  alle  Bodenschätze 
ausgenützt  werden,  begegnet  dem  Geologen  häufig 
die  Frage,  ob  die  früher  an  den  Rheingestaden 
zwischen  der  Schweiz  und  dem  rheinischen  Schie- 
fergebirge so  blühende  Goldwäscherei  nicht  wieder 
aufgenommen  werden  könnte.  Gold  ist  das  ein- 
zige Metall,  dessen  Wert  unabhängig  von  Angebot 
und  Nachfrage  bleibt,  also  beständig  ist.  Ver- 
möchten wir  dieses  Edelmetall  in  reicherem  Maße 
im  eigenen  Lande  zu  beschaffen ,  würde  es  wohl 
in  den  nächsten  Jahrzehnten  mit  den  Reparations- 
leistungen über  die  Grenze  nach  Westen  ver- 
schwinden, aber  es  entledigte  uns  mit  der  Zeit 
von  unseren  „Goldverpflichtungen";  wir  würden 
wieder  frei. 

Im     Jahre    1910    betrug     der    Goldverbrauch 


Deutschlands  etwa  210  Mill. Mark;  heute  kommen 
dazu  die  in  Gold  zu  entrichtenden  Zwangsleistungen 
und  die  Ergänzung  unserer  verausgabten  Bestände 
an  Gold  und  Goldeswerten,  so  daß  wir  nunmehr 
über  das  zwölffache  vom  Frieden  jährlich  nötig 
haben.  Vom  Bedarf  1910  wurden  einundzwanzig 
Zweiundzwanzigstel  durch  Einfuhr  von  Feingold 
u.  dgl.  aus  Großbritannien,  Rußland,  Transvaal 
usw.  gedeckt,  nahezu  ein  Zweiundzwanzigstel 
durch  Einfuhr  von  Golderz  aus  Siebenbürgen, 
Nordamerika  und  Australien,  während  nur  ein 
verschwindend  kleiner  Restteil  aus  deutschen  Vor- 
kommen gewonnen  werden  konnte. 

In  der  Natur  findet  sich  das  Gold  entweder  in 
Gängen  und  Lagern  fest  im  Gestein  verwachsen 
(als  Einsprengung  z.  B.  in  Quarz,  Schwefelkies  u.  a.) 


394 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  28 


als  „Berggold",  oder  aus  diesem  durch  Wasser 
aufgearbeitet  und  verfrachtet  lose  in  Schuttauf- 
häufungen, in  sog.  Seifen  als  „Waschgold". 
Alte  und  junge  Flußschotter  sind  die  gebräuch- 
lichsten Lagerstätten.  Von  diesen  ausgehend 
hat  man  erst  verhältnismäßig  spät  die  Ursprungs- 
plätze in  den  Gebirgen  gefunden.  Die  bedeutend- 
ste einheimische,  seit  uralten  Zeiten  betriebene 
goldliefernde  Lagerstätte  ist  die  von  Reichenstein 
i.  Schi.,  die  heute  Gold  aber  nur  als  Nebenprodukt 
bei  der  Arsengewinnung  aus  Arsen-  und  Arseni- 
kalkies  abwirft.  Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse 
bei  Altenberg,  ebenfalls  in  Schlesien,  wo  die 
goldführenden  Gänge  ihres  Kupfer-Blei  Pyrit-  und 
Arsengehaltes  wegen  abgebaut  werden  können. 
Andere  mit  Gewinn  ausbeutbare  Berggoldvorkom- 
men kennen  wir  bisher  in  Deutschland  nicht,  und 
es  besteht  wenig  Aussicht,  solche  aufzufinden. 
In  welchem  Maße  die  Bergbetriebe  von  Neubulach 
bei  Calw  im  württembergischen  Schwarzwald,  das 
goldhaltige  Grünbleierze  fördert,  und  die  des 
Fichtelgebirges  in  der  Bayreuther  Gegend  wirt- 
schaftlich zu  gestalten  sind,  bleibt  abzuwarten. 

Nicht  aussichtsreicher  sind  die  Möglichkeiten, 
in  Deutschland  aus  Seifen  durch  Waschen  Gold 
zu  beschaffen.  Wohl  wurde  aus  Sanden  von 
Bächen  und  Flüssen  früher  an  viel  mehr  Stellen, 
als  wir  heute  ahnen,  das  Edelmetall  gewaschen, 
aber  es  standen  eben  Zeit  und  Lohn  in  geringe- 
rem Werte,  und  die  Überschwemmung  mit  Gold- 
mengen aus  anderen  Erdteilen  war  noch  nicht 
möglich  oder  fühlbar.  Rhein,  Isar,  Eibe,  Eder  im 
Waldeckschen,  Schwarza  im  östlichen  Thüringer- 
wald, schlesische  Bäche  und  neuerdings  der  Nord- 
westrand der  Eifel  sind  vor  allem  viel  genannt 
worden.  Von  manchen  anderen  Stellen  ist  uns 
der  „Reichtum"  nur  des  Lokalnamens  wegen  noch 
in  Erinnerung. ')  -)  ^) 

')  De  ecke  machte  1906  darauf  aufmerksam,  daß  Flüsse, 
die  schon  im  Altertum  als  goldführend  bekannt  waren ,  ähn- 
lich heißen,  so  die  elsässische  Thur,  die  Dora  Ballea,  der 
Duero,  der  Ihrac.  Hebro  u.  a.  m. 

-)  Sämtliche  bis  1904  bekannt  gewordenen  Goldfundorte 
sind  aufgezählt  bei  C.  Hintze,  Handbuch  der  Mineralogie. 
I.  Bd.,  S.  244  ff. 

')  Die  bekanntesten  deutschen,  aber  nicht  betriebenen 

a)  Berggoldvorkommen  (auf  Gängen  oder  Lagern  im 
festen  Gebirge,  eingesprengt  meist  in  Quarz,  Schwefelkies 
und  andere  Sulfide), 

Hohenstein,  zwischen  Chem'nitz  und  Glauchau, 
Reichmannsdorf  und  Steinheide  im  Thüringer  Wald, 
Tilkerode,  RammeUberg  u.  a.  am  Harz, 
Eisenberg  b.   Korbach  (VYaldeck). 

b)  Waschgoldvorkomracn  (durch  Wasser  zusammen- 
geschwemmt, lose  meist  in  Sanden  und  Kiesen), 

Rhein, 

Isar,   Ammer,  Inn,  Salzach,  Donau, 

Wasserläufe  am  Nordfuß  des  Riesengebirges 
zwischen  Bunzlau- Löwenberg- Goldberg- 
Nikolsladt, 

Wasserläufe  am  Nordfuß  des   Erzgebirges, 

Schwarza  i.  Thür.  Wald ,  damit  Saale 
und  Elbe, 

Würmer,  Mombckke  und  Eder  i.  Waldeck- 
schen 

im    grobkörnigen    Siubensandstein    der    oberen    Keuper- 
formation  bei  Maulbrona  und  im  Eilstal  in  Württemberg. 


Am  längsten  und  ausgiebigsten  bestand  wohl 
am  Rhein  zwischen  Basel  und  Mainz  die  Übung 
Gold  aus  Sanden  zu  waschen.  Wahrscheinlich 
haben  die  Kelten  das  Geschäft  schon  betrieben; 
im  Mittelalter  war  es  bei  den  Franken  in  großer 
Blüte  *)  ebenso  im  Badischen  um  die  Mitte  des 
letzten  Jahrhunderts,  und  noch  heute  leben  an 
den  Rheingestaden  Leute,  die  in  ihrer  Jugend 
dieser  Arbeit  nachgegangen  sind.  Seit  etwa  der 
letzten  Jahrhundertwende  ist  sie  aber  restlos  ein- 
gestellt, denn  Ertrag  warf  sie  nicht  mehr  ab,  zu- 
letzt im  Mittel  einen  Tagelohn  von  etwa  2V2  M. 
Es  verlegte  sich  daher  auf  das  Goldwaschen  im 
allgemeinen  nur,  wer  nichts  besseres  zu  tun  hatte, 
ebenso  wie  der  Bauer  oder  seine  Familie  dieser 
Arbeit  nachging,  wenn  Fischerei,  Feld  und  Wald 
der  Hände  nicht  bedurften,  oder  wenn  besonders 
günstige  Verhältnisse  lockten.  Um  einigen  Vor- 
teil wenigstens  zu  haben,  wartete  man  meist  die 
Beihilfe  der  Natur  ab,  die  durch  Hochwasser 
reichere  ,, Goldgründe"  ansammelte  oder  bloßlegte. 

Das  Gold  findet  sich  in  den  kiesig-sandigen 
Aufschüttungen  des  Rheintales  als  feinste  messing- 
gelbe rundliche  Plättchen  von  etwa  0,5  zu  0,7  mm, 
höchstens  I  mm  Größe  und  etwa  0,1  mm  Dicke, 
also  in  Flitterchen,  die  etwa  0,05  mgr  wiegen, 
deren  somit  20000  aufs  Gramm  gehen.  Unterhalb 
Basel  sind  sie  eine  Spur  größer,  gegen  Mannheim 
zu  kleiner.  „Die  reichsten  Goldgründe  liegen 
zwischen  Kehl  und  Dachslanden,  namentlich  beim 
Dorfe    Helmlingen"    (Leonhard  a.  unten  a.  O.). 

Dem  spezifischen  Gewicht  nach  steht  Gold 
ziemlich  hoch,  ist  etwa  7  mal  schwerer  als  Sand 
und  etwa  4  mal  schwerer  als  Zirkon-  und  Eisen- 
teilchen, die  in  den  Rheinsanden  häufig  sind. 
Tritt  irgendwo  Verlangsamung  der  Strömung  und 
damit  Verringerung  der  Transportkraft  ein ,  so 
müssen  diese  schweren  Teilchen  schnell  zu  Boden 
sinken  und  sich  anreichern ,  während  andere, 
leichtere  noch  fortgetrieben  werden.  Ahnlich 
sammeln  sich  die  schwereren  Partikelchen,  wenn 
die  Strömung  anschwillt  und  das  Leichtere  vom 
Grund  und  vom  Ufer  wegspült.  So  kommt  es, 
daß  sich  in  stilleren  Buchten,  z.  B.  an  Abzweigungen 
von  Altrheinarmen,  Ansammlungen  schweren  gold- 
und  eisenhaltigen  Sandes  absetzen,  oder  daß  bei 
Mittel-  und  Hochwasser  das  Schwermetall  an  den 


(im 
Hinterland 
Bcrggold) 


Bemühungen,  das  Gold  aus  dem  Mceiwasser  zu  gewinnen, 
führten  bisher  zu  keinem  wirtschaftlich  verwertbaren  Erfolge. 
Man  nimmt  im  allgemeinen  0,0044  g  Gold  in  1000  kg  Meer- 
wasser an.     Die  Verteilung  soll  unregelmäßig  sein. 

')  Gothein  schreibt  in  ,, Wirtschaftsgeschichte  des 
Schwarzwaldes":  ,,An  der  Greoze  des  Schwäbischen  und 
Fränkischen  Stammes  hatte  die  Goldwäschcrei  ihren  Haupt- 
sitz und  hier  hat  sie  auch  ihre  erste  (deutsche)  literarische 
Erwähnung  gefunden",  im  Evangelienbuch  des  Olfried 
von  Weii3enburg  etwa  86S.  Zweifellos  gründet  sich  der 
Rheingoldmythus  auf  diesen  Edelmetallgehalt  der  Rheinsande. 
Die  Edda  spricht  von  ,,Breisacher  Gold".  Zu  Cäsars  Zeiten 
wanderte  viel  Gold  vom  Rhein  nach  Rom,  das  damals  erst 
statt  der  Kupfer-  die  Goldwährung  einführte,  wie  Neu- 
mann in  seinem  .Aufsatz  ,, Goldwäscherei  am  Rhein"  angibt 
(vgl.  Zeitschrift  für  Berg-,  Hütten-  und  Salinenwesen,  51.  Bd., 
Berlin  1903). 


N.  F.  XXI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


395 


alten  Plätzen  liegen  bleibt,  während  leichtere 
Teilchen  fortgeschwemmt  werden.  Es  ist  ganz 
offenbar  nicht  di  e  Neuzufuhr ,  sondern 
nur  die  oft  wiederholte  lokale  Um- 
lagerung  bzw.  Auswaschung  des  Unter- 
grundes das  Ausschlaggebende  für  die 
Goldsandbildung.  Die  Niederterrasse 
ist  also  als  der  wesentliche  Edel  metall- 
träger anzusehen.  Daß  auch  die  Hochterrasse 
bis  an  die  randlichen  Gebirge  hinan  Gold  ent- 
hält, beweisen  einige  auf  dieser  gelegene,  früher 
ebenfalls  Gold  fördernde  Ortschaften. 

G.  Leonhard  berichtet  1854  in  „Beiträgen 
zur  mineralog.  und  geognost.  Kenntnis  des  Groß- 
herzogtums Baden":  „Goldgründe  bilden  sich  ge- 
wöhnlich an  Punkten,  wo  der  Fluß  die  Ufer  oder 
Inseln  weggeschwemmt  hat.  Der  fortgeschwemmte 
Sand  setzt  sich  dann  in  einiger  Entfernung  wieder 
als  Sandbank  ab,  deren  der  Strömung  zugekehrter 
Teil  das  meiste  Metall  enthält.  Der  reichere 
Sand  liegt  gewöhnlich  zwischen  größeren  Ge- 
schieben und  in  geringer  Tiefe.  Nach  jeder  Flut 
pflegt  man  die  Goldgründe  auszubeuten;  dieselben 
zeigen  sich  um  so  reicher,  je  langsamer  sich  das 
Wasser  zurückzieht."  Ähnlich  schrieb  A.  Dau- 
bree  1854  (nach  Leonhard):  „Die  gewöhnlich 
reichsten  Goldgründe  liegen  etwas  talwärts  von 
Ufern  oder  Inseln,  die  der  Strom  abwäscht,  fast 
immer  zwischen  gröberem  Geschiebe;  dann  an 
einigen  anderen  Stellen,  wo  sie  durch  Fort- 
waschung des  feineren  und  leichteren  Sandes  sich 
als  reicherer  Rückstand  anhäufen  konnten.  Es 
kommt  aber  in  geringerer  Menge  auch  außerhalb 
des  jetzigen  Rheinbettes  vor." 

Es  ergibt  sich  hieraus  ganz  klar,  daß  die  Kor- 
rektion der  Rheinufer,  die  das  Gestade  festlegt 
und  die  Abflußgeschwindigkeit  vergrößert,  die 
Goldgrundbildung  verhindert.  Der  Rhein  „ost" 
nicht  mehr,  wie  die  Anlieger  im  Oberland  sagen. 

Schon  1833  hatte  C.  F.  Hänle  in  Buchners 
Repert.  d.  Pharmaz.  1833,  XLV.  Bd.,  S.  467—468 
mitgeteilt:  „Dieser  Goldsand  ist  nicht  erst  neuer- 
lich angeschwemmt;  er  bildet  bei  Lahr  (und  so 
in  der  ganzen  Rheinebene)  eine  zusammenhängende 
Schichte  unter  Tonmergel,  oft  mehrere  Stunden 
vom  jetzigen  Rheinlaufe  entfernt  (doch  ungefähr 
in  dessen  jetzigem  mittlerem  Niveau)  kann  aber 
nur  auf  den  periodischen  und  im  Rheine  selbst 
entblößten  Bänken  bearbeitet  werden,  weil  das 
ihn  sonst  bedeckende  fruchtbare  Land  zu  teuer 
ist"    (vgl.  Neues  Jahrb.  f.  Min.  usw.  1835,  S.  719). 

Nach  den  erörterten  natürlichen  Bildungsver- 
hältnissen der  Goldgründe  (auch  Griene  genannt) 
am  Rhein  hatte  Waschen  keinen  Sinn,  wo  vor- 
wiegend große  Gerolle,  starke  Strömung  und  hohe 
Ufer  vorhanden  waren,  auch  nicht  weiter  abseits 
vom  Strom.  Daher  fanden  sich  oberhalb  Basel 
wenig  Gewinnungsplätze,  an  den  flachen  Ufern 
von  Basel  abwärts  bis  gegen  Mainz  standen  aber 
allenthalben  Waschbänke  und  zwar  vorwiegend, 
wo  die  Altrheine  mit  ihrem  gewöhnlich  ruhig 
fließenden  Wasser  abzweigen   und  zu  Mittel-  und 


Hochwasserzeiten  eine  lokale  Umlagerung  und 
Auswaschung  und  damit  Anreicherung  des  Gold- 
gehaltes bewirkten.  An  älteren  verlandeten  Armen 
wusch  man  nur  selten,  denn  die  sonst  vom  Rhein 
besorgte  Vorarbeit  mußte  dort  von  Menschen- 
hand geleistet  werden,  auch  fehlte  es  landeinwärts 
meist  an  dem  zum  Waschen  unentbehrlichen 
fließenden  Wasser. 

Als  Lieferanten  sind  bekannt  geworden  Istein, 
Altbreisach  und  die  meisten  Orte  auf  dem  Hoch- 
gestade vom  Nordkaiserstuhl  bis  gegen  Speyer, 
während  unterhalb  Mannheim  sehr  wenig  und 
unterhalb  Mainz  gar  nicht  gewaschen  worden  sein 
soll  (vgl.  M.  Schwarzmann,  Goldgewinnung 
am  Rhein,  23.  Bd.  d.  Verhandlung  d.  naturwissen- 
schaftl.  Ver.  Karlsruhe  i.  B.  1910).  Die  besten 
Verhältnisse  fanden  sich  seit  Alters  zwischen  Kehl 
und  Daxlanden.  Ebenfalls  als  vorteilhaft  wird 
noch  die  Gegend  der  Germersheimer  Brücke  und 
die  von  Philippsburg  genannt. 

Zur  Auffindung  guter  Goldbänke  leitet  die 
infolge  des  reichen  Eisen-  und  geringeren  Sand- 
(Ouarz)gehaltes  dunkle  (rötlich- schwarze)  Farbe 
der  Lager.  Sie  ruhen  linsenförmig  meist  in  ge- 
wöhnlichem Kies  eingeschlossen  und  messen  bei 
völlig  regelloser  Verteilung  bis  200—300  qm  an 
Ausdehnung  und  bis  zu  20  cm  an  Dicke.  Zur  ersten 
Prüfung  über  Würdigkeit  wusch  man  eine  Schaufel 
voll  Sand  zur  Probe  und  zählte  darin  die  Flitter- 
chen. Aus  der  Philippsburger  Gegend  z.  B.  wird 
berichtet,  daß  bei  diesen  Proben  öfters  bis  20  und 
zuweilen  selbst  bis  40  und  50  Goldplättchen  ge- 
funden wurden.  Ein  alter  Goldwäscher,  Reiß, 
sagte  dort  aus,  „daß  er  schon  Lagen  mit  bis  70, 
einmal  sogar  mit  bis  100  Goldplättchen  auf  die 
Schaufel  gehabt  habe".  „Doch  soll  das  Abdecken 
des  Goldsandes  viel  Arbeit  machen.  Im  Winter 
1897/98  hat  Reiß  in  wenigen  Wochen  für  70  M. 
Gold  ausgewaschen  und  auch  sonst  im  Mittel 
einen  Taglohn  von  2  M.  50  Pfg.  erreicht."  (Vgl. 
Erläuterungen  zur  geolog.  Spezialkarte  von  Baden, 
Blatt  Philippsburg,  S.   18/19.) 

Nach  Daubree  (Mem.  s.  1.  distribution  de 
l'or  dans  le  gravier  du  Rhin  et  sur  l'extraction 
de  ce  metal.  Bull,  de  la  soc.  geol.  de  France. 
III.  Bd.,  1845/46  und  Annales  des  mines  Bd.  X, 
1846.  Vgl.  dazu  Neu  mann.  Die  Goldwäscherei 
am  Rhein.  Zeitschrift  für  Berg-,  Hütten-  und 
Salinenwesen,  Bd.  51,  1903,  S.  35)  enthielt  (wohl 
in  der  Straßburger  Gegend): 

Siehe  Tabelle  Seite  396. 

Nr.  III  wird  als  die  gewöhnliche  Waschsorte 
bezeichnet,  die  einen  Durchschnittsertrag  gab.  Da 
stromabwärts  die  Goldplättchen  kleiner  werden, 
müssen  sich  z.  B.  in  der  Philippsburger-Speyerer 
Gegend  40 — 50  Flitterchen  in  etwa  40  g  amalga- 
mierbarem  Sand  finden,  um  einen  Durchschnitts- 
ertrag zu  liefern. 

Ein  Arbeiter  verwusch  im  Tage  etwa  4  cbm 
Sand. 

Neu  mann  gibt  in  dem  oben  genannten  Auf- 


396 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Sandsorte 

ia  1  cbm  Sand      1 

in   I   cbm  Sand 

in  I  Tonne  Sand 

9 

Verdienst  in 
Stunden  (1846) 

auf  Probeschaufel 
finden    sich 

Nr.   I 

2,9  kg  Goldsand 
zum  Amjlgamieren 

1,011   g  Gold 

0,562  g  Gold 
1      (nie  über  0,7  g) 

8,90  Mk. 

70—80  Flitterchen 

Nr.  11 

— 

0,438               M 

0,243  g  Gold 

3.75     .. 

1   25-30 

Nr.  III 

2  kg 

0,243       .. 

0,132       „ 

1,94     .. 

10 — 12         „ 

Nr.  IV 

0,4  l<g 

0,015       " 

0,008       ,, 

0,11     „ 

I              .. 

Satze  auf  Grund  von  Nachforschungen  in  badischen 
Ministerialakten  folgende,  seit  1821  zwangsmäßig 
nach  Karlsruhe  aus  dem  ganzen  Lande  eingeliefer- 
ten Goldmengen  an: 
fiSoo — 09 
L1810 — 19 


1S20— 29  68,903 
1830—39  83,331 
1840 — 49  67,225 
1850-59 
1860—69 


11,450  kg  Rheingold"! 
28,989    „  „  J 


(1822  von   136  Wäschern) 
(1832     „     405  „         ) 


37.983 
7.372 


Über    1874    hinaus    wurden    die  Akten   wegen    zu 
geringer  Anlieferung  nicht  geführt.  ^) 

Ähnlich  berichtet  Leon  ha  rd  a.  a.  O.,  daß 
von  1804  bis  1834  etwas  über  3  Zentner  Gold 
zur  großherzoglichen  Münze  nach  Karlsruhe  ge- 
bracht worden  seien,  wofür  seit  1821  der  wahre 
Wert  bezahlt  wurde.  Die  Ablieferung  des  ge- 
wonnenen Goldes  war  seit  1821  Zwang,  aber  das 
Gewerbe  frei.  Die  Zahl  der  Goldwäscher  im 
Badischen  soll  1832  etwa  400  betragen  haben 
zusammen  an  37  Orten  und  man  darf  wegen  des 
guten  Ankaufpreises  und  der  an  den  Waschplätzen 
staatlich  ausgeübten  Kontrolle  wohl  annehmen, 
daß  ziemlich  die  ganze  Ausbeute  zur  Ablieferung 
gelangte.  Wenn  dem  aber  so  ist,  ergeben  sich 
alsjahresausbeute  im  ergiebigsten  Jahrzehnt  8,333  kg, 
auf  400  Wäscher  verteilt  für  den  einzelnen  jähr- 
lich nicht  volle  21  g,  was  in  Vorkriegswährung 
ausgedrückt  (i  g  reines  Gold  =  2,78  Mark) 
58,38  M.  sind.  Dabei  bleibt  aber  noch  zu  berück- 
sichtigen, daß  das  angelieferte  Rheingold  nach  wieder- 
holten Analysen  nur  934  Tausendstel  Gold  und 
66  Tausendstel  Silberbeimengung  enthielt.  Der 
mittlere  Tagesgewinn  soll  2  M.  gewesen  sein,  so 
daß  also  etwa  29  Arbeitstage  oder  rund  i  Monat 
Waschtätigkeit  jährlich  auf  den  einzelnen  Wäscher 
entfielen.  Man  sieht,  es  kann  sich  bei  der  ganzen 
Rheingoldgewinnung  lediglich  um  beiläufige  Ge- 
legenheitsarbeit gehandelt  haben ,  die  nie  ein 
Nährberuf  gewesen  sein  wird.  Für  die  Jahre 
1850 — 59  gehen  die  Zahlen  schon  über  die  Hälfte 
zurück.  Das  Anschwellen  der  Produktion  in  den 
dreißiger  Jahren  mag  auf  den  seit  1821  mit  dem 
Weltmarktpreis  ausgeglichenen  Ankaufslohn  und 
auf  die    manchenorts   günstige   Waschgelegenheit 


')  Kür  die  bayrische  Pfalz  lauten  die  Zahlen: 

1825  —  29     12,295  ^S  Kheingold 

'830—39      18,099    .. 

1840 — 49     22,350    „  „ 

1850—59       8,111    „  „ 

1862  bis  August  278,6  g    „ 
Das     meiste    Gold     wurde    1853    in    Kandel    gewonnen. 
Schmelzen  bestanden  in  Speyer,  Germersheim  und  Kandel. 


während  der  Uferarbeiten  für  die  Rheinkorrektion 
zurückzuführen  sein. 

Wenden  wir  diese  Ergebnisse  auf  die  Frage 
an,  ob  heute  aus  den  Rheinsanden  wieder  Gold 
gewaschen  werden  könnte  oder  sollte.  Der  Fein- 
gehalt an  Gold  im  Plättchen  ist  wie  gesagt 
93,4  "/o,  der  Rest  besteht  aus  Silber  (nach  Döbe- 
reiner mit  einer  Spur  von  Platin).  Lauteres 
Gold  kostete  das  Kilogramm  vor  dem  Kriege 
2780  M.  Um  diesen  Ertrag  nur  annähernd  zu 
erzielen,  müßten  in  der  ertragreichsten  Gegend 
also  41 15  cbm  Sand  der  gewöhnlichen  Sorte  ge- 
waschen und  8230  kg  Goldsand  chemisch  be- 
handelt werden,  wozu  die  Durcharbeitung  einer 
etwa  204  m  im  Geviert,  also  über  41000  qm 
großen,  im  Mittel  0,1  m  dicken  Sandbank  nötig 
wäre.  Da  sich  die  Lager  aber,  wie  oben  ange- 
führt, immer  nur  einzeln  und  nur  bis  zu  200 — 
300  qm  ausdehnen,  müßten  über  200  Linsen  auf- 
gesucht und  ganz  ausgebeutet  werden.  Welche 
Mengen  an  Kies  dabei  abzuräumen  sind,  um  an 
die  metallhaltigen  Lagen  heranzukommen  und 
welche  Kulturbodenwerte  damit  verloren  gehen, 
läßt  sich  gar  nicht  abschätzen.  Die  Bloßlegung 
und  Ansammlung  des  Edelmetalles  besorgte  für 
den  alten,  leichtbeweglichen  bäuerlichen  Gelegen- 
heitsbetrieb eben  der  Strom.  Wo  und  wann  die 
natürlichen  Verhältnisse  günstig  erschienen,  stellte 
man  die  Waschbänke  auf.  Seit  der  Fluß  infolge 
der  Korrektion  die  Ufer  nicht  mehr  einreißt,  nicht 
mehr  „ost",  ist  bezeichnenderweise  das  Gold- 
waschen zurück-  und  dann  mit  der  Verteuerimg 
der  Löhne  im  Ausgang  des  letzten  Jahrhunderts 
schließlich  völlig  eingegangen. 

Es  zeigt  sich:  Einzelbetrieb  ist  nicht  mehr 
lohnend,  und  Großbetrieb,  wie  ihn  sich  manche 
Techniker  denken,  ist  wegen  der  Lagerung  der 
Goldplättchen  undurchführbar.  Die  zu  be- 
wegenden Kies-  und  Sandmassen  stehen 
in  keinem  w  irtsch  aftl  iche  n  Verhält  nis 
zu  der  gewinnbaren  Edelmetallmenge. 
Überdies  kann  ein  Großbetrieb  kein  Wanderbetrieb 
sein,  was  aber  zur  Erfassung  der  verstreuten  Gold- 
gründe nötig  wäre.  Baggerung  beispielsweise, 
von  der  für  die  Wiederaufnahme  der  Rheingold- 
wäscherei von  mancher  Seite  viel  erhofft  wird, 
stellte  sich  vor  dem  Kriege  auf  etwa  40  Pfg.  für 
den  Kubikmeter  Kies,  so  daß  durch  0,143  g  Gold 
in  I  cbm  die  Baggerunkosten  als  aufgewogen 
gelten  könnten.  Die  Mittelsorte  Sand  (Nr.  III, 
vgl.  oben)  enthält  im  cbm  an  Rheingold  0,243  S- 
Über  die  Hälfte   des  Ertrages   würde   also   durch 


N.  F.  XXI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  Baggerunkosten  verschlungen.  Bedenkt  man 
aber,  daß  die  metallführenden  Lagen  nur  verein- 
zelt in  taube  eingebettet  sind,  die  erst  abgeräumt 
werden  müssen ,  bevor  man  an  die  Goldgründe 
gelangt,  so  reicht  schließlich  die  Goldförderung 
nicht  mehr  aus,  um  die  Baggerung  zu  bestreiten. 

Wie  mir  von  technischer  Seite  gesagt  wird, 
läßt  sich  heute  mit  neuzeitlichen  Anlagen  ein 
Sand  mit  2  g  Goldgehalt  in  der  Tonne  noch 
wirtschaftlich  mit  Erfolg  verarbeiten.  Der  cbm 
unseres  Rheinsandes  müßte  danach  also 
etwa  4  g  Gold  enthalten,  also  etwa 
zwanzigmal  mehr,  als  in  der  Durch- 
schnittssorte und  etwa  viermal  mehr, 
als  in  den  besten  Lagen  bisher  gefun- 
den wurde.  Und,  was  die  Hauptsache  ist,  es 
müßte  aller  Sand  und  Kies,  der  bewegt  wird, 
goldführend  sein.  Wie  wenig  die  Natur  dieser 
Forderung  aber  entspricht,  ist  oben  gezeigt  worden. 

Eine  Gewinnung  auf  den  Rheinterrassen  land- 
einwärts gegen  das  Gebirge  zu,  was  Witt  ich 
und  Ragotzy  in  der  Zeitschrift  für  praktische 
Geologie  1921  vorschlugen,  dürfte  noch  unwirt- 
schaftlicher werden,  da  in  diesen  Gebieten  zu  den 
erörterten  Schwierigkeiten  —  vor  allem  dem 
teuern,  wenn  hier  überhaupt  durchführbaren  Ge- 
ländeerwerb —  noch  meist  der  Mangel  an  Wasch- 
wassers kommt. 

Durch  Verbesserung  der  Aufbereitungsmethode 
(z.  B.  mehr  Sand  waschen  und  besser  aus- 
waschen) größere  Ausbringung  zu  erziehlen,  dürfte 
wohl  möglich  sein,  eine  ^\'irtschaftlichkeit 
kann  sich  aber  auch  dann  noch  nicht 
ergeben.  Nach  Dufrenoy  enthält  der  Gold- 
sand 2  "/o  Magneteisen,  3 — 4%  Titaneisen  und 
Eisenglanz,  über  90 "/'(,  Quarz,  Spuren  von  Zirkon. 
Welche  Aufbereitungsmethode  die  geeignetste 
wäre,  mögen  die  Techniker  entscheiden.  An 
Cyanidlaugerei  sei,  sagt  N  e  u  m  a  n  n,  gar  nicht  zu 
denken. 

Ob  unter  besonders  günstigen  Verhältnissen 
eine  Wascherei  als  Neben  betrieb  bei  Sand-  und 
Tongewinnung  aus  den  Rheinterrassen  ertragreich 
zu  gestalten  wäre,  müßte  von  Fall  zu  Fall  unter- 
sucht werden.  Viel  Hoffnung  darf  man  sich  auch 
hier  nicht  machen. 

Noch  einiges  über  die  Herkunft  der  Gold- 
plättchen.  Sie  ist  seit  langem  festgestellt.  Der 
Alpenrhein,  längs  dem  am  betriebsamsten  im  nörd- 
lichen Graubünden  Gold  gewaschen  wurde  (Berg- 
gold im  Farpaner  Rothorn  und  angeblich  im 
Calanda),  vermag  dieses  nicht  ins  badische  Land 
zu  tragen,  weil  die  Wässer  im  Bodensee  geklärt 
werden.  Es  läßt  sich  aber  auch  in  der  Aare 
Gold  nachweisen,  was  die  zur  Mitte  des  ver- 
gangenen Jahrhunderts  sehr  zahlreichen  Wäsche- 
reien von  Waldshut  über  Brugg,  Aarau,  Ölten, 
Aarwangen  dartun.  Westlich  des  Einflusses  der 
Großen  Emme  in  die  Aare  findet  sich  aber  kein 
Gold  mehr,  sondern  nur  in  der  großen  Emme 
selbst  und  in  deren  Zuflüssen,  die  von  Napf,  einem 


1407  m  hohen  zwischen  Luzern  und  Bern  gelegenen 
Molasseberg  herkommen.  Alle  an  diesem  ent- 
springenden Bäche  bringen  das  Edelmetall.  Orte 
wie  Langnau,  Summiswald,  Luthern,  Hergiswil  u.  a. 
sind  dadurch  weiter  bekannt  geworden.  In  die 
Kleine  Emme  gelangt  ebenfalls  Gold  vom  Napf, 
damit  in  die  Reuß  und  bei  Brugg  wiederum  in 
die  Aare  und  dann  zum  Rhein.  Am  Napf  selbst 
liegt  das  Gold  schon  nicht  mehr  an  seiner  ur- 
sprünglichen Bildungsstelle,  sondern  auch  schon 
in  Kiese  und  Sande  eingeschwemmt,  in  der  Nagel- 
fluh des  Oberen  Miozäns,  die  Flüsse  und  Bäche 
aus  den  sich  auftürmenden  Alpen  an  deren  Rande 
zur  Tertiärzeit  zusammengeschwemmt  haben. 
Vereinzelt  fanden  sich  Goldfünkchen  in  weißen 
Quarzitgeröllen  der  Nagelfluh  eingeschlossen,  worin 
man  einen  Hinweis  auf  die  Heimat  des  Goldes 
hat,  die  demnach  in  Quarzgängen  des  alpinen 
Grundgebirges  gelegen  haben  muß.  Obgleich 
unzählige  solcher  Quarzgänge  in  den  westlichen 
schweizerischen  Zentralalpen  bekannt  sind,  fand 
man  sie  nie  so  reichlich  goldführend,  daß  anderes 
als  wissenschaftliches  Interesse  diesem  Berggold 
zugewandt  worden  wäre.  Größerer  Goldreichtum 
dieser  Gänge  in  früheren  Zeiten  ist  kaum  anzu- 
nehmen; vielleicht  mag  es  sich  um  obere,  ver- 
witterte und  dadurch  an  Metall  angereicherte 
Zonen  gehandelt  haben,  die  zum  Napf  verfrachtet 
wurden,  oder  was  näher  liegt,  das  Gold  in  den 
Nagelfluhbänken  ist  schon  ausgeschlämmt,  so  wie 
wir  es  weiterhin  noch  reicher  angesammelt  in  den 
Goldgründen  des  Rheines  treffen. 

Aus  dem  Schwarzwald  stammt  das  Rheingold 
erwiesenermaßen  nicht,  obgleich  das  Edelmetall 
auch  dort  anzutreffen  ist.  Gothein  berichtet 
1892  auf  Grund  von  Urkundenstudien  in  seiner 
„Wirtschaftsgeschichte  des  Schwarzwaldes":  „1243 
wurde  das  Goldwaschen  noch  allerorts  im  Schwarz- 
wald getrieben,  Rench,  Kinzig,  Mühlenbach  (ein 
Nebenfluß  der  Kinzig),  Elzach,  Dreisam,  Wiese, 
Brig,  Breg,  Donau  werden  namentlich  aufgeführt. 
Später  aber  scheint  es  sich,  da  alle  anderen  Nach- 
richten fehlen,  auf  den  Rhein  allein  beschränkt 
zu  haben."  Die  Ursprungslagerstätte  des  Goldes 
mag  in  den  arsen-  und  schwefelkieshaltigen  Erz- 
gängen des  Gebirges  gesucht  werden,  wohl  auch 
in  Quarzzügen  und  —  worauf  Geheimrat  De  ecke 
hinwies  —  in  den  weitverbreiteten  Porphyren, 
wie  ja  Gold  zumeist  an  saure  Gesteine  gebunden 
ist.')  Bemerkenswerterweise  sind  aus  Nordamerika 
Goldfunde  in  Schwerspat-  und  Flußspatgängen 
bekannt  geworden ,  deren  geologische  Position 
unseren  Schwarzwälder  Verhältnissen  in  vielem 
sehr  gleicht.  (Siehe  Zeitschrift  für  praktische  Geo- 
logie 1893,  S.  79  und  1896,  S.  276.)  Weitere 
Untersuchung  unserer  Schwarzwäldischen  Gänge 
wird  wohl  noch  manch  überraschendes  Ergebnis 
zutage  fördern. 


')    Ob    nicht    auch  in    dei 
in  den  Uralschen  in  Rußland  : 


badisclien  Graniten    wie  z.  B. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Die  menschlichen  Skelettreste  aus  dem 
Weimarer  Kalktuff. 

Seit  Alexander  Portis  im  Jahre  1878  seine 
Untersuchungen  über  die  diluviale  Säugetierfauna 
von  Taubach  bei  Weimar  schrieb,  in  der  auch 
zum  erstenmal  von  menschlichen  Werkzeugen  im 
Kalktufif  die  Rede  war,  ist  die  Literatur  über  die 
Kalktufife  des  Ilmtals  außerordentlich  angewachsen. 
Die  Schnecken  und  Pflanzenreste,  die  Feuerstein- 
werkzeuge und  die  geologischen  Alters-  und  Ent- 
stehungsverhältnisse des  Tuffes  sind  Gegenstand 
zahlreicher  Veröffentlichungen  geworden;  zu  ihnen 
gesellt  sich  nun  eine  neue,  die  erheblichen  An- 
spruch auf  Beachtung  fordert:  Die  menschlichen 
Skelettreste  aus  dem  Kämpfeschen  Bruch  im 
Travertin  von  Ehringsdorf  bei  Weimar  von  Hans 
Virchow,  141  Seiten,  42  Abb.  im  Text  und 
8  Tafeln.    Verlag  von  Gustav  Fischer,  Jena   1920. 

Am  8.  Mai  1914  wurden  in  dem  Kämpfeschen 
Bruch  11,90  m  unter  der  Oberkante  und  2,90  m 
unter  dem  sog.  Pariser  ein  menschlicher  Unter- 
kiefer (vgl.  die  Abb.)  und  am  2.  November  1916 
im  selben  Horizont  Skelettreste  eines  Kindes  von 
etwa  10  Jahren  mit  einem  nicht  vollständigen 
Unterkiefer  und  einigen  Zähnen  des  Oberkiefers 
gefunden. 

Deutschland  ist  nicht  reich  an  Funden  von 
diluvialen  Skelettresten;  allerdings  befindet  sich 
unter  diesen  der  älteste  menschliche  Skelettrest 
überhaupt,  nämlich  der  Heidelberger  Unterkiefer 
und  das  Schädeldach  aus  dem  Neandertal,  das 
der  ganzen  altdiluvialen  Rasse  den  Namen  ge- 
geben hat.  Aus  diesem  Grunde  stellen  die 
Weimarer  Funde  eine  wesentliche  Bereicherung 
unserer  diluvialen  Vorgeschichte  dar  und  sie  er- 
weitern den  Wert  des  Weimarer  Kalktuffs,  der 
unsere  beste  deutsche  diluviale  Kulturstätte  enthält. 

Es  ist  daher  begreiflich,  daß  die  beiden  Unter- 
kiefer das  lebhafteste  Interesse  in  der  Gelehrten- 
welt fanden  und  es  hat  nicht  an  kühnen  Aus- 
wertungen derselben  gefehlt.  Gewisse  Abwei- 
chungen im  Bau  des  Kiefers,  wie  alveolare 
Prognathie  und  die  schmale,  lange  Form  des 
Alveolarbogens,  die  merkwürdige  Gestaltung  der 
inneren  Oberfläche  des.  Unterkiefermittelstückes, 
die  Größe  der  Eckzähne  deuten  nach  Schwalbe, 
der  den  ersten  Ehringsdorfer  Kiefer  untersuchte, 
dahin,  daß  er  zweifellos  den  niedrigsten  Zustand 
anzeige,  der  dem  der  Anthropoiden  (Schimpanse) 
näherstehe  als  dem  der  bekannten  anderen  Unter- 
kiefer der  Neandertalrasse.  Trotzdem  erklärte 
Schwalbe  den  Unterkiefer  nicht  als  eine  neue 
besondere  Form,  wies  ihm  aber  die  tiefste  Stelle 
innerhalb  der  Neandertalrasse  zu. 

Klaatsch,  der  phantasievollste  unter  den 
deutschen  Anthropologen,  hat  die  Ansicht  ver- 
treten, daß  von  den  beiden  diluvialen  Menschen- 
rassen die  Neandertalrasse  mit  dem  Gorilla,  die 
Aurignacrasse   mit  dem  Orang  eng  verwandt  sei. 


Einzelberichte. 

daß 


ersiere  mitsamt  der  diluvialen  F"auna  des 
Altelefanten  (Elephas  antiquus)  aus  Afrika,  letztere 
mit  dem  Mammut  (Elephas  primigenius)  aus  Asien 
stamme  und  daß  der  Altelefant  mit  dem  afri- 
kanischen, das  Mammut  mit  dem  indischen  Ele- 
fanten   verwandt    sei.      Diese    Voraussetzung    ist 


l'oterkiefer  von  Ehringsdorf.     a  von  oben,   b  von  unten. 

nun  allerdings  ein  gründlicher  Irrtum.  Schon 
So  er  gel  hat  überzeugend  nachgewiesen,  daß 
Europa  und  die  Mittelmeerländer  stets  das  Ver- 
breitungsgebiet des  Elephas  antiquus  waren,  daß 
der  Elephas  primigenius  sich  aus  dem  antiquus 
entwickelt  und  das  gleiche  Verbreitungsgebiet  wie 
jener  besessen    habe;    daß   der  Elephas    africanus 


N.  F.  XXI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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von  Formen  abgeleitet  werden  müsse,  die  dem 
pliozänen  Stegodon  bombifrons  nahestehen;  daß 
der  Elephas  indicus  dem  östlichen,  Elephas  anti- 
quus  dem  westlichen  Nachkommenzweige  des 
Elephas  platifrons  entstamme.  Außerdem  kommt 
das  Mammut  und  seine  Begleitfauna  nicht  seit 
der  letzten  Eiszeit,  in  der  die  Aurignacrasse  ein- 
gewandert ist,  sondern  bereits  seit  dem  Ausgang 
der  ersten  Zwischeneiszeit  bei  uns  vor.  Trotzdem 
werden  die  phantastischen  Ideen  Klaatschs 
von  einigen  seiner  Anhänger  auch  heute  noch 
vertreten,  und  diesen  genügte  die  eine  Tatsache 
der  Enge  des  Alveolarbogens  am  Ehringsdorfer 
Unterkiefer,  um  einer  neuen  Menschenrasse  das 
Wort  zu  reden,  deren  Urvater  zur  Abwechselung 
nicht  Gorilla  und  Orang,  sondern  diesmal  der 
Schimpanse  gewesen  sein  soll. 

Diesen  Phantasien  ernst  und  sachlich  begegnet 
zu  haben,  ist  das  große  Verdienst  Hans  Vir- 
chows.  Er  hat  die  Skelettreste  gründlichst 
untersucht  und  die  Ergebnisse  in  seiner  bekannten, 
etwas  nüchtern  und  trocken  anmutenden  Art  in 
der  oben  genannten  ausgezeichneten  Monographie 
niedergelegt.  Virchow  kommt  zunächst  zu  der 
fundamentalen  Erkenntnis,  daß  der  Unterkiefer 
unter  allen  Knochen  des  Skelettes  besonders  zur 
Variabilität  neige.  Er  beweist  dieses  durch  Ver- 
gleich des  Ehringsdorfer  Kiefers  mit  den  anderen 


längst  bekannten  z.  B.  Krapina,  Le  Moustier, 
Spy  u.  a.  Virchow  schließt  sich  dabei  der 
Ansicht  des  bekannten  Zoologen  Matschie  an, 
daß  es  bei  zahlreichen  Säugetieren,  besonders  den 
Anthropoiden  Lokal  formen  gäbe,  die  unter- 
einander zahlreiche  und  große  Unterschiede  auf- 
weisen können,  obwohl  sie  zu  einer  einheitlichen 
Art  gehören,  und  er  erweitert  die  Gültigkeit  dieser 
Ansicht  auch  auf  die  altdiluvialen  Menschen.  Die 
bisherigen  P'unde  reichen  nicht  aus,  um  die 
Neandertalrasse,  deren  große  Gleichartigkeit  auch 
von  Schwalbe  und  Boule  übereinstimmend 
zugegeben  wird ,  in  mehrere  Unterrassen  zu 
trennen. 

Auch  die  Ehringsdorfer  Reste  machen  davon 
keine  Ausnahme,  sie  stellen  keinen  neuen  Typus 
dar,  denn  ihre  Besonderheiten  fallen  durchaus  in 
die  Variationsbreite  des  Neandertalers  und  die 
alveolare  Prognathie  des  älteren  Unterkiefers  ist 
sehr  wahrscheinlich  auf  krankhafte  Veränderungen 
zurückzuführen.  Virchow  hat  ein  ausgedehntes 
Beweismaterial  von  Anthropoiden,  diluvialen  und 
rezenten  Menschen  herangezogen;  seine  Mono- 
graphie gibt  daher  weit  mehr  als  ihr  Titel  ver- 
spricht; es  ist  keine  Beschreibung  der  Ehrings- 
dorfer Kiefer  allein,  es  ist  schlechthin  eine  Mono- 
graphie des  menschlichen  Unterkiefers  überhaupt. 
Dr.  Fritz  Wiegers. 


Bücherbesprechungen. 


Krause,    R.,    Mikroskopische    Anatomie 
der  Wirbeltiere  in  Einzeldarstellungen. 
I.  Säugetiere.      Mit    75   Originalabbildungen   im 
Text.     VI  +  186  Seiten.    Groß- 8».    Berlin  und 
Leipzig     1921,     Vereinigung     wiss.     Verleger. 
Walter  de  Gruyter  &  Co.     48  M. 
Ein  sehr  zuverlässiges  Werk  über  den  feineren 
Bau    der    verschiedenen  Organe    —    Abbildungen 
sämtlich  original  —   mit  Anweisungen    zur  histo- 
logischen   Mikrotechnik.      Das  Technische    mußte 
zwar    bei    schwierigen    Punkten    etwas    kurz    be- 
handelt werden,  da  wird  manchmal  eine  schwierige 
Methode    nur  genannt,    nicht  beschrieben;    um    so 
dankenswerter  sind   eine  Anzahl  Anweisungen  zu 
einfachen  technischen  Handgriffen.    Bezüglich  des 
mikroskopischen,    natürlich    nicht    etwa    (was    zu 
weit   führen   würde)    zytologischen  Aufbaues   des 
Organismus  gibt  das  Buch  jede  gewünschte  Aus- 
kunft, da  es  vor  der  Histologie,  dem  Gewebebau, 
auch  stets  die  mikroskopische  oder  mit  Lupe  er- 
kennbare  Detailanatomie    der   Organe   behandelt. 
Der   vorliegende   Band  I   behandelt   das  Kanin- 
chen, in  Vorbereitung  sind:  II.  Vögel  und  Rep- 
tilien, III.  Amphibien,  IV.  Fische,  Zyklostomen  und 
Leptokardier.    Ausstattung  recht  gut,  Preis  mäßig. 
V.  Franz,  Jena. 


Verworn,  M. ,  Aphorismen.  39  S.  kl.  8" 
Mit  einem  Bildnis  des  Verfassers.  Jena  1922 
G.  Fischer. 
Frau  Josephine  Verworn  hat  diesfe  im 
Nachlaß  des  verstorbenen  Gatten  gefundenen 
Aphorismen  der  Öffentlichkeit  übergeben.  Ob 
sie  von  ihrem  Verf.  für  diesen  Zweck  gedacht 
waren,  darüber  hat  er  sich  nie  geäußert.  Sie  sind 
ein  wesentlicher  Ausdruck  seines  innersten 
Fühlens  und  Denkens.  „In  jeder  Wissenschaft 
steckt  nur  soviel  Wert,  wieviel  sie  zur  mensch- 
lichen Kulturentwicklung  beizutragen  vermag..."; 
so  wie  dieses  Wort  bewegen  sich  viele  in  den 
höheren  Sphären  des  Denkens.  Doch  findet  sich 
auch  eine  Mahnung  zur  ständigen  Rückkehr  auf 
den  Boden  der  Erfahrung.  1917  wird  bedauert, 
daß  das  deutsche  Volk  nicht  genügend  vor  seiner 
eigenen  Regierung  auf  der  Hut  gewesen  ist,  19 19 
aber  beklagt  Verworn  den  Glauben  Deutsch- 
lands an  die  Schuldlüge.  —  Da  die  politischen 
Betrachtungen  nicht  das  Wesentlichste  an  dem 
Schriftchen  sind,  sei  noch  ein  Wort  allgemeineren 
Inhalts  wiedergegeben:  „Jeder  Mensch  hält  sich 
für  so  wichtig,  wie  ihm  seine  Umgebung  sich 
einzubilden  gestattet."  Solcherlei  findet  sich  noch 
viel  darin.  V.  Franz. 


400 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  Ft  XXI.  Nr.  28 


Anregungen  und  Antworten. 


Auf  die  Bemerkurgen  von  Herrn  Dr.  F  is  c  h  e  r  in  Nr.  II 
dies.  Jahrg.s  zu  meinem  Aufsatz  „Homöopalhie  und  moderne 
Biologie"  1921,  Nr.  44  erlaube  ich  mir  folgendes  zu  er- 
widern, nur  in  äußerster  Kürze  einige  Schiefheiten  zurecht- 
rückend, indem  ich  in  bezug  auf  das  Tatsachenmaterial  abge- 
sehen von  meiner  Schrift  ,,Das  biologische  Grundgesetz  in 
der  Medizin"  Gmelin,  München,  noch  auf  die  beiden  Schriften 
von  Prof.  Schulz  ,,Similia  similibus  curantur",  Gmelin,  Mün- 
chen und  „Rudolf  Arndt  und  das  biologische  Grundgesetz", 
Greifswald,  aufmerksam  mache.  Ich  meine,  wenn  man  das 
darin  angesammelte  Material  vorurteilslos  auf  sich  wirken 
läßt,  kann  man  nicht  mit  Herrn  Dr.  Fischer  sagen:  Die 
Physiologie  lehrt,  daß  die  Wirkungen  quantitativ  verlaufen; 
und  wenn  sie  es  wirklich  lehrt,  so  muß  sie  eben  umlernen, 
denn  Tatsachen  stehen  über  jeder  Lehre.  Das  biologische 
Grundgesetz  will  sagen ,  daß  kleine  Dosen  reizen  und  große 
lähmen,  da  nun  Reiz  und  Lähmung  entgegengesetzte  Zustäude 
des  Organismus  sind,  so  ist  damit  schon  gegeben,  daß  ein 
und  derselbe  Reiz  je  nach  der  Dosierung  eine  entgegen- 
gesetzte Wirkung  haben  kann.  Man  verdunkelt  sich  die  An- 
gelegenheit  unnötig,    wenn    man    wie    Dr.  Fischer    schreibt 

,ln  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  es  sich  wohl  um  die  Häu- 
fung bzw.  die  Übertreibung  der  Wirkung  handeln".  Was 
heißt  übrigens  in  der  Physiologie  ,, Übertreibung"?  Wenn 
Sublimat  in  kleiner  Dosis  die  Kohlensäureproduktion  bei  der 
Hefe  anregt,  in  weniger  kleiner  indifferent  wirkt  und  in 
größerer  Dosis  sie  herabsetzt  und  schließlich  die  Zellen  ab- 
tötet, so  ist  das  eben  keine  quantitative  Wirkung  im  Sinne 
von  Fischer,  es  wirken  vielmehr  kleine  Dosen  umgekehrt 
wie  große.  Dasselbe  gilt  vom  Adrenalin,  bei  dem  große 
Dosen  gefäßerweiternd  wirken,  kleine  ,, dagegen"  gefäßver- 
engernd; das  gleiche  kann  man  erweisen  beim  Alkohol, 
Chloroform,  den  Röntgenstrahlen,  dem  Radium  und  soweit 
mir  bekannt  ist,  von  der  ungeheuren  Mehrzahl,  wenn  nicht 
von  allen  Reizen,  die  einen  Organismus  treffen,  insbesondere 
machen  die  Bakterien  und  ihre  Produkte  keine  Ausnahme. 
Prof.  H  an  s  Mu  ch  schreibt  (Pathologische  Biologie);  „Je  ver- 
dünnter die  Vakzine,   desto   besser",  in  seiner  neuesten  Schrift 

, Spezifische  und  unspezifische  Reiztherapie"  macht  er  auf  die 
Bedeutung  des  b.  G.  aufmerksam,  da  es  gestattet,  eine  große 
Anzahl  von  anscheinend  sich  widersprechenden  Tatsachen 
unter  einem  einheitlichen  Gesichtspunkt  zu  betrachten.  —  Ich 
denke  also  Herr  Dr.  Frisch  er  beruft  sich  zu  unrecht  auf  die 
Physiologie,  wenn  er  die  durchgchends  umgekehrte  Wirkung 
kiemer  und  großer  Dosen  bezweifelt ;  ob  das  b.  G.  im  strengen 
Sinne  ein  Gesetz  ist,  will  ich  trotzdem  dahingestellt  sein  lassen, 
das  nimmt  ihm  aber  kaum  etwas  von  seiner  Bedeutung  für 
Physiologie  und  Medizin.  —  Was  nun  den  Versuch  betrifft, 
mittels  des  b.  G.  die  Homöopathie  dem  modernen  Verständ- 
nis zu  erschließen,  so  kann  man  ja  darüber  diskutieren,  und 
ich  selbst  deute  ja  in  meinem  Aufsatz  an,  daß  sowohl  Gegner 
als  Anhänger  die  Sache  z.  T.  anders  sehen,  was  jedoch  Herr 
Dr.  Fischer  gegen  die  Homöopathie  einwendet,  ist  eine 
falsche  Schlußfolgerung  aus  dem  b.  G.  Da  kleine  Dosen  er- 
regen und  große  lähmen,  so  folgt  aus  dem  b.  G.  durchaus 
nicht,  daß  Kaffee  in  kleinen  Dosen  ein  gutes  Schlafmittel  sei, 
denn  erst  große  Dosen  werden  irgendwann  eine  lähmende 
Wirkung  haben.  '         Dr.  med.  R.  Tischner. 


Über  eine  weiße  Gyromitra  esculenta.  Gelegentlich  einer 
vom  Bunde  zur  Förderung  der  Pilzkunde  unternommenen 
Wanderung  nach  der  Morchclgegend  zwischen  Königswuster- 
hausen und  dem  Spreewald  wurde  ich  von  einem  Bundes- 
mitgliede,  Frl.  Gertrud  Hahn,  auf  eine  weiße  Morchel  auf- 
merksam gemacht,  die  am  Rande  eines  Kiefernschlages  wuchs. 
Der  Schlag  befindet  sich  auf  dem  Westhang  des  4g  m  hohen 
Dubrowberges,  einer  mit  Kiefern  bestandenen  sandigen  Höhe. 
In  diesem    Schlage    findet    man  alljährlich   Morcheln  zwischen 


den  Kiefernstümpfen,  je  nach  der  Witterung  von  Februar  bis 
Mai.  An  der  angegebenen  Stelle  traf  ich  etwa  15  weiße 
Morcheln  auf  einer  Fläche  von  etwa  150  qm  an.  Ringsum 
wuchsen  nur  braune  Morcheln.  Irgendein  Unterschied  zwischen 
den  Standorten  der  braunen  und  der  weißen  Morcheln  in  Be- 
zug auf  Bodenbeschaffenheit,  Feuchtigkeit  und  Belichtung  war 
nicht  zu  bemerken.  Die  weißen  Exemplare  waren  bis  8  cm 
hoch  und  breit  und  glichen  —  makroskopisch  wie  mikro- 
skopisch —  bis  auf  die  kremweiße  Farbe  den  braunen.  Über- 
gangsformen konnte  ich  nicht  entdecken.  Offenbar  handelt 
es  sich  bei  der  weißen  Morchel  um  ein  einziges  Individuum, 
dessen  Myzel  im  Boden  eine  Kreisfläche  von  ca.  14  m  Durch- 
messer durchzieht  und  in  unregelmäßigen  Abständen  über  die 
ganze  Fläche  verteilt,  nicht  etwa  nur  an  der  Peripherie,  seine 
Fruchtkörper  emporsendet. 

Anscheinend  liegt  ein  Fall  von  Albinismus  vor,  der  bei 
Morcheln  und  vielleicht  überhaupt  bei  Pilzen  noch  nicht  be- 
kannt geworden  ist.  lis  wäre  empfehlenswert,  die  Stelle  all- 
jährlich wieder  zu  besuchen.  An  einem  so  gut  gekennzeich- 
neten Individuum,  wie  es  die  weiße  Morchel  ist,  ließen  sich 
Beobachtungen  über  Lebensdauer  und  räumliche  Ausdehnung 
des  Morchelmyzels,  auch  wohl  über  die  Frage  der  angeblichen 
Ausrottung  der  Pilze  durch  das  Abernten  der  Kruchtkörper 
anstellen.  W.  Herter  (Berlin-Steglitz). 


Lichtwellen.  In  der  Zeichnung  sind  die  quer  zur  Erd- 
bahn laufenden  Wellen  ausgezeichnet,  die  längs  der  Erdbahn 
punktiert.  Die  Theorie  vom  ruhenden  Äther  ist  (unter  Weg- 
lassung alles  Nebensächlichen)  in  1,  die  Längenkürzung  von 
Lorentz  in  11,  die  Zeitverdehnung  von  Einstein  in  111, 
die  totale  Mitführung  des  Erdälhers  in  IV  versinnbildlicht. 
L  ist  der  Lichtpunkt,   B  der  Bildpunkt. 


I:   Übereinstimmung    der    Phase    (Koinzidenz)    wird    nicht 

erzielt. 
II :   Durch    Verkürzung   des    Armes    längs    der   Erdbahn  im 

Verhältnis  3  ;  2  wird  Koinzidenz  erzielt. 
III:   Durch  Verspätung    vom  Schwingungsauftakt    längs    der 

Erdbahn  im  Verhältnis   2  :  I   wird  Koinzidenz  erzielt. 
IV:   Beide  Arten    von    Wellen    sind    identisch;    Koinzidenz 

entsteht  von  selbst. 

II  ist  unmöglich,  weil  der  Mi  ch  eis  on  versuch  nur  der 
Grenzfall  für  n=l  aller  Luft- Wasser-Versuche  nach  Mas- 
cart  ist  und  die  Verkürzung  mit  n  wechselt  (Zentr.-Zeitg.  f. 
Optik  u.  Mech.   1922,  Nr.    12). 

III  ist  unmöglich,  weil  der  leuchtende  Punkt  beiden 
Lichtwegen  gemeinsam  ist. 

I  ist  experimentell  widerlegt;  demnach  bleibt  m.  E.  nur 
IV   übrig. 

An  merk.  Die  Zeilverdehnung  von  Eins  lein  ist  eine 
Verspätung  vom  Auftakt,  keine  Verlangsamung  vom  Tempo. 
Prof.  Dr.  Strehl  in   Hof. 


luhalt:  H.  Miehe,  Der  Rhythmus  im  Leben  der  Pflanze.  S.  385.  I.  L.  Wilser,  Sollen  wir  die  Goldwäscherei  am 
Oberrhein  wieder  aufnehmen?  S.  393.  —  Einzelberichte:  H.  Virchow,  Die  menschlichen  Skelettreste  aus  dem 
Weimarer  Kalktuff.  (l  Abb.)  S.  398.  —  Bücherbesprechungen:  R.  Krause,  Mikroskopische  Anatomie  der  Wirbel- 
tiere in  Einzeldarstellungen.  S.  399.  M.  Vcrworn,  Aphorismen.  S.  39<1-  —  Anregungen  und  Antworten:  Homöo- 
pathie und  moderne  Biologie.  S.  400.     Über  eine   weiße  Gyromitra  esculenta.  S.  400.      Lichtwellen.  (I   Abb.)  S.   400. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.   Dr.  II.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in   Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Nfue  Folge  21.  Band; 
ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  i6.  Juli  1922. 


Nummer  39. 


Euklidische  Geometrie,  Physik  und  die  Vierdimensionalität  der  Materie. 

Von  Dr.  .1.  Voigt. 

[Nachdruck  verboten.]  Mit    1 1    Abbildungen. 

Zu  den  Grundanschauungen  der  Euklidischen  entstehen.  Der  Vorgang  läßt  sich  bekanntlich 
Geometrie  gelangen  wir  durch  Abstraktion.  Die  leicht  mit  Hilfe  eines  Fadens  oder  einer  ge- 
weitestgehende Abstraktion  verlangt  der  Begriff  zeichneten  Linie  versinnbildlichen;  Papier  oder 
„Punkt",     denn    er    bildet    die    Grenze     —     das  Tafel  dienen  dabei  als    —    allerdings  bereits  vor- 


„Differential"  —  des  Begrifflichen  in  der  Mathe- 
matik überhaupt;  wir  müssen  dabei  das  Vor- 
handensein von  etwas  sinnlich  unfaßbarem  aner- 
kennen. Wenn  wir  jemanden  zu  diesem  Begjiff 
hinführen  wollen,  pflegen  wir  von  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Dingen  —  etwa  einer  Kegelspitze  — 
auszugehen  und  darauf  hinzuweisen,  daß  weder 
die  feinsten  technischen  Hilfsmittel  noch  die  tat- 
sächliche Beschaffenheit  des  Stoffes  das  herzu- 
stellen gestatten,  was  wir  uns  unter  einem 
exakten  Kegel  oder  einer  Kegelspitze  vorstellen 
müssen,  und  wenn  wir  so  bei  der  idealen  Form 
eines  in  Gedanken  aufgebauten  Gegenstandes  an- 
gelangt sind,  ist  der  letzte  Schritt  zur  völligen 
Abstraktion  nicht  mehr  schwer;  die  Spitze  oder 
besser  die  Grenze  der  idealen  Körperspitze  gegen 
die  Umgebung  bezeichnen  wir  als  Punkt.  Wir 
formulieren  schließlich  so:  Der  Punkt  hat  keine 
Dimension. 

Haben  wir  uns  diese  Erkenntnis  zu  eigen  ge- 
macht, dann  können  wir  aufbauend  weitergehen 
und  sagen:  Durch  die  Bewegung  eines  Punktes 
entsteht  eine  Linie.  Sinnlich  wahrnehmbar  ist  die 
so  erhaltene  Linie  auch  nicht,  aber  wir  kommen 
ihr  doch  in  einer  Beziehung  näher  als  dem 
Punkt,  denn  den  Weg,  den  der  Punkt  zurücklegt, 
können  wir  messend  verfolgen  und  sagen  daher, 
die  Linie  hat  eine  Dimension.  —  Allein,  wenn 
wir  uns  nun  mit  Punkten  und  Linien  näher  be- 
schäftigen und  die  gewonnenen  Ergebnisse  anderen 
übermitteln  wollen,  so  brauchen  wir  sinnlich 
wahrnehmbares  Hilfsmaterial  und  deuten  Punkte 
und  Linien  mit  Hilfe  von  Bleistift  oder  Kreide 
auf  Papier  oder  Tafel  an.  Damit  entfernen  wir 
uns  wieder  vom  Abstrakten  und  gehen  denselben 
Weg  zurück,  der  uns  zum  Ideellen  hingeführt 
hat,  aber  das  schadet  nichts,  solange  wir  dessen 
eingedenk  bleiben,  daß  es  sich  bei  unseren 
Figuren  nur  um  grobsinnliche  Ausdrücke  für 
völlig  abstrakte  Verhältnisse  handelt.  Bei  allen 
geometrischen  Betrachtungen  läuft  also  immer 
eine    unbewußt   geleistete  Geistesarbeit   nebenher. 

Durch     die    Bewegung    eines    Elementes    von 


handene  —  Ebene. 

Durch  die  Bewegung  einer  Fläche  wiederum 
entsteht  ein  sog.  „Körper",  d.  h.,  aus  der  Be- 
wegung eines  zweidimensionalen  entsteht  ein 
dreidimensionales  Element.  —  Der  Sprachge- 
brauch erlaubt  es,  auch  von  der  Entstehung  einer 
bestimmten  Dimension  oder  von  Elementen  der 
ersten,  zweiten  oder  dritten  Dimension  zu  reden. 
—  Zur  Veranschaulichung  des  letzterwähnten 
Vorgangs  bedient  man  sich  mit  Vorliebe  der  Er- 
zeugung von  Rotationsfiguren,  indem  man  z.  B. 
eine  kreisförmige  Fläche  um  ,einen  Durchmesser 
oder  ein  Rechteck  um  eine  Mittellinie  dreht;  sehr 
instruktiv  macht  man  den  Vorgang  klar,  indem 
man  beispielsweise  die  Entstehung  eines  Prismas 
durch  Herausheben  der  Grundfläche  aus  ihrer 
ursprünglichen  Ebene  zeigt  (Abbildung   i). 

Damit  sind  wir  in  das  Gebiet  der  Stereometrie 
gekommen. 

Wenn  wir  jetzt  auf  die  aufgestellten  Grund- 
sätze zurückschauen,  dann  können  wir  sie  in 
einen  allgemeinen  Satz  zusammenfassen,  der 
folgendermaßen  lautet:  Aus  der  Bewegung  von 
Elementen  der  n'«°  Dimension  entstehen  Elemente 
der  (n  +  1)"="  Dimension.  Allerdings  haben  wir 
diesen  Satz  nur  in  bezug  auf  die  3  ersten  Glieder 
von  n  richtig  befunden.  Da  sich  nun  jede  Linie 
auf  die  Einheit  von  der  Größe  a,  jede  Fläche  auf 
die  Einheit  a'-  und  jeder  sog.  Körper  auf  die 
Einheit  a"  zurückführen  läßt,  so  lassen  sich  die 
Einheiten  in  eine  geometrische  Progression  ordnen 
und  wir  erhalten  die  Reihe  a,  a'-,  a^  usw.  — 
Folgerichtig  müssen  wir  nun  durch  die  Bewegung 
eines  Elementes  3'"'  Dimension  zu  einem  Ele- 
ment der  vierten  mit  der  Einheit  a'  kommen. 

Das  Anschauungsexperiment  versagt  jedoch 
hierbei.  Lassen  wir  nämlich  z.  B.  eine  Kugel  um 
einen  Durchmesser  oder  um  eine  außerhalb  ihrer 
selbst  liegende  Achse  rotieren,  so  sehen  wir  im 
ersten  Falle  nichts  Neues,  im  zweiten  F'alle  einen 
Ring  mit  kreisförmigem  Querschnitt  entstehen. 
Nehmen  wir  im  zweiten  Falle  andere  Körper,  so 
erhalten    wir    ebenfalls  Ringe,    natürlich    mit    ent- 


null    Dimensionen    haben    wir    ein    Element    mit  sprechenden    Querschnitten;    wählen    wir    andere 

einer  Dimension    erhalten;    verfolgen  wir  die  Be-  Bewegungsrichtungen     (gerade,    krumme    Wege), 

wegung  einer  Linie,   dann  sehen  wir  eine  Fläche,  so  ändert  sich  prinzipiell  nichts  an  dem  Ergebnis : 

also  aus  der  Bewegung  eines  Elementes  mit  einer  Wir  erhalten  Körper  mit  einem  Querschnitt,    der 

Dimension     ein    solches    mit    zwei    Dimensionen  der  Projektion  des  Ausgangskörpers  auf  eine  senk- 


402 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  29 


recht  zur  Fortbewegungsrichtung  gedachte  Ebene 
entspricht,  aber  jedenfalls  (jebilde,   bei  denen  wir 
keinen     Grund     haben,    ihnen    mehr    als    Drei- 
dimensionalität  zuzusprechen. 
Woran  liegt  das? 

Wenn  unsere  Betrachtungen  überhaupt  einen 
Sinn  gehabt  haben  —  und  das  wird  man  doch 
nicht  bestreiten  wollen  —  dann  miissen  wir  einen 
Fehler  gemacht  haben.  Entweder  hat  also  der 
aufgestellte  Satz  keine  allgemeine  Gültigkeit,  oder 
wir  haben  bei  dem  ständigen  Wechsel  zwischen 
Veranschaulichtem  und  Abstrakten  einen  Fehl- 
sprung getan.  Früher  war  man  allerdings  ge- 
neigt, die  Frage  einfach  dahin  zu  beantworten, 
daß  man  sagte,  es  gäbe  eben  keine  vierte  Dimen- 
sion und  das  Fortschreiten  der  Reihe  a,  a-,  a^, 
a*  usw.  habe  lediglich  arithmetische  Bedeutung. 
Nachdem  man  jedoch  auf  Grund  der  Relativitäts- 
theorie Einsteins  die  Welt  als  vierdimensionales 
Kontinuum  und  die  Materie  als  vierdimensional 
anzusehen  hat,  erscheint  es  doch  nicht  überflüssig 
zu  untersuchen,  ob  sich  die  Entstehung  der  vierten 
Dimension  aus  der  dritten  nicht  doch  ableiten  läßt. 
Natürlich  ist  der  Begriff  der  vierten  Dimension 
uns  noch  ganz  ungewohnt,  neuartig  und  schwie- 
rig ;  zudem  ist  er  djjrch  Einstein-lVIinkowsky 
in  ganz  anderem  Zusammenhang  erkannt 
worden.  Obige  Frage  kann  daher  zunächst  so 
beantwortet  werden:  Weil  es  unserem  Vorstellungs- 
vermögen nock  nicht  gelingt,  vierdimensionale 
Dinge  als  solche  zu  erkennen.  Wenn  wir  unser 
Vorstellungsvermögen  aber  eingehend  und  objektiv 
prüfen,  läßt  sich  sogar  einsehen,  daß  es  uns  selbst 
dreidimensionale  Dinge  nicht  erkennen  läßt  und 
daß  wir  mit  unserer  Anschauungsweise  bereits  in 
der  zweiten  Dimension  stecken  geblieben  sind. 

Dann  muß  aber  auch  unser  Stereometriebegriff 
falsch  seini 

Die  Frage,  wie  haben  wir  uns  eigentlich  die  ste- 
reometrischen P'ormationen  vorzustellen,  erscheint 
auf  den  ersten  Blick  lächerlich.  Wenn  wir  sie 
aber  genau  beantworten  sollen ,  so  kommen  wir 
einigermaßen  in  Verlegenheit,  denn  die  Antwort, 
als  abstrakte  Formen ,  genügt  nicht.  Nehmen 
wir  z.  B.  einen  Kubus  an  und  gehen  von  einem 
beliebigen  Modell  aus,  um  nach  dem  bewährten 
System  der  Abstraktion  zum  Ziele  zu  gelangen ; 
dann  haben  wir  uns  das  Materielle  an  diesem 
Würfel  fortzudenken.  Das  wird  uns  verhältnis- 
mäßig leicht  gelingen,  es  bleiben  dann  sinnlich 
nicht  wahrnehmbare  Kanten  und  Flächen  übrig. 
Das  sind  aber  Elemente  der  ersten  und  zweiten 
Dimension  und  mit  der  Materie  ist  demnach  auch 
das  ,, Dreidimensionale"  verschwunden. 

Übrigens  betrachteten  wir  —  und  tun  dies 
zum  Teil  auch  jetzt  noch  —  die  materiellen  Kör- 
per auch  als  dreidimensional.  Man  wird  be- 
haupten, die  Dreidimensionalität  der  ,, Körper" 
lasse  sich  damit  begründen,  daß  zur  Bestimmung 
der  Lage  eines  Punktes  oder  einer  Fläche  oder 
des  Verlaufs  einer  Kante  an  ihnen  drei  Projek- 
tionen   auf   ebensoviel    sich    schneidende   Ebenen, 


also  drei  Koordinaten  erforderlich  seien.  Das  ist 
aber  lediglich  ein  äußerlicher  Umstand,  der  nur 
unser  Verhältnis  zu  solchem  Körper,  nicht  aber 
eine  ihm  selbst  zukommende  Eigenschaft  aus- 
drückt. Zur  „Erfassung"  der  Gestalt  aller  sicht- 
baren Dinge  haben  wir  —  und  es  ist  der  in  der 
Technik  fast  allein  gebräuchliche  Übermittlungs- 
weg —  eine  mehrfache  Projektion  auf  Ebenen 
nötig.  Das  bedeutet  aber  nichts  anderes,  als  die 
Auflösung  des  Körperlichen  ins  Flächenhafte, 
Zweidimensionale,  weil  wir  eben  nur  Zweidimen- 
sionales jeweils  zu  „erfassen"  vermögen.  Die  Ur- 
sache liegt  vor  allem  im  Bau  unseres  Auges,  das, 
wie  die  photographische  Platte,  an  sich  nur  ein 
flächenhaftes  Bild  liefert.  Das  Sehen  mit  zwei 
Augen  liefert  bekanntlich  zwei  Bilder,  die  auf  sich 
schneidenden  Ebenen  projiziert  sind.  Auch  der 
Tastsinn  bringt  uns  nicht  weiter.') 

Um  es  kurz  zu  sagen:  Unsere  sog.  stereo- 
metrischen Gebilde  sind  nichts  als  aneinander- 
gestellte  Flächen,  welche  einen  bestimmten  Raum 
innerhalb  eines  größeren  abgrenzen  und  daher 
einen  absoluten  Raum  Zur  Voraussetzung  haben. 
Unsere  Grundanschauung  über  die  dreidimensio- 
nalen Körper  ist  also  falsch,  denn  wie  wir  uns 
vom  Begriff  der  absoluten  Zeit  freigemacht  haben, 
so  müssen  wir  uns  auch  von  dem  des  absoluten 
Raumes  loslösen;  wenn  wir  dies  aber  tun  wollen, 
dann  dürfen  wir  dreidimensionale  Gebilde  nicht 
mehr  mit  Bezug  auf  ihre  —  etwaige  —  Umgebung 
oder  von  einer  solchen  aus  betrachten ,  sondern 
müssen  ihr  eigentliches  Wesen  zu  ergründen 
suchen.  Die  Anhaltspunkte  hierzu  soll  uns  ihre 
nach  dem  behandelten  Prinzip  erfolgende  Ent- 
stehungsweise liefern. 


Abb.   I. 


Abb.  2. 


Wir  haben  in  Abb.  i  ein  Prisma  entstehen 
lassen,  indem  wir  seine  Grundfläche  parallel  zu 
sich  selbst  aus  ihrer  ursprünglichen  Lage  beweg- 
ten.     Wir    betrachten    nun    den    Fall,     daß    sich 

')  Nur  Raum  grenzen  können  wir  wahrnehmen.  Die 
Brechung  oder  die  Krümmung  der  Fläche  erscheint  uns  als 
räumliches  Ereignis,  obgleich  sie  die  undurchdringliche  Grenze 
bildet,  die  zwischen  uns  und  dem  Räumlichen  selbst  gezogen  ist. 

Wenn  wir  vor  einer  Mauer  stehen,  so  sind  wir  uns  über 
die  uns  zugekehrte  Kläche  sofort  im  klaren,  über  die  Dicke 
,, empfinden"  wir  nichts;  angesichts  einer  Gebirgswand  sind 
wir  nicht  imstande  zu  entscheiden,  ob  wir  uns  vor  einem 
Höhenzug  oder  einem  Hochplateau  befinden.  Wir  haben 
keine  Empfindung  für  das  räumlich  Dreidimensionale,  sonst 
müßten  wir  in  diesen  Fällen  irgendeinen  Eindruck  über  die 
dritte  Art  der  Ausdehnung  empfangen.  Die  Beschäftigung 
mit  physiologisch-psychologischen  Dingen  liegt  jedoch  nicht 
im  Rahmen  der  vorstehenden  Abhandlung. 


N.  F.  XXI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


403 


gleichzeitig  zwei  solcher  Rechtecke,  die  in 
verschiedenen  Ebenen  liegen  und  eine  gemein- 
schaftliche Seite  haben,  in  ähnlicher  Weise  be- 
wegen, so  daß  (Abb.  2)  ein  ebensolches  Prisma 
entsteht. 

Dies  eine  Beispiel,  dem  sich  leicht  viele  ähn- 
liche zur  Erzeugung  der  verschiedensten  bekannten 
stereometrischen  Formen  an  die  Seite  stellen 
ließen,  mag  genügen,  um  zu  erkennen,  daß  wir 
durch  ganz  verschiedene  Bewegungsvorgänge  zu 
einer  und  derselben  stereometrischen  Form  ge- 
langen können.  Dann  aber  erhebt  sich  die  Frage: 
Sind  alle  diese  „Körper",  die  sich  äußerlich  gar 
nicht  voneinander  unterscheiden,  untereinander 
identisch.'  —  Offenbar  sind  sie  es  nicht, 
denn  ihre  Entstehungsursache  muß  doch  irgend- 
einen Einfluß  auf  ihre  „räumliche",  ihre  „innere", 
ihre  „individuelle"  Beschaffenheit  ausüben  I  — 
Wenn  wir  dies  anerkennen,  dann  kommen  wir 
dazu,  ihnen  eine  durch  ihre  Entstehungsweise  be- 
dingte Struk  tu  r  zuzuschreiben  und  haben  dann 
nicht  mehr  rein  stereometrische,  sondern  stereo- 
logische Gebilde. 

Es  ist  klar,  daß  wir  mit  der  Aufstellung  eines 
solchen  Begriffs  den  Bereich  der  Euklidischen 
Geometrie  verlassen  haben  und  in  das  Gebiet 
der  Physik  gekommen  sind.  Wir  haben  dieses 
Bewegungsprinzip  hier  beim  Übergang  der  zweiten 
in  die  dritte  Dimension  zur  Geltung  gebracht, 
aber  es  ist  selbstverständlich,  daß  sich  dasselbe 
in  ähnlicher  Weise  ebensogut  auf  frühere  Über- 
gänge übertragen  ließe.  Obgleich  es  daher  viel- 
leicht logischer  wäre,  mit  den  folgenden  Unter- 
suchungen bei  den  niederen  Dimensionen  einzu- 
setzen ,  wollen  wir  aus  praktischen  Gründen  auf 
dem  einmal  beschrittenen  Wege  weiter  fortfahren. 
Wir  nehmen  deshalb  an,  daß  zweidimensionale 
Elemente  bereits  vorliegen  und  beschäftigen  uns 
eingehend  mit  der  Entstehung  der  dritten  Di- 
mension. 


Abb.  3. 


Abb.  4. 


Die  Richtungen  der  Dimensionen  nennt  man 
Koordinaten  und  ordnet  sie  in  ein  Koordinaten- 
system ein.  Wenn  wir  also  von  der  zweiten  Di- 
mension ausgehen,  so  betrachten  wir  ein  System 
mit  zwei  Koordinaten  als  gegeben. 

Abb.  3  stelle  ein  solches  (rechtwinkliges)  System 
dar  und  damit  nun  eine  dritte  Koordinate  zustande 
kommt,  muß  sich  dieses  System  O  bewegen. 
Vergegenwärtigen  wir  uns  solchen  Vorgang 
zeichnerisch,  dann  erhalten  wir  etwa  das  Bild 
nach  Abb.  4. 

Danach   hätte   sich  unser  System  von  o  nach 


o*  bewegt;  es  müßte  daher  jetzt  in  o'  sein  und 
wir  hätten  die  3.  Dimension  o  o'  erhalten.  Wir 
dürfen  jedoch  nicht  außer  acht  lassen,  daß  es  sich 
bei  unserer  Aufgabe  nicht  um  relative,  sondern 
um  absolute  Bewegung  handeln  soll.  Bei  der 
Annahme  jedoch,  daß  sich  das  System  nun  in  o^ 
befinde,  müßten  wir  o  als  einen  festgelegten  Punkt 
ansehen  und  damit  wären  wir  wieder  ganz  von 
der  Vorstellung  eines  absoluten  Raumes  befangen. 
Wir  haben  es  also  nicht  etwa  mit  einem  Orts- 
wechsel zu  tun,  sondern  nach  Aufhören  der  Be- 
wegung erhalten  wir  unser  zweidimensionales 
System  einfach  wieder  zurück  und  können  nicht 
von  einer  dritten  Dimension  sprechen.  D.  h.,  die 
Dimension  existiert  nicht  schon ,  wenn  einmal 
eine  Bewegung  stattgefunden  hat,  sondern  nur, 
solange  eine  Bewegung  zwischen  O  und  o^ 
stattfindet.  Wenn  00*  daher  einer  Dimension 
entsprechen  soll,  dann  müssen  fortwährend 
Systeme  von  o  nach  o'  unterwegs  sein  I 

Ein  solcher  Vorgang  ist  zunächst  natürlich 
sehr  schwer  vorstellbar,  der  gewohnte  Umgang 
mit  Materie  und  den  sog.  konservativen  Kräften 
ist  uns  dabei  äußerst  hinderlich.  Wir  können 
jedoch  unserem  Vorstellungsvermögen  etwas  zu 
Hilfe  kommen,  wenn  wir  annehmen,  daß  unser 
System  nach  einer  gewissen  Zeit  die  Bewegungs- 
richtung ändert,  etwa  in  umgekehrtem  Sinne, 
dann  erhallen  wir  eine  Koordinate  aus 

V  .  t  =  o  o' 
das  Vorzeichen  ist  dabei   nicht  von  Bedeutung. 

Auf  Grund  solcher  Betrachtungen  sind  wir 
gezwungen,  unseren  allgemeinen  Satz  von  der 
Entstehung  einer  (n  +  i)'«°  Dimension  dahin  auf- 
zufassen, daß  wir  unter  Bewegung  schlechthin 
eine  dauern  d  gleichgerichtete,  oszillierende  oder 
rotierende  Bewegung  zu  verstehen  haben.  Auf 
die  letztere  Bewegungsart  wollen  wir  noch  näher 
eingehen  und  zwar  werden  wir  das  zunächst 
wieder  ganz  im  Sinne  unserer  früheren  An- 
schauungsweise tun. 

Zu  diesem  Zwecke  lassen  wir  eine  Kreis- 
linie, Abb.  5, 


Abb.   5.  Abb.  6. 

um  den  in  der  Abbildung  angedeuteten  Durch- 
messer als  Achse  rotieren.  Wir  erhalten  dann 
natürlich  eine  Kugeloberfläche,  d.  h.  ein 
zweidimensionales  Element.  —  Nichts  hindert  uns, 
den  angegebenen  Kreis  nicht  als  Linie,  sondern 
als  Kreisfläche    zu   betrachten.      Dann    müssen 


404 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  29 


wir  bei  der  Rotation  eine  Kugel,    d.  h.   ein  drei- 
dimensionales Element  erhalten. 

Wir  machen  jetzt  ein  ganz  ähnliches  Experi- 
ment mit  einem  Rechteck,  das  sich  gemäß  Abb.  6 
um  eine  Mittellinie  drehen  soll. 

Die  vier  sich  rechtwinklig  schneidenden  Linien 
müssen  dann  eine  Zylinderoberfläche,  die  recht- 
eckige Fläche  muß  einen  körperiichen  Zylinder 
liefern. 

Man  wird  nach  der  bisher  üblichen  Betrach- 
tungsweise schwerlich  einen  Unterschied  zwischen 
den  entstandenen  Oberflächen  und  den  körpei- 
lichen  Gebilden  angeben  können,  der  aber  doch 
vorliegen  muß.  Uns  sollen  hier  vor  allem  dia 
dreidimensionalen  Gebilde  interessieren  und  da 
uns  ihre  lediglich  „stereometrische"  Auffassung 
nicht  mehr  befriedigt,  so  wollen  wir  sie  auf  ihre 
„Struktur"  untersuchen.  Wir  können  dabei  weiter 
nichts  feststellen,  als  daß  sich  bei  beiden  Bei- 
spielen alles  konzentrisch  um  die  Achse  dreht. 
Legen  wir  durch  die  Kugel  oder  durch  den 
Zylinder  senkrecht  zur  Achse  Schnitte,  so  können 
die  Schnitte  nur  Strukturkreise  liefern,  durch 
deren  Mittelpunkte  die  Achsen  gehen.  Schnitte 
parallel  zu  den  Achsen  müssen  ein  anderes,  aber 
bei  beiden  strukturell  gleiches  Bild  ergeben.  Da 
nun  aber  die  Wahl  des  Kreises  und  des  Recht- 
ecks als  Ausgangsflächen  eine  rein  willkürliche 
war,  so  müßte  allen  mit  den  beliebigsten  Grund- 
flächenfiguren erzeugten  Rotationskörpern  ein 
und  dieselbe  Stfuktur  eigen  sein.  —  Dies  ist  aber 
ein  Unding,  denn  wir  müssen  logischerweise  ver- 
langen, daß  aus  der  Rotation  einer  Kreisfläche 
nur  eine  Kugel,  aus  der  Rotation  einer  Recht- 
ecksfläche nur  ein  Zylinder  entstehen  kann,  und 
es  ist  ganz  selbstverständlich,  daß  eine  Kugel 
eine  von  der  eines  Zylinders  vollständig  ver- 
schiedene Struktur  haben  muß. 

Um  aber  zu  stereologischen  Gebilden  mit 
individueller  Struktur  zu  gelangen,  genügt  es  nicht 
mehr,  lediglich  den  Übergang  von  der  zweiten  in 
die  dritte  Dimension  physikalisch  zu  behandeln. 
Was  wir  jetzt  mit  „Dimension"  bezeichnen,  ist 
nicht  mehr  ein  Ruhezustand,  sondern  ein  Be- 
wegungsvorgang, kein  statischer,  sondern  ein 
kinetischer  Begriff.  Wir  müssen  daher  die  Ent- 
stehung von  Elementert  der  ersten  und  zweiten 
Dimension  in  analoger  Weise  vor  sich  gehen 
lassen,  wie  wir  es  vorhin  prinzipiell  für  das  Zu- 
standekommen der  dritten  besprochen  haben. 

Unter  diesen  Gesichtspunkten  gelangen  wir  in 
etwa  folgender  Weise  zu  einer  Kugel.  Wir  nehmen 
zunächst  die  —  sagen  wir  —  oszillatorische  Be- 
wegung eines  Punktes  unter  Entstehung  einer 
Linie  an  (Abb.  7  a);  sodann  soll  der  eine 
Wendepunkt  des  so  entstandenen  „Radius"  eine 
kreisförmige  Bewegung  um  den  anderen  machen  (b) 
und  die  nun  entstandene  I<"läche  schließlich  um 
einen  beliebigen  Durchmesser  rotieren  (c),  damit 
eine  Kugel  entsteht. 

Ferner  lassen  wir  eine  Linie  in  gleicher  Weise 


wie    nach    Abb.    7  a   gemäß    Abb.    8  a    entstehen, 
diese  Linie  führe 


Abb.   7. 


.\bb.  S. 

eine  oszillatorische  Bewegung  parallel  zu  sich 
selbst  aus  (b),  so  daß  ein  Rechteck  gebildet  wird 
und  dieses  drehe  sich  um  eine  Mittellinie  (c), 
wodurch  ein  Zylinder  zustande  kommt. 

Die  beiden  soeben  angeführten  Beispiele  sollen 
natürlich    keinen    Anspruch    darauf   machen,    eine 
korrekte  Antwort   auf  die   Frage   zu    geben,    wie 
eine    Kugel    oder    ein    Zylinder    nun    wirklich    er- 
halten wird.     Die  Lösung  dieser  Aufgaben  würde 
eine    gründliche     mathematische    Durcharbeitung 
des    Problems    erfordern,    zu    der    dem    Verf.    die 
Mittel     durchaus     fehlen.       Sie     sollen     lediglich 
prinzipiell  den  Strukturunterschied  zwischen  Kugel 
und  Zylinder  erkennen  lassen   und  tun  dies  trotz 
ihrer  Unvollkommenheit  einigermaßen  befriedigend. 
Je  mehr  man  sich  nämlich  in  sie  hineindenkt,   je 
mehr  wird  man  erkennen,  daß  die  Bewegung  auf 
jeden  Schnitt    durch  die  Kugel  eine  Fläche  mit 
ineinander    verschlungenen    Kreisen    darstellt,    so 
daß  man  also  an  jeder  Stelle  gewissermaßen  eine 
Kugel    in    der    anderen    sitzend    vorfinden  müßte. 
Bei    dem    Zylinder    liefert    der    Querschnitt   senk- 
recht zur  Achse  eine  ähnliche  kreisförmige  Struktur, 
während    der  Längsschnitt    nur   Parallelbewegung 
zur  Achse  ergibt.     In   beiden  Fällen   ist  also  der 
ursächliche  Zusammenhang  zwischen  Struktur  und 
äußerer    Form    gewahrt    und    das    ist    der    Angel- 
punkt,   um    den   sich  die  ganze  Auffassung  dreht. 
Soweit  wir  uns  mit  rein  theoretischen  Betrach- 
tungen abgeben  wollen,  mag  dies  —  andeutungs- 
weise —  genügen.     Da  wir  aber  Anspruch  darauf 
gemacht    haben,    physikalische    Vorgänge    zu    be- 
schreiben,    muß     die    Kontrollierbarkeit    unserer 
Folgerungen  an  den  Dingen  der  Natur  selbst  dar- 
getan werden. 

Rein  äußerlich  sind,  wie  bekannt,  gewisse 
stereometrische  Formationen  den  natürlichen  Kri- 
stallen mit  nicht  zu  übertreffender  Genauigkeit 
auf  den    Leib    geschnitten.     Aber    wir  finden  bei 


N.  F.  XXI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


405 


den  Kristallen  weit  mehr,  nämlich  eine  weit- 
gehende Analogie  für  .das  Postulat  eines  Zusam- 
menhangs zwischen  äußerer  Form  und  räumlicher 
Struktur  1  Diese  Analogie  tritt  in  den  Erschei- 
nungen der  Hemiedrie  usw.,  des  Isomorphismus 
sowie  in  denjenigen  der  Kristalloptik  zutage;  das 
wichtigste  Vergleichsmoment  aber  bildet  die 
Eigenschaft  der  Kristalle,  die  es  erlaubt,  aus  einem 
größeren  Objekt  an  einer  beliebigen  Stelle  ein 
kleineres  herauszuspalten,  das  genau  dieselben 
physikalischen  Eigenschaften  wie  der  Mutterkristall 
aufweist.  Die  Analogie  erscheint  hiernach  so 
vollständig,  daß  man  versucht  sein  könnte,  die 
Kristalle  als  wirkliche  Repräsentanten  dreidimen- 
sionaler Art  anzusprechen. 

Unsere  früheren  euklidisch  -  stereometrischen 
Gebilde  konnten  allerdings  nur  wesen-  und  ge- 
wichtslos sein.  Nachdem  wir  aber  physikalisches 
Gebiet  betreten  haben,  müssen  wir  doch  im  Ver- 
folg unserer  Untersuchungen  über  die  Entwick- 
lung der  Dimensionen  irgendwo  auf  Eigenschaften, 
die  der  sog.  JVIasse  eigentümlich  sind,  also  zu- 
nächst auf  Schwere  stoßen.  Das  Materielle  an 
den  Kristallen  brauchte  also  kein  unbedingtes 
Hindernis  für  die  Annahme,  zu  der  wir  durch 
jene  Analogie  verführt  wurden,  zu  sein,  sie  stößt 
aber  auf  starke  Bedenken,  wenn  wir  nicht  nur  die 
physikalische,  sondern  auch  die  chemische  Be- 
schaffenheit der  Kristallsubstanz  berücksichtigen.  — 
Chemisch  völlig  verschiedene  Substanzen  können 
demselben  kristallographischen  System  angehören, 
also  strukturverwandt  sein.  Isomorphe  Kristalle 
von  Verbindungen  gruppenweise  zusammengehöri- 
ger Elemente  können  übereinanderwachsen  und 
bieten  so  ein  Bild  vollständiger  Strukturidentität. 
Die  Übereinstimmung  zwischen  solchen  Kristallen 
ist  also  eine  rein  morphologische,  aber  keine  sub- 
stantielle. Wollen  wir  das  mathematisch  zum 
Ausdruck  bringen,  dann  müssen  wir  etwa  sagen, 
das  Morphologische  an  diesen  Kristallen  ist  drei- 
dimensional und  läßt  sich  daher  auf  die  Einheit 
a^  zurückführen,  soll  aber  auch  das  Substantielle 
mit  zum  Ausdruck  gebracht  werden,  dann  sind 
Indices  erforderlich ;  man  müßte  also  z.  B.  etwa 
schreiben : 

a^  schwarz,  D  =  7,25,  ....  (Bleiglanz) 
a^  weiß,  D  =  2,i6,  ....  (Kochsalz). 
Solche  Glieder  passen  jedoch  nicht  in  unsere 
Reihe  a,  a-,  a^,  a*,  a*  usw.  und  wir  erkennen,  daß 
der  Materie  offenbar  ein  höherer  Exponent  als  3 
zukommt.  Die  Größe  desselben  ist  also  näher 
zu  bestimmen. 

Die  Mittel  zur  Lösung  dieser  Aufgabe  kann 
uns  nur  die  modernste  Wissenschaft,  die  Atom- 
physik, liefern.  Sie  betrachtet  das  Atom  als  aus 
positiver  Kernladung  und  negativen  Elektronen 
bestehend,  sie  kennt  keinen  Unterschied  zwischen 
Masse  und  Energie  mehr,  es  gibt  nur  Energie- 
zentren und  Bewegung,  hier  gehen  nur  Beziehun- 
gen zwischen  meßbaren  Größen;  Bilder,  x'\n- 
schauungsmodelle,    an    sich    unrichtig,    vermitteln 


dennoch  in  unentbehrlicher  Weise  die  Verständi- 
gung und  erleichtern  die  Ausdrucksweise. 

Eine  dem  Atomkern  und  den  Elektronen  ver- 
wandte Erscheinung  ist  der  Helmholtzsche  Wirbel- 
ring, von  dem  es  heißt,  er  sei  Bewegung  in  einer 
reibungslosen  Flüssigkeit,  mit  den  sog.  konser- 
vativen Kräften  weder  hervorzubringen  noch  zu 
zerstören.  Als  man  sich  die  Wirkungen  der  Ener- 
gien noch  nicht  ohne  den  Äther  vorstellen 
konnte,  hat  man  diesen  auch  als  Träger  solcher 
Wirbelringe  betrachtet.  Die  heutige  Physik  nimmt 
dem  Äther  gegenüber  eine  Stellung  ein,  welche 
von  der  früheren  jedenfalls  sehr  verschieden  ist, 
und  vermag  auch  ohne  ihn  auszukommen.  Läßt 
man  nun  den  Äther  vollständig  aus  dem  Spiele 
und  erinnert  sich  des  über  „Dimensionen"  Ge- 
sagten, was  ist  dann  ein  solcher  Wirbelring.''  — 
Dann  ist  ein  Wirbelring  ein  Nichts  in  einem 
Nichts,  entstanden  aus  der  Bewegung  von  Punkt, 
Linie  und  F"läche ,  ein  wahrer  Repräsentant  der 
dritten  Dimension  1 

Man  kann  wohl  auch  sagen:  Der  Wirbelring 
ist  ein  Energiezentrum  von  mathematisch  be- 
stimmter Form  und  genau  berechneten  Eigen- 
schaften. Was  Atomkern  und  Elektronen  anbe- 
trifft, so  hat  man  die  erste  Annahme,  daß  man 
es  bei  ihnen  mit  Helmholtzschen  Wirbelringen 
zu  tun  habe,  fallen  lassen,  aber  ähnliche  Gebilde, 
deren  konstruktive  Eigenschaften  zu  berechnen 
z.  Z.  wohl  eine  der  schwierigsten  Aufgaben  der 
höheren  und  höchsten  Mathematik  ist,  wird  man 
sich  unter  Kern  und  Elektronen  vorzustellen  haben, 
und  wir  sprechen  sie  deshalb  ebenfalls  als  Re- 
präsentanten dritter  Dimension  an. 

Kern  und  Elektronen  sind  in  ständiger  Be- 
wegung; durch  Bewegung  von  Elementen  dritter 
Dimension  aber  müssen  Elemente  der  vierten 
entstehen.  Das  Atom  ist  also  vierdimen- 
sional,  damit  ist  der  Exponent  bestimmt  und 
die  Einheit  der  Materie  mit  dem  Glied  a^  in 
unserer  Reihe  einzusetzen.  Ebenso  wie  durch  die 
Bewegung  verschieden  vieler  Elemente  zweiler 
Dimension  untereinander  strukturverschiedene 
Prismen  usw.  (vgl.  Abb.  2)  gebildet  wurden,  so 
müssen  aus  der  Bewegung  ungleicher  Mengen 
Kerne  und  Elektronen  „struktur"  -  verschiedene 
Atome  und  Moleküle,  verschiedene  chemische 
Elemente  und  Verbindungen  entstehen. 

Die  „Welt"  ist  nach  Einstein-Mi nkowsky 
ein  vierdimensionales  Kontinuum.  Sie  ist  endlich, 
aber  unbegrenzt,  genau  so  wie  die  Oberfläche 
einer  Kugel.  Am  Sternenhimmel  sehen  wir  die 
Fixsterne,  die  unserer  Sonne  ähnlich  sind,  von 
denen  jeder  also  auch  sein  Planetensystem  haben 
wird.  Man  war  überrascht,  im  Aufbau  der  Materie 
eine  unserem  Planetensystem  ähnliche  Kombi- 
nation zu  finden.  Im  Atom  sind  es  dreidimen- 
sionale Elemente,  welche  durch  ihre  Bewegung 
die  vierdimensionale  Materie  erzeugen ,  die  Be- 
wegung dessen,  was  wir  Materie  nennen,  muß 
daher  die  Entstehung  der  fünften  Dimension  zur 
P'olge  haben.    Es  drängt  sich  daher  die  Annahme 


4o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  29 


auf,  daß  die  Planetensysteme  untereinander  zu 
einem  fünfdimensionalen  „Homokontinuum"  in  ähn- 
lichem Verhältnis  stehen,  wie  die  Atome  zur 
IVIaterie.  Es  würde  allerdings  über  unsere  Be- 
griffe gehen,  die  Bewegung  der  Fixsternsysteme 
als  „Ganzes"  zu  erfassen.  Nach  der  Einstein- 
Minkowskyschen  Auffassung  des  vierdimensionalen 
Kontinuums  muß  sich  dieses  zu  einem  fünf- 
dimensionalen Homokontinuum  wie  die  Kreislinie 
zur  Kreisfläche  oder  die  Kugeloberfläche  zum 
Kugelkörper  verhalten,  letzteres  also  endlich  und 
begrenzt  sein.  Als  Konsequenz  solcher  Über- 
legung können  wir  unserer  Einheitsreihe  noch 
das  Glied  a'  hinzufügen. 

Glieder  höherer  Ordnung  lassen  sich  heute 
nicht  voraussehen.  Vorläufig  werden  wir  übrigens 
genug  daran  zu  tun  haben,  uns  mit  der  Vier- 
dimensionalität  unserer  eigensten  Welt  vertraut 
zu  machen. 

Von  den  dreidimensionalen  Elektronen  kann 
bekanntlich  eine  Strahlung  ausgehen.  Da  bei  der 
Strahlung  ein  Energietransport  stattfindet,  so 
müssen  in  Richtung  des  Strahles  neu  erregte 
Energiezentren  abströmen.  Nur  bei  einer  Energie- 
form, der  Elektrizität,  hat  man  Elementarquanten 
mit  Sicherheit  festgestellt;  wie  wir  heute  von 
Elektronen  reden,  wird  man  später  vielleicht  auch 
von  Magnetonen ,  Lumionen,  Thermionen  und 
Gravitonen  sprechen  können. 

Die  Annahme  der  Dreidimensionalität  der 
Elementar(]uanten  muß  zu  ganz  bestimmten  Konse- 
quenzen führen.  Dies  soll  an  einem  Beispiel 
näher  gezeigt  werden.  Dazu  müßte  nun  aller- 
dings die  Konfiguration  des  betreffenden  Elemen- 
tarquantums  gegeben  sein.  Da  hierüber  aber 
nichts  bekannt  ist,  so  soll  als  Beispiel  der  Helm- 
holtzsche  Wirbelring  dienen,  von  dem  wir  dabei 
annehmen  müssen,  daß  er  irgendwo  erregt  und 
mit  Lichtgeschwindigkeit  abgestoßen  worden  sei. 

Abb.  9  stellt  einen  solchen  Ring  dar: 


.•\bb.  9. 


Die  Pfeile  a  deuten  die  Richtung  der  Wirbel- 
bewegung, der  Pfeil  b  die  Richtung  des  Strahles 
an.  —  Infolge  der  Lore  n  tzVerkürzung  muß 
sich  der  Wirbclring  zu  einem  Kreisring  abplatten. 
Von  der  kreisförmigen  Bewegung  a  wird  also  die 
Komponente  der  Richtung  b  vollständig  aufge- 
hoben und  es  bleibt  nur  die  Bewegung  c  nach 
Abb.  10  übrig,  d.  h.  der  äußere 


Kreis  zieht  sich  bis  zur  Größe  des  inneren  zu- 
sammen und  dehnt  sich  umgekehrt  wieder  bis  zur 
ursprünglichen  Größe  aus,  indem  eine  Art  pul- 
sierender Bewegung  stattfindet.  —  Das  Ganze 
bewegt  sich  in  Richtung  b;  infolgedessen  be- 
schreibt jeder  Punkt  der  Peripherie  eine  Wellen- 
bewegung. Denkt  man  sich  den  inneren  Kreis 
sehr  klein,  dann  bietet  das  Bild,  das 


wir  nach  Abb.  1 1  erhalten,  eine  augenfällige  Ähn- 
lichkeit mit  einem  unpolarisierten  Lichtstrahl, 
welcher  bekanntlich  transversale  Schwingungen 
in  allen  möglichen  durch  die  Strahlrichtung  ge- 
legten Ebenen  aufweist,  ^^'ir  haben  hier  also  so 
etwas  wie  ein  „Lumion"  vor  uns.  Im  Strahl 
handelt  es  sich  aber  offenbar  nicht  um  ein  einzelnes, 
sondern  um  viele  direkt  —  d.  h.  um  den  Ab- 
stand einer  Wellenlänge  —  hintereinander  her 
eilenden  Quanten. 

Damit  haben  wir  folgenden  Fall:  Ein  drei- 
dimensionales Element  verliert  infolge  seiner  Ge- 
schwindigkeit eine  Dimension  und  geht  in  ein 
Element  zweiter  Dimension  über.  Ein  bemerkens- 
werter Fall  von  einer  Art  Abbau,  der  zeigt,  daß 
es  sich  um  ein  Ineinanderübergehen  der  Dimen- 
sionalitäten  je  nach  den  Bedingungen  handelt, 
ähnlich,  wie  aus  Masse  Energie  werden  kann  und 
umgekehrt.  Der  Strahl  entsteht  durch  Bewegung 
in  derselben  Richtung  aufeinanderfolgender  Ele- 
mente zweiter  Dimension,  er  ist  also  selbst  drei- 
dimensional und  zwar  haben  wir  hier  gerade  den 
Fall,  den  wir  oben  als  „schwer  vorstellbar"  be- 
zeichneten. Die  Struktur  des  dreidimensionalen 
Strahls  (des  Feldes)  entspricht  der  den  zwei- 
dimensionalen IVIutterelementen  eigentümlichen 
Bewegung  und  ist  wellenförmig. 

Eine  solche  Auffassung  vereinigt  gewisser- 
maßen Undulations-  und  Emissionstheorie.  Wie- 
weit   sie    sich   den    weitgehenden   Anforderungen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


407 


der  verschiedenen  optischen  (oder  sonstigen  physi- 
kalischen) Erscheinungen  anpassen  läßt,  kann  hier 
nicht  weiter  nachgeprüft  werden,  einmal,  weil 
die  Konfiguration  des  Wirbelrings  mehr  beispiels- 
weise denn  als  Spezifikum  benutzt  wurde,  insbe- 
sondere jedoch,  weil  es  dem  Verf.  an  mathema- 
tischer Behandlungsmöglichkeit  des  Problems  ge- 


bricht. Er  mußte  sich  daher  darauf  beschränken, 
in  der  vorstehenden  Abhandlung  eine  mehr  an- 
deutende als  erschöpfende  Darstellung  zu  geben. 
Vielleicht  aber  bieten  seine  Gedanken  dem  einen 
oder  anderen  von  denjenigen,  die  im  Besitz  des 
erforderlichen  mathematischen  Rüstzeugs  imstande 
sind,   sie  objektiv   zu   kritisieren,   eine  Anregung. 


[Nachdruck  verboten.] 


Über  Generationsrhythmen  beim  Menschen. 

Von  Priv.-Dor.  Dr.  Haus  Günther,  Leipzig. 


Die  Aufklärung  der  Vererbungsverhaltnisse 
hat  zwar  beim  Menschen  wesentlich  größere 
Schwierigkeiten  zu  überwinden  als  das  Studium 
einfacher,  experimenteller  Bastardierungsversuche 
an  vielen  pflanzlichen  und  tierischen  Organismen, 
doch  gelang  es,  die  Vererbung  mancher  Ano- 
rnalien  auf  einfache  Vererbungsregeln  (besonders 
Spaltungsregeln)  zurückzuführen.  Man  begnügte 
sich  dabei,  den  Zufall  bei  der  Chromosomenver- 
teilung wirken  zu  lassen  und  die  Zahlenverhält- 
nisse der  möglichen  Kombinationen  an  einem 
größeren  Material  experimentell  wiederzufinden. 
Abweichende  Zahlenverhältnisse  ließen  sich  durch 
kompliziertere,  oft  recht  weitgehende  Faktoren- 
hypothesen deuten.  Die  so  geartete  psychische 
Einstellung  auf  Vererbungsvorgänge  lenkte  die 
Aufmerksamkeit  ab  von  einem  anderen  Phänomen, 
welches  sich  doch  bei  manchen  menschlichen 
Stammbäumen  als  Hinweis  auf  irgendeine  Ge- 
setzmäßigkeit aufdrängen  mußte. 

Ich  meine  das  regelmäßige  Alternieren 
von  I  bis  2  Trägern  des  anormalen  Merkmales 
(Zeichen  a)  mit  i  bis  2  Nichtträgern  (A)  inner- 
halb einer  Generation.  Wir  finden  also  dem  Alter 
nach  geordnete  Geschwisterreihen  etwa  in  folgen- 
den Anordnungen :  A  A  A  A  A  oder  A  A  A  A  A  A  A 
oder  AaAAaAAA-  Es  liegt  natürlich  nahe, 
hier  nach  irgendeiner  Gesetzmäßigkeit  zu  suchen. 
Es  war  daher  nötig,  die  genaue  zeitliche  Folge 
der  einzelnen  Geburten  zu  erfahren.  Eine  mir 
bekannte  Albino  familie,  welche  in  einer  Reihe 
von  13  Geschwistern  mit  6  Albinos  ein  auffälliges 
Alternieren  erkennen  ließ  und  die  genaue  Fest- 
stellung der  Geburtsdaten  ermöglichte,  bot  mir 
hierzu  eine  günstige  Gelegenheit. 

Es  ergab  sich  nun,  daß  die  Albinos  und  die 
darauffolgenden  Nichtalbinos  sich  jeweils  in  gleich- 
lange Zeitintervalle  einordnen  ließen.  Wir 
wollen  die  Intervalle,  in  welche  die  mit  der  be- 
treffenden Anomalie  Behafteten  fallen,  als  „nega- 
tive", die  anderen  als  „positive"  Intervalle  be- 
zeichnen. Weiter  untersuchte  ich  eine  größere 
Zahl  von  aus  der  Literatur  bekannten  Albino- 
stammbäumen mit  dem  Ergebnis,  daß  auch  hier 
besonders  die  alternativen  Geschwisterreihen  sich 
immer  (abgesehen  von  einigen  kleinen  Schwan- 
kungen) in  diese  Intervalle  einordnen  ließen,  deren 
Dauer  stets  2'/2  Jahre  betrug.  Viele  Reihen 
mit  ausgeprägtem  Alternieren  waren  leider  nur  mit 


mangelhaften  Altersangaben  versehen,  doch  ließ 
sich  auch  hier  teils  mit  Sicherheit,  teils  nur  mit 
Wahrscheinlichkeit  eine  Abgrenzung  nach  Zeit- 
intervallen vornehmen. 


hb  hs  /so  /ss 

O  D  I   ■  •    I     D     I  I 


/si 


o 


--J      00 
00     o 


P      00 

oö    o 


Beifolgendes  Schema  zeigt  die  in  die  einzelnen 
Zeitintervalle  von  2  '/„  Jahre  Dauer  eingeordneten 
albinotischen  (■  •)  und  pigmentierten  (D)  Ge- 
schwister; die  Grenzen  der  Zeitintervalle  sind 
durch  Monats-  und  Jahresangabe  (-/-,;  =  Aug.  1875) 
bezeichnet,  unterhalb  der  Zeitabszisse  befinden 
sich  die  zugehörigen  Geburtsdaten. 

Die  gleichen  Verhältnisse  fanden  sich  auch 
bei  anderen  Anomalien  (Hämophilie,  Ochronose, 
Brachydaktylie,  Diabetes  insipidus,  hereditären 
Augenkrankheiten).  Die  genauen  Belege  (40  Reihen) 
habe  ich  a.  a.  O.*)  niedergelegt.  Wenn  auch  zur 
Feststellung  des  Grades  der  Exaktheit  dieser 
Generationsrhythmen  noch  weitere  Untersuchungen 
an  Stammbäumen  mit  genauen  Geburtsdaten  nötig 
sind,  ist  zunächst  die  Tatsache  erwiesen,  daß 
diese  2  '/.,  -Jahrrhythmen  existieren.  Vereinzelt 
wurden  Störungsintervalle  beobachtet,  durch  welche 
die  folgenden  Intervalle  sich  um  eine  Zeitlänge 
verschieben. 

Da  in  den  untersuchten  Reihen  sowohl  väter- 
liche als  mütterliche  Vererbungsträger  vorkamen, 
ist  also  der  2  V2  jährige  Generationsrhythmus, 
welcher  ja  das  33  fache  einer  Menstruationsperiode 
oder  3  Vs  fache  der  Fötalzeit  beträgt,  nicht  nur 
auf  das  weibliche  Geschlecht  beschränkt.  Der 
Rhythmus  wird  aber  immer  durch  den  einen, 
das  Merkmal  übertragenden  Elter  bestimmt,  weil 
nämlich  diese  Rhythmen  bei  verschiedenen  Indi- 
viduen zwar  in  der  Zeitdauer  übereinstimmen, 
aber  nicht  bezüglich  der  absoluten  Zeiten  zu- 
sammenfallen. 

An  eine  Erklärung  des  Phänomens  können  wir 
uns  noch  nicht  heranwagen.  Da  bekanntlich  der 
Lebensprozeß  eines  Organismus  iowohl  in  seinen 
kleinsten  Einzelheiten,  als  in  den  Funktionen 
größerer  Komplexe    und  des  ganzen  Individuums 

')  Z.  f.  Konstitulionslehre    1922. 


408 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   29 


Rhythmen  erkennen  läßt,  deren  gegenseitige  Zu- 
einanderordnung  ein  Ziel  weiterer  Forschung  sein 
muß,  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  wenn  wir 
auch  bei  Vererbungsvorgängen  auf  die  Spuren 
eines  rhythmischen  Verlaufes  kommen.    Den  Ver- 


erbungstheoretikern dürfte  der  Nachweis  dieser 
Generalionsrhythmen  Schwierigkeiten  bereiten. 
Zur  Lösung  des  Problems  ist  engere  Fühlung 
zwischen  Vererbungsforschung  und  Konstitutions- 
forschung erwünscht. 


Bücherbesprechungen. 


Liesegang,  Dr.  Raphael  Ed.,  Beiträge  zu 
einer  Kolloidchemie  des  Lebens. 
2.,  vollkommen  umgearbeitete  Auflage.  Dresden 
und  Leipzig  1922,  Theodor  Steinkopff.  10  M. 
Kolloidchemie  der  lebenden  Substanz 
wäre  dem  Berichterstatter  als  richtiger  Titel  er- 
schienen. Denn  es  sind  in  diesem  39  Seiten  starken 
Heftchen  eine  größere  Anzahl  von  Diffusions- 
erscheinungen in  Gallerten  beschrieben,  die  teil- 
weise im  Organismus  beobachtet  werden  können, 
andernteils  zur  Deutung  gewisser  biologischer 
Phänomene  dienen  können.  Aber  der  Verf.  gibt 
selbst  zu,  „mit  tausend  Zungen  reden  zu  müssen", 
um  allein  der  Rolle  des  Wassers  in  organischen 
Geweben  gerecht  werden  zu  können.  Von  einer 
„Nachahmung"  des  Lebens  kann  keine  Rede  sein. 
Immerhin  sind  die  Beobachtungen  des  Verf.s  an 
kolloiden  Medien  und  die  Beziehungen,  die  er 
ihnen  zu  den  verschiedensten  biochemischen  und 
pathologischen  Erscheinungen  gibt,  so  vortrefflich 
in  der  Methodik,  so  schön  in  ihrer  Phänomeno- 
logie, daß  jeder  Naturfreund  an  diesem  Heft 
seine  Freude  haben  wird.  —  Schade,  daß  die 
Literaturangaben  so  unvollständig  sind !  —  Zu 
der  Fischerschen  Theorie  der  Liesegang-Ringe 
(vgl.  Naturw.  Wocheiischr.  N.  F.  XXI,  S.  196,  1922) 
konnte  der  Verf.  leider  nicht  mehr  Stellung 
nehmen.  H.  Heller. 

Trömmer,  E.,  Hypnotismus  und  Sugge- 
stion. 4.  Aufl.  199.  Band  der  Sammlung  „Aus 
Natur  und  Geisteswelt".  Leipzig  und  Berlin 
1922,  B.  G.  Teubner. 

Die  dritte  Auflage  dieses  Buches  wurde  in 
Nr.  6  des  Jahrganges  1920  besprochen.  Wenn 
es  nach  kaum  dreijähriger  Pause  schon  wieder 
eine  Neuauflage  erleben  kann ,  also  stärker  be- 
gehrt wurde  als  die  meisten  anderen  Bücher  der 
Sammlung,  so  ist  das  hoffentlich  wirklich  ein 
„Zeugnis  für  das  Tiefenbedürfnis  deutschen  Geistes." 
—  Hoffentlich,  denn  es  ist  auch  der  Fall  mög- 
lich, daß  die  Nachfrage  mit  der  „Erneuerung 
mystischer  und  okkulter  Bestrebungen"  in  Zusam- 
menhang steht.  Denn  der  Laie  sieht  nun  einmal 
gern  die  Hypnose  im  Lichte  solcher  Vorstellungen. 


—  Wie  dem  auch  sei ,  es  wurde  schon  damals 
betont,  daß  der  wirklich  lern-  und  bildungsbegierige 
Leser  an  dem  Buche  keinen  Schaden  nehmen 
wird,  zumal  da  der  Verf.  bemüht  gewesen  ist,  an 
manchen  Stellen  sein  wohlgelungenes  Werk  noch 
zu  verbessern.  Ein  Kapitel  über  Massensuggestion 
ist  hinzugekommen.        Huebschmann  (Leipzig). 


Ziegler,   H.   E. ,    Tierpsychologie.      115    S. 
Klein- 8".   17  Abb.  (Sammlung  Göschen  Nr.  824.) 
Berlin  und  Leipzig  192 1,  Vereinigung  wiss.  Ver- 
leger.    Walter  de  Gruyter  &  Co.     6  M. 
Alles,    was    man  erwarten  wird,    einschließlich 
der    Geschichte    der   Tierpsychologie    findet   man 
in    dem    Bändchen     leicht     faßlich    gemäß    dem 
heute   in    der  Wissenschaft   gültigen    Urteile   dar- 
gestellt.     Auch    neueste  Feststellungen    sind  vor- 
trefflich berücksichtigt.    Somit  wird  das  Büchlein 
der  Verbreitung    wissenschaftlichen  Denkens    und 
der    weiteren    Verständigung    zwischen    Forscher 
und  Tierfreund  gut  dienen.      Erfreulicherweise  ist 
die     Ausstattung     der     „Göschenbändchen"     nun 
wieder  die  alte.  V.  Franz,  Jena. 


Literatur. 

Bruns,  Ferd.,  Die  Zeichenkunst  im  Dienst  der  be- 
schreibenden Naturwissenschaften.  Jena  '22 ,  Verlag  von 
Gustav  Fischer.     Brosch.  90  M.,  geb.   115  M. 

Trautz,  Ma.x,  Lehrbuch  der  Chemie.  Zu  eigenem  Ge- 
brauch. I.  Band  Stoffe.  Berlin  und  Leipzig  '22,  Vereinigung 
wissenschaftl.  Verleger.     Geh.   150  M.,  geb.    172  M. 

Koorders,  Dr.  S.  H.,  Exkursionstlora  von  Java.  Um- 
fassend die  Blütenpflanzen.  4.  Band  Atlas  2.  Abteilung: 
Familie  20/21  herausgegeben  von  Frau  A.  Koorders -Schu- 
macher.    Jena  '22,  Verlag  von  Gustav  Fischer.    Brosch.  20  M. 

Michael,  Wolfg. ,  Ranke  und  Treitschke  und  die 
deutsche  Einheit.  (Festrede.)  Berlin  ■  Leipzig  '22,  Verlags- 
buchhandlung Dr.  Walther  Rothschild. 

V.  Hahn,  Dr.  Friedrich-Vinccnz,  Über  die  Her- 
stellung und  Stabilität  kolloider  Lösungen  anorganischer  Stofl'e. 
(Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Sulfidsole.)  Sonderaus- 
gabe aus  dt^r  Sammlung  chemischer  und  chemisch-technischer 
Vorträge  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  W.  Herz-Breslau. 
Band.  XXVI.  Stuttgart  '22,  Verlag  von  Ferd.  Enke.  Preis 
brosch.  5   M. 

Schaf fer,  Prof.  Dr.  C,  Natur- Paradoxe.  Nach  Dr.  W. 
Ilampsons  ,, Paradoxes  of  nature  and  science".  III.  Auflage. 
Leipzig-Berlin  '22,  Verlag   von  G.   B.  Teubner.      Geb.  35   M. 


Inhalt:  J.  Voigt,  Euklidisciic 

iher,  Über  Generationsrhythmen  beim  Menschen.  S. 
zu  einer  Kolloidchemie  des  Lebens.  S.  408.  E.  Tri 
Tierpsychologie.  S.  408.  —  Literatur:  Liste.  S.  40S. 


:he  Geometrie,  Physik  und  die  Vierdimensionalilät  der  Materie.  (11  Abb.)  S.  401.  H.  Gün- 
rhythmen  beim  Menschen.  S.  407.  —  BUcherbesprecbungen :  R.  Kd.  Liese  gang,  Beiträge 
Jes  Lebens.  S.  408.  E.  Trömmer,  Hypnotismus  und  .Suggestion.  S.  408.  II.  E.  Ziegler, 
—  Literatur:  Liste.  S.  40S. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band: 
der  ganzen  Reihe  37.  Hat 


Sonntag,  den  23.  Juli  1922. 


Nummer  30. 


Exaktwissenschaftliches,  philosophisches  und  künstlerisches 
Welterkennen  und  Weltbegreifen. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  M.  Schwlckeratll,  Aachen. 


Einleitung. 


„Alles  fließt"  das  ist  letzten  Endes  die  Er- 
kenntnis, zu  der  man  in  Wissenschaft,  Philosophie 
und  Kunst  kommt.  Es  gibt  kein  absolutes  Wissen, 
keine  absolute  Wahrheit,  keine  absolute  Kunst, 
und  ebensowenig  eine  Ausdrucksform,  die  einzig 
und  allein  die  Außenwelt  mit  ihren  Erscheinungen 
unserm  Hirn  zum  Bewußtsein  brächte.  Und  doch 
suchen  wir  immer  wieder  nach  Normen,  nach  Ge- 
setzen, um  uns  in  dem  wogenden  Meere  der  Er- 
scheinungen zurecht  zu  finden.  Die  Forderung 
für  den  Wissenschaftler,  Philosophen  und  Künstler 
lautet  nicht:  „Suche  den  Stein  der  Weisen,  den 
Bezugskörper  A"  —  sondern  man  dürfte  vielleicht 
den  vielumstrittenen  Satz  des  Physikers  Kirch- 
hoff,  den  er  an  den  Anfang  seiner  Mechanik 
setzt,  verallgemeinern  und  sagen:  „Um  sich  mit 
der  Welt  auseinanderzusetzen  hat  der  Wissen- 
schaftler, Philosoph  und  Künstler  die  Aufgabe, 
die  Erscheinungen  und  Bewußtseinsin- 
halte auf  die  möglichst  vollständigste  und  ein- 
fachste Weise  zu  beschreiben  und  darzustellen." 
Jede  Art  der  Beschreibung  (im  weitesten  Sinne) 
und  Darstellung  ist  an  und  für  sich  berechtigt. 
Die  eine  kann  vor  der  anderen  nur  den  Vorzug 
haben,  vollständiger  und  bequemer  zu  sein. 

Warum  sollte  deshalb  nicht  einmal  der  Ver- 
such erlaubt  sein,  ohne  auch  irgendwie  eine  ab- 
solute Richtigkeit  zu  beanspruchen,  die  Erschei- 
nungen des  philosophischen  und  künstlerischen 
Weltbegreifens  auf  einen  Hauptnenner  mit  denen 
der  exakten  Wissenschaften  zu  bringen,  ja  die 
verschiedenen  Strömungen  und  Richtlinien  in 
Philosophie  und  Kunst  an  den  Disziplinen  der 
exakten  Wissenschaften  zu  erläutern  und  wenn 
möglich  alle  drei  zu  einer  höheren  Einheit  zu 
verschmelzen  ? 

Man  lasse  einmal  den  Vergleich  zwischen 
exakten  Wissenschaften,  Philosophie  und  Kunst 
gelten,  betrachte  das  eine  als  Gegenstück  des 
anderen!  Zwar  könnte  statt  der  exakten  Wissen- 
schaften (Mathematik  und  Naturwissenschaften) 
jede  andere  den  gleichen  Dienst  leisten.  Jedoch 
tritt  bei  den  exakten  Wissenschaften  Entwicklung 
und  Fortschritt  weit  mehr  in  den  Vordergrund 
und  ferner  haben  diese  Wissenschaften  die  strengste 
Scheidung  ihrer  Disziplinen,  die  straffste  Formu- 
lierung und  die  größte  Eindeutigkeit  der  Symbole 
erreicht. 

So  wie  sich  Philosoph  und  Künstler  auf  ihre 
Weise  mit  Um-  und  Inweit  möglichst  allum- 
fassend auseinanderzusetzen  suchen,   so   auch  zum 


Teil  der  exakte  Wissenschaftler,  der  sich  mehr 
und  mehr  nicht  nur  auf  die  „sinnfällige  Natur" 
beschränkt,  sondern  kühn  und  mit  immer  wachsen- 
dem Erfolge  in  das  Gebiet  der  Psychologie  und 
Erkenntnislehre  hinübergreift. 

Als  letztes  Ziel  der  Untersuchung  schwebt 
demnach  folgendes  vor:  ein  möglichst  allgemein- 
gültiges (aber  nicht  absolut  wahres)  Symbol  für 
das  exaktwissenschaftliche,  philosophische  und 
künstlerische  Welterkennen  und  Weltbegreifen  zu 
finden,  wobei  den  exakten  Wissenschaften  außer- 
dem noch  die  Aufgabe  zukommen  soll,  Ausgangs- 
punkt und  Führer  bei  dieser  Untersuchung  zu  sein. 

Dieses  Symbol  finde  ich  nun  in  einfachster 
und  vollständigster  Art  in  dem  Bilde  dreier 
Wanderer,  die,  jeder  in  seiner  Eigenart,  dem 
gleichen  Ziele  zustrebend,  das  Land  der  exakt- 
wissenschaftlichen, der  philosophischen  und  künst- 
lerischen Erkenntnis  durchforschen.  Möge  diesem 
zunächst  etwas  schlicht  erscheinenden  Bilde 
durch  die  so  auffallend  symbolische  Lahnfahrt 
Goethes  Anschaulichkeit  verliehen  werden,  von 
der  er  selbst  sagt :  ,,Und  wie  nach  Emaus  weiter- 
ging's, mit  Geist-  und  Feuerschritten,  Prophete 
rechts,  Prophete  links,  das  Weltkind  in  der  Mitten." 
Dort  haben  wir  die  drei  Wanderer,  die,  wie  die 
Untersuchung  zeigen  soll,  in  jedem  der  3  Lande 
der  Erkenntnis  wiederkehren ;  rechts  den  Seher, 
Schwärmer,  Mystiker,  links  den  nüchternen  Zweifler 
und  kritischen  Skeptiker  gegen  alles,  was  nicht 
empirisch  gefunden  ist,  und  zwischen  beiden  das 
Weltkind.  Das  Weltkind  Goethe,  einmal  als 
den  etwas  konservativen  Mittler,  dann  aber  — 
fast  widersprechend  —  als  den  schöpferischen 
Gestalter.  Doch  sein  Charakter  muß  ja  zwie- 
spältiger sein  als  der  seiner  extremen  Genossen 
zur  Rechten  und  zur  Linken,  wenn  er  auch  oder 
gerade  weil  er  sich  besser  der  sog.  realen  Welt 
anpaßt.  Durch  Verschmelzung  der  Extreme  von 
rechts  und  links  entsteht  ja  die  Schöpfung  seiner 
Lebensanschauung,  die,  eine  Zeitlang  Träger  und 
Maßstab  aller  Anschauungen,  endlich  von  neuem 
durch  die  gleichen  Einflüsse  von  rechts  und  links 
gezwungen ,  zu  noch  umfassenderer  Gestaltung 
gelangt.  Darum  finden  wir  ja  auch  in  Goethe 
jene  stille  und  milde  Toleranz  gegen  die  Einseitig- 
keit der  idealistischen  Richtung,  deren  berechtigten 
Kern  er  zu  schätzen  weiß,  verkörpert,  während 
sich  doch  sein  Gemüt  allmählich  immer  ent- 
schiedener zur  objektiven  Betrachtung  der  Natur 
hingezogen  fühlt.  —  Damit  möge  zunächst  das 
Gepräge  der  „drei  Wanderer"  angedeutet  sein. 


410 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Sehen  wir  nun  zu,  ob  nicht  auf  die  exakten 
Wissenschaften  zunächst  wenigstens  nur  kurz  um- 
rissen dieses  Symbol  anwendbar  ist.  In  den 
exakten  Wissenschaften  sind  diese  3  Gestalten  in 
dem  iVIathematiker  zur  Rechten,  dem  nur  experi- 
mentierenden Naturwissenschaftler  (Chemiker  und 
Physiker)  zur  Linken  und  dem  theoretischen  Physiker 
(Theoretiker)  in  der  IVlitte  vertreten.  Der  IVIathe- 
matiker sieht  oft  auf  den  nur  experimentierenden 
Naturwissenschaftler  und  seine  IVIethode  verächtlich 
herab  und  umgekehrt  der  reine  Naturwissenschaftler 
erklärt  manches  Gebiet  der  Mathematik  als  un- 
nötige Spekulation,  ja  Spielerei  1  Doch  plötzlich 
ist  der  Experimentator  auf  dem  toten  Punkte 
angelangt;  da  tritt  der  theoretische  Physiker  hinzu 
und  bringt  mit  Hilfe  der  mathematischen 
Erkenntnisse  die  neuen  Erfahrungssätze  des  Ex- 
perirrientators,  die  zunächst  zusammenhanglos,  ja 
anscheinend  widerspruchsvoll  nebeneinanderstan- 
den auf  eine  knappe,  oft  überraschend  einfache 
Ausdrucksform,  die  zunächst  fremdartig, 
bald  alle  Anschauungen  erweitert  und  erneuert. 
Und  so  geht,  der,  der  hofft  „mit  Hebeln  und  mit 
Schrauben"  der  Natur  ihr  Geheimnis  zu  rauben 
durch  Vermittlung  des  „Theoretikers"  eine  Zeit- 
lang zusammen  mit  seinem  Genossen,  dem  ideen- 
und  formenreichen  Phantasten,  der  vielleicht  auch 
etwas  von  der  vorübergehenden  Einigung  lernt. 
Doch  bald  sitzt  der  Experimentator  wieder  bei 
seinen  alleinseligmachenden  Versuchen  und  küm- 
mert sich  wenig  um  seine  Weggenossen.  Und 
auch  der  Mathematiker  und  Theoretiker  gehen 
jeder  seines  Weges;  der  erstere  den  Kopf  voll 
neuer  Ideen,  der  letztere  seine  neue  Gestaltung 
wahrend  und  ausbauend,  bis  er  durch  neue  Er- 
kenntnis von  rechts  und  links  gezwungen  wird, 
zu  neuer  Gestaltung  zu  greifen.  Dieses  ewige 
Schmollen  und  Versöhnen  scheint  gut  und  not- 
wendig zu  sein,  denn  daraus  erkärt  sich  wohl  der 
Siebenmeilenschritt,  den  sich  die  exakten  Wissen- 
schaften angewohnt  haben,  zumal  man  hier  schon 
dazu  gekommen  ist,  die  gegenseitigen  Schwächen 
-mit  einem  gewissen  Humor  zu  ertragen. 

Findet  man  nun  nicht  sofort  in  der  Philosophie 
die  drei  Gestalten  wieder?    Haben  wir  auch  dort 

\ 

Mamemaliker 
. 5J ^O— 


nicht  in  dem  Idealisten  den  Seher  und  Mystiker, 
in  dem  ausgesprochenen  Empiriker  (Positivisten) 
den  Skeptiker  und  Zweifler  und  zwischen  beiden 
im  Realisten  das  ausgleichende  Element?  Nun 
braucht  ja  der  Mathematiker  nicht  unbedingt 
Idealist,  der  reine  Experimentator  nicht  unbedingt 
Empirist  (Positivist)  und  der  Theoretiker  philos. 
Realist  zu  sein,  die  weitere  Betrachtung  wird  je- 
doch zeigen,  daß  diese  sich  in  ihren  Anschauungen 
am  ehesten  entsprechen,  daß  ihr  Programm  und 
ihre  Methode  eine  starke  Verwandtschaft  auf- 
weisen, ja  sich  decken.  —  Zwar  läßt  in  dem 
Forschungslande  der  Philosophie  die  Toleranz 
noch  viel  zu  wünschen  übrig. 

Doch  im  stärksten  Gegensatz  finden  wir  noch 
unsere  3  Genossen  in  der  Kunst  und  ihren  Rich- 
tungen. Hier  tobt  noch  der  Kampf  am  erbittert- 
sten. Liegt  es  daran,  weil  hier  die  Gefühlswerte 
so  stark  in  den  Vordergrund  treten?  Wie  eifert 
hier  der  Seher  und  Schwärmer  als  Expressionist 
gegen  den  resignierenden  Zweifler,  den  Skeptiker, 
der  uns  als  Impressionist  entgegentritt,  und  wie 
zaghaft  ohne  bisher  eine  neue  Gestaltung  gefunden 
zu  haben,  steht  gerade  heute  zwischen  beiden  der 
Mittler,  der  einsieht,  daß  sein  solange  aufrecht- 
gehaltener erstarrter  Klassizismus  von  rechts  und 
links  zertrümmert  am  Boden  liegt.  —  Und  wenn 
auch  wieder  der  Idealist  nicht  unbedingt  Expres- 
sionist, der  Positivist  nicht  unbedingt  Impressionist, 
der  Realist  nicht  unbedingt  der  eine  neue  Ge- 
staltung suchende  Klassizist  sein  muß,  so  ent- 
sprechen sich  doch  auch  diese  Typen  so  vorzüg- 
lich, so  daß  man  sagen  könnte,  die  3  Typen  auf 
den  zu  betrachtenden  Gebieten  sind  einander  ein- 
deutig zugeordnet  wie  3  Punkte  (Aj  B,  CJ  der 
Geraden  Gj  den  drei  Punkten  (A.^  B.^  Cj)  der 
Geraden  G.j  und  außerdem  die  drei  ersten  und 
die  drei  zweiten  den  drei  Punkten  (A3  B3  C3)  auf 
der  Geraden  G3,  entsprechend  den  Schnittpunkten 
dreier  Geraden  Gj,  G,,,  Gg  mit  den  zu  einem 
Zentrum  Z  hingehenden  Strahlen.  Dann  würde 
das  Zentrum,  nach  dem  alle  Punkte  hinzielen,  das 
Ziel  aller,  das  Weltbegreifen  und  erkennen  dar- 
stellen. Möge  die  folgende  Figur  das  zuletzt 
Gesagte  erläutern: 


_6a^ 


Jdealist 

-My- 


/, 


Experimenlafor 


Raalisf  Positivisf 


ThiloAophifc  . 


j  (Empirisf) 

txprcMionisf  ^Klasjlzisf  ^Jmpressionist 


KunsK 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


411 


Unsere  Aufgabe  besteht  also  jetzt  darin,  die 
behaupteten  Analogien  zu  begründen  und  das 
Welterkennen  und  —  begreifen  an  Hand  der 
exakten  Wissenschaften  zu  erläutern.  Hierbei  soll 
zunächst  die  Analogie  der  entsprechenden  Punkte 
auf  Gl  und  Gj  (exakte  Wissenschaften  und  Philo- 
sophie) nachgewiesen  werden  und  dann  diesem 
wissenschaftlichen  das  künstlerische  Er- 
kennengegenübergestellt werden;  also  (G,  G3)  Gg. 

I.  Die  exakten  Wissenschaften. 

Betrachten  wir  zunächst  einmal  „auf  der  Ge- 
raden Gj"  die  Mathematik  in  ihren  zwei  Haupt- 
teilen, der  Analysis  und  der  Geometrie.  Nicht  als 
ob  wir  mehr  iVIathematik  betreiben  wollen,  als 
hier  unbedingt  nötig  ist!  Wir  haben  nur  die  Ab- 
sicht, uns  die  Entwicklung  und  den  Aufbau  dieser 
Wissenschaften  klar  zu  machen. 

Die  ganze  Arithmetik  und  damit  auch  die 
Analysis  fußt  auf  1 1  Grundgesetzen.  Für  unsere 
Betrachtungsweise  ist  es  dabei  ganz  gleichgültig, 
daß  man  sich  darüber  streitet,  ob  diese  Gesetze 
mehr  durch  die  Anschauung  (Intuition)  erkannt 
worden  sind  oder  ob  die  Logik  einzig  und  allein 
daran  beteiligt  ist.  Für  die  ganzen  Zahlen  ver- 
tragen sich  diese  Gesetze  vorzüglich  mit  unserer 
gewöhnlichen  Welt,  auch  noch  für  die  Brüche, 
obwohl  dort  schon  die  Operationen  ein  etwas 
formaleres  Gepräge  annehmen.  So  wie  aber  jetzt 
die  Grenzen  des  „algebraischen  Reiches"  weiter 
vorgerückt  werden,  tritt  diese  formale  Be- . 
deutung  immer  mehr  in  den  Vordergrund  und 
bei  der  Multiplikation  der  relativen  Zahlen  hat 
der  Mathematiker  unsere  gewöhnliche  Welt  schon 
völlig  verlassen. 

Denn  (-{-  i)  •  (+  i)  und  (—  i)  •  (—  l)  hat  an 
und  für  sich  gar  keinen  Sinn.  Wenn  man  die 
positiven  Zahlen  als  Vermögen,  die  negativen  als 
Schulden  deutet,  so  kann  es  höchstens  einen  Sinn 
haben  (-|-  i)  oder  ( —  i)  i  mal,  3  mal  n  mal  zu 
nehmen,  aber  nicht  (-|- i )•(-{- n)  oder  (-}- l)  ■ 
( —  n)  usw.  Es  kann  höchstens  den  Sinn  haben, 
den  ich  ihm  beilege.  Dabei  fordere  ich,  daß  nur 
kein  Widerspruch  mit  den  früheren  Sätzen  auf- 
tritt und  setze  rein  formal  fest:  ( —  i)  •  (—  i)  = 
-[-  I   usw. 

Ähnlich  ist  es  mit  den  Symbolen  der  Dimen- 
sionen, a,  a-,  a''  haben  noch  eine  anschauliche 
Bedeutung:  Strecke,  Fläche,  Körper;  aber  a*, 
a^  .  .  .  a°  ist  nur  eine  formale  Fortbildung  des 
Potenzprinzips,  und  nur  das  mathematische  Streben 
nach  eindeutiger  Allgemeingültigkeit  und  hat  dem- 
nach auch  nur  formalen  Charakter.  Diese  Sym- 
bolik schreitet  immer  weiter.  Von  dieser  Fähig- 
keit, Symbole  zu  schaffen,  macht  der  Verstand 
nur  dann  Gebrauch,  wenn  ihn  die  Stellung  des 
Problems  dazu  zwingt.  Die  Symbole  der  Wurzel 
(y~)  und  die  Zahl  i  =  )/— 1  führen  dann  zur  letzten 
Erweiterung  des  Zahlenreiches.  —  Denselben  rein 
formalen  Charakter  zeigt  die  höhere  Analysis. 

Somit  beruht  die  Sicherheit  der  Analysis  nur 
darauf,    daß  ihre  Grundgesetze,    rein    formal    und 


ohne  Rücksicht  auf  ihren  anschaulichen  Inhalt 
betrachtet,  ein  logisch  widerspruchsfreies  System 
bilden.  Der  Mathematiker  studiert  eben  nicht  die 
Objekte  der  gegebenen  Welt  nur  das  Formale 
hat  für  ihn  Interesse. 

Ähnlich  liegt  die  Sache  bei  der  Geometrie. 
Die  Geometrie,  die  man  auf  der  Schule  betreibt, 
ist  die  euklidische.  Ihr  Gebäude  steht  so  fest 
und  sicher  da,  daß  es  zum  Sprichwort  des  einzig 
Wahren  und  Festen  geworden  ist.  Um  so 
größer  muß  das  Erstaunen  des  Neulings  sein,  wenn 
ihm  allmählich  gezeigt  wird,  daß  sich  auch 
widerspruchslose  Geometrien  aufbauen  lassen, 
die  einfach  eins  der  Axiome,  der  Grundfesten 
dieser  Wissenschaft,  fallen  lassen.  Hierbei  werden 
ganz  andere  und  zunächst  sehr  befremdende  Lehr- 
sätze aufgefunden,  und  es  wird  letzten  Endes  dar- 
getan, daß  die  euklidische  Geometrie  nur  ein 
spezieller  Teil  dieser  nichteuklidischen  ist.  Jeden- 
falls wird  wohl  jeder  danach  der  euklidischen 
Geometrie  nicht  mehr  die  absolute  Sicherheit 
auch  für  die  reale  Welt  schlechthin  zuschreiben 
können. 

Um  die  Möglichkeit  einer  anderen  Geometrie 
plausibel  zu  machen,  möchte  ich  im  Zweidimensio- 
nalen folgendes  Beispiel  von  H  e  1  m  h  o  1 1  z  angeben : 

„Wir  wollen  uns  eine  eigenartige  Welt  vor- 
stellen, die  mit  Wesen  bevölkert  ist,  die  keine 
Dicke  oder  Höhe  haben  und  wir  wollen  ferner 
voraussetzen,  daß  diese  gänzlich  flachen  Wesen 
alle  in  derselben  Ebene  sich  befinden  und  nicht 
aus  ihr  herauskönnen.  Wir  nehmen  außerdem 
an,  daß  diese  Welt  weit  genug  von  den  anderen 
Welten  entfernt  sei,  so  daß  sie  deren  Einfluß  ent- 
zogen ist.  Wenn  wir  einmal  dabei  sind ,  Hypo- 
thesen zu  machen,  so  kostet  es  uns  keine  Mühe, 
diese  Wesen  mit  Vernunft  auszustatten  und  sie 
für  fähig  zu  halten,  Geometrie  zu  treiben.  In 
diesem  F~alle  werden  sie  dem  Räume  zwei  Dimen- 
sionen zuschreiben.  Aber  wir  wollen  jetzt  voraus- 
setzen, daß  diese  eingebildeten  Lebewesen,  indem 
sie  zwar  ohne  Dicke  (Höhe)  bleiben,  eine  kugel- 
förmig gewölbte  Gestalt  haben  und  nicht  eine 
flache  Gestalt,  und  daß  sie  alle  auf  derselben 
Kugel  wären,  ohne  Macht  zu  haben,  sich  von  ihr 
zu  entfernen.  Welche  Geometrie  würden  sie 
konstruieren?  Es  ist  klar,  daß  sie  vor  allem  dem 
Räume  zwei  Dimensionen  zuschreiben  würden; 
was  würde  nun  für  sie  die  Rolle  der  geraden 
Linie  spielen.?  Offenbar  der  kürzeste  Weg  zwi- 
schen zwei  Punkten  auf  der  Kugel,  d.  h.  ein 
Bogen  des  größten  Kreises;  mit  einem  Worte: 
ihre  Geometrie  würde  die  Geometrie  der  Kugel 
sein. 

Was  sie  den  Raum  nennen  würden,  wird  die 
Kugel  sein,  von  der  sie  nicht  fortkönnen  und  auf 
der  sich  alle  Ereignisse  abspielen,  von  denen  sie 
Kenntnis  haben  können.  Ihr  Raum  wird  also 
ohne  Grenzen  sein,  weil  man  auf  der  Kugel 
immer  vorwärts  schreiten  kann,  ohne  jemals  auf- 
gehalten zu  werden  und  dennoch  wird  er  end- 
lich sein." 


412 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Es  fragt  sich  nun :  welche  Geometrie  hat  vor 
der  anderen  die  größere  Berechtigung?  Dabei 
kommt  man  zu  dem  Schluß,  daß  es  gar  keinen 
Sinn  hat,  nach  der  größeren  Berechtigung  zu 
fragen ,  sondern  höchstens  nach  der  größeren 
Zweckmäßigkeit.  Alle  bestehen  vollkommen 
gleich  zu  Recht.  Am  zweckmäßigsten  erweist  sich 
im  allgemeinen  die  euklidische  Geometrie,  aber 
bei  dem  erweiterten  Einsteinschen  Problem  genügt 
nur  die  nichteuklidische. 

Aus  allem  ersieht  man,  diese  Axiome  können 
nicht  als  absolute  Wahrheiten  aufgefaßt  werden 
weder  als  synthetische  Urteile  a  priori  noch  als 
experimentelle  Tatsachen.  Es  sind  auf  Überein- 
kommen beruhende  Festsetzungen;  zwar  wird  die 
Wahl  unter  all  den  möglichen  Festsetzungen  von 
experimentellen  Tatsachen  geleitet,  aber  sie  bleibt 
frei  und  wird  nur  durch  die  Notwendigkeit  be- 
grenzt, Widersprüche  zu  vermeiden.  In  dieser 
Weise  können  auch  die  Axiome  streng  richtig 
sein  und  bleiben,  selbst  wenn  die  erfahrungs- 
mäßigen Gesetze,  die  ihre  Annahme  bewirkt 
haben,  nur  annähernd  richtig  sein  sollten;  mit 
anderen  Worten :  Die  geometrischen  Axiome  sind 
nur  verkleidete  Definitionen  und  das 
ganze  wissenschaftliche  System  hat  zunächst  nur 
in  seiner  eigenen  Welt  Daseinsberechtigung 
(Poincare). 

iMag  man  nun  auch  sagen,  diese  Darstellung 
mathematischer  Wissenschaft  ist  mit  Poincare 
etwas  stark  pragmatistisch  gefärbt,  so  macht  das 
für  die  Schlußfolgerungen  im  wesentlichen  nichts 
aus.  Wem  es  nicht  paßt,  die  Axiome  als  ver- 
kleidete Definitionen  anzusehen,  mag  sie  dann 
eben  als  synthetische  Urteile  a  priori  betrachten. 
Um  so  klarer  ersieht  man,  daß  für  den  IVIathe- 
matiker  die  Erfahrung  ganz  oder  doch  fast  ganz 
ausgeschaltet  ist.  Mit  einer  von  der  stärksten 
Logik  getragenen  Phantasie  baut  er  sein  Lehr- 
gebäude, rein  deduktiv,  ohne  nach  rechts  oder 
links  zu  sehen,  auf.  Wer  über  die  „Phantasie" 
lächeln  möchte,  dem  möchte  ich  den  etwas  über- 
triebenen Ausspruch  Kroneckers  entgegen- 
halten: „Mit  der  Logik  allein  lockt  man  keinen 
Hund  vom  Ofen.  Die  Phantasie  ist  die,  die  alles 
schafft.  Die  Logik  ist  nur  die  Dame,  die  an  der 
Kasse  sitzt  und  die  Münze  auf  ihre  Richtigkeit 
prüft." 

Auf  diese  Art  des  Mathematikers  Erkenntnisse 
zu  gewinnen  sieht  nun  der  reine  Natur- 
wissenschaftler etwas  verächtlich  herab.  Sein 
Erkenntnisweg  ist  genau  der  entgegengesetzte. 
Will  der  Mathematiker  von  der  Erfahrung  los, 
um  auf  seiner  selbstgeschaffenen  Basis  ungestört 
weiter  zu  bauen,  so  ist  die  Erfahrung  und  immer 
wieder  die  Erfahrung  Anfang  und  Ende  für  den 
reinen  Naturwissenschaftler.  Nach  seiner  Ansicht 
mögen  die  Formeln  der  Mathematik  ganz  wohl 
und  gut  sein,  man  mag  sie  auch  wohl  als  Ver- 
bildlichung der  empirisch  gefundenen  Tatsachen 
benutzen,  aber  Wirklichkeitsgehalt  besitzen 
diese  Formeln  nicht  und  ebensowenig  die  mathe- 


matisch formulierten  Hypothesen;  sie  sind  ein 
Hilfsmittel,  dem  aber  nie  so  recht  zu  trauen  ist, 
und  sie  sind  nur  solange  wahr,  wie  sie  zweck- 
dienlich erscheinen.  Ein  einziger  Versuch  kann 
sie  umstoßen.     Und  nur  der  Versuch  entscheidet. 

Noch  weiter  geht  der  reine  Naturwissen- 
schaftler und  sagt:  die  sog.  „Dinge"  selbst  kann 
ich  nie  erkennen,  demnach  fort  mit  diesen  Pseudo- 
problemen!  Was  ich  erkennen  kann  und  will, 
sind  demnach  einzig  und  allein  die  Beziehungen 
zwischen  den  einzelnen  Größen,  die  Abhängig- 
keiten, die  gegenseitigen  Bedingtheiten.  Damit 
fällt  dann  auch  der  Begriff  von  Ursache  und 
Wirkung. 

Lassen  wir  einmal  dazu  den  Physiker-Philo- 
sophen E.  Mach  sprechen,  der  als  Physiker  oder 
wenn  man  will,  als  philosophierender  Physiker 
diese  Anschauung  am  ausgeprägtesten  vertritt: 
„Wenn  wir  von  Ursache  und  Wirkung  sprechen, 
heben  wir  willkürlich  Momente  heraus,  auf 
deren  Zusammenhang  wir  bei  der  Nachbildung 
einer  Tatsache  in  der  für  uns  wichtigen  Richtung 
zu  achten  haben.  In  der  Natur  gibt  es  keine 
Ursache  und  Wirkungen.  Die  Natur  ist  nur  ein- 
mal da.  Wiederholungen  gleicher  Fälle,  in 
welchen  A  immer  mit  B  verknüpft  wäre,  also 
gleiche  Erfolge  unter  gleichen  Umständen,  also 
das  Wesentliche  des  Zusammenhangs  zwischen 
Ursache  und  Wirkung,  existieren  nur  in  der  Ab- 
straktion, die  wir  zum  Zweck  der  Nachbildung 
von  Tatsachen  vornehmen.  Ist  uns  die  Tatsache 
geläufig  geworden,  so  bedürfen  wir  der  Heraus- 
holung der  zusammenhängenden  Merkmale  nicht 
mehr,  wir  machen  uns  nicht  mehr  auf  das  Neue, 
Auffallende  aufmerksam,  wir  sprechen  nicht  mehr 
von  Ursache  und  Wirkung. 

Man  muß  sagen,  daß  es  gar  kein  wissenschaft- 
liches Resultat  gibt ,  das  prinzipiell  auch 
nicht  ohne  alle  Methode  gefunden  wer- 
den könnte.  Tatsächlich  aber  ist  in  der  kurzen 
Zeit  eines  Menschenlebens  und  bei  dem  be- 
grenzten Gedächtnisse  des  Menschen,  ein  nennens- 
wertes Wissen  nur  durch  die  größte  Öko- 
nomie derGedanken  erreichbar.  Die  Wissen- 
schaft kann  dabei  selbst  als  eine  Minimumaufgabe 
bezeichnet  werden,  die  darin  besteht,  möglichst 
vollständig  die  Tatsachen  mit  dem  geringsten 
Gedankenaufwand  darzustellen." 

Wir  kommen  jetzt  zum  Vermittler  dieser 
beiden  extremen  Erkenntnisformen  der  exakten 
Wissenschaften,  zum  theoretischenPhysiker 
(kurz  Theoretiker)  genannt.  Ist  auch  schon, 
wie  gesagt,  in  den  exakten  Wissenschaften  bei 
allen  3  Vertretern  eine  fördernde  Arbeitsgemein- 
schaft entstanden  unter  offen  eingestandener 
gegenseitiger  Duldsamkeit,  so  sind  trotzdem  die 
Unterschiede  durchaus  nicht  verschwunden  und 
die  Abgrenzungen  verschwommen. 

In  dem  theoretischen  Physiker  haben  wir  so 
ganz  den  vermittelnden  Schaffer,  Gestalter  und 
Erhalter.  Dieser  sucht  die  Formelwelt  des  Mathe- 
matikers für  das  empirisch  Gefundene  der  Physik 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


413 


zu  verwerten  und  legt  den  Symbolen  des  Mathe- 
matikers die  Deutung  unter,  die  für  ihn  paßt.    So 

bedeutet  dem  Physiker  die  Beziehung  K^ — !— 2 — ^, 


das  eine  Mal  das  Newtonsche  Gesetz  der  Massen- 
anziehung zweier  Körper,  ein  anderes  Mal  das 
Koulombsche  Gesetz  elektrisch  geladener  Körper. 
Er  zieht  unter  Benutzung  der  mathematischen 
Disziplinen  weitere  Schlüsse,  die  dann  nachher 
der  Versuch  bestätigen  soll.  Ein  solches  mög- 
lichst allgemeingültiges  Deutungssystem ,  diese 
unter  sehr  starker  Anleihe  bei  der  mathematischen 
Wissenschaft  aus  den  empirischen  Tatsachen  ent- 
standene Schöpfung  des  Theoretikers  bleibt  dann 
meistens  eine  kürzere  oder  längere  Zeit  allge- 
meine Anschauung  und  wird  —  das  ist  weiterhin 
wesentlich  für  den  Theoretiker  —  zuletzt  fast  als 
absolute  Wahrheit  bewertet ,  bis  durch  weitere 
empirische  Ergebnisse  gezwungen  nach  hartem 
Kampfe  sich  der  Theoretiker  zu  einer  neuen 
Schöpfung  entschließen  muß. 

Als  Beispiel  möge  die  klassische  Mechanik 
dienen,  zumal  die  ganze  Physik  von  der  Bild- 
haftigkeit  der  Mechanik  nicht  losgekommen  ist. 
Diese  Erfahrungswissenschaft  ist  zuletzt,  besonders 
auf  dem  Festlande  (im  Gegensatz  zu  England)  zum 
rein  analytischen  System  geworden  und  ihre  Ge- 
setze galten  als  solche,  an  denen  nicht  zu  drehen 
und  zu  deuteln  war.  Darum  auch  die  Aufregung, 
als  durch  weitere  Forschung  und  Erfahrungen  auf 
den  Gebieten  der  Elektrizität  und  des  Lichtes 
genötigt,  diese  galiläische  Mechanik,  diese  Deu- 
tung mechanischen  Weltgeschehens,  die  Jahr- 
hunderte geherrscht  hatte,  nicht  mehr  ausreichte, 
und  deshalb  neuschöpfend  eine  weit  gewaltigere, 
unseren  bisherigen  Anschauungen  befremdliche 
Beratung  von  den  Mathematikern  entliehen  wer- 
den mußte.  Benutzung  der  nicht  euklidischen 
Geometrie.  Dazu  führt  ja  in  ihren  Konsequenzen 
die  Relativitätslehre,  dieser  Versuch,  den  schein- 
baren Widerspruch  zweier  einwandfreier  Versuche 
durch  eine  neue    trag  fähige  Theorie    zu  lösen. 

Genau  so  vollzog  sich  ja  auch  der  Übergang 
vom  geozentrischen  System  zum  heliozentrischen. 
Was  heute  als  Allgemeingut  gilt-,  galt  damals 
als  eine  Ungeheuerlichkeit,  ein  Unsinn. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  anderen  Hypo- 
thesen. So  kommt  es,  daß  der  „Theoretiker" 
allmählich  seine  Starrheit  und  seinen  Konservatis- 
mus ablegt  und  ein  wenig  stark  auf  die  Seite  des 
Empirikers  gezogen  wird  und  somit  nicht  mehr 
so  sehr  auf  den  „Wahrheitsgehalt"  seiner  Lehre 
pocht,  sondern  dieser  laut  oder  doch  stillschwei- 
gend die  Einleitung  vorausschickt:  „Nach  dem 
heutigen  Standpunkte  unserer  Erkenntnis."  Doch 
durchweg  ist  der  Theoretiker  noch  nicht  so  weit, 
sondern  er  betont  gerade  im  Gegensatze  zu  seinem 
Genossen  zur  Linken:  „Die  Hypothesen  haben 
doch  eine  Wirklichkeitsberechtigung  und  sind 
nicht  nur  Bilder  und  Formeln.  Unsere  Atome 
sind    Tatsachen.      Nicht    die    Beziehung,    sondern 


gerade  das  Ding,  das  hinter  der  Erscheinung  steht, 
ist  das  Wesentliche." 

Wir  sehen  also  :  der  Theoretiker  ist  zwar  der 
Gefahr  ausgesetzt,  in  Erstarrung  zu  geraten,  das 
Entwicklungsprinzip  aller  menschlichen  Erkenntnis 
für  eine  gewisse  Zeit  zu  ignorieren;  doch  wird 
er  auch  wieder,  vermittelnd  zwischen  dem  Mathe- 
matiker und  „reinen  Erfahrungsphysiker",  für  lange 
Zeit  der  Schöpfer  und  Träger  der  gesamten 
exaktwissenschaftlichen  Erkenntnis,  die  neue  For- 
schungen in  neuer  Form  zum  Allgemeingut  macht. 
Und  immer  bedeutet  eine  solche  Umwälzung  den 
Beginn  einer  neuen  Epoche. 

2.  Die  philosophischen  Erkenntnis- 
formen und  ihre  Analogien  mit  denen 
der  exakten  Wissenschaften. 
Wir  gehen  über  zu  den  3  Punkten  der  zweiten 
Geraden,  den  verschiedenen  philosophischen  Rich- 
tungen. Diese  wollen  wir  jetzt  betrachten  und 
dann  gleichzeitig  mit  denen  der  exakten  Wissen- 
schaften vergleichen. 

Wir  beginnen  mit  dem  Idealismus.  Eine 
Theorie  und  Erkenntnisform  heißt  idealistisch, 
wenn  sie  wesentlich  spekulativ  ist,  die  Erfahrung 
als  minderwertige  Erkenntnisquelle  erachtet  oder 
doch  tatsächlich  geringe  Rücksicht  darauf  nimmt. 
Diese  Mißachtung  der  Erfahrung  steigert  sich 
schon  bei  Plato  bis  zu  einer  Konsequenz,  wie 
sie  kaum  nachher  wieder  erreicht  wurde.  In 
dem  Bestreben,  daß  Gebiet  der  Vernunft  hoch 
über  die  Sinnlichkeit  zu  erheben,  verstieg  er  sich 
in  ein  Gebiet,  für  das  dem  Menschen  weder 
Sprache  noch  Vorstellungsvermögen  gegeben  ist, 
so  daß  er  sich  selbst  zuletzt  wieder  zum  bild- 
lichen Ausdruck  gezwungen  sah.  Die  Abstraktion 
wurde  so  für  den  Idealisten  die  Himmelsleiter, 
auf  der  er  zur  Gewißheit  emporstieg.  Je  weiter 
von  den  Tatsachen,  um  so  näher  glaubte  er  der 
Wahrheit  zu  sein.  Für  ihn  ist  eben  alle  Erkenntnis 
durch  die  Sinne  Lug  und  Trug  und  nur  in  den 
Ideen  des  reinen  Verstandes  und  der  Vernunft 
ist  Wahrheit.  Nur  das  begriffliche  Denken  allein 
ist  imstande,  die  Dinge  klar  und  ihrem  Wesen 
nach  entsprechend  aufzufassen.  Von  diesen  selben 
spekulativen  Gesichtspunkten  ist  das  aristotelische 
System  getragen.  Fühlt  man  schon  aus  all  diesen 
Sätzen  die  enge  Verwandtschaft  zwischen  dem 
Mathematiker  und  dem  Idealisten  heraus  und 
stammt  schon  von  Plato  der  Ausspruch :  Äh.deig 
äyeoneTQog  iiairtül,  so  steht  den  neueren  Idea- 
listen die  mathematische  Disziplin  noch  mehr  als 
Vorbild  und  Richtlinie  vor  Augen.  So  wie  die 
Mathematik  in  reinster  deduktiver  Form  ihr  Ge- 
bäude auf  eine  geringe  Anzahl  von  Axiomen  auf- 
baut, so  baut  auch  Descartes  sein  philoso- 
phisches System  auf  den  einen  Cirundsatz  auf: 
Cogito,  ergo  sum.  —  Zwar  soll  hier  sofort  er- 
wähnt werden,  daß  trotz  dieses  stark  idealistischen 
Zuges  Descartes  nicht  als  absoluter  Idealist 
gewertet  werden  soll,  wie  die  weitere  Entwicklung 
zeigen  wird.  — Spinoza  bedient  sich  sogar  des 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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mathematischen  Gewandes,  und  bei  Leibniz 
und  seinen  Zeitgenossen  finden  wir  metaphysisch- 
idealistische Gedankengänge  mit  mathematischen 
verschmolzen.  Dies  möge  folgendes  Beispiel  aus 
Cantors  Geschichte  der  Mathematik  Bd.  III, 
S.  352  erläutern:  Guido  Grandi  (1671  — 1742) 
ein  Camaldulensermönch,  der  in  Pisa  eine  mathe- 
matische Professur  bekleidete,  betrachtete  die 
Formel 

1/2=1-1  +  1-1  +  1-1+ 

als  das  Symbol  der  Schöpfung  aus  Nichts.  Er 
faßte  zu  diesem  Zwecke  die  Glieder  der  Reihe  in 
folgender  Weise  zusammen: 

(i-i)  +  (i-i)  +  (i-i)+ 

d.  h.  0  +  0  +  0 

(Diese  Zusammenfassung  ist  aber  unzulässig  und 
ändert  die  ganze  Sachlage;  denn  jetzt  haben  wir 
eine  Reihe  deren  Summe  gleich  Null  ist.) 

Auch  Leibniz  hat  in  diesem  Streit  über  die 
Reihe  l  —  i  +  i  .  .  .  der  sich  an  G  r  a  n  d  i  s  Auf- 
fassung knüpfte,  das  Wort  ergriffen,  in  einem 
offenen  Briefe  an  den  Philosophen  Wolf  f.  Grandi 
suchte  die  Formel  V2  =  i  —  i  +  i  —  i  •  •  •  durch 
ein  Rechtsbeispiel  plausibel  zu  machen.  „Ein 
Vater  hinterläßt  2  Söhnen  einen  wertvollen  Edel- 
stein, der  abwechselnd  je  i  Jahr  in  dem  Besitze 
eines  jeden  von  beiden  bleiben  soll,  ohne  ver- 
äußert werden  zu  dürfen.  Dann  gehört  er  tat- 
sächlich jedem  zur  Hälfte,  während  dessen  Be- 
sitzrecht durch  die  Reihe  1  —  i  +  i  —  i  +  ...  • 
dargestellt  wird."  Dieses  Beispiel  schien  Leibniz 
unzulänglich. 

Er  suchte  sich  die  Formel  V2  ^  '  —  i  +  '  — 
I  +  I  —  1  ...  so  zurecht  zu  legen :  „Die  unend- 
liche Zahl  der  Reihenglieder  kann  nur  gerade 
oder  ungerade  sein.  Ist  sie  gerade,  so  entsteht  o 
als  Summe,  i  dagegen,  wenn  sie  ungerade  ist. 
Da  aber  kein  Vernunftsgrund  für  das  vorzugs- 
weise Geradesein  oder  das  vorzugsweise  Unge- 
radesein der  Gliederzahl  geltend  gemacht  werden 
kann,  so  geschieht  es  durch  eine  wunderbare 
Eigenart  der  Natur,  daß  beim  Übergange  _,vom 
Endlichen  zum  Unendlichen  zugleich  ein  Über- 
gang vom  Disjunktiven,  welches  aufhört,  zu  dem 
Bleibenden,  welches  in  der  Mitte  zwischen  dem 
Disjunktiven  liegt,  stattfindet.  Wie  die  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung vorschreibt,  man  habe  das 
arithmetische  Mittel,  d.  h.  die  Hälfte  der  Summe, 
gleich  leicht  erreichbarer  Größen  in  Rechnung  zu 
ziehen,  so  beobachtet  hier  die  Natur  der  Dinge 
das  gleiche  Gesetz  der  Gerechtigkeit. 

Leibniz  selbst  fühlte,  wie  wenig  befriedigend 
eigentlich  diese  Argumentation  für  den  Mathe- 
matiker sein  muß.  Deshalb  fügt  er  hinzu :  „Diese 
Art  zu  schließen  ist  freilich  mehr  metaphysisch, 
aber  dennoch  sicher,  wie  denn  überhaupt  die  An- 
wendung der  wahren  Metaphysik  in  der  Mathe- 
matik, Analysis,  in  der  Geometrie,  sogar  weit 
häufiger  von  Nutzen  ist,  als  man  gemeinhin  denkt." 

Gänzlich  erfahrungsfremd  sind  die  auf  Kant 
folgenden  Idealisten,  die  Schiller  als  eine 
geistige  Dynastie  von  Nachahmern  bezeichnet,  die 


den  Pharaonen  gleich  eine  Pyramide  um  die  andere 
in  die  Höhe  türmten,  und  nur  vergaßen,  sie  auf 
den  festen  Boden  zu  gründen. 

Demnach  entsprechen  sich  die  jnathematische 
Disziplin  im  Exakt  -  wissenschaftlichen  und  die 
idealistische  in  der  Philosophie  so  sehr,  daß  man 
ihre  Grundsätze  sogar  in  den  gleichen  Worten 
vereinigen  kann.  Diese  Grundsätze  würden  etwa 
folgendermaßen  lauten:  „Die  Erfahrung  ist  eine 
sehr  minderwertige,  ja  so  gut  wie  gar  keine  Er- 
kenntnisquelle. Die  Erkenntnisse  a  priori  und 
die  sich  durch  deduktives  Denken  ergebenden 
Sätze  sind  die  einzig  wahren.  Das  Denken  ist 
imstande,  die  Dinge  klar  und  deutlich  und  ihrem 
Wesen  nach  entsprechend  aufzufassen.  Hier  haben 
wir  die  höchste  Vollkommenheit  und  die  wahre 
Welt." 

Zuletzt  sei  nochmals  erwähnt,  daß  bei  diesem 
einseitigen  Betonen  des  reinen  Denkens  zuweilen 
diese  Philosophie  zur  philosophischen  Dichtung 
wird. 

Der  philosophische  Empiriker  und 
der  reine  Naturwissenschaftler  des  exakt  -  wissen- 
schaftlichen Gebietes  sind  entwicklungsgeschicht- 
lich so  sehr  einer  durch  den  anderen  bedingt,  so 
vollkommen  aneinander  gewachsen,  und  mitein- 
ander mächtig  geworden,  daß  es  schon  fast  ge- 
zwungen erscheint,  wenn  man  beide  trennen  will. 

Der  Empiriker  sagt:  „Das  einzige  Motiv  des 
Fortschrittes  ist  der  empirische  Faktor.  Nur  auf 
Grund  der  Erfahrung  läßt  sich  ein  synthetisches 
Urteil  bilden.  Alle  unsere  Begriffe,  selbst  die 
abstraktesten  und  allgemeinsten  sind  aus  Erfah- 
rungen hervorgegangen  und  aller  Inhalt  unseres 
Denkens  kann  auf  sie  zurückgeführt  werden.  Das 
Denken  allein  verstrickt  sogar  in  Irrtümer,  sofern 
man  sich  nicht  genau  an  seinen  empirischen  Sinn 
hält  und  vor  Vertauschung  heterogener  Begriffe 
hütet." 

Diese  Entwicklung  bei  Protagoras,  dem  Präger 
des  Wortes:  „Der  Mensch  ist  aller  Dinge  Maß", 
beginnend,  steigert  sich  dann  erst  spät  bei  den 
englischen  Empiristen  bis  zum  äußersten  Radi- 
kalismus, bis  zur  völligen  Auflösung  des  Substanz- 
begrifis  in  eine  Verbindung  von  Empfindungs- 
inhalten (Farben,  Töne,  Drucke),  d.  h.  also  wieder- 
um nicht  die  Dinge  sind  die  Elemente,  sondern 
die  Empfindungen  gleich  wie  bei  dem  reinen 
Naturwissenschaftler  die  Beziehungen.  Mach  ist 
es  wiederum,  der  diesen  Standpunkt  neben  ande- 
ren sog.  relativistischen  Positivisten  vertritt  und 
der  nicht  besser  als  durch  seine  eigenen  Worte 
erläutert  wird :  „Alle  Wissenschaft  hat  Erfahrungen 
zu  ersetzen  oder  zu  ersparen  durch  Nachbildung 
und  Vorbildung  von  Tatsachen  in  Gedanken, 
welche  Nachbildungen  leichter  zur  Hand  sind,  als 
die  Erfahrung  selbst  und  diese  in  mancher  Be- 
ziehung vertreten  können.  Diese  ökonomische 
Funktion  der  Wissenschaft ,  welche  deren  Wesen 
ganz  durchdringt,  wird  schon  durch  die  allge- 
meinsten Überlegungen  klar. 

Die  Natur  setzt  sich  aus  den  durch  die  Sinne 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


41S 


gegebenen  Elementen  zusammen.  Der  Natur- 
mensch faßt  aber  zunächst  gewisse  Komplexe 
dieser  Elemente  heraus,  die  mit  einer  relativen 
Stabilität  auftreten  und  die  für  ihn  wichtiger  sind. 
Die  ersten  und  ältesten  Worte  sind  Namen  für 
„Dinge".  Hierin  liegt  schon  ein  Absehen  von 
der  Umgebung  der  Dinge,  von  den  fortwährenden 
kleinen  Veränderungen,  welche  diese  Komplexe 
erfahren  und  welche  als  weniger  wichtig  nicht 
beachtet  werden.  Es  gibt  in  der  Natur  kein 
unveränderliches  Ding.  Das  Ding  ist  eine  Ab- 
straktion, der  Name  ein  Symbol  für  einen  Kom- 
plex von  Elementen,  von  deren  Veränderung  wir 
absehen.  Daß  wir  den  ganzen  Komplex  durch 
ein  Wort,  durch  ein  Symbol  bezeichnen,  ge- 
schieht, weil  wir  ein  Bedürfnis  haben,  alle  zusam- 
mengehörigen Eindrücke  auf  einmal  wachzurufen. 
Sobald  wir  auf  einer  höheren  Stufe  auf  diese 
Veränderungen  achten,  können  wir  natürlich  nicht 
zugleich  die  Unveränderlichkeit  festhalten,  wenn 
wir  nicht  zum  Ding  an  sich  und  ähnlichen  wider- 
spruchsvollen Vorstellungen  gelangen  wollen.  Die 
Empfindungen  sind  auch  keine  „Symbole  der 
Dinge".  Vielmehr  ist  das  ,,Ding"  ein  Gedanken- 
symbol  für  einen  Empfindungskomplex  von  rela- 
tiver Stabilität.  Nicht  die  Dinge  (Körper)  sondern 
Farben,  Töne,  Drucke,  Räume,  Zeiten  (was  wir 
gewöhnlich  Empfindungen  nennen)  sind  die  eigent- 
lichen Elemente  der  Welt." 

Auch  hier  können  wir  ohne  Zwang  den 
„reinen  Naturwissenschaftler"  und  den  „Empiriker" 
in  seinen  Anschauungen  verschmelzen.  Denn  was 
ist  die  ganze  Physik  anderes  als  ein  Beziehungs- 
system zwischen  Drucken,  Räumen  und  Zeiten. 
Man  denke  an  die  Zurückführung  jeder  Beziehung 
auf  die  drei  Dimensionen :  IM,  L,  T ;  Masse,  Länge, 
Zeit.  Als  Programm  dieser  beiden  entsprechenden 
Punkte  der  Geraden  Gj  und  G2  erhalten  wir  also 
demnach  ungefähr  folgendes: 

„Alle  Wissenschaft  hat  die  Aufgabe  Erfahrung 
zu  ersetzen.  Es  gibt  nur  Beziehungen  und  Ab- 
hängigkeiten von  Drucken,  Räumen,  Zeiten,  Farben, 
Tönen;  diese  sind  die  eigentlichen  Elemente  der 
Welt.  Das  Ding  ist  ein  Gedankensymbol  für  einen 
Empfindungskomplex  von  relativer  Stabilität.  Die 
Natur  ist  nur  einmal  da." 

Ruft  auch  Schiller  den  Transzendental-  und 
Naturphilosophen  zu: 

, .Feindschaft  sei  zwischen  Euch !  Noch  kommt  das  Bündnis 
zu  frühe  I 

Wenn  Ihr  im  Suchen  Euch  trennt,  wird  erst  die  Wahrheit 
erkannt  I" 

SO  sucht  doch  der  Realist  zwischen  dem  Idea- 
listen und  extremen  Empiristen  zu  vermitteln. 
Für  ihn  ist  das  reine  Denken  des  Idealisten  nicht 
allein  maßgebend,  andererseits  sind  aber  für  ihn 
die  „Dinge  an  sich"  nicht  nur  Symbole,  Ab- 
straktionen wie  für  den  Empiristen,  sondern  diese 
haben  gerade  Wirklichkeitsgehalt  in  sich.  Der 
Realist  sagt:  ,, Gerade  die  Dinge  hinter  den 
einzelnen  Erscheinungsformen  sind  die  Elemente 
der  Welt.      Darum    fort    mit    der  Philosophie  des 


„Als  ob".  Von  Jugend  auf  zwingt  uns  das  Leben 
dazu  notgedrungen,  solche  „Realitäten"  anzunehmen 
und  wenn  diese  auch  später  zunächst  eine  scharfe 
Kritik  zu  bestehen  haben,  deshalb  verschwinden 
sie  aber  nicht  in  eine  wesenlose  Abstraktion. 
Denn  es  gibt  doch  in  der  Natur  substratloses 
psychisches  Geschehen  und  die  Hypothesen  haben 
doch  einen  „wahren"  Kern  in  sich." 

Genau  wie  nun  der  Theoretiker  der  exakten 
Wissenschaften  sich  immer  mehr  zum  reinen 
Naturwissenschaftler  hinneigt,  so  schwenkt  auch 
der  Realist  immer  mehr  nach  dem  Empiristen 
(Positivisten)  hin. 

Als  erster  Hauptversuch,  eine  solche  Ver- 
mittlung der  beiden  Extreme  herzustellen,  dürfte 
wohl  die  dualistische,  Körper  und  Geist  scheidende 
Philosophie  Descartes  trotz  der  stark  idea- 
listischen Basis  ihres  Aufbaues  zu  bezeichnen 
sein.  Descartes  stellt  sich  gegen  die  dog- 
matistische  aristotelische  Philosophie,  um  zwar 
dann  nach  dem  Zweifel  an  allem  das  Weltbild 
rein  deduktiv  aufzubauen.  Doch  dieser  idealistische 
Aufbau  ist  nicht  ganz  konsequent;  so  sind  seine 
„Lebensgeister"  echte  materiell  gedachte  „Materie", 
sie  wirken  ausschließlich  nach  physikalischen  Ge- 
setzen. 

Doch  ein  anderer,  in  der  idealistischen  An- 
schauung erzogen,  aber  von  einem  Empiriker  aus 
„dem  dogmatischen  Schlummer  geweckt",  sollte 
eine  haltbarere  Verbindung  zwischen  rein 
empirisch  begriffener  Natur  und  einer  idealistischen 
Metaphysik  herstellen.  Das  ist  Kant.  Kants 
Verdienst  ist  es  ja,  daß  er  die  Sinnlichkeit  zu 
einer  dem  Verstände  gleichberechtigten  Erkennt- 
nisquelle erhoben  hat,  seine  Schwäche,  daß  er 
überhaupt  einen  von  allem  Einfluß  der  Sinne 
freien  Verstand  fortbestehen  ließ.  Seitdem  ist  in 
der  Philosophie  keine  gleichbedeutende  ver- 
mittelnde Schöpfung  hervorgebracht  worden.  Die 
Entwicklung  ist  noch  nicht  so  weit  gediehen,  wie 
in  den  exakten  Wissenschaften,  wo  ja  auch  eigent- 
lich erst  durch  die  Relativitätstheorie  eine  starke 
Verschiebung  des  Gesamtbildes  nach  links  zum 
Positivisten  hin  eingetreten  ist.  Doch  im  wesent- 
lichen sind  die  Entwicklung  wie  auch  das  Pro- 
gramm des  physikalischen  Theoretikers  und 
des  Realisten  die  gleichen. 

Beide  (Theoretiker  und  Realist)  stellen  eine 
Neuschöpfung  und  dann  einen  Ruhepunkt  in  der 
Entwicklung  dar,  eine  erweiterte  Basis,  die  einmal 
den  neuen  empirischen  Erkenntnissen  gerecht 
wird,  dann  aber  auch  mit  Hilfe  der  Mathematik 
bzw.  des  Idealismus  Begriffe  schafft,  die  all- 
mählich zum  Allgemeingut  werden  und  damit  in 
eine  gewisse  Starrheit  verfallen. 

3.  Die  künstlerischen  Ausdrucksformen 
und  ihre  Analogien  mit  den  drei  exakt- 
wissenschaftlichen und  philosophischen 
Erkenntnisrichtungen. 
Charakterisieren  wir  nun  die  verschiedenen 
Kunstrichtungen  und  versuchen  wir  zugleich  ihre 


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Verwandtschaft  mit  den  exal<t-wissenschaftlichen 
und  philosophischen  Weltanschauungen  darzutun! 

Wir  beginnen  mit  dem  Expressionisten 
und  seinem  Gegenstück,  dem  Mathematiker- 
Idealisten.  Wir  haben  gehört,  der  Mathematiker- 
Idealist  sieht  auf  die  Erfahrung  verächtlich  herab, 
wenn  sich  auch  vielleicht  seine  Axiome,  —  was 
er  aber  unbedingt  abstreitet  — ,  daraus  entwickelt 
haben;  auf  diesen  Axiomen  baut  er  rein  formal 
sein  Lehrgebäude  auf,  das  durchaus  nicht  der 
realen  Welt  entspricht.  Der  Expressionist  möchte 
ebenfalls  am  liebsten  überhaupt  keine  Erfahrung 
gelten  lassen,  doch  sicher  nicht  —  genau  wie  der 
Mathematiker-Idealist  —  von  ihr  geleitet  werden. 
Sein  Ruf  ist:  „Los  von  der  Natur".  —  Jede  Kon- 
trolle am  Objekt  wird  ausdrücklich  verschmäht. 
Geist,  das  ist  der  Ersatz,  der  für  die  Natur  ge- 
geben werden  soll.  Ist  dieses  Ersetzen  auch  nicht 
gänzlich  durchführbar,  so  versucht  der  Expressionist 
es  doch  und  oft  mit  der  größten  Konsequenz,  um 
so  sein  „Tiefsterschautes",  die  von  aller  Außen- 
welt befreite  Welt  seines  Ichs  von  sich  geben 
zu  können.  Und  nicht  selten  scheinen  ja  auch 
diese  expressionistischen  Formen  aus  einer  anderen 
Welt  zu  kommen. 

Fast  wie  eine  Übersetzung  der  mathematisch- 
idealistischen Anschauung  in  das  Gebiet  der  Kunst 
und  Kunsttheorie  klingt  es,  wenn  man  einige 
Programmsätze  Edschmidts,  Marcs  u.  a. 
liest.  —  Man  urteile  selbst :  „Der  Expressionismus 
wendet  sich  gegen  die  Natur;  er  will  die  Natur 
überwinden.  —  Die  Welt  ist  da,  es  wäre  zweck- 
los, sie  zu  wiederholen.  —  Die  Wirklichkeits- 
illusion ist  keine  Bedingung  des  künstlerischen. 
—  Man  muß  ein  Ding,  das  man  aus  dem  Chaos 
fixiert  hat,  noch  verwandeln,  als  ob  es  nie  mit 
anderen  Dingen  in  Beziehung  gestanden  hätte. 
Das  Problem  des  Expressionismus  ist,  durch  seine 
Arbeit  der  Welt  Symbole  zu  schaffen,  die  auf 
die  Altäre  der  kommenden  Religion  gehören 
und  hinter  denen  der  Erzeuger  verschwindet 
(Marc).  —  Ein  neues  Weltbild  soll  entstehen, 
das  nichts  mehr  mit  den  Zerstücklungen  des  Im- 
pressionismus zu  tun  hat,  das  vielmehr  einfach, 
wesentlich  ist  und  darum  schön."  Die  durchaus 
nicht  geringe  ästhetische  Wirkung  der  Mathematik 
beruht  ja  auch  hauptsächlich  auf  ihrer  Einheit- 
lichkeit, ihrer  Vernachlässigung  und  Abstraktion 
alles  Nebensächlichen  und  ist  auch  eben  deshalb 
vom   expressionistischen  Standpunkte    aus   schön. 

Wie  im  Programm,  so  finden  wir  auch  in  der 
Entwicklung  des  Expressionismus  auf  Schritt  und 
Tritt  seine  Wesensähnlichkeit  mit  der  Mathematik 
und  dem  Idealismus.  Wie  entwickelte  sich  die 
mathematisch-idealistische  Erkenntnisform?  Auf 
Realem  (der  Erfahrung)  fußend,  lockerte  sie 
immer  mehr  dieses  Band  und  das  führte  zu  der 
uns  bekannten  Anschauung.  Wie  begann  die 
neue  künstlerische  Richtung?  Was  versuchten 
ihre  Vorläufer  Strindberg,  van  Gogh,  Munch? 
Auch  sie  wollten  heraus  aus  den  stets  wechseln- 
den  Formen   des   Werdens   und   Bestehens.     Sie 


wollten  die  Welt  „konstruieren".  Sie  suchten 
eine  Formel ,  eine  Stilisierung  des  ewig  Ver- 
änderlichen; zwar  blieben  sie  noch  meistens  auf 
dem  realen  Boden  stehen.  Doch  das  dauerte 
nicht  lange  bei  ihren  Nachfolgern !  Immer  mehr 
und  konsequenter  entwickelte  sich  das  Streben, 
sowohl  in  der  Form  und  auch  im  Wesen  seine 
eigene  Welt  zu  schaffen;  man  sucht  eine  Welt 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  wie  sie  nur  im  Hirne 
des  Einzelwesens,  in  diesem  einen  Ich  besteht, 
diesem  Ich,  das  keinen  Analogieschluß  auf  die 
anderen  zulassen  mag.  Als  weitere  Konsequenz 
ergab  sich  dann  jede  Flucht  vor  der  Wirklichkeit. 

Dieses  Abwenden  von  der  realen  Welt  führt 
dann  —  denken  wir  zunächst  besonders  einmal 
an  die  Malerei  und  Plastik  —  zu  weiterem  Irre- 
alen wie  in  der  Mathematik  und  dem  Idealismus. 
Das  fortwährende  Abstrahieren,  Schematisieren, 
die  Forderung  der  Monumentalität,  Flächenhaftig- 
keit  und  Einheitlichkeit  führt  direkt  zur  mathe- 
matischen Formulierung.  So  entsteht  die  Vor- 
liebe für  mathematische  Figuren  als  bestimmte 
Symbole.  Zum  Teil  soll  nur  das  Zweidimensionale, 
ja  sogar  das  Eindimensionale  Berechtigung  haben. 

So  kann  sich  zuletzt  sogar  das  „naturalistisch- 
ste" Objekt,  die  Landschaft,  nicht  der  Sym- 
bolisierung entziehen.  Auch  sie  wird  dem  Herr- 
scherwillen des  Künstlers  untertänig  gemacht. 
Er  will  meistens  nicht  die  und  die  Landschaft 
wiedergeben,  sondern  das  Bild  eines  tiefaufge- 
wühlten Traumes  mit  aller  Kraft  der  Vermensch- 
lichung. —  Haben  wir  nicht  in  allem  das  Gegen- 
stück zum  mathematisch  -  idealistischen  „Phan- 
tasten"? 

Die  Welt  des  Unwirklichen  ist  das  gesuchte 
Paradies  1  Hier  kann  sich  uneingeschränkt  der 
heißeste  Wille,  die  ungebändigte  Kraft  ausloben, 
wenn  auch  mit  einer  eigenartigen  Logik.  Es  ist 
ein  konsequentes  Aufbauen  auf  bestimmter,  oft 
eigentümlicher  Basis.  Denken  wir  an  Hasen- 
clevers  „Sohn"!  —  Der  Jüngling  ist  es  ja-,  der 
sein  „Ich"  noch  nicht  mit  der  gegebenen  Welt 
in  Übereinstimmung  bringen  kann,  dessen  Seelen- 
leben noch  nicht  der  realen  Welt  konform  ist. 
Er  sieht  gewissermaßen  alles  so  an,  wie  es  auf 
unseren  geographischen  Modellen  ist.  Auch  hier 
ist  die  Erhöhung  im  Gegensatz  zur  Flächenaus- 
dehnung viel  zu  groß  genommen,  damit  eine 
größere  Anschaulichkeit  hervorgebracht  wird. 
Das  Modell  ist  überhöht.  So  steht  es  auch 
mit  der  Seele  des  Sohnes  —  und  jedes  Jünglings. 
Diese  „Überhöhung  des  Geistigen",  dieses  zu  kraft- 
volle, konsequente  Aufbauen  auf  einer  bestimmten, 
zu  engen  Lebensbasis,  ist  es  ja  auch,  was  der 
Jugend  die  weit  größere  Begeisterungsfähigkeit 
gibt,  den  Enthusiasmus.  Und  hiermit  kommen 
wir  zu  weiteren  Wesensähnlichkeiten  zwischen 
Mathematik  und  Expressionismus. 

Die  gewaltige  Stoßkraft,  —  der  Physiker  würde 
sagen:  das  Potential-,  das  Jugendliche,  Bejahende, 
Begeisterungsfähige  und  damit  das  Kosmopolitische 
sind  die    vorzüglichen  Eigenschaften,   die  Expres- 


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sionismus  und  MathematikIdeaUsmus  gemeinsam 
haben.  Woher  nimmt  Mathematik  und  Ideahsmus 
diese  Stoßkraft  ?  Aus  der  ungeheuren  Konsequenz, 
auf  der  sie  auf  der  einmal  angenommenen  Basis, 
ohne  rechts  und  links  zu  schauen,  ihre  Systeme 
entwickeln.  Woher  nimmt  sie  der  Expressionis- 
mus? Aus  der  gleichen  Quelle  I  Und  die  Be- 
geisterung? Nun,  das  macht  ja  zum  Teil  den 
Expressionismus  aus.  Weshalb  heißt  er  denn 
Ausdruckskunst?  Andererseits  ist  es  wohl  auch 
nicht  Zufall,  daß  aus  dem  Munde  Novalis,  der 
von  Expressionisten  so  geschätzt  wird,  die  Worte 
stammen :  „Das  Leben  der  Götter  ist  Mathematik. 
Alle  göttlichen  Gesandten  müssen  Mathematiker 
sein.  Reine  Mathematik  ist  Religion.  Die  Mathe- 
matiker sind  die  einzig  Glücklichen.  Der  Mathe- 
matiker ist  Enthusiast  per  se.  Ohne  Enthusias- 
mus keine  Mathematik."  Dann  ist  es  aber  auch 
eine  bekannte  Tatsache,  daß  gerade  die  Mathe- 
matik wie  auch  der  Idealismus  ihre  Anhänger 
gänzlich  in  ihren  Bann  zieht. 

Zuletzt  möge  noch  die  Musik  besonders  er- 
wähnt werden.  Ihre  nahe  Verwandtschaft  mit 
Mathematik  und  Idealismus  ist  bekannt.  Sie  ist 
im  Grunde  immer  expressionistische  Kunst. 

Natürlich  haben  Expressionist  und  Mathema- 
tikerTdealist  auch  noch  andere  Eigenschaften  der 
Jugend  gemein.  Gerade  weil  diese  drei  Gegen- 
stücke so  deutungsreich  und  -fähig  sind,  ver- 
tragen sie  sich  nicht  mit  der  realen  Welt;  sie  sind 
weltfremd  und  werden  von  falschen  Propheten 
verkündet  zur  Schablone  und  leeren  Form. 

Wir  kommen  zum  ImpressionismusI 
Auch  dessen  Programm  klingt  fast  bis  ins  kleinste 
wie  eine  Übersetzung  der  zu  einer  Einheit  ver- 
schmolzenen empiristisch  positivistischen  Anschau- 
ung. Der  Impressionist  sagt:  „Alles  ist  Simmung". 
Wie  heißt  es  beim  Positivisten  ?  „Was  wir  Emp- 
findungen nennen,  das  sind  die  eigentlichen 
Elemente  der  Welt  1"  Ferner  ist  das  Wort 
Fausts  dem  Impressionismus  auf  den  Leib  ge- 
schrieben: „Am  farbigen  Abglanz  haben  wir  das 
Leben."  Das  soll  ja  heißen:  „Das  ewig  Wech- 
selnde in  Farbe  und  Licht  ist  das  Leben."  Was 
sagt  der  Positivist:  „Die  Natur  ist  nur  einmal 
da",  d.  h.  in  jedem  Augenblicke  ändert  sie  ihr 
Gesicht,  die  gegenwärtigen  Beziehungen  sind 
andere  geworden;  es  gibt  keine  Normen.  „Ein 
weiteres  Gebot  des  Impressionisten  lautet:  ,,Je 
ungezwungener,  je  zufälliger  und  je  ursprüng- 
licher der  Eindruck  des  Kunstwerkes  ist,  um  so 
besser  ist  es,  schaffe  nichts,  was  gedanklich  voll- 
kommen sein  will,  denn  das  gibt  es  nicht."  Der 
entsprechende  Satz  des  Positivisten  lautet:  ,,Es 
gibt  keine  Ursachen  und  Wirkungen,  es  gibt  nur 
immer  wechselnde  Beziehungen."  —  Mach  sagt 
einmal  ungefähr  folgendes:  „Lieber  will  ich  an 
einem  Weltbilde  mitschaffen,  das  zwar  unvoll- 
kommen ist,  aber  sich  auf  das  tatsächlich  Gegebene 
(die  Beziehungen)  aufbaut,  als  Anhänger  eines 
vollkommenen  Weltbildes  zu  sein,  das  sich  zum 
Teil  auf  unkontrollierbare  (nur  aus  dem  Intellekt) 


stammende  Hypothesen  stützt  und  daraus  seine 
Stärke  nimmt,  so  daß  ich  bei  jeder  neuen  Erfah- 
rung ein  Einstürzen  des  ganzen  Gebäudes  be- 
fürchten muß." 

Welche  Methoden  benutzt  nun  der  Empiriker- 
Positivist,  um  das  unvollkommene  Weltbild  zu 
ergänzen  und  zu  vervollständigen  ?  Er  sucht  die 
Natur  möglichst  bis  ins  Kleinste  nachzubilden.  Je 
mehr  ihm  das  gelingt,  je  mehr  „Größen"  er  in 
seiner  Nachbildung  betrachten  kann,  um  so  besser 
ist  seine  Aufgabe  gelöst.  Ist  er  sich  auch  der 
Tragik  bewußt,  daß  er  niemals  das  Ende  des 
„Grenzprozesses"  erreichen  wird,  so  ist  er  doch 
von  seinem  Wege  als  dem  einzig  möglichen  über- 
zeugt. Um  nun  die  einmal  bekannten  Größen 
in  allen  möglichen  Variationen  kennen  zu  lernen, 
verändert  er  bald  die  eine,  bald  die  andere;  so 
soll  die  Natur  möglichst  genau  nachgebildet  wer- 
den, er  experimentiert. 

Die  gleichen  Wege  beschreitet  der  Impressio- 
nist in  dem  Versuche  eines  künstlerischen  Welt- 
begreifens  und  in  manchen  Gebieten  der  Kunst, 
besonders  der  Malerei  ist  es  ihm  möglich,  mit 
einem  Schlage  sein  Programm  der  Verwirklichung 
sehr  nahe  zu  bringen.  Doch,  wo  er  es  nicht  auf 
den  ersten  Schlag  fertig  bringt,  bedient  er  sich 
auch  des  Experiments  und  der  Variation  wie  der 
Empirist  und  Positivist. 

Um  das  im  einzelnen  darzutun,  betrachten  wir 
zunächst  die  Malerei.  Gerade  hier  zeigt  sich  die 
Durchführung  des  impressionistischen  Programms 
in  der  besten  Konsequenz.  Hier  kann  ja  am 
ehesten  eine  Nachbildung  der  ewig  wechselnden 
Natur  geschaffen  werden.  Darum  ist  dem  Im- 
pressionisten jeder  Ausschnitt  aus  der  Natur  recht, 
der  sich  ihm  bietet.  Je  zufälliger,  um  so  reiner 
wirkt  das  Bild  ja  als  bloßer  Sinneseindruck,  um 
so  klarer  unterscheidet  man :  Alles  ist  im  Flusse 
und  das  Bild  soll  nur  ein  Eindruck  sein,  soll 
aber  nichts  bedeuten.  Auf  Empfindungen  baut 
sich  die  Welt  auf  und  Empfindungen  sollen  darum 
auch  das  Bild  beherrschen  1  Alles,  was  durch 
Deutung  gewoimen  wird,  ist  verpönt.  Die  augen- 
blicklichen Eindrücke  von  Farbe  und  Licht  rücken 
in  den  Vordergrund.  Es  ist  nicht  nötig,  etwas  zu 
erkennen,  sondern  man  soll  nur  empfinden.  In 
jedem  Sonnenstäubchen  schwingt  des  Lebens 
ewiger  Rhythmus  und  darum  ist  es  gleich,  ja 
sogar  besser,  den  Gegenstand  möglichst  unwichtig 
zu  nehmen  und  so,  wie  er  im  Augenblick  er- 
schaut wird.  Deshalb  wird  der  Skizze  so  große 
Beachtung  geschenkt,  denn  da  fühlt  man  noch 
das  pulsierende  Leben,  das  gar  zu  leicht  aus  dem 
langsam  gewordenen  Bilde  entschwindet. 

Aus  tausenden  und  abertausenden  kleinsten 
Mosaiksteinchen  soll  das  Weltbild  aufgebaut  wer- 
den, genau  wie  beim  Experimentator  aus  unend- 
lich vielen  Versuchen.  Genau  wie  der  bunt- 
schillernde Schmetterlingsflügel  sich  in  unzählige 
Schuppen  unter  dem  Mikroskope  auflöst,  so  sucht 
auch  zuletzt  der  Impressionist  sein  Bild  aufzu- 
bauen.     Mit   Hilfe    optisch-physikalischer    Kennt- 


Ali 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nisse  wird  das  Auge  zu  einem  neuen  Sehen  er- 
zogen. —  Erfahrungsresultate,  wohin  wir 
schauen ! 

Auch  hier  ist  sich  der  Künstler  genau  wie 
der  Wissenschaftler  der  Tragik  klar  bewußt,  daß 
er  nämlich  nie  den  Grenzprozeß  ganz  durchführen 
kann,  doch  auch  er  hält  an  seiner  Anschauung 
fest,  weil  er  in  ihr  den  einzigen  Weg  sieht,  der 
zum  Ziele  führen  könnte.  So  kommt  es,  daß  der 
Impressionismus  trotzdem  er  sich  an  Luft,  Licht 
und  Farbe  berauscht,  in  seiner  Grundstimmung 
negierend,  pessimistisch  oder  sagen  wir  besser 
—  resignierend  ist.  Er  hat  es  aufgegeben,  ein 
stolzes  Gebäude  zu  errichten.  Nein,  lieber  zurück 
zu  den  letzten  Elementen,  den  Empfindungen!  — 
Dieses  Resignierende  des  Impressionismus  gibt 
sich  ja  auch  unter  vielen  anderen  in  der  Vorliebe 
für  matte  Farben  kund. 

Wie  sich  der  wissenschaftliche  Empirist  mehr 
oder  weniger  in  seinem  Schaffen  von  seinen  Ver- 
suchen treiben  läßt,  so  finden  wir  auch  beim  Im- 
pressionisten die  bewußte  Ausschaltung  des  eigenen 
Willens,  mehr  das  Erdulden  (Empfinden)  als  die 
tatkräftige  Handlung. 

Diese  letztere  Eigenschaft  tritt  besonders  bei 
der  impressionistischen  Plastik  hervor.  Darin  liegt 
die  Bevorzugung  des  Frauenkörpers  als  des 
lässigeren,  weicheren  gegenüber  dem  männlicheren 
begründet.  Aber  auch  bei  männlichen  Plastiken 
haben  wir  statt  des  Gehens  mehr  ein  „Gegangen- 
werden", statt  des  WoUens  mehr  ein  Erdulden. 
Man  denke  an  Rodin  (Bürger  von  Calais,  Balsac). 
Die  Sensibilität  ist  es  ja,  die  bis  aufs  höchste 
gesteigert  wird  und  werden  soll!  Typisch  für 
diese  ganze  Auffassung  sind  die  Worte  H.  v.  Hof- 
mannsthals, die  er  im  „weißen  Fächer"  Miranda 
sprechen  läßt: 

„Wer  bin  denn  ich,   welch  eine  Well  ist  dies, 

In  der  so  Kleines  hat  so  viel  Gewalt! 

Kein  Festes  nirgends !     Droben  nur  die  Wolken, 

Dazwischen,  ewig  wechselnd,  weiche  Buchten 

Mit  sehnsuchtsvollen  Sternen  angefüllt.   ~ 

Und   hier  die  Erde,  angefüllt  mit  Rauschen 

Der  Flüsse,   die  nichts  hält.     Des  Lebens  Kronen, 

Wie  Kugeln  rollend,  bis  ein  Mutiger  drauf 

Mit  beiden  Füßen  springt;  Gelegenheit, 

Das  große  Wort;   wir  selber  nur  der  Raum, 

Drin  tausende  von  Träumen  buntes  Spiel 

So  treiben,  wie  im  Spripgbrunn  Myriaden 

Von  immer  neuen,   immer  fremden  Tropfen; 

All  unsre  Einheit  nur  ein  bunter  Schein, 

Ich   selbst  mit  meinem  eignen  Ich   von   früher, 

Von  einer  Stunde  früher  grad  so  nah, 

Vielmehr  so  fern  verwandt,  als  mit  dem  Vogel, 

Der  dort  hinfliegt.  —  Weh,  in  dieser  Welt 

Allein  zu  sein,  ist  Übermaßen   furchtbar. 

Dies  fühl'  ich,  da  ich  meine  Schwachheit  nun 

P'rkenne :  aber  daß  ich  dieses  fühle 

Ist  meiner  Schwachheit  Wurzel,  Unser  Denken 

Geht  so  im  Kreis,  und  das  macht  uns  so  hilflos." 

So  wird  sogar  in  der  Musik,  der  expres- 
sionistischsten Kunst,  jede  gedankliche  Verknüpfung 
verbannt.  Auch  hier  haben  wir  das  bewußte 
Betonen  des  Ewigwechselnden,  der  Empfindungs- 
und   Stimmungsmalerei.       Auch     die    impressio- 


nistische Musik  hat  nur  die  Aufgabe  von  einem 
augenblicklichen  Erlebnis  zum  anderen  zu.  führen. 

Diese  impressionistische  Wirkung  auf  Auge 
und  Ohr  findet  in  der  impressionistischen  Dich- 
tung beredte  Verkündigung.  Bleiben  wir  zu- 
nächst bei  dem  einen  Haupt  Vertreter  H.  v.  Ho  f- 
mannsthal.  Er  hat  am  tiefsten  das  empiristisch- 
positivistische  Wort  empfunden:  „Nur  die  Be- 
ziehungen, die  Abhängigkeiten  können  wir  er- 
kennen, doch  können  wir  nicht  hinter  die  Dinge 
schauen."  In  jeder  Zeile  klingt  das  durch,  aber 
auch  zwischen  allen  Zeilen  schwingt  das  flim- 
mernde Leben  wie  in  den  impressionistischen 
Bildern. 

Selbst  die  Variationsmethode  des  wissen- 
schaftlichen Empiristen  treffen  wir  an!  Bei  H. 
v.  Hofmannsthal  in  dem  kleinen  Drama  ,,Der 
Tor  und  der  Tod."  Noch  präziser  in  Wede- 
kinds „Erdgeist".  Jedesmal  in  jedem  Akte  wird 
das  gleiche  Experiment  vorgeführt  mit  einigen 
Veränderungen  und  den  daraus  sich  bedingenden 
Abhängigkeiten.  Ebenso  in  Seh  nitzl  ersehen 
Dramen,  wo  eine  Verknüpfung  einer  fortlaufenden 
Reihe  von  Größen  hergestellt  wird. 

Auch  die  Loslösung  der  Dichtung  aus  den 
Banden  der  hergebrachten  Form  hat  in  dem  be- 
wußten Betonen  des  Relativen,  des  Funktionellen 
seinen  Ursprung. 

Wie  es  scheint  ist  nie  der  Kampf  der  Kunst- 
richtungen so  hart  und  scharf  geführt  worden, 
wie  heute.  Woran  das  liegt;  möge  zunächst  da- 
hingestellt bleiben.  Wie  sehr  auch  der  Ruf  nach 
einen  neuen  Schöpfer  und  neuen  Träger  erschallt, 
noch  ist  dieser  nicht  erschienen  und  so  betrachten 
wir  nur  den  Erhalter,  den  erstarrten  Klassizismus, 
den  wir  in  gleicher  Weise  gegen  Im-  wie  Ex- 
pressionismus Front  machen  sehen.  Diesen 
Klassizismus  hat  G.  Keller  im  ersten  Gasel 
der  Trinklaube  treffend  geschildert: 

,, Unser  ist  das  Reich   der  Epigonen, 
Die  im  weiten  Zwischenreiche  wohnen; 
Seht  wie  ihr  noch  einen  Tropfen  presset 
Aus  den  alten  Schalen  der  Zitronen? 
Geistiges  ist  mäßig  noch   vorhanden 
Auch  des  Lebens  Süße  wird  noch  lohnen ; 
Wasser  flutet  uns  in  breiten  Strömen 
Brauchen  es  am  wenigsten  zu  schonen ! 
Braut  den  Trunk  für  lange   Winternächte, 
Bis  uns  blühen   neue  Geisteskronen 
Und   der  Dichtung  Fahrzeug  mag  entrinnen 
Dem  Bereich  der  grausen  Lästrygonenl" 

Noch  ist  das  Fahrzeug  der  Kunst  diesem  Be- 
reiche nicht  entronnen !  Noch  gilt  in  der  Dichtung 
unsere  klassische  Zeit  mit  ihren  Ausstrahlungen 
landläufig  als  die  bestehende  Ausdrucksform, 
als  die  Sprache,  in  der  sich  Dichtung  am  voUen- 
desten  ausspricht.  Schon  etwas  weniger  gelten 
in  der  bildenden  Kunst  und  der  Malerei  die  epi- 
gonenhafte, zur  Schablone  gewordene  Form  der 
vorigen  Jahrhunderte  als  die  allgemeingültige.  In 
der  Musik  aber  scheint  erst  das  stets  wachsende 
Verständnis  für  Beethoven  zur  neuen  P'ormel 
zu  führen. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


419 


Doch  gerade  Im-  und  Expressionismus  zeigen 
ja,  daß  außer  vielleicht  in  der  Musik  die  alte 
Form  unwiderruflich  zertrümmert  am  Boden  liegt 
und  es  keinen  Rückweg  mehr  zu  ihr  gibt. 

Die  Verwandtschaft  dieses  Klassizismus  mit 
dem  philosophischen  Realismus  und  der  mit  ihm 
verschmolzenen  Anschauung  des  theoretischen 
Physikers  erkennt  man  besonders  in  der  Dichtung. 
Diese  ist  ja  auch  heute  noch  durchtränkt  von 
Goethescher  Art,  die  wir  ja  als  Symbol  des  neu- 
schöpfenden und  erhaltenden  Realismus  erkannt 
hatten.  Doch  die  Bereicherung  an  Form-  und 
Klangfülle,  die  auf  die  Rechnung  des  Impressio- 
nismus kommt,  und  ein  neugeformter  Idealismus 
drängen  alle  zu  einem  Neuschöpfer,  einem  neuen 
Träger.  In  der  Malerei  bilden  die  mehr  von 
Idealismus  erfüllten  italienischen  Klassiker  und 
die  vom  Empirismus  herkommenden  großen 
Holländer,  die  vorhandenen  extremen  Kraftzentren, 
die  neu  schöpfend  zu  vereinen  sind,  und  vielleicht 
auch  schon  in  den  großen  Werken  der  Impressio- 
nisten eine  solche  Form  gefunden  haben;  denn 
wir  sehen  ja  überall,  daß  in  der  ganzen  Ent- 
wicklung ein  Verschieben  nach  links  —  im  Exakt- 
wissenschaftlichen z.  B.  zum  Empiristen  hin  — 
statthat.  Doch  das  näher  zu  untersuchen,  möge 
die  Aufgabe  des  Schlusses  sein. 

Schluß. 

Die  Wesensähnlichkeit  der  verschiedenen  Typen 
in  den  betrachteten  Erkenntnisgebieten  liegt  noch 
tiefer.  Stellt  Mathematik,  Idealismus  und  Ex- 
pressionismus das  jugendliche  Element  dar,  so 
Empirismus  und  Impressionismus  das  Alter,  das 
Ende  einer  Kultur.  Das  stimmt  überein  mit  der 
Äußerung  Hamanns,  das  Auftreten  des  Im- 
pressionismus sei  immer  das  Zeichen  einer  End- 
kultur. Idealistisch  -  expressionistische  Epochen 
hat  es  immer  gegeben  ebensogut  wie  empiristisch- 
impressionistische. 

Jedoch  trotz  der  gegenwärtigen,  so  stark  be- 
tonten expressionistischen  Richtung,  die  sich  mit 
ihrer  ganzen  Berechtigung  ausleben  will  und  soll, 
darf  man  doch  seine  Augen  der  Tatsache  gegen- 
über nicht  verschließen,  daß  die  Entwicklung  der 


ganzen  Erkenntnis  sich  doch  stark  zugunsten  der 
Empirie  verschoben  hat.  Ist  die  Welt  auch  noch 
zu  jung  dazu,  um  sich  ganz  der  Resignation  hin- 
zugeben, nachdem  bei  immer  reicher  werdenden 
-Kenntnissen  versucht  worden  ist,  zu  einer  klaren, 
befriedigenden  Formulierung  in  dieser  Welt  der 
Erscheinung  zu  kommen,  so  ist  sie  aber  auch 
nicht  mehr  jung  genug,  um  diese  Erfahrungen 
einfach  außer  acht  zu  lassen. 

Die  Einsteinsche  Theorie,  als  deren  geistigen 
Vorläufer  man  wohl  die  kritische  und  doch  lebens- 
bejahende Erscheinung  Machs  ansehen  muß, 
wird,  falls  sie  zum  Träger  unserer  exaktwissen- 
schaftlichen Anschauung  wird,  doch  eine  sehr 
starke  Abneigung  gegen  jede  absolutistische  Auf- 
fassung darstellen  und  gleichzeitig  wird  damit  die 
relativistisch  •  positivistische  Anschauung  in  der 
Philosophie  gewinnen  und  auch  die  künstlerische 
Ausdrucksform  nicht  unverändert  lassen.  Doch 
wer  weis  ob  schon  diese  „Unsumme"  von  Er- 
fahrungen und  Kenntnissen  erreicht  ist,  die  eben 
nötig  ist,  um  den  Hang  des  Menschen  nach  einem 
in  sich  fertigen ,  widerspruchsfreien  System  zu 
bezwingen. 

Man  könnte  sagen :  Idealismus  und  Expressio- 
nismus verkörpern  sich  in  dem  Faust  der  klassi- 
schen Walpurgisnacht,  dem  mutigen  Eindringer 
in  die  Geisterwelt,  der  Empirismus  und  Impres- 
sionismus in  Helena,  dem  ewig  Weiblichen,  ewig 
sich  Entwickelnden,  der  von  größtem  Rhythmus 
durchschwingten  Stoffülle.  Aus  ihrer  Vereinigung 
entsproßt  Euphorion,  der  Träger  einer  neuen 
Weltanschauung,  nach  dem  in  Wissenschaft,  Kunst 
und  Leben  der  Ruf  durch  alle  Welt  geht. 
Literatiiraugaben. 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese. 

—  — ,   Wert  der  Wissenschaft. 

Mach,  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung  (kritisch  betrachtet). 

—  — ,  Analyse   der   Empfindungen. 

—  — ,   Erkenntnis  und   Irrtum. 

F.  A.  Lange,   Geschichte  des  Materialismus. 

KUlpe,  Einleitung  in  die  Philosophie. 

Study,  Die  realistische  Weltanschauung  und  die  Lehre 
vom  Raum. 

Hamann,  Impressionismus  in  Kunst  und  Leben. 

E.  V.  Sydow,  Die  deutsche  expressionistische  Kultur 
und  Malerei. 


[Nachdruck  verboten.] 


Über  das  Farbeiisehe»  bei  Wespen. 

Von  Ludwig  Annbruster, 

Mitglied  des  Kaiser- Wilhelm-Instituts  für  Biologie  Dahlen 


Den  verdienten  Forschern  L  u  b  b  o  c  k  und 
Forel  wollte  es  nicht  gelingen,  Wespen  auf 
Farben  zu  dressieren,  ganz  im  Gegensatz  zu 
Bienen  und  Hummeln.  Seither  war  man  geneigt, 
den  Wespen  den  Farbensinn  abzusprechen.  Forel 
schreibt  zwar  an  einer  Stelle ')  vorsichtig :  „Man 
kann  Wespen  nicht  so  wie  Bienen  und  Hummeln 
mit    Farben    täuschen ,    doch    genügt    diese    Tat- 


')  Das  Sinnesleben  der  Insekten.     München   1910,   S.  30. 


Sache  nicht  etwa  als  Beleg  dafür,  daß  sie  die 
Farben  schlecht  unterscheiden".  .'\ber  auch  er 
setzt  gleich  darauf  als  feststehend  voraus,  „daß 
Wespen,  wie  Lubbock  zeigte,  nur  einen  un- 
scharfen Farbensinn  besitzen".  Negativer  Ver- 
suchsausfall hat  immer  etwas  Mißliches  an  sich. 
Das  machte  auch  mir  anfangs  Mühe,  als  ich  im 
Sommer  1921  Wespen  (Vespa  saxonica)  abzu- 
richten begann,  um  ihre  psychischen  Fähigkeiten 
genauer  mit  denen  der  Bienen  zu  vergleichen  und 


420 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


die  Richtigkeit  von  Schlüssen  zu  prüfen,  welche 
die  vergleichende  Gehirnanatomie  nahelegte.^) 

Farbige  Quadrate  stellte  ich  nach  von  Frisch- 
schem  Vorbild  zu  einem  bunten  Schachbrett  zu- 
sammen, immer  die  Farbeanordnung  wechselnd. 
Auf  Blau  Nr.  13''')  wurde  Stetsfort  in  einem  Uhr- 
schälchen  Zuckerwasser  gefüttert,  auf  allen  übrigen 
(im  ganzen  von  einer  Glasplatte  bedeckten)  Schach- 
brettfeldern standen  leere  Uhrschälchen.  Von 
Zeit  zu  Zeit  wurden  die  Wespen  examiniert:  die 
Farbenquadrate  neu  durcheinandergewürfelt  und 
das  Blau  13  diesmal  wie  alle  anderen  Farben  mit 
einem  leeren  Uhrschälchen  bedacht.  Die  Bienen 
lassen  sich  bekanntlich  mit  Promptheit  und  Zähig- 
keit auf  dem  Blau  nieder,  obwohl  es  jetzt  uner- 
giebig ist.  Denn  es  hat  sich  bei  ihnen  eine 
Assoziation  gebildet:  „Blau" — „F"utterquelle".  Ganz 
anders  die  Wespen:  Dies  unruhige  Geschlecht 
tanzt  in  unstetem  Fluge  ganz  „wie  verwirrt"  über 
dem  Schachbrett  umher.  Das  Blau  13  wurde 
auch  nicht  etwa  dadurch  ausgezeichnet,  daß  über 
demselben  eine  mehr  oder  weniger  deutliche 
Wespenwolke  schwebte.  Diese  Auszeichnung 
wurde  höchstens  der  Stelle  zuteil,  wo  zuletzt  (auf 
dem  Blau  der  vorangegangenen  Schachbrettan- 
ordnung) gefüttert  worden  war.  In  ungezählten 
Versuchen  während  des  langen  Abrichtens  war 
das  Ergebnis  stets  gleich  negativ.  Ein  Grund 
für  dieses  Versagen  war  bald  gefunden :  im  Gegen- 
satz zum  Bienenversuch  hat  die  Wespe  es  offenbar 
nicht  nötig,  zur  Feststellung  des  Nichtvorhanden- 
seins oder  des  Vorhandenseins  von  (für  uns  ge- 
ruchlosem) Futter  sich  erst  an  Schälchen  nieder- 
zulassen. Deshalb  wurde  mit  Hilfe  der  Kästchen- 
methode (2  blau  maskierte  Kästchen,  innen  je 
mit  geruchlosem  Futter  beschickt;  und  2  leere 
Kästchen,  vorn  mit  der  Gegenfarbe,  bei  mir  Gelb  4, 
maskiert)  dressiert.  Die  Kästchen  werden  dabei 
andauernd  neu  umgestellt.  Beim  Versuch  werden 
sie  ersetzt  durch  vier  Kästchen,  welche  den 
Dressurkästchen  äußerlich  genau  entsprechen,  je- 
doch samt  und  sonders  leer  und  duftlos  sind. 
Auch  diese  Kästchenmethode  schloß  sich  enge  an 
die  von  K.  v.  Frisch  benutzte  an.  Doch  hatte 
ich  meine  Kästchen  etwas  anders  eingerichtet, 
um  genauer  zählen  zu  können.  Jetzt  bei  dieser 
Kästchenmethode  überwog  derVersuchmit 
der  Dressurfarbe  Blau  13  deutlich  den 
Besuch  der  Kästchen  mit  der  Dressur- 
gegenfarbe Gelb  4  (vgl.  die  Übersicht  Ver- 
such  I   bis  3). 

Im  Verlaufe  des  ersten  Dressurtages  hatte  sich 
die  Besucherzahl  gemehrt.  Aber  nicht  nur  dies, 
das  Ergebnis  bei  späteren  Versuchen  war  pro- 
zentual nicht  schlechter  sondern  besser  geworden. 
Die  Bevorzugung  der  Blaukästchen  ist  ganz  deut- 


lich.^) Blau  und  Gelb  werden  deutlich  unter- 
schieden. 

Können  die  Wespen  auch  andere  Farben  noch 
unterscheiden ,  welche  Farben  verwechseln  sie 
leicht,  können  sie  in  Farbenmischungen  die  Dres- 
surfarbe herausfinden,  richten  sie  sich  überhaupt 
nicht  nur  nach  Helligkeitswerten  bei  der  Unter- 
scheidung der  Dressurfarben  (ein  Moment,  das 
von  Forel  u.  a.  übersehen  wurde),  sondern  wirk- 
lich nach  den  Farbwerten,  nach  den  (reflektierten) 
Lichtarten  mit  den  verschiedenen  Wellenlängen  ? 
Wie  ist  ihre  Farbentüchtigkeit  verglichen  mit 
jener  der  Bienen  (vgl.  Fall  4  bis   ll)? 

Es  wurde  in  den  Zwischenzeiten  zwischen 
den  Versuchen  wie  bisher  weiter  dressiert  (ge- 
füttert) auf  Blau  13  bei  der  Gegenfarbe  Gelb  4. 
Nur  wurde  beim  Versuch  die  eine  (oder  gar 
beide)  dieser  zwei  Farben  ersetzt  durch  eine 
ganz  neue,  auf  dem  Spektrum  +  benachbarte 
Farbe.  Diese  sog.  Verwechslungsversuche  gaben 
also  sozusagen  Antwort  auf  die  Fagen:  i.  „Er- 
scheint Euch  diese  Farbe  mehr  Blau  oder  Gelb 
ähnlich  ?"  2.  „In  welchem  Maße  erscheint  sie 
Euch  ähnlich?"  und  vor  allem:  3.  ,, Unterscheidet 
Ihr  sie  an  den  verschiedenen  Helligkeitswerten 
oder  an  den  eigentlichen  Farbtönen?" 

Siehe  Tabelle  Seite  421. 

Auf  die  Frage  i  gaben  Auskunft  die  Versuche 
4  bis  15;  auf  die  Frage  2  insbesondere  die  Ver- 
suche 4  und  II,  6,  7  und  8;  auf  die  Frage  3 
insbesondere  der  Versuch  10 ;  auch  Versuch  11 
verglichen  mit  Versuch  3.  Denn  Blau  12, 
Blau  13,  Violett  14,  Purpur  15  lassen  sich  den 
Helligkeitsstufen  nach  zwar  ordnen ,  gäben  dann 
aber  eine  deutlich  andere  Rangordnung  als  die, 
welche  die  Wespen  durch  ihr  Verhalten  aufstellen. 
Ein  Kontrollversuch  mit  Hilfe  einer  reicheren  Grau- 
serie, etwa  nach  dem  Schachbrettverfahren  ist  bei 
der  Eigenart  der  Wespen  technisch  leider  unmög- 
lich. Aber  wohl  auch  nicht  mehr  gerade  sehr  nötig. 
Aus  den  Farbenmischungen  Purpur  15  und  Blau- 
grün 1 1  erkennen  die  Wespen  den  Blauanteil  offen- 
bar deutlich  heraus.  Von  der  Stelle  des  Spektrums 
etwa  Grüngelb  6  bis  Blaugrün  1 1  nahm  man  be- 
kanntlich geraume  Zeit  an,  sie  erscheine  den 
Bienen  als  mehr  oder  weniger  farblos  grau.  Die 
dressierten  Wespen  reagierten  auf  diese  einzelnen 
Grüngelb-  bis  Blaugrünfarben  jedenfalls  deutlich 
verschieden.  Ultraviolett  insbesondere  wäre  noch 
besonderen  Untersuchungen  vorzubehalten.  Es 
wird    aus   dem    gleichen    Grunde,    weswegen    die 


')  Armbruster  1919,  Bienen- und  Wespengehirne.  In: 
Arch.  f.   Bienenkunde  I,  5. 

'1  In  der  Bezeichnung  der  bekannten  Heringschen  Papiere, 
in  Originalen  zusammengestellt  bei  K.  v.  Frisch  1914.  Der 
Farbensinn  und  Formensinn  der  Biene,  in:  Zool.  Jahrb.  (Phys.) 
Bd.  35,  Taf.  5.     Auch  in  Buchausgabe. 


^)  Am  besten  zu  erselien  aus  der  Spalte  mit  den  Pro- 
zcntzahlen.  Zahlen  über  100  zeigen  an  und  messen  die  Be- 
vorzugung, Zahlen  unter  loo  das  Gegenteil.  Es  wurde  großes 
Gewicht  darauf  gelegt,  bei  den  Versuchstieren  die  Entstehung 
anderweitiger  (Orts-,  llelligkeits-,  Geruchs-  usw.)  Assoziationen 
zu  vermeiden.  Die  Vorbeugeeinzelheilen  werden  anderwärts 
genauer  geschildert  bei  Untersuchungen  über  das  Formen- 
sehen usw.  von  Bienen  und  Wespen.  U.  a.  hat  sich  ein  bifi- 
lar  aufgehängtes  Drehkreuz  gut  bewährt.  Schon  der  Wind 
sorgte  daft'r,  daß  es  stetsfort  horizontal  rotierende  Schwin- 
gungen machte.  Vgl.  auch  Armbruster  1922;  Vom  Hören 
der  Insekten  (Bienen).     In:  Naturwissenschaften  Jahrg.   10. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


421 


Maßzahlen  zur  Art  des  Farbensehens  bei  Wespen. 

Bei  allen  Versuchen  war  zuvor  in  Kästchen  mit  Blau  13  (-(-Kästchen,  Dressurkästchen)  gefuttert  worden, 
Kästchen  mit  Gelb  4  ( —  Kästchen,  Gegenkästchen)  standen  leer  dabei. 


Versuch 

Nr. 

Zeit ') 

-|-  Besuch 
Farbe            Zahl 

—  Besuc 
Farbe 

h 
Zahl 

Zusammen 

Auf  100 
—  Besucher 
kommen  an 
-(-  Besuchern; 

Ergebnisse 

II.  VIII.  1921 

I. 

jjlO 

Blau  13 

162 

Gelb  4 

66 

228 

245.45 

klar   -f 

2. 

12  30 

,.     13 

272 

,. 

77 

349 

353.24 

„ 

3. 

«30 

..     13 

3" 

„ 

93 

404 

334.41 

.. 

4- 

41» 

Purpur   15 

260 

61 

321 

426,23 

Purpur  15  wird  aufs  schärf- 
ste von  Gelb  4  unterschie- 
den, erscheint  den  Wespen 
(wie  den  Bienen)  blau- 
ähnlich. „Lieblingsfarbe" ) 

5- 

53s 

Blaugrün  II 

131 

" 

39 

170-) 

335.89 

Blaugrün  II  erscheint  scharf 
von  Gelb  4  verschieden, 
ziemlich  Blau   I3ähnlich. 

6. 

603 

.,       II 

199 

Grüngelb  6 

90 

200 

221,11 

Zwischen  Blaugrün  1 1  und 
Grüngelb  6  wird  schön 
scharf  unterschieden, 
schärfer   als   bei   Fall  8. 

7- 

616 
12.  VIII.    I92I 

Grüngelb  6 

65 

Gelb  4 

77 

142 

84,41 

Grüngelb  6  erscheint  dem 
Blau  13  unähnlich  und 
fremder  als  Gelb  4,  im 
übrigen  gelbähnlich. 

8. 

9'o 

Gelblichgrüny 

116 

" 

lOI 

217 

114,85 

Gelblichgrün  7  („hell")  er- 
scheint zwar  gelbähnlich 
aber  auch  noch  etwas 
blauähnlich  (blauhaltig). 

9- 

I030 

Grüngelb  6 

34 

" 

36 

70 

94,44 

Gleichsinnig  wie  Fall  7,  auch 
zahlenmäßig  ordentlich 
getroffen. 

10. 

jOO 

Blau  13 

323 

Blau   12 

360 

683») 

89,72 

Helligkeitsstufen  werden 
schlecht,  eher  falsch 
unterschieden. 

II. 

,00 

" 

191 

Violett  14 

178 

369 

107,30 

Violett  14  wird  ganz  im 
Gegensatz  zu  Purpur  15 
von  Blau  13  nur  ganz 
mäßig  unterschieden. 

12. 

400 

" 

186 

Rot  2 

212 

398 

87,73 

Rot  enthält  stärkeren  Zuzug 
als  selbst  die  Dressur- 
farbe.    „Lieblingsfarbe"  ? 

13. 

500 

296 

„Schwarz"  *) 

216 

511 

136,57 

Obwohl  ,, Schwarz"  von 
Gelb  4  verschieden  er- 
scheint, erhält  es  starken 
Zuzug.  Der  Wirkung  nach 
erscheinen  Rot  und 
Schwarz  verwandt,  aber 
noch  graduell  verschieden. 

14. 

15- 

536 

630 

" 

331 

254 

Orange  3 
Gelb  5 

180 
103 

357 

183,88 
146,61 

Die  beiderseitigen  Nachbar- 
farben von  Gelb  4  näm- 
lich Orange  3  und  (Zitron-) 
Gelb  5  werden  von  Gelb  4 
deutlich  unterschieden, 
denn       als       Gegenfarben 

381 1 

stoßen  sie  die  Wespen 
deutlich  weniger  ab  als 
die  Gegenfarbe  Gelb  4 
selbst  (vgl.  Versuch   14). 

•)    Dressurbeginn    II.  VIII.   1921    morgens  9  Uhr.     Die    Schachbrettdressur  auf    Blau   13    ging    voran    und    mag 
nachgewirkt  haben.  '^)  Kurz  vorher  Gewitter.  ^)  Darunter  offenbar  „ungelernte"  Neulinge.  ■*)  , .schwarz"  war 

für  uns  etwa  vom   Dunkelheilsgrad  der  photogr.  Einwickelpapiere,  dabei   etwas  braunstichig. 


422 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Schachbrett- Dressur  fehlschlug,  bis  auf  weiteres 
Schwierigkeiten  machen,  Wespen  auf  reine  Spektral- 
farben zu  prüfen  und  somit  physikalisch  „sauber" 
zu  arbeiten.  Aber  i.  kann  man  schon  jetzt  die 
Leistungsfähigkeit  der  Pigmentpapier  -  Dressuren 
messen  an  den  so  wertvollen  Ergebnissen  der 
Kü  hn-Pohlschen  Bienendressuren')  auf  reine 
Spektrallinien  und  2.  haben  die  gleichen  Göttinger 
Forscher  laut  freundl.  briefl.  Mitteilung  von  Prof. 
Kü  h  n  sich  bemüht  zu  messen ,  welche  Energie- 
mengen durch  die  einzelnen  Her  in  gschen  Papiere 
bei  Beleuchtung    mit  verschieden  -  welligem  Licht 


')  Kühn  und  Pohl   1921  :    Dressurföhigkeit    der  Bienen 
auf  Spektrallinien.     In :  Naturwissenschaften  Jahrg.  9. 


reflektiert  werden.  Es  wäre  zu  wünschen  und  ist 
zu  hoffen ,  daß  auf  diese  Weise  „Licht"  fällt  auf 
die  Wirkungsweise  z.  B.  der  „Lieblingsfarbe" 
Purpur  15.  Aber  schon  jetzt  sehen  wir,  daß 
die  Wespen  offenbar  ein  ähnlich  gutes  Farben- 
unterscheidungsvermögen haben  wie  die  Bienen. 
Die  Versuche  sind  in  dieser  Hinsicht  ziemlich 
genau  so  ausgefallen  wie  man  sie  vorausgesagt 
hätte  bei  einem  IVIenschen  mit  normalem  Farben- 
sinn (auch  hier  abgesehen  von  den  Farben  mit 
ganz  kleiner  und  ganz  großer  Wellenlänge).  Die 
Gegner  des  Farbensehens  bei  niederen  Tieren 
dürfen  also  in  Zukunft  sich  auch  nicht  mehr  auf 
den  Wespenfall  berufen,  der  ja  bisher  in  der  Tat 
ziemlich  rätselhaft  war. 


Einzelberichte. 


Eine  Mikromethode  der  Bestimmung  des 
MolekulargeAvicIites. 

Die  neue  ebenso  einfache  wie  vielfach  an- 
wendbare Methode  hat  Karl  Rast  zum  Erfinder.*) 
Es  handelt  sich  dabei  um  eine  kryoskopische 
Bestimmung,  bei  der  Kampfer  als  Lösungs- 
mittel dient. 

Bekanntlich  sinkt  der  Schmelzpunkt  der  ge- 
wöhnlichen organischen  Lösungsmittel  für  ein  Mol 
Substanz  im  kg  nur  um  einige  Grade.  Man  mußte 
also  bisher  für  die  Molekulargewichtsbestimmung 
den  bekannten  Beckmannschen  Apparat  mit 
seinem  empfindlichen  Thermometer  benutzen.  Im 
Kampfer  liegt  nun  ein  Lösungsmittel  vor,  dessen 
Schmelzpunkt  um  nicht  weniger  als  40  Grad 
herabgedrückt  wird,  wenn  [  Mol.  der  zu  unter- 
suchenden Substanz  im  Liter  aufgelöst  ist.  (Für 
Benzol  5,  für  Wasser  1,86  GradI)  Da  der  Kam- 
pfer ein  beträchtliches  Lösungsvermögen  besitzt, 
so  ist  seine  Verwendung  für  den  angegebenen 
Zweck  sehr  allgemein  möglich.  Man  kann  in  den 
meisten  Fällen  allermindestens  viertelnormale 
Lösungen  herstellen.  Da  solche  noch  eine  Er- 
niedrigung von  10  Grad  ergeben,  ist  die  Verwen- 
dung eines  gewöhnlichen  Thermometers  möglich. 
Da  man  ferner  nur  sehr  wenig  Substanz  für  eine 
Schmelzpunktsbestimmung  benötigt,  so  handelt 
es  sich  um  eine  Mikromethode. 

Man  macht  die  Bestimmung  in  einem  ge- 
wöhnlichen Schmelzpunktsapparat.  Einige  Milli- 
gramme des  Stoffes  werden  mit  der  10 — 20  fachen 
Menge  Kampfers  zusammengeschmolzen.  Von 
der  Schmelze  wird  in  ein  Röhrchen  gefüllt  und 
nunmehr  in  der  üblichen  Weise  der  Schmelz- 
punkt bestimmt.  Der  Kampferkuchen  sieht  aus 
wie  tauendes  Eis  mit  einem  (nur  mittels  Lupe 
sichtbaren)  Kristallskelett  darin.  Sobald  die  letzten 
Kriställchen  verschwunden  sind  und  damit  eine 
klare  Schmelze  eingetreten    ist,    ist   der  in  Rech- 


')  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Gesellsch.   55,    S.    1051,   1922. 


nung  zu  setzende  Schmelzpunkt  erreicht.  Ein- 
schließlich Wägung  dauert  eine  Bestimmung  etwa 
20  Minuten.  Die  vom  Verf.  mitgeteilten  Messun- 
gen sind  sehr  genau  und  gestatten  die  Entschei- 
dung für  ein  gesuchtes  Molekulargewicht  zweifels- 
frei. Statt  des  natürlichen  kann  synthetischer 
Kampfer  verwendet  werden.  Man  hat  lediglich 
ein  für  allemal  den  jeweiligen  Schmelzpunkt  zu 
bestimmen. 

Die  Methode  darf  als  ein  wichtiger  Fortschritt 
bezeichnet  werden.  H.  H. 


Über  das  photocheniische  Äquivalentgesetz 
von  Einstein. 

Über  die  bei  chemischen  Wirkungen  des  Lichtes 
umgesetzte  Energie  hat  Einstein  die  Formel 
aufgestellt : 

Q  =  Nhy. 
Dieser  Ausdruck  besagt,  daß  jedes  der  Licht- 
einwirkung unterliegende  Molekül  die  Energie- 
menge e  =  hy  aufnimmt,  wenn  /  die  Schwingungs- 
zahl des  Lichtes  und  h  die  Plancksche  Kon- 
stante bedeutet.  Wird  ein  Mol  umgesetzt,  so 
müßte  mithin  die  aufzuwendende  Energie  den  in 
der  oben  angegebenen  Formel  stehenden  Betrag 
haben,  worin  N  die  Konstante  von  Avogadro 
in  der  von  Loschmidt  berechneten  Größe  be- 
deutet. Drückt  man  die  Energiemenge  Q  in 
Kalorien  aus,  so  ergibt  sich  für  jede  Wellenlänge 
also  eine  bestimmte  Anzahl  von  Kalorien,  die  dem 
reagierenden  Stoff  zugeführt  und  von  ihm  aufge- 
nommen werden  muß.  Die  folgende  Tabelle  gibt 
einen  Überblick  über  diese  Beziehung  zwischen 
Wellenlänge  und  Energiemenge,  ausgedrückt  in 
großen  Kalorien : 

Wellenlänge  Q  =  Nh  ;' 

in  fifi  in  großen  Kalorien 

800  35 

700  40 

600  47 

400  70 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


423 


Wellenlänge  Q  =  Nh  j' 

in  fifi  in  großen  Kalorien 

200  140 

100  279 

I  3.10* 

0,01  3- 10" 

0,001  3-IO' 

Die  graphische  Darstellung  dieser  Verhältnisse 
ergibt  eine  hyperbolische  Kurve,  die  sehr  schnell 
asymptotisch  der  Unendlichkeit  zustrebt.  Das 
äußerste  Ultraveil  bereits  trägt  sich  mit  etwa 
300000  Kalorien;  mit  noch  kleineren  Wellen- 
längen sollte  die  photochemische  Wirkung  noch 
weit  größer  werden;  so  groß,  daß  nach  unseren 
chemischen  Erfahrungen  die  Moleküle  zertrümmert 
werden  müßten.  Die  Erfahrung  lehrt  aber,  daß 
die  Reaktionsgeschwindigkeit  nach  dem  Ultraveil 
wieder  abnimmt.  Dieser  Widerspruch  und  einige 
andere  Erwägungen  veranlassen  J.  Plotnikow 
zu  einer  Nachprüfung  des  Gesetzes  von  Ein- 
stein überhaupt.  ^) 

Von  vornherein  macht  Plotnik  ow  auf  einen 
grundlegenden  Mangel  der  zurzeit  angewendeten 
Form  des  „Gesetzes"  aufmerksam :  sie  sagt  aus, 
daß  alle  Umsetzungen  in  allen  Medien  bei  allen 
Temperaturen  mit  gleicher  Geschwindigkeit  ver- 
laufen müßten.  Das  ist  eine  thermodynamisch 
unmögliche  und  erfahrungsgemäß  niemals  reali- 
sierbare Aussage  der  Formel.  Wenn  Weigert "j 
die  bisherigen  Gesetze  der  Photochemie  für  über- 
lebt erklärt  und  dem  Einsteinschen  Ausdruck  die 
bedeutungsvolle  Bezeichnung  „Faraday -Einstein - 
Gesetz"  beilegt,  so  entspricht  dem  keine  sachliche 
Unterlage. 

In  der  Formel  nach  Einstein  wird  chemi- 
sche und  Lichtenergie  einfach  gleichgesetzt.  Der 
erfahrungsgemäß  individuelle  Charakter  der  photo- 
chemischen Umsetzungen  verbietet  dies  jedoch. 
Vielmehr  handelt  es  sich  lediglich  um  einen  Aus- 
druck für  die  photoelektrischen  Beziehungen, 
wie  er  sich  in  älteren  Formeln  auch  schon  findet, 
insbesondere  in  der  Formel  von  Grotthus  und 
van  t'Hoff. 

In  der  Tat  lehrt  eine  von  Plotnikow  mit- 
geteilte Zusammenstellung  der  bisherigen  Ver- 
suche zur  Prüfung  der  Einsteinschen  F"ormel  an 
der  Erfahrung,  daß  diese  von  der  Formel  in  einer 
so  oberflächlichen  Weise  gedeckt  wird,  daß  von 
einem  „Gesetz"  nicht  die  Rede  sein  kann.  Die 
Formel  hat  völlig  versagt  in  zahlreichen  Ver- 
suchen von  War  bürg  und  Posch,  sowohl  bei 
Photolysen  wie  bei  Polymerisationen  und  Ver- 
einigungen, etwa  von  H2  +  Br.,.  Bei  Substitutio- 
nen ergab   sie    mangelhafte  Übereinstimmung 


in  Versuchen  von  Noddack.  ^)  Der  Fehler  be- 
trug im  Durchschnitt  10  "/„,  erreichte  z.  T.  sogar 
90  "/qI  Nur  in  zwei  von  Warburg  gemessenen 
Reaktionen  war  die  Übereinstimmung  von  Formel 
und  gemessenen  Werten  befriedigend.  Von  einem 
„Gesetz"  kann  also  in  der  Tat  nicht  geredet  wer- 
den; merkwürdigerweise  geschieht  das  jedoch  zu- 
meist. Weigert,  der  noch  vor  kurzem  das 
Grotthussche  Gesetz  zur  Norm  nahm,  verwirft 
dieses  jetzt  und  glaubt  aus  einem  wirren  Punkt- 
system die  Richtigkeit  der  Einsteinformel  , .be- 
weisen" zu  können.  Demgegenüber  wird  auf  eine 
Arbeit  von  Cohen'-')  verwiesen,  die  die  Formu- 
lierung von  Grotthus  voll  bestätigt.  —  Man 
wird  die  Formel  Einsteins  mithin  mit  größter 
Vorsicht  in  bestimmten  Einzelfällen  anwenden, 
ihr  aber  keinen  allgemeinen  Gültigkeitswert  bei- 
legen  dürfen.  H.  H. 

Neues  über  den  dreiatomigen  Wasserstoff. 

Zur  Chemie  des  ,,Hyzons",  der  dreiatomigen, 
dem  Ozon  entsprechenden  P'orm  des  Wasserstoffs,^} 
liegen  einige  neue  Untersuchungen  vor,  die  die 
bisher  mitgeteilten  Entstehungsbedingungen  und 
Eigenschaften  des  interessanten  Stoffes  weiter  auf- 
klären. Gerald  Wendt  und  Mitarbeiter ^j  fan- 
den drei  neue  Bedingungen,  die  die  aktive  Form 
des  Wasserstoffs  entstehen  lassen.  Zunächst  die 
stille  elektrische  Entladung  in  der  auf  die  Tem- 
peratur des  flüssigen  Ammoniaks  gekühlten  Ozon- 
röhre von  Siemens,  sodann  die  Teslaentladung, 
endlich  die  Ionisation,  die  ein  elektrisch  zum 
Glühen  gebrachter  Platindraht  hervorruft.  Auf 
diese  Weise  gewonnener  aktiver  Wasserstoff  wird 
von  fein  verteiltem  Platin,  Nickel,  Kupfer,  Blei 
und  Cadmium  zersetzt,  während  bemerkenswerter- 
weise Gold,  Silber,  Zinn,  Wismut,  Zink  und  Alu- 
minium ohne  Einwirkung  sind. 

Hyzon  wurde  auch  verflüssigt.  Dies  gelang 
erwartungsgemäß  schon  bei  der  Siedetemperatur 
des  Ozons,  — 119".  Bei  dieser  Temperatur  zeigt 
die  Spektraluntersuchung  eine  stetige  Verstärkung 
des  sekundären  Linien-  und  eine  gleichzeitige  Äb- 
schwächung  des  primären  Serienspektrums.  Dies 
deutet  auf  eine  allmähliche  Bildung  von  Hg  hin. 
Die  Vermutungen  über  den  Mechanismus  der  Bil- 
dung des  Hyzons  werden  dadurch  bestätigt,  des- 
gleichen die  Formel  H3,  nicht  aber  die  eines  Iso- 
H.2  von  Baly,  die  von  anderer  Seite  zur  Grund- 
lage des  Atomaufbaus  vieler  schwerer  Atome 
gemacht  worden  ist.  H.  Heller. 


')  Zeitschr.   f.   wisscnsch.  Pholograpliie  21,    S.   134,    1922. 
*)  Zeitschr.  f.   Physik  5,  S.  421,   1921. 


')  Zeitschr.  f.  Elektrochemie  27,  S.  359,   1921. 
^)   Rec.  d.  Trav.  chim.  d.  Pays-Bas  39,  S.  243,   1921. 
•^)  Vgl.  Nalurw.   Wochenschr.  N.  F.  XIX,    S,   527,    1920. 
*)  Journ.  of  the  Americ.  Chem.  Soc.  44,  S.   510,   1922. 


424 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  30 


Literatur. 

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logische Farbenlehre  von  Dr.  H.  Podest.i.  Leipzig  '22,  Ver- 
lag Unesma  G.  m.  b.  H.  Geh.  40  M.,  geb.  50  M.  und  2o"/|, 
Sort.-Zuschlag. 

Hagen,  Werner,  Die  deutsche  Vogelwelt  nach  ihrem 
Standort.  Ein  E.xkursionsbuch  zum  Kennenlernen  der  Vögel. 
Magdeburg,  Creutzsche  Verlagsbuchhandlung. 

Kryptogamentlora  für  Anfanger.  Band  II,  I.  Dr.  Gustav 
Lindau,  Die  mikrosifopischen  Pilze.  II.  Auflage.  Berlin  '22, 
Verlag  von  Julius  Springer.     Brosch.  63  M.,  geb.  72  M. 

Neumann,  Karl  \V.,  .Am  Wald  entlang.  Erlebte  und 
erschaute  Tiergeschichten.  Leipzig,  Verlag  von  Quelle  und 
Meyer.     Geb.  22  M. 

Verworn,  Max,  Aphorismen.  Jena  '22,  Verlag  von 
Gustav  Fischer.     Brosch.  8  M. 

Schröders  Allgemeiner  deutscher  Universitäts-  und  Hoch- 
schulkalender für  das  Jahr  1922.  Kirchhain  N.-L.,  Brücke- 
Verlag  Kurt  Schmersow. 

Sammlung  Göschen,  Geschichte  der  Zoologie  und  ihrer 
Wissenschaft!.  Probleme  von  Prof.  Dr.  Kud.  Burckhardt.  Neu 
bearbeitet  von  Dr.  H.  Erhard.  Band  I.  Bis  zur  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts.  Berlin-Leipzig  '21,  Vereinigung  wissenschaftl. 
Verleger.     Geb.   9  M. 

Sammlung  Göschen,  Geschichte  der  Zoologie  und  ihrer 
wissenschaftl.  Probleme  von  Prof.  Dr.  R.  Burckhardt.  Neu 
bearb.  von  Dr.  H.  Erhard.  Band  11.  Von  der  Mitte  des 
iS.  Jahrhunderts  bis  zur  Jetztzeit.  Berlin-Leipzig  '21,  Ver- 
einigung wissenschaftl.  Verleger.     Geb.  9  M. 

Mönnig,  Dr.  Hermann  O. ,  Über  Leucochloridium 
macrostomum  (Leucochloridium  paradoxum  Carus).  Ein  Bei- 
trag zur  Histologie  der  Trematoden.  Jena  '22,  Gustav  Fischer. 
Brosch.  25  M. 

Dannemann,  Dr.  Ferdinand,  Aus  der  Werkstatt  großer 
Forscher.  4.  Aufl.  Leipzig  '22,  Wilhelm  Engelmann.  Geh. 
75  M.,  geb.   115   M. 

Biologische  .Arbeit,  Dr.  L.  Schmidt,  Die  Herstellung 
einfacher  mikroskopischer  Präparate  aus  dem  Tierreich.  Heft  12. 
Freiburg  i.  Br.  '21,  Theodor  Fischer.     10  M 

Biologische  Arbeit,  Dr.  Willy  Wolterstorf f.  Die  Molche 
Deutschlands  und  ihre  Pflege.  Heft  13.  Freiburg  i.  Br.  '21, 
Theodor  Fischer.      lo  M. 

Hagen,  Werner,  Unsere  Vögel  und  ihre  Lebensverhält- 
nisse. Die  Beziehungen  des  Vogels  zu  seiner  Umwelt.  Frei- 
burg i.  Br.  '22,  Theodor  Fischer.     15  M. 

Graf,  Georg  Engelbert,  Entwicklungsgeschichte  der  Erde. 
2.  Aufl.     Berlin  '22,  Verlagsgenossenschaft  ,, Freiheit". 

Weil,  Dr.  Arthur,  Die  innere  Sekretion.  Eine  Ein- 
fuhrung für  Studierende  und  Arzte.  2.  Aufl.  Berlin  '22, 
Julius  Springer.     Brosch.  36  M.,  geb.  48  M. 

B  e  h  m ,  Hans  Wolfg.,  Ewiger  Frühling.  Plaudereien  zur 
Naturästhetik  und  Lebensfreude.  Rastatt  i.  Bad.,  Süddeutsche 
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Kleinschraidt,  O.,  Die  Singvögel  der  Heimat.  3.  Aufl. 
Leipzig  '21,  Quelle  u.  Meyer.     Geb.  50  M. 

Handovsky,  Dr.  Hans,  Leitfaden  der  Kolloidchemie 
für  Biologen  und  Mediziner.  Dresden-Leipzig  '22,  Theodor 
Steinkopff.     Geh.  45  M. 

Meyer,  Dr.  Semi,  Traum,  Hypnose  und  Geheimwissen- 
scbaften.     Volkshochschulvorträge.    Stuttgart  '22,  Ferd.  Enke. 

Funke,  Dr.  G.  L.,  Onderzoekingen  over  de  Vorming 
van  Diastase  door  Aspergillus  Niger  van  Tiegh.  Haag  '22, 
Martinus  NijhofT.     2  Fl. 

Janet,  Charles,  Note  Preliminaire  sur  L'orthebionte  des 
Characees.     '21,  Imprimerie  Jumontier  &  Hague,  Beauvais. 

Verhandlungen  der  geologischen  Staatsanstalt.  Jahrgang 
1921,  Nr.  1/12  (Schluß).  Wien  '21,  Verlag  der  Geologischen 
Staatsanstalt.     In  Kommission  bei  R.  Lechner. 


University  of  California  Publications  in  Zoology.  Vol.  20, 
Nr.  8.  Charles  A.  Kofoid  and  Olive  Swezy,  Mitosis  and 
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University  of  California  Press  Berkeley,  California. 

Verhandlungen  der  geologischen  Bundesanstalt.  Nr.  i. 
Wien   '22,  Jänner. 

Jahrbuch  der  geologischen  Staatsanstalt.  Jahrgang  1921, 
LXXI.  Band.  3.  u.  4.  Heft.  Wien  '21,  Verlag  der  Geolo- 
gischen Staatsanstalt.     In  Kommission  bei  R.  Lechner. 

Schaffer,  Dr.  med.,  Lehrbuch  der  Histologie  und 
Hi5togenese.  2.  Aufl.  Leipzig  '22,  Wilh.  Engelmann.  Geh. 
245  M.,  geb.  290  M.  Ab  :.  Juli  1922  100%  Verleger- 
Teuerungs-  Zuschlag. 

Hertwig,  Dr.  Rieh.,  Lehrbuch  der  Zoologie.  13.  Aufl. 
Jena  '22,  G.   Fischer.     Brosch.   100  M.,  geb.   130  M. 

Lehmann,  Ernst,  Die  Theorien  der  Oenotheraforschung. 
Grundlagen  zur  experimentellen  Vererbungs-  und  Entwick- 
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Leche,  Wilhelm,  Der  Mensch.  Sein  Ursprung  und  seine 
Entwicklung.  In  gemeinverständlicher  Darstellung.  2.  Aufl. 
Jena  '22,  G.  Fischer.     Brosch.  So  M.,  geb.   100  M. 

Oltmanns,  Dr.  Friedr.,  Morphologie  und  Biologie  der 
Algen.  2.  Aufl.,  Bd.  I  :  Chrysophyceae-Chlorophyceae.  Jena 
'22,  G.  Fischer.     Brosch.   100  M.,  geb.   130  M. 

Wolff- Krauße,  Die  forstlichen  Lepidopteren.  Syste- 
matische und  biologische  Übersicht.  Jena  '22,  G.  Fischer. 
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Koch-Lowartz,  Zoologische  Bestimmungsübungen. 
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'22,  J.  Springer.     Brosch.  36  M. 

Grammel,  B. ,  Die  mechanischen  Beweise  für  die  Be- 
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Wissenschaftl.  Forschungsberichte.  Naturwissenschafll. 
Reihe,  hrsg.  v.  Dr.  Liesegang,  Band  IV.  Die  drahtlose  Tele- 
graphie  und  Telephonie,  bearb.  v.  Dr.  Lertes.  Dresden  und 
Leipzig  '22,  Theod.  Steinkopfi'.     Geh.  32  M. 

Wagner,  Dr.  Paul,  Geographie  für  die  Oberklassen 
höherer  Lehranstalten.  I.  Allgemeine  physische  Erdkunde. 
München  und  Berlin   '22,  R.  Oldenbourg.     Brosch.   II   M. 

Wagner,  Dr.  Paul.  Geographie  für  die  Oberklassen 
höherer  Lehranstalten.  11.  Erde  und  Menschheit.  München 
und  Berlin  '22,  R.  Oldenbourg.     Brosch.  20  M. 

Müffelmann,  Hedwig,  Bilder  aus  der  Sternenwelt.  Eine 
leichtverständliche  Einführung  in  die  Himmelskunde.  2.  Aufl. 
Hermannsburg  '22,  Verlag  der  Missionshandlung.  Brosch. 
18  M. 

Hirscht,  Karl,  Der  Kakleen-  und  Sukkulenten-Zimmer- 
garten  in  Idealismus  und  Praxis.  3.  Aufl.  Neudamm  '22,  J. 
Neuraann.     Geh.   30  M. 

Sammlung  Vieweg.  Tagesfragen  aus  den  Gebieten  der 
Naturwissenschaften  und   der  Technik.     Heft  61. 

Meißner,  Entfernungs-  und  Höhenmessung  in  der  Luft- 
fahrt. Braunschweig  '22  ,  Fr.  Vieweg  &  Sohn.  Geh.  16  M. 
und  Teuerungszuschlag. 

Sammlung  Vieweg.  Tagesfragen  aus  den  Gebieten  der 
Naturwissenschaften  und  der  Technik.     Heft  62. 

Siebel,  Die  Elektrizität  in  Metallen.  Braunschweig  '22, 
Fr.  Vieweg  &  Sohn.     Geh.   12  M.  und  Teuerungszuschlag. 

Brandt,  Prof.  Dr.,  Physikalisches  Praktikum.  I.  Teil. 
Mechanik,  Akustik,  Wärme,  Optik.  3.  Aufl.  Karlsruhe  '22, 
Braunsche  Hofbuchdruckerei  und  Verlag. 

Handbuch  der  biologischen  Arbeitsmethoden.  Lief.  57. 
Hrsg.  v.  Prof.  Dr.  .Abderhalden.  .Abt.  VII.  Methoden  der 
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lubalt:  M.  Seh  wicke  r  ath  ,  Exaktwissenschaftliches,  philosophisches  und  künstlerisches  Welterkennen  und  Weltbegreifen. 
(i  Abb.)  S.  409.  L.  Armbruster,  Über  das  Farbensehen  bei  Wespen.  S.  419.  —  Einzelberlcbto:  K.  Rast, 
Eine  Mikromethode  der  Bestimmung  des  Molekulargewichtes.  S.  422.  J.  Plotnikow,  Über  das  photochemische 
Aquivalentgesetz  von  Einstein.  S.  422.  G.  Wen  dt.  Neues  über  den  dreiatomigen  Wasserstoff.  S.  423.  —  Literatur: 
Liste.  S.  424. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.  Pätz'scben  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  30.  Juli  1922. 


Nummer  31. 


Gregor  Mendel  und  sein  Werk. 

Dem  Begründer  der  Vererbungswissenschaft  zum   lOO.  Geburtstag. 

rboten.l  Von   HllUS  Xaclltsheilll,   Berlin. 


In  diesen  Tagen  feiert  die  Biologie  den  100.  Ge- 
burtstag eines  Mannes,  der  uns  als  Frucht  seiner 
wissenschaftlichen  Tätigkeit  nur  einige  wenige 
kleine,  zu  seinen  Lebzeiten  kaum  gelesene  Ab- 
handlungen hinterlassen  hat,  und  der  doch  heute 
zu  den  größten  Biologen  aller  Zeiten  zählt,  den 
Geburtstag  des 
Augustinerpaters 
Johann  Gregor 
Mendel.  Und 
unter  den  weni- 
gen Abhandlun- 
gen ,  die  seiner 
Feder  entstam- 
men, ist  eigent- 
lich nur  eine, 
die  seinen  Namen 
unsterblich  ge- 
macht hat,  seine 
im     Jahre     1865 

veröffentlichten 
„Versuche     über 

Pflanzenhybri- 
den".      In     aller 
Kürze  und  dabei 
doch     mit    einer 

vorbildlichen 
Klarheit  berich 
tet  hier  Mendel 
auf  44  Seiten  über 
seine  ausgedehn- 
ten ,  mit  einer 
großen  Zahl  ver- 
schiedener Erb- 
sen- und  Bohnen- 
sorten ausgeführ- 
ten Kreuzungs- 
experimente und 
teilt  die  von  ihm 
beobachteten  Ge- 
setzmäßigkeiten 
im  Verhalten  der 
einzelnen  Merk- 
male der  ver- 
schiedenen Sor- 
ten bei  der  Kreu- 
zung mit.  Die  Arbeit  erschien,  ohne  daß  jemand 
von  ihr  Notiz  nahm,  und  als  Mendel  fast  zwei 
Jahrzehnte  später  starb,  ahnte  niemand,  daß  er 
der  Entdecker  einiger  bedeutungsvoller  Natur- 
gesetze war,  und  daß  seine  kleine  Abhandlung 
noch  zum  Fundament  einer  großen  Wissenschaft 
werden    .sollte.      35  Jahre   blieb    das  Werk  Men- 


dels verschollen.  Erst  um  die  Jahrhundertwende 
wurden  unabhängig  voneinander  drei  Forscher, 
die  ähnlichen  Fragen  nachgingen  wie  Mendel 
selbst,  auf  die  Arbeit  des  Augustinerpaters  auf- 
merksam, konnten  seine  Ergebnisse  glänzend  be- 
stätigen, und  diese  Wiederentdeckung   Mendels 

wurde  nun  zum 
Ausgangspunkt 
für  eine  macht- 
volle Entfaltung 
eines  neuen  Zwei- 
ges der  Biologie, 
der  Vererbungs- 
wissenschaft, de- 
ren wesentlich- 
ster    Teil      dem 

Begründer  zu 
Ehren  heute  als 
Mendel  ism  US 
bezeichnet  wird. 
Kaum  jemals  hat 
eine  Wissenschaft 
eine  so  rasche 
Entwicklung  ge- 
nommen wie  die 
Vererbungswis- 
senscliaft  in  den 
wenigen  Jahren, 
die  seit  der  Wie- 
derentdeckung 
Mendels  hinter 
uns  liegen.  Eine 
große  Zahl  von 
l'orschern  aller 
Kulturnationen 
müht  sich  um  die 
Lösung  mende- 
listischer  Proble- 
me, eine  schier 
unübersehbare, 
von  Jahr  zu  Jahr 
wachsende   Fülle 

von  Arbeiten 
bringt  uns  die 
Erfolge  dieser  Be- 
mühungen, und 
je  tiefer  man  dringt,  desto  mannigfaltiger  werden 
die  Probleme,  desto  mehr  Nachbargebiete  zieht 
die  Vererbungs Wissenschaft  in  den  Bereich  ihrer 
Forschung  mit  ein.  Doch  nicht  nur  die  theore- 
tische Forschung  erfreut  sich  lebhafter  Förderung. 
Mehr  und  mehr  geht  man  auch  daran,  den  Men- 
delismus    praktisch    zu    verwerten.     Die  Pflanzen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  31 


Zucht  hat,  seit  sie  auf  mendelistischer  Grundlage 
betrieben  wird,  bereits  schöne  Erfolge  gezeitigt, 
die  Tierzucht  erhofft  das  Gleiche  von  der  Zukunft, 
und  die  IVIedizin  ist  auf  dem  besten  Wege,  den 
Mendelismus  dem  Wohle  der  Menschheit  nutzbar 
zu  machen.  Zum  Gedenktage  IVI  e  n  d  e  1  s  eine 
kurze  Skizze  des  Mendelismus  und  seiner  Ent- 
wicklung zu  entwerfen  mit  einigen  Ausblicken  in 
die  Zukunft,  möge  das  Ziel  der  folgenden  Zeilen 
sein.  Zunächst  aber  einige  Worte  über  das  Leben 
des  Begründers  unserer  Wissenschaft,  dem  es  — 
das  Schicksal  so  manches  Entdeckers  —  nicht 
vergönnt  war,  sich  an  den  Früchten  seines  Wer- 
kes zu  erfreuen. 

I. 

Johann  Mendel  wurde  am  22.  Juli  1S22  in 
Heinzendorf,  einem  kleinen  Orte  bei  Odrau  in 
Österreichisch-Schlesien,  als  Sohn  kleiner  Bauers- 
leute geboren.  Sein  Geschlecht  war,  ursprünglich 
unter  dem  Namen  Mandel,  schon  seit  langem  auf 
der  gleichen  Scholle  ansässig.  Bis  ins  17.  Jahrhun- 
dert ließ  es  sich  an  Hand  der  Kirchenbücher  der 
dortigen  Gegend,  die  eine  kleine  deutsche  Kolonie 
innerhalb  einer  fremdstämmigen  Umgebung  be- 
völkert, zurückverfolgen.  Während  des  dreißig- 
jährigen Krieges  war  diese  Kolonie  größtenteils 
zum  Protestantismus  übergegangen ,  und  auch 
unter  Mendels  Vorfahren  waren  einige  dieses 
Glaubens.  —  Dem  Vater  Mendels  wird  eine  be- 
sondere Neigung  zur  Obstkultur  nachgesagt,  und 
von  ihm  soll  der  Sohn  schon  früh  die  Methoden 
des  Pfropfens  gelernt  haben.  Den  ersten  Schul- 
unterricht erhielt  der  junge  Mendel  in  Heinzen- 
dorf und  später  in  Leipnick.  Bald  wurde  der 
Wunsch  in  ihm  rege  zu  studieren,  und  es  gelang 
ihm  schließlich  auch  durchzusetzen,  daß  er  auf 
das  Gymnasium  nach  Troppau  geschickt  wurde, 
doch  wäre  es  ihm  wohl  kaum  möglich  gewesen, 
die  Kosten  des  Studiums  aufzubringen,  wenn  nicht 
eine  jüngere  Schwester  edelmütig  auf  einen  Teil 
ihres  Vermögens  zugunsten  des  Bruders  verzichtet 
hätte.  Mendel  lohnte  dies  der  Schwester  später 
dadurch  vielfältig,  daß  er  für  die  Erziehung  ihrer 
drei  Söhne,  seiner  Neffen,  Sorge  trug. 

Nachdem  Mendel  die  beiden  letzten  Gym- 
nasialklassen in  Olmütz  absolviert  hatte,  trat  er 
1843  in  das  Augustin^rkloster  St.  Thomas  in 
Brunn,  das  sog.  Königskloster,  ein  und  nahm  den 
Namen  Gregor  an.  1847  empfing  er  die  Priester- 
weihe und  war  dann  mehrere  Jahre  Pfarrer  in 
Brunn.  185 1  sandte  ihn  das  Kloster  nach  Wien, 
wo  er  an  der  dortigen  Universität  Mathematik 
und  Naturwissenschaften  studierte.  Besonders 
zogen  ihn  die  Physik  und  die  Biologie  an.  Nach 
zwei  Jahren  nach  Brunn  zurückgekehrt,  wurde  er 
Lehrer  der  Naturwissenschaften  an  der  Oberreal- 
schule in  Biünn.  Es  wird  berichtet,  daß  er  nicht 
nur  ein  begeisterter  Lehrer  war,  sondern  daß  er 
CS  auch  verstand,  bei  seinen  Scliülern  die  Be- 
geisterung für  seine  Wissenschaft  zu  wecken. 
Neben  seiner  Lehrtätigkeit  ging  er  eifrig  eigenen 


Studien  nach,  die  teilweise  auf  botanischem  und 
zoologischem ,  teils  auf  meteorologischem  und 
astronomischem  Gebiete  lagen.  In  dem  stillen 
Klostergarten  führte  er  Kreuzungsexperimente 
mit  den  verschiedensten  Pflanzen  aus  und  berich- 
tete darüber  wiederholt  in  den  Sitzungen  des 
Naturforschenden  Vereines  in  Brunn,  dessen  Vor- 
sitzender er  lange  Jahre  war.  Leider  aber  unter- 
blieb die  Veröffentlichung  der  meisten  seiner  Ver- 
suche. Nur  zwei  Versuchsreihen  legte  er  in  den 
Verhandlungen  des  Naturforschenden  Vereines 
nieder,  seine  später  so  berühmt  gewordenen  „Ver- 
suche über  Pflanzenhybriden"  (1865)  und  eine 
kurze  Mitteilung  „Ober  einige  aus  künstlicher  Be- 
fruchtung gewonnene  Hieraciumbastarde"  (1869).*) 
Neben  diesen  botanischen  Experimenten  gingen 
zoologische  einher.  Mendel  war  eifriger  Bienen- 
züchter, und  es  war  sein  Streben,  die  von  ihm. 
für  die  Pflanzen  gefundenen  Gesetzmäßigkeiten 
auch  für  die  Bienen  nachzuweisen.  Bei  den  Tieren 
freilich  sind  solche  Untersuchungen  mit  viel  größe- 
ren Schwierigkeiten  verknüpft.  Die  Unmöglich- 
keit der  Selbstbefruchtung,  die  im  allgemeinen 
bei  Tieren  viel  geringere  Nachkommenschaft,  die 
häufig  sehr  lange  Entwicklungsdauer,  schließlich 
die  Kostspieligkeit  der  Experimente  —  das  sind 
alles  Hemmnisse  für  ausgedehnte  Vererbungs- 
experimente mit  Tieren.  Bei  den  Bienen  liegen 
insofern  die  Verhältnisse  wenigstens  noch  günstig, 
als  es  möglich  ist ,  mit  großen  Individuenzahlen 
zu  arbeiten.  Zweifellos  hat  aber  Mendel  auch 
bereits  erkannt,  daß  gerade  die  Bienen  für  den 
Vererbungsforscher  besonders  interessante  Objekte 
sein  müssen  wegen  ihrer  eigenartigen  Fortpflan- 
zung. Damals  wurde  in  Imkerkreisen  die  Theorie 
eines  Landsmannes  und  Standeskollegen  Mendels, 
des  schlesischen  Pfarrers  Dzierzon,  lebhaft  be- 
sprochen, nach  der  die  männlichen  Bienen,  die 
Drohnen,  aus  unbefruchteten  Eiern,  parthenogcnc- 
tisch  entstehen.  Sie  erben  also  ihre  gesamten 
Eigenschaften  von  nur  einer  Seite,  und  wenn 
wir  zwei  Bienenrassen  miteinander  kreuzen ,  so 
sind  nur  die  weiblichen  Tiere  Bastarde,  die  männ- 
lichen gehören  der  mütterlichen  Rasse  an.  Men- 
del benutzte  zu  seinen  Kreuzungsexperimenten 
Königinnen  der  verschiedensten  Rassen,  verschic 
dene  europäische  Rassen,  dann  ägyptische  und 
amerikanische  Bienen.  Bei  Bastardierungsexperi- 
menten mit  Bienen  liegt  eine  Fehlerquelle  darin, 
daß  die  Begattung  während  des  Hochzeitsfluges 
der  Königin  stattfindet  und  sich  unserer  Beobach- 
tung entzieht.  So  wissen  wir  nie,  welche  Drohne 
die  Begattung  vollzogen  hat.  Um  diese  P^ehler- 
quelle  zu  vermeiden,  machte  Mendel  zahlreiche 


')  Durch  den  Abdruck  der  beiden  Abhandlungen  in 
,, Dslwalds  Klassikern  der  exakten  Wissenschaften"  (Nr.  121, 
herausgegeben  von  K.  Tschermak)  sind  diese  jedem  leicht 
zugänglich  gemacht.  Nicht  nur  in  historischer  Hinsicht  .sind 
sie  von  unvergänglichem  Wert.  Sie  sind  von  einer  so  wunder- 
vollen Klarheit  und  auch  sonst  in  jeder  Hinsicht  so  vorbild- 
lich, daß  niemand,  der  sich  mit  Vererbungsfragen  beschäftigt, 
sich  ihre  Lektüre  entgehen  lassen  sollte. 


N.  F.  XXI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


427 


Versuche,  Königinnen  innerhalb  geschlossener 
Räume  begatten  zu  lassen.  Aber  leider  wissen 
wir  über  diese  Versuche  ebensowenig  etwas  Ge- 
naueres wie  über  die  Kreuzungsexperimente. 
Mendel  hat  nie  etwas  darüber  veröffentlicht, 
und  auch  von  seinen  Notizen  ist  nichts  erhalten 
geblieben.  Das  einzige,  was  erhalten  blieb,  ist 
der  entzückend  gelegene  Bienenstand  im  Kloster- 
garten, der  zu  Mendels  Zeiten  bisweilen  50  Völ- 
ker beherbergte.  Neben  seinen  biologischen  Ar- 
beiten machte  er  regelmäßige  Wetterbeobachtun- 
gen und  veröffentlichte  diese  in  den  Verhand- 
lungen des  Brünner  Naturforschenden  Vereines, 
darunter  einen  wertvollen  Aufsatz  über  eine  Wind- 
hose, die  am  13.  Oktober  1870  über  Brunn  hin- 
wegging und  das  Kloster  stark  beschädigte.  Seine 
meteorologischen  Arbeiten  führten  ihn  fernerhin 
zu  Sonnenbeobachtungen.  Er  untersuchte  den 
Zusammenhang  zwischen  dem  Auftreten  von 
Sonnentlecken  und  gewissen  meteorologischen 
Erscheinungen.  Auch  systematische  Grundwasser- 
messungen führte  er  aus. 

Das  Jahr  1868  brachte  einen  entscheidenden 
Wendepunkt  in  Mendels  Leben:  er  wurde  zum 
Abt  und  Prälaten  seines  Stiftes  gewählt ,  eine 
Ehrung,  die  leider  das  Ende  seiner  wissenschaft- 
lichen Tätigkeit  bedeutete.  Zwar  hatte  er  gehofft, 
daß  ihm  auch  sein  neues  Amt  Zeit  lassen  werde, 
seinen  naturwissenschaftlichen  Neigungen  nach- 
zugehen und  vor  allem  seine  Bastardierungs- 
versuche fortzusetzen,  aber  es  war  eine  schwerere 
Last  auf  seine  Schultern  gelegt  worden,  als  er 
geahnt  hatte,  die  Amtsgeschäfte  nahmen  von  Jahr 
zu  Jahr  zu,  und  im  Jahre  1873  schreibt  er  an  den 
ihm  befreundeten  Münchener  Botaniker  Nägeli, 
mit  dem  er  in  regem  Briefwechsel  stand:  „Ich 
fühle  mich  wahrhaft  unglücklich,  daß  ich  meine 
Pflanzen  und  Bienen  so  gänzlich  vernachlässigen 
muß."  Schließlich  wurde  er  in  den  Kulturkampf 
hineingezogen.  Durch  ein  im  Jahre  1874  vom 
Parlament  angenommenes  Gesetz  wurden  den 
Klöstern  besondere  Steuern  auferlegt ,  und  das 
Königskloster  wurde  durch  dieses  Gesetz  be- 
sonders stark  betroffen.  Mendel  erhob  sofort 
schärfsten  Einspruch  gegen  das  Gesetz,  das  er 
als  ungerecht  empfand,  und  verweigerte  die  Be- 
zahlung der  Steuer.  Mit  beredten  Worten  schildert 
H.  Iltis,  der  Biograph  Mendels,  dessen  jahre- 
langen fruchtlosen  Kampf:  ,,Alle  die  Bitten,  mit 
denen  man  ihn  bestürmte,  alle  die  Drohungen, 
durch  die  man  ihn  einzuschüchtern  versuchte, 
bestärkten  ihn  nur  in  seinem  Widerstand  —  zu- 
erst von  vielen  unterstützt,  später  von  ebenso 
vielen  verlassen,  kämpfte  er,  ein  zweiter  Michael 
Kohlhaas,  allein  gegen  die  ganze  Welt,  jenen  aus- 
sichtslosen Kampf  ums  Recht,  jenen  Kampf  gegen 
Staat  und  Regierung,  der  den  von  Natur  aus 
heiteren  und  liebenswürdigen  Mann  in  seinen 
letzten  Lebensjahren  zum  weltfremden  Misan- 
thropen machen,  der  ihm  seine  besten  Güter, 
Ruhe,  Lebensfreude  und  Gesundheit,  rauben  sollte." 
Das   beigegebene  Bild   stammt  aus  dieser  letzten 


Lebensperiode  Mendels  (etwa  aus  dem  Jahre  1 880). 
Die  schweren  Kämpfe,  die  er  durchzufechten  hatte, 
spiegeln  sich  in  den  harten  Zügen  wider,  die 
dieses  Gesicht  kennzeichnen.  Nach  zehnjährigem, 
erfolglosem  Kampf  erlag  Mendel  am  6. Januar  1884 
den  Folgen  einer  Nierenerkrankung  —  wenige 
Jahre  später  wurde  das  von  ihm  heftig  befehdete 
Gesetz  ohne  Widerspruch   aufgehoben. 

In  zahlreichen  Nachrufen  wurde  Mendel  be- 
trauert. Man  hob  seine  menschlichen  Vorzüge 
hervor,  seine  Treue  zum  Deutschtum,  man 
rühmte  den  vortrefflichen  Lehrer  und  den  treuen 
Seelsorger,  den  für  sein  Kloster  selbstlos  sich 
aufopfernden  Prälaten  und  den  zielbewußten 
Politiker,  man  erinnerte  auch  an  seine  wissen- 
schaftlichen Leistungen,  aber  niemand  ahnte, 
welche  Bedeutung  Mendels  Werk  für  die 
Wissenschaft  noch  gewinnen  sollte. 

Es  ist  uns  auch  heute  noch  nicht  völlig  ver- 
ständlich, wie  es  geschehen  konnte,  daß  Mendels 
Arbeit  über  die  Pflanzenhybriden  so  völlig  un- 
beachtet blieb  und  gänzlich  in  Vergessenheit  geriet. 
Zum  Teil  mag  daran  Schuld  sein,  daß  die  Arbeit 
an  schwer  zugänglicher  Stelle  erschien.  Schuld 
trifft  auch  den  Botaniker  Nägeli,  von  dessen 
Briefwechsel  mit  Mendel  bereits  die  Rede  war. 
Er  war  über  Mendels  Arbeiten  genauestens 
unterrichtet,  und  doch  erkannte  er,  der  zweifellos 
einer  der  bedeutendsten  Botaniker  seiner  Zeit 
und  überdies  selbst  mit  Abstammungs-  und  Ver- 
erbungsfragen rege  beschäftigt  war,  den  Wert 
dieser  Arbeiten  nicht,  und  in  seinem  im  Todes- 
jahre Mendels  veröffentlichten,  diesen  Fragen 
gewidmeten  Werke  wird  Mendels  Name  über- 
haupt nicht  Erwähnung  getan.  Man  hat  nur 
die  eine  Erklärung:  „Die  Zeit  war  noch  nicht 
reif."  Dieses  Gefühl  hatte  auch  Mendel  selbst, 
den  die  mangelnde  Anerkennung  seiner  wissen- 
schaftlichen Tätigkeit  natürlich  kränkte.  „Meine 
Zeit  wird  schon  kommen",  so  sagte  er  wiederholt. 
Und  er  täuschte  sich  nicht,  wenn  er  auch  „seine 
Zeit"  persönlich  nicht  mehr  erlebte.  Erst  sech- 
zehn Jahre  nach  seinem  Tode  kam  sie,  seine  Zeit 
war  mit  einem  Schlage  da,  als  im  Jahre  1900  die 
drei  Botaniker  C.  Correns,  E.  v.  Tschermak 
und  H.  de  Vries  die  „Mendelschen  Regeln" 
wiederentdeckten. 

IL 

Die  Untersuchungen,  welche  später  zum  F"unda- 
ment  der  gesamten  Vererbungswissenschaft  werden 
sollten,  führte  Mendel  in  der  Hauptsache  mit 
der  gewöhnlichen  Gartenerbse,  Pisiiiii  sativmit, 
aus.  Aus  mehreren  Samenhandlungen  bezog  er 
insgesamt  34  Erbsensorten,  die  sich  teils  mehr, 
teils  weniger  voneinander  unterschieden.  Jede 
Sorte  wurde  zunächst  einer  zweijährigen  Probe 
unterworfen  und  festgestellt,  ob  die  für  eine  Sorte 
charakteristischen  Merkmale  auch  bei  den  Nach- 
kommen konstant  auftraten.  Die  Merkmale  waren 
sehr  verschiedener  Art.  Die  Erbsensorten  wiesen 
Unterschiede    in    der    Länge    und    Färbung    des 


42t 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  31 


Stengels  auf,  in  der  Größe  und  Gestalt  der  Blätter, 
in  der  Stellung,  Farbe  und  Größe  der  Blüten,  in 
der  Länge  der  Blütenstiele,  in  der  Farbe,  Gestalt 
und  Größe  der  Hülsen,  in  der  Gestalt  und  Größe 
der  Samen,  in  der  Färbung  der  Samenschale  und 
der  Kotyledonen.  Die  Aufgabe,  die  sich  Mendel 
nun  stellte,  war  die  Beantwortung  der  Frage: 
Wie  verhält  sich  die  Nachkommenschaft  zweier 
Pflanzen,  die  in  einem  oder  mehreren  Merkmalen 
konstant  verschieden  sind,  wenn  wir  diese  beiden 
Pflanzen  durch  Befruchtung  verbinden ,  welche 
Gesetzmäßigkeiten  zeigen  sich  bei  der  Verteilung 
der  elterlichen  Merkmale  in  den  aufeinander 
folgenden  Generationen  ? 

Wenn  Mendel  bei  seinen  erbanalytischen 
Untersuchungen  so  grundlegende  Resultate  erzielte, 
so  verdankt  er  das  zunächst  seiner  Methode. 
Heute  erscheint  uns  diese  Methode  bei  vererbungs- 
wissenschaftlichen Untersuchungen  als  so  selbst- 
verständlich, daß  wir  nur  zu  leicht  darüber  ver- 
gessen, welch  bedeutungsvollen  Schritt  vorwärts 
ihre  erste  Anwendung  darstellte.  Schon  allein 
durch  seine  Methode  überragte  Mendel  seine 
Zeitgenossen  und  alle,  die  vor  ihm  sich  vergebens 
um  die  Lösung  ähnlicher  Fragen  mühten,  bei 
weitem.  Zunächst  war  schon  die  Wahl  des  Ver- 
suchsobjektes außerordentlich  glücklich.  Mendel 
sagt  darüber  selbst :  „Die  Auswahl  der  Pflanzen- 
gruppe, welche  für  Versuche  dieser  Art  dienen 
soll ,  muß  mit  möglichster  Vorsicht  geschehen, 
wenn  man  nicht  im  vorhinein  allen  Erfolg  in 
Frage  stellen  will. 

Die  Versuchspflanzen  müssen  notwendig 

1.  konstant  differierende  Merkmale  besitzen, 

2.  die  Hybriden  derselben  müssen  während 
der  Blütezeit  vor  der  Einwirkung  jedes  fremd- 
artigen Pollens  geschützt  sein  oder  leicht  ge- 
schützt werden  können, 

3.  dürfen  die  Hybriden  und  ihre  Nachkommen 
in  den  aufeinander  folgenden  Generationen  keine 
merkliche  Störung  in  der  Fruchtbarkeit  erleiden." 

Mendel  hatte  also  von  Anfang  an  klar  er- 
kannt, welches  die  notwendigen  Vorbedingungen 
für  eine  erfolgreiche  Durchführung  der  Experi- 
mente waren.  Die  Gattung  Pisiiin  erwies  sich 
nach  ausgedehnten  Vorversuchen  als  allen  An- 
forderungen entsprechend.  Pisinii  ist  normaler- 
weise Selbstbefruchter,  die  Narbe  ist  innerhalb 
der  Blüte  so  geschützt,  daß  eine  Störung  durch 
fremden  Pollen  kaum  in  PVage  kommt.  Anderer- 
seits aber  gelingt  die  künstliche  Fremdbestäubung 
nach  vorheriger  l^ntfernung  der  eigenen  Staub- 
fäden ohne  allzu  große  Schwierigkeiten.  Die  aus 
künstlicher  PVemdbestäubung  hervorgegangenen 
Pflanzen  stehen  hinsichtlich  ihrer  Fruchtbarkeit 
nicht  hinter  den  normal  erzeugten  zurück.  Als 
besondere  Vorzüge  von  Pisiiiii  sind  ferner  die 
leichte  Kultur,  die  im  freien  Lande  oder  in 
Töpfen  erfolgen  kann,  die  Möglichkeit  der  Auf- 
zucht sehr  großer  Individuenzahlen  und  die  ver- 
hältnismäßig kurze  Vegetationsdauer  hervorzu- 
heben.    Letztere  ermöglichte  es,  die  Versuche  in 


nicht  zu  langer  Zeit  über  eine  Reihe  von  Gene- 
rationen fortzusetzen,  ebenfalls  eine  Vorbedingung 
für  den  Erfolg  Mendels.  Was  die  bei  der 
Kreuzung  untersuchten  Merkmale  anbelangt,  so 
unterschied  sich  auch  da  Mendel  ganz  prinzipiell 
von  seinen  Vorgängern.  Er  kreuzte  nicht  wie 
diese  Formen,  die  sich  durch  eine  möglichst  große 
Zahl  von  Merkmalen  unterschieden,  und  verglich 
nicht  den  Gesamthabitus  der  Nachkommen 
mit  dem  der  Eltern,  sondern  er  griff  einzelne 
Merkmale  heraus,  und  in  seinen  ersten  Ver- 
suchen unterschieden  sich  die  Ausgangsindividuen 
nur  in  einem  solchen  Merkmal.  Und  selbst  bei 
der  Merkmalswahl  traf  er  wieder  eine  Auslese. 
Er  sagt  ausdrücklich,  daß  ein  Teil  der  von  ihm 
bei  seinen  Erbsensorten  gefundenen  Merkmale 
keine  sichere  und  scharfe  Trennung  zuließ,  daß 
der  Unterschied  bei  einzelnen  nur  auf  einem  oft 
schwer  zu  bestimmenden  ,,mehr  oder  weniger" 
beruhte.  Diese  nur  quantitativ  voneinander  ab- 
weichenden Merkmale  wurden  gleich  ausgeschaltet 
und  nur  solche  studiert,  die  wirklich  gegen- 
sätzlich waren,  so  daß  sich  bei  Untersuchung 
der  Nachkommen  ohne  weiteres  entscheiden  ließ, 
ob  dieses  oder  jenes  Merkmal  ausgeprägt  war. 
Insgesamt  wurden  7  Merkmalspaare  auf  ihr  erb- 
liches Verhalten  bei  der  Kreuzung  geprüft.  Eine 
weitere  Neuheit  in  Mendels  Methode  war  die 
individuelle  Stammbaumzucht.  Die  von 
jedem  Elternpaar  stammenden  Nachkommen  — 
bei  sämtlichen  Versuchen  wurde  eine  wechsel- 
seitige Kreuzung  durchgeführt,  d.  h.  jeder  Elter 
diente  als  Samenpflanze  und  als  Pollenpflanze  — 
wurden  getrennt  aufgezogen,  und  das  Gleiche 
geschah  in  allen  folgenden  Generationen.  Nur  so 
war  es  möglich,  zu  einer  klaren  Erkenntnis  der 
aus  der  Kreuzung  sich  ergebenden  Zahlenver- 
hältnisse zu  gelangen  und  vor  allem  auch  zu  der 
Erkenntnis  zu  kommen,  daß  die  äußere  Erschei- 
nung des  Individuums  noch  nichts  über  das  Aus- 
sehen seiner  Nachkommen  besagt,  daß  vielmehr 
umgekehrt  das  Individuum  nach  seinen  Nach- 
kommen beurteilt  werden  muß. 

Die  Resultate  Mendels  und  seine  aus  diesen 
abgeleiteten  „Regeln"  machen  wir  uns  am  besten 
an  der  Hand  einiger  der  von  ihm  ausgeführten 
Versuche  klar.  Eines  der  von  ihm  ausgewählten 
Merkmalspaare  bezieht  sich  auf  die  Gestalt  der 
Samen.  Einzelne  Erbsensorten  hatten  kugelrunde 
Samen  mit  glatter  Oberfläche,  bei  anderen  waren 
die  Samen  unregelmäßig  kantig  und  tief  runzelig. 
Bei  der  Kreuzung  dieser  beiden  Sorten  ergab  sich 
eine  erste  Bastardgeneration,  die  völlig  einheitlich 
aussah.  Alle  Samen  waren  rund  und  glatt,  das 
Merkmal  kantig  und  runzelig  trat  nicht  auf.  Da- 
bei war  es  völlig  gleichgültig,  welches  Merkmal 
der  Samen-  und  welches  der  Pollenpflanze  ange- 
hörte. Und  dieses  Hervortreten  des  einen  und 
das  Verschwinden  des  anderen  Merkmales  in  der 
ersten  Bastardgeneration  wurde  in  der  gleichen 
Weise  auch  bei  den  Versuchen  mit  anderen  Merk- 
malspaaren beobachtet,    immer  glichen  die  Nach 


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kommen  einheitlich  dem  einen  Elter.  Die  bei 
den  Bastarden  der  ersten  Generation  in  Erschei- 
nung tretenden  Merkmale  bezeichnet  Mendel 
als  die  dominierenden,  die  latent  werdenden 
als  die  rezessiven  Merkmale,  womit  gleich  zum 
Ausdruck  gebracht  werden  soll,  daß  letztere  in 
den  weiteren  Generationen  wieder  zum  Vorschein 
kommen.  Mendels  Wiederentdecker  haben  diese 
seine  erste  Feststellung  über  das  Aussehen  der 
ersten  Bastardgeneration  in  der  erstenMendel- 
schen  Regel,  der  Prävalenzregel,  formu- 
liert und  legten  damit  den  Nachdruck  auf  das 
Dominieren  oder  Prävalieren  des  einen  der  beiden 
gegensätzlichen  Merkmale.  Weitere  Untersuchungen 
ergaben  dann  aber,  daß  diese  Dominanz  des  einen 
Merkmales  durchaus  nicht  die  Regel  ist.  Sehr 
häufig  ist  die  Dominanz  mehr  oder  weniger  un- 
vollständig, oder  die  Bastarde  nehmen  hinsicht- 
lich der  untersuchten  Merkmale  eine  Mittelstellung 
zwischen  den  Eltern  ein,  sind  intermediär.  Als 
Regel  kann  für  die  erste  Bastardgeneration  nur 
gelten,  daß  sie  aus  lauter  gleichen  Individuen 
besteht,  daß  sie  uniform  ist.  Man  bezeichnet 
deshalb  die  erste  Mendel  sehe  Regel  heute  meist 
als  Uniformitätsregel.  Aber  auch  in  dieser 
Fassung  kommt  der  ersten  Regel  bei  weitem 
nicht  die  Bedeutung  zu  wie  der  zweiten  und 
dritten  Regel ,  die  sich  aus  dem  Verhalten  der 
weiteren  Bastardgenerationen    ableiten  ließen. 

Die  durch  künstliche  Kreuzbefruchtung  herge- 
stellten Bastarde  der  ersten  Generation  wurden 
durch  Selbstbefruchtung  vermehrt,  und  nun  er- 
schienen in  der  zweiten  Generation  neben  den 
dominanten  auch  die  rezessiven  Merkmale  wieder 
in  völlig  unveränderter  Form,  neben  runden- 
glatten Samen  traten  also  kantige-runzelige  auf. 
Insgesamt  lieferten  253  Bastarde  der  ersten  Gene- 
ration 7324  Nachkommen.  Von  diesen  waren 
rund-glatt  5474  und  kantig  -  runzelig  1850  Indivi- 
duen (bzw.  Samen).  Das  entspricht  einem  Ver- 
hältnis von  2,96:1,  also  ungefähr  3:1.  Und  dieses 
Verhältnis  3  :  i  ergab  sich  für  alle  untersuchten 
Merkmalspaare  in  der  zweiten  Nachkommen- 
generation, immer  kam  durchschnittlich  auf  drei 
Pflanzen  mit  dem  dominanten  Merkmal  eine  mit 
dem  rezessiven.  Und  in  allen  Fällen  waren  die 
rezessiven  Merkmale  der  zweiten  Nachkommen- 
generation genau  ebenso  beschaffen  wie  diese 
Merkmale  in  der  großelterlichen  Generation,  sie 
blieben  völlig  unbeeinflußt  durch  die  dominanten 
Merkmale,  Übergangsformen  wurden  bei  keinem 
Versuche  beobachtet.  Die  Individuen  der  zweiten 
Nachkommengeneration  wurden  abermals  durch 
Selbstbefruchtung  vermehrt.  Alle  Individuen, 
welche  das  rezessive  Merkmal  besaßen,  brach- 
ten ausschließlich  ebensolche  Nachkommen  hervor, 
das  dominante  Merkmal  erschien  unter  ihren 
Nachkommen  nie  wieder,  und  ebenso  war  dies 
in  allen  folgenden  Generationen.  Die  Individuen, 
welche  das  dominante  Merkmal  besaßen,  ver- 
hielten sich  verschieden.  Ein  Drittel  von  ihnen 
gab  nur  Nachkommen  mit  dem  dominanten  Merk- 


mal, in  der  nächsten  wie  in  allen  folgenden 
Generationen.  Zwei  Drittel  aber  lieferten  wieder 
beide  Formen  in  dem  für  die  zweite  Generation 
charakteristischen  Verhältnis  3:1.  Daraus  ging 
hervor,  daß  die  Individuen  der  zweiten  Generation 
mit  dem  dominanten  Merkmal,  wenn  sie  auch 
äußerlich  einander  völlig  gleich  waren,  doch  in  ihrer 
erblichen  Beschaffenheit  verschieden  sein  mußten. 
Das  dominante  Merkmal  hat  mit  anderen  Worten 
doppelt  e  Bedeutung,  die  des  S  t  a  m  m  Charakters 
und  die  des  Bastard  Charakters.  Welche  Bedeu- 
tung es  bei  dem  einzelnen  Individuum  hat,  darüber 
vermag  nur  die  nächste  Generation  Aufschluß  zu 
geben.  Individuen,  die  das  Merkmal  als  Stamm- 
charakter besitzen,  geben  nur  gleichbeschaffeneNach- 
kommen,  sind  konstant,  Individuen,  die  es  als  Ba- 
stardcharakter besitzen,  erzeugen  wieder  dominante 
und  rezessive  Formen  im  Verhältnis  3:1.  Dieses 
für  die  Nachkommen  der  Bastarde  charakteristische 
Verhältnis  läßt  sich  somit  weiter  auflösen  in  das 
Verhältnis  1:2:1.  Auf  ein  Individuum  mit  dem 
dominanten  Merkmal  als  Stammcharaktcr  kommen 
zwei  Individuen  mit  dem  dominanten  Merkmal 
als  Bastardcharakter  und  ein  Individuum  mit 
dem  rezessiven  Merkmal,  das  nur  als  Stamm- 
charakter auftritt.  Die  Hälfte  aller  Individuen 
wird  sich  weiterhin  konstant  verhalten,  die 
Hälfte  wird  wieder  aufspalten  nach  dem 
Verhältnis  3:1.  Wenn  A  das  dominante  Merk- 
mal bezeichnet  und  a  das  rezessive,  so  hat  der 
Bastard  die  Formel  Aa,  und  wenn  wir  annehmen, 
daß  bei  der  Bildung  der  Geschlechtszellen  A  und 
a  sich  wieder  trennen,  daß  sie  „spalten",  wie  man 
heute  sagt,  so  erhält  die  Hälfte  aller  Geschlechts- 
zellen, seien  es  Ei-  oder  Pollenzellen,  A,  die  an- 
dere Hälfte  a.  Bei  Selbstbefruchtung  sind  nun- 
mehr vier  Kombinationen  möglich.  Es  kann  sich 
vereinigen:  Eizelle  A  mit  Pollenzelle  A  ^  AA  = 
konstant  weiter  züchtende  Form  mit  dem  domi- 
nanten Merkmal,  Eizelle  A  mit  Pollenzelle  a  =  Aa  = 
Bastardform  mit  dem  dominanten  Merkmal ,  Ei- 
zelle a  mit  Pollenzelle  A  =  aA  =-  Bastardform  mit 
dem  dominanten  Merkmal,  Eizelle  a  mit  Pollen- 
zelle a  =  aa  ^  konstant  weiter  züchtende  Form 
mit  dem  rezessiven  Merkmal.  Da  nach  den  Re- 
geln der  Wahrscheinlichkeit  alle  vier  Kombina- 
tionen durchschnittlich  gleich  oft  verwirklicht 
werden,  und  da  drei  von  ihnen  äußerlich  gleiche 
Formen  geben  werden,  so  erklärt  sich  damit  ohne 
weiteres  das  Verhältnis  3:1.  In  der  Annahme 
einer  reinlichen  Spaltung  der  im  Bastard 
vereinigten  Merkmalsanlagen  der  beiden  Eltern 
bei  der  Bildung  der  Geschlechtszellen  des  Bastards 
war  also  der  einfache  Schlüssel  für  das  Verständnis 
des  regelmäßig  sich  wiederholenden  Zahlenverhält- 
nisses gefunden.  Wir  bezeichnen  diese  zweite 
Mendelsche  Regel  heute  als  die  S  p  a  1 1  u  n  g  s  - 
regel  und  sprechen  auch  von  einer  „Reinheit 
der  Gameten",  wenn  wir  die  Tatsache  beson- 
ders betonen  wollen,  daß  das  „unreine"  Individuum, 
der  Bastard,  nur  „reine"  Geschlechtszellen  bildet, 
in  denen  die  Anlagen   der  gegensätzlichen  Merk- 


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male  wieder  getrennt  sind,  ohne  daß  sie  sich 
gegenseitig  irgendwie  beeinflußt  haben. 

Die  dritte  IVI  e  n  d  e  1  sehe  Regel  ergab  sich  aus 
den  Experimenten,  wo  bei  der  Kreuzung  gleich- 
zeitig das  Verhalten  mehrerer  Merkmalspaare 
verfolgt  wurde.  So  besaß  bei  einem  Versuch 
der  eine  Elter  die  Merkmale  glatte  Samen  und 
gelbe  Kotyledonen,  der  andere  Elter  die  Merkmale 
kantige  Samen  und  grüne  Kotyledonen.  Die 
erste  Bastardgeneration  hatte  einheitlich  runde 
Samen  und  gelbe  Kotyledonen,  rund  und  gelb 
sind  also  die  beiden  dominanten  Merkmale.  Bei 
Selbstbefruchtung  erschienen  in  der  zweiten  Nach- 
kommengeneration wieder  die  rezessiven  Merk- 
male in  dem  bekannten  Verhältnis  3:1.  Die 
Merkmale  traten  nun  aber  nicht  nur  in  der 
gleichen  Verbindung  wieder  auf  wie  bei  den 
Ausgangsindividuen,  sondern  es  entstanden  auch 
neue  Kombinationen:  F"ormen  mit  kantigen  Samen 
und  gelben  Kotyledonen  sowie  Formen  mit  runden 
Samen  und  grünen  Kotyledonen.  Die  vier  mög- 
lichen Kombinationen  standen  zahlenmäßig  in 
bestimmtem  Verhältnis  zueinander,  es  waren  von 
556  Individuen  315  rund  und  gelb,  lOl  kantig 
und  gelb,  108  rund  und  grün,  32  kantig  und  grün. 
Das  ist  ein  Verhältnis  von  ungefähr  9:3:3:1, 
und  dieses  Verhältnis  wurde  in  der  zweiten  Nach- 
kommengeneration immer  wieder  gefunden,  wenn 
zwei  Merkmalspaare  im  Spiele  waren,  gleichgültig, 
welche  Merkmale  es  waren,  und  von  welcher 
Seite  her  und  in  welcher  Kombination  sie  in  die 
Kreuzung  eintraten.  Auch  dafür  bietet  sich 
wieder  ein  sehr  einfacher  Schlüssel.  Wir  müssen 
diese  Zahlen  wieder  nach  den  Regeln  der  Wahr- 
scheinlichkeit erhalten,  wenn  die  beiden  Merk- 
malspaare voneinander  völlig  unab- 
hängig sind.  Bezeichnet  A  bzw.  a  das  eine, 
B  bzw.  b  das  andere  Merkmalspaar,  so  hat  der 
Bastard  die  Formel  AaBb.  Er  bildet  vier  ver- 
schiedene Geschlechtszellen ,  AB ,  Ab  ,  aB ,  ab, 
und  diese  ermöglichen  4X4=16  verschiedene 
Kombinationen,  die  aber  teilweise  äußerlich  gleich 
gestaltet  sind.  Wie  leicht  ausgerechnet  werden 
kann,  müssen  bei  zwei  Merkmalspaaren  in  der 
zweiten  Bastardgeneration  vier  verschiedene 
Formen  auftreten  in  dem  Verhältnis  9:3:3:1, 
und  unter  diesen  16  Individuen  muß,  wenn  die 
Erklärung  richtig  ist,  in  jeder  Gruppe  eines  sein, 
das  seine  Merkmale  konstant  vererbt,  während 
die  übrigen  hinsichtlich  eines  oder  beider  Merk- 
male wieder  spalten.  Für  diese  theoretische 
Forderung  ergab  sich  denn  auch  aus  den  weiteren 
Experimenten  Mendels  eine  Bestätigung. 

Wurden  drei  Merkmalspaare  bei  der  Kreuzung 
verfolgt,  so  erwiesen  sich  auch  diese  als  völlig 
selbständig  und  unabhängig  voneinander,  und 
dasselbe  war  der  Fall,  wenn  alle  sieben  von 
Mendel  genauer  studierten  Merkmalspaare  gleich- 
zeitig im  Spiele  waren.  Je  größer  die  Zahl  der 
Merkmalspaare,  desto  größer  ist  auch  die  Zahl 
der  verschiedenen  (lamcten,  die  der  Bastard 
produziert,    desto    größer    ist   damit    zugleich    die 


Zahl  der  möglichen  Gametenkombinationen  sowie 
der  verschiedenen  Typen.  Bei  sieben  Merkmals- 
paaren beträgt  die  Zahl  dieser  letzteren  2'=i2S. 
Alle  diese  Typen  erhielt  Mendel  auch.  Damit 
haben  wir  auch  die  dritte  Mendelsche  Regel, 
die  Unabhängigkeitsregel,  kennengelernt. 

III. 
In  der  ersten  Zeit,  die  der  Wiederentdeckung 
Mendels  folgte,  war  man  mit  Erfolg  bemüht, 
die  Gültigkeit  der  Mend  eischen  Regeln  an 
möglichst  vielen  Objekten  zu  prüfen.  Man  unter- 
suchte den  Erbgang  der  verschiedensten  Eigen- 
schaften bei  Pflanzen  und  Tieren  jeder  größeren 
Gruppe,  von  den  einfachsten  Protisten  bis  zu  den 
höchststehenden  Phanerogamen  einerseits  und  den 
Säugetieren  andererseits,  und  immer  wieder 
fanden  sich  neue  Eigenschaften,  die  „mendelten". 
Es  ist  verständlich,  daß  man  zunächst  in  erster 
Linie  morphologische  Merkmale  untersuchte,  die 
sich  leicht  verfolgen  ließen.  So  sind  Farbe, 
Zeichnung  und  F"orm  einzelner  Teile  oder  des 
Gesamtorganismus  von  Anfang  an  Lieblings- 
merkmale der  Mendelianer  gewesen.  Dies  hat 
vielfach  zu  der  Anschauung  geführt,  es  seien  nur 
solche  „oberflächlichen",  für  den  Organismus  mehr 
oder  weniger  gleichgültigen  Merkmale,  wie  die  Farbe 
der  Blüten  und  Samen  oder  die  Farbe  der  Augen, 
wie  die  Form  der  Blätter  oder  der  Haare,  die 
nach  den  Mendelschen  Regeln  vererbt  werden. 
Nichts  ist  irriger  als  eine  derartige  Ansicht.  Der 
Wert  oder  Unwert  einer  Eigenschaft  hat  mit 
deren  Erbgang  nichts  zu  tun.  Es  mendeln  lebens- 
wichtige Eigenschaften  ebenso  wie  „oberflächliche" 
Merkmale,  normale  Eigenschaften  ebenso  wie 
krankhafte,  morphologische  wie  physiologische, 
physiologisch -chemische  wie  chemisch  -  physika- 
lische, körperliche  wie  psychische  Merkmale.  Es 
mendeln,  um  aus  der  großen  Zahl  von  Beispielen 
nur  einige  herauszugreifen,  die  Rostwiderstands- 
fähigkeit und  die  Winterfestigkeit  beim  Weizen, 
die  Kälteempfindlichkeit  und  eine  gewisse  Blatt- 
krankheit der  Wunderblume,  die  chemische  Zu- 
sammensetzung der  Samen  beim  Mais,  die 
chemische  Zusammensetzung  der  Hämolymphe 
der  Schmetterlinge,  die  Fruchtbarkeit  der  Hühner, 
die  Wüchsigkeit  der  Enten,  der  Schrittgang  des 
Pferdes,  gewisse  Krebsgeschwülste  bei  P'liegen, 
das  Tanzen  der  japanischen  Tanzmäuse,  die  Rot- 
grünblindheit und  die  Bluterkrankheit  des  Menschen 
sowie  Stoffwechselkrankheiten  wie  die  Alkaptonurie. 
P"ür  einzelne  geistige  Fähigkeiten  des  Menschen, 
wie  musikalische  und  mathematische  Begabung, 
ist  mendelnde  Vererbung  wenigstens  wahrschein- 
lich gemacht.  Für  gewisse  tierische  Instinkte 
wissen  wir  bereits,  daß  sie  mendeln.  Wenn  wir 
z.  B.  eine  Schlupfwespenart,  die  ihre  Eier  in  die 
Eier  von  Wasserjungfern  legt,  mit  einer  anderen 
kreuzen,  die  ihre  Eier  in  die  Eier  von  Wasser- 
käfern absetzt,  so  erhalten  wir  eine  erste  Bastard- 
generation, deren  Weibchen  ausschließlich  an  die 
Wasserkäfereier    gehen;     dieser    Legeinstinkt    ist 


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dominant.  In  der  nächsten  Generation  aber  treten 
wieder  Weibchen  auf,  die  ihre  Nachkommenschaft 
in  den  Wasserjungferneiern  unterbringen.  Schließ- 
lich sei  noch  daran  erinnert,  daß  das  Geschlecht 
mit  seinem  gesamten  Merkmalskomplex  zu  den 
mendelnden  Eigenschaften  gehört.  Zusammen- 
fassend läßt  sich  sagen,  daß  fast  alle  auf  ihr 
erbliches  Verhalten  untersuchten  Eigenschaften 
mendeln,  nur  ganz  wenige  haben,  soweit  wir 
heute  wissen,  einen  anderen  Vererbungsmodus. 

Freilich  —  die  meisten  von  den  hier  genannten 
Eigenschaften  zeigen  keinen  so  einfachen  Erbgang, 
wie  ihn  Mendel  bei  den  von  ihm  untersuchten 
Merkmalen  fand.  Es  war  ein  besonderes- Glück, 
daß  M  e  n  d  e  1  in  seinen  ersten  Experimenten  lauter 
solche  einfachen  Fälle  in  die  Hände  gerieten,  denn 
wie  hätte  er  sich  sonst  in  dem  Wirrwarr  der  Er- 
scheinungen zurechtfinden,  wie  Gesetzmäßigkeiten 
auffinden  können  ?  Die  einfachen  Mendel-  Fälle 
mußten  das  Fundament  bilden,  auf  dem  dann  erst 
im  Laufe  der  beiden  letzten  Jahrzehnte  der  mächtige 
Bau  des  Mendelismus    errichtet  werden  konnte. 

Die  Entdeckungen  Mendels  und  seiner  Nach- 
folger haben  zunächst  zur  Ausgestaltung  der 
Faktorentheorie  geführt.  Für  alle  mendeln- 
den Eigenschaften  muß  in  den  Keimzellen  irgend- 
ein Etwas,  ein  selbständiges  Element,  eine  An- 
lage vorhanden  sein,  durch  die  das  Merkmal  auf 
die  nächste  Generation  vererbt  wird.  Es  ist  ja 
nicht  die  Eigenschaft  selbst,  die  einfach 
weitergegeben,  von  Generation  zu  Generation 
übertragen  wird,  sondern  das  Vorhandensein  von 
bestimmten  Erbanlagen  veranlaßt,  daß  sich  die 
ganz  bestimmte  Eigenschaft  der  Vorfahren  bei 
den  Nachkommen  neu  entfaltet.  Diese  Erb- 
anlagen bezeichnen  wir  heute  im  allgemeinen  als 
Erbfaktoren  oder  Gene.  Die  Erbmasse  eines 
jeden  Individuums  muß,  entsprechend  der  großen 
Zahl  mendelnder  Merkmale,  aus  einem  außer- 
ordentlich kompliziert  zusammengesetzten  Mosaik 
derartiger  Erbfaktoren  bestehen.  Bei  jeder  Be- 
fruchtung wird  dieses  Mosaik  neu  kombiniert. 
Ei-  und  Samenzelle  bringen  für  jedes  mcndelnde 
Merkmal  Erbfaktoren  mit,  und  von  der  Zusammen- 
setzung des  neuen  Faktorenmosaiks  hängt  es  in 
erster  Linie  ab,  wie  das  Lebewesen,  das  aus  dem 
befruchteten  Ei  hervorgeht,  aussieht.  Sind  die 
für  ein  bestimmtes  Merkmal  —  in  Mendels 
Untersuchungen  z.  B.  die  Gestalt  der  Samen  — 
von  den  beiden  Geschlechtszellen  beigesteuerten 
Erbfaktoren  völlig  gleich  beschaffen,  so  werden 
sie  bei  der  Entfaltung  des  Merkmals  zusammen 
in  gleicher  Richtung  wirken,  sind  sie  aber  ver- 
schieden ,  wie  bei  den  Bastarden ,  so  werden  sie 
in  Wettstreit  treten,  und  von  dem  Ausgang  dieses 
Wettstreites  hängt  es  ab,  ob  das  eine  Merkmal 
über  das  andere  dominiert,  oder  ob  eine  Zwischen- 
form, ein  intermediärer  Bastard,  zustande  kommt. 
Welches  die  Ursachen  der  Dominanz  sind,  ist 
auch  heute  noch  nicht  völlig  klar,  doch  scheint 
neuerdings  manches  darauf  hinzuweisen,  daß  neben 
den  qualitativen  Wirkungen  vor  allem  auch  quan- 


titative Verschiedenheiten  der  betreffenden  Erb- 
faktoren dabei  eine  Rolle  spielen.  Soviel  ist 
jedenfalls  sicher  —  und  das  wird  ja  durch  die 
erste  Mendelsche  Regel,  die  Uniformitätsregel,  zum 
Ausdruck  gebracht  — ,  daß  bei  gleicher  Kombi- 
nation verschiedener  Erbfaktoren  im  allgemeinen 
auch  die  Produkte  gleich  beschaffen  sind. 

Wenn  das  Individuum  seine  Geschlechtszellen 
bildet,  werden  die  von  Vater  und  Mutter  stam- 
menden homologen  Erbfaktoren ,  die  A 1 1  e  1  o  - 
m  o  r  p  h  e  n ,  wieder  getrennt,  sie  spalten,  wie  das 
Spaltungsgesetz  sagt,  und  zwar  gleichgültig,  ob 
die  beiden  Faktoren  gleich  beschaffen ,  homo- 
zygot, sind,  oder  ob  es  sich  um  verschieden- 
wertige,  heterozygote  Allelomorphen  handelt. 
Das  reinrassige  Individuum  unterscheidet  sich  also 
hinsichtlich  der  Spaltung  der  Erbfaktoren  in  den 
Geschlechtszellen  nicht  von  dem  Bastard.  Der 
Unterschied  liegt  nur  darin,  daß  beim  Bastard  die 
Spaltung  bei  den  Nachkommen  in  Erscheinung 
tritt,  bei  dem  reinrassigen  Individuum  nicht.  Die 
Spaltung  ist  auch  bei  den  Bastarden  immer  voll- 
kommen reinlich.  Wenn  auch  der  das  rezessive 
Merkmal  bedingende  Faktor  im  Bastard  nicht  in 
Funktion  tritt,  so  bleibt  er  doch  völlig  unverän- 
dert durch  das  „Zusammenleben"  mit  dem  Partner, 
der  das  dominante  Merkmal  bedingt.  Wir  können 
den  rezessiven  Faktor  Generation  für  Generation 
immer  wieder  mit  dem  dominanten  P'aktor  kom- 
binieren, ihn  sozusagen  in  den  dauernden  Ruhe- 
stand versetzen ,  und  wenn  wir  dann  schließlich 
ihn  doch  wieder  zur  Wirksamkeit  kommen  lassen, 
indem  wir  ihn  mit  seinesgleichen  verbinden,  so 
wird  das  rezessive  Merkmal  genau  so  unverändert 
in  Erscheinung  treten  wie  Generationen  vorher, 
der  Faktor  ist  ,,rein"  geblieben.  In  diesem  Sinne 
spricht  man  von  einer  „Reinheit  der  Gameten", 
mit  der  also  eigentlich  eine  „Reinheit  der  Erb- 
faktoren" gemeint  ist. 

Die  Trennung  der  durch  die  Befruchtung  ver- 
einigten Faktoren  erfolgt  in  den  Geschlechtszellen 
so,  daß  jede  Zelle  einen  vollständigen  Faktoren- 
satz erhält,  in  diesem  Satz  aber  sind  die  mütter- 
lichen und  väterlichen  Faktoren  bunt  durchein- 
andergewürfelt, die  Kombination  geht  nach  den 
Zufallsgesetzen  vor  sich ,  nach  dem  Gesetz  der 
freien  Kombination,  wie  wir  die  Unabhängigkeits- 
regel Mendels  heute  auch  nennen  können. 

Wäre  nun  jedes  einzelne  Merkmal  des  Orga- 
nismus durch  einen  einzelnen  Faktor  bedingt, 
würde  dem  Einheitsfaktor  das  Einheitsmerk- 
mal  entsprechen,  so  wäre  es  ein  Leichtes,  Erb- 
analysen durchzuführen  und  für  jeden  Organismus 
seine  Erbformel  aufzustellen.  Aber  die  einfachen 
Mendel-Fälle  treten  immer  mehr  zurück  gegenüber 
der  großen  Zahl  komplizierter  Fälle,  die  zunächst, 
als  man  sie  entdeckte,  als  „Ausnahmen"  von  den 
Mendelschen  Regeln  erschienen,  und  angesichts 
so  vieler  „Ausnahmen"  glaubten  manche,  den 
Mendelschen  Regeln  nicht  den  Rang  von  Natur- 
gesetzen zuerkennen  zu  dürfen.  Meute  haben 
fast    alle    diese    scheinbaren  Ausnahmen  ihre   Er- 


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klärung  gefunden  und  sind  in  Einklang  mit 
Mendel  gebracht.  Es  hat  sich  herausgestellt, 
daß  sie  uns  nur  deshalb  als  „Ausnahmen"  er- 
schienen, weil  wir  den  Mechanismus  der  Ver- 
erbung, in  den  uns  Mendel  den  ersten  Einblick 
hat  tun  lassen,  noch  nicht  genügend  kannten.  Es 
würde  den  Rahmen  dieser  Skizze  weit  über- 
schreiten, wollten  wir  Schritt  für  Schritt  verfolgen, 
wie  dieser  Mechanismus  in  den  letzten  zwei  Jahr- 
zehnten immer  weiter  klargelegt  worden  ist.  Poly- 
merie, Kryptomerie,  Epistase ,  Hypostase ,  Ver- 
stärkungs-,  Abschwächungs-,  Verdünnungs-,  Hem- 
mungsfaktoren usw.  —  Begriffe,  mit  deren  Auf- 
zählung wenigstens  kurz  angedeutet  sei,  in  wel- 
cher Richtung  ein  Teil  der  Komplikationen  der 
Me  ndel- Phänomene  liegt.  Immer  mehr  ge- 
wöhnt man  sich  daran,  das  einzelne  Merkmal 
als  das  Produkt  des  Zusammenwirkens 
zahlreicher  Erbfaktorenpaare  zu  betrach- 
ten, und  wenn  von  diesen  Paaren  bei  der  Kreu- 
zung mehrere  verschieden  sind,  so  ist  eine  ver- 
wickelte Aufspaltung  in  der  zweiten  Bastard- 
generation die  P'ülge.  Wenn  aber  der  Mende- 
lismus  derart  in  die  Tiefe  gegangen  ist,  so 
ist  das  vor  allem  dem  Zusammenwirken  zweier 
Disziplinen  zu  verdanken,  der  gemeinsamen  Arbeit 
von  experimenteller  Bastardforschung  und  Zyto- 
logie. Schon  vor  Mendels  Wiederentdeckung 
hatten  die  Zellforscher  sich  daran  gemacht,  das 
materielle  Substrat  der  Vererbung  genauestens  zu 
studieren.  Sie  waren  zu  dem  Ergebnis  gelangt, 
daß  die  Träger  der  Vererbung  in  den  Chromo- 
somen zu  suchen  sind,  und  als  man  nun  deren 
Verhalten  mit  dem  der  von  den  Mendelianern 
postulierten  Erbfaktoren  verglich,  da  wurde  man 
mit  Staunen  gewahr,  daß  das  eine  dem  anderen 
völlig  entspricht.  Zwar  machte  sich  bei  einigen 
der  bedeutendsten  Mendelianer  zunächst  ein  heftiger 
Widerstand  gegen  diese  Verbindung  zweier  For- 
schungsrichtungen geltend,  heute  aber  haben  auch 
die  größten  Skeptiker  unter  ihnen  sich  bekehrt, 
und  eine  Vererbungswissenschaft  ohne  Zytologie 
ist  schlechterdings  undenkbar.  Kein  mit  den  Tat- 
sachen Vertrauter  vermag  heute  noch  zu  bestrei- 
ten ,  daß  die  mendelnden  Erbfaktoren  in  den 
Chromosomen  lokalisiert  sind,  und  auch  das  steht 
unwiderleglich  fest,  daß  bestimmte  Chromo- 
somen bestimmte  Erbfaktoren  tragen.  Die 
Entdeckung  der  Geschlechtschromosomen  und  der 
geschlechtsgebundenen  Vererbung  war  die  erste 
Etappe  auf  dem  Wege  zu  diesem  Nachweis.  Es 
gelang  dann,  auch  einzelne  andere  Chromosomen 
aus  dem  normalen  Bestände  zu  entfernen  und  auf 
diese  Weise  sich  über  die  in  ihnen  enthaltenen 
Erbfaktoren  Klarheit  zu  verschaffen,  und  mit  einer 
erstaunlichen  Schnelligkeit  mehren  sich  in  den 
letzten  Jahren  und  Monaten  die  Methoden,  den 
Mechanismus  der  Vererbung  aus  seinem  normalen 
Geleise  zu  bringen  und  auf  diese  Weise  ihn 
noch  genauer  zu  ergründen. 

Im    Verlauf    dieser    gemeinsamen    Arbeit    von 


Zytologie  und  Bastardforschung  sind  uns  nun 
auch  in  den  letzten  Jahren  weitere  Vererbungs- 
gesetze bekannt  geworden,  die  sich  dem  Spaltungs- 
gesetz und  dem  Gesetz  der  freien  Kombination 
anreihen,  das  Koppelungsgesetz  und  das  Austausch- 
gesetz. Schon  in  den  ersten  Jahren  nach 
Mendels  Wiederentdeckung  war  man  mit  Fällen 
bekannt  geworden,  wo  mehrere  Merkmale  nicht 
unabhängig  voneinander  vererbt  wurden,  sondern 
sie  blieben  meist  beisammen,  erwiesen  sich  als 
„gekoppelt";  auch  das  Gegenteil  wurde  beob- 
achtet, die  Merkmale  „stießen  sich  ab".  Daß  der 
Entdecker  dieser  Erscheinung  nicht  gleich  auf  die 
richtige  Erklärung  für  diese  „Ausnahmen"  kam, 
sondern  eine  uns  heute  ganz  absonderlich  an- 
mutende Hypothese  aufstellte,  liegt  wohl  aus- 
schließlich daran,  daß  er  zu  denen  gehörte,  welche 
bis  in  die  jüngste  Zeit  der  Zytologie  nur  wenig 
Beachtung  schenkten.  Heute  begegnet  die  An- 
nahme kaum  noch  einem  Zweifel ,  daß  die 
Koppelung  auf  die  Lokalisierung  der  betreffenden 
Erbfaktoren  in  ein  und  demselben  Chromosom 
zurückzuführen  ist.  Der  Geltungsbereich  des  Ge- 
setzes der  freien  Kombination  endet  also,  wenn 
es  sich  um  Faktoren  des  gleichen  Chromosoms 
handelt.  Aber  auch  das  Koppelungsgesetz  er- 
fährt wieder  eine  Einschränkung.  Zwischen  homo- 
logen Chromosomen  können  Stücke  ausgetauscht 
und  damit  die  Koppelung  der  Faktoren  durch- 
brochen werden.  Wie  dieser  Austausch  vor  sich 
geht,  darüber  sind  die  Meinungen  noch  geteilt, 
doch  werden  wir  wohl  auch  hier  bald  Klarheit 
gewinnen.  Die  beobachteten  Austauschphänomene 
haben  sogar  zu  bestimmten  Vorstellungen  über 
die  Anordnung  der  Faktoren  in  dem  einzelnen 
Chromosom  geführt,  man  hat  topographische 
Karten  der  Chromosomen  entworfen,  in  die  alle 
bekannten  Faktoren  ihrer  Lage  nach  eingetragen 
sind.  Doch  wir  sind  damit  in  die  vorderste  Linie 
gelangt,  wo  mit  zahlreichen  Kräften  an  dem  Aus- 
bau des  Mendelismus  gearbeitet  wird.  Wir  wagen 
es  heute  vorauszusagen,  daß  wir  einer  voll- 
kommenen Klarlegung  des  Mechanismus  der 
Vererbung  nicht  mehr  fern  sind.  Der  mendelisti- 
schen  Forschung  freilich  bleiben  auch  daim  noch 
reiche  Aufgaben.  Es  gilt,  nunmehr  die  Physio- 
logie der  Vererbung  zu  ergründen.  Wir  wissen 
bisher  noch  kaum  etwas  über  die  Natur  der  Gene, 
wir  wissen  auch  noch  nichts  über  ihre  Ver- 
änderungen, die  Mutationen.  Und  noch  ein 
zweites  großes  Feld  der  Betätigung  bleibt  dem 
Mendelismus,  die  Anwendung  in  der  Praxis,  in 
Pflanzen-  und  Tierzucht  sowie  in  der  menschlichen 
Erbkunde.  Bisher  hat  ja  eigentlich  nur  die  Pflanzen- 
zucht bereits  wirklichen  Gewinn  aus  dem  Mende- 
lismus gezogen,  und  doch  kann  kein  Zweifel  sein,  daß 
Mendels  Entdeckungen  auch  auf  anderen  Gebieten 
noch   eine   große  Rolle   zu   spielen   berufen    sind. 

Das  beigegebene  Bild  Mendels  ist  dem  Werke  von 
A.  Lang,  Die  experimentelle  Vererbungslehre  in  der  Zoologie 
seit   1900,  Verlag  von  G.  Fischer,  Jena   1914,  entnommen. 


Illlialt:  II.  Xachtsheim,  Gregor  Mendel  und  sein   Werk.   (l   Abb.l  S.  425. 


Manuskripte  und   Zuschriften  werden   an   Prof.  Dr.   II.   Miche,  Berlin  N   4,   Invalidenstraßc  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  O.   Pätz'srhrn   Bnchdr.   Lippert  &  Co.   G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  J^eihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  6.  August  1922. 


Nummer  33. 


Neue  Grundlagen  für  den  einheitlichen  Aufbau  des  Grundstoff-Systems 
in  mathematischer  Ableitung. 


Von  Prof.  Dr.  E.  Nickel,  Frankfurt  a.  d.  O. 


[Nachdruck  verböte 


I.  Betrachtungen  über  die  veränder- 
lichen und  konstanten  Werte  desGrund- 
stoffsystems.  *) 
Die  Natur  eines  Grundstoffes  hängt  von  zwei 
VeränderHchen  ab;  nicht  allein  von  dem  Atom- 
gewicht, wie  man  früher  glaubte,  sondern  auch 
von  der  Ordnungszahl.  Für  das  System  der 
Grundstoffe  ergibt  sich  sonach  im  graphischen 
Felde  ein  System  von  Punkten ,  von  dem  die 
Abb.  I  uns  ein  schematisches,  ausschnittmäßiges 
Bild  geben  soll ;  die  Achsen  sind  dabei,  um  Raum  zu 
sparen,  viel  zu  dicht  an  den  Kern  der  Abb.  ge- 
legt (vgl.  auch  Abb.  3,  deren  Einzelheiten  später 
erklärt  werden).  Innerhalb  gewisser  enger,  regio- 
naler Grenzen,  die  im  graphischen  Felde  zonen- 
artige und  dreieckige  Gebiete  darstellen,  sind  die 
beiden  Veränderlichen  von  einander  unabhängig; 
die  Grenzen  dieser  Unabhängigkeitsgebiete  sind 
durch  lineare  Funktionen  gegeben.  Während  die 
Atomgewichte  vom  Wasserstoff  bis  zum  Uran 
die  Werte  von  i  bis  rund  238  durchlaufen,  er- 
streckt sich  der  Bereich  der  zweiten  Veränder- 
lichen nur  auf  die  Zahlen  i  bis  92.  (Für  die 
graphischen  Darstellungen  wird  man  wegen  des 
ungleichen  Umfangs  der  beiden  Zahlenreihen  je 
nach  dem  Zwecke  die  Maßstäbe  für  das  Atom- 
gewicht und  die  Ordnungszahl  verschieden  wählen.) 

Nach  den  Vereinbarungen  in  der  Bunsen- 
gesellschaft  im  Jahre  1920  soll  für  die  Ordnungs- 
zahlen fortan  der  Buchstabe  Z  verwandt  werden. 
Dementsprechend  bezeichnet  man  das  Atom- 
gewicht wohl  am  besten  mit  dem  Buchstaben  P. 

Die  Ordnungszahl  Z  hat  ursprünglich  nur  die 
Bedeutung  als  St  eilen  zahl  im  periodischen 
System,  aber  es  ist  noch  eine  zweite  Bedeutung 
hinzugetreten  und  zwar  die  als  Kernzahl  bzw.  die 
spektroskopische.  Der  Wert  der  Ordnungszahl 
im  ersten  Sinne  wird  scheinbar  freilich  durch  die 
Hypothesen  über  die  Lücken,  die  im  Grundstoff- 
system vorhanden  sind,  subjektiv  beeinflußt;  nimmt 
man  z.  B.  zwischen  dem  Wasserstoff  und  dem 
Helium  einen  fluorähnlichen  Grundstoff  mit  P  =  3 
als  möglich  an,  dann  würde  dem  Helium  nicht 
die  Stellenzahl  2,  sondern3  zukommen.  Die  Ent- 
scheidung darüber  ist  jedoch  schon  erfolgt,  denn 


Mit  3  Texlabbildungen. 

der  Wert  der  Stellenzahl  im  zweiten  Sinne  wird 
von  dem  subjektiven  Ermessen  ganz  unabhängig; 
er  wird  durch  Experimente  objektiv  feststellbar. 
In  dem  engen  Rahmen  des  periodischen 
Systems  bilden  Ordnungszahl  und  Atomgewicht  eine 
Art  Parallelerscheinung;  jedem  Grundstoff  wird 
eine  Ordnungszahl  und  jeder  Ordnungszahl  nur 
ein  Grundstoff  zugewiesen.  Wir  erstreben  hier 
aber  für  das  Grundstoffsystem  einen  neuen 
Rahmen,  in  dem  für  die  beiden  Veränderlichen 
P  und  Z  gewisse  Freiheiten  dargestellt  werden 
können,  die  die  schon  erwähnten  Zonen  und 
Spielraumgebiete  ergeben. 


')  Die  mathematisch-chemische  Methode,  die  der  nach- 
stehenden Arbeit  zugrunde  liegt,  ist  von  mir  in  ihrer  Anwen- 
dung auf  andere  Gebiete  der  Chemie  bereits  in  den  Jahren 
1892 — 1894  entwickelt  und  in  einer  Reihe  von  Veröffent- 
lichungen über  „graphochemisches  Rechnen"  in  der  ,,/cil- 
schrift  für  physikalische  Chemie"  niedergelegt  worden. 


Wenn  wir  nun  zwei  Grundstoffe  vergleichen 
wollen,  so  müssen  wir  nach  ihrer  Lagerung  im 
graphischen  Felde  (vgl.  Abb.  i)  zwei  Hauptgruppen 
unterscheiden:  Grundstoffgemeinschaften  wie  E' E" 
bzw.  E'  F",  deren  Lagerung  den  Koordinaten- 
achsen parallel  geht,  und  solche  Gemeinschaften 
wie  E'G'  oder  E"G',  deren  Lagerung  den  Koor- 
dinatenachsen nicht  parallel  geht.  Grundstoffe 
wie  E'  und  F"  haben  zwar  die  gleiche  Ordnungs- 
zahl, aber  verschiedene  Atomgewichte,  während 
umgekehrt  Grundstoffe  wie  E'  und  E"  zwar  gleiches 
Atomgewicht,  aber  verschiedene  Ordnungszahlen 
besitzen.  Beide  Arten  von  Grundstoffgruppen 
waren  früher  nicht  bekannt;  jetzt  dagegen  spielen 
Grundstoffe    wie    ¥.'  und   F"    als    Isotope  Grund 


434 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Stoffe  oder  Plejaden  in  der  Atomforschung  eine 
sehr  wichtige  Rolle.  Um  eine  einheitliche  Be- 
zeichnungsweise mit  den  anderen  Grundstoffge- 
meinschaften zu  gewinnen,  möchte  ich  die  Isotopen 
als  Ordnungsgemeinschaften  bezeichnen; 
für  Grundstoffe  mit  gleichem  Atomgewicht  und  ver- 
schiedenen Ordnungszahlen  hat  man  noch  keinen 
besonderen  Namen  eingeführt.  Sie  wurden  zuerst 
beachtet,  als  das  Wesen  der  /3-Strahlen  richtig 
erkannt  worden  war.  Bei  der  /3-Strahlung  bleibt 
zwar  das  Atomgewicht  des  durch  die  Strahlung 
entstandenen  Grundstoffs  E"  ebenso  groß  wie 
das  des  primären  Grundstoffs  E';  aber  die 
Ordnungszahl-  steigt  durch  eine  /?- Strahlung  um 
eine  Einheit,  und  bei  Wiederholung  der  /S-Strahlung 
für  E"  und  Bildung  des  atomgewichtsgleichen 
Grundstoffs  E'"  um  zwei  Einheiten  bezogen  auf  E'. 
Man  kann  Grundstoffe  dieser  Art  im  Anschluß 
an  die  Ordnungsgemeinschaften  als  Atom- 
gewichtsgemeinschaften  bezeichnen,  oder 
für  Grundstoffe  mit  chemischer  Strahlung  auch 
als  ^-Gemeinschaften  in  engerem  Sinne. 
Wie  wir  später  sehen  werden,  handelt  es  sich 
bei  der  ^-Strahlung  um  Umbau  -Vorgänge  im 
Kern  des  Atoms,  und  deshalb  läßt  sich  die  Atom- 
gewichtsgemeinschaft auch  als  Umbau- Gemein- 
schaft kennzeichnen,  soweit  ein  unmittelbarer 
genetischer  Zusammenhang  vorliegt. 

In  der  nächsten  Gruppe  von  Grundstoffen,  in 
der  Grundstoffgemeinschaft  G'F'E",  steigen  gleich- 
zeitig die  Werte  für  die  Atomgewichte  und  für 
die  Ordnungszahlen.  Lange  Zeit  sah  man  in 
dieser  Art  der  Grundstoffgemeinschaften  das  all- 
gemeine und  ausschließliche  Gesetz  des  Grund- 
stoffsystems. In  dem  Anfangsgebiete  der  Grund- 
stoffreihe von  H  bis  etwa  zum  Ca  ist  das  gleich- 
zeitige Ansteigen  beider  Werte  auch  tatsächlich 
das  alleinherrschende  Gesetz;  es  ist  für  dieses 
kurze  Stück  der  Grundstoffreihe  zum  Teil  an- 
nähernd, zum  Teil  genau  P  =  2Z. 

Auch  bei  den  radioaktiven  Grundstoffen 
kommen  bei  der  «Strahlung  Grundstoffgemein- 
schaften im  Sinne  E"F'G'  zur  Geltung,  die  Grund- 
stoffe bilden  aber  eine  absteigende  Linie.  Im 
Gegensatz  zu  den  /^-Gemeinschaften  können  wir 
diese  Grundstoffgruppen  als  «-Gemeinschaften 
kennzeichnen.  Bei  der  «-Strahlung  sinkt  das  Atom- 
gewicht um  4  Einheiten,  während  die  Ordnungs- 
zahl um  2  Einheiten  abnimmt.  Im  weiteren  Sinne 
soll  der  Ausdruck  „«-Gemeinschaft"  auch  dann 
noch  gebraucht  werden,  wenn  die  oben  ange- 
gebenen Differenzen  zwischen  zwei  Grundstoffen 
vorliegen,  ohne  daß  eine  «Strahlung  besteht. 
Ihrem  Wesen  nach  lassen  sich  die  «Gemein- 
schaften im  Anschluß  an  die  Umbaugemeinschatten 
auch  als  Abbaugemeinschaften  kennzeichnen; 
als  «Prinzip  im  weitesten  Sinne  wollen  wir  es 
bezeichnen,  wenn  sowohl  die  Atomgewichts- 
differenz zweier  aufeinander  folgender  Grundstoffe 
als  auch  ihre  Ordnungsdifferenz  positive  Werte 
ergibt;  in  der  radioaktiven  Richtung  ergeben  sich 
dann  natürlich  zwei  negative  Werte. 


Es  bleibt  noch  der  Fall  zu  erörtern,  daß  das 
Atomgewicht  fällt,  während  die  Ordnungszahl 
steigt.  Diese  Rückläufigkeit  wurde  in  dem 
periodischen  System  der  Grundstoffe  in  3  bzw. 
4  Fällen  festgestellt. 

I  II  III        IV(i9i8) 

ZWert        i8<i9     27<28     52<53     90<9i 
Grundstoff  A>K     Co  >  Ni     Te>J       Th>Pa 

Solange  man  an  die  Allgemeingültigkeit  des 
«-Prinzips  glaubte,  setzte  man  in  den  drei  älteren, 
schon  länger  bekannten  Fällen  fehlerhafte  Be- 
stimmungen des  Atomgewichts  voraus,  bis  wieder- 
holte Nachprüfungen  dieses  Erklärungsverfahren 
als  unzulässig  erwiesen.  Allerdings  konnte  bei 
diesen  älteren  Versuchen  der  Begriff  der  Isotopie 
noch  gar  nicht  zur  Geltung  kommen.  —  Zunächst 
soll  hier  aber  der  Fall  IV  erst  von  allgemei- 
nem Standpunkte  aus  behandelt  werden. 

Er  schließt  sich  an  den  Begriff  der  Isotopie 
an.  Zwischen  den  beiden  Isotopen  Grundstoffen 
E'  und  F",  deren  Atomgewichtsdifferenz  im  An- 
schluß an  die  a-Strablung  vier  Einheiten  betragen 
möge,  sei  noch  ein  isotoper  Grundstoff  Q'  mit 
dem  mittleren  Atomgewicht  vorhanden.  Dieser 
Grundstoff  geht  durch  die  /^-Strahlung  in  den 
Grundstoff  Q"  über.  Vergleichen  wir  nun  die 
Grundstoffe  E'  und  Q"  miteinander,  so  kommt 
dem  ordnungshöheren  Grundstoffe  Q"  ein  kleineres 
Atomgewicht  zu,  als  dem  ordnungsniederen  Grund- 
stoffe E'. 

Dieser  Fall  scheint  bei  dem  Thorium  und 
Protaktinium  vorzuliegen.  (Neubu  rger- Wien, 
Das  Problem  der  Genesis  des  Aktiniums;  Samm- 
lung Herz,  Verlag  Enke- Stuttgart,   192 1.) 

Das  Beispiel  an  sich  ist  sehr  geeignet;  leider 
befinden  wir  uns  noch  auf  etwas  unsicherem 
Boden,  weil  beim  Protaktinium  noch  keine  volle 
Sicherheit  über  die  Größe  des  Atomgewichts  er- 
reicht ist.  Geben  wir  aber  vorläufig  dem  Pro- 
taktinium das  Atomgewicht  230,  so  entsteht  fol- 
gendes Schema,  das  sich  dem  Teil  E'Q'Q"  der 
Abb.   I   anschließt. 

Z  ....  90  91 

Th  232 

UY  230    Pa  230. 
Vergleichen  wir  das  Thor  mit  dem  Protaktinium, 
so  kommt   dem   ordnungshöheren  Grundstoffe  Pa 
das  kleinere  Atomgewicht  zu. 

Falls  übrigens  auch  der  Grundstoff  E'  ebenso 
wie  der  Grundstoff  Q'  eine  (^/-Gemeinschaft  be- 
sitzt, kann  die  Linie  E'Q"  abgelenkt  werden :  wenn 
nämlich  die  Grundstoffe  E'  und  Q'  in  der  Natur 
in  isotopen  Mischungen  vorliegen,  so  muß  das 
,, mittlere"  Atomgewicht  der  Mischung  um  so 
höher  ausfallen,  je  mehr  das  Isotop  mit  dem 
höheren  Atomgewicht  überwiegt,  und  der  Ver- 
gleich der  isotopen  Mischung  E'Q'  mit  der  iso- 
topen Mischung  E"Q"  kann  graphisch  in  dem 
Quadrat  E'E"Q'Q",  an  Stelle  der  Diagonale  E'Q" 
mit  theoretisch  einfachen  Verhältnissen,  Trans- 
versalen der  verschiedensten  Lagen  ergeben.     In- 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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wieweit  dies  für  die  anderen  ¥ä.\\e  von  Rückläufig- 
keit des  Atomgewichts  in  Frage  kommt,  soll  erst 
später  genauer  erörtert  werden;  jedoch  sei  hier 
bereits  darauf  hingewiesen,  daß  durch  das  Kanal- 
strahlverfahren für  das  Nickelmetall  durch  Aston 
neuerdings  zwei  isotope  Formen  mit  den  Atom- 
gewichten 58  und  Co  nachgewiesen  worden  sind; 
als  Präparat  diente  das  Nickelcarbonyl.  (Für  das 
Kobalt  liegen  noch  keine  gleichartigen  Unter- 
suchungen vor.)  Die  Anzahl  der  rückläufigen 
Grundstoffgemeinschaften  ist  viel  größer,  als  man 
bisher  beachtet  hat;  sie  beträgt  20,  wenn  man 
die  neuesten  Ergebnisse  der  Isotopenforschung 
heranzieht.  ' 

Wir  fassen  nun  die  gewonnenen  Ergebnisse 
in  Form  einer  Tabelle  zusammen  und  bezeichnen 
dabei  die  Atomgewichtsdifferenzen  zweier  aufein- 
ander bezogener  Grundstoffe  mit  D,  den  Unter- 
schied ihrer  Ordnungszahlen  mit  A  und  die  Größe 
der  Richtungskonstante  mit  A.  Wegen  des  ver- 
kürzten Maßstabes  der  P- Achse  ist  A  =  V-,^:  -I- 

Übersicht  I. 


Fall  I 
Fall  II 
Fall  III 
Fall  IV 


Null 


pos. 


Bezeichnung  der 
Gemeinschaft 


pos. 
Null 


pos.   \    pos. 
(neg.)  !  (neg.) 

pos.    1    neg. 


Ordnungsgemeinschaft;     j 

Plejaden;    Isotopen       1         cx3 

Atomgewichtsgemeinsch.  } 

bzw.  ;i-Gemeinsch.  Null 

«-Gemeinschaften    nebst  1 

Erweiterung  d.  Begriffs  I    I,  ^/j,  2 

Rückläufige    Grundstoff- 

Gemeinsch.  neg.  ( — l) 


Die  Entwicklung  der  Werte  für  A,  insbesondere  der  Werte 
Vs ;  2  wird  an  späterer  Stelle  geliefert  werden. 


Um  zunächst  in  dem  weiteren  Fortgang 
unserer  analytisch-geometrischen  Betrachtung  die 
verschiedenen  Gleichungen  zu  gewinnen,  die  den 
Grundstoffgemeinschaften  im  Sinne  der  Abb.  i 
entsprechen,  gehen  wir  am  zweckmäßigsten  gleich 
von  dem  ganz  allgemeinen  Fall  aus,  daß 
vier  beliebige  Grundstoffe  E"  und  G',  E'"  und  G" 
graphisch  miteinander  verglichen  werden  sollen. 
Wir  haben  dann  auch  gleich  die  allgemeinen 
algebraischen  Gesichtspunkte  für  unser  Verfahren. 
Sowohl  die  Gemeinschaft  E"G'  als  auch  die  Ge- 
meinschaft E"'G"  bilden  graphisch  je  eine  Gerade. 
Den  algebraischen  Ausdruck  für  diese  beiden  Ge- 
raden stellen  zwei  lineare  Funktionen  dar,  deren 
Richtungskonstanten  mit  A  bzw.  A'  bezeichnet 
werden  sollen.  Die  Abschnitte  der  beiden  Ge- 
raden auf  der  Ordinatenachse  seien  b  und  b'. 
Die  Gleichungen  heißen  dann: 

y  =  Ax  +  b         y  =  A'x  +  b'.  I) 

Entsprechend  den  früheren  Festsetzungen  er- 
setzen wir  die  in  der  Mathematik  üblichen  Buch- 
staben zum  Teil  durch  die  anderen  schon  er- 
wähnten   Zeichen,    deren    chemische    Bedeutung 


uns  näher  liegt;  für  x  tritt  die  Ordnungszahl  Z 
ein,  für  y  das  Atomgewicht  P.  Um  das  Ausmaß 
der  Atomgewichte  demjenigen  der  Ordnungs- 
zahlen anzugleichen,  empfiehlt  es  sich,  für  die 
Atomgewichte  den  halben  Maßstab  der  Ordnungs- 
zahlen zu  verwenden.  Ihren  algebraischen  Aus- 
druck findet  die  Maßnahme  durch  Vorsetzen  des 
F"aktors  '/.^  vor  den  Wert  P.  Im  graphischen  Felde 
dagegen  kann  man  besser  die  vollen  Werte  für 
die  Atomgewichte  einschreiben,  weil  dem  Chemiker 
diese  Zahlen  geläufiger  sind  als  die  halbierten 
Werte.  Die  beiden  Gleichungen  der  Reihe  I 
gehen  dann  über  in  die  Form: 

»/.,  P  =  A  •  Z  +  b  V2  P  =  A'  ■  Z  +  b'.  II) 
Für  die  a-Gemeinschaften  als  besonders  ein- 
fachen Fall  nehmen  diese  Gleichungen  eine  ein- 
fachere Form  an;  für  sie  ist  D  =  4,  J  =  2, 
also  bei  Verwendung  der  halben  Atomgewichte 
V-,  D  =  2,  d.  h.  der  Wert  V2  D  ist  ebenso  groß 
wie  der  Wert  J.  Wie  die  analytische  Geometrie 
lehrt,  hängt  die  Größe  der  Richtungskonstante  A 
ab  von  dem  Differenzen-Quotienten  D :  J.  Für 
die  a-Strahler  ist  die  Richtungskonstante  A  nach 
dem  vorstehenden  in  unserem  graphischen  Felde 
2:2=1.  Es  entspricht  das  einem  tangens-Werte 
von  45",  und  die  Gleichungen  der  Reihe  II  nehmen 
die  einfachere  Form  an: 

1/,  p  =  Z  +  b         Vj  P  =  Z  +  b'.       III) 
Im  Grenzfalle  wird  der  Wert  der  Konstante  b 
gleich  Null,   und   wir   erhalten   dann  die  einfache 
Gleichung : 

V.,P  =  Z.  IV) 

Diese  Gleichung  kennzeichnet,  wie  bereits  er- 
wähnt, die  Anfangsgruppe  der  Grundstoffe  etwa 
bis  Ca,  die  den  einfachsten  Fall  des  «-Prinzips 
verwirklichen;  gehen  wir  darüber  hinaus,  so  be- 
anspruchen die  Werte  von  b  für  jede  neue  «-Ge- 
meinschaft  einen  immer  größer  werdenden  Betrag. 
Um  die  Bezeichnung  einheitlicher  zu  gestalten, 
sollen  die  Werte  b  und  b'  der  Gleichungen  der 
Reihe  III  ebenfalls  mit  einem  großen  Buchstaben 
bezeichnet  werden,  und  zwar  mit  dem  Buchstaben, 
der  im  Alphabet  neben  Z  steht,  mit  dem  Buch- 
staben Y  bzw.  Y';  eine  Verwechselung  mit  dem 
Grundstoffsymbol  Y  für  Yttrium  ist  nicht  zu  be- 
fürchten. Jeder  dieser  Werte  Y  kennzeichnet  eine 
«-Gemeinschaft;  da  diese  Werte  neben  der 
Ordnungszahl  oder  Kernzahl  stehen,  sollen  sie 
einfach  als  Nebenzahl  oder  Nebenkernzahl  be- 
zeichnet werden.  Ihre  theoretische  Bedeutung 
wird  sich  erst  aus  den  späteren  Betrachtungen 
erklären.  An  Stelle  der  Gleichungen  in  Reihe  III 
treten  für  die  a-Strahler  nun  die  Gleichungen : 

1/.3  P  =  Z  -f  Y  V2  P  =  Z  +  Y'.  V) 

Im  graphischen  Felde  entsprechen  die  Linien 
No  D  N^  D'  den  Werten  Y  und  Y'. 

Als  Zahlenbeispiel  für  die  Gleichungen  V 
mögen  die  Werte  der  «Gemeinschaft  Thor-Meso- 
thor  I  dienen  (Abb.  3);  aus  Gründen,  die  später 
ausführlich  behandelt  werden  sollen,  sind  die 
Atomgewichtswertc  auf  volle  Einheiten  abgerundet. 


430 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


P  Z        Y  P  Z        Y 

1/^.232=116  =  90  +  26  Vo- 228  =114  =  88 +  26. 

Diese  «Gemeinschaft  wird  also  gekennzeichnet 
durch  die  Nebenkernzahl  26,   die  konstant  bleibt. 

Die  Gleichung 

i/„  P  =  Z  +  Y, 
die  wir  soeben  für  die  «Strahlung  benutzt  haben,  läßt 
sich  indes  auch  für  ihren  Gegensatz,  die  /J-Strahlung, 
gebrauchen.  Hinter  der  Gleichheit  des  algebrai- 
schen Ausdrucks  für  beide  Fälle  verbirgt  sich  ein 
großer  Unterschied  in  der  Deutung  der  Formel  V : 
es  kommt  nämlich  sehr  darauf  an,  welcher  von 
den  drei  Werten  P,  Z  und  Y  als  Konstante  an- 
gesehen wird.  Für  die  ,i-Strahlung,  bei  der  das 
Atomgewicht  sich  nicht  ändert,  im  Gegensatz  zur 
«-Strahlung,  muß  man  den  Wert  P  als  Konstante 
auffassen.  Die  Veränderlichen  sind  dann  die 
beiden  Summanden  Y  und  Z  (die  Hauptkernzahl 
und  die  Nebenkernzahl);  wird  Z  größer,  so  muß 
Y  entsprechend  kleiner  werden.  Für  die  ^-Strah- 
lung, für  die  Umbaustrahlung,  ergibt  sich  deshalb 
folgende  Doppelgleichung : 

\p:=Z  +  V     =     (Z+i)  +  (Y-i).       VI) 

Zur  zahlenmäßigen  Erläuterung  diene  die  Wert- 
aufstellung für  die  dreigliedrige  /? -Gemeinschaft 
Mesothor  I,  Mesothor  II,  Radioihor  (W  =  Wertig- 
keit). 


V^P 


1  Y  +  Z 


Mesothor  I 

II 

228 

114 

Mesothor  U 

III 

22S 

114 

Radioihor 

IV 

228 

114 

114 
114 
114 


Wie  in  dem  früheren  Zahlenbeispiel  sind  auch 
hier  für  die  Atomgewichte  abgerundete  Werte 
angewandt. 

Die  Richtungskonstante  A  ist  für  die  /S-Strah- 
lung  natürlich  gleich  Null.  Für  das  graphische 
Feld  mit  den  Achsen  P  und  Z  hat  die  Gleichung  VI 

V2P  (als  Konstante)  =  Z-j-Y 
keine  unmittelbare  Bedeutung,  wir  können  aber 
die  Werte  von  Y,  die  Nebenkernzahlen ,  als 
Liniensystem  auffassen,  das  unter  einem  Winkel 
von  45"  durch  das  graphische  Feld  hindurchläuft, 
was  in  der  Abb.  I  durch  die  beiden  Linien  E"D 
und  E"'D'  angedeutet  ist :  schreitet  der  Grundstoff- 
Ort  im  graphischen  Felde  durch  ;:?-Strahlung  von 
E"  nach  E'"  fort,  so  sinkt  die  Nebenkernzahl,  der 
Y-Wert,  um  eine  Einheit,  während  die  Haupt- 
kernzahl, der  Z-Wert,  um  eine  Einheit  steigt.  Wir 
gewinnen  damit  eine  erweiterte  Auffassung  der 
zweiten  Verschiebungsregel  von  Fajans  und 
S  o  d  d  y. 

Außer  den  einfachen  «-  und  /3-Gemeinschaften 
kommen  noch  die  umfassenderen  Grundstoff- 
gemeinschaften in  Betracht,  bei  denen  die  Rich- 
tungskonstante A  =  ■'/s  ist  (vgl.  in  Abb.  i  E'G'). 
Als  Beispiel  diene  die  weitgespannte  Gemeinschaft 

Hg  Ca;  die  beiden  Grundstoffe  gehören  der  Zwei- 
wertigkeitsspalte    des     periodischen    Systems    an. 


Auch    hier    verwenden    wir    ganzzahlige    Werte 

Es  ist 

V2  D  _  V2  •  (200-40)  _  80  _  4 


A  für  Hg  Ca 


80—20  60      3 

Auf  dem  Gebiete  der  radioaktiven  Grundstoffe 
entspricht  dieser  Richtungskonstante  natürlich 
eine  bestimmte  Strahlungsfolge,  eine  bestimmte 
Ab-  und  Umbauordnung,  und  zwar  die  Folge  aaß 
oder  ihre  Umkehrung  ßaa. 

Den  Zusammenhang  der  Grundwerte  von  D 
und  J  mit  den  abgeleiteten  Werten  für  die  Rich- 
tungskonstante erkennt  man  am  besten  aus  der 
folgenden  Übersicht,  in  der  nach  den  früheren 
Festsetzungen  die  Richtungskonstante  A  =  \ .,  D :  J 
ist  und  w  den  ihr  zugehörigen  Winkel  bedeutet. 
Im  ganzen  lassen  sich  für  die  Richtungskonstante 
mit  Einschluß  der  beiden  Grundfälle  der  «-  und 
/^-Strahlung  fünf  verschiedene  Gesetze  aufstellen, 
die  wir  aber  auch  ganz  unabhängig  von  jeder  chemi- 
schen Strahlung  weniger  bequem  durch  einen  be- 
stimmten Differenzen  -  Quotienten  kennzeichnen 
können.  Den  Ausgangspunkt  der  Betrachtung 
bilden  allerdings  die  beiden  Versch  iebun gs- 
regeln  von  Fajans  und  Soddy. 

Übersicht  II. 

Strahlung       V-,  D        ^  A  w 

i)  n  — 2       — 2         I         45"        I.  D-.J-Geseu 


2) 

0 

+  ■ 

0 

0» 

2.  D-^-Gesetz 

3)     «+^ 
wie  i)     « 

— 2 
—  2 

—I 
— 2 

2 

63  Va» 

3.  D--y-Gesetz 

4)     «-f/S-f« 
wie  3)  «+,,' 

wie  2)     ß 

—4 
— 2 

0 

-3 

—  1 

Vs 
2 

0 

53V6° 

I4.  D-_/-Gesetz    ^ 
\  (Normalgesetz)  ) 

5)    «+/«+/* 


00        90°        5.  D-_/-Gesetz 
(Isotopiegesetz) 


Für  Strahlungs perioden,  z.  B.  aaßaaß,  er- 
geben sich  natürlich  dieselben  Werte  wie  für  die 
einfache  Strahlungsfolge,  aus  der  sich  die  Periode 
aufbaut.  In  der  Reihe  Thor  bis  Thor  C"  haben 
wir  z.  B.  die  Strahlungsfolge  2a  ß  in  zwei-  und 
dreifacher  Periode  (Abb.  3). 

Das  graphische  Bild  dieser  rechnerischen  Vor- 
gänge ist  sehr  einfach  (siehe  Abb.  i):  gehen  wir 
z.  B.  für  A  =  *,3  von  dem  Grundstoff  E'  aus,  so 
müssen  wir  parallel  der  P-Achse  um  4  Einheiten 
heruntergehen,  und  von  dort  parallel  der  Z-Achse 
um  drei  Einheiten  nach  links,  um  den  graphischen 
Ort  des  abschließenden  Grundstoffs  der  Gemein- 
schaft ßäa  in  G'  zu  finden.  Die  graphische  Ent- 
fernung der  beiden  Grundstoffe  beträgt  $  Ein- 
heiten, da  es  sich  in  dem  Abstandsdreieck  um 
ein  rechtwinkliges  Dreieck  mit  den  drei  ersten 
und  einfachsten  pythagoreischen  Zahlen  handelt. 
Die  radiogenetische  Reihe  E'  G'  hat  noch  zwei 
Zwischenglieder,  deren  graphische  Orte  leicht  zu 
bestimmen  sind:  E"  liegt  wegen  der  ,:?-Strahlung 
parallel  der  Z-Achse  um  eine  Einheit  nach  rechts, 
das  andere  Glied  F',  der  «-Strahlung  folgend,  in 
der   IVIitte    der    diagonalartig    verlaufenden    Linie 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


437 


E"G'.  Die  Wertigkeitsfolge  der  beteiligten  Grund- 
stoffe ist,  wenn  der  Wert  IV  als  Ausgangspunkt 
dient,  IV,  V,  III,  I.  Die  kennzeichnende  Figur 
der  //««-Gemeinschaft  ist  also  nicht  das  pythago- 
reische Dreieck  mit  den  Zahlen  3,  4,  5,  sondern 
das  an  dessen  Hypotenuse  angeschlossene  Dreieck 
li'E"G'.  An  seiner  kleinsten  und  größten  Seite 
verläuft  die  genetische  Linie  der  Grundstoffum- 
wandlung in  vier  Generationen,  die  sich  verhalten 
wie  die  Reihe  vom  Urgroßvater  bis  zu  dessen 
Urenkel.  Selbst  wenn  wir  von  einem  chemisch 
reinen  Präparat  des  Grundstoffs  E'  ausgehen,  so 
muß  dieses  nach  einer  gewissen  Zeit,  wenn  die 
Halbwertzeiten  nicht  ungewöhnlich  groß  sind,  in 
nennenswerter  Weise  mit  Grundstoffen  der  ganzen 
Sippschaft  (neben  He)  vergesellschaftet  sein. 

Durch  Fortsetzung  dieser  Figur  nach  oben  und 
unten  bekommen  wir  als  allgemeines  graphisches 
Bild  der  radiogenetischen  Vorgänge  einen  Zick- 
zackweg; er  setzt  sich  aus  zwei  Wegeinheiten 
zusammen,  die  der  «-  und  /3-Strahlung  entsprechen 
und  die  wir  kurz  als  «-Weg  und  /?-Weg  be- 
zeichnen wollen.  Wir  sehen  aus  der  Abbildung  auch 
anschaulich,  daß  das  allgemeine  Prinzip  von  Le 
Chatelier  in  erweiterter  Form  auch  auf  das  Gebiet 
der  Radioaktivität  anwendbar  ist.  Wenn  auf  ein 
im  Gleichgewicht  befindliches  System  von  außen 
oder  von  innen  durch  Zwang  eine  System- 
änderung ausgelöst  wird,  so  entsteht  ein  Gegen- 
vorgang, der  die  Wirkung  des  ersten  Vorgangs 
aufzuheben  sucht :  die  Umbautätigkeit  im  Atom- 
kern ruft  als  Gegenwirkung  die  Abbautätigkeit 
hervor,  und  umgekehrt,  —  aber  die  Abbautätigkeit 
erweist  sich  als  stärker. 

T'  Zu  den  einfachen  Beziehungen,  wie 
sie  sich  bei  der  Auswertung  der  allgemeingültigen 
mathematischen  Formeln  in  den  Zahlenbeispielen 
zeigten,  gelangt  man  nur,  wenn  mehrere  Neben- 
bedingungen erfüllt  sind,  die  uns  jetzt  beschäftigen 
sollen.  In  erster  Reihe  kommt  die  Ganzzahlig- 
keit  der  Atomgewichte  in  Frage;  die  umfang- 
reichsten Aufschlüsse  darüber  verdanken  wir  dem 
„Kanalstrahlverfahren",  das  1886  von  Goldstein 
begründet  und  besonders  durch  Aston  für  chemische 
Zwecke  ausgebildet  ist.  Durch  dieses  Verfahren 
läßt  sich  die  Doppelfrage  entscheiden,  ob  Grund- 
stoffe in  isotopen  Formen  auftreten  und  ob  ihnen 
ganzzahlige  Atomgewichte  zukommen.  Es  hat 
sich  dabei  ergeben,  daß  die  IVlassen  aller  unter- 
suchten Isotopen  innerhalb  der  Grenzen  der 
experimentellen  Genauigkeit  durch  ganze  Zahlen 
gegeben  sind,  wenn  O  =  16  als  Einheit  dient; 
nur  der  Wasserstoff  mit  H  =  1,008,  für  den  keine 
Nebenform  nachgewiesen,  macht  eine  Ausnahme. 
Von  diesem  Falle  abgesehen,  ergab  sich  die  Masse 
aller  anderen  untersuchten  Grundstoffe,  die  keine 
Isotopen  aufweisen,  in  zwölf  Fällen  als  ganzzahlig. 
Es  bleibt  noch  zu  untersuchen,  warum  die  Atom- 
gewichte dieser  Grundstoffe,  wenn  die  Zahlen 
nach  der  chemisch-analytischen  IVIethode  festge- 
stellt werden,    kleine  Abweichungen    von    der 


Ganzzahligkeit   ergeben,    und    zwar    meistens    erst 
in  der  zweiten  Dezimalstelle. 

Kleinere  Abweichungen  von  der  Ganzzahlig- 
keit, z.  B.  in  dem  Verhältnis  H:He,  hat  man 
übrigens  neuerdings  aus  der  „Relativität  der  Masse" 
zu  erklären  versucht.  Wir  brauchen  aber  vor- 
läufig auf  diesen  bedeutsamen  Gesichtspunkt  nicht 
einzugehen,  können  vielmehr  die  Ganzzahligkeit 
der  Atomgewichte  im  Sinne  der  alten  Prontschen 
Hypothese,  auf  die  man  jetzt  wieder  zurückge- 
kommen ist,  als  gesichert  annehmen. 

Auch  wenn  alle  Grundstoffe  einen  konstanten 
Überschuß  über  die  Ganzzahligkeit  besäßen,  würden 
die  abgeleiteten  Beziehungen  noch  zu  Recht 
bestehen. 

Für  den  einfachen  Ausbau  unserer  Gleichungen 
ist  indessen  noch  eine  zweite  Bedingung  zu  er- 
füllen, die  den  Atomkern  betrifft.  Wir  haben  die 
«-Strahlung  zunächst  rein  algebraisch  aufgefaßt; 
ihrem  Wesen  nach  ist  sie  erkannt  worden 
als  die  Ausstoßung  elektrisch  geladener  Helium- 
Atome  aus  dem  Atominnern.  Würden  die  Atome 
mit  P>4  nur  aus  Helium- Atomen  bestehen,  so 
müßte  sich  die  Atomgewichtsreihe  darstellen 
lassen  durch  die  Formel: 

P  =  4n, 
in  der  n,  wie  gewöhnlich,  die  Reihe  der  ganzen 
Zahlen  bedeutet.  Die  Atomgewichtszahlen  ent- 
sprechen allerdings  vielfach  jener  Formel.  Da- 
neben gibt  es  aber  Atomgewichte  anderer  Reihen, 
so  daß  wir  für  die  Darstellung  aller  Atom- 
gewichtswerte neben  jener  Formel  ergänzend  noch 
drei  Additivsysteme  einführen  müssen: 
P  =  4n+i,  P  =  4n  +  2,  P  =  4n  +  3. 

Die  Atomgewichte  erschöpfen  die  natürliche 
Zahlenreihe  ziemlich  vollständig,  soweit  die  Iso- 
topenforschung schon  hinreichend  fortgeschritten 
ist,  wie  aus  folgender  Aufstellung  hervorgeht; 
sie  ist  nur  bis  P  =  43  durchgeführt,  und  es  sind 
in  ihr  die  bei  den  Atomgewichten  nicht  aufge- 
fundenen Zahlen  ausgelassen  und  die  noch  un- 
sicheren Werte  eingeklammert  worden. 


Übersic 

ht  III. 

4        ■  ■      6,        7 

He      ■  ■       Li      Li 

9,     10,    II 

■       Be       B       B 

12     ••       14,     ■  ■ 

C        ■■       N     .. 

16     •  ■       •■      19 

0       ••       Fl     .. 

20  (21)      22,    23 

Ne  (Ne)     Ne    Na 

24,    25,     26,     27 

Mg  Mg      Mg  AI 

28,    29,    (30),  31 

Si      Si      (Si)     P 

32     ••       ■•     35 

S      ■■        ■•     Cl 

(36,    37         -39 

A      Cl        ••      K 

I40,    41 

ACa  K        •  •      . . 

Aus  dem  ganzen  vorliegenden  Beobachtungs- 
bestand ergibt  sich,  daß  die  Atomgewichts- 
gleichheit bei  den  nicht  radioaktiven  Grund- 
stoffen sehr  selten  ist;  sie  liegt  bis  jetzt  nur 
vor  für  A  und  Ca  mit  P  =  40  und  für  eine 
Nebenform  des  Hg  mit  P  =  204,  der  das  Tl  als 
/5^- Glied  mit  P  =  204   an  die  Seite   zu  stellen  ist. 


438 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Wenn  die  beiden  Formen  des  /:?-strahlenden 
Kaliums  nach  der  zweiten  Verschiebungsregel  in 
Ca  übergehen,  so  müßte  auch  die  Form  Ca  =  39 
und  Ca  =  4i  bestehen,  so  daß  dann  das  Ca  wie  das 
Mg  in  der  Isotopie  drei  aufeinander  folgende 
Zahlen:  39,  40  und  41  aufwiese. 

Ihrem  Wesen  nach  müssen  diese  Systeme 
so  aufgefaßt  werden,  daß  in  den  Atomen  neben 
Helium  noch  H-Atome  als  Bausteine  eine  Rolle 
spielen;  H  und  He  sind  demnach  die  beiden  Ur- 
grundstoffe.  Eine  experimentelle  Stütze  findet 
diese  Auffassung  in  den  berühmten  Versuchen 
von  Rutherford  und  Chadwick  (Nat. W.  1921, 
728);  es  gelang  ihnen,  durch  «Strahlen  aus  dem 
Atominnern  Teilchen  herauszuschleudern,  die 
man  nach  ihrer  Reichweite  als  H-Atome  an- 
sprechen muß. 

Übersicht  IV. 
Zerlegte  Grundstoffe. 


/-         j    .     rr   Ordnunes- 
Grundstoff                ,,^ 
zahl 

P 

Add.-Sysl 

1)    Bor                                 5 

II 

40  +  3 

2)    Stickstoff                       7 

14 

4n  +  2  1 1 

3)    Fluof                             9 

19 

4n  +  3 

4)    Natrium                       1 1 

23 

41  +  3 

5)    Aluminium                  13 

27 

40  +  3- 

neben  der  Ganzzahligkeit  des  Atomgewichts  auch 
noch  die  Gleichheit  im  Kernbau  aufweisen;  sie 
müssen  isoadditiv  sein.  Wir  müssen  also  die 
Grundstoffe  der  Reihe  4n  für  sich  betrachten, 
ebenso  die  Grundstoffe  der  drei  anderen  Reihen 
jede  unter  sich.  Inwieweit  die  Grundstoffe  mit 
Isotopie  den  verschiedenen  Reihen  angehören, 
zeigt  die  folgende  Tabelle,  in  der  M  das  mittlere 
Atomgewicht  bedeutet  (vgl.  Nat.  Woch.  1922,  Nr.  3). 

Übersicht  V. 


Es  ist  nur  eine  kleine  Anzahl  von  Grundstoffen 
aus  dem  Additivsystem  4n  -J-  3,  bei  denen  der 
Abbau  durch  «Strahlen  erzwungen  werden 
konnte;  die  Mehrzahl  der  Grundstoffe  dieses 
Typus  widerstand  den  «-Strahlen.  Rutherford 
nimmt  zur  Erklärung  dieser  Verschiedenheit  an, 
daß  den  H-Bausteinen  nicht  für  alle  Grundstoffe 
eine  gleichartige  Lage,  sondern  eine  mehr  oder 
weniger  geschützte  Lagerung  im  Atominnern 
zukomme,  so  daß  sie  den  «-Strahlen  nicht  immer 
zugänglich  sind. 

Für  die  Einfacheit  der  algebraischen  Be- 
zeichnungen ist  es  nun  störend,  daß  außer  den 
beiden  Bausteinen  H  und  He  mit  den  Massen 
I  und  4  noch  ein  dritter  Baustein  mit  der  Masse  3 
in  Frage   kommt,    so  daß   auch    mit    den    Reihen 

P=3n,  P  =  3n+i,  P  =  3n  +  2 
zu  rechnen  ist;  jedoch  scheint  der  Baustein  mit 
der  Masse  3  einen  Ausnahmefall  vorzustellen,  der 
fast  nur  bei  den  Anfangsgliedern  des  Grundstoff- 
systems hervortritt :  zuerst  treffen  wir  ihn  bei  dem 
Lithium,  dessen  Neben-  und  Hauptform  die  Atom- 
gewichte 6  und  7  aufweisen ;  das  Li  =^  6  ent- 
spricht dem  Typus  3  n.  Das  Li  :^  7  entspricht 
zwar  algebraisch  dem  Typus  3n-|-  i;  es  wird 
aber  aufgefaßt  als  4  +  3 ,  als  Vereinigung  des 
Heliumbausteins  mit  dem  dritten  Bausteine.  In 
N  =  14  sieht  Rutherford  einen  Vertreter  der 
Reihe  3n  +  2. 

Für  unsere  Betrachtung  schließen  wir  uns 
jedoch  an  die  Systeme  an,  die  bei  den  Grund- 
stoffen vorherrschen,  an  das  Helium-System  4n 
und  die  Helium -Wasserstoff- Systeme  4n -(-  i, 
4n-}- 2,  4n -j- 3.  Sollen  sich  einfache  algebraische 
Beziehungen  ergeben,   so  müssen  die  Grundstoffe 


Ordnun 

»sgemeinschaften  ode 

Isotopen 

z 

M 

4»  +  ° 

41+  ' 

4n  +  2 

41  +  3 

Li       3 

6,94 

— 

— 

6 

7 

B        5 

II 

— 

— 

IG 

II 

Ne   10 

20,2 

20 

(21) 

22 

— 

Mg  12 

24.32 

24 

25 

26 

— 

Si     14 

28,3 

28 

29 

(30) 

— 

Cl    17 

35.46 

— 

37 

35 

(39) 

A      18 

39,88 

36 
40 

— 

39 

K     19 

39.1 

41 

_ 

Ni    28 

58,68 

60 

- 

58 

79 

Ur    35 

79,92 

_ 

81 

— 

Kr   36 

82,92 

80 

78 

(82-84) 

Kb  37 

85,45 

— 

85 

86 

87 

(128) 

129 

(■30) 

131 

X     54 

130,2 

132 
136 

~ 

134 

~ 

Hg  80 

200,6 

(197-200) 
204 

- 

202 

■ 

Keine  Nebenformen  weisen  auf: 

die  Grundstoffe    H     He    Be    C    N    Fl    Na    P    S    As     J     Cs 
mit  P   =   1,08    4       9    12   14    19    23  31    32   75    127   133 

Aus  den  beiden  Aufstellungen  ergeben  sich 
folgende  Regeln: 

1.  Falls  Nebengrundstoffe  vorhanden  sind, 
zeigen  die  Atomgewichte  eine  Stuf enbildung, 
die  eine  oder  mehrere  Einheiten,  beim  Xenon 
sogar  bis  8  Einheiten  umfaßt; 

2.  bei  den  gerad-  bzw.  ungeradwertigen  Grund- 
stoffen herrschen  die  gerad-  bzw.  ungeradzahligen 
Atomgewichte  bzw.  Atomgewichtsstufen  vor.  (Die 
nullwertigen  Grundstoffe  sind  dabei  den  gerad- 
wertigen  beigesellt.  H  gilt  als  1,00.  Die  einge- 
klammerten Werte  sind  als  unsicher  nicht  mit- 
gezählt). 

Die  zweite  Regel  trifft  dann  in  38  Punkten 
zu,  dagegen  zeigen  sich  in  8  Punkten  Abweichun- 
gen: sie  betreffen  beim  Li,  Be  und  N  Grundstoffe, 
in  denen  der  Baustein  3  angenommen  wird.  Die 
Wertigkeit  hängt  also  nicht  ausschließlich  mit 
den  „Elektronen",  sondern  auch  mit  dem  Atom- 
gewicht zusammen.     Wir  dürfen  wohl  annehmen, 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


439 


daß  diese  Beziehungen,  die  aus  einer  Reihe  von 
27  schon  untersuchten  Grundstoffen  abgeleitet 
sind,  sich  sinngemäß  auch  auf  die  übrigen  65 
noch  nicht  untersuchten  Grundstoffe  übertragen 
lassen. 

Wir  wenden  uns  deshalb  zu  dem  Gebiet  der 
Grundstoffe,  auf  dem  die  Isotopie  besonders 
wichtig  ist :  zu  den  Grundstoffen  mit  den 
Ordnungsnummern  81  bis  92.  In  dieser  Reihe 
liegt  das  Hauptgebiet  der  Radioaktivität,  der 
chemischen  Strahlung.  Ohne  Nebengruiidstoffe 
würden  in  der  ganzen  Reihe  nur  12  Vertreter 
vorhanden  sein  können,  während  bis  jetzt  43  be- 
kannt sind;  bei  ihnen  überwiegen  die  beiden 
Typen  4n  und  4n  -f-  2,  der  Thortypus  und  der 
Urantypus. 

Im  Anschluß  an  die  Verschiebungssätze  können 
wir  sagen,  daß  kein  radioaktiver  Grundstoff  aus 
dem  ihm  eigentümlichen  Typus  heraustreten 
kann,  denn  die  a-Strahlung  erniedrigt  ja  das 
Atomgewicht  immer  um  4  Einheiten,  und  die 
jS-Strahlung  läßt  das  Atomgewicht  unverändert. 
Wir  gewinnen  dadurch  für  dieses  Gebiet  eine 
theoretische  Stütze  für  unser  allgemeines  algebra- 
isches Erfordernis:  daß  Grundstoffe  für  uns  nur 
vergleichbar  sind,  wenn  sie  demselben  System, 
z.  B.  4n,  angehören.  Die  Ganzzahligkeit  der 
Atomgewichtswerte  auf  diesem  radioaktiven  Ge- 
biete hängt  natürlich  von  dem  Atomgewicht  der 
beiden  Ausgangspunkte  Thor  und  Uran  ab;  die 
theoretischen  und  experimentellen  Untersuchungen 
darüber  sind  noch  nicht  abgeschlossen.  Ver- 
mutlich wird  auch  hier  die  Ganzzahligkeit  der 
Atomgewichtswerte  zu  Recht  bestehen  ')  mit  der 
Vorherrschaft  der  geradzahligen  Werte,  ent- 
sprechend den  Systemen  4n  und  4n  -|-  2. 

Im  Anschluß  an  das  zweite  Verschiebungs- 
gesetz ergibt  sich,  daß  die  Geradzahligkeit  des 
Atomgewichts  auch  erhalten  bleibt,  wenn  durch 
/!?- Strahlung  die  Geradwertigkeit  zur  Ungerad- 
wertigkeit  wechselt:  deshalb  ist  in  dem  Gebiete 
der  radioaktiven  Grundstoffe  die  Ungerad  zahlig - 
keit  des  Atomgewichts  der  ungerad  wert  igen 
Grundstoffe  selten;  jedoch  kommt  dem  ungerad- 
wertigen,  nicht  radioaktiven  Wismut  nach  neueren 
Untersuchungen  nicht  die  alte  Schneidersche  Zahl 
208,  sondern  der  ungeradzahlige  Wert  209  zu. 

Ob  in  dem  erörterten  Gebiete  der  Baustein  3 
eine  Rolle  spielt,  ist  noch  unsicher;  es  wäre  dann 
der  Übergang  von  den  Systemen  4n  und  4n-|-2 
zu  den  Systemen  4n  +  i   und  4n  +  3  möglich. 


II.  Betrachtungen  über  Grundstoffe  des 
Systems  4n. 
Bei  den  Grundstoffen  P  =:  4  n  treffen  wir  die 
algebraisch  einfachsten  Verhältnisse.  Der  Kern- 
bau des  Atoms  enthält  nur  gleichartige  Bausteine, 
nämlich    das  Helium.      Deshalb    sind    die    Grund- 


stoffe   dieses   Systems    für    die    grundlegende    Be- 
trachtung am  besten  geeignet. 

Wir  haben  bereits  festgestellt,  daß  bei  den 
Grundstoffen  die  Umwandlungsordnung  ßaa  bzw. 
«aß  die  Richtungskonstante  ^/g  ergibt.  Dieser 
Wert,  der  dem  4.  D-^-Gesetz  entspricht,  ist  nun 
nicht  nur  für  die  radioaktiven  Grundstoffe  von 
Bedeutung,  sondern  für  das  ganze  Atoingewichts- 
system,  insbesondere  für  das  System  4n.  Der 
Wert  ■'/g  ergibt  sich  einerseits  für  die  Grundstoff- 
gemeinschaft Thor- Magnesium,  andererseits  aber 
auch  für  die  Gemeinschaft  BiCa;  allerdings  müssen 
wir  im  letzten  F"alle  von  einer  Nebenform  des  Bi 
(vom  Typus  4  n  mit  P  ^^  208)  ausgehen. 


Th  Mg  A  = 


'/„(232— 24)_ 
90 — 12 


V.208 

78 


'/i,(2oS— 40)  _  '/;-i68  _  84  _  J^  _    _i_ 
(83—20)     ~      63     ~  63  ~  3  ~     3 ' 


')    Vgl.    z.  B.  Sommerfeld,    Atombau,    2.   Aufl.    1921, 
S.  90. 


Im  graphischen  Felde  bildet  jede  der  beiden 
Grundstoffgemeinschaften  eine  gerade  Linie;  wegen 
der  gleichen  Richtungskonstante  müssen  diese 
Linien  natürlich  parallel  gehen;  ihre  Gleichungen 
lauten : 

i.'l,F=^UZ-4.  und  2.  ^l,F=%,Z-6%. 

Die  von  den  beiden  Linien  eingeschlossene 
Zone  ist  ziemlich  eng,  weshalb  in  der  graphischen 
Darstellung  in  Abb.  2  für  die  Ordnungszahl  der 
doppelte  Maßstab,  für  das  Atomgewicht  dagegen 
der  halbe  Maßstab  der  Einheit  gewählt  ist,  damit 
das  Feld  nicht  zu  umfangreich  wird.  —  An  und 
in  der  festgesetzten  Zone  wandern  nun  die 
graphischen  Orte  der  Grundstoffe  bzw.  System- 
stoffe der  Gruppe  4  n  nach  bestimmten  Gesetzen. 
Die  Breite  der  Zone,  parallel  der  Z- Achse,  ent- 
spricht zwei  Ordnungseinheiten  oder  zwei  ß- 
Strahlungen  (vgl.  Abb.   i,  Zone  E'E"'G"'G'). 

Die  linke  Randlinie  ist  zunächst  nur  maß- 
gebend für  die  Grundstoffolge  vom  Thor  bis  zum 
Thor  C"  (Abb.  3).  Von  dort  aus  erfolgt  durch 
eine  überzählige  /:/-Strahlung  der  halbe  Übergang 
nach  rechts  mit  der  Bildung  von  Th  D  oder 
Pb  =  208. 

Nach  der  Abbildung  müssen  wir  uns  diesen 
Vorgang,  der  dem  zweiten  D_/  Gesetz  entspricht, 
von  der  Endstation  der  großen  Radioaktivitäts- 
reihe weiter  fortgesetzt  denken  bis  zum  Bi  =  208. 
Eine  /:?  Strahlung  beim  Thor  D  ist  nicht  nach- 
gewiesen ;  aber  eine  chemische  Strahlung  konnte 
in  der  Thorreihe  auch  beim  Mesothor  I  nicht 
nachgewiesen  werden,  das  sich  nach  der  /!/-Regel 
in  das  Mesothor  II  umwandelt  (Fajans  „Radio- 
aktivität" 1919,  S.  46).  Wenn  bei  einer  Grund- 
stoffumwandlung die  chemische  Strahlung  fehlt 
oder  nicht  nachweisbar  ist,  dann  bleibt  noch  der 
chemisch-analytische  Nachweis  für  das  Entstehen 
eines  Umwandlungsproduktes.  Aber  auch  dieses 
Verfahren  kann  auf  Schwierigkeiten  stoßen,  wenn 
die  Halbwertzeit  des  sich  umwandelnden  Grund- 
stoffs ungewöhnlich  groß  ist;  zur  Erläuterung 
dienen  uns  die  beiden  p^-Strahler  Kalium  und 
Rubidium,    deren    Strahlungsvermögen    nur   sehr 


440 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  ?2 


.230 
220 

200 

no 
uo 
no 
uo 

100 
«0 
60 

10 


Tfi 


5  10   15  10  I)  }0  35  tO  ^5  50  55 


gering,  und  deren  Halbwertzeiteii  sehr  groß  sind, 
bei  Rb  etwa  lo"  Jahre  oder  lOO  Milliarden  Jahre 
betragen,  bei  Kalium  noch  mehr:  auch  bei  ihnen 
konnte  ein  Umwandlungsprodukt  bis  jetzt  nicht 
nachgewiesen  werden.  Die  Vergesellschaftung 
der  nicht  radioaktiven  Grundstoffe  auf  ihren  natür- 
lichen Lagerstätten  weist  aber  vielleicht  auf  ihren 
inneren  genetischen  Zusammenhang  hin. 

Vom  Wismut  aus  herrscht  in  unserer  Ab- 
bildung bis  zum  Ca  die  rechte  Randlinie  der 
Zone  vor,  bis  beim  Ca  wieder  die  linke  Rand- 
linie wirksam  wird.  Es  bilden  Argon  und  Calcium 
eine  Atomgewichtsgemeinschaft.  Der  Übergang 
von  rechts  nach  links  kann  natürlich  nur  nach 
dem  I.  D- .-/-Gesetz  erfolgen.  Er  beginnt  schon 
bei  Fe.  Für  Fe  =56  und  A^40  ist  D=i6, 
V„D=8,  während  J  =  8  ist,  mithin  A=  i.  Der 
Übergang  entspricht  also  der  Strahlungsfolge  4«. 
Der  rechten  Randlinie  gehören  nicht  weniger 
als  12  Grundstoffe  des  Systems  4n  in  regel- 
mäßigen Perioden  der  Ordnungszahlen  an;  nach 
gewissen  größeren  Perioden  kehrt  bei  den  Grund- 
stoffen die  gleiche  Wertigkeit  wieder,  wie  das 
neben  den  anderen  Gesetzmäßigkeiten  die  neben- 
stehende Übersicht  zeigt,  in  der  M  den  mittleren 
Atomgewichtswert  angibt. 

Die  Übereinstimmung  der  Systemzahlen  auf 
der  Basis  4n  mit  den  mittleren  Atomgewichten 
ist  ausreichend.  Der  Isotopenforschung  ergeben 
sich  hier  neue  Anregungen.  Bis  jetzt  ist  von  den 
aufgezählten  Grundstoffen  nur  beim  Hg  die  Iso- 
topie  festgestellt;  es  ergaben  sich  nach  der  Über- 
sicht I  die  Werte  202,  204  und  ein  Wert  zwischen 
197  und  200.  —  Es  i.st  auffallend,  daß  der  durch 
die  Zeichnung  verlangte  Wert  von  200  nicht  auf- 


Übersicht  VI. 

Z  =  6n 

+ 

2 

M 

P  =  4a    VsP 

Y 

V2P-V 

20 

Call 

40,07 

1      40         20 

0 

20 

26 

Fe 

55.84 

56         28 

2 

26 

32 

Ge 

72,5 

72         36 

4 

32 

38 

Srll 

87,83 

88        44 

6 

38 

44 

Ku 

101,7 

104        52 

8 

44 

50 

Sn 

118,7 

120        00 

10 

50 

So 

Ball 

137,37 

136        68 

12 

56 

62 

Sm 

i=;o,4 

152        76 

14 

62 

68 

Er 

167,7 

168        84 

16 

68 

74 

W 

184,0 

'    184        92 

18 

74 

80 

HgII 

200,6 

1    200      100 

zo 

80 

20S         104         21 


83 


gefunden  wurde,  sondern  nur  seine  Oberstufe  204, 
die,  wie  erwähnt,  mit  Tl  =  204  eine  /t?-Gemein- 
schaft  bildet. 

Wie  aus  der  Übersicht  VI  hervorgeht,  schreiten 
die  Werte  Z  der  unabhängigen  Veränderlichen 
bis  zu  Hg  in  Abständen  von  6  Einheiten  vor- 
wärt.s.  Den  Abschluß  bildet  die  Gruppe  Hg  Bi 
mit  -/=  3.  Die  auf  der  Basis  P  =  4n  berechneten 
.Atomgewichte  schreiten  um  16  Einheiten  vorwärts. 
Die  Nebenkernzahlen  Y  von  Ca  bis  Hg  schließlich 
bilden  die  Reihe  der  graden  Zahlen  von  o  bis  18. 
Es  ist  noch  zu  beachten,  daß  sich  die  „seltenen 
Erden",  für  die  sich  der  Rahmen  des  periodischen 
Systems  als  zu  eng  erwiesen  hat,  sehr  glatt  in 
die  neue  Darstellung  des  Grundstoffsystems  ein- 
fügen. 

Will  man,  wie  das  bei  Einzelfällen  schon 
angedeutet  wurde,  nach  dem  Vorbilde  der 
chemisch  strahlenden  Grundstoffe  für  alle  Grund- 
stoffe ohne  Radioaktivität    genetische  Zusammen- 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


441 


hänge  herstellen,  so  läßt  sich  das  bei  den  radio- 
aktiven Grundstoffen  gewonnene  Rückbildungs- 
gesetz  als  4.  D-.J-Gesetz  einheitlich  auf  das 
ganze  GrundstofTsystem  übertragen;  wir  be- 
schränken uns  jedoch  zunächst  auf  die  Grund- 
slofTe  des  Systems  4n.  Zwischen  je  zwei  Grund- 
stoffen der  Übersicht  VI  sind  dann  von  Hg  bis  Ca 
Umwandlungsvorgänge  einzuschalten,  deren  Strah- 
lungssymbol ßßaaaa  wäre  oder  eine  Umstellung 
des  Ausdrucks. 

Im  graphischen  Felde  (Abb.  2  und  Abb.  3) 
ergeben  sich  dafür  von  Hg  bis  Ca  bei  der  Normal- 
folge 2/?4ö  10  kongruente  Dreiecke  von  der 
F"orm,  wie  sie  durch  die  drei  Orte  für  Mg,  Ca 
und  A  gekennzeichnet  ist.  Es  können  aber  auch 
statt  der  großen  Dreiecke  solche  von  der  halben 
Ausmessung  auftreten,  entsprechend  der  halb  so 
großen  Strahlungsfolge  ßaa ,  die  schon  in  der 
Abb.  I  behandelt  worden  ist.  An  die  Strecke 
HgBi  und  die  Strecke  ThA-ThC"  könnte  man 
solche  Dreiecke  nach  der  rechten  Seite  an- 
schließen; aber  für  ThA  und  ThC"  ist  die 
Strahlungsfolge  nicht  ßaa,  sondern  aßa,  für  die 
sich  im  graphischen  Felde  zwei  kongruente 
Scheiteldreiccke  ergeben  (Abb.  3).  Auch  an  die 
Strecke  ThThA  ist  nicht  das  Normaldreicck  ACD 
entsprechend  ßßaaaa  anzuschließen ,  sondern  ein 
weniger  einfaches  Bild,  die  der  Strahlungs- 
folge aßßaaa  entspricht.  Trotzdem  können  wir 
die  Strahlungsfolge  2/t?4«,  das  4  D-^-Gesetz,  als 
das  Durchschnittsgesetz  bei  der  Rück- 
bildung oder  Auf  baubildung  im  Grundstoffsystem 
bezeichnen.  Der  Maßstab  der  Abb.  2  gestattet 
nicht,  die  Zickzacklinie  einzutragen,  die  uns  den 
genetischen  Zusammenhang  der  radioaktiven 
Grundstoffe  des  Systems  4n  von  Thor  bis  Thor  C" 
und  Thor  D  vor  Augen  führt:  für  diesen  Zweck 
dient  eine  besondere  Abbildung,  Nr.  3,  die  uns 
ein  klares  Bild  aller  Umwandlungsvorgänge  in 
der  Thorreihe  liefert  und  auch  zur  Erläuterung 
bei  den  allgemeinen  Bemerkungen  mit  großem 
Nutzen  für  die  Anschauung  zum  Vergleich  heran- 
gezogen werden  kann. 

Bei  der  für  die  Thorreihe  angegebenen  Strah- 
lungsfolge ist  zu  beachten,  daß  an  erster  Stelle 
für  Z  =  87  (Abb.  3)  eine  Lücke  E  bleiben  muß; 
sie  ist  im  periodischen  System  trotz  aller  For- 
schungen noch  immer  erhalten  geblieben,  während 
zahlreiche  andere  Lücken  inzwischen  durch  neu 
entdeckte  Grundstoffe  besetzt  worden  sind.  Das- 
selbe wie  für  die  Lücke  Z  =  87  gilt  (Abb.  3) 
für  die  Lücke  neben  D  mit  Z  ^  85 :  beide  hängen 
genetisch  zusammen.  Bei  der  angegebenen  Strah- 
lungsfolge bedingt  die  erste  Lücke  die  zweite  im 
Abstände  von  J  ^^  2. 

Während  die  besagten  Lücken  so  gewisser- 
maßen theoretisch  gerechtfertigt  sind,  müssen  wir 
nun  untersuchen,  ob  sich  bei  anderer  Strahlungs- 
folge eine  lückenlose  Reihe  von  Grundstoffen  in 
bezug  auf  die  Ordnungszahl  ergeben  kann.  Es 
ist  dies  der  Fall  für  die  kleinere  Strahlungsfolge 
(s.  Abb.   1):   setzen  wir   für  G'   auch /J- Strahlung 


voraus,  als  Fortsetzung  der  oberen  Strahlungs- 
folge, so  folgen  ununterbrochen  nach  der  Ord- 
nungszahl geordnet  folgende  Grundstoffe  aufein- 
ander: G';  G";  F';  F"  bzw.  E';  E". 

Es  ist  damit  nachgewiesen,  daß,  je  nach  der 
Strahlungsfolge,  eine  lückenlose  Ordnungsreihe 
oder  auch  eine  mit  Lücken  eintreten  kann.  Es 
bleibt  noch  zu  untersuchen,  inwieweit  sich  die 
Atomgewichte  der  Grundstoffe  mit  den  noch 
nicht  behandelten  Ordnungsnummern  unseren 
theoretischen  Anforderungen  anschließen;  der 
noch  nicht  abgeschlossene  Stand  der  Iso- 
topenforschung läßt  in  vielen  Fällen  noch 
nicht  sicher  erkennen,  wie  der  Weg  zwischen  den 


Abb.   3. 

bereits  im  graphischen  Felde  festgelegten  Punkte 
des  Grundstoffsystems  mit  der  Basis  P  =  4n  zu 
denken  ist.  Es  gibt  eine  besondere  Art  der  Weg- 
linie (Abb.  1  E'G"),  die  vom  linken  Rande  E'G' 
der  Zone  halbwegs  nach  dem  Rande  E"'G"'  führt. 
Statt  der  Strahlungsfolge  ßßaaaa  nämlich,  die 
wir  wegen  ihres  einfachen  graphischen  Bildes  als 
die  Normalform  angesehen  haben,  können  auch 
die  Strahlungsfolgen  aßßaaa,  aßaßua  oder  aaßaßc. 

usw.  auftreten ,  deren  graphische  Bilder  unsym- 
metrische Zickzacklinien  sind.  Diese  Umstellun- 
gen   der    Normalfolge    bedingen    wegen    des    ge- 


442 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


klammerten  Teiles  das  Auftreten  von  besonderen 
dreigliedrigen  Grundstofifgemeinschaften  (Abb.  i, 
E'F'G")  mit  der  Richtungskonstante  A  =  2  (vgl. 
Übersicht  II);  bei  diesen  ist  die  Summe  der  D- 
Werte  =  — 8,  die  der  -/-Werte  =  —2,  also 
A  =  +2.  Die  Randglicder  E"  und  F"  der  beiden 
/?- Gemeinschaften  E'E"  und  F'F"  werden  dabei 
graphisch  und  rechnerisch  ausgeschaltet.  Es  bleibt 
als  Resultante  der  graphischen  Bewegungen  die 
Strecke  E'P"'G".  —  Die  Grundstofifgemeinschaften 
dieser  Art  können  auch  mehr  als  drei  Glieder 
haben,  wenn  überzählige  /J-Strahlungeii  auftreten; 
sie  werden  dann  die  untere  Randlinie  ganz  er- 
reichen oder  auch  iaberschreiten.  Alles  nähere 
ist  aus  der  folgenden  Aufstellung  ersichtlich,  in 
der  W  die  Wertigkeit,  IVI  das  mittlere  Atom- 
gewicht bedeutet. 


Übersicht 

VII. 

w 

Z 

P  =  4n 

M 

Th 

4 

90 

232 

— 

MsTh  II 

3 

89 

228 

— 

Th  X 

2 

88 

224 

- 

Th  A 

6 

84 

216 

— 

Th  C 

S 

83 

212 

— 

Th  D 

4 

82 

208 

— 

Tl 

3 

81 

204 

204,0 

Hg 

2 

80 

200 

200,6 

Au 

I 

89 

196 

197,2 

Te 

6 

52 

128 

127,5 

Sb 

5 

5' 

124 

120,2 

Sn 

4 

50 

120 

158,7 

In 

3 

49 

ii6 

114,8 

Cd 

2 

48 

112 

112,4 

Ag 

I 

47 

108 

107,88 

Ti 

4 

22 

48 

48,1 

Sc 

3 

21 

44 

44,1 

Ca 

^ 

20 

40 

40,07 

Die  Spalten  P  =  4n  und  M  stimmen  genügend 
überein  bis  auf  Sb;  über  Hg  ^  200  und  seine 
Isotopie  ist  schon  an  anderer  Stelle  das  nötige 
gesagt.  —  Von  Fe  zu  Ti  führt  der  Weg  20 ;  dort 
tritt  eine  Gabelung  ein.  Durch  einen  weiteren 
Weg  von  2a  erreichen  wir,  wie  schon  erwähnt, 
einerseits  die  Stelle  A,  andererseits  durch  den 
Weg  2  (aji)  die  Stelle  Ca,  das  mit  A  eine  Atom- 
gewichtsgemeinschaft bildet.  —  Auffallend  ist  das 
Heraustreten  der  Orte  für  Au  und  Ag  nebst  Cd 
und  In  aus  der  Grundstofifhauptzone:  das  Über- 
schreiten der  Zone  wird  immer  dann  erfolgen  bei 
Grundstoffen  des  linken  (oberen)  Randes,  wenn 
dort  eine  et  -  Strahlung  einsetzt  (vgl.  Abb.  3  Th 
und  MsTh  I,  sowie  ThA  und  ThB);  bei  Grund- 
stoffen der  rechten  (unteren)  Randlinie  dagegen 
wird  es  erfolgen,  wenn  /t?  Strahlungen  eintreten 
oder  Strahlungsfolgen,  in  denen  die  ^-Wirkung 
überwiegt.  Die  Rückkehr  zum  Zonenrand  muß 
dann  durch  wiederholte  « ■  Strahlung  erfolgen. 
Wenn  wir  das  Ag  vorläufig  ausschalten,  so  ergibt 


sich    für  die  Strecke  BaSnRu   folgende  Weglinie: 

Ba;  a;  X;  «;  Te;  aß\   Sbl;  o/3;  Sn;    ctß;  In;  aß\ 

Cd;  «Pd;  «Ru. 

Die  beiden  Schwierigkeiten  mit  Ag  und  dem 
Atomgewicht  für  Sb,  deren  Isotopien  noch  nicht 
untersucht  sind,  werden  sich  vielleicht  später 
überwinden  lassen.  Für  X  mit  einem  mittleren 
Atomgewicht  M  =  130,2  ist  die  Nebenform  für 
die  Basis  4n  mit  P  =  132  bereits  festgestellt.  — 
Diese  Beispiele  für  die  genetische  Linienführung 
müssen  vorläufig  genügen. 

Es  soll  nun  noch  die  Frage  gestreift  werden, 
ob  auch  für  die  anderen  Grundstoffsysteme  die 
im  System  P  =  4n  ermittelten  Gesetzmäßigkeiten 
gelten.  Als  Beispiel  diene  das  System  4n  -j-  3 : 
um  für  dieses  System  dieselbe  Ausgangszahl  für 
Z  zu  haben  wie  bei  P  =  4n,  beginnen  wir  die 
Betrachtung  bei  dem  Radioaktinium,  dem  wahr- 
scheinlich das  Atomgewicht  227  zukommt  (Neu- 
burger, a.  a.  O.  S.  55);  das  weitere  ergibt  die 
folgende  summarische  Aufstellung. 


I 

jfbersic 

ht  VIII 

Z 

P= 

={4n  +  3) 

M 

Kd  .\e 

90 

227 

— 

Tu  11 

72 

179 

(178) 

X 

54 

131*) 

130,2 

Kr 

36 

83*) 

82,9: 

V 

23 

51 

51.0 

Cl 

■7 

35*) 

35,46 

Die  mit  *)  bezeichneten  Werte  sind  durch  das 
Kanalstrahlverfahren  sichergestellt.  Für  Krypton 
ergab  sich  ein  Wert  zwischen  82  und  84.  Die 
Gleichung  der  Gemeinschaft  RdAcKr  ist 

Die  Gleichung    für  die  Gemeinschaft  V-Cl    ist 

1/  p  —  ii  7 r  1; 

Die  beiden  Linien,  die  diesen  beiden  Gemein- 
schaften entsprechen,  gehen  parallel,  weil  beide 
dieselbe  Richtungskonstante,  die  Normalrichtungs- 
konstante ^/a  haben,  wie  wir  das  bereits  im 
System  P  =  4n  in  Abb.  2  gesehen  haben. 

Die  von  beiden  Linien  eingeschlossene  Zone 
ist  halb  so  schmal  wie  die  Zone  in  Abb.  2.  Der 
Übergang  von  der  rechten  Randlinie  läßt  sich  in 
ähnlicher  Weise  bewirken  wie  bei  der  Abb.  2. 
Wir  berechnen  die  Richtungskonstante  der  Über- 
gangsgemeinschaft KrV 

.^_V2-(83  -5'}_'6. 
36  —23        13' 
sie  entspricht  der  Strahlungsfolge  8«  3/^. 


V,  D 

J 

8« 
3ß 

—  16 
0 

—16 

+3 

Sa  iß 

—  16 

16 
—  13,  mithin  A  =  — . 

Diese  Strahlungsfolge  läßt  sich  umrechnen  in 
3  (2«  -|-  ß)  -j-  2c(.  Fs  herrscht  also  auch  hier  die 
Normalfolge    vor,    an    die    sich    zwei    überzählige 


N.  F.  XXI.  Nr.    3: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


443 


«Strahlungen    anschließen;     auf    weitere    Einzel- 
heiten soll  jetzt  noch  nicht  eingegangen  werden. — 

Ich  glaube,  daß  die  neuen  Grundlagen  allen 
Ansprüchen  aus  dem  System  der  Grundstoffe  ge- 
nügen werden,  und  behalte  mir  die  weiteren  Aus 
führungen  vor.  — 

Man  hat  schon  lange  vermutet,  daß  den 
mannigfachen  Beziehungen  in  dem  System  der 
Grundstoffe  und  seinem  ganzen  Aufbau  umfang- 
reiche Gesetzmäßigkeiten  zugrimde  liegen  müssen. 
In  der  vorliegenden  Arbeit  glaube  ich  einen 
wesentlichen  Schritt  zur  Erkenntnis  in  dieser 
Richtung  getan  zu  haben.  Wenn  Sommerfeld 
in  seinem  schönen  Werke  über  den  Atombau 
(2.  Aufl.  1921,  S.  61)  in  bezug  auf  das  Grund- 
stoffsystem sagt :  „Man  ahnt  .  .  .  das  Walten 
tieferer  mathematischer  Gesetze",  so  glaube  ich, 
an  Stelle  unbestimmter  Vermutungen  durch  meine 


Ausführungen  neue,  klare  und  zusammenfassende 
Einblicke  in  das  Wesen  des  Grundstoffsystems 
gegeben  zu  haben.  Es  ist  dies  gelungen  durch 
die  Aufstellung  des  ganz  allgemeinen  und  neuen 
Begriffs  der  Grundstoffgemeinschaften  und  ihre 
Kennzeichnung  durch  die  Richtungskonstante  und 
die  Nebenkernzahl.  Jede  der  beiden  Reihen  der 
neuen  Konstanten  zeigt  in  sich  die  denkbar  ein- 
fachsten mathematischen  Beziehungen.  Der  neue 
Rahmen  des  Grundstoffsystems  beseitigt  alle 
Schwierigkeiten  des  „periodischen  Systems".  Alle 
Grundstoffe  mit  Einschluß  der  „seltenen"  Erden 
und  aller  Isotopien  lassen  sich  bequem  unter- 
bringen ,  und  die  Stellen  der  Rückläufigkeiten 
verlieren  ihren  Ausnahmecharakter.  — 

Zum  Schluß  spreche  ich  den  Herren  Demski 
und  A  lisch,  die  mir  beim  Abschluß  des  Manu- 
skripts behilflich  waren,  meinen  verbindlichsten 
Dank  aus. 


Bemerkungen  ziiiii  Erdbeben  auf  Jan  Mayen  am   8.  April  1!)2'2  und  Über  die  Erdbeben  des 
subarktisch-atlantischen  Bruchfeldes  überlianpt. 


(Mitteilung  aus  der  Ilauptstation  für  Erdbebenforschung  in  Jena.] 


(Nachdruck  verboten.] 


Mit   I   Karte. 


.Am  Abend  des  8.  April  1922  verzeichneten  die 
Seismonieter  zahlreicher  Erdbebenwarten  ein  Be- 
ben, das  seinen  Ursprung  in  unmittelbarer  Nähe  der 
Vulkaninsel  Jan  Mayen  in  der  europäischen  Arktis 
genommen  hat.  Dieses  Beben  ist  von  ganz  be- 
sonderem wissenschaftlichem  Interesse ,  weil  die 
instrumenteile  Registrierung  infolge  eines  glück- 
lichen Zufalles  durch  makroseismische  Beobach- 
tungen, wohl  die  ersten  aus  jener  Gegend  über- 
haupt bekannt  gewordenen ,  soweit  eine  will- 
kommene Ergänzung  erfährt,  daß  die  Festlegung 
des  Epizentrums  bis  auf  vyenige  Zehner  von  Kilo- 
metern genau  wird.  Erst  dadurch  werden  wir 
in  den  Stand  gesetzt,  einen  tieferen  Einblick  in 
ein  Gebiet  zu  gewinnen,  das  bis  dahin  der  seis- 
mischen Forschung  noch  kaum  zugänglich  war. 
Allerdings,  verdächtig  als  Ausgangsgebiet  von 
Erdbeben  ist  jene  Gegend  schon  seit  fast  zwei 
Jahrzenten  gewesen.  Waren  doch  seit  1904 
mindestens  drei  instrumentelie  Aufzeichnungen 
bekannt,  die  irgendwo  aus  dem  mittleren  Ab- 
schnitt des  Europäischen  Nordmeeres  herstammen 
mußten.  Aber  eine  sicherere  Lokalisierung  war 
aus  Gründen,  die  dem  Praktiker  geläufig  sind, 
nicht  durchführbar,  und  deshalb  ist  es  fast  selbst- 
verständlich, daß  die  bisherigen  Bearbeiter  dieser 
Registrierungen,  Rosenthal,')  Szirtes,'-) 
Tarns^)  und  Verfasser, '')  zu  etwas  voneinander 
abweichenden  Koordinaten  für  die  Epizentren 
gelangt  sind. 

Der  Grund,  weshalb  makroseismische  Beob- 
achtungen sowohl  von  der  Insel  Jan  Mayen  als 
auch  aus  den  benachbarten  Mecresteilen  nocli 
nicht  bekannt  waren,  ist  leicht  verständlich. 
Diese  Insel    liegt  nämlich  im  nebelreichen  Grenz- 


gebiet des  Polar-  und  des  Golfstromes  und  im 
Bereich  der  Drift  des  Westeisgürtels,  der  auch 
den  Zugang  zur  Ostküste  Grönlands  so  sehr  er- 
schwert. Infolgedessen  wird  die  Insel  selten  ge- 
sehen und  noch  seltener  betreten,  fast  ausschließ- 
lich Fangleute  besuchen  die  sonst  unbewohnte 
Insel,  vornehmlich  des  Robbenschlags  wegen; 
längeren  Aufenthalt  nehmen  dagegen  mitunter 
wissenschaftliche  Expeditionen ,  die  wohl  auch 
überwintern,  z.  B.  1882/83  der  Stab  der  öster- 
reichischen Polarstation  W  ilczek '"')  in  der  Maria- 
Mußbai  und  gegenwärtig  das  norwegische  Obser- 
vatorium an  der  Jamesonbucht.  Dazu  kommt, 
daß  die  Erdbeben  für  gewöhnlich  höchstens  in 
wenigen  Sekunden  vorüber  sind  und  deshalb 
leichter  der  Beobachtung  entgehen  als  etwa  Vulkan- 
ausbrüche, die  ja  meistens  lange  andauern  und  oft 
weithin  sichtbar  sind.  Ober  letztere  haben  wir 
denn  auch  aus  Jan  Mayen  schon  mehrere  Nach- 
richten. 


■)  Kosent  hai,  E. ,  Katalog  der  im  Jahre  1904  regi- 
strierten seismischen  Störungen.  Veröffentlichungen  des  Zentral- 
bureaus der  Internationalen  Seismologischen  Assoziation.  Serie  B. 
Kataloge.     Straflburg   1907. 

2)  Szirtes,  S.,  Desgl.   1906.     Ebenda.     Straßburg  19 10. 

')  Tams,  E.,  Die  seismischen  Verhältnisse  des  Euro- 
päischen Nordmecres  und  seiner  Umrandung.  Mitteilungen 
der  Geographischen  Gesellschaft  in  Hamburg,  Bd.  XXXUI, 
1921. 

*)  Sieberg,  A.,  Die  Verbreitung  der  Erdbeben  auf 
Grund  neuerer  makro-  und  mikroseismischer  Beobachtungen 
und  ihre  Bedeutung  für  Fragen  der  Tektonik.  Veröffent- 
lichungen der  flauptstalion  für  Erdbebenforschung  in  Jena 
(früher  in  Straßburg  i.   Eis.),   Heft   i.     Jena   1922. 

■'')  Die  österreichische  Polarstation  Jan  Mayen.  Heraus- 
gegeben von  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften.  Wien 
1886. 


444 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Für  das  Beben  vom  8.  April  1922  liegen  nun, 
wie  bereits  gesagt,  die  Verhältnisse  außergewöhn- 


Seisrnisch-teKtoni&chc 
Übersichtskarte 

subarKti;ich-atlankiSchen  | ' 

Brudifelde$ 
bearbeitet  wn  AUGSieBERG 


•  GroUbeben       lOOOO  -  17ÜO0Km 
o  Mittelbeben    5  0üO  -    9  000  " 
+Klein'heben    ZOOO  -   tOOO 
A  Scebeteiv 
A  Submarine  Eruption 


lieh  günstig  deshalb,  weil  dasselbe  auf  Jan  Mayen 
von  Menschen  gefühlt  worden  ist.  Diese  Nach- 
richt, unseres  Wissens  die  erste  von  dorther,  ver- 


danken wir  zunächst  Herrn  Bruno  Rolf  in  Stock- 
holm, Sekretär  der  Abisko-Station.  Sie  besagt:  „Aus 
Jan  Mayen  wird 
gemeldet,  daß  am 
Sonnabend,  den 
8.  April  zwischen 
V2  10  und  10  Uhr 
nachmittags  ein 
kräftiges,  kurzes 
Erdbeben  statt- 
gefunden hat,  wel- 
ches das  Wohn- 
haus in  Schaukeln 
ähnlich  dem  See- 
gang versetzte. 
DasErdbeben  be- 
gann mit  einem 
starken  Knal  1." 
Quelle  hierfür  war  ein 
Funkspruch  des  nor- 
wegischen Observato- 
riums auf  Jan  Mayen 
(Jamesonbucht)  an  das 
Geophysikalische  In- 
stitut in  Tromsö.  Der 
Direktor  des  letzteren, 
Herr  O.  Krogness, 
hatte  die  Liebenswür- 
digkeit, uns  nähere 
Angaben  zu  machen, 
denen  folgendes  aus 
dem  Bericht  des  Radio- 
telegraphisten  Ulle- 
reng  entnommen  sei: 
„Kurz  nach  20  '/a''. 
wahrscheinlich  um 
20*' 44"  Gr. Z.  vernahm 
ich  ein  rollendes,  berg- 
sturzähnliches Ge- 
räusch, erst  schwach, 
als  ob  es  weit  ent- 
fernt wäre,  dann  stär- 
ker werdend  wie  bei 
bedeutender  Annähe- 
rung; die  Dauer  betrug 
wenige  Sekunden.  Als 
das  Geräusch  am  stärk- 
sten war,  fing  der 
ganze  Grund  und  das 
Haus  plötzlich  an  stark 
zu  beben;  damit  hörte 
das  Geräusch  plötzlich 
auf.  Das  Haus  zitterte 
zuerst  einige  Sekunden, 
dann  verlangsamte  sich 
die  Bewegung  zu 
Schaukeln  wie  ein 
_  Schiff  auf  stark  be- 
wegter See,  das  lang- 
sam schwächer  wurde.  Die  Hängelampen  pendelten 
ziemlich  stark  hin  und  her  in  der  Richtung  Ost- 
West;    etwa    eine   Viertelstunde    nachher   betrug 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


445 


die  Amplitude  noch  ungefähr  5  cm.  Ich  ging 
hinaus  um  zu  sehen,  ob  ich  eine  Veränderung 
irgendwo  in  den  Gebirgen  sehen  könnte,  ob  es 
möglicherweise  ein  großer  Bergrutsch  gewesen 
wäre;  aber  ich  konnte  nichts  bemerken.  Von 
zwei  Expeditionsmitgliedern,  die  sich  in  der 
Haugenhütte  (an  der  Küste  der  Maria  Mußbucht 
südlich  der  Nordlagune)  befanden ,  wurde  das 
Beben  gleichfalls  gefühlt  und  zwar  um  20''44"'." 
Aus  dem  fühlbaren  Verlauf  des  Bebens,  das  am 
Beobachtungsort  etwa  V. — VI.  Grades  war,  ergibt 
sich  der  Charakter  eines  Nahbebens,  nämlich  Vor- 
phase und  lange  Wellen  der  Hauptphase.  Die 
seismometrischen  Aufzeichnungen  lieferten  als 
Koordinaten  für  das  Epizentrum  ).  =  8"  ^2  w. 
Gr.  und  (f  =  71^/2"  N,  etwa  50  km  nordwestlich 
des  Nordendes  von  Jan  Mayen. 

Ganz  einsam  ragt  die  Insel  Jan  Mayen  ^)  unter 
ungefähr  71"  n.  Br.  und  8'.,"  w.  Lg.  aus  der 
Beckenmitte  des  Europäischen  Nordmeeres  hervor 
auf  einem  unterseeischen  Rücken ,  der  von  der 
Nordküste  Islands  in  nordöstlicher  Richtung  nach 
der  Spitzbergen-Bank  bzw.  der  Barents-See  hin- 
zieht und  das  Becken  in  die  Grönland-Mulde 
(bisher  gemessene  größte  Tiefen  3630  m  bzw. 
4864  m)  und  in  die  Norwegische  Mulde  (3667  m) 
scheidet.  Die  Entfernung  Jan  Mayens  von  Island 
beträgt  etwa  550  km.  Auch  im  Südwesten 
Islands  setzt  sich  die  unterseeische  Bodenschwelle 
im  Reykjanes  -  Rücken  noch  weiterhin  fort.  Jan 
Mayen  selbst,  etwas  über  50  km  lang  mit  SW — NO 
verlaufender  Längsachse,  setzt  sich  aus  einer 
Gruppe  von  jungen ,  zum  Teil  wohlerhaltenen 
Vulkanbergen  zusammen,  die  allmählich  mitein- 
ander verwachsen  sind.  Den  auffallendsten  Ab- 
schnitt bildet  der  Nordosten,  der  über  2500  km 
hohe  Vulkankegel  des  Beerenberges.  Dieser  be- 
sitzt einen  großen  Gipfelkrater  von  fast  iV.,  km 
Durchmesser  und  zahlreiche  Flankenkegel,  unter 
denen  Palffy-  und  Vogt -Krater  am  Südfuße  be- 
sonders auffallen;  der  in  der  Literatur  häufig  ge- 
nannte Fugleberg  an  der  Maria  Mussbucht  ist  ein  zer- 
störter Krater,  in  den  das  Meer  drang.  Im  übrigen 
bedeckt  ein  Eismantel  den  größten  Teil  des  Beeren- 
berges, und  zahlreiche  große  Gletscherzungen  gehen 
zum  Meere  nieder.  Wenn  auch  der  Beerenberg  seit 
der  1910  erfolgten  Entdeckung  der  Vulkanwelt 
Spitzbergens  -)  seinen  Ruf  als  nördlichster  Vulkan 
der  Erde  eingebüßt  hat,  ist  er  doch  noch  immer 
der  großartigste  der  ganzen  arktischen  Region. 
Eine  flache  Nehrung  mit  zwei  Lagunen  erstreckt 
sich  zwischen  der  Maria  Muß-Bucht  im  Nord- 
westen und  der  Treibholz-Bucht  im  Süden  und 
stellt   die  Verbindung    des  Beerenberges    mit    der 


schmalen  und  ziemlich  niederen  Südhälfte  der 
Insel  her.  In  letzterer  bilden  basaltische  Laven 
und  Aschen  einen  langgestreckten  Höhenzug, 
dessen  zahlreiche  Gipfel  ebensoviele  Vulkankegel 
mit  Kratern  darstellen.  Neben  der  höchsten  Er- 
hebung, der  über  800  m  hohen  Franz- Josef-Spitze, 
fällt  der  nicht  einmal  300  m  hohe  Kegel  des 
Hannberges  infolge  seiner  isolierten  Lage  vor  dem 
Nordrand  besonders  auf  Die  ganzen  Bergformen 
beweisen ,  daß  noch  nicht  lange  Zeit  verflossen 
sein  kann,  seitdem  die  vulkanische  Tätigkeit  zur 
Ruhe  gekommen  ist.  Einige  Ausbrüche  scheinen 
von  der  Insel  bezeugt  zu  sein.  Es  bleibt  freilich 
zweifelhaft ,  ob  das  Getöse, ')  das  sieben  über- 
winternde Holländer  am  8.  September  1633  ver- 
nahmen ,  vulkanischen  Ursprungs  gewesen  ist. 
Hingegen  berichtet  der  Hamburger  Bürgermeister 
Andersen  mit  Bestimmtheit,  ein  Fangschififer 
habe  im  Mai  1732  einen  vollständigen  Ausbruch 
aus  einem  kleinen  Seitenkrater  beobachtet. 
Scoresby  und  ein  anderer  Kapitän  sahen  181 8 
in  derselben  Gegend  mächtige  Rauchsäulen  auf- 
steigen. Auch  von  der  Nordseite  der  kleinen 
Eierinsel  -)  im  Ostabschnitt  der  Treibholz-Bucht, 
nahe  Esk-Mountain ,  soll  im  April  des  gleichen 
Jahres  während  einer  Stunde  alle  3  oder  4  Minuten 
eine  beträchtliche  Rauchsäule  mehr  als  einen 
Kilometer  hoch  aufgestiegen  sein,  was  allerdings 
O.  Nordenskjöld*)  nach  der  Form  und  dem 
Aufbau  dieses  Berges  für  wenig  wahrscheinlich 
hält.  Vom  Gipfelkrater  des  Beerenberges  sind 
Ausbrüche  nicht  bekannt,  er  gilt  als  erloschen. 

Obwohl  Jan  Mayen  von  Island  durch  Meeres- 
tiefen von  mehr  als  2000  m  getrennt  ist,  muß 
man  es  als  Fortsetzung  jener  jungen  Vulkanzone 
Islands  ansprechen,  auf  der  allein  die  historisch 
bekannten  Eruptionen  stattgefunden  haben.  Sie 
ist  aber  vor  allem  gekennzeichnet  durch  gewaltige 
Brüche,  die  gegen  Ende  der  Tertiärzeit  Island  in 
SW — NO-Richtung  weitgehend  zerstückelten.  Diese 
ganze  Störungszone  hat  sich  von  jeher  auch  als 
der  Schauplatz  häufiger  und  mehr  oder  minder 
kräftiger  Erdbeben  betätigt.  In  der  Verlängerung 
der  auf  Island  nachgewiesenen  Bruchzone  liegt 
einerseits  Jan  Mayen  und  erstreckt  sich  anderer- 
seits der  unterseeische  Reykjanes- Rücken,  der 
sich  in  der  Hauptsache  in  Tiefen  zwischen  I200m 
bis  1600  m  von  der  Südwestecke  Islands  gegen 
das  Nordatlantische  Tiefseebecken  vorschiebt. 
Vom  Reykjanes-Rücken  kennen  wir  gefühlte  See- 
beben, submarine  Eruptionen  und  aus  neuerer 
Zeit  2  seismometrisch  registrierte  Kleinbeben.  Im 
bebenreichen  Mittelstreifen  Islands  kommt  es  zeit- 
weise zu  Großbeben;  vor  der  Nordküste  sind 
bereits  ein  zweimal  tätig  gewesener  Mittelbeben- 


')  Sieberg,  A.,  Geologische  Skizzen  aus  der  europäi- 
schen Arktis.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XI.  Bd.,  S.  753  ff. 
Jena   1912. 

^)  Hoel,  A.  und  Holtedahl,  O.,  Les  nappes  de  lave, 
les  volcans  et  les  sources  thermales  dans  les  environs  de  la 
Baie  Wood  au  Spitzberg.  Videnska])selskapets  Skrifter.  1. 
Mat.-naturv.  Klasse  191 1,  Nr.  8,  utgit  for  Fridtjof  Nansens 
Fond.  Christiania   191 1. 


')  Scoresby,  W.,  An  Account  of  the  arctic  Regions. 
I.  Bd.,  S.   167.     Edinburg  1820. 

')  Sapper,  K.,  Katalog  der  geschichtlichen  Vulkanaus- 
brüche. Schriften  der  Wissenschaftlichen  Gesellschaft  in 
Straßburg,  27.  Heft,  S.   73.     Straßburg   1917. 

*)  Nordens  kjöld,  O. ,  Die  Polarwelt  und  ihre  Nach- 
barländer.    S.  27.     Leipzig  und  Berlin   1909. 


446 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


herd  und  drei  submarine  Ausbruchsstellen  nach- 
gewiesen. Die  Gegend  um  Jan  Mayen  herum 
wies  in  den  Jahren  1904 — 1914  drei  allerdings 
bloß  registrierte  Beben,  zwei  Groß-  und  ein  Klein- 
beben auf;  dazu  kommt  dann  noch  dasjenige 
vom  8.  April  1922,  dessen  mikroseismische  Reich- 
weite bisher  noch  nicht  festzustellen  war,  jeden- 
falls aber  5000  km  überschreitet. 

De  Geer*)  hat  zuerst  darauf  hingewiesen, 
daß  das  durch  den  Isländischen  Rücken  abge- 
schnürte Becken  des  Europäischen  Nordmeeres 
eine  sinkende  Scholle,  dagegen  die  randlichen 
Küstengebiete  in  Hebung  begriffen  seien  infolge 
des  Abschmelzens  diluvialer  Eiskappen.  Diese  ent- 
gegengesetzt gerichteten  isostatischen  Ausgleichs- 
bewegungen hätten  zur  Bildung  peripherischer 
und  radialer  Brüche  geführt,  der  von  Erdbeben 
heimgesuchten  Fjorde  Norwegens,  Schottlands, 
Nordislands,  Ostgrönlands  und  Westspitzbergens. 
Tams^)  konnte  diese  Ansicht  an  der  Hand 
weitergehender  seismischer  Untersuchungen  stützen, 
und  Verf.  ist  im  großen  und  ganzen  zum  glei- 
chen Ergebnis  gekommen.  Allerdings  scheint  hin- 
sichtlich der  Erdbebenentstehung  ein  weiteres, 
bisher  übersehenes  Element  in  dem  sinkenden 
subarktisch  -  atlantischen  Bruchfeld  eine  größere 
Rolle  zu  spielen  als  der  Kesselbruch  mit  seinen 
Radialspalten,  nämlich  SW — NO,  also  kaledonisch 
streichende  Brüche  größten  Ausmaßes.  Dieses 
Element  kommt  in  dem  mindestens  2000  km  langen 
Zuge  Reykjanesrücken  — Island — Jan  Mayen,  der 
stellenweise  der  tiefsten  Versenkung  entspricht,  auch 
seismisch  am  kraftvollsten  zum  Ausdruck.  Anschei- 
nend gehört  weiterhin  der  genau  in  der  nordöstlichen 
Fortsetzung  verlaufende  Einbruch  des  Eisfjords 
auf  Spitzbergen  nebst  den  Parallelbrüchen,  z.  B.  der 
Königs-  und  Kreuzbucht,  woher  ein  Seebeben") 
bekannt   ist,    sowie   des  Glocken-Sunds   zu  dieser 


')  De  Geer,  G.,  Kontinentale  Niveauveränderungen  im 
Norden  Europas.  Verhandlungen  des  Internationalen  Geo- 
logenkongresses Stockholm  1910,  Bd.  2. 

2)  a.  a.  O. 

»)  Römer,  F.  und  Schaudinn,  F.,  Fauna  arctica. 
Eine  Zusammenstellung  der  arktischen  Tierformen  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  des  Spitzbergengebietes  auf  Grund  der 
deutschen  Expedition  in  das  nördliche  Eismeer  im  Jahre  1908. 
Bd.  I,  S.   19.     Jena  1900. 


Hruchzone;  alsdann  würde  sich  deren  Länge  auf 
über  3000  km  belaufen.  Daß  Spitzbergen  tat- 
sächlich ein  seismisch  recht  regsames  Gebiet  ist, 
wie  schon  der  tektonische  Aufbau  ')  vermuten 
läßt,  beweisen  die  im  Jahre  1911/12  an  der 
deutschen  geophysikalischen  Station  Adventbay 
(Eisfjord)  von  G.  Rempp  gewonnenen  seis- 
mischen Registrierungen  von  nicht  weniger 
als  6  Nahbeben  -)  mit  verschiedenen  Herden. 
Sicheres  über  die  Lage  der  spitzbergenschen 
Erdbebenherde  läßt  sich  infolge  des  begreiflichen 
Fehlens  makroseismischer  Beobachtungen  noch 
nicht  sagen.  Nun  findet  sich  dieses  tektonische 
Element  auch  an  anderer  Stellen  wieder:  Eines- 
teils an  der  Südoslküste  Grönlands,  die  zwi- 
schen Scoresby-Sund  und  Kap  Farvel  sicherlich 
einer  Bruchzone  entspricht;  sie  wird  durch  die 
trotz  ungünstigster  Beobachtungsmöglichkeiten 
nicht  selten  gefühlten  Erdbeben  zu  Angmagssalik, 
sowie  südlich  des  Kap  Farvel  durch  eine  Zone 
mit  gefühlten  Seebeben  gekennzeichnet.  Der  öst- 
liche Parallelzug,  Hebriden — Schottland — Shetland- 
inseln  —  westskandinavische  Fjordküste  —  Lofoten, 
zeigt  nicht  nur  an  manchen  Stellen,  so  in  Schott- 
land und  auf  den  Lofoten,  den  Bruchcharakter 
augenfällig,  sondern  verrät  ihn  auch  an  manchen 
Stellen  durch  gefühlte  Erd-  und  Seebeben  sowie 
durch  instrumentell  nachgewiesene;  so  liegen 
Kleinbebenherde  auf  der  unterseeischen  Felsplatte 
des  Veslfjords  im  Bereich  der  Lofotenbrüche  und 
im  Schärenhof  nahe  dem  Polarkreis.  Eine  weitere 
parallel  hierzu  und  zum  Reykjanesrücken  ver- 
laufende Bruchzone,  Rockallfelsen ^Fär  0er,  scheint 
nur  im  unterseeischen  Bodenrelief  zum  Ausdruck 
zu  kommen;  seismisch  gilt  sie  im  allgemeinen  als 
ruhig,  jedoch  erinnern  ich  mich,  in  nicht  mehr 
feststellbaren  Berichten  etwas  über  gefühlte,  wenn 
auch  seltene  Erdbeben  auf  den  Fär  Oern  und 
über  ein  Seebeben  beim  Rockallfelsen  gelesen  zu 
haben. 

Im  Auftrage:  A.  Sieberg. 


')  Sieberg,  A.,  Spitzbergens  Erdbeben  und  Tektonik. 
Gcrlands  Beiträge  zur  Geophysik,    XIII.  Bd.,    1914,    S.   114  ff. 

'-)  Mainka,  C,  Ergebnisse  der  Erdbebenstation  Advent- 
bay auf  Spitzbergen  in  der  Zeit  vom  27.  Oktober  19(1  bis 
iS.  Juni   1912.     Ebenda,  S.   103  ff. 


Bücherbesprechungen. 


Bavink,  Bernhard,    Ergebnisse    und    Pro- 
bleme    der     Naturwissenschaft.       Eine 
Einführung    in    die    moderne    Naturphilosophie. 
2.  Aufl.     I.eipzig   1921,  Hirzel.     63  M, 
Naturphilosophie    ist    immer  noch    ein  Gebiet, 
um    das    die  Naturforscher  herumzugehen    pflegen 
wie    die    Katze    um    den    bekannten    heißen    Brei. 
Und  das  nicht   ganz    mit  Unrecht.     Einmal  ist  in 
naturwissenschaftlichen    Kreisen     die    Erinnerung 
an    die    haltlosen    Phantasien    Schellings    und 
Hegels    noch    zu    stark,    als   daß   sie   nicht   mit 


äußerstem  Skeptizismus  allem  begegneten,  das 
sich  Naturphilosophie  nennt,  und  zum  andern 
regen  sich  auch  gerade  wieder  in  der  jüngsten 
Philosophie  allerhand  metaphysische  Kräfte,  die 
sich  in  ihren  Zielen  und  Absichten  nicht  gar  zu 
weit  von  der  Hegelei  entfernen.  Hat  doch  un- 
längst noch  ein  so  kompetenter  Beurteiler  wie 
Rickert  der  Philosophie  Hegels  die  Prognose 
auf  die  nächste  Zukunft  gestellt.  Und  wenn  das 
auch  weniger  im  Sinne  einer  Renaissance  der 
He  gel  sehen  Naturphilosophie  gemeint  ist,  so  ist 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


447 


die  Gefahr,  daß  auch  diese  wieder  ihren  verderb- 
lichen Flug  unternehmen  könnte,  nicht  so  ohne 
weiteres  von  der  Hand  zu  weisen. 

F"ür  diese  Art  Naturphilosophie  ist  wesentlich, 
daß  sie  zur  Gewinnung  ihrer  Wesenserkenntnisse 
der  Natur  keinerlei  Naturwissenschaft  nötig  hat. 
Ihre  Lehren  sind  alsolut  unabhängig  von  allen 
Ergebnissen  der  Naturwissenschaft.  Sollten  diese 
ihnen  wirklich  einmal  widersprechen,  dann  um  so 
schlimmer  für  die  —  Naturwissenschaft. 

In  den  letzten  fünfzig  Jahren  hat  sich  nun 
aber  eine  ganz  andere  Art  Naturphilosophie 
herausgebildet,  die  in  ihren  Ansprüchen  viel  be- 
scheidener ist  als  die  metaphysischen  Systeme 
und  die  darauf  abzielt,  die  Naturwissenschaft  zu 
ergänzen  und  zu  vervollständigen,  die  selbst 
Naturwissenschaft  ist.  Sie  ist  ohne  Naturwissen- 
schaft undenkbar  und  erkennt  den  Grundsatz  an, 
daß  es  eine  andere  Art  Naturerkenntnis  als  die 
von  der  Naturwissenschaft  erreichte  nicht  gibt. 
Zu  dieser  ebenso  notwendigen  wie  nützlichen, 
wie  für  den  Naturforscher  unverfänglichen  Natur- 
philosophie haben  die  wertvollsten  Beiträge  ge- 
liefert Männer  wie  Mach,  Avenarius,  Wundt, 
Haeckel,  Ostwald,  Roux,  Verworn, 
Driesch,  Becher  u.  a..  In  ihr  lassen  sich 
deutlich  zwei  Hauptarbeitsrichtungen  unterscheiden, 
eine  logisch  methodologische,  die  also  vorwiegend 
darauf  gerichtet  ist,  die  Erkenntnisart  in  den  ver- 
schiedenen Naturwissenschaften  zu  analysieren  und 
zu  vergleichen,  und  eine  mehr  synthetische,  die 
darnach  strebt,  aus  den  Ergebnissen  der  Einzel 
Wissenschaften  ein  abgerundetes  Gesamtbild  von 
der  Natur  zu  gewinnen,  die  also,  wie  Comte 
einmal  sehr  geistvoll  sagt,  aus  dem  Studium  der 
Allgemeinheiten  der  Einzeldisziplinen  ihre  Speziali- 
tät macht. 

Ein  solches  Ziel  verfolgt  auch  Bavink  in  dem 
nunmehr  in  zweiter  Auflage  vorliegenden  Buche; 
und  wenn  man  die  Leistung  an  dieser  Aufgabe 
mißt,  wird  man  zugeben  müssen,  daß  er  sein  Ziel 
in  jeder  Hinsicht  vollauf  erreicht  hat.  Das  soll 
natürlich  nicht  besagen,  daß  man  nicht  in  vielen 
Fragen  anderer  Meinung  sein  könnte  als  er  —  das 
ist  bei  einem  Werke  mit  so  universalen  Absichten 
selbstverständlich  der  Fall  — ,  wohl  aber  ist  damit 
gemeint,  daß  es  kein  Problem  von  einigermaßen 
allgemeinem  Interesse  in  der  heutigen  Natur- 
wissenschaft gibt,  das  unser  Autor  nicht  einwand- 
frei dargestellt  und  in  einer  Form  beurteilt  hat, 
der  auch  ein  Gegner  der  jeweiligen  Lösung,  die 
Bavink  gibt,  einräumen  muß,  daß  sie  sich  durch- 
aus in  ernster  Diskussion  fähigen  Bahnen  bewegt. 
Das  ist  offenbar  alles,  was  man  billigerweise  ver- 
langen kann.  In  diesem  Sinne  werden  die 
modernen  Atomforschungen  ebenso  sachkundig 
behandelt  wie  die  Relativitätstheorie,  die  Erschei- 
nungen der  organischen  Vererbung  oder  das 
Problem  der  Selektion.  Dazu  kommt,  das  alles 
mit  sehr  viel  pädagogischem  Geschick  dargestellt 
ist,  so  daß  sich  das  Bavinksche  Buch  besonders 
als    objektive    erste    Einführung    in    unser  Gebiet 


eignet.  Wer  danach  dann  noch  die  Darstellung 
sorgfältig  studiert,  die  Becher  von  unserer 
Wissenschaft  in  der  „Kultur  der  Gegenwart"  ge- 
geben hat,  darf  hoffen,  ein  zuverlässiges  Bild  von 
der  Natur,  wie  sie  die  moderne  Naturwissenschaft 
sieht,  erlangt  zu  haben.  Wir  wünschen  Ba vi nks 
Buch  in  seiner  Gestalt  recht  weite  Verbreitung. 
Adolf  Meyer  (Hamburg.) 


Hagen,  Werner,  Die  deutsche  Vogelwelt 
nach  ihrem  Standort.  Ein  Beitrag  zur 
Zoogeographie  Deutschlands  und  zugleich  ein 
Exkursionsbuch  zum  Kennenlernen  der  Vögel. 
74  Textbilder  und  4  doppelseitige  Tafeln. 
Magdeburg,  Creutzsche  Verlagsbuchhandlung. 
Als  Junge  war  mein  Lieblingsbuch  G.  Jägers 
Deutschlands  Tierwelt,  dessen  Wiedererstehen  im 
neuen  Gewände  gewiß  jeder  junge  Zoologe  und 
Naturfreund  mit  Freuden  begrüßen  würde.  Auf 
dem  Gebiete  der  Vogelwelt  hat  der  Verf.  ver- 
sucht, die  Lücke  auszufüllen.  Es  ähnelt  in  dieser 
Beziehung  dem  bekannten  Floerickeschen  Taschen- 
buch zum  Vogelbestimmen.  Aber  in  einer  Be- 
ziehung geht  es  über  beide  Bücher  hinaus.  Der 
Verf.  versucht  dem  Leser  ein  Verständnis  dafür 
beizubringen ,  wie  unsere  Ornis  allmählich  in 
seiner  buntscheckigen  Zusammensetzung  entstan- 
den ist.  Die  einschneidende  Bedeutung  der  Eis- 
zeit und  die  Wandlungen  der  postglazialen  Perio- 
den werden  dem  aufmerksamen  Leser  nicht  ent- 
gehen. Die  Benutzung  der  jüngsten  Erdfunde 
bei  der  Herauskristallisation  des  Bildes,  das  sich 
Verf.  von  unserer  Mischornis  macht,  ist  zu  spüren. 
Literaturangaben  wären  für  den,  welcher  mehr 
über  diese  interessanten  Fragen  wissen  möchte, 
sicher  sehr  erwünscht  gewesen.  Ebenso  hätte 
ich  gern  eine  Zusammenfassung  der  Ergebnisse 
auf  einer  leichtverständlichen  Karte  und  vielleicht 
einigen  Tabellen  gesehen.  Daß  im  übrigen  die 
Gedanken  über  das  Werden  unserer  mitteleuro- 
päischen Vogelwelt  nicht  in  systematischer  An- 
ordnung und  lehrhaftem  Tone  vorgetragen  wer- 
den, sondern  stets  am  Ende  oder  Anfang  der 
einzelnen  Abschnitte  —  Moor,  Ödland  und  Sumpf, 
Wiese,  Binnengewässer,  Meeresküste,  Nadelwald, 
Laubwald,  Mittelgebirge,  Hochgebirge,  Menschen- 
siedlungen —  also  so,  wie  es  der  Vogelfreund 
gerade  auf  seiner  Exkursion  braucht,  ist  nicht  zu 
tadeln.  Wie  die  gefiederten  Freunde  vor  dem 
Auge  des  Beobachters  auftauchen,  werden  sie  in 
kurzen ,  die  wesentlichen  Kennzeichen  hervor- 
hebenden Beschreibungen  dem  Leser  vor  Augen 
geführt.  Man  spürt  den  sicheren  Kenner  und 
praktischen  Feldornithologen  und  läßt  sich  gern 
von  ihm  leiten.  Dies  und  das  bequeme  Taschen- 
format werden  das  Buch  zu  einem  beliebten  Be- 
gleiter auf  Ausflügen  machen.  Der  Bilderschmuck 
ist  reich  aber  etwas  ungleichmäßig  in  der  Güte 
der  Ausführung.  Wir  wünschen  dem  Buch  weite 
Verbreitung.  H.  Duncker. 


44« 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  32 


\A^olterstorff,  W.,  Die  Molche  Deutsch- 
lands und  ihre  Pflege.  „Biologische  Ar- 
beit" Heft  13.  56  S.  8".  22  Textabbildungen. 
Freiburg  i.  Br.  1921,  Theodor  Uscher. 
Das  Heft  behandelt  die  deutschen  Urodelen 
systematisch  bis  in  die  Unterarten  genau  sowie 
nach  Möglichkeit  die  Unterschiede  der  Larven- 
formen, beschreibt  die  Lebensweise,  das  seelische 
Verhalten  —  der  Terminus  technicus  würde  lauten : 
die  Tierpsychologie  —  und  die  Erscheinungen  bei 
der  Fortpflanzung  und  gibt  genaue  Anweisung 
zur  Pflege  und  Fütterung  der  Tiere  in  allen  Sta- 
dien (Euchyträenzucht  usw.).  Einfluß  abnormer 
Bedingungen  sowie  Vererbungsfragen  kommen 
nicht  zur  Sprache,  Neotenie  nur  kurz.  Jedenfalls 
ist  das  Büchlein  vom  besten  Kenner  der  Sache 
geschrieben.  Hier  und  da  staunt  man,  wie  man- 
che Frage  noch  ungeklärt  ist,  z.  B.  die,  ob  Uro- 
delen an  Land  trinken.  Jedenfalls  sah  man  sie 
dabei  nie  die  Zunge  benutzen,  aber  angeblich 
mit  dem  Mund  Wasser  schlucken.  In  der  Regel 
aber  begibt  sich  ein  feuchtigkeitsbedürftiger  Molch 
gleich  ganz  ins  Wasser.  Aufnahme  von  Flüssig- 
keit durch  die  Haut  gilt  als  nicht  zu  bezweifeln. 
—  Amputation  eines  nach  Biß  verpilzenden 
Gliedes  ist  keine  Tierquälerei,  da  eine  Minute 
darnach  wieder  gefressen  wird. 

Das  Büchlein  ist  vor  allem  der  Jugend  zuge- 
dacht, doch  auch  jedem,  den  es  sonst  angeht. 

V.  Franz. 

Podestä,  Dr.  H. ,  Physiologische  Farben- 
lehre.    Leipzig  1922,  Verlag  Unesma.     60  M. 

Als  viertes  Buch  der  „Farbenlehre"  von  W. 
Ostwald  erscheint  die  vorliegende  Arbeit,  die 
die  Physiologie  des  Sehorgans  sowie  das  normale 
und  anomale  Sehen  behandelt,  wozu  noch  ein 
nicht  ganz  in  den  Rahmen  passender  Anhang 
über  „Gesundheitspflege  des  Auges"  tritt. 

Das  Buch  ist  gänzlich  elementar  gehalten  und 
darum  für  den  Anfänger  in  der  Farbenlehre  über- 
haupt von  Wert.  Weshalb  es  jedoch  in  die  auf 
5  Bände  berechnete  systematische  Lehre  Ost- 
walds  aufgenommen  wurde,  bleibt  dem  Bericht- 
erstatter um  so  unverständlicher  als  dem  vor- 
liegenden Buch  gerade  das  Kennzeichen  der  neuen 
Lehre  abgeht,  nämlich  die  Benutzung  und  Her- 
ausarbeitung quantitativer  Beziehungen.  Die 
Ausführungen  bewegen  sich  in  oft  reichlich  „popu- 
lären" und  breiten  Bahnen.  Geschichtliche  Be- 
trachtungen sind  in  den  systematischen  Gang  der 
Darstellung  eingeflochten. 

Bei  der  unverhältnismäßigen  Breite  der  Dar- 
stellung   der    Anomalien    des  Sehens  mußte  alles 


andere  zu  kurz  kommen.  Neuere  Untersuchungen 
auf  optisch  -  physiologischem  Gebiete  sind  nicht 
verwertet,    Literaturhinweise    vermieden    worden. 

50  ist  das  Buch  ein  Anfängerbuch  geblieben,  das 
in  dieser  Beziehung  einen  gewissen  Wert  hat. 
Für  den  Fortgeschrittenen  handelt  es  sich  um 
eine  die  Geduld  beanspruchende  Aufzählung 
bekannter  Dinge  ohne  Zusammenhang  mit  der 
Lehre  O  s  t  w  a  1  d  s ,  handelt  es  sich  um  Geplauder, 
nicht  um  straffe,  vertiefte  wissenschaftliche  Mit- 
teilungen. H.  Heller. 

Brion,  Dr.  G.,  Luftsalpet  er.    Seine  Gewinnung 

durch  den  elektrischen  Flammenbogen.    2.  verb. 

Aufl.     Leipzig    192 1,    Vereinigung    wissensch. 

Verleger.    (Sammlung  Göschen  Nr.  6i6).  4.20  M. 

Vorzügliche    Darstellung     des    technisch    und 

wirtschaftlich    gleich    beziehungs-  und  lehrreichen 

Problems      der      elektrischen      Stickstoffbindung. 

51  Figuren,  zum  Teil  Lichtbilder  technischer  An- 
lagen verdeutlichen  den  ansprechend  vorgetragenen 
Text  auf  das  Beste.  H.  Heller. 


Literatur. 

Fehringer,  OUo,  Unsere  Singvögel.  96  farbige  Tafeln. 
Sammlung  naturwissenschafU.  Taschenbücher.  IX.  Heidelberg, 
Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung.     Geb.   50  M. 

Sammlung    mathematisch  -  physikalischer    Lehrbücher. 
Hrsg.  von  E.  Jahnke.     Einführung  in  die  Maxwellsche  Theorie 
der    Elektrizität     und     des     Magnetismus    von    Dr.    Clemens 
Schaefer.     2.  Aufl.     Leipzig-Berlin  '22,  B.  G.  Teubner.    Kart. 
60  M. 

Wetzel,  Perigraphische  Zeichen-  und  Meßapparate  zur 
Aufnahme  von  Umrißformen. 

Knopfli,  Methoden  der  Tiergeographie. 

Keller,  Die  Methoden  der  Haustierforschung. 

Sußdorf-Ackerknecht,  Die  präparatorisch-anatomi- 
schen Methoden  bei  den  höheren  Säugetieren.  Berlin-Wien 
'22,  Urban  &  Schwarzenberg.     Geh.  48  M. 

Sammlung  Göschen. 

Groll,  Dr.  M.,  Kartenkunde.  2.  Aufl.  Neubearb.  von 
Dr.  O.  Graf.  I.  Die  Projektionen.  Berlin-Leipzig  '22,  Ver- 
einigung wissenschaftlicher  Verleger.     Geb.    12  M. 

Jensen,  Prof.  Dr.,  Die  Atmosphäre  der  Erde.  Wolken 
und  Wetter.  Katgeber  zum  Studium  der  Wetterkunde.  16  Bild- 
karten mit  Text  und  12  Textabbildungen.  Hamburg-Altrahl- 
stedt  '22,  Henri  Grand. 

Sechs  farbige  Naturaufnahmen  von  Arzneipfl.anzen.  Aus- 
gabe A,  Folge   18,   19,  20.     Dresden,  Gehe-Verlag  G.  m.  b.  H. 

Meyer,  Prof.  Dr.  Rieh.,  Vorlesungen  über  die  Ge- 
schichte der  Chemie.  Leipzig  '22,  Akademische  Verlags- 
gesellschaft.    Brosch.  200  M.,  geb.  240  M. 

Stiny,  Ing.  Dr.  phil.,  Technische  Geologie.  Stuttgart 
'22,   Ferd.  Enke. 

Kays  er,  Dr.  Emanuel,  Abriß  der  allgemeinen  und 
stratigraphischen  Geologie.  3.  Aufl.  Stuttgart  '22,  Ferd. 
Enke. 

Neumann,  Ernst  Rieh.,  Vorlesungen  zur  Einführung  in 
die   Relativitätstheorie.     Jena  '22,  G.  Fischer.     Brosch.  90  M. 


Illbalt:  E.  Nickel,  Neue  Grundlagen  für  den  einheitlichen  Aufbau  des  Grundstoff-Systems  in  mathematischer  Ableitung. 
(3  Abb.)  S.  433.  Bemerkungen  zum  Erdbeben  auf  Jan  Mayen  am  S.  April  1922  und  über  die  Erdbeben  des  sub- 
arktischatlantischen  Bruchfeldes  überhaupt.  (1  Karte.)  S.  443.  —  Bücherbesprechungen:  B.  Bavink,  Ergebnisse 
und  Probleme  der  Naturwissenschaft.  S.  446.  W.  Hagen,  Die  deutsche  Vogelwelt  nach  ihrem  Standort.  S.  447. 
W.  Wolterstorff,  Die  Molche  Deutschlands  und  ihre  Pflege.  S.  44S.  H.  Podest-i,  Physiologische  Farbenlehre. 
S.  448.     G.  Brion,   Luftsalpcter.  S.  44S.  —  Literatur:  Liste.  S.  448. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lipperl  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  2i.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37-  Band. 


Sonntag,  den  13.  August  1922. 


Nummer  33 


Das  Spektram  der  elektromagnetischen  Wellen. 


[Nachdruck  verboten.] 

Die  modernen  Großstationen  für  drahtlose 
Telegraphie  benützen  elektrische  Wellen  bis  zu 
20  km  Länge  und  erzielen  damit  eine  Reichweite 
von  20000  km;  das  ist  der  halbe  Umfang  des 
Erdballs.  So  können  wir  heute  von  Nauen  aus 
drahtlos  mit  jedem  Erdteil  in  Verbindung  treten. 
In  unseren  elektrischen  Lichtleitungen  schwingt 
ein  Wechselstrom  von  50  Perioden  in  der  Sekunde, 
dem  entspricht  eine  Wellenlänge  von  6000  km 
in  der  Luft.  Eine  Größengrenze  nach  oben  gibt 
es  im  Spektrum  der  elektromagnetischen  Wellen 
nicht.  Marconi,  der  Erfinder  der  drahtlosen 
Telegraphie,  arbeitete  anfangs  mit  elektrischen 
Wellen  von  lOO — 300  m  Länge.  Die  ersten  elek- 
trischen Wellen,  welche  ihr  Entdecker  Heinrich 
Hertz  im  Jahre  1887  erzeugte,  hatten  eine  Wellen- 
länge von  6  m;  seine  berühmten  Versuche  über 
„die  Strahlen  elektrischer  Kraft"  führte  Hertz  mit 
Wellen  von  60  cm  Länge  aus.  Diese  Wellen 
waren  millionenmal  größer  wie  die  Wellen  der 
gelben  Natriumlinien. 

Im  Jahre  1895  wiederholte  der  russische 
Physiker  Lebedew')  die  klassischen  optischen 
Versuche  von  Hertz  mit  elektrischen  Wellen 
von  nur  6  mm  Länge;  Lebedew  benützte  als 
Strahlenquelle  ein  winziges  elektrisches  Fünkchen 
zwischen  zwei  Platindrähten  von  je  1,3  mm  Länge. 
O.  von  Baeyer-)  erzeugte  19 12  elektrische 
Strahlen  von  2  mm  Länge  in  genügender  Stärke, 
um  ihre  Eigenschaften  zu  untersuchen.  Nach 
einer  Lücke  von  2Y2  Oktaven  kamen  die  längsten 
ultraroten  Strahlen  mit  0,34  mm  Wellenlänge; 
welche  Heinrich  Rubens  und  O.  v.  Baeyer'') 
191 1  im  elektrischen  Lichtbogen  einer  Quarz- 
quecksilberlampe fanden.  Neuerdings  hat  nun 
W.  M  ö  b  i  u  s  *)  diese  Lücke  im  elektromagnetischen 
Spektrum  überbrückt.  Er  untersuchte  eingehend 
die  Strahlung  eines  sehr  kleinen  Senders  nach 
Lebedew  und  fand  neben  der  aus  den  Dimen- 
sionen des  Senders  berechneten  Grundschwingung 
noch  eine  ganze  Reihe  übergelagerter  kleiner 
Wellen  von  5  mm  bis  herab  zu  0,i0  mm.  Ob 
es  sich  hierbei  um  Oberschwingungen  des  Senders 
handelt  oder  um  Schwingungen  von  Platinteilchen, 
die  während  des  Funkenüberganges  losgerissen 
werden,  ist  noch  nicht  festgestellt.  Die  an  Inten- 
sität    sehr     schwachen,      übergelagerten     kurzen 


Von  Karl  Kiihu. 


')  Wiedemanas  Ann.  d.  Phys,  56,  S.  I  (Barth,  Leip- 
zig  1895). 

'')  Landolt-Börnstein,  Physikalisch  -  chemische  Ta- 
bellen  1912  (J.  Springer,  Berlin). 

')  Sitzungsber.    d.  Kgl.  Preuß.  Ak.    d.  Wiss. ,    S.  339    bis 

345  (1911)- 

*)  Ann.  d.  Phys.  62,  S.  293—322  (1920). 


Wellen  sollen  mit  einem  hochempfindlichen  Gal- 
vanometer, das  sich  im  Bau  befindet,  näher  unter- 
sucht werden.  Die  kürzesten  elektrischen  Wellen 
stimmen  in  ihren  Eigenschaften  mit  den  längeren 
ultraroten  Strahlen  des  Spektrums  weitgehend 
überein. 

Wichtige  Ergebnisse  über  die  Struktur  der 
Strahlung  im  Räume  dürften  vielleicht  gewisse 
Interferenzversuche  haben,  wenn  zu  ihnen  einmal 
elektrische  Wellen  und  dann  ultrarote  Strahlen 
von  gleicher  Wellenlänge  verwendet  werden.  Die 
Emission  der  Strahlen  eines  elektrischen  Senders 
erfolgt  nämlich  kontinuierlich  nach  den  Gesetzen, 
die  von  Maxwell-Hertz  aufgestellt  worden 
sind;  die  Emission  der  gleichlangen  ultraroten 
Strahlen  erfolgt  aber  nach  den  Gesetzen  der 
Quantentheorie.  Vielleicht  läßt  sich  bei  gewissen 
Interferenzversuchen  auch  ein  Unterschied  der 
freien  Strahlungen  nachweisen. 

Das  ganze  ultrarote  Spektrum  umfaßt  rund 
9  Oktaven  und  dann  folgt  jener  kleine,  aber  für 
uns  wichtige  Abschnitt  im  Spektrum  der  elektro- 
magnetischen Wellen,  die  sichtbaren  Lichtstrahlen 
mit  einer  Wellenlänge  von  700 — 400  fxfi.  ^j  Nicht 
ganz  eine  Oktave  elektromagnetischer  Wellen  er- 
schließt dem  elektrischen  Sinnesorgan  des  Menschen, 
dem  Auge,  die  bunte  Mannigfaltigkeit  der  Welt. 
Jenseits  der  violetten  Strahlen  eines  Spektrums 
beginnen  die  unsichtbaren  ultravioletten  Strahlen, 
welche  vor  121  Jahren  J.  W.  Ritter  durch  ihre 
chemische  Wirkung  entdeckt  hat.  Durch  Ver- 
wendung von  Spektrographen  mit  Quarzflußspat- 
optik konnte  Stokes  im  ultravioletten  Gebiet 
über  eine  Oktave  weiter,  bis  zu  Strahlen  von 
185  fiju  vordringen. 

Kürzere  Wellen  werden  von  der  atmosphäri- 
schen Luft  und  von  der  Gelatine  der  photo- 
graphischen Platten  stark  absorbiert.  Daher  baute 
Viktor  Schumann  in  Leipzig  im  Jahre  1892 
einen  Vakuumspektrographen  mit  einem  Prisma 
und  mit  Linsen  aus  Flußspat  und  photographierte 
die  Spektren  mit  selbst  präparierten,  bindemittel- 
freien Platten.  So  konnte  er  bis  zu  Strahlen  von 
123 /^,a  vordringen.  Bei  Wellen  von  120  fiju  an  ab- 
sorbiert auch  der  Flußspat  sehr  stark.  Th.Ly man  -) 
ersetzte  daher  im  Vakuumspektrographen  das  Fluß- 
spatprisma und  die  Flußspatlinsen  durch  ein  R  o  w  - 
1  a  n  d  sches  Konkavgitter.  Der  Spektrograph  wurde 
mit  hochverdünntem  Heliumgas  gefüllt  und  dies 
im  Spektrographen  selbst  durch  kondensierte  eleJc- 
trische   Entladungen    zum    Leuchten    erregt.      So 


')   I  iU/<  =  0,000001   mra. 
»)  Nature  95,  S.  343  (1915)- 


•Y     £ 


450 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


fehlte  zwischen  der  Lichtquelle  und  der  gelatine- 
freien photographischen  Platte  außer  dem  stark 
verdünnten  Helium  jeder  absorbierende  Körper. 
Die  kürzeste  photographierte  Linie  hatte  eine 
Wellenlänge  von  60  fifi  (=  600  Ä  ') ) ;  das  Spek- 
trum war  damit  im  Jahre  191 5  gegenüber 
Schumann  um  eine  weitere  Oktave  nach  den 
kürzeren  Wellen  hin  erweitert. 

R.  E.  Millikan'^)  ist  noch  sehr  viel  weiter 
in  das  Ultraviolett  vorgedrungen.  Er  evakuierte  den 
Gitterspektrographen  vollständig  (unter  10— '  mm 
Hg)  und  benutzte  als  Lichtquelle  eine  sehr  starke 
elektrische  Entladung  zwischen  zwei  Metall-  oder 
Kohlenelektroden  in  sehr  kurzem  Abstand  (0,1  bis 
2  mm).  Der  Funke  zwischen  Zink-,  Eisen-, 
Nickel-,  Silber-  und  Kohlenelektroden  wird  durch 
mehrere  hundert  Kilovolt  aufrecht  erhalten  und 
verdirbt  das  Hochvakuum  nicht.  Das  benutzte 
Konkavgitter  von  83  cm  Brennweite  hatte  564 
Striche  pro  mm.  Zahlreiche  Linien  im  äußersten 
Ultraviolett  wurden  beobachtet.  Die  kürzeste 
Wellenlänge   hatte  eine  Nickellinie  von  202  A. 

Neuerdings  hat  Millikan  ■')  mit  seinem  Hoch- 
vakuumgitterspektrographen  das  Übergangsgebiet 
von  den  kurzwelligsten  optischen  Spektren  zu 
den  Linien  im  Röntgenspektrum  photographiert. 
Bisher  klaffte  eine  Lücke  von  4  Oktaven  im  Spek- 
trum der  elektromagnetischen  Wellen  zwischen 
der  kürzesten  ultravioletten  Nickellinie  und  der 
längsten  mit  Kristallgitter  photographierten  Linie 
im  Röntgenstrahlengebiet.  Millikan  überbrückte 
die  Lücke,  indem  er  im  Hochvakuum  durch 
Glühelektronen  die  L-Serie  im  Röntgenspektrum 
von  Aluminium,  Magnesium,  Natrium,  Fluor  bis 
herab  zum  Lithium,  dem  dritlleichtesten  Element, 
erregte  und  diese  Röntgenlinien  der  leichtesten 
Elemente  mit  den  optischen  Mitteln  seines  Spektro- 
graphen  im  Ultravioletten  photographierte. 

Gleichzeitig  wurde  durch  eine  ganz  andere 
Methode  der  Ultraviolettspektroskopie  die  Lücke 
zwischen  den  kurzen  ultravioletten  Wellen  und 
den  Röntgenstrahlen  geschlossen.  Diese  zweite 
Methode  wurde  von  Dember  (191 3)  angegeben 
und  von  Frank  und  anderen  aufs  feinste  aus- 
gebaut. Sie  besteht  darin,  daß  im  Hochvakuum 
durch  Elektronen  (einer  Glühkathode)  von  ganz 
genau  bestimmter  Geschwindigkeit  an  einem 
Element  eine  einzelne  optische  Linie  oder  Linien 
aus  dem  Röntgenspektrum  des  Elementes  erregt 
werden.  Die  erzeugten  Ätherwellen  werden  durch 
den  photoelektrischen  Effekt  nachgewiesen ;  ge- 
naue Wellenläiigenmessungen  erfolgen  durch  Be- 
stimmung der  Geschwindigkeit  der  erregenden 
Glühelektronen  oder  durch  Geschwindigkeits- 
messung der  photoelektrisch  ausgelösten  Kathoden- 
strahlen im  Magnetfeld.    Mit  dieser  Methode  haben 


kürzlich  Mohler  und  Foote^)  die  Strahlung 
von  Kalium ,  Natrium  und  Magnesium  im  Über- 
gangsgebiet vom  ultravioletten  Licht  zu  den 
Röntgenstrahlen  gemessen;  im  gleichen  Strahlen- 
bezirk untersuchten  Richardson  und  Baz- 
zoni-)  die  K-Strahlung  des  Kohlenstoffs  und  die 
M-Strahlung  des  Molybdäns,  Kurth')  die  K-  und 
L- Strahlung  von  Kohlenstoff  und  Sauerstoff  sowie 
die  M-  und  N-Serie  von  Eisen  und  Kupfer.  Durch 
diese  Arbeiten  ist  das  Gebiet  von  den  Röntgen- 
strahlen an  bis  zu  Wellen  von  375  Ä  Länge  er- 
forscht. 

Die  längste  mit  einem  Kristallgitter  photo- 
graphierte Linie  im  Röntgenstrahlengebiet  hat 
eine  Wellenlänge  von  13,3091  Ä.  Es  ist  dies  die 
von  M.  Siegbahn'')  gemessene  La  ■  Linie  des 
Kupfers.  Durch  Röntgenvakuumspektrographen 
mit  Kristallgittern  kann  höchstens  bis  zu  einer 
Wellenlänge  von  20  A  vorgedrungen  werden,  da 
für  längere  Wellen  selbst  bei  den  weitmaschigsten 
Kristallen  die  Gilterkonstante  nicht  mehr  groß 
genug  ist.  Die  Röntgenspektrographen  müssen 
für  Strahlen  bis  herab  zu  1,5  A  völlig  evakuiert 
werden,  da  die  langwelligen  Röntgenstrahlen  ge- 
rade wie  die  kürzeren  ultravioletten  Strahlen  be- 
reits von  Gasen  sehr  stark  absorbiert  werden. 
Die  kürzeste  bis  jetzt  gemessene  Wellenlänge  im 
Gebiet  der  Röntgenstrahlen  fanden  Dessauer 
und  Back.  ^)  Eine  Glühkathodenröntgenröhre, 
welche  mit  245000  Volt  Spannung  betrieben 
wurde,  ergab  im  Kristallgitterspektrographen  eine 
kontinuierliche  Strahlung  bis  herab  zu  einer 
Wellenlänge  von  0,057  Ä. 

•  Noch  kürzere  Wellenlängen  haben  die  mit  den 
Röntgenstrahlen  wesensgleichen  y- Strahlen  der 
radioaktiven  Stoffe.  Rutherford  ^)  stellte  als 
erster  im  Jahre  1914  an  den  y-Strahlen  des  Ra- 
diums Wellenlängenmessungen  mit  Kristallgittern 
an  und  konnte  als  kurzwelligste  Linie  eine  Strah- 
lung von  0,072  A  photographieren.  Neuerdings 
beobachtete  C  o  m  p  t  o  n  ")  an  radioaktiven  Stoffen 
y-Strahlen  bis  herab  zu  einer  Wellenlänge  von 
0,02  A.  Das  durch  die  Kristallgitter  spektro- 
graphisch  genau  erschlossene  Gebiet  der  Röntgen- 
und  y-Strahlen  reicht  damit  heute  von  0,02  A  bis 
zu  13,3  A  und  es  umfaßt  dieser  neue  Spektral- 
bereich über  9  Oktaven. 

Für  härtere  y-Strahlen  versagen  die  Kristalle 
als  Beugungsgitter;  die  Abstände  der  Gitterebenen 
werden  im  Verhältnis  zu  den  Wellenlängen  zu 
groß.  Hier  führt  nun  die  gleiche  Meßmethode 
weiter,  welche  auch  die  Lücke  zwischen  den  Rönt- 
gen- und  ultravioletten  Strahlen  überbrücken  ließ. 


')  1  Ä  (=  Ängström- Einheit)  =  0,1  /ifi  =  0,0000001  mm. 

^)  Astrophys.  Journ.  5z,  S.  47—64  (1920)  nach  Phys.  Ber., 
S.  117— 118  (1921). 

')  Proc.  Nat.  Acad.  7,  S.  289  (1921)  nach  Nw.  10, 
S.  379- 


')  Nw.   10,  S.  3Ö9  nach  Phys.   Rev.   1921. 
*)  1.  c.  nach  Phil.  Mag.   1921. 

')  Jahrbuch  d.   Radioaktivität  u.  Elektronik  Bd.  18,  H.  3. 
Verh.  d.  d.  phys.  Ges.  S.  75  (1920). 

*)  Verh.  d.  d.  phys.  Ges.  21,  8.^168  (1919)- 

f')  Phil.  Mag.  28,  S.  263  (191 4). 

")  Nw.   10,  S.  368  nach  Phys.  Rev.   1921. 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


45« 


Man  läßt  nämlich  die  zu  messenden  y-Strahlen 
auf  verschiedene  Stoffe  auffallen  und  mißt  die 
Geschwindigkeit  der  ausgelösten  Elektronen  durch 
ihre  Ablenkung  im  Magnetfeld.  Mit  dieser  Me- 
thode hat  C.  D.  Ellis')  die  y-Strahlen  von  Ra- 
dium B  gemessen  und  hat  Wellenlängen  von  35,4 
x-Einheiten  ä)  bis  zu  51,9  x-Einheiten  festgestellt. 
Lise  Meitner^)  fand  als  kürzeste  Wellenlänge 
diejenige  der  y-Strahlen  des  Thoriums  C",  welche 
sich  zu  24,5  X-Einheiten  ergab. 

Diese  j'  Strahlen  entstehen  bei  der  Bremsung 
von  /?  -  ( =  Elektronen-)-Strahlen  mit  87  "/q  Licht- 
geschwindigkeit. Es  gibt  aber  noch  viel  kurz- 
welligere ;'  Strahlen,  denn  die  schnellsten  ,'?-Strahlen 
des  Radiums  C  erreichen  fast  die  volle  Licht- 
geschwindigkeit (0,998  "/o  nach  J.  Danysz). ^) 
Diese  //-Strahlen  entsprechen  den  Kathodenstrahlen 
einer  Röntgenröhre,  welche  durch  ein  Feld  von 
etwa  2102000  Volt  beschleunigt  worden  sind. 
Die  Wellenlänge  der  bei  ihrer  plötzlichen  Brem- 
sung entstehenden  elektromagnetischen  Strahlung 


')  1.  c.  S.  369   nach    Proc.    Roy.  Soc.  99,  S.  261   (1921). 
*)   I   x-Einheit  =  10— u   cm. 

')  Nvp.   10,  S.  383  und  Z.  f.  Phys.  9,  S.  131 — 152  (1922). 
*)  Le  Radium  9,  S.  I  (1912). 


ergibt  sich  mit  Hilfe  der  Quantentheorie  zu 
0,007  A.  Da  Elektronenstrahlen  von  Überlicht- 
geschwindigkeit nicht  mögHch  sind,  so  liegt  un- 
gefähr auch  hier  das  natürliche  Ende  des  Spek- 
trums der  elektromagnetischen  Wellen. 

Heute  umfaßt  das  gesamte  Spektrum  der 
Wellen ,  welche  durch  Interferenzmethoden  ge- 
messen werden,  Strahlen  von  0,02 -lO"*  cm  an 
bis  weit  über  2  •  10®  cm  Wellenlänge.  Alle  diese 
Wellen  pflanzen  sich  infolge  ihrer  Wesensgleich- 
heit mit  einer  Geschwindigkeit  von  300  000  km 
in  der  Sekunde  im  Räume  fort.  Die  auffallenden 
Unterschiede  etwa  der  Röntgenstrahlen,  der  sicht- 
baren und  der  elektrischen  Wellen ,  welche  bei 
der  drahtlosen  Telegraphie  gebraucht  werden, 
folgen  einzig  aus  dem  entsprechend  großen  Unter- 
schied der  Wellenlängen  dieser  transversalen 
Schwingungen  im  Äther  oder  hypothesenfreier  im 
Dielektrikum.  Auch  hat  sich  bei  der  Überbrückung 
der  beiden  Lücken  im  Spektrum  der  elektro- 
magnetischen Wellen  gezeigt,  daß  die  ultraroten 
Strahlen  ohne  jede  sprunghafte  Änderung  ihrer 
Eigenschaften  in  die  kurzwelligsten  elektrischen 
Strahlen  übergehen  und  daß  auch  die  langwelligen 
Röntgenstrahlen  mit  den  ultravioletten  Strahlen 
in  ihrem  Wesen  völlig  übereinstimmen. 


Bücherbesprechungen. 


V.  Hahn,  Dr.  Friedrich -Vincenz,  Über  die 
Herstellung  und  Stabilität  kolloida- 
ler Lösungen  anorganischer  Stoffe. 
(Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Sulfid- 
sole). Mit  13  Abb.  Stuttgart  1922,  Ferdinand 
Enke.  5  M. 
Der  ein  wenig  selbstsichere  Ton  der  Dar- 
stellung steht  im  umgekehrten  Verhältnis  zu  dem 
sachlichen  Wert  —  nicht  dieses  Buches,  sondern 
der  darin  behandelten  Arbeiten  im  allgemeinen. 
Denn  leider  muß  man  sagen,  daß  die  Kolloid- 
chemie den  Rang  einer  „exakten"  Wissenschaft 
oft  nur  bedingt  verdient.  Die  wertvollen  An- 
sätze einiger  Forscher,  durch  strenge  Methodik 
den  Erkenntniswert  kolloider  Erscheinungen  zu 
steigern,  sind  zu  jungen  Datums,  als  daß  man 
davon  bereits  wirkliche  ,, Früchte"  ernten  könnte. 
Mit  dem  bloßen  Ungefähr  aber  ist  niemandem 
gedient.  Dieses  Ungefähr,  das  Unbestimmte 
kommt  in  dem  vorliegenden  Buche  in  einem 
Maße  zum  Ausdruck,  daß  man  ein  unbefriedigtes 
Gefühl  eigentlich  nie  ganz  los  wird.  Als  be- 
sonders krasse  Beispiele  für  die  Unbestimmtheit 
der  vorgetragenen  Arbeiten  nenne  ich:  die  elektro- 
synthetisierten  Metallsole,  von  denen  S.  16  ge- 
sagt wird,  es  „scheint  sich  vorwiegend  um  Sole 
von  Metalloxyden  zu  handeln"!,  ferner  die  Theorie 
der  elektrischen  Zerstäubungserscheinungen  (S.  23), 
die  angebliche  Darstellung  kolloiden  Zinnobers 
aus  „einem  alten  und  vielleicht  verunreinigten 
Präparat  von  Quecksilbercyanid"!  (S.  41),   endlich 


ein  Passus  auf  S.  51,  der  ausführlich  mitgeteilt 
sei.  Er  beginnt:  „Aus  den  beiden  experimentell 
erwiesenen  Sätzen ,  daß  nicht  dissoziierte 
organische  Verbindungen  keine  koagulierende 
Wirkung  haben  (dieser  Satz  ist  durch  die  Beob- 
achtung, daß  auch  Zucker  und  Fil  trierpapier 
flocken  können,  widerlegt  worden  1)  ..."  Ein 
Satz,  der  durch  andere  Beobachtungen  „widerlegt" 
wurde,  ist  nicht  „experimentell  erwiesen"! 
Dann  aber  muß  es  als  eine  —  Kühnheit  be- 
zeichnet werden,  Filtrierpapier  als  organische 
„Verbindung"  zu  behandeln.  Es  steht  das  auf 
derselben  Stufe  wie  das  Verfahren  mit  „vielleicht 
verunreinigten"  Präparaten  zu  arbeiten  und  aus 
den  nicht  reproduzierbaren  Ergebnissen  weit- 
tragende theoretische  Schlüsse  zu  ziehen.  Der 
Berichterstatter  versagt  sich  eine  Kennzeichnung 
solcher  Methodik. 

Die  Stilisierung  des  Buches  entspricht  vielfach 
seinem  Inhalt.  Der  Herr  Verfasser  sehe  sich 
beispielsweise  den  letzten  Satz  auf  S.  49,  der  auf 
S.  50  weitergeht,  an.  Ausdrücke  wie  z.  B.  „Schwefel 
kiesel"  für  SiSj  sind  nicht  selten.  In  Figur  6 
fehlt  der  Buchstabe  D.  Wie  schon  angedeutet; 
hier  handelt  es  sich  nicht  um  exakte  Naturwissen- 
schaft, sondern  um  eine  literarische  Angelegenheit, 
deren  wie  immer  tadellose  Aufmachung  durch 
den  guten  Verlag  man  fast  bedauert. 

Wer  sich  über  die  Herstellung  kolloider 
Lösungen  unterrichten  will,  greife  zu  dem  Buche 
von   The  Svedberg    (zweite  deutsche  Auflage, 


452 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


Dresden  1920).  Mit  dem  vorliegenden  Buch  ist 
der  Kolloidchemie  im  allgemeinen  kein  Dienst 
erwiesen  worden.  H.  Heller. 


Chemie -Büchlein.  Ein  Jahrbuch  der  Chemie. 
Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  H.Bauer.  Stutt- 
gart 1922,  Franckhsche  Verlagshandlung.  9,60  M. 
Das  vorliegende  Büchlein  aus  dem  bekannten 
Verlag  allgemeinverständlicher  Werke  naturwissen- 
schaftlicher Richtung  eröffnet  eine  Reihe  von 
Jahresberichten,  die  „in  gemeinverständlicher  und 
doch  wissenschaftlicher  Art"  über  die  Gesamt- 
entwicklung der  neuzeitigen  Chemie  unterrichten 
wollen.  Der  Zweck  ist  sicher  lobenswert.  Be- 
richterstatter fühlt  sich  jedoch  verpflichtet  zu 
sagen,  daß  der  hier  zu  besprechende  Band  keinen 
tadellosen  Auftakt  für  dieses  Unternehmen  dar- 
stellt. Das  Büchlein  ist  vielmehr  augenscheinlich 
viel  zu  hastig  zusammengestellt  worden.  Es 
wimmelt  von  Druckfehlern.  Gleich  die  zweite 
Umschlagseite ,  die  Buchanzeigen  gewidmet  ist, 
weist  zwei  grobe  Entstellungen  auf  Und  in  dem 
vom  Herausgeber  geschriebenen  Beitrag  über 
„Organische  Chemie"  ist  der  Name  des  verdienten 
Kohleforschers  G 1  u  u  d  (sie  I)  durchweg  verdruckt. 
Auch  sachlich  bekommt  man  zuweilen  den 
Eindruck  einer  flüchtigen  Arbeit.  Insbesondere 
der  einleitende  Aufsatz  von  E.  Kohlweiler 
über  den  „Aufbau  der  Materie"  ist  das  Gegenteil 
einer  pädagogisch  durchdachten  Zusammenstellung 
der  hier  zu  erörternden  Forschungsergebnisse.  Es 
erübrigt  sich  darzulegen ,  warum  aber  gerade 
„gemeinverständliche"  Darstellungen  mit  äußerster 
Gewissenhaftigkeit  in  der  Didaktik  ausgearbeitet 
werden  müssen.  Aus  dem  Empfinden  des  zu 
kritischer  Wertung  unfähigen  Nichtfachmannes 
heraus  muß  dagegen  Verwahrung  eingelegt  wer- 
den, daß  (um  ein  Beispiel  herauszugreifen)  S.  13 
die  unfertigen  Diffusionsversuche  des  Verf.  an 
Joddampf  ohne  weitere  Erörterung  neben  den 
glatt  widersprechenden  Befund  von  Aston  ge- 
stellt werden.  Und  es  ist  leider  nicht  nur  eine 
stilistische  Mangelhaftigkeit,  wenn  S.  3 1  behauptet 
wird,  die  „Feinstruktur  der  Spektrallinien"  werde 
„durch  die  vertieften  Raumzeitverhältnisse  be- 
dingt (I)".  Der  Verf.  bringt  eine  Unmasse  der 
schwierigsten  theoretischen  Erörterungen  zur 
Sprache,  deren  Sinn  dem  Laien  ewig  dunkel 
bleiben  und  auch  dadu'rch  nicht  deutlicher  sein 
wird,  daß  er  sie  mit  Werturteilen,  wie  „glänzend", 
„größter  Triumph"  usw.  ausgestattet  vorgetragen 
sieht.  Der  Satz:  „Dadurch  hat  die  Atomidee  im 
weiteren  Sinn  eine  gewisse  abschließende  Krönung 
erfahren,  insofern  sich  die  Erkenntnis  klar  heraus- 
geschält   hat usw.    über    1 1   Zeilen    (S.    24) 

kennzeichnet   die    ganze    wenig  befriedigende  Ar- 
beit. 

Besser  gelungen  ist  der  Beitrag  von  A.König 
über  Katalyse ;  schlicht  und  klar  und  darum 
schätzenswert  ist  „Die  Stickstoffgewinnung  aus 
der  Luft"  von  V.  R  e  u  ß.  In  dem  Beitrag  des 
Herausgebers   ist    der    Abschnitt   über  „die  Kohle 


und  ihre  Veredelung"  zu  sehr  ins  einzelne  geführt. 
Der  Beitrag  über  ,, Farbstoffe  und  Faserstoffe"  end- 
lich ist  vorwiegend  eine  knappe  Darstellung  längst 
bekannter  Verhältnisse  in  Industrie  und  Wissen- 
schaft. Da  er  der  Feder  Hugo  Kauffmanns 
entstammt,  so  ist  die  Gewähr  sachlich  und  for- 
mell einwandfreier  Darstellung  gegeben.  Wertvoll 
wird  dieser  Teil  durch  eine  Skizzierung  der  Ost- 
wal d  sehen  Farbenlehre.  Die  Sachlichkeit  dieser 
Darstellung  berührt  um  so  wohltuender,  als  die 
Mehrzahl  der  Leute,  die  sich  ein  Urteil  über 
Ostwalds  Arbeiten  anmaßen,  leider  nicht  die 
Befähigung  hieriür  besitzt,  wofür  ich  auch  an 
dieser  Stelle  die  Namen  Trillich  und  besonders 
Ganswindt  (Deutscher  Färber  Kalender  1922) 
als  Beleg  nenne. 

Einige  kleinere  Mitteilungen  schließen  das 
Bändchen  ab.  Im  ganzen  läi3t  es  den  Wunsch 
berechtigt  erscheinen,  daß  seine  Nachfolger  mit 
mehr  Ruhe  und  Nachdenken  über  die  Bedürfnisse 
des  Leserkreises,  an  den  es  sich  wendet,  gearbeitet 
werden  möchten!  Der  Herausgeber  ist  sehr  wohl 
der  Mann,  sich  eines  in  jeder  Beziehung  einwand- 
freien Mitarbeiterkreises  zu  versichern;  und  der 
Verlag  hat  gleichfalls  bewiesen,  daß  er  Besseres 
zu  leisten  imstande  ist.  H.  Heller. 


Emil  Frhr.  von  Dungern,  Über  die  Prin- 
zipien der  Bewegung,  das  Wesen  der 
Energie  und  die  Ursachen  der  Stoß- 
gesetze. 37  S.  Jena  1921,  G.  Fischer.  5  M. 
Allen  großen  universalen  Erklärungsprinzipien 
der  Naturwissenschaft  wohnt  die  Tendenz  inne, 
über  den  Rahmen  ihrer  Mutterwissenschaft  hinaus- 
zuwachsen und  das  Ganze  der  Naturwissenschaft 
kausal  zu  beherrschen.  Das  ist  der  Moment,  in 
dem  aus  logisch  wohl  definierten  und  fundierten 
kausalen  Sätzen  ein  metaphysisches  Gebilde  ent- 
steht, unsicher  in  seiner  Auffassung  und  Ab- 
grenzung und  nur  erfüllt  von  dem  in  der  reinen 
Wissenschaft  gänzlich  unbrauchbaren  Streben, 
Definitives  und  Abschließendes  zustande  zu 
bringen.  So  entstand  vor  unseren  Augen  aus 
dem  Selektionsprinzip  der  Biologie  durch  seine 
unkritische  Übertragung  auf  die  ihm  nur  sehr 
bedingt  zugänglichen  Gebiete  der  Psychologie, 
Soziologie  und  der  historischen  Wissenschaften 
der  Darwinismus  als  Weltanschauung.  Ähnlich 
wird  so  aus  den  Energiesätzen  der  Physik  die 
Energetische  Weltanschauung.  Nun  ist  es  aber 
nicht  so,  daß  diese  metaphysische  Übertreibung 
an  sich  logisch  wohl  definierter  Fundamentalsätze 
sich  nur  außerhalb  des  Rahmens  ihrer  Ursprungs- 
wissenschaft auswirkt,  vielmehr  greift  sie  —  das 
ist  tief  im  Wesen  aller  Metaphysik,  die  ihren 
Wahrheitsgehalt  aus  Widersprüchen  saugt,  be- 
gründet —  auch  wieder  auf  diese  zurück  und 
deutet  den  ursprünglichen  Sinn  der  Sätze  oft 
radikal  um. 

Die  so  entstandenen  Deutungen,  die  die  Ener- 
getik an  den  mechanischen  Grundbegriffen,  vor 
allem    dem    der   Kraft    selbst   vorgenommen    hat, 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


453 


stellt  V.  Dungern  mit  großem  Scharfsinn  heraus 
und  lehnt  sie  ab,  indem  er  die  Energie  in  ihre 
logischen  Grenzen  zurückweist.  Unser  Autor  ver- 
sucht zu  zeigen,  „daß  man  schon  die  einfachsten 
mechanischen  Vorgänge  durch  die  Energie  allein 
nicht  erklären  kann ,  wenn  man  sie  als  etwas 
Einheitliches  auffast.  Man  braucht  noch  Kräfte 
außerhalb  der  Energie,  die  als  Energierichter  die 
Wandlung  der  Energie  bedingen,  indem  sie  der 
Bewegung  eine  bestimmte  Richtung  geben".  Die 
sehr  ins  Einzelne  gehende  Kritik  hindert  von 
Dungern  aber  nicht,  bis  zu  allgemeinsten  Lehr- 
sätzen der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis- 
lehre vorzudringen.  „Es  ist  ein  Irrtum  zu  glauben, 
man  könne  die  Mannigfaltigkeit  der  physikalisch- 
chemischen Welt  dadurch  erklären,  daß  einfache, 
in  wenig  Arten  zerfallende  oder  sogar  gleich- 
artige Urdinge  in  verschiedener  Weise  räumlich 
angeordnet  sind  und  dem  Energieprinzip  ent- 
sprechend sich  gegenseitig  beeinflussen  ...  Es 
steht  uns  frei,  die  Struktur  des  Kristalls  auf  die 
Eigenschaften  der  Moleküle,  die  Eigenart  des 
Moleküls  auf  die  spezifisch  angeordneten  Kräfte 
der  Atome  zurückzuführen  und  die  Atome  wieder 
aus  Elektronen  zusammengesetzt  zu  denken,  die 
je  nach  der  Anzahl  ein  verschiedenes  Gebilde 
ergeben.  Einfache  Urdinge  aber  können  solche 
Elektronen  nicht  sein  .  .  .  Aus  gleichartigen  un- 
wandelbaren Urdingen,  die  unter  allen  Umständen 
nur  gleichmäßig  anziehen  oder  abstoßen,  kann 
die  chemisch-physikalische  Welt  nicht  entstehen, 
noch  viel  weniger  die  Organismen." 

So  kommt  von  Dungern  also  auch  zur  Ab- 
lehnung jener  grob  mechanistischen  Lehre,  die 
prinzipiell  nicht  über  die  klassische  Fassung 
Demokits  hinausgekommen  ist.  Ebenso  wie 
in  dem  gleichzeitig  erschienenen  Werke  von 
Köhler  (Die  physischen  Gestalten  in  Ruhe  und 
im  stationären  Zustand)  greift  auch  unser  Autor, 
von  Anschauungen  ausgehend,  die  ursprünglich 
in  der  Physiologie  und  Biologie  überhaupt  zu- 
hause sind,  rein  physikalische  Positionen  an,  ein 
außerordentlich  beachtenswertes  Signum  für  die 
gegenwärtige  Lage  der  Logik  der  Naturwissen- 
schaft ,  nachdem  bisher  eigentlich  nur  das  um- 
gekehrte Verfahren  üblich  war.  „Die  Wandlung 
ist  nicht  ein  passiver  Ablauf,  nicht  die  unmittel- 
bare Folge  des  vorhergehenden  Geschehens,  sie 
ist  eine  Schöpfung,  durch  die  Bewegung  wohl 
beeinflußt,  aber  nicht  bedingt."  Mit  diesem  Satz, 
dem  von  Dungern  auch  in  der  Physik  Geltung 
verschaffen  will  und  dem  der  biologische  Ursprung 
ganz  besonders  deutlich  an  der  Stirn  geschrieben 
steht,  schließt  er  seine  Ausführungen,  die,  obwohl 
sie,  was  schlieslich  auch  noch  gesagt  werden  muß, 
obschon  es  sich  ja  von  selbst  versteht,  auch 
manchen  Widerspruch  wecken  werden,  wir  der 
ernsten  Beachtung  aller  derjenigen  empfehlen,  die 
sich  für  die  Erkenntnistheorie  der  Naturwissen- 
schaften interessieren.    Adolf  Meyer  (Hamburg). 


NeefF,  Friedrich,  Prolegomena  zu  einer 
Kosmologie.  Tübingen  1921,  Mohr. 
Die  Biologie  kann  einstweilen  teleologische 
Gesichtspunkte  in  der  Darstellung  ihrer  F"orschungs- 
resultate  noch  nicht  entbehren.  Das  ist  im  wesent- 
lichen der  heutige  Standpunkt  der  Biologen  in 
dieser  Frage,  nachdem  der  langwierige  Kampf 
der  darwinistischen  Epoche  in  dieser  Frage  vorüber- 
gerauscht ist. 

Aus  dieser  offenbaren  Not  der  Biologie  ver- 
sucht nun  Nee  ff  eine  Tugend  zu  machen,  ja  er 
fordert  sogar  Teleologie  auch  für  die  anorgani- 
schen Wissenschaften,  obschon  diese  bisher  keiner- 
lei Bedürfnis  in  dieser  Richtung  geäußert  haben. 
Zwar  kommt  auch  N  e  e  f  f  zu  dem  Resultat ,  daß 
Teleologie  nur  regulative  Bedeutung  habe,  niemals 
konstitutive  und  daß  sie  besonderen  Wert  auch 
habe  als  Hinweis  auf  Kausalität.  Das  Neue,  das 
Nee  ff  dieser  hinreichend  bekannten  Auffassung 
hinzufügt,  ist  eben  die  Ausdehnung  der  regulativ 
gemeinten  Teleologie  vom  Organismus  bis  zum 
Kosmos,  vom  Biologischen  auf  das  Ganze  der 
Natur.  „Von  der  Organologie,  die  nur  die  be- 
sonderen im  Lauf  der  Geschichte  entstandenen 
Organbildungen  als  Äußerungen  von  Einpassungen 
der  Lebewesen  in  ihre  Umgebung  betrachtet, 
gehen  wir  zurück  auf  die  reine  teleologische  Me- 
thode überhaupt.  An  die  Stelle  der  besonderen 
Frage  nach  organischen  Einrichtungen  tritt  das 
allgemeine  Problem  der  Einrichtung  über- 
haupt. So  untersucht  Neeff  teleologisch  die 
Reaktion  von  H  und  O  zu  H3O  und  kommt  zu 
dem  erstaunlichen  Resultat:  „In  dieser  Reaktion 
erfolgt  eine  chemisch  -  physikalische  Einpassung 
der  Stoffe  ineinander.  An  die  Stelle  einer  bloßen 
Mischung  oder  eines  Gemenges  tritt  eine  > Ver- 
bindung« ein."  Beim  Fall  der  Körper  argumen- 
tiert Neeff:  „Und  so  kann  sich  die  Erscheinung 
des  fallenden  Körpers  nicht  mehr  auf  bloßen  Zu- 
fall gründen,  wonach  der  Körper  aus  dem  einen 
Zustand  in  einen  zufällig  anderen,  fremden  Zustand 
fällt.  Vielmehr  denken  wir  in  der  Richtung 
des  fallenden  Körpers  diesen  als  auf  dem  Weg 
zu  seinen  anderen  passenden  Zustand  fallend. 
Also  geht  das  teleologische  Denken  auf  seinem 
Gang  vom  einen  zum  andern  über  und  schafft 
ein  architektonisches  Gefüge  von  Einrichtungen." 
Wenn  ich  auch  glaube,  daß  die  Biologie  noch 
manches  Prinzip  zutage  fördern  wird  und  vielleicht 
auch  schon  hat,  das  auch  für  die  anorganischen 
Wissenschaften  theoretisch  von  Wert  sein  kann 
—  ich  denke  da  an  die  Arbeiten  von  v.  Uexküll 
und  W.  Köhler  (192 1)  — ,  obschon  im  allge- 
meinen auch  künftig  das  umgekehrte  Ver- 
hältnis bestehen  bleiben  wird,  so  bin  ich  fest 
überzeugt,  daß  die  Teleologie  nicht  zu  diesen 
Prinzipien  gehört,  eine  Ansicht,  die  durch 
die  eben  angezogenen  Beispiele  von  Neeff  be- 
trächtliche Stärkung  erfahren  hat.  Ich  glaube 
kaum,  daß  Physik  und  Chemie  diese  Bereiche- 
rungen ihrer  theoretischen  Mittel  mit  großer  Be- 
geisterung   begrüßen    werden.      Ich    habe  bei  der 


454 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


Lektüre  unseres  Autors,  der  ein  bischen  recht 
weitschweifig  und  mit  wohl  übertriebenen  An- 
sprüchen geschrieben  hat,  mehrfach  an  dem  be- 
kannten Vers  von  den  „parturiunt  montes  ....  1" 
denken  müssen. 

Diese  notwendige  Kritik  soll  uns  aber  nicht 
abhalten,  das  Wertvolle,  das  in  Neeffs  Abhand- 
lung steckt,  dankbar  anzuerkennen.  Wir  sehen 
es  in  der  klaren  Herausstellung  der  begrifflichen 
Unterschiede  zwischen  den  Ideen  —  Neeff  spricht 
mit  der  kantischen  Terminologie  von  Kategorien 
—  der  ,, Kausalität",  ,,TeIeologie"  und  „Historie", 
von  Neeff  sehr  glücklich,  wenn  auch  logisch  zu 
eng  „Originalität"  genannt.  Sehr  fein  arbeitet  er 
die  zu  ihnen  gehörigen  Begriffspaare  heraus,  so: 
Kausalität:  Ursache  und  Wirkung;  Originalität: 
Ursprung  und  Verlauf;  Finalität:  Mittel  und  Zweck. 
Die  Aufhellung  dieser  Begriffspaare  bleibt  ein 
unbestreitbares  Verdienst  der  Neeffschen  Arbeit, 
auch  wenn  man  der  Finalität  nicht  die  universale 
Bedeutung  im  logischen  Aufbau  der  Naturwissen- 
schaften zubilligen  kann  wie  Neeff,  sondern  eher 
der  Meinung  ist,  daß  ihre  Verwendung  auf  ein 
Minimum  zu  reduzieren  sei.  Es  wird  meines  Er- 
achtens  immer  so  bleiben  in  der  Wissenschaft, 
daß  wir  überall  da,  wo  wir  bereits  kausale  Er- 
kenntnisse haben,  historische  und  erst  recht  finale 
entbehren  können. 

Adolf  Meyer  (Hamburg). 


Brehm,  A.  E. ,  Das  Leben  der  Vögel.  Be- 
arbeitet und  herausgegeben  von  Carl  W.  Neu - 
mann.  Reclams  Universalbibliothek  Nr.  6275 
bis  6277. 
Mit  dieser  Neuherausgabe  ist  das  Lieblings- 
kind der  schriftstellerischen  Tätigkeit  des  Alt- 
meisters Brehm  der  ihm  drohenden  Vergessenheit 
entrissen.  Verdunkelt  durch  das  umfassendere 
,, Tierleben"  ist  es  seinerzeit  nicht  über  die 
2.  Auflage  hinausgekommen.  Und  doch  gehört 
es  mit  zu  den  klassischen  Schriften  auf  dem  Ge- 
biete der  Ornithologie.  Vom  alten  Pastor  Brehm, 
seinem  Vater,  her  brachte  A.  E.  Brehm  die 
hervorragendsten  Anlagen  und  beste  Schulung 
für  die  Beobachtung  der  Tierwelt  insonderheit 
der  gefiederten  Freunde  mit.  Wer  recht  genuß- 
reiche Stunden  haben  will,  greife  zu  diesen  drei 
neuen  Reclambändcheq.  Das  tägliche  Leben  des 
Vogels,  seine  Stimme,  seine  Bewegungen,  sein 
Beruf,  d.  h.  die  Art,  wie  er  seiner  Nahrung  nach- 
geht, die  Ausrüstung,  die  ihn  zu  seinem  Gewerbe 
befähigt,  sein  Liebesleben,  sein  Nestbau ,  Brut- 
geschäft, Siedelungen,  die  allgemeine  Verbreitung 
der  Vögel  und  die  Charaktertypen  der  einzelnen 
Erdteile  werden  in  meisterhafter,  fesselnder  Weise 
dem  Leser  vorgeführt.  Wie  der  Vogel  in  der 
Dichtung  aller  Völker  und  Zeiten  lebt  und  warum 
er  verdient  der  bevorzugte  Gastfreund  der  Men- 
schen zu  sein,  schildern  die  beiden  letzten  Kapitel 
der  3  Bändchen.  Man  fordere  nicht  eine  den 
wissenschaftlichen  Anforderungen  der  Neuzeit  ent- 
sprechende Stellungnahme  zu  den  Problemen  des 


Vogellebens  —  vom  Wanderzug  der  Vögel  ist 
z.  B.  überhaupt  nicht  die  Rede.  —  Brehms 
„Leben  der  Vögel"  ist  kein  Lehrbuch.  Aus  der 
Fülle  seiner  Kenntnisse  und  Erfahrungen  hat  Br. 
uns  in  liebenswürdigster  Freigebigkeit  und  span- 
nender Darstellung  Einzelheiten  aus  dem  Vogel- 
leben mitgeteilt,  welche  man  sonst  schwer  ander- 
wärts finden  wird.  Die  „Seele"  im  Vogel  lernen 
wir  lieben.  Dem  Herausgeber  gebührt  unser 
Dank.  H.  Duncker. 

Deegener,  H.,  Chemisch -tech  nische  Rech- 
nungen. 2.  Aufl.  Berlin  und  Leipzig  1921, 
Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  (Samm- 
lung Göschen  Nr.  701.) 
In  diesen  73  durchgerechneten  Aufgaben  steckt 
eine  ganz  beträchtliche  Menge  von  höchst  wert- 
vollen Belehrungen  über  die  zahlenmäßige  Ge- 
staltung des  chemischen  Betriebes.  Heut,  wo  es 
sich  für  den  Betriebschetniker  weniger  um  Schaf- 
fung grundsätzlich  neuer  Verfahren  als  vielmehr 
um  die  rationellste  Ausgestaltung  schon  bestehen- 
der Fabrikationen  zu  handeln  pflegt,  muß  man 
Anleitungen  wie  dieser  weite  Verbreitung  wün- 
schen. Gerade  der  junge  Chemiker,  dem  noch 
zu  viel  des  Akademischen  anhaftet,  wird  daraus 
lernen,  als  sparsamer  Hausvater  mit  den  ihm  an- 
vertrauten Energien  umzugehen.  Daß  die  Wärme- 
wirtschaft einen  so  breiten  Raum  in  dem  Büch- 
lein einnimmt,  wird  der  in  der  Industrie  tätige 
Fachmann  verständnisvoll  begrüßen.  Im  übrigen 
gewährleistet  eine  große  Anzahl  Formeln,  daß 
wohl  die  meisten  in  praxi  vorkommenden  Rechen- 
aufgaben bewältigt  werden  können. 

Gerügt  werden  muß  es,  daß  laut  Vorwort  die 
Atomgewichte  von  1916  zugrundegelegt  sind. 
Wirklich  steht  in  der  Tabelle  auf  S.  138  u.  a. 
der  um  eine  Einheit  zu  kleine  Wert  für  Wismut. 
Der  Druck  des  nützlichen  und  bei  fleißigem 
Studium  ersprießlichen  Buches  ist  gut. 

_  H.  H. 

Petzoldt,   Joseph,   Das  Weltproblem   vom 
Standpunkte  des  relativistischen  Po- 
sitivismus     aus      historisch -kritisch 
dargestellt.      3.    neubearb.    Aufl.    unter    be- 
sonderer    Berücksichtigung      der      Relativitäts- 
theorie.      Wissenschaft     und     Hypothese    XIV. 
Leipzig  und  Berlin  1921,  B.  G.  Teubner.     40  M. 
Es    erübrigt   sich    wohl,    der    3.  Aufl.    des    be- 
kannten Buches  von  neuem  eine  Empfehlung  mit 
auf  den  Weg  zu  geben.     Es  hat  bereits  gute  Wir- 
kung getan  und  ist  nach  wie  vor  die  beste  Darstel- 
lung der  positivistischen  Lehre,  wie  sie  von  Mach 
und  Avenarius    gegeben    und    von    Petzoldt 
in    unübertrefflicher  Weise   systematisiert   worden 
ist,  über  die    Erfahrungsgrundlagen    unseres   Wis- 
sens.     Der    Positivismus    steht    bekanntlich    der 
Naturwissenschaft    ganz    anders    gegenüber,    wie 
andere  Philosophien.     Der  Positivismus  ist  —  da- 
für  sind    die    unvergeßlichen    Bücher  Machs  der 
sprechendste  Beweis  —  die  Philosophie  der  Natur- 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


455 


Wissenschaft  selbst.  Er  ist  aus  ihren  Bedürfnissen 
herausgewachsen  und  zur  Lösung  ihrer  philoso- 
phischen Probleme  berufen  und  bestimmt.  Ist 
doch  auch  die  größte  Leistung  der  modernen 
Physik,  die  Relativitätstheorie  Einsteins,  auf 
positivistischem  Boden  erwachsen.  Insofern  ist 
es  besonders  interessant,  daß  Petzoldt  besonders 
eingehend  die  erkenntnistheoretische  Bedeutung 
der  Relativitätstheorie  würdigt.  So  ist  P  e  t  z  o  1  d  t  s 
Buch  der  beste  Führer  in  das  Erfahrungsproblem 
der  Erkenntnistheorie  der  Naturwissenschaften. 

Freilich  will  es  mir  scheinen,  als  ob  Petzoldt 
der  Erfahrung  gegenüber  das,  was  er  „Begriffs- 
system" und  was  man  gewöhnlich  Theorie  nennt, 
ein  wenig  unterschätzt.  „Der  höchste  Ruhm  einer 
naturwissenschaftlichen  Theorie  könnte  es  sein, 
an  ihren  neuen  Tatsachen  selbst  zugrunde  zu 
gehen,  d.  h.  an  den  auf  Grund  ihrer  Lehren  ge- 
machten Entdeckungen,  —  könnte  es  sein,  wenn 
wir  nicht  noch  immer  so  tief  in  die  Bande  des 
Rationalismus  verstrickt  wären."  Da  ist  es  meines 
Erachtens  doch  gut,  daß  es  noch  so  etwas  wie 
Rationalismus  gibt.  Der  ganze  mathematische 
Apparat,  der  doch  für  die  Naturwissenschaft  ein- 
fach unentbehrlich  ist,  ist  doch  ein  Stück  Ratio- 
nalismus. Diese  „Begriffssysteme"  sind  aber  logisch 
nicht  einwandfrei  charakterisiert,  wenn  man  in 
ihnen,  wie  Petzoldt,  „biologische  Anpassungen 
an  die  sinnesphysiologisch  vermittelte  Tatsachen- 
menge" sieht.  IVIathematisch  eine  biologische  An- 
passung? Das  scheint  mir  eine  contradictio  in 
adjecto  zu  sein.  IVleines  Erachtens  muß  die  bio- 
logische Fundierung  des  Positivismus  durch  eine 
rein  logische  ersetzt  werden.  Doch  das  sind 
Meinungsverschiedenheiten,  die  den  hohen  Weit 
des  Petzoldt  sehen  Buches  in  keiner  Weise  be- 
einträchtigen können  und  sollen.  Wir  empfehlen 
es  allen  naturwissenschaftlich  und  philosophisch 
interessierten  Lesern  nochmals  auf  das  dringendste. 
Adolf  Meyer  (Hamburg). 


Flora    der    Laub-    und    Lebermoose    der    Um- 
gebung   Hannovers.      Eine    geographisch  flo- 
ristische   Heimatkunde     für    das   Gebiet.      Von 
W.  Wehrhahn.  Hannover,  Verlag  C.  V.  Engel- 
hardt  &  Co.,  G.  m.  b.  H. 
Von    den    üblichen    Moosfloren    unterscheidet 
sich    diese    Arbeit    sehr    wesentlich    durch    eine 
heimatkundliche  Erweiterung.     Der  Verfasser,  ein 
tüchtiger   Kenner   des    Landes    und    seiner   Flora, 
hat  sich  nicht  mit    der  kritischen  Aufzählung  der 
im  Gebiete  beobachteten  Moose  und  ihrer  Stand- 
orte begnügt,  die  übrigens  so  manches  Bemerkens- 
werte enthalten,  sondern  er  schickt  ihr  u.  a.  eine 
ausführliche     Abhandlurtg     über     „Die     Gelände- 
formationen   des    Gebietes    in    ihrer    floristischen 
Eigenart"    voraus,    in    der   die    einzelnen  Gelände, 
ihre  Moosgesellschaften    und    auch    die   sonst   be- 
merkenswerten     höheren      Pflanzen      geschildert 
werden.      Zum   Gebiete   gehört    auch   das  Warm- 
büchener  Moor,    und    es  wird  u.  a.  berichtet,  wie 
der  leider  im  Kriege  gefallene  Hermann  Löns 


seinerzeit  Kalmia  angustifolia  in  diesem  Moore 
auffand.  Die  Darstellungen  des  Verfassers  werden 
in  hohem  Grade  durch  eine  Reihe  nach  Photo- 
graphien hergestellter  ganzseitiger  Tafeln  mit 
Naturaufnahmen  belebt.  Wehrhahns  Arbeit 
gibt  ein  sehr  gutes  Beispiel  dafür,  wie  ein  spezi- 
elles Standortsverzeichnis,  durch  zweckmäßige 
Einkleidung  mit  Naturschilderungen  in  Wort  und 
Bild  aus  dem  Gebiete,  weit  über  seinen  sonstigen 
Wert  hinaus  gesteigert  werden  kann.  Sicher 
wird  das  Buch  auf  den  Schulen  Hannovers  eine 
sehr  gute  Wirkung  ausüben,  aber  es  verdient  auch 
sonst  Verbreitung.  L.  Loeske,  Berlin. 


Wiegers,  Fr.,  Geologisches  Wanderbuch 
für  die  Umgegend  von  Berlin.  i6o  S., 
54  Abb.  Stuttgart  1922,  Enke.  Geh.  30  M. 
Zu  den  geologischen  Exkursionsführern  für  die 
Umgebung  Berlins  von  Hucke,  Menzel, 
Schneider  tritt  ein  neuer,  ein  erfreuliches 
Zeichen  für  die  Aufmerksamkeit,  die  man  dem 
Stoffe  auch  da  erweist,  wo  er  sich  spröder  er- 
weist. Denn  es  ist  im  ganzen  eine  und  nicht 
die  leichtest  faßliche  Formation,  mit  der  das  Ge- 
biet bekannt  macht:  das  Quartär.  Nach  einigen 
allgemeingeologischen  Einfuhrungen  sind  ihr  S.  19 
bis  io6  gewidmet.  In  den  sehr  viel  kleineren 
Rest  teilen  sich  Tertiär,  Trias  und  Zechstein,  wie 
sich  das  für  diese  kleinen  Sporaden  geziemt.  Die 
für  jeden  Absatz  notwendigste  Literatur  ist  jeweils 
angefügt. 

Wesentlich  Neues  vermag  natürlich  neben  den 
älteren  durchaus  bewährten  Führern  der  vor- 
liegende nicht  zu  bieten.  Im  Gegenteil  darf  man 
dankbar  sein,  daß  er  nicht  mit  Gewalt  „anders" 
gehalten  wurde.  Auch  die  Abbildungen  sind 
nahezu  durchweg  Entlehnungen  aus  dem  Kayser- 
schen  Lehrbuche  und  dem  Menzelschen  Führer, 
die  im  gleichen  Verlage  erschienen.  Das  kann 
bei  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  unmöglich 
Anlaß  zu  Tadel  sein.  Dankbar  wird  mancher  die 
geschickt  eingestreuten  historischen  Bemerkungen 
empfinden,  wie  denn  überhaupt  ein  praktisch- 
natürlicher Zug  durch  die  Darstellung  weht.  Dem 
Spezialgebiete  des  Verf.  entsprechend  ist  schließ- 
lich das  „Hauptleitfossil"  des  Quartärs,  der  Mensch 
und  seine  Kultur  eingehender  behandelt,  als  es 
Funde  in  der  Mark  bisher  zu  erfordern  scheinen. 
Niemand  wird  solche  Hinweise  von  berufener 
Hand  ablehnen  wollen.  Auf  S.  66/67  findet  sich 
eine  die  Anschauungen  des  Verf.  anschaulich 
widerspiegelnde  Tabelle  zur  Zeitfolge  der  eiszeit- 
lichen Kulturen.  Hennig. 


Wellmann,  Friedrich,    Vogelleben  in  Nie- 
dersachsen.       9    Skizzen.        Bremen,     Carl 
Schünemann. 
Heimatduft  und  Heimatliebe  atmet  dieses  nicht 
von  einem  Fachornithologen,    aber  einem  hervor- 
ragenden   Vogelliebhaber     und    Kenner     unserer 
heimischen  Vogelwelt    verfaßten    Büchleins.     Wie 
vielen    haben    diese    entzückenden    Schilderungen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  33 


bereits  unendliche  Freude  bereitet  in  der  bekannten 
in  Bremen  erscheinenden  Zeitschrift  „Nieder- 
sachsen". Jetzt  hat  sie  der  Verlag  in  Buchform 
herausgegeben,  um  sie  einem  weiteren  Leserkreis 
zugänglich  zu  machen.  Auf  seinen  Wanderungen 
mit  dem  Feldstecher  an  der  Seite  und  dem  liebe- 
vollen „Vogelherzen"  in  der  Brust  begleiten  wir 
den  Dichter  —  ein  neuer  Löns  —  auf  seinen 
Streifzügen   durch   die    Marschen    Niedersachsens, 


ins  Moor  zu  dem  „bunten  Volk",  den  Enten,  in 
den  Wald,  durch  die  Straßen  der  Großstadt, 
Frühling,  Sommer,  Herbst  und  Winter.  Bald  in 
Hochdeutsch,  bald  in  Platt  lassen  wir  uns  auf  die 
Feinheiten  des  Vogellebens  aufmerksam  machen. 
Immer  wieder  ist  es  der  Gesang,  sind  es  die 
Stimmen  der  Vögel,  welche  ganz  besonders  un- 
sere Aufmerksamkeit  fesseln.  Ein  echtes  Heimat- 
buch. H.  Duncker. 


Anregungen  und  Antworten. 


Erst  vor  kurzem  habe  ich  Kenntnis  bekommen  von  einer 
Besprechung  meiner  kleinen  Schrift  „Die  Einsteinsche  Gravi- 
tationstheorie" durch  Herrn  Fricke  in  der  Naturw.  Wochen- 


schrift vom  23.  April.  Ich  würde  mich  zu  dieser  Besprechung 
selbstverständlich  nicht  äußern,  wenn  sie  nur  sachlich  wäre. 
Herr  Fricke  aber,  der  mich  nebenbei  bemerkt  gar  nicht 
kennt,  hat  geglaubt,  auch  meine  Person  in  die  Besprechung 
hineinziehen  zu  sollen.  Er  sagt:  ,,Der  Verfasser  will  es  aber 
offenbar  mit  keiner  Seite  verderben".  Die  gänzlich  unbe- 
gründete Insinuation,  daß  ich  mich  bei  der  Abfassung  meiner 
Schrift  von  anderen  Beweggründen  hätte  leiten  lassen,  außer 
dem  reinen  Streben  nach  Wahrheit,  halte  ich  für  eine  leicht- 
fertige Schmähung  meines  guten  wissenschaftlichen  Namens. 
Ich  weise  sie  mit  der  grüßten  Entschiedenheit  zurück. 

Gustav  Mie. 

Nachtrag  zu  dem  Aufsatz:  Neuer  Rekonstruktionsversuch 
eines  liassischen  Flugsauriers.  Im  21.  Band,  Nr.  20,  vom 
14.   Mai    1922. 

Durch  allzu  gedrängte  Fassung  ist  die  Darlegung  S.  275 
über  Stellung  und  Gebrauch  der  Hinterextremität  mißverständ- 
lich geworden,  und  bedarf  einer  weiteren  Ausführung: 

Wie  schon  erwähnt,  beweisen  die  Trochanter  des  Ober- 
schenkels starken  Gebrauch.  Fiele  der  Hinterextremität  nur 
die  Aufgabe   zu,  die  Flughaut  zu  spannen,    oder  wäre  sie  gar 


zwischen  dem  Patagium  und  einem  Uropatagium  eingespannt, 
wie  Abel  dies  bei  Rhamphorhynchus  annimmt,  so  wäre  eine 
derartig  kräftige  Ausbildung  des  Trochanter  major,  wie  sie 
Abb.  I  zeigt,  unverständlich.  Außerdem  beweist  sowohl  das 
wohlentwickelte  Kniegelenk  wie  das  distale  Gelenk  des 
Tibiotarsus,  daß  die  Hinterextremität  nicht  nur  Bewegungen 
auf  dem  Boden  zuließ,  sondern  stark  zu  solchen  verwendet 
wurde.  Gebrauchsfähig  war  aber  die  Hinterextremität  auf 
dem  Boden,  was  aus  der  erwähnten  beschränkten  Exkursions- 
möglichkeit des  Oberschenkels  hervorgeht,  nur  bei  steilstehender 
Körperachse.  In  dieser  Stellung  aber  erreichen  die  Krallen- 
finger der  Vorderextremität  den  ebenen  Boden  nicht,  über- 
haupt war  die  Vorderextremität  zum  Schreiten  ungeeignet. 
Man  muß  sich  das  Tier  also  auf  ebener  Erde  biped  (s.  S.  218  — 19) 
vorstellen,  eine  Annahme,  die  durch  den  vogelartig  ausge- 
bildeten Tibiotarsus  eine  starke  Stütze  erfährt.  Der  Ober- 
schenkel stand  jedoch  nicht  vogel-  oder  säugerartig,  wie 
Seeley  1901  dies  von  langschwänzigen  Flugsauriern  an- 
nimmt, sondern  vom  Körper  abgespreizt. 

Erst  bei  steil  ansteigendem  Gelände  tritt  insofern  ein 
Rollenwechsel  ein,  als  nun  die  Vorderextremität  das  den 
Körper  auf  dem  Boden  bewegende  Organ  wird ,  und  die 
Hinterextremität  nunmehr  den  Körper  stützt.  Kletternd  zieht 
sich  das  Tier  mittels  der  Arme  vorwärts-aufwärls,  in  einer 
Art  wie  sie  S.  279  beschrieben  ist,  und  die  man  beim  Militär 
eskaladieren  nennt.  Carl  Stieler. 


Literatur. 

Jessen,  Dr.  Otto,  Die  Verlegung  der  Flußmündungen 
und  Gezeitentiefs  an  der  festländischen  Nordseeküste  in  jung- 
alluvialer Zeit.     Stuttgart  '22,  Ferd.   Enke. 

Fuchs,  Dr.  Walter,  Der  gegenwärtige  Stand  des  Gärungs- 
problems. Sonderausgabe  aus  der  Sammlung  chemischer  und 
chemisch-technischer  Vorträge.  Band  XXVII.  Stuttgart  '22, 
Ferd.   Enke. 

Schneider,  Dr.  Hans,  Die  Botanische  Mikrotechnik. 
Ein  Handbuch  der  mikroskopischen  Arbeitsverfahren.  2.  Aufl. 
Jena  '22,   G.  Fischer.     Brosch.   120  M.,  geb.   155   M. 

Naef,  Dr.  Adolf,  Die  fossilen  Tintenfische.  Eine  paläo- 
zoologische  Monographie.  Jena  '22,  G.  Fischer.  Brosch. 
100  M.,  geb.    130  M. 


Fischer,  Gesammelte  Werke.  Hrsg.  von  M.Bergmann. 
Untersuchungen  über  Kohlenhydrate  und  Fermente  II.  (1908 — 
1919).     Berlin  '22,  J.  Springer.     Brosch.    186  M.,  geb.  219  M. 

Born,  Max,  Der  Aufbau  der  Materie.  Drei  Aufsätze 
über  moderne  Atomistik  und  Elektronentheorie.  2.  Aufl.  Ber- 
lin '22,  J.  Springer.     Brosch.  36  M. 

FöppI,  Dr.  phil.  Aug.,  Vorlesungen  über  technische 
Mechanik.  5.  Band.  Die  wichtigsten  Lehren  der  höheren 
Elektrizitätstheorie.  4.  Aufl.  Leipzig  und  Berlin  '22,  B.  G. 
Teubner.     Geh.   150  M.,  geb.    170  M. 

Föppl,  Dr.  phil.  Aug.,  Vorlesungen  über  technische 
Mechanik.  6.  Band.  Die  wichtigsten  Lehren  der  höheren 
Dynamik.  4.  Aufl.  Leipzig  und  Berlin  '21,  B.  G.  Teubner. 
Geh.  72  M.,  geb.  84  M. 


Inhalt:  K.  Kuhn,  Das  Spektrum  der  elektromagnetischen  Wellen.  S.  449.  —  Bücherbesprechungen;  Fr.-V.  v.  Hahn, 
Über  die  Herstellung  und  Stabilität  kolloidaler  Lösungen  anorganischer  Stoffe.  S.  451.  H.  Bauer,  Chemie-Büchlein. 
S.  452.  E.  v.  Dungern,  Über  die  Prinzipien  der  Bewegung,  das  Wesen  der  Energie  und  die  Ursachen  der  Stoß- 
gesetze. S.  452.  F.  Neeff,  Prolegomena  zu  einer  Kosmologie.  S.  453.  A.  E.  Brehm,  Das  Leben  der  Vögel.  S.  454. 
H.  Deegener,  Chemisch-technische  Rechnungen.  S.  454.  J.  Petzold,  Das  Weltproblem  vom  Standpunkte  des 
relativistischen  Positivismus  aus  historisch-kritisch  dargestellt.  S.  454.  W.  Wehrhahn,  Flora  der  Laub-  und  Leber- 
moose der  Umgebung  Hannovers.  S.  455.  Fr.  Wiegers,  Geologisches  Wanderbuch  für  die  Umgegend  von  Berlin. 
S.  455.  Fr.  Wellmann,  Vogelleben  in  Niedersachsen.  S.  455.  —  Anregungen  und  Antworten:  Die  Einsteinsche 
Gravitationstheorie.  S.  456.    Neuer  Rekonstruktionsversuch  eines  liassischen  Flugsauriers.  S.  456.  —  Literatur :  Liste.  S.  456. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
;r  ganzen  Reihe   37.  Band. 


Sonntag,  den  20.  August  1922. 


Nummer  34. 


[Nachdruck  verboten.] 

Aus  der  P'abelwelt  der  alten  Griechen,  die 
mit  ihrer  lebhaften  Phantasie  die  Natur  mit  Gott- 
heiten und  Ungeheuern  bevölkerten,  ist  so  man- 
cher Name  für  die  Wissenschaft  entlehnt  worden, 
allerdings  mit  mancher  Umänderung.  Die  1er nä- 
ische  Hydra  finden  wir  als  harmlosen  Süß- 
wasserpolypen in  unseren  Teichen  wieder,  ein 
Tierchen,  das  mit  seinen  mikroskopischen  Waffen 
nicht  mehr  dem  Menschen,  sondern  nur  den  vor- 
überschwimmenden Wasserflöhen  gefährlich  wird. 
Die  Medusen,  deren  Anblick  die  Menschen  zu 
Stein  erstarren  ließ,  entzücken  uns  heute  durch 
ihren  Formen-  und  F"arbenreichtum.  Der  vielge- 
staltige, verwandlungsfähige  Proteus  haust 
zwar  auch  jetzt  noch  als  „Grottenolm"  in  unter- 
irdischen Höhlen,  nur  hat  er  sein  charakteristisch- 
stes Merkmal,  die  Verwandlungsfähigkeit,  einge- 
büßt, er  gehört  zu  den  Amphibien,  dje  zeitlebens 
ihre  Kiemen  behalten. 

Auch  der  Name  Chimäre  entstammt  der 
griechischen  Mythologie.  Er  bezeichnete  ein 
Fabelwesen,  das  vorne  Löwe,  in  der  Mitte  Ziege 
und  hinten  Drachen  war.  Das  Wesentliche,  wes- 
wegen dieser  Name  seinerzeit  vom  Botaniker 
Winkler  angewandt  wurde,  besteht  in  der 
Zusammensetzung  eines  Organismus 
aus  mehreren  anderen.  —  Ein  paar  Worte 
zur  Vorgeschichte  dieses  Namens. 

In  der  Gartenkunde  ist  es  ja  ein  seit  altersher 
bekanntes  Verfahren,  zwei  Pflanzen  durch  Pfrop- 
fung miteinander  zu  vereinigen.  Edelreis  und 
Wildling  behalten  dabei  ihre  eigentümlichen  Art- 
oder Rassencharaktere.  Seit  langem  war  nun  die 
Ansicht  verbreitet,  daß  man  auf  dem  Wege  der 
Pfropfung  auch  eine  innigere  Vereinigung,  eine 
Verschmelzung  oder  Vermischung  der  Artcharak- 
tere erzielen  könne.  Wie  bei  der  geschlechtlichen 
Bastardierung  durch  die  Vereinigung  der  Ge- 
schlechtszellen eine  vollkommene  Vermischung 
der  elterlichen  Eigenschaften  erreicht  werden  kann, 
so  hoffte  man  auch  auf  dem  Wege  der  Pfropfung 
zwei  vegetative  oder  Körperzellen  in  ähnlicher 
Weise  verschmelzen  und  dadurch  richtige  „Propf- 
bastarde"  herstellen  zu  können.  Der  Glaube  hieran 
stützte  sich  auf  das  Vorkommen  einiger  in  der 
Geschichte  der  Botanik  berühmter  Fälle,  nament- 
lich des  Cytisus  Adami. 

Angeblich  im  Jahre  1826  hat  der  Gärtner 
Adam  Cytisus  purpureus  auf  den  gewöhnlichen 
Goldregen,  C.  laburnun  gepfropft  und  erhielt  da- 
bei aus  einer  Knospe  der  Impfstelle  einen  Zweig, 
an  dem  die  Charaktere  beider  Komponenten  auf- 


Tierische  Chimären. 

Von  Dr.  Erwin  Taube,  Heidelberg 
Mit   II   Abbildungen  im  Text. 


traten.  Diese  Mischung  ging  so  weit,  daß  in 
einem  Blütenstande  purpurne  und  gelbe  Blüten 
auftraten,  ja  daß  sogar  die  Hälfte  einer  Blüte  gelb, 
die  andere  Hälfte  purpurn  sein  konnte.  Alle 
Exemplare  dieser  Pflanze  sollen  aus  Stecklingen 
von  dieser  gemeinsamen  Mutterpflanze  gezogen 
sein,  die  schon  Darwin  für  einen  richtigen 
„Pfropf hybriden"  ansah.  Wink  1er  hat  nun  ver- 
sucht solche  Pfropf  bastarde  künstlich  zu  erzeugen. 
Ein  Tomatensproß  wurde  durch  Keilpfropfung 
auf  einen  Nachtschatten  gepfropft.  Nach  einiger 
Zeit  wurde  an  der  Vereinigungsstelle  das  Pfropf- 
reis durch  einen  Querschnitt  abgeschnitten.  An 
der  Schnittfläche  lagen  nun  Nachtschatten-  und 
Tomatengewebe  nebeneinander.  Hier  entwickelten 
sich  nun  Adventivknospen,  die  je  nach  der  Stelle, 
an  der  sie  entstanden,  entweder  reine  Nacht- 
schatten- oder  reine  Tomatensprosse  lieferten. 
An  der  Stelle  aber,  wo  junge  Zellen  der  beiden 
Komponenten  zusammenstießen,  entstand  einmal 
ein  eigentümlich  gemischter  Sproß,  der  von  der 
Mutterpflanze  abgeschnitten  wurde,  sich  selbstän- 
dig bewurzelte  und  seine  Eigenart  weiter  ent- 
wickelte. Ein  derartiger  Sproß  ist  links  von  einer 
ihn  ziemlich  genau  halbierenden  Mittellinie  an 
reine  Tomate,  rechts  reiner  Nachtschatten.  Links 
trägt  er  gefiederte,  ziemlich  stark  behaarte  To- 
matenblätter, rechts  wenig  behaarte,  ungeteilte, 
zarte  Nachtschai:tenblätter.  Auch  die  Blütenstände, 
ja  sogar  einzelne  Blüten  zeigten  die  Charaktere 
beider  Pflanzen  und  so  konnte  es  vorkommen, 
daß  mitunter  Früchte  entstanden,  die  halbseitig 
gelbe  Tomate,  halbseitig  schwarze  Nachtschatten- 
beeren waren.  Solchen  aus  zwei  Arten  zusam- 
mengesetzten Pflanzen  hat  Winkler  den  ein- 
gangs erwähnten  Namen  „Chimären"  gegeben. 
Um  einen  richtigen  Pfropfbastard  handelte  es 
sich  hier  aber  nicht,  sondern  nur  um  eine  innige 
Vereinigung  zweier  Pflanzen,  deren  Charaktere 
nebeneinander  bestanden.  In  der  Überzeugung, 
auf  dem  richtigen  Wege  zu  sein,  setzte  Winkler 
seine  Versuche  in  großem  Maßstabe  weiter  fort 
und  erhielt  schließlich  einen  Sproß,  der  tatsäch- 
lich eine  Mittelstellung  zwischen  beiden  Versuchs- 
pflanzen einnahm,  besonders  in  bezug  auf  die 
Blattform.  Er  nannte  ihn  Sol.  tubingense.  Der 
Sproß  ließ  sich  weiterkultivieren  und  erzeugte 
auf  vegetativem  Wege  viele  Exemplare,  die  ihre 
Bastardnatur  beibehielten.  Bei  der  geschlecht- 
lichen Fortpflanzung  erwies  es  sich  aber,  daß 
stets  ein  Rückschlag  auf  den  einen  oder  den 
anderen  Elter  eintrat.     Das  Problem   der  „Pfropf- 


458 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


bastarde"  war  also  noch  nicht  gelöst!  Eine 
Erklärung  dieses  merkwürdigen  Falles  ist  dann 
hauptsächlich  von  B  a  u  r  gegeben  worden ,  dem 
sich  später  auch  Winkler  selbst  anschloß, 
ßaur  zeigte,  daß  es  bei  Pelargonien  gelingt, 
Pflanzen  zu  erzeugen,  die  halb  grüne,  halb  weiße 
Vegetationskegel  besitzen ,  also  W  i  n  k  1  e  r  s  Chi- 
mären zwischen  Nachtschatten  und  Tomate  ent- 
sprechen. Aus  solchen  Sektorialchimären 
können  Blätter  hervorwachsen,  die  zur  Hälfte 
weiß,  zur  Hälfte  grün  sind.  Es  kann  auch  vor- 
kommen, daß  die  oberflächlichen  Zellagen  des 
Vegetationskegels  weiß,  alle  übrigen  aber  grün 
sind.  Dann  entwickelt  sich  eine  grüne  Pelar- 
goniumpflanze,  die  in  der  Haut  einer  weißen 
steckt,  wie  die  Hand  in  einem  Handschuh.  Solche 
Chimären  bezeichnet  Baur  als  Periklinal- 
chi mären.  Bei  der  geschlechtlichen  Fortpflan- 
zung erhält  man  aber  entweder  rein  weiße  oder 
rein  grüne  Exemplare,  je  nachdem,  ob  die  die 
Geschlechtszellen  bildende  Schicht  des  Vegetations- 
kegels aus  weißen  oder  grünen  Zellen  besteht. 
Nach  dieser  Erklärung  ist  nun  Solanum  tubingense 
auch  nichts  anderes  als  eine  Periklinalchimäre, 
d.  h.  ein  Nachtschatten,  der  in  einer  Tomaten- 
haut  steckt,  oder  umgekehrt,  womit  ja  auch  die 
Ergebnisse  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  und 
sorgfältigen  Chromosomenzählungen  übereinstim- 
men. Dasselbe  läßt  sich  auch  von  Cytisus  Adami 
und  ähnlichen  Fällen  sagen.  Richtige  Pfropf- 
bastarde sind  also  bisher  wohl  nicht  erzeugt 
worden. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  ähnlichen  Versuchen 
an  Tieren. 

Pfropfungen  an  Tieren  sind  zwar  im  allge- 
meinen schwieriger  durchzuführen,  aber  doch 
schon  seit  langem  ausgeübt  worden.  Fast  vor 
200  Jahren  hat  schon  Trembley  bei  seinen 
berühmten  Versuchen  mit  Hydra  u.  a.  zwei  Indi- 
viduen von  Hydra  fusca  der  Quere  nach  durch- 
geschnitten, ihre  vorderen  und  hinteren  Hälften 
miteinander  vertauscht  und  zum  Zusammen- 
wachsen gebracht.  Es  glückte  ihm  aber  nicht 
zwei  Polypen  verschiedener  Art,  H.  viridis  und 
fusca  auf  dieselbe  Weise  dauernd  zu  vereinigen, 
ein  Experiment,  daß  auch  Wetzel  neuerdings 
erfolglos  probiert  hat. 

Leichter  hat  sich  solch  eine  Vereinigung  bei 
den  Embryonen  der  Frösche  und  Kröten  erwiesen. 
Born  gelang  es  Kaulquappen  von  Rana  esculenta 
in  der  verschiedensten  Weise  zusammenzupfropfen. 
Bald  verband  er  das  Vorderende  der  einen  Larve 
mit  dem  Ilinterende  der  anderen,  bald  vereinigte 
er  zwei  Larven  mit  ihrer  Rücken-  oder  Bauch- 
fläche, oder  sogar  nur  mit  ihren  Köpfen,  wodurch 
abenteuerliche  Doppelbildungen  entstanden,  oder 
das  Hinterende  einer  Larve  wurde  seitlich  einer 
anderen  so  aufgepfropft,  daß  ein  Tier  mit  zwei 
Hinterenden  entstand.  Auch  die  Vereinigung 
artungleicher  Embryonen,  z.  B.  Rana  fusca,  arvalis 
und  esculenta,  hat  Born  mit  Erfolg  durchgeführt. 
Bei    Gattungsverschiedenheiten,    Rana    esculenta 


und  Bombinator  Igneus,  fand  Born,  daß  die 
Verwachsung  der  Gewebe  in  den  meisten  Fällen 
zwar  leicht  und  vollkommen  eintrat,  doch  sind 
später  alle  solche  Zusammensetzungen  zugrunde 
gegangen.  Born  läßt  die  F"rage  offen,  ob  hier 
ein  Zufall  vorliegt  oder  ob  die  Todesursache  in 
„unvereinbaren  Unterschieden  der  Gesamtorgani- 
sation zu  suchen  ist". 

Auch  an  verschiedenen  Wirbellosen  sind  solche 
Vereinigungen  mit  Erfolg  vorgenommen  worden. 
Crampton  benutzte  dazu  Schmetterlingspuppen, 
die  er  entweder  mit  ihren  vorderen  oder  hinteren 
Enden  oder  mit  ihren  Seitenflächen  zur  Ver- 
einigung brachte,  und  aus  denen  dann  in  der- 
selben Weise  verwachsene  Schmetterlinge  aus- 
schlüpften. Joest  führte  homoplastische  und 
heteroplastische  Vereinigungen  an  verschiedenen 
Arten  von  Regenwürmern  aus.  Artgleiche  Zu- 
sammensetzungen gelangen  leicht  und  konnten 
jahrelang  am  Leben  erhalten  werden.  Viel 
schwieriger  erwies  sich  die  Vereinigung  ver- 
schiedener Arten.  In  vielen  Fällen  gelang  sie 
aber  auch,  die  Teilstücke  verschmolzen  zu  einem 
neuen  Individuum,  dessen  Organisation,  abgesehen 
von  dem  Speziescharakter  der  vereinigten  Teil- 
stücke, eine  einheitliche  war. 

Zu  erwähnen  wären  hier  noch  die  Versuche, 
bei  denen  Extremitätenanlagen  von  einem  Indi- 
viduum auf  ein  anderes  gebracht  wurden  und 
sich  hier  normal  weiterentwickelten.  Hierher  ge- 
hören die  bekannten  Versuche  von  Braus,  der 
bei  jungen  Bombinatorlarven  die  Knospen  der 
hinteren  oder  vorderen  Extremität  abgetrennt,  an 
den  verschiedensten  Körperstellen  eingepflanzt 
und  so  Larven  oder  ausgebildete  Tiere  mit  über- 
zähligen Gliedmaßen  erhalten  hat.  Dürcken  hat 
bei  Larven  von  Rana  fusca  die  junge,  noch  un- 
differenzierte Hinterbeinknospe  an  die  Stelle  des 
aus  seiner  Höhle  entfernten  Auges  gesetzt  und 
erhielt  im  günstigen  Falle  eine  vollständige,  gut 
ausgebildete  Extremität,  die  aus  der  Augenhöhle 
frei  nach  außen  herauswuchs. 

Alle  bisher  erwähnten  Versuche  haben  die 
iVIöglichkeit  ergeben  Tiere  derselben  oder  ver- 
schiedener Art  zum  Zusammenwachsen  zu  bringen. 
Es  sind  aber  keine  Chimären.  Von  diesen  können 
wir  erst  reden,  wenn  ein  viel  innigeres  Ver- 
wachsen oder  Übereinanderwachsen  embryonaler 
Zellen  stattgefunden  hat.  Die  Anfänge  solch 
einer  Erscheinung  finden  wir  bei  2  Versuchen 
von  Ha  rrison. 

Um  die  Entwicklung  der  Seitenlinie  bei  den 
Amphibien  zu  studieren ,  vereinigte  H  a  r  r  i  s  o  n 
2  Froschlarven  in  der  Weise,  daß  die  Vorderhälfte 
der  dunkelgefärbten  Rana  silvatica,  die  Hinter- 
hälfte der  hellen  R.  palustris  angehörte.  Nach 
einiger  Zeit  ließ  sich  beobachten,  daß  die  dunkle 
Seitenlinie  des  vorderen  Komponenten  sich  auch 
auf  das  helle  Hinterstück  erstreckte  und  hier 
weiterwuchs.  Es  läßt  sich  hieraus  mit  Sicherheit 
schließen,  daß  die  Anlage  der  Seitenlinie  von 
vorne  nach  hinten  stattfindet,   womit   gleichzeitig 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


430 


wertvolle  Aufschlüsse  über  die  Entstehung  der 
Nerven  gegeben  waren.  Nebenbei  wurde  die  Be- 
obachtung gemacht,  daß  an  der  Vereinigungs- 
stelle die  dunkle  Epidermis  des  vorderen  Stückes 
ein  wenig  über  das  helle  Hinterstück  hinüber- 
wuchs. Dieses  Auswachsen  der  dunklen  Seiten- 
linie, sowie  das  Überwachsen  des  hellen  palustris- 
Gewebe  durch  dunkle  silvatica  Haut  können  wir 
als  die  ersten  Anfänge  einer  Chimärenbildung  an- 
sehen. 

Noch  deutlicher  tritt  dieses  in  einem  anderen 
(in  ähnlicher  Weise  auch  von  Morgan)  ausge- 
führten Experimente  zutage.  Es  wurde  hier  die 
Schwanzknospe  einer  Larve  von  R.  virescens 
durch  eine  solche  von  R.  palustris  ersetzt.  Nach 
48  Stunden  war  die  Anlage  zu  einem  Ruder- 
schwanz ausgewachsen,  der  ähnlich  wie  im 
vorigen  Falle  von  Epidermis  von  virescens  be- 
deckt war,  die  vom  Rumpf  her  nach  hinten  ge- 
schoben war.  In  diesem  Bereich  wurde  nun  der 
Schwanz  von  neuem  abgeschnitten.  Die  Gewebe 
des  Querschnittes  wuchsen  aus  und  regenerierten 
einen  neuen  Schwanz,  der  in  seinem  Kern  aus 
Palustrisgewebe  bestand,  das  von  Virescensepi- 
dermis  bedeckt  war.  Es  war  hier  also  tatsächlich 
eine  Periklinealchimäre  entstanden. 

Experimentelle  Erzeugung  von  Chimären  kann 
naturgemäß  am  besten  in  einem  möglichst  jugend- 
lichen Alter  der  Komponenten  vorgenommen 
werden,  weil  dann  die  Zellen  noch  so  indifferent 
und  umwandlungsfähig  sind,  daß  sie  verhältnis- 
mäßig leicht  mit  Geweben  einer  anderen  Art  eine 
Vereinigung  eingehen.  Der  Zeitpunkt  der  Ver- 
einigung ist  dabei  kein  ganz  bestimmter.  Das 
jüngste  Stadium,  das  dabei  gewählt  werden  kann, 
ist  das  des  Eies  oder  der  beiden  ersten  Blasto- 
meren. Hier  liegen  aus  der  allerletzten  Zeit  die 
interessanten  Versuche  Mangolds  an  Triton- 
eiern vor.  Zum  besseren  Verständnis  will  ich 
dabei  zuerst  einige  Worte  über  die  Entwicklung 
des  Tritoneies  vorausschicken. 

Das  von  seiner  Gallerthülle  befreite  Ei  ist 
kugelrund  und  hat  die  Größe  eines  kleines  Hanf- 
korns. Mit  Hilfe  feiner  Pinzetten  läßt  sich  nun 
noch  das  feine  Dotterhäutchen  abziehen,  worauf 
das  Ei  etwas  seine  Form  verändert  und  sich  ein 
wenig  abflacht.  Die  erste  Furche  schneidet  rund 
um  den  Keim,  wobei  die  beiden  \., -Blastomeren 
weit  auseinanderrücken  und  oft  nur  durch  einen 
feinen  Faden  Ektoplasma  verbunden  bleiben.  Es 
entsteht  so  das  charakteristische  Hantelstadium. 
Bei  Triton  taeniatus  sind  die  beiden  ersten  Blasto- 
meren meist  genau  kugelig,  während  die  von 
Tr.  alpestris  eine  etwas  stärkere  Abplattung 
zeigen.  Mit  dem  Auftreten  der  zweiten  Furche,  die 
senkrecht  zur  ersten  verläuft,  hat  das  Auseinander- 
rücken der  '/-iBlästomeren  sein  Maximum  er- 
reicht, sie  legen  sich  nun  schnell  wieder  anein- 
ander. Legt  man  aber  in  die  erste  Furche  gleich 
bei  ihrem  Auftreten  einen  feinen  Glasfaden,  der 
noch  durch  einen  kleinen  Glasreiter  beschwert 
wird,   so    werden   die   beiden  Blastomeren    ohne 


Schädigung  voneinander  getrennt  (Abb.  1).  Nach  der 
Trennung  kugeln  sie  sich  vollkommen  ab,  können 
sich  aber  weiter  furchen.  Bei  der  nächsten,  d.  h. 
2.  F'urche,  nimmt  nun  jede  Vo'B'^stomere  die  für 
das  Zweizellenstadium  so  charakteristische  Hantel- 
form an  und  unterscheidet  sich  infolgedessen 
nur  durch  ihre  Größe  von  einem  ganzen  Keim. 
Tatsächlich  kann  sich,  wie  hier  gleich  erwähnt 
werden  soll,  aus  solch  einer  halben  Blastomere 
ein  ganzer  normaler  Embryo  von  geringerer  Größe 
entwickeln,  allerdings  mit  einigen  Einschränkungen, 
die  von  dem  Verlauf  der  ersten  Furche  abhängen 
und  noch  später  erläutert  werden  sollen.  Ein 
Teil  der  Mangoldschen  Experimente  bestand  nun 


Abb.   I.     (i  Trit.  taen.    19,  V95.      '/j -Blastomere    im  Moment 

maximaler  Teilung,  die  '/i-B'^stomere  etwas  verschieden  groß. 

Vergr.    19  X-      ^  Trennung    der   '/j-Blastomerea    entlang    der 

I.  Furche  mittelst  Glasstab  (nach  Mangold). 

darin  zwei  getrennte  '/.j- Blastomeren  im  Hantel- 
stadium, d.  h.  beim  Auftreten  der  2.  Furche, 
kreuzweise  so  übereinanderzulegen,  daß  dadurch 
eine  Verlagerung  der  '/^ -Blastomere  zustande 
kam.  Soweit  hierbei  Keime  derselben  Art  zur 
Verwendung  kam,  hat  das  Experiment  nichts  mit 
Chimärenbildung  zu  tun,  es  kann  daher  auf  die 
interessanten  Resultate  dieser  Blastomerenum- 
ordnung  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

In  einer  anderen  Reihe  von  Versuchen  be- 
nutzte Mangold  die  Eier  von  Tr.  taeniatus  und 
alpestris.  Da  hier  die  Keime  auf  dem  Stadium 
der  '/.i-Blastomeren,  während  sie  Hantelform  hatten, 
vereinigt  wurden,  so  kamen  hier  zwei  ganze 
Eier  und  zwar  von  verschiedenen  Tierarten 
zur  Verschmelzung.  „Nach  kurzer  Zeit  waren 
dann  die  Zellen  nach  Art  einer  Rosette  ver- 
wachsen und  bildeten  sich  weiter  furchend  einen 
mehr  oder  weniger  abgerundeten  Kuchen,  der 
vom  Morula-  bis  zum  Blastulastadium  seine  an- 
fänglich bedeutende  Abflachung  verlor  und  schließ- 
lich kugelige  Form  annahm.  Durch  Verwendung 
verschiedenpigmentierter  Keime  war  es  möglich, 
die  Abkömmlinge  der  beiden  Eier  meist  bis  zum 
Blastulastadium,   ja    in    einem   Fall    heterogener 


460 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Verschmelzung  ...  bis  zum  Gastrulastadium  zu 
verfolgen.  Dabei  zeigte  sich,  daß  die  Keime  die 
durch  die  Rosettenform  bedingte  Verteilung  der 
Bezirke  in  der  kugeligen  Blastula  beibehalten 
hatten.  Stets  entwickelte  sich  eine  kugelige 
Blastula  mit  wohlausgebildeten  Blastocoel"  (M  a  n - 
gold,  S.  281). 

Dieser  Fall  einer  heterogenen  Keimver- 
schmelzung ist  von  doppeltem  Interesse.  Schon 
seit  längerer  Zeit  ist  es  bekannt,  daß  zur  Her- 
vorbringung eines  ganzen  Embryo  nicht  immer 
ein  ganzes  Ei  nötig  sei.  Eine  halbe,  viertel, 
achtel  Elastomere,  ja  noch  kleinere  Stücke  ge- 
nügen unter  Umständen  einen  ganzen  Embryo, 
wenn  auch  geringerer  Größe,  hervorzubringen. 
Wenn  nun  aus  einer  '/a 'Elastomere  ein  ganzes 
Tier  sich  entwickeln  kann,  so  liegt  die  Frage 
nahe,  ob  nicht  auch  umgekehrt  zwei  ganze  Eier 
einen  ganzen,  einheitlichen  Organismus  zu  schaffen 


Typus  I 


Abb.  2.     ß  2  Normalkeime,   I.  Furche  frontal;  h  und  r  Doppel- 
keime nach  Typus  I.     Blastomerenfolge   I,  3,  2,  4    und   1,   4, 
2,  3  ergeben   dieselben  Lagebeziehungen    der  verschmolzenen 
Keime  (nach  Mangold). 

imstande  sind.  Die  Frage  ist  schon  früher  durch 
Experimente  von  Bierens  de  Haan  und  von 
Driesch  in  bejahendem  Sinne  an  Seeigeleiern 
gelöst  worden.  Die  Mangoldschen  Experimente 
geben  nun  in  einwandfreier  Weise  an  einem 
anderen  Material  eine  weitere  Bestätigung  dieser 
Tatsache.  Ein  zweites  Resultat  der  Ver- 
suche ist  darin  zu  sehen,  daß  durch  die  Ver- 
schmelzung zweier  artfremder  Keime  die  Ent- 
stehung einer  Chimäre  erzielt  worden  ist.  Da 
hier  einzelne  Sektoren  des  Keimes  verschiedenen 
Arten  angehören,  so  ist  es  klar,  daß  wir  es  hier 
mit  einer  Sektorialchimäre  zu  tun  haben. 
Da  bei  der  beschriebenen  Keimverschmelzung  die 
einzelnen  Sektore,  die  ja  den  Blastomeren  ent- 
sprechen, verlagert  und  in  abnorme  Nachbarschaft 
gebracht  werden,  so  läßt  sich  auf  Grund  einer 
theoretischen  Überlegung  ziemlich  sicher  voraus- 
sagen, was  für  Formen  als  Resultat  einer  solchen 
Verschmelzung  zu  erwarten  sind.  Wir  müssen 
dabei  auf  den  Beginn  der  Furchung  zurückgreifen 
und  uns  daran  erinnern,  daß  die  erste  Furche  das 
Ei  in  zwei  gleiche  große  Blastomeren  teilt,  von 
denen  jede  für   sich    allein  einen  ganzen  Embryo 


hervorzubringen  imstande  ist.  Spemanns 
Durchschnürungsversuche  an  Tritoneiern  haben 
aber  gezeigt,  daß  das  nicht  durchweg  der  Fall 
ist.  Es  entsteht  nämlich  mitunter  nur  ein  ganzer 
Embryo  von  halber  Normalgröße,  während  die 
andere  '/g-Blastomere  sich  nur  zu  einem  Bruch- 
stück ohne  Rückenorgane,  d.  h.  Nervenrohr  und 
Chorda  dorsalis  entwickelt.  Hieraus  läßt  sich 
schließen,  daß  in  manchen  Fällen  die  erste  Furche 
median  in  bezug  auf  den  zukünftigen  Embryo 
verläuft,  in  anderen  dagegen  frontal,  wodurch  die 
Rücken-  von  der  Bauchhälfte  getrennt  wird.  Um 
dieses  zu  verstehen,  muß  man  sich  die  Vorgänge 
bei  der  Gastrulation  vergegenwärtigen.  Die  Ein- 
stülpung findet  in  der  Nähe  des  vegetativen  Poles 
statt  und  zeigt  sich  zuerst  in  dem  Auftreten  einer 
halbkreisförmigen  Furche,  der  sog.  „oberen 
Urmundlippe".  Nach  einiger  Zeit  tritt  auch 
die  untere  Urmundlippe  auf,  wodurch  der  Halb- 
kreis zu  einem  Ring  geschlossen  ist,  der  den  Ur- 
mund  bezeichnet.  Das  Auftreten  der  oberen  Ur- 
mundlippe ist  nun  von  großer  Wichtigkeit,  denn 
hierdurch  bekommt  der  Embryo  zum  erstenmal 
eine  dorso-ventrale  und  seitliche  Orientierung.  Die 
obere  Urmundlippe  ist  außerdem  das  Organisalions- 
zentrum,  von  dem  aus  die  Medullarplatte  und 
Chorda  dorsalis  nach  vorne  hin  sich  entwickeln. 
Projiziert  man  nun  den  Urmund  auf  das  vom 
vegetativen  Pol  betrachtete,  ungefurchte  Ei,  so  ist 
damit  gleichzeitig  die  Lage  des  virtuellen  Embryo 
im  Ei  gegeben.  Es  ist  jetzt  klar,  daß  die  Rich- 
tung der  ersten  Furche  ein  verschiedenes  Resultat 
ergeben  muß,  je  nachdem  sie  frontal  oder  median 
verläuft.  Durch  eine  frontale  Furche  wird  die 
ganze  obere  Urmundlippe  einer  Blastomere  zu- 
geteilt, während  die  andere  die  ganze  untere  Ur- 
mundlippe erhält.  Nun  befindet  sich  aber  das 
Organisationszentrum  in  der  oberen  Urmund- 
lippe und  nur  von  hier  aus  kann  die  Bildung  der 
Rückenorgane  stattfinden,  d.  h.  nur  die  eine 
Blastomere  wird  zu  einem  ganzen  Embryo  von 
halber  Größe,  während  die  andere  mit  der  unteren 
Urmundlippe  nur  ein  Bauchstück  ohne  Rücken- 
organe liefert.  Ganz  anders  ist  das  Resultat  bei 
medianem  Verlauf  der  ersten  Furche.  Jede 
Blastomere  erhält  dann  eine  halbe  obere  und  eine 
halbe  untere  Urmundlippe.  Spemanns  Unter- 
suchungen haben  nun  gezeigt,  daß  eine  halbe 
obere  Urmundlippe  sich  zu  einer  ganzen  ergänzen 
und  auch  die  Bildung  der  Rückenorgane  veran- 
lassen kann.  In  diesem  Falle  wird  also  jede 
V2-Blastomere  nach  erfolgter  Regulation  einen 
ganzen  Embryo  von  geringerer  Größe  liefern. 
Wenn  wir  nun  über  die  Beziehungen  der  Richtung 
der  ersten  Furche  zur  Lage  des  virtuellen  Embryo 
im  Keim  uns  Klarheit  verschafft  haben,  so  können 
wir  daran  gehen,  uns  zu  vergegenwärtigen,  was 
für  einen  Erfolg  die  Verlagerung  und  Verschmelzung 
zweier  Keime  auf  dem  '/2 '  Blastomerestadium 
haben  wird.  Wir  betrachten  zuerst  einen  Fall, 
wo  in  beiden  Keimen  die  erste  Furche  frontal 
verläuft,   also  jeweils  eine  Blastomere   die    ganze 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


461 


obere  Urmundlippe  erhält  (Abb.  2).  Die  Blasto- 
meren des  einen  Eies  bezeichnen  wir  mit  i  und  2, 
die  des  anderen  mit  3  und  4.  Wenn  die  Eier 
nach  dem  Einschneiden  der  ersten  Furche  Hantel- 
form angenommen  haben,  so  können  die  Blasto- 
meren 3  und  4  kreuzweise  so  über  die  andere 
Blastomerenhantel  gelegt  werden,  daß  die  Nr.  3 
entweder  rechts  oder  links  von  Nr.  i  zu  liegen 
kommt.  Beginnen  wir  dann  mit  i  und  zählen 
im  Sinne  des  Uhrzeigers,  so  haben  wir  die  Blasto- 
merenfolge  i,  3,  2,  4  oder  i,  4,  2,  3.  Hat  nun 
gleichzeitig  damit  eine  entsprechende  Verlagerung 
der  Anlagen  der  oberen  und  unteren  Urmund- 
lippen  stattgefunden,  so  muß  sich  folgendes  er- 
geben. Die  beiden  virtuellen  Embryonen  stoßen 
jeweils  mit  ihren  oberen  und  unteren  Urmund- 
lippen  zusammen.  In  der  Symmetrieebene  des 
Doppelkeims  berühren  sich  zwei  laterale  dorsale 
und  zwei  laterale  ventrale  Bezirke,  die  verschiedenen 
Keimen  angehören.  Bei  unbeeinflußter  Entwick- 
lung der  nebeneinander  gelagerten  oberen  Ur- 
mundlippen  könnten  hier  zwei  parallele,  hart 
nebeneinander  verlaufende  Medullarrohre  ent- 
stehen. Da  aber  die  oberen  Urmundlippen  durch 
kein  indifferentes  Material  getrennt  sind,  so  wäre 
eventuell  bei  gegenseitiger  Beeinflussung  eine  ein- 
heitliche Medullarplatte  zu  erwarten  (Typus  I). 

Ein  ganz  anderes  Resultat  erhält  man,  wenn 
zur  Verschmelzung  zufällig  zwei  Keime  gewählt 
werden,  bei  denen  die  erste  Furche  der  Median- 
ebene des  virtuellen  Embryo  entspricht  (Abb.  3). 
Dann  werden  die  Anlagen  der  oberen  Urmund- 
lippe median  gespalten  und  verlagert.  Es  ent- 
stehen zwei  Kombinationen,  beide  haben  eine 
ganze  obere  Urmundlippe  und  zwei  halbe,  die 
jeweils  von  der  ganzen  durch  eine  74"Blästomere 
ventrales  Material  getrennt  sind  und  mit  ihren 
medianen  Punkten  der  Ganzanlage  zugekehrt  sind. 
Hieraus  werden  Embryonen  mit  drei  Neuralrohren 
entstehen,  da  drei  isolierte  Organisationszentren, 
vorhanden  sind  (Typus  II). 

Schließlich  ist  noch  der  Fall  möglich,  daß  bei 
dem  einen  Keim  die  erste  Furche  frontal,  beim 
anderen  median  verläuft  (Abb.  4).  Dadurch  wür- 
den sich  zwei  weitere  Kombinationen  (Typ.  III 
und  IV)  ergeben.  In  Typus  III  würden  an  eine 
ganze  obere  Urmundlippe  links  und  rechts  je  eine 
halbe  mit  ihren  medianen  Bezirken  angrenzen.  Je 
nachdem,  ob  sich  die  Urmundanlagen  unter  gegen- 
seitiger Beeinflussung  entwickeln,  könnte  hier  ein 
Embryo  mit  einem  mehr  oder  weniger  weit  ver- 
schmolzenem ,  dreifachen  Medullarrohr  entstehen 
oder  ein  einheitlicher  Riesenembryo  hervorgehen. 
Bei  Typ.  IV  hätten  wir  drei  durch  ventrales  Ma- 
terial voneinander  isolierte  Anlagen  der  oberen 
Urmundlippen,  mithin  also  drei  Organisations- 
zentren. Hieraus  müßten  sich  Embryonen  mit 
drei  Medullarrohren  entwickeln. 

Von  den  homogenen  Keimverschmelzungen 
erreichten  einige  das  Stadium  der  Neurula,  d.  h. 
die  Anlage  des  Nervensystems.  Unter  diesen 
war  ein  dreiköpfiger  Embryo  mit  drei  selbständi- 


gen Nervensystemen  und  drei  getrennt  verlaufen- 
den Chorden,  der  wahrscheinlich  nach  dem  vierten 
Verschmelzungstypus  entstanden  war.  In  einem 
anderen  Falle  verschmolzen  beide  Keime  zur  Ent- 
stehung eines  einheitlichen  Riesenembryos.  Außer- 
dem —  und  das  ist  das  Wichtigste  —  wurde 
auch  durch  heterogene  Verschmelzung 
zweier  Keime,  nämlich  zweierEier  von 
Tr.  taeniatus  und  alpestris,  ein  Riesen- 
embryo erzielt.     Bei  der  großen  Sterblichkeit 


Typus  II 


.\bb.  3.  a  a  2  normale  Keime,  beide  I.  Furche  median. 
/'  und  c  Doppelkeime  nach  Typus  II  durch  Verschmelzung 
zweier  median  gefurchter  Zweizellenstadien  entstanden.  Blasto- 
merenfolge  I,  3,  2,  4  (Abb.  i)  und  1,  4,  2,  3  (Abb.  c)  er- 
geben dasselbe  Resultat  (nach  Mangold]. 


Typus  111 


Typus  IV 


Abb.  4.     n,  b  Zweizellenstadien  a  mit  medianer  t>  mit  frontaler 
I.  Furche;  c  Typus  III  und  i/ Typus  IV  Verschmelzungen  eines 

median  und  eines  frontal  gefurchten  zweizeiligen  Keims. 

c    Typus    lll.      Blastomerenfolge    i,    3,    2,    4.      d    Typus    IV. 

Blastomerenfülge   I,  4,  2,  3  (nach  Mangold). 

solcher  verschmolzener  Keime  im  Blastula-,  be- 
sonders aber  im  Gastrulastadium ,  darf  es  nicht 
wundernehmen,  daß  nur  wenige  das  Neurula- 
stadlum  erreichten,  aber  auch  diese  wenigen  ge- 
nügen, um  zu  beweisen,  daß  i.  tatsächlich  auch 
zwei  Eier  zu  einem  Riesenembryo  verschmelzen 
können  und  daß  2.  auf  diesem  Wege  schon  im 
jugendlichsten  Stadium  die  Verschmelzung  zweier 
Arten  zur  Bildung  einer  Chimäre  möglich  ist. 
Außerdem  sind  diese  Experimente  deswegen  von 
Bedeutung,  weil  durch  sie  eine  weitere  Bestätigung 
der  Annahmen  über  die  Lokalisation  der  ersten 
Organanlagen  bei  den  Amphibien  erlangt  wurde. 
Auf  einem  etwas  älteren  Stadium  hat  Spe- 
mann  zwei  Keime  zur  Verschmelzung  gebracht. 


402 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Auf  dem  Gastrulastadium  wurden  zwei  möglichst 
verschieden  gefärbte  Keime  von  Tr.  taeniatus 
median  halbiert  und  die  Hälften  nach  Vertauschung 
der  einen  zur  Verheilung  gebracht  (Abb.  5).  Es 
entstand  ein  wohl  proportionierter  Keim,  dem 
man  seine  Zusammensetzung  nur  an  den  ver- 
schieden gefärbten  Keimhälften  ansehen  konnte. 
Solche  Verbandkeime  entwickelten  sich  ganz  nor- 


Abb  s  i^vei  Keime  \on  Triton  taeniatus  zu  Beginn  der 
Oastrulation,  genau  median  gespalten  und  die  Hälften  der 
einen  Seite  ausgetauscht;  es  gehörten  also  ursprünglich  die 
beiden  äußeren  (dunkleren)  und  die  beiden  inneren  (helleren) 
Hälften  zusammen  (nach  Spemann).  In  ähnlicher  Weise 
wurden  die  Gastrulabälften  von  Triton  taeniatus  und  einem 
Bastarde  von  Tr.  taeniatus  und  Tr.  cristatus  ausgetauscht. 

mal  und  konnten  selbst  die  Metamorphose  über- 
stehen. Derselbe  Austausch  von  Gastrulahälften 
wurde  nun  auch  zwischen  Tr.  taeniatus  und  einem 
Bastarde  von  taeniatus  $  ■/  cristatus  ^  ausgeführt, 
Formen,  die  sich  schon  äußerlich  beträchtlich  von- 
einander unterscheiden.  Ungeachtet  dieser  Ver- 
schiedenheiten ließen 
sich  solche  Larven 
trotz  größerer  Sterb- 
lichkeit bis  über  die 
Metamorphose  bringen 
(Abb.  6).  Solche 
Tiere  stellen  eine 
ausgesprochene 
Sektorialchimäre 
dar,  denen  man  ihre 
verschiedene  Herkunft 
nur  wenig  ansieht.  „Im 
Längenwachstum  hat 
ein  völliger  Ausgleich 
zwischen  beiden  Hälf- 
ten stattgefunden, nach- 
dem die  jüngeren  Lar- 
ven häufig  auf  der 
taeniatus  -  Seite  etwas 
eingekrümmt  waren, 
ebenso  scheint  die 
Zeichnung  beider  Kör 
perseiten  dieselbe  zu 
sein.  ...  In  der  Form 
des  Kopfes  und  der 
Beine  dagegen  sind  die 
beiden  Hälften  typisch 
verschieden,  die  linke 
Hälfte  ganz  taeniatus, 
die  rechte  ganz  Rastard. 
Besonders      auffallend 


war  die  verschiedene  Haltung  der  Beine  der  jungen 
Larve,  ganz  derjenigen  der  beiden  Tierarten  ent- 
sprechend. Trotzdem  lebte  dieses  Tier  als  eine 
morphologische  und  physiologische  Einheit,  als 
ein  Individuum."     (Spemann.) 

Unter  Anwendung  einer  anderen  Technik  ge- 
lang Spemann  auch  die  Herstellung  von  Peri- 
klinalchimären.  Das  Grundexperiment,  von  dem 
es  ausging,  bestand  in  folgendem.  Auf  dem 
Stadium  der  beginnenden  Gastrula  wurde  mit 
Hilfe  einer  ganz  fein  ausgezogenen  Pipette  in 
einiger  Entfernung  über  der  oberen  Urmundlippe 
ein  kleiner  Zellpfropf  herausgeschnitten  und  zwar 
im  Bereich  der  zukünftigen  Medullarplatte.  An 
einem  anderen  Keim  derselben  Art  wurde  ein 
ebenso  großes  Stück  aus  dem  Bereich  der  späte- 
ren Epidermis  entnommen,  die  beiden  Stücke 
ausgetauscht  und  wieder  zur  Einheilung  gebracht. 
Waren  die  Keime  von  verschiedener  Farbe,  so 
ließ  sich  die  weitere  Entwicklung  der  ausge- 
tauschten Stücke  noch  einige  Zeit  lang  verfolgen 


.Abb.  0.  Kleiner  Triton  nach 
der  Metamorphose,  links  Triton 
taeniatus,  rechts  Triton  taenia 
tus  9  X  Triton  cristatus  o^ 
entstanden  durch  Zusammen 
Setzung  der  entsprechende!: 
Gastrulahälften  (nach  S  p  e 
mann). 


a  b 

Abb.  7.  a  Keim  von  Triton  taeniatus.  h  Keim  von  Triton 
cristatus,  beide  zu  Beginn  der  Gastrulation.  Zwischen  ihnen 
ein  Stück  Ekloderra  ausgetauscht,  von  Triton  taeniatus  prä- 
sumptive  Medullarplatte,  von  Triton  cristatus  präsumptive 
Epidermis  (nach  Spemann). 

und  ihr  Verhalten  in  der  neuen  Umgebung  gab 
wertvolle  Aufschlüsse.  So  ergab  sich  u.  a. ,  daß 
in  diesen  jugendlichen  Alter  das  Schicksal  der 
einzelnen  Ektodermpartien  noch  nicht  fest  deter- 
miniert sei.  Ektoderm,  das  eigentlich  Medullar- 
platte hätte  liefern  sollen,  oder  wie  Spemann 
sich  ausdrückt  —  präsumptive  Medullarplatte  — 
wurde  in  einer  Umgebung  von  reiner  Epidermis 
selbst  zu  Epidermis,  während  umgekehrt  präsump- 
tive Epidermis  zu  Medullarplatte  werden  konnte. 
Von  diesem  Experiment  ist  es  nur  ein  Schritt 
zu  einem  anderen,  durch  welche  Periklinalchimären 
hergestellt  wurden,  indem  nämlich  der  Austausch 
nicht  zwischen  Keimen  derselben  Art,  sondern 
zweier  verschiedener  Arten  vorgenommen  wurde. 
Als  besonders  geeignet  dazu  erwiesen  sich  die 
Eier  von  Triton  taeniatus  und  cristatus,  von  denen 
die  letzteren  rein  weiß,  die  ersteren  pigmentiert 
sind  (Abb.  7).  In  einem  cristatus- Keim  hebt  sich 
dann  das  eingepflanzte  taeniatus  •  Stück ,  das  prä- 
sumptive Medullarplatte  darstellt,  sehr  deutlich 
von   seiner   Umgebung   ab   und  läßt   sich  bis  ins 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


463 


Larvenleben  äußerlich  und  auf  Schnitten  erkennen. 
In  einem  gegebenen  Falle,  wo  das  Objekt  5  Tage 
nach  der  Operation  konserviert  wurde,  hatte  das 
eingepflanzte  dunkle  Stück  sich  glatt   in  die  Epi- 


..  4- 


'^tt 


des  Mesoderms  und  Entoderms,  oberflächlich 
nebeneinander  liegen,  dem  Eingriff  ohne  weiteres 
zugänglich  sind  und  daher  ausgetauscht  werden 
können.  Erst  durch  später  auftretende  Ein-  und 
Ausstülpungen,  Faltungen  und  Abschnürungen 
werden  sie  in  der  mannigfaltigsten  Weise  durch- 
einander geschoben.  Viele  Organe  sind  deshalb 
aus  Geweben  zusammengesetzt,  die  ursprünglich 
weit  auseinander  lagen  und  daher  leicht  nicht  nur 
entfernt,  sondern  durch  andere  ersetzt  werden 
können.  Es  lassen  sich  dann  daraus  Schlüsse  auf 
die  Bedeutung  der  einzelnen  Bestandteile,  z.  B.  der 
Epidermis  für  die  Ausbildung  des  ganzen  Organes 
ziehen.  Der  Einfluß  der  Epidermis  wird  wahr- 
scheinlich um  so  größer  sein,  eine  je  größere 
Oberfläche  sie  besitzt,  d.  h.  einen  je  größeren 
Bruchteil  die  Gesamtmasse  des  betr.  Organes  sie 
bildet.  S  p  e  m  a  n  n  weist  darauf  hin,  daß  es  auch 
bei  Winklers  Periklinalchimären  die  Blätter  mit 
ihrer  im  Verhältnis  zum  Inhalt  riesigen  Ober- 
fläche sind,  an  denen  der  formative  Einfluß  der 
Epidermis  sich  am  deutlichsten  erkennen  läßt. 
In  dem  oben  erwähnten  Falle  überzieht  nun 
taeniatus-Epidermis  die  Kiemenregion  eines  cri- 
statusKeimes.  Die  Kiemenanlagen  der  beiden 
Seiten  erweisen  sich  nun  als  deutlich  verschieden. 
Auf  der  normalen  cristatus-Seite  bildete  die  ganze 
Kiemenregion  nur  eine  schwache  Vorwölbung, 
während  auf  der  taeniatus  Seite  schon  eine  deut- 
liche Abgliederung  einzelner  Kiemenstummel  zu 
erkennen  ist.  Es  ist  wichtig,  daß  gerade  auf  der 
operierten  Seite  eine  raschere  Entwicklung  statt- 
gefunden hat,  denn  wäre  es  umgekehrt,  so  wäre 
man  geneigt  ein  Zurückbleiben  der  operierten 
Seite   als   eine  Schädigung   durch    die   Operation 


Abb.    8.      Embryo    von    Triton    cristatus    der   Abb.    ^  i,    vun 
rechts,    oben  und  unten  gesehen ;    das  Stück  taeniatus-Epider- 
mis,   noch    scharf    abzugrenzen,    hat    sich    in    einem    langen 
Streifen  ausgezogen  (nach  Spemann). 

dermis  eingefügt  und  bedeckte  nun  als  orts- 
fremdes Hautstück  auf  der  rechten  Seite  die 
Kiemenregion  und  erstreckte  sich  nach  hinten 
und  unten  bis  zur  ventralen  IVlittellinie.  Da  hier 
taeniatus-Gewebe  von  cristatus-Haut  überzogen  ist, 
so  haben  wir  es  tatsächlich  mit  einer,  wenn  auch 
nicht  sehr  ausgedehnten  Periklinalchimärenbildung 
zu  tun  (Abb.  8). 

Dieses  Resultat  ist  nun  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  von  Interesse.  „Da  die  einge- 
heilten Stücke  einerseits  die  Entwicklung  ihrer 
neuen  Umgebung  mitmachen,  als  gehörten  sie 
von  Anfang  an  dahin,  andererseits  aber  sich  deut- 
lich und  dauernd  von  ihr  abheben,  durch  ihre 
andere  Färbung  und  ihren  abweichenden  histo- 
logischen Charakter,  so  können  sie  als  Marken 
dienen,  um  das  spätere  Schicksal,  die  prospektive  '  J 

Bedeutung   bestimmter  Teile   des  jungen  Keimes    Abb.  9.   Triton  aipestris  mit  einer 

zu    erkennen."       (Spemann.)  Manschette     aus     roter     Bauchhaut 

Noch  wichtiger    ist  der  Umstand,    daß    in  der    ^"°  ^r.  aipestris  (nach  Taube). 
Blastula  und  zu  Beginn  der  Gastrulation  noch  die 
verschiedensten    Bezirke    der    Keimblätter,    selbst 


Abb.  10.  Triton  aipestris. 
Nach  der  Amputation  des 
Beines  im  Bereiche  der  roten 
Manschette  ist  ein  pigmen- 
tierter Kuß  regeneriert  wor- 
den (nach  Taube). 


464 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


aufzufassen.  So  muß  die  raschere  Entwicklung 
jedenfalls  auf  die  „spezifischen  Entwicklungs- 
tendenzen der  die  Kiemen  überziehenden  taeniatus- 
Epidermis"  zurückgeführt  werden.  Damit  ist  aber 
gegeben,  „daß  die  Epidermis  bei  der  Bildung  der 
äußeren  Form  der  Kiemenstummel  eine  wichtige, 
vielleicht  die  entscheidende  Rolle  spielt". 

Alle  bisher  geschilderten  Experimente  haben 
das  gemeinsam,  daß  bei  ihnen  die  Transplantation 
in  einem  sehr  jugendlichen  Zustande  vorgenommen 
wurde.  Dieses  erweist  sich  deswegen  als  zweck- 
mäßig, ja  notwendig,  weil  nur  dann  das  ver- 
pflanzte IVIaterial  so  weit  undeterminiert  ist,  daß 
es  den  Einflüssen  der  neuen  Umgebung  zugäng- 
lich ist.  Wird  ausgebildetes  Material  dazu  be- 
nutzt, so  wäre  es  notwendig,  die  Zellen  erst 
wieder  in  einen  mehr  embryonalen,  indifferenten 
Zustand  zu  bringen,  der  sie  zu  neuen  Leistungen 
befähigt.  Dieses  kann  auf  dem  Umwege  über 
die  Regeneration  geschehen.  Eine  Reihe  von 
Experimenten,  bei  denen  an  ausgewachsenen 
Tieren  Chimärenbildung  erzielt  wurde,  hat  Taube 
an  Tritonen  ausgeführt. 

Das  Grundexperiment  bestand  in  folgendem. 
Einem  Exemplare  des  Alpenmolchs,  Triton  al- 
pestris,  wurde  die  rote  Bauchhaut  abpräpariert 
und  auf  das  vorher  enthäutete  Hinterbein  eines 
anderen  Exemplares  gebracht.  Die  Haut  wuchs 
hier  an  und  das  Tier  schwamm  wochenlang  mit 
einer  breiten  roten  Armbinde  oder  Manschette 
versehen  umher  (Abb.  9).  Nach  einigen  Wochen, 
wenn  die  Manschette  mit  ihren  Unterlagen  wie- 
der vollkommen  organisch  verbunden  war,  was 
sich  durch  das  Auftreten  einer  Blutzirkulation 
häufig  einwandfrei  feststellen  ließ ,  wurde  das 
Bein  im  Bereich  der  roten  Manschette  amputiert. 
Es  mußte  nun  Regeneration  eintreten,  wobei  dem 
Regenerat  für  die  Neubildung  seiner'  Epidermis 
nur  die  rote  Bauchhaut  zur  Verfügung  stand.  Das 
Interessante  dabei  ist  nun,  daß  das  Regenerat  von 
vornherein  von  einer  dunklen  Epidermis,  wie  die 
des  normalen  Beines  überzogen  ist  (Abb.  10).  Der 
Einfluß  der  Unterlage,  also  des  neuentstehenden 
Beines  ist  jedenfalls  so  stark,  daß  die  indifferenten 
Zellen  die  bei  der  Wundheilung  von  der  vor- 
handenen Epidermis  gebildet  werden,  sofort  pig- 
mentiert sind.  Nebenbei  bemerkt  tritt  allmähliche 
Pigmentierung  der  Manschette,  bis  zum  voll- 
ständigen Schwarzwerden,  auch  ohne  Amputation, 
nur  viel  später  ein. 

Anstatt  auf  das  Bein  derselben  Art  kann  nun 
die  rote  Bauchhaut  von  alpestris  auf  das  Bein  von 
cristatus  gebracht  werden.  Das  Anheilen  geht 
hier  viel  langsamer  und  schwerer  vor  sich,  weil 
es  sich  hier  ja  um  heteroplastische  Transplantation 
handelt.  In  vielen  Fällen  tritt  aber  eine  voll- 
kommene, glatte  Heilung  ein  und  das  schwarze 
cristatus  Bein  ist  dann  Wochen  und  Monate  mit 
einer  roten  Manschette  von  alpestris  Haut  ver- 
sehen. Auch  hier  tritt  allmählich  ein  Wechsel 
der  Farbe  auf,  es  wandert  Pigment  ein ,  so  daß 
schließlich   die  Manschette   sich  in  ihrer  Färbung 


in  keiner  Weise  von  ihrer  Umgebung  unterschei- 
det. Trotzdem  lassen  sich  auch  dann  noch  bei 
starker  Lupenvergrößerung  die  Grenzen  der  Man- 
schette an  der  feineren  Struktur  der  alpestris-Haut 
gegenüber  der  grobnarbigen  cristatus-Epidermis 
deutlich  erkennen.  Wenn  nun  einige  Wochen 
nach  der  Operation,  während  die  Manschette  noch 
ganz  rot  ist,  das  Bein  unterhalb  des  Keims,  also 
im  Bereich  der  Manschette,  amputiert  wird,  so 
tritt  dasselbe  ein  wie  im  ersten  Falle.  Es  erfolgt 
Regeneration  und  das  Regenerat  muß  die  Zellen 
für  seine  neue  Epidermis  von  den  Wundrändern 
der  vorhandenen  beziehen.  Da  diese  aber  einer 
anderen  Art  angehört,  so  ist  das  Resultat  schließ- 
lich ein  cristatus-Fuß  der  von  einer  alpestris-Haut 
überzogen  ist,  also  eine  richtige  Periklinal- 
chimäre  (Abb.  11).     Das  Resultat  würde   noch 


Abb.  II.  Rechtes  Hinterbein  von  Triton  cristatus  mit  einer 
Manscliette  aus  der  Bauchhaut  von  Tr.  alpestris.  Nach  der 
Amputation  des  Beines  im  Bereiche  der  Manschette  ist  ein 
von  alpestris-Haut  bedeckter  Fufl  regeneriert  worden  (nach 
Taube). 

auffallender  sein,  wenn  die  alpestris- Epidermis 
ihre  spezifische  Eigentümlichkeit  bewahren,  d.  h. 
rot  bleiben  würde.  Aber  auch  hier,  wie  im  vor- 
hergehenden Fall,  ist  das  Regenerat  sofort  von 
pigmentierter  Haut  bedeckt,  so  daß  es  sich  nicht 
so  scharf  von  dem  inzwischen  auch  schwarz  ge- 
wordenen Rest  der  Manschette  unterscheidet. 
Wichtig  ist  nun  der  histologische  Nachweis,  daß 
zur  Zeit  des  Auswachsens  des  Regenerates  die 
alpestris-Manschette  tatsächlich  noch  bestand. 
Obgleich  die  alpestrisZellen,  besonders  wenn  sie 
pigmentiert  sind,  sich  nicht  ohne  weiteres  von 
den  cristatus- Zellen  unterscheiden,  so  lassen  sich 
auf  Schnitten  die  Grenzen  der  Manschetten  meist 
einwandfrei  feststellen.  So  bildet  sich  z.  B.  dort 
wo  die  beiden  Epidermen  zusammenstoßen,  ein 
ringförmiger  Verwachsungswulst,  wodurch  die 
Cutis  unterbrochen  wird.  Höhe  des  Epithels, 
Zustand  der  Drüsen  sind  an  der  Manschette  an- 
ders als  an  der  normalen  cristatus- Haut.  Die 
distale  Grenze  der  Manschette  wird  in  der  ersten 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


465 


Zeit  nach  der  Amputation  dadurch  kenntlich  ge- 
macht, daß  hier  die  Cutis  plötzlich  aufhört  und 
die  Wundfläche  von  unpigmentiertem  Epithel 
bekleidet  ist. 

Das  vorliegende  Experiment  zeigt  nun,  daß 
selbst  die  Haut  eines  ausgewachsenen  Tieres  unter 
Umständen  in  gewissem  Sinne  umwandlungsfähig 
ist,  denn  das  Auftreten  von  Pigment  in  der  Man- 
schette ist  wohl  auf  den  Einfluß  der  veränderten 
Unterlage  und  der  Umgebung  zuzuschreiben.  Viel 
deutlicher  tritt  dieser  Einflu(3  zutage  wenn  durch 
die  Regeneration  die  Zellen  in  einen  indifferenteren, 
gewissermaßen  mehr  embryonalen  Zustand  mit 
vielseitigeren  Potenzen  zurückversetzt  werden. 
Durch  die  Wundsetzung  bei  der  Amputation  wird 
dieser  Zustand  künstlich  hervorgebracht.  Inter- 
essant ist  nun,  daß  in  Fällen,  wo  keine  Wund- 
flächen der  Haut  vorhanden  sind,  der  Organismus 
sie  sich  selbst  schaß"!.  Das  geschah  in  einem  anderen 
Experimente,  das  zwar  zu  keiner  Chimärenbildung 
führte,  theoretisch  aber  wichtig  ist.  Das  ent- 
häutete Bein  von  alpestris  wurde  nach  vorher- 
gehender Amputation  des  Fußes  unter  die  Bauch- 
haut geschoben,  wo  es  auch  anwuchs.  Wenn 
nun  das  Bein  regenerierte,  so  mußte  aus  der 
Mitte  des  Bauches  ein  Fuß  herauswachsen.  Das 
geschah  auch !  Vor  dem  Eintritt  der  Regenera- 
tion bildete  sich  aber  über  der  Spitze  des  Stumpfes 
ein  kleines  Loch  in  der  Bauchhaut.  Dadurch  ent- 
standen prinzipiell  dieselben  Bedingungen,  wie  bei 
den  Manschettentieren  nach  der  Amputation  des 
Fußes,  d.  h.  ein  frischer  Wundrand  der  Bauchhaut, 
von  dem  aus  die  Epidermis  für  den  regenerierenden 
Fuß  geliefert  würde.  In  beiden  Fällen  war  auch 
das  Resultat  dasselbe,  d.  h.  auch  aus  der  Mitte 
des  Bauches  wuchs  im  letzterwähnten  Experiment 
sofort  ein  pigmentierter  Fuß. 


Die  künstliche  Erzeugung  tierischer  Chimären 
hat  sich  als  aussichtsreicher  Weg  auf  dem  Ge- 
biete der  experimentellen  Zoologie  erwiesen.  In 
bezug  auf  Alter,  Herkunft  und  Bedeutung  läßt 
sich,  worauf  Spemann  hinweist,  die  Wahl  der 
zu  komponierenden  Gewebe  viel  genauer  ge- 
stalten, als  bei  den  Pflanzen,  was  für  die  theore- 
tische Auswertung  des  Experimentes  von  großer 
Bedeutung  ist.  Wenn  wir  an  den  Doppelsinn 
des  Wortes  denken,  so  ist  also  die  „Chimäre", 
der  der  Zoologe  nachjagt,  nicht  ein  trügerisches 
Hirngespinst,  sondern  ein  positives  Mittel,  von 
dem  noch  die  Erkenntnis  von  mancherlei  Pro- 
blemen zu  erhoffen  ist. 

Literaturverzeichnis. 

1.  Born,  G. ,  Ober  Verwachsungsversuche  mit  Amphi- 
bienlarven.    (Arch.   Entw.-Mech.   4,    1897.) 

2.  Braus,  H. ,  Einige  Ergebnisse  der  Transplantation 
von  Organanlagen  bei  Bombinatorlarven.  (Verhandl.  Anat 
Gesellsch.   1904.) 

3.  —  — ,  Experimentelle  Beiträge  zur  Frage  nach  de 
Entwicklung  peripherer  Nerven.     (Anat.  Anz.  26,   1905.) 

4.  Crampton,  H.  E.,  An  experimental  study  upon  Le 
pidoptera.     (Arcb.  Entw.-Mech.  9,   1900.) 

5.  Joest,  E.,  Transplantationsversuche  an  Lumbriciden 
Morphologie  und  Physiologie  der  Transplantationen.  (Arch 
Entw.-Mech.  5,   1897.) 

6.  Mangold,  O.,  Fragen  der  Regulation  und  Deter 
minatiun  an  ungeordneten  Furchungsstadien  und  verschmölze 
nen  Teilen  von  Triton.     (Arch.   Entw.-Mech.   47,    1920.) 

7.  Spemann,  H. ,  Experimentelle  P'orschungen  zum 
Determinations-  und  Individualilätsproblem.  (Naturwissen- 
schaften  1919.) 

8.  —  — ,  Die  Erzeugung  tierischer  Chimären  durch  betero- 
plastische  Transplantation  zwischen  Triton  cristatus  und  taeni- 
atus.     (Arch.  Entw.-Mech.  48,   1921.) 

9  Taube,  E.,  Regeneration  mit  Beteiligung  ortsfremder 
Haut  bei  Tritonen.     (Arch.  Entw.-Mech.  49,    1921.) 

10.  Trembley,  Memoires  pour  servis  ä  l'histoire  d'un- 
gense  de  Polypes   d'eau  douce,    1744. 

11.  Wetzel,  G.,  Transplantationsversuche  mit  Hydra. 
(Arch.  mikr.  Anat.  45,   1895.) 


Einzelberichte. 


Die    Folgeerscheinungen   der  Kastration   bei 
den  Skopzen. 

Den  bekannten  Untersuchungen  von  Tandler 
und  Groß  an  Skopzen  reiht  sich  die  Arbeit  von 
W.  Koch  „über  die  russisch  rumänische  Kastraten- 
sekte der  Skopzen"  ')  als  Bestätigung  und  wert- 
volle Ergänzung  der  früheren  Beobachtungen  an. 
Koch  untersuchte  die  Konstitution  von  lo  Skopzen 
und  machte  an  3  weiteren  ergänzende  Fest- 
stellungen. Die  körperlich  untersuchten  10  Skopzen 
befanden  sich  in  einem  Lebensalter  von  50 — 74 
Jahren,  während  die  anderen  30-,  62-  und  94jährig 
waren.  Von  den  ersteren  wiesen  8  den  voll- 
ständigen Mangel  an  Hoden  und  Penis  auf  („großes 
Siegel");  2  dagegen  hatten  noch  einen  Penis 
(„kleines  Siegel"). 

Koch    stellte    bei    allen   Kastraten    vor    allem 


')  Veröffentlichungen   aus  der  Kriegs-  und   Konstitutions- 
pathologie, 2.  Band,  Heft  3,   1921.     G.  Fischer. 


reichliches  Kopfhaar,  aber  mangelhaften  Bart- 
wuchs und  Körperbehaarung,  ferner  lange  Ex- 
tremitäten und  schließlich  eine  besonders  kleine 
Schilddrüse  fest.  Im  übrigen  trennt  er  aber  die 
Skopzen  in  3  Gruppen  (im  Gegensatz  zu  Tandler 
und  Groß,  die  nur  den  mageren,  langen  und 
den  fetten  Typus  unterscheiden) : 

I.  .'annähernd    gewöhnlicher  Typ    von   hagerer 
bis  mittelgroßer  Statur    mit   langen  Extremitäten. 

II.  Typus  mit  hagerem  Riesenwuchs. 

III.  Hypophysärer  Typus  mit  den  Untergruppen: 

A.  Akromegaler  Typ, 

B.  Typus  mit  hypophysärer  Adipositas. 
Die  Skopzen  der  Gruppe  I    wiesen    außer  der 

auffallenden  Länge  der  Extremitäten  eine  deut- 
liche Kyphose  der  Brustwirbelsäule,  ferner  dichtes 
Haupthaar  und  spärlichen  Bartwuchs  auf.  Die  hier- 
von untersuchten  Personen,  die  zugleich  bestimmt  zu 
dieser  Gruppe  zu  rechnen  waren,  sind  voraussicht- 
lich erst  nach  dem  30.  Lebensjahr  kastriert  worden. 


466 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Zur  Gruppe  II  gehört  nur  ein  72jähriger  Skopze, 
der  trotz  Kyphose  von  auffallender  Größe  (182,5  cm) 
war.  Dabei  betrug  die  Beinlänge  loi  cm,  die 
Länge  von  Kopf  und  Rumpf  81,5  cm.  F'erner 
war  langes  Kopfhaar  und  bartloses  Gesicht  fest- 
zustellen. Der  Mann  war  im  11.  Lebensjahr 
kastriert  worden. 

Die  Gruppe  III  ist  wegen  der  Hypophysen- 
befunde vor  allem  interessant.  In  der  akrome- 
galen  Untergruppe  konstatierte  Koch  Hoch  wuchs 
und  zugleich  Kyphose,  ferner  „plumpen  Knochen- 
bau, besonders  dicke  Nase,  kräftige  Kiefer,  große 
F'üße,  guten  Fettansatz,  wenn  auch  nicht  Adi- 
positas,  bei  einem  ausgesprochenen  Genu  valgum 
und  bei  allen  auffallend  große  oder  vertiefte  Sella 
turcica".  Die  Kastration  war  zwischen  1 5  und  26 
Jahren  erfolgt. 

Die  Skopzen  der  Gruppe  mit  hypophysärer 
Adipositas  zeigten  typisch  lokalisierte  Fettent- 
wicklung und  eine  „abgeflachte  bzw.  leicht  ver- 
tiefte Sella".  Die  beiden  Skopzen,  die  diesen 
Typus  am  deutlichsten  darstellten,  sind  im  Alter 
von  II   bzw.  9 — 10  Jahren  kastriert  worden. 

Zwischen  dem  Zeitpunkt  der  Kastration  und 
der  Konstitutionsform  zeigt  sich  ein  ziemlich  ein- 
deutiger Zusammenhang.  Koch  sagt  darüber: 
„Man  kann  also,  meiner  Ansicht  nach,  soweit  das 
immerhin  kleine  Material  es  zuläßt,  sagen,  daß 
bei  früher  Verschneidung  bis  zum  Beginn  der 
Pubertät  sich  entweder  reiner  hagerer  Riesen- 
wuchs oder  hypophysäre  Adipositas  mit  oder 
ohne  eine  gewisse  Hochwüchsigkeit  und  allenfalls 
mit  gewissen  Anzeichen  der  Akromegalie  ent- 
wickelt, und  daß  bei  der  Verschneidung  im  Puber- 
tätsalter und  bis  zum  Abschluß  des  Längenwachs- 
tums, also  etwa  bis  zum  25.  Lebensjahre,  mehr 
die  Zeichen  akromegaler  Konstitution  ohne  be- 
sondere P'ettwüchsigkeit  resultieren".  Aus  den 
Feststellungen  Kochs  geht  also  hervor,  daß  z.  B. 
der  hagere  Riesenwuchs  auf  eine  Kastration  vor 
der  Pubertät  folgt,  daß  ferner  auf  dieselbe  Weise 
der  Typus  der  hypophysären  Adipositas  zustande 
kommen  kann.  Solche  Skopzen,  die  aber  in 
einem  Zeitraum  zwischen  Pubertät  und  Abschluß 
des  Längenwachstums  kastriert  worden  sind, 
neigen  mehr  zur  Akromegalie.  Je  später  dann 
die  Kastration  erfolgt ,  -  desto  geringer  sind  die 
P'olgeerscheinungen,  wie  Gruppe  I  zeigt. 

Im  Zusammenhang  mit  diesen  P'eststellungen 
und  in  Hinblick  auf  die  wechselseitigen  Beziehungen 
der  Blutdrüsen  untereinander  meint  Koch,  man 
könne    in  den  einzelnen  PIpochen  der  Lebenszeit, 

1.  dem  Kindesalter  bis  zum  Eintritt  der  Pubertät, 

2.  dem  Pubertätsalter  bis  zum  Abschluß  des 
Wachstums,  3.  dem  Alter  des  Erwachsenen  bis 
zum  Klimakterium  und  4.  dem  Klimakterium 
und  Senium,  den  einzelnen  endokrinen  Drüsen 
einen  verschieden  großen  Einfluß  auf  den  Körper- 
bau zuschreiben.  So  ist  in  der  ersten  Epoche 
der  Thymus  von  größter  Bedeutung,  während  die 
Keimdrüsen  in  ihrem  Einfluß  noch  zurückstehen. 
In    der    2.  Epoche    dagegen    besitzen    die    Keim- 


drüsen   die    größte    Wirksamkeit.       Aber    in    der 

3.  Epoche  spielt  keine  einzelne  Blutdrüse  eine 
führende  Rolle,  hier  ist  das  Zusammenarbeiten 
aller  Drüsen  von  Wichtigkeit.  In  der  letzten 
Epoche  macht  sich  dann  der  Abbau  der  endo- 
krinen Drüsen,  vor  allem  der  Keimdrüsen ,  be- 
merkbar. Beim  Kastraten  fallt  nun  die  3.  Epoche 
fort,  die  ersten  Epochen  nehmen  einen  größeren 
Zeitraum  ein;    es  beginnt  aber  auch  vorzeitig  die 

4.  Epoche,  die  Vergreisung.  Das  Lebensalter  der 
Kastraten  ist  dadurch  nicht  etwa  abgekürzt,  im 
Gegenteil  ist  gerade  von  den  Skopzen  bekannt, 
daß  sie  meist  ein  hohes  Alter  erreichen.  Es 
handelt  sich  nur  um  eine  Ausdehnung  der  3  be- 
stehenden Epochen  unter  Wegfall  der  3.  Epoche. 

Es  wären  noch  verschiedene  interessante  An- 
gaben Kochs  zu  erwähnen,  so  die  über  Be- 
ziehungen zwischen  Kyphose  und  Kastration,  ferner 
über  das  psychische  Verhalten  der  zwei  Skopzen, 
die  nur  das  „kleine  Siegel"  aufwiesen.  Doch 
würde  das  hier  zu  weit  führen. 

Die  Arbeit  Kochs,  die  mit  guten  photo- 
graphischen Aufnahmen  ausgestattet  ist,  bietet 
neben  ihren  wertvollen  Angaben  über  die  Kon- 
stitution der  Skopzen  viele  neue  Gesichtspunkte 
zur  Beurteilung  der  inkretorischen  Wirksamkeit 
der  Keimdrüsen  und  damit  des  endokrinen  Drüsen- 
komplexes überhaupt.  Wenn  man  bedenkt,  wie 
selten  sich  eine  Gelegenheit  zur  Untersuchung 
von  menschlichen  Kastraten  bietet  und  mit  welchen 
Schwierigkeiten  derartige  Beobachtungen  ver- 
bunden sind,  wird  man  den  Wert  der  Kochschen 
Arbeit  recht  ermessen  können. 

Gustav  Zeuner. 

Der  Pico    de   Orizaba   uiul    der   Sau    Martiu 
de  Tiixtla. 

In  Nr.  13  vom  26.  März  1922  dieser  Zeitschrift 
habe  ich  einen  kurzen  Bericht  über  die  vulkano- 
logische Expedition  Dr.  I.  P^r iedländers  nach 
Mittelamerika  (Mexiko)  —  nicht  wie  irrtümlich  an- 
gegeben Südamerika  —  gebracht,  zu  dem  ich 
korrigierend  nachtragen  muß,  daß  die  Popocate- 
petlersteigung  F"riedländers  nicht  am  15.  F"e- 
bruar,  sondern  am  15.  November  1921  erfolgt 
war.  — 

Nunmehr  liegen  mir  neue  Nachrichten  von 
der  Expedition,  die  Mitte  Juli  beendet  sein  dürfte, 
L.  T.  aus  der  „Deutschen  Zeitung  von  Mexiko" 
(18.  März  1922),  z.  T.  aus  brieflichen  Mitteilungen 
vor.  — 

Nach  diesen  hat  sich  das  Auftreten  eines 
Zentralrohres  in  der  aufsteigenden  Quellkuppe 
des  Popocatepetlkratcrs  durch  eine  starke  Explosion 
am  6.  Januar  1922  bestätigt,  in  deren  Folge  eine 
zentrale  Einsenkung  mit  zentraler  Dampfsäule 
sich  entwickelte.  — 

Mittlerweile  hat  Friedländer  eine  Reihe 
anderer  Vulkane  untersucht.  Zunächst  denOri- 
zaba,  der,  ähnlich  wie  die  anderen  großen  An- 
desitvulkane,    um    seinen  I'^uß  eine  Menge  kleiner 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


467 


Schlackenkegel  zeigt,  aus  denen  vielfach  große 
Basaltströme  ihren  Ursprung  nehmen.  Fr.  hat, 
ohne  den  Gipfel  zu  ersteigen,  den  Vulkan  in 
ca.  4000  m  Höhe  umritten,  und  dabei  eine  Reihe 
Irrtümer  in  den  Darstellungen  der  Physiographie 
und  Topographie  des  Vulkanes  festgestellt.  So 
steht  der  Pik  nicht,  wie  vielfach  angenommen, 
aber  schon  von  Waitz  bestritten  wurde,  in  einem 
sommaartigen  Ringtal,  sondern  wird  von  einer 
Anzahl  selbständiger  Eruptivbauten  umgrenzt. 
Einer  der  bedeutendsten  ist  die  Sierra  Negra  mit 
von  andesltischen  Laven  ausgefülltem  Krater. 

Der  Orizaba  hat  im  Laufe  seiner  Entwicklung, 
ähnlich  wie  der  Popocatepetl  seine  Eruptionsachse 
verlegt.  Reste  der  alten  Kegel  haben  sich  bei 
beiden  Bergen  in  ähnlicher  Form  erhalten. 

Die  Umwanderung  des  Berges  ergab  das  Vor- 
handensein einer  ganzen  Anzahl  kleiner,  frischer 
Lavaströme,  deren  Eruption  von  niemand  be- 
obachtet wurde,  von  denen  Fr.  aber  mindestens 
ein  halbes  Dutzend  den  letzten  100  Jahren  zu- 
schreibt, woraus  sich  ergibt,  daß  der  Berg  durch- 
aus nicht  als  erloschener  Vulkan  anzusprechen  ist. 

Damit  stimmen  Berichte  eines  Ing.  Reut  he 
überein,  welcher  fast  gleichzeitig  mit  Fr.  den 
Berg  besuchte  und  seinen  Gipfel  erstieg.  Da- 
nach hatte  die  Tätigkeit  einer  19 10  am  Außen- 
rande des  Gipfelkraters  von  Waitz  beobachteten 
Fumarole  stark  zugenommen. 

Wenig  bekannt  ist  auch  die  Eruptionsge- 
schichte des  Vulkans  San  Martin  de  Tuxtla. 
Da  seine  beiden  letzten  großen  Eruptionen  1664 
und  1793  stattfanden,  konnte  man  bei  ihm  an 
eine  Ausbruchsperiode  von  ca.  130  Jahren  denken, 
wie  sie  einigen  japanischen  Vulkanen  eigen  ist. 
Danach  wäre  eine  weitere  Eruption  in  nächster 
Zeit  zu  erwarten.  Der  gegenwärtige  Zustand  des 
Kraters  verrät  allerdings  nichts  diesbezügliches. 
Er  ist  nach  Norden  geöffnet,  im  Süden  von  60" 
steilen  Wänden  begrenzt.  Im  Krater  sieht  man 
noch  wohl  erhalten  die  zwei  Eruptionskegel  und 
den  Blocklavaursprung  des  Jahres  1793.  Im 
übrigen  zeichnet  völlige  Ruhe  und  zunehmende 
Bewaldung  die  Gipfelregion  aus. 

Der  San  IWartin  wurde  bisher  teils  als  Einzel- 
vulkan teils  als  Glied  einer  Vulkankette  ange- 
sprochen, und  topographisch  falsch  auf  den  Karten 
wiedergegeben.  Nach  Friedländer  stellt  er 
eine  Vulkangruppe    von    kompliziertem    Bau    dar. 

Im  Anschluß  an  diesen  Vulkan  besuchte  Fr. 
das  große  Eruptionsgebiet,  das  sich  zwischen  der 
Laguna  de  Catemaco  und  dem  Meer  befindet  und 
La  Sierra  de  Acayucan  benannt  ist.  Es  ist 
in  allen  Einzelheiten  noch  unbekannt,  und  be- 
steht entgegen  den  Einzeichnungen  der  Karten, 
die  eine  Bergkette  angeben,  aus  einer  Reihe  ge- 
trennter vulkanischer  Gebirgsstöcke,  deren  einer 
ebenfalls  den  Namen  San  Martin  trägt,  einen 
seinem  Namensvetter  sehr  ähnlichen  Kraterbau 
aufweist,  als  Vulkan  aber  trotz  ähnlicher  Höhe 
dank  seiner  isolierten  Lage  einen  wesentlich  im- 
posanteren Eindruck  macht. 


Vom  erloschenen  Tequilavulkan  hebt  F r. 
eine  zentrale,  ca.  300  m  hohe,  steile  Nadel  aus 
saurem  Eruptivgestein  hervor. 

Endlich  hat  er  noch  den  andesltischen  Colima- 
zwillingsvulkan  besucht,  dessen  südlicher 
Krater  191 3  in  starker  Tätigkeit  war,  jetzt  aber 
(4.  April  1922)  nur  schwache  Fumarolentätigkeit 
zeigte.  ^  Hans  Reck. 

Neues  vom  Rapsrüßler  (Ceutorrhyuchus  assi- 
milis  Payk). 

Ausführliche  Mitteilungen  über  den  Rapsrüßler 
macht  Prof.  Dr.  R.  Heymons  in  der  „Zeitschrift 
für  angewandte  Entomologie"  (Band  VIII,  Heft  i). 
Die  geschilderten  Beobachtungen  beziehen  sich 
auf  Käfer,  die  in  der  Umgebung  von  Berlin  auf- 
traten. Gelegenheit  zu  den  Beobachtungen  bot 
sich  auf  den  beiden  Städtischen  Gütern  Falken- 
berg und  Hellersdorf,  die  je  ein  Rapsfeld  von 
etwa  50  Morgen  Größe  angelegt  hatten  und  die 
ein  überaus  reiches  Material  für  die  Untersuchungen 
lieferten. 

„Der  Ceutorrhynchuskäfer  ist  im  Frühjahr  auf 
den  Feldern  zeitig  zur  Stelle  und  bereits  zu  finden, 
lange  bevor  der  Raps  in  Blüte  steht."  Die  Be- 
obachtungen begannen  im  April,  schon  zu  dieser 
Zeit  machte  sich  der  Befall  durch  den  Rapsrüßler 
stark  geltend.  Durchschnittlich  wurden  auf  jeder 
einzelnen  Rapspflanze  zwei  Ceutorrhynchen  ge- 
sehen. Zu  näheren  Beobachtungen  wurde  eine 
Anzahl  Käfer  eingefangen  und  zu  Hause  in  ein 
Terrarium  eingesetzt.  „Letzteres  bestand  aus 
einem  hohen  Glaskasten,  in  dem  Blumentöpfe 
mit  eingewurzelten  Rapspflanzen  Aufnahme  fanden. 
Die  Ceutorrhynchen  fühlten  sich  unter  diesen  Be- 
dingungen vollkommen  wohl.  Man  sah  sie  emsig 
an  den  Pflanzen  auf  und  nieder  laufen.  Bei  hellem 
Tageslicht  flogen  viele  an  die  Wände  des  Glas- 
kastens, kehrten  aber  auch  freiwillig  wieder  von 
dort  zu  den  Pflanzen  zurück.  An  diesen  waren 
sie  zum  grosen  Teile  eifrig  mit  Nahrungsaufnahme 
beschäftigt."  Die  Käfer  fressen  sowohl  an  Blüten- 
knospen als  auch  an  den  saftreichen  Stengeln, 
und  das  nicht  nur  bei  Tageslicht,  sondern  auch 
nach  Einbruch  der  Dunkelheit.  Beim  Fressen 
klammert  sich  der  Käfer  an  einer  geeigneten 
Stelle  an,  bohrt  den  Rüssel  tief  ein,  so  das  er 
oft  bis  zum  Grunde  in  das  pflanzliche  Gewebe 
dringt.  „In  dieser  Stellung  verharrt  der  Käfer 
längere  oder  kürzere  Zeit  oiTenbar  eifrig  mit 
Saugen  und  Fressen  beschäftigt.  Hat  der  Käfer 
genug,  so  zieht  er  seinen  Rüssel  wieder  hervor, 
um  ihn  aber  mitunter  sogleich  an  einer  anderen 
Stelle  aufs  neue  einzubohren."  Bei  den  ana- 
tomischen Untersuchungen  einiger  Rapsrüßler,  die 
an  Knospen  bohrend  gesehen  worden  waren, 
wurden  im  Darminhalt  neben  Körnchen  ver- 
schiedener Art  auch  pflanzliche  Zellmembranen 
angetroffen.  Heymons  glaubt  daher,  daß  die 
Tiere  „tatsächlich  im  eigentlichen  Sinne  fressen, 
d.   h.   von   dem   bohrenden  Käfer   werden   kleine 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Teile  des  pflanzlichen  Gewebes  mit  den  Mandibeln 
abgerissen  und  verschlungen". 

Die  Entwicklung  der  Geschlechtsorgane  geht 
infolge  der  reichlichen  Nahrungsaufnahme  rasch 
vonstatten.  Bei  einem  IVIännchen,  das  wenige 
Tage  nach  dem  ersten  Auftreten  auf  den  Raps- 
feldern geöffnet  wurde,  fand  man  den  Geschlechts- 
apparat vollkommen  ausgebildet.  Die  Hoden 
waren  reif  und  die  Samenblasen  strotzend  voll 
mit  Sperma  gefüllt.  Auch  die  weiblichen  Keim- 
drüsen waren  zu  dieser  Zeit  schon  weit  ent- 
wickelt. In  Copulastellung  wurden  im  Terrarium 
die  ersten  Käfer  einige  Tage  nach  Beginn  ihrer 
Gefangenschaft  gesehen,  eine  Nachforschung  auf 
den  Rapsfeldern  ergab,  daß  die  Entwicklung  der 
Käfer  im  Freien  mit  derjenigen  von  in  Gefangen- 
schaft gehaltenen  Tieren  Schritt  hielt.  Die  Copu- 
lation  geht  in  der  Weise  vor  sich,  daß  das  Männ- 
chen durch  lebhaftere  Fühlerbewegung  seine  Er- 
regung dem  Weibchen  verrät,  die  nun  ihrerseits 
auf  die  Bewegungen  des  Männchens  reagiert. 
Eine  Copulation  kann  mitunter  stundenlang  dauern. 

Die  Eiablage  des  Weibchens  geht  umständlich 
vonstatten.  Unter  den  im  Terrarium  gehaltenen 
Tieren  gelang  es  ein  Weibchen  zu  beobachten. 
Es  lief  anscheinend  in  gewisser  Erregung  an  einer 
jungen  Rapsschote  auf  und  nieder,  an  einer  Stelle, 
die  es  kurz  vorher  abgetastet  hatte,  begann  es 
mit  einem  Male  eifrig  zu  bohren  und  seinen 
Rüssel  hierbei  immer  tiefer  einzusenken.  Von 
Zeit  zu  Zeit  zog  es  den  Rüssel  hervor,  senkte 
ihn  aber  gleich  wieder  in  dieselbe  Bohröffnung. 
„Ein  Saftaustritt  aus  dem  Bohrloch  fand  nicht 
statt,  und  der  Zweck  des  wiederholten  Einbohrens 
dürfte  vermutlich  darin  bestehen,  daß  das  Weib- 
chen in  dieser  Weise  den  hervorquellenden  Saft 
aufsog  und  die  Wände  des  Bohrkanals  vollständig 
glättete."  Nach  Beendigung  der  mühevollen  Ar- 
beit wendete  es  dem  Bohrloch  seine  Hinterleib- 
spitze zu,  das  Abdomen  wurde  gesenkt  und  der 
bisher  noch  eingestülpt  gebliebene  Legeapparat 
trat  hervor.  „Unmittelbar  hiernach  wurde  die 
Spitze  des  Legeapparates  in  das  Bohrloch  ein- 
gesenkt und  zwei  Minuten  später,  jedenfalls  nach- 
dem die  Ablage  des  Eies  in  der  Tiefe  erfolgt 
war,  endgültig  herausgezogen.  Nach  Einstülpung 
seines  Legeapparats  verließ  das  Weibchen  die 
Schote."  Der  ganze  Vorgang  nahm  18  Minuten 
in  Anspruch.  Die  Zahl  der  Eier  ist  nicht  mit 
Bestimmtheit  ermittelt  worden,  sie  läßt  sich  aber 
ungefähr  abschätzen.  „Denn  da  in  jeder  der  vier 
Eiröhren  ungefähr  15  — 17  Eier  heranreifen,  ab- 
gebrütete Weibchen  aber  nur  noch  etwa  6 — 7 
Eier  in  jeder  Eiröhie  enthalten,  so  wird  die  Ge- 
samtzahl der  von  einem  Weibchen  abgelegten 
Eier  auf  etwa  30 — 40  veranschlagt  werden  können." 

Das  abgelegte  Ei,  das  sich  durch  rundlich- 
ovoide  Gestalt  und  seine  weißlich  glänzende 
Färbung  auszeichnet,  hat  einen  Längsdurchmesser 
von  0,53  mm,  und  einen  Querdurchmesscr  von 
0,27  mm.  Es  ist  so  zart,  daß  es  sich  nur  schwer 
isolieren  läßt  und  so  hinfällig,   daß  es,    sobald  es 


der  Luft  ausgesetzt  wird,  trotz  aller  Vorsicht 
schnell  zugrunde  geht.  Bei  den  Untersuchungen, 
welche  Zeit  die  Eientwicklung  in  Anspruch  nimmt, 
wurde  festgestellt,  daß  die  Eiruhe  durchschnittlich 
8 — 9  Tage  dauert,  die  junge  Larve  also  etwa 
nach  8^2  Tagen  entsteht.  „Es  ist  auch  gelungen, 
den  Vorgang  des  Ausschlüpfens  der  jungen  Larve 
zu  beobachten.  Letztere  durchnagt  von  innen 
her  mit  ihren  Mandibeln  die  Eischale  an  dem 
einen  Eipol.  Das  erste,  was  von  dem  jungen 
Tier  sichtbar  wird,  sind  daher  die  kleinen  sich 
bewegenden  braunen  Kieferspitzchen ,  die  ein 
immer  größer  werdendes  Loch  in  der  Schale  her- 
stellen. Bald  erscheint  der  graue  Kopf  der  Larve, 
die  sich  dann  unter  Krümmungen  ihres  weichen 
Leibes  aus  der  leeren  Schale  herausarbeitet." 
Nach  weiteren  4 — 5  Wochen  durchnagt  die  Larve, 
deren  Nahrung  aus  dem  heranreifenden  Raps- 
samen bestand,  die  Schotenwand  und  läßt  sich 
zu  Boden  fallen,  wo  sie  sich  sofort  in  das  Erd- 
reich einwühlt.  Sie  bleibt  in  etwa  3  cm  Tiefe 
zusammengerollt  in  der  Erde  liegen. 

Die  Verpuppung  geht  innerhalb  der  Erde  in 
kleinen  Puppenwiegen  vor  sich;  die  Puppenruhe 
selbst  währt  10  Tage.  Der  aus  der  Puppe  ent- 
standene Käfer  verläßt  aber  nicht  gleich  die  Stätte, 
sondern  verbleibt  an  Ort  und  Stelle  bis  er  sich 
ausgefärbt  hat.  Erst  dann  arbeitet  er  sich  aus 
seinem  Erdkämmerchen  hervor  und  geht  auf  die 
Nahrungssuche.  Mit  Eintritt  kühlerer  Witterung 
verschwinden  die  Jungkäfer  wieder,  wie  es  scheint, 
suchen  sie  dann  ihre  Winterquartiere  auf.  Es  ist 
aber  nicht  gelungen,  zu  ermitteln,  ob  die  Tiere 
in  der  Erde  oder,  wieBargagli  annahm,  zwischen 
Moos  überwintern.  Ernst  Wilh.  Neumann. 

Homosexualitiit  und  iuut're  Sekretiou. 

Ein  neuer  Fall  von  erfolgreicher  Hodenüber- 
tragung auf  einen  Homosexuellen,  den  E.  Pfeiffer 
in  einer  Abhandlung  unter  dem  Titel:  „Ein  ge- 
heilter Fall  von  Homosexualität  durch  Hoden- 
transplantation" ')  bekannt  gibt ,  veranlaßt  mich 
zu  folgendem  Bericht. 

Wenn  man  in  das  Problem  der  Homosexuali- 
tät mit  Verständnis  eindringen  will,  muß  man 
zunächst  jedes  Werturteil  beiseite  lassen.  Der 
Forscher  muß  jedenfalls  die  Homosexualität  als 
eine  Art  Sexualität  betrachten,  wie  er  ver- 
schiedene Tier-  oder  Pflanzenarten  feststellt,  ohne 
zunächst  von  Werten  zu  sprechen.  Meiner  Mei- 
nung nach  wäre  es  sogar  richtiger,  wenn  man 
Bezeichnungen  wie  „normal"  und  „abnorm"  in 
der  Betrachtung  der  Homosexualität  möglichst 
vermiede.  Von  etwas  Pathologischem  kann 
jedenfalls  keine  Rede  sein.  Schon  Weininger'-) 
vertritt  mit  Entschiedenheit  diesen  Standpunkt: 
„Wer   die  ,sexuellen  Inversionen'  als  etwas  Patho- 


')  Deutsche  Medizinische  Wochenschrift,  Nr.  20,  48.  Jahr- 
gang,  1922. 

^)  „Geschlecht  und  Charakter".  21.  Aufl.  1920.  W.  Brau- 
müller. 


N.  F.  XXI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


469 


logisches  oder  als  eine  scheußlich-monströse  gei- 
stige Bildungsanomalie  betrachtet  (das  letztere  ist 
die  vom  Philister  sanktionierte  Anschauungsweise) 
oder  sie  gar  als  ein  angewöhntes  Laster,  als  das 
Resultat  einer  fluchwürdigen  Verführung  auffaßt, 
der  bedenke  doch,  daß  unendlich  viele  Über- 
gänge führen  vom  männlichsten  Maskulinum  über 
den  weiblichen  Mann  und  schließlich  über  den 
Konträrsexuellen  hinweg  zum  Hermaphroditismus 
spurius  oder  genuinus  und  von  da  über  die  Tri- 
bade,  weiter  über  die  Virago  hinweg  zur  weib- 
lichen Virgo." 

Daraus  geht  schon  hervor,  daß  die  Homo- 
sexualität als  „biologische  Variante"  (Hirsch- 
feld)  zu  betrachten  ist.  Dieser  Auffassung  steht 
die  Meinung  der  Erwerbungstheoretiker  gegen- 
über. Diese  behaupten,  die  Homosexualität  ent- 
stehe entweder  durch  Vermeidung  des  Verkehrs 
mit  Frauen  oder  durch  Verführung.  Die  erste 
Ursache  wird  nur  selten  aufrecht  erhalten;  kein 
heterosexuell  Fühlender  wird  auf  die  Dauer  dem 
Verkehr  mit  Männern  den  Vorzug  geben  oder 
sich  allmählich  an  die  Homosexualität  gewöhnen. 
Was  die  Verführung  anlangt,  so  sprechen  schon 
die  Fälle  von  männlichen  Prostituierten  (die  trotz- 
dem heterosexuell  sind)  gegen  diesen  Grund. 
Hierzu  bemerkt  W  e  i  n  i  n  g  e  r  sehr  treffend :  „Was 
ist  ts  aber  dann  mit  dem  Verführer?  Wurde 
dieser  vom  Gotte  Hermaphroditus  unterwiesen  ? 
Mir  ist  diese  ganze  Meinung  nie  anders  vor- 
gekommen, als  wenn  jemand  die  , normale'  se- 
xuelle Hinneigung  des  typischen  Mannes  zur 
typischen  Frau  als  künstlich  erworben  ansehen 
wollte  und  sich  zur  Behauptung  verstiege,  diese 
gehe  stets  auf  Belehrung  älterer  Genossen  zurück, 
die  zufällig  einmal  die  Annehmlichkeit  des  Ge- 
schlechtsverkehrs entdeckt  hätten."  Daß  die 
Gründe  für  die  Homosexualität  viel  tiefer  liegen, 
geht  auch  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  das 
gleichgeschlechtliche  Fühlen  vor  der  Pubertät 
keinen  bestimmenden  Einfluß  auf  die  spätere 
sexuelle  Einstellung  haben  kann,  da  ja  die  Homo- 
sexualität sonst  viel  weiter  verbreitet  sein  müßte.  ^) 
Von  größter  Bedeutung  ist  die  Erfolglosigkeit 
jeder  Behandlung  auf  hypnotischem  oder  sugge- 
stivem Wege.  Dagegen  mehren  sich  die  Fälle, 
in  denen  eine  operative  Behandlung  von  Erfolg 
begleitet  ist.  Die  Homosexualität  hat 
nämlich  allem  Anschein  nach  ihren 
Sitz  nicht  im  Gehirn,  sondern  in  den 
Keimdrüsen.  Jede  Keimdrüse  ist  von  anderer 
Konstitution  und  übt  bei  jedem  Menschen  daher 
eine  andere  Wirkung  auf  inkretorischem  Wege 
auf  die  Psyche  aus.  So  sind  biologisch  die 
sexuellen  Zwischenstufen  erklärt,  die  schon  Wei- 
n  i  n  g  e  r  seiner  Arbeit  über  „Geschlecht  und  Cha- 
rakter" zugrunde  gelegt  hat.  Er  sagt  dort  über 
die  Homosexualität:  „Das  konträre  Geschlechts- 
gefühl wird  so  für  diese  Theorie  keine  Ausnahme 

')  An  dieser  Stelle  sei  auf  die  trefflichen  Ausführungen 
von  R.  Gaupp  über  „Das  Problem  der  Homosexualität" 
verwiesen  (Klinische  Wochenschrift,  Nr.  21,   I.  Jahrg.,    1922). 


von  dem  Naturgesetze,  sondern  nur  ein  Spezial- 
fall desselben." 

Seit  einiger  Zeit  fordern  vor  allem  R  o  h  1  e  d  e  r 
und  Hirsch  fei  d  die  operative  Behandlung  der 
Homosexuellen.  Rohleder  vertritt  seinen  Stand- 
punkt vor  allem  in  der  kleinen  Abhandlung  über 
„Moderne  Behandlung  der  Homosexualität  und 
Impotenz  durch  Hodeneinpflanzung" ')  sehr  ent- 
schieden. Er  geht  von  der  St einachschen 
Pubertätsdrüsenlehre  aus  und  schlägt  vor,  dem 
männlichen  Homosexuellen  Hodengewebe  hetero- 
sexuell Fühlender  einzupflanzen.  Er  sagt:  „Wir 
wissen,  daß  hierdurch  nicht  bloß  eine  somatische, 
sondern  auch  eine  psychische  Veränderung  vor 
sich  geht,  daß  dadurch  auch  der  Sexualtrieb  dem- 
entsprechend umgeändert  wird."  Ferner  weist 
Rohleder  darauf  hin,  daß  zur  Einpflanzung  die 
entfernten  Hoden  von  Kryptorchen  (Personen, 
deren  Hoden  an  der  ursprünglichen  embryonalen 
Stelle  in  der  Bauchhöhle  geblieben  sind)  ver- 
wendet werden  könnten.  Er  sagt  weiter  sehr 
richtig :  „So  dürfte  z.  B.  in  Berlin  mit  seinen 
großen  chirurgischen  Kliniken  einerseits  und  der 
Zentralstelle  für  Homosexuelle,  dem  wissenschaft- 
lich-humanitären Komitee  andererseits  eine  solche 
wechselseitige  Verständigung  nicht  allzu  schwer 
und  in  Zukunft  doch  von  manchen  segensreichen 
Erfolgen  begleitet  sein."  Man  hat  nun  tat- 
sächlich Hodeneinpflanzungen  bei  Homo- 
sexuellen  vorgenommen.  Sehr  bekannt 
sind  die  Lichtenstern sehen  Fälle.  Hier  wurden 
Homosexuellen  die  „normalen"  Hoden  von  Krypt- 
orchen eingepflanzt,  und  es  ergab  sich  stets  ein 
voller  Erfolg  der  Behandlung :  nämlich  die  Ände- 
rung der  Triebrichtung.  Auch  andere  Forscher 
haben  Erfolge  erzielt,  andere  wieder  berichten 
über  negative  Resultate.  Daß  aber  überhaupt 
Erfolge  erzielt  wurden,  ist  schon  ein  Beweis  da- 
für, daß  die  Keimdrüsen  ausschlaggebend  sind. 
Einige  Autoren  glauben  aber  noch  an  eine  sug- 
gestive Beeinflussung  der  Operierten,  obwohl  die 
Erfolglosigkeit  der  suggestiven  Behandlung  er- 
wiesen ist.-) 

An  dieser  Stelle  sei  über  den  eingangs  er- 
wähnten Fall  berichtet,  in  dem  die  Richtung  des 
Geschlechtstriebes  eines  Homosexuellen  durch 
Einpflanzung  eines  Hodens  von  einem  Hetero- 
sexuellen geändert  worden  ist.  Pfeiffer  hat 
den  Homosexuellen  —  im  Gegensatz  zu  Lichten- 
stern —  nicht  kastriert,  sondern  ihm  ohne 
weiteres  einen  Hoden  implantiert.  Der  Operierte 
wußte  von  der  Implantation  nichts;  es  wurde  ihm 
nur  von  der  Operation  eines  Bruches  Mitteilung 
gemacht.  Jeder  suggestive  Einfluß  ist  also  aus- 
geschlossen. Der  Erfolg  war  unzweideutig.  Nach 
6  Wochen  stellte  sich  der  Operierte  vor:  voll- 
ständig heterosexuell.  Vor  der  Operation 
war  er  total  homosexuell.    Ein  Strafverfahren  war 


')  Berliner  Klinik,  Heft  322,   1917. 

^)  Z.  B.  Rom  eis  in  seinem  Referat  „Geschlechtszellen 
oder  Zwischenzellen?"  (Klinische  Wochenschrift,  Nr.  19 — 21, 
I.  Jahrg.,   1922). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gegen  ihn  auf  Grund  §175  anhängig,  wurde  aber 
wegen  Volltrunkenheit  des  Angeklagten  während 
der  strafbaren  Handlungen  aufgehoben.  In  seinen 
Träumen  spielten  nur  von  ihm  geliebte  IVIänner- 
gestalten  eine  Rolle.  F"rauen  gegenüber  hatte  er 
Ekelempfindungen.  Von  alledem  war  nichts  mehr 
nach  der  Operation  vorhanden.  Wir  haben  also 
hier  einen  schlagenden  Beweis  für  die  Wichtig- 
keit der  Keimdrüsen  vor  uns.  Die  Möglichkeit, 
daß  die  Triebrichtung  sich  wieder  ändert,  besteht 
meiner  IVIeinung  nach  fort.  Aber  —  wenn  auch 
kein  Dauererfolg  erzielt  worden  wäre  —  die  Um- 
wandlung    nach     Einpflanzung     des     „normalen" 


Hodens  ist  ein  Beweis   für  die  entscheidende  Be- 
deutung der  Keimdrüsen. 

Die  Lehre  von  der  inneren  Sekretion  (hier  die 
der  Keimdrüsen)  ist  es  wieder,  die  eine  Änderung 
oder  Verdrängung  alter  Anschauungen  nötig 
macht.  Für  die  Erforschung  der  Homosexualität 
ist  meiner  Ansicht  nach  vor  allem  eine  weitere 
Klärung  der  Beziehungen  zwischen  Psyche  und 
Inkretion  von  größter  Bedeutung,  wie  überhaupt 
die  Psychologie  von  selten  der  Inkretionslehre  in 
nächster  Zukunft  die  meisten  Erfolge  zu  erwarten 
haben  wird. 

Gustav  Zeuner. 


Bücherbesprechuiigen. 


Fischer,  Emil,  Aus  meinem  Leben.  Berlin 
1922,  Julius  Springer.  75  IVl. 
Vor  dem  Titel  befindet  sich  ein  schönes  Bild 
des  großen  Chemikers.  Die  linke  Gesichtshälfte 
ein  würdiger  Ausdruck  für  den  tiefgründigen, 
strengen  Forschergeist  des  Dahingegangenen. 
Deckt  man  sie  zu,  so  meint  man  einen  völlig 
andersartigen  Menschen  zu  erblicken:  den  humor- 
vollen, trinkfesten  Rheinländer,  der  mitten  in 
dieser  Welt  lebte  und  all  ihrer  bunten  Ablenkung 
von  stiller  Gelehrtenarbeit  spielend  Herr  wurde. 
Dieser,  also  der  Mensch  Emil  Fischer 
berichtet  hier  ,,aus  seinem  Leben".  Das  Persön- 
liche überwiegt  also  in  diesem  Buche  durchaus. 
Freilich  handelt  es  sich  um  eine  ganze  Persönlich- 
keit, in  deren  Bannkreis  wiederum  eine  solche 
Fülle  bedeutender  Männer  trat,  daß  die  Schilde- 
rung rein  sachlich  fesseln  müßte.  Zudem  aber 
ist  das  Buch  mit  der  bekannten  Meisterschaft 
1^'isc  herscher  Darstellungskunst  geschrieben, 
daß  auch  formell  selbst  hohe  Ansprüche  befriedigt 
werden.  Berichterstatter  bekennt,  daß  ihn  selten 
Lebenserinnerungen  eines  Mannes  der  Wissenschaft 
derart  gefesselt  haben  wie  diese.  Man  braucht 
durchaus  nicht  Chemiker  zu  sein,  um  diesen  Ein- 
druck von  dem  vorliegenden  Buche  zu  gewinnen. 
Es  ist  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Biologie  großer 
Männer.  Andern  Ortes  mag  mehr  darüber  gesagt 
werden.  Hier  kann  es  sich  nur  um  eindringlichste 
Empfehlung  der  (nicht  ganz  vollendeten)  Er- 
innerungen handeln. 

Das  sehr   gut   ausgestattete  Buch  enthält  drei 
schöne  Bildnisse  Emil  Fischers.       H.  Heller. 


V.  Horvath ,  Clemens,  Raum  und  Zeit  im 
Lichte  der  speziellen  Relativitäts- 
theorie. Versuch  eines  synthetischen  Auf- 
baues der  speziellen  Relativitätstheorie.  Berlin 
1921,  Springer.     12  M. 

Die  meisten,  namentlich  die  älteren  Darstel- 
lungen der  Relativitätstheorie  waren  offensichtlich 
bemüht,  dem  Leser  eine  Vorstellung  von  der  neuen 
Lehre  dadurch  zu  geben,  daß  sie  allzu  sehr  die 
aus  dem  herkömmlichen  Rahmen  schroff  heraus- 


fallenden Ergebnisse  in  möchlichst  paradoxer  Form 
hervorhoben.  Diese  Methode  ist,  besonders  für 
den  Anfang,  psychologisch  verständlich ,  hat  aber 
den  großen  Nachteil ,  die  neue  Lehre  historisch 
zu  isolieren  und  das  Falsche  der  bisherigen  Vor- 
stellung allzusehr  und  zwar  auf  Kosten  des  auch  in 
ihr  noch  weiterhin  Gültigen  hervorzuheben.  Unser 
Autor  geht  in  seiner  mit  großer  Darstellungskraft 
äußerst  klar  geschriebenen  und  auch  für  den  nicht 
übertrieben  mathematisch  geschulten  Naturwissen- 
schaftler vollauf  verständlichen  Abhandlung  einen 
grundsätzlich  anderen  Weg.  Von  irgendwelchen 
Paradoxien  der  neuen  Theorie  merkt  man  bei  ihm 
gar  nichts  mehr.  Im  Gegenteil  erscheinen  die 
neuen  Resultate  als  vollkommen  organisch  ge- 
wachsen und  konsequente  Folgerungen  aus  phy- 
sikalischen Gedankenmotiven,  die  als  solche,  wenn 
auch  in  falscher  oder  unzulänglicher  Formulierung, 
auch  schon  in  der  klassischen  Physik,  zum  Teil 
allerdings  auch  unausgesprochen ,  wirksam  sind. 
Schritt  für  Schritt  baut  er  die  neue  Theorie  syn- 
thetisch vor  uns  auf,  manchen  Begriff  erheblich 
über  das  bisher  Geleistete  hinaus  klärend  und 
schärfer  definierend,  z.  B.  den  des  Inerlialsystems, 
den  Trägheitssatz,  das  Synchronisierungsverfahren 
der  Uhren  u.  a.  Am  Schlüsse  wundern  wir  uns 
so  viel  mehr  darüber,  daß  man  solange  an  den 
alten  Lehren  gehangen  hat,  als  über  das  sonst  so 
paradoxe  Neue. 

Sehr  beachtenswert  ist  auch  der  Gedanke,  den 
V.  Horvath  über  das  Verhältnis  der  Kanti- 
schen Lehren  zur  Relativitätstheorie  äußert.  Wäh- 
rend die  bisher  geäußerten  Ansichten  entweder 
dahin  gehen,  daß  die  Kantische  Lehre  von  der 
Relativitätstheorie  gar  nicht  berührt,  also  auch 
nicht  widerlegt  wird  (S ellin  u.  a.),  oder  daß  sie 
von  dieser  direkt  widerlegt  worden  ist  (Reichen- 
bach),  vertritt  V.  Horvath  den  Standpunkt,  daß 
die  Relativitätstheorie  gleichsam  nur  ein  spezieller 
Fall  der  Kan tischen  Doktrin  sei.  Wenn  das 
auch  wohl  etwas  zu  weit  geht,  so  muß  man 
meines  Erachtens  Kant  doch  als  einen  bedeuten- 
den Vorläufer  der  Relativitätstheorie  ansehen  (wie 
übrigens  auch  Otto  Liebmann).    Man  braucht 


N.  F.  XXI.  Nr.   34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


471 


nur  in  den  bekannten  Formulierungen  Kants 
statt  „Formen  unserer  Anschauung"  zu  sagen : 
„Formen  unseres  jeweiligen  Bezugssystems",  so 
springt  die  Ideeverwandtschaft  eklatant  in  die 
Augen.  —  Alles  in  allem  wird  niemand  an  der 
Abhandlung  v.  Horvaths  vorbeigehen  dürfen, 
der  sich  forschend  oder  lehrend  mit  der  Relativi- 
tätstheorie befaßt.  Adolf  Meyer  (Hamburg). 


von  Montgelas,  Gräfin  Elisabeth,  Tierge- 
schichten. Leipzig  1922,  E.  Haberland.  Geh. 
60  iVI.,  geb.  80  M. 
Wenn  man  als  Tierfreund  und  Zoologe  jahr- 
zehntelang täglich  mit  Tieren  verkehrt  hat,  greift 
man  zu  populären  Tiergeschichten  nur  höchst 
ungern,  da  man  schon  weiß,  was  einem  bevor- 
steht. Das  vorliegende  Buch  erwies  sich  indes  zu 
meiner  Freude  als  eine  der  seltenen  Ausnahmen. 
Die  Verf  ist  eine  gewandte  und  mutige  Reiterin 
und  Jägerin  und  besitzt  durch  ihren  Verkehr  mit 
Tieren  aller  Art  von  Jugend  auf  hervorragende 
tierpsychologische  Kenntnisse.  Eine  außergewöhn- 
liche Liebe  zu  den  Tieren,  hervorragende  Be- 
obachtungsgabe und  ein  Vermögen,  die  feinen 
Unterschiede  der  einzelnen  Tierpersönlichkeiten 
zu  empfinden  und  sich  in  das  Wesen  der  so  ver- 
schiedenartigen Individuen  einer  Art  oder  Rasse 
einzufühlen,  ermöglichten  es  der  Verf,  mit  den 
schwierigsten  Charakteren  ohne  Gewalt  fertig  zu 
werden.  Daß  sie  die  am  Schreibtisch  ausgedachten 
Theorien  von  den  Augen-  und  Nasentieren,  von 
dem  Überkreuzungs-„Gesetz"  usw.,  die  höchst  ein- 
seitig übertrieben  werden,  auf  Grund  ihrer  aus- 
gedehnten Praxis  auf  ein  IVIinimum  reduziert,  ist 
sehr  erfreulich.  Die  zahlreichen  Einzelbeobach- 
tungen, an  Katzen,  Hunden,  Affen,  Pferden  usw. 
werden  den  Tierpsychologen  sehr  willkommen 
sein.  In  dem  Haß  gegen  die  Tierquäler  stimme 
ich  ganz  überein,  ebenso  hinsichtlich  der  Be- 
merkungen über  die  Tierschutzgesetze.  F~rei  von 
Sentimentalität  einerseits  und  von  menschlichen 
Hochmut  gegenüber  dem  Tier  andererseits  schil- 
dert die  Verf.  ihre  Anteilnahme  an  den  P'reuden 
und  Leiden  ihrer  Lieblinge.  Diese  Tiergeschichten 
sind  zu  empfehlen.  —  Leider  sind  die  beigegebenen 
Autotypien  recht  mäßig  —  „Bobby,  maskiert", 
S.  38,  ist  zudem  nicht  gerade  geschmackvoll  — 
und  verteuern  zweifellos  das  sonst  schön  aus- 
gestattete Buch  unnötigerweise. 

Dr.  Anton  Krauße. 


Weil,  Arthur,   Die  innere  Sekretion.    Eine 
Einführung  für  Studierende  und  Ärzte.    Zweite, 
verbesserte  Auflage.     IVlit  45  Textabbildungen. 
Berlin  1922,  Julius  Springer. 
Wie  man  beim  Erscheinen  der  ersten  Auflage 
mit  Bestimmtheit   erwarten  konnte,    hat    sich    die 
Weilsche   Einführung    in    die    innere    Sekretion 
vortrefflich   bewährt.      Schon    nach  Verlauf  eines 
Jahres    ist    eine    zweite    Auflage    erschienen,    die 
durch    Hinzufügung    neuer    Ergebnisse    und    Ver- 
mehrung der  Textabbildungen  erweitert  und  ver- 


bessert worden  ist.  Ein  solcher  Erfolg  ist  zweifel- 
los der  Stoffbehandlung  zu  verdanken,  die  zum 
erstenmal  auf  einer  allgemein-physiologischen  Basis 
ruht.  Diese  Darstellungsweise  wird  auch  ferner 
dem  Buche  berechtigte  Zustimmung  sichern.  Eine 
wesentliche  Bereicherung  des  Tatsachenmaterials 
bilden  die  Ergebnisse  der  Körpermessungen  von 
Weil  selbst,  die  in  das  Kapitel  über  den  Ge- 
schlechtstrieb aufgenommen  worden  sind.  —  Auch 
die  neue  Auflage  des  Buches  ist  hervorragend 
ausgestattet.  Eine  spanische  und  eine  russische 
Übersetzung,  die  sich  unter  der  Presse  befinden, 
bezeugen  das  Interesse,  das  für  das  Werk  vor- 
handen ist.  So  wird  die  Weilsche  Einführung 
auch  in  Zukunft  für  Studierende  und  Ärzte  von 
besonderer  Bedeutung  bleiben. 

Gustav  Zeuner. 


Fehringer,  Prof.  Dr.  O. ,  Die  Singvögel 
Mitteleuropas.  Mit  96  farbigen  Tafeln  und 
17  Textabbildungen.  Heidelberg,  Carl  Winter. 
50  M. 

Das  handliche,  geschmackvoll  ausgestattete 
Büchlein  enthält  neben  der  Beschreibung  der 
Singvögel  Mitteleuropas  allgemeine  Abschnitte 
über  die  Naturgeschichte  der  Singvögel,  ihre 
Lebensweise,  ihren  Gesang,  ihren  Zug,  über  den 
Vogelschutz,  über  Vogelkäfige,  über  das  Futter 
sowie  überhaupt  über  das  Halten  von  Vögeln. 
Den  Einzelbeschreibungen  ist  eine  systematische 
Übersicht  vorausgeschickt,  wo  über  die  wissen- 
schaftliche Benennung  unterrichtet  wird.  Den 
Hauptwert  des*  Büchleins  machen  nun  die  96 
farbigen  Bilder  aus;  sie  sind  auf  die  Vorder-  und 
Rückseite  von  48  Blättern  verteilt,  die  von  je 
zwei  Seiten  Text  unterbrochen  werden.  So  hat 
man  unmittelbar  nebeneinander  Text  und  Be- 
schreibung. Letztere  beschränkt  sich  auf  Angaben 
über  Vorkommen,  Lebensweise  und  Benehmen, 
Gesang,  Nestbau,  das  Gelege  und  die  Jungen.  Die 
von  Walter  Heubach  gemalten  und  in  Drei- 
farbendruck wiedergegebenen  Aquarelle  zeigen  die 
Vögel  auf  einem  ansprechenden  charakteristischen 
Hintergrund  und  sind  durchweg  sehr  gut.  Das 
kleine  Vokabularium  am  Schlüsse  gibt  die  Ab- 
leitung der  wissenschaftlichen  Namen.  Der  Preis 
ist  in  Anbetracht  der  großen  Zahl  der  schönen 
Bilder  mäßig.  Miehe. 


Pfeiffer,   Prof   Dr.  Paul,    Organische    Mole- 
külverbindungen.    Stuttgart  1922.     Ferdi- 
nand Enke. 
Das    vorliegende,    etwa    290  Textseiten    um- 
fassende Werk  stellt  die  erste  zusammenfassende, 
methodisch    geordnete    Besprechung    organischer 
Molekülverbindungen    dar,    d.  h.    solcher  Verbin- 
dungen, die  sich  aus  Molekülen,   die  an  sich  „ge- 
sättigt"    erscheinen,     durch    Anlagerung     bilden. 
Hierher  gehören  also    letzten  Endes   alle  Verbin- 
dungen,   die    ein     oder    mehrere    Moleküle    des 
Kristallisationsmittels  in  ihrer  Formel  beherbergen, 
wie    Hydrate,    Alkoholate    usw.      Natürlich    sind 


472 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXL  Nr.  34 


nicht  alle  diese  Verbindungen  aufgezählt,  sondern 
es  sind  die  wichtigsten  Vertreter  der  einzelnen 
Gattungen  solcher  Molekülverbindungen  genannt 
und  kurz  gekennzeichnet.  Dazu  ist  eine  Fülle 
von  Literaturstellen  aufgeführt.  Für  den  Chemiker 
von  Fach  (nur  für  diesen  1)  handelt  es  sich  um 
eine  um  so  wertvollere  Darstellung,  als  die  ge- 
samten IVIitteilungen  und  Auseinandersetzungen 
einheitlich  von  den  Gedanken  der  Wernerschen 
Koordinationstheorie  getragen  sind.  Der  hohe 
systematische  Wert  dieser  Lehre  tritt  hier  auf- 
fällig in  die  Erscheinung.  Weniger  ihr  Erkennt- 
niswert. Denn  was  eigentlich  „Haupt-"  und 
„Nebenvalenzen"  unterscheidet,  vermag  auch  dieses 
Buch  nicht  zu  sagen.  Es  bleibt  in  dieser  Hinsicht 
bei  Werner  stehen.  Am  augenfälligsten  wird 
dies  gelegentlich  der  Besprechung  der  Walden- 
schen  Umkehrung  (S.  275  ff.).  Hier  ist  von  der 
einfachsten  und  dem  Wesen  dieser  merkwürdigen 
Reaktion  wohl  am  nächsten  kommenden  Theorie 
Starks  mit  keinem  Wort  die  Redel  Auch  der 
Streit  zwischen  Kehrmann  und  Hantzsch 
(S.  151)  wird  ohne  Stellungnahme  lediglich  refe- 
riert. Hinwiederum  fehlt  bei  Erwähnung  der  Ver- 
bindung aus  Azeton  und  Kalium  hydroxyd  (S.  71) 
die  theoretisch  wichtige  Arbeit  von  Dehn  und 
Merling  (vgl.  Natw.  Wochenschr.,  N.  F.,  XX, 
S.  297,  192 1).  Dem  letzten  Ziel  des  „Erkennen- 
woUens"  wird  auch  rein  sachlich  wenig  gedient 
durch  die  leider  oft  genug  gar  so  unbestimmten, 
vieldeutigen  Angaben  der  Autoren  über  die  Eigen- 
schaften der  von  ihnen  beschriebenen  Stoffe.  Die 
spekulativ  so  sehr  herangezogene  Farbe  beispiels- 
weise wird  noch  heute  in  fast  allen  Fällen  mit 
Vulgärausdrücken  ohne  jegliche  exakte  Umgren- 
zung der  Mitwelt  überliefert.  Man  sehe  sich  etwa 
die  Seiten  236  und  237  des  Buches  an:  orange- 
gelb, blaßgelb,  goldgelb,  gelb,  gelblich,  kanarien- 
gelb (!),  orangegelb  usw.  —  diese  Farbbezeich- 
nungen stehen  unmittelbar  nebeneinander.  Ver- 
gebens fragt  man  sich,  wie  hier  eine  Auswertung 
der  Farbe  noch  exakt  sein  kann.  Selbstverständ- 
lich fällt  dieser  Umstand  nicht  dem  Verfasser  des 
Buches  zur  Lastl  Auch  soll  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  beispielsweise  Kehrmann  in  der 
Regel  die  Absorptionskurven  farbiger  Stoffe  mit- 
teilt. H.  Kauffmann  hat  einzelne  Farben  sogar 
nach  Ostwald  gemessen. 

Das  Buch  stellt  eine  beträchtliche  Arbeits- 
leistung dar,  die  man  um  so  dankbarer  anerkennen 
wird,  als  solche  registrierenden  Vorarbeiten  an 
sich  den  Ruhm    ihres  Urhebers    nicht  zu  mehren 


pflegen,  obwohl  sie  von  Vorwärtsstrebenden  gern 
als  Materialfundgrube  benutzt  werden.  Möchten 
sich  insbesondere  die  jüngeren  Benutzer  des  reich- 
haltigen Buches  bewußt  werden,  welch  emsiger 
Kleinarbeit  es  bedurfte,  den  breiten  Inhalt  dieses 
Buches  zur  fruchtbaren  Benutzbarkeit  gebracht  zu 
haben.  Dann  hat  dieses  „Arbeitsbuch"  in  zwie- 
facher Hinsicht  Segen  gestiftet.  H.  Heller. 

Literatur. 

Abderhalden,  Prof.  Dr.,  Handbuch  der  biologischen 
Arbeitsmelhoden.  Abt.  V;  Methoden  zum  Studium  der  Funk- 
tionen der  einzelnen  Organe  des  tierischen  Organismus, 
Teil  3B,  Heft  l,  Lieferung  62.  Untersuchung  der  Funktionen 
bestimmter  Organe.  Exstirpation  und  Verpflanzung  bestimmter 
Organe.  Berlin-Wien  '22,  Urban  &  Schwarzenberg.  Brosch. 
70  M. 

Abderhalden,  Prof.  Dr.,  Handbuch  der  biologischen 
Arbeitsmethoden.  Abt.  V;  Methoden  zum  Studium  der  Funk- 
■  lionen  der  einzelnen  Organe  des  tierischen  Organismus, 
Teil  5  A,  Heft  i,  Lieferung  63.  Methoden  der  Muskel-  und 
Nervenphysiologie.  Untersuchungen  an  Muskeln  und  Nerven. 
Berlin- Wien   '22,  Urban  ^;  Schwarzenberg.     Brosch.   120  M. 

Schenking,  Sigm.,  Nomenciator  Coleopterologicus. 
Eine  etymologische  Erklärung  sämtlicher  Gattungs-  und  Art- 
naraen  der  Käfer  der  deutschen  Fauna  sowie  der  angrenzen, 
den  Gebiete.  2.  Aufl.  Jena  '22,  Gustav  Fischer.  Brosch- 
95  M.,  geb.   125  M. 

Dahl,  Prof.  Dr.  Friedr.,  Vergleichende  Psychologie  oder 
die  Lehre  von  dem  Seelenleben  des  Menschen  und  der  Tiere. 
Jena  '22,  Gustav  Fischer.     Brosch.  35  M.,    geb.  62  M. 

Hertwig,  Oscar,  Das  Werden  der  Organismen.  Zur 
Widerlegung  von  Darwins  Zufallstheorie  durch  das  Gesetz  in 
der  Entwicklung.  3.  Aufl.  Jena  '22,  Gustav  Fischer.  Brosch. 
200  M.,  geb.  240  M. 

Po  hie,  Prof.  Dr.  Jos.,  Die  Sternenwelten  und  ihre  Be- 
wohner. 7.  Aufl.  Köln,  J.  B.  Bachern.  Brosch.  125  M., 
Geb.   150  M. 

Lewin,  Kurt,  Der  Begriff  der  Genese  in  Physik,  Bio- 
logie und  Entwicklungsgeschichte.  Berlin  '22,  Julius  Springer. 
Brosch.   136  M. 

Monographien  aus  dem  Gesamtgebiet  der  Physiologie  der 
Pflanzen  und  der  Tiere.  I.  Band:  Michaelis,  Dr.  Leonor, 
Die  Wasserstoffionen- Ivonzentration.  2.  Aufl.  Teil  1:  Die 
theoretischen  Grundlagen.  Berlin  '22,  Julius  Springer.  Brosch. 
69  M.,  geb.  90  M. 

Fuchs,  Dr.  Franz,  Grundriß  der  Funkentelegraphie  in 
gemeinverständlicher  Darstellung.  12.  Aufl.  München  und 
Berlin  '22,  R.  Oldenbourg.     Geh.  40  M. 

Fischer-Geistbeck,  Erdkunde  für  höhere  Lehran- 
stalten.    Berlin-München  '22,  R.  Oldenbourg. 

Rosen thal,  Dr.  Alfred,  Reicbsgesetz  gegen  den  un- 
lauteren Wettbewerb.  5.  Aufl.  Berlin-Leipzig  '22,  Vereinigung 
wissenschaftl.  Verleger.     Geh.   150  M.,  geb.   iSo  M. 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte.  Naturwissenschaft!. 
Reihe,  herausgegeben  von  Liesegang,  Dr.  Raphael  Es.,  Bd.  5: 
Fortschritte  der  Quantentheorie.  Dresden  und  Leipzig  '22, 
Theodor  Steinkopft'.     Geh.  30  M. 

Kleine  Schriften  zur  Seelenforschung,  Dr.  med.  Kronfeld, 
lieft  2.  Über  Gleichgeschlechtlichkeit.  Erklärungswege  und 
Wesensschau.     Stuttgart  '22,  Julius  Pütlmann. 


luhalt:  E.  Taube,  Tierische  Chimären.  S.  457.  —  Einzelbericbte:  W.  Koch,  Die  Folgeerscheinungen  der  Kastration 
bei  den  Skopzen.  S.  465.  1.  Friedländer,  Der  Pico  de  Orizaba  und  der  San  Martin  de  Tuxtla.  S.  466.  R.  Hey- 
mons,  Nenes  vom  Rapsrüßler  (Ceutorrhynchus  assimilis  Payk).  S.  467.  E.  Pfeiffer,  Homosexualität  und  innere 
Sekretion.  S.  468.  —  Bücbetbesprecbungen:  E.  Fischer,  Aus  meinem  Leben.  S.  470.  Gl.  v.  Horvath,  Raum 
und  Zeit  im  Lichte  der  speziellen  Relativitätstheorie.  S.  270.  E.  v.  Montgelas,  Tiergeschichten.  S.  471.  A.  Weil, 
Die  innere  Sekretion.  S.  471.  O.  Fehringer,  Die  Singvögel  Mitteleuropas.  S.  471.  P.  Pfeiffer,  Organische 
MolekUlvcrbindungen.  S.  471.  —  Literatur:  Liste.  S.  472. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
T  ganzen  Reihe   37.  Band, 


Sonntag,  den  27.  August  1922. 


Nummer  35. 


Grundsätzliches  zu  Goethes  Metamorphosenlehre. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Friedrich  yy 

In  einem  Aufsatz  in  dieser  Zeitschrift ')  nimmt 
M.  Möbius  Stellung  zu  der  Frage,  ob  unter 
Metamorphose  eine  reelle  Metamorphose  anzu- 
nehmen sei  oder  nur  die  Verschiedenheit  der 
Erscheinung  des  ideellen  Blattes.  Während 
A.  Hansen  Stellung  für  den  ersteren  Stand- 
punkt nimmt,  entscheidet  sich  Möbius  für  den 
letzteren  mit  den  Worten :  „Nach  genauer  Prü- 
fung aller  seiner  (Goethes)  Äußerungen  über  die 
Blattorgane  bin  ich  aber  doch  zu  der  Überzeugung 
gekommen,  daß  er  damit  sagen  wollte:  die  Be- 
zeichnung , Blatt'  entspricht  dem  Gesamlbegriff 
für  eine  Anzahl  bisher  als  eigenartig  unterschie- 
dener Organe,  daß  er  damit  der  Trennung  eine 
Einigung  entgegensetzen  wollte.  Wir  aber  können 
und  dürfen  die  Sache  nicht  anders  auffassen."  ') 
Die  Ursache  der  Metamorphose,  der  „Funktions- 
änderung, die  eine  Veränderung  im  inneren  und 
äußeren  Bau  hervorruft",  sieht  Möbius  darin, 
daß,  wenn  eine  andere  Entwicklung  erfolgen  solle 
—  etwa  bei  Füllung  der  Blumen  und  anderen  Ab- 
normitäten —  „ein  besonderer  Reiz  hinzukommen 
müsse,  den  wir  freilich  nicht  immer  mit  Sicher- 
heit bezeichnen  können".^)  Hansen  läßt  die 
Frage  nach  der  Ursache  dieser  Veränderungen 
offen.  „Dafür,  daß  das  Alte  in  neuer  Form  er- 
scheint, sind  wir  gezwungen,  eine  Ursache  anzu- 
nehmen, und  da  hier  Beobachtung  nicht  mög- 
lich ist,  nehmen  wir  vorläufig  eine  hypothetische 
Ursache  an,  die  Metamorphose.  . . .  Durch  noch 
unbekannte  Wirkungen  ändern  sich  die  Eigen- 
schaften und  danach  die  ganze  Form  der  Laub- 
blattanlage und  sie  wird  zum  Sporophyll."  *) 

Zwei  Auffassungen  stehen  hier  einander  gegen- 
über. Die  eine  sucht  die  metamorphosierenden 
Kräfte  innerhalb  der  Beobachtung,  etwa  in 
Reizen  physikalisch  -  chemischer  oder  physiolo- 
gischer Natur,  die  andere  verlegt  dieselben  ins 
Reich  des  Ideellen,  findet  aber  infolge  der 
Abstraktheit  und  Unwandelbarkeit  ihrer  Begriffe 
den  Weg  zur  Anschauung  nicht  mehr  zurück. 

Sieht  man  sich  in  der  einschlägigen  Literatur 
um,  so  treten  einem  immer  jene  beiden  Stand- 
punkte entgegen.  Ein  Vertreter  der  ontogenetisch 
sich  vollziehenden,  realen  Metamorphose  ist 
Goebel,  der  die  verschiedenen  metamorpho- 
sierten  Blätter  aus  ursprünglichen  Laubblattan- 
lagen hervorgehen  läßt,  die  jedoch  der  von  ihnen 
neu  übernommenen  Funktion  zufolge  durch  sinn- 

•)  Diese  Zeitschrift,  1921,  Nr.  52. 

^)  Diese  Zeitschrift,  1921,  Nr.  52. 

ä)  Diese  Zeitschrift,  1921,  Nr.  52. 

*)  Diese  Zeitschrift,  1921,  Nr.  i. 


[iaS<^r  -  Ludwigsburg. 

lieh  wahrnehmbare  Einflüsse  metamorphosiert 
worden  sind.  Der  idealistischen  Auffassung  ge- 
hören A.  Braun  und  Hanstein  an.  Goebel 
schreibt  in  seiner  „Organographie  der  Pflanzen" : 
„In  der  idealistischen  Morphologie,  wie  sie  von 
Goethe,  A.  Braun  und  Hanstein  vertreten 
wird,  handelt  es  sich  bei  der  Metamorphosenlehre 
wesentlich  um  eine  Begriffskonstruktion." 
Und  in  Schneiders  „Handwörterbuch  der  Bo- 
tanik heißt  es:  „Der  Auffassung  von  Goethe 
zufolge  war  die  Metamorphose  nur  ein  gedach- 
ter IBegriff.  Die  vielen  Metamorphosen  des 
Blattes  (Hochblätter,  Niederblätter,  Staubblätter 
usw.)  wären  somit  Modifikationen  des  einen  nur 
der  Idee  nach  existierenden  Blattes.  (Ideali- 
stische Metamorphosenlehre.)" 

Beide  Auffassungen  treffen  meines  Erachtens 
nicht  den  Kern  der  Sache,  so  wie  er  von  Goethe 
herausgearbeitet  worden  ist.  Dem  aufmerksamen 
Leser  der  Goetheschen  Schriften  kann  es  nicht 
entgehen,  daß  Goethe  mit  seinem  aufs  Zentrale 
gerichteten  Blick  mit  seiner  Metamorphosenlehre 
noch  etwas  wesentlich  anderes  sagen  wollte  als 
z.  B.  die  Tatsache  der  Homologie  der  Pflanzen- 
organe mit  dem  Blatt.  Wer  von  einer  „idea- 
listischen Metamorphosenlehre"  von  „Begriffs- 
konstruktionen" von  „gedachten  Begriffen"  spricht, 
denen  innerhalb  der  Realität  der  Erscheinungswelt 
keine  Wirklichkeit  zukommt,  dem  bleibt  der  wahre 
Charakter  von  Goethes  Metamorphosenlehre 
dunkel,  ja  er  muß  dieselbe  konsequenterweise 
ablehnen.  Man  muß  tief  in  das  Wesen  und  die 
Methode  der  Goetheschen  Naturbetrachtung  ein- 
dringen, um  ein  wirkliches  Verständnis  zu  ge- 
winnen für  das,  was  er  mit  Ausdrücken  wie 
Typus,  Urpflanze,  Urtier  bezeichnet  hat. 

Im  folgenden  sei  es  mir  gestattet,  an  Hand 
der  Goetheschen  naturwissenschaftlichen  Schriften 
ein  Bild  zu  entwerfen  von  der  Art  wie  der  Dichter 
sich  der  Natur  gegenüberstellt,  sowie  von  seiner 
Methode,  dem  Problem  des  Lebens,  um  dessen 
Lösung  es  sich  in  letzter  Linie  doch  handelt, 
näherzukommen.  An  den  Resultaten  dieser  For- 
schungsweise wird  es  sich  dann  zeigen,  was  von 
den  beiden  gekennzeichneten  Auffassungen  zu 
halten  ist. 

Es  kann  natürlich  hier  nicht  meine  Aufgabe 
sein,  eine  lückenlose  Erkenntnistheorie  der  Goethe- 
schen Weltanschauung  zu  geben,  aber  es  gehört 
einmal  zum  vollen  Verständnis  und  Würdigung 
der  Goetheschen  Ideen,  sich  Klarheit  über  die 
Prinzipien  seiner  Erkenntnis  methode  zu  verschaffen 
Dabei  wird  auch  ein  Licht  fallen  auf  die  Stellung. 


474 


l^aturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  35 


dieser  Theorie  zu  der  im  wesentlichen  durch 
Kant  interpretierten  modernen  naturwissenschaft- 
lichen Vorstellungsweise.  Ein  solches  Unter- 
nehmen bringt  insofern  einige  Schwierigkeiten 
mit  sich,  als  Goethe  selten  prinzipiell  sich  über 
die  Grundlagen  des  Hrkennens  ausgesprochen  hat. 
Gesteht  er  doch  selbst: 

,,Wie  hast  du's  denn  so  weil  gebracht? 
Sie  sagen,  du  habest  es  gut  vollbracht  I'' 
Mein  Kind!     Ich  hab  es  klug  gemacht; 
Ich  habe  nie  über  das  Denken  gedacht. 

Man  muß  vielmehr  Schritt  für  Schritt  hinsehen, 
wie  er  die  Dinge  in  ihrer  Erscheinung,  in  ihrem 
Werden  und  Vergehen  belauscht,  wie  er  ihrem 
Wesen  nachforscht  und  dabei  das  ergänzen,  was 
er  selbst  nicht  sagt. 

Wie  tief  der  Dichter  das  Menschen-Ich  als  in 
der  Natur  verankert  empfindet,  das  geht  aus  dem 
Aufsatz  „Die  Natur"  hervor,  der  1782  im  Tie- 
furter  Journal  erschienen  ist:  „Natur  1  Wir  sind 
von  ihr  umgeben  und  umschlungen  —  unver- 
mögend, aus  ihr  herauszutreten,  und  unvermögend, 
tiefer  in  sie  hineinzukommen.  Ungebeten  und 
ungewarnt  nimmt  sie  uns  in  den  Kreislauf  ihres 
Tanzes  auf  und  treibt  sich  mit  uns  fort,  bis  wir 
ermüdet  sind  und  ihrem  Arm  entfallen  . . .  Ge- 
dacht hat  sie  und  sinnt  beständig,  aber  nicht  als 
ein  Mensch,  sondern  als  Natur  . . .  Sie  hat  Jceine 
Sprache  noch  Rede,  aber  sie  schafft  Zungen  und 
Herzen,  durch  die  sie  fühlt  und  spricht  . . .  Ich 
sprach  nicht  von  ihr.  Nein,  was  wahr  ist  und 
was  falsch  ist,  alles  hat  sie  gesprochen.  Alles  ist 
ihre  Schuld,  alles  ist  ihr  Verdienst!"  —  Goethe 
fühlte  die  Stimme  der  Natur  in  seinem  Innern, 
aber  als  er  diese  Worte  niederschrieb,  kam  es  ihm 
noch  nicht  völlig  klar  zum  Bewußtsein,  wie  die 
Natur  auf  dem  Schauplatz  der  Menschenseele  sich 
ausspricht.  Mit  Eifer  forscht  er  bei  den  Philo- 
sophen ;  allein  so  oft  er  sich  an  das  Studium  der- 
selben heranmacht,  empfindet  er  die  durch  die 
durch  die  platonische  Vorstellungsweise  erfolgte 
Trennung  von  Erfahrung  und  Idee  als  seiner  Natur 
zuwider.  Man  erinnere  sich  seines  Gesprächs  mit 
Schiller  nach  Schluß  einer  Naturforscherver- 
sammlung in  Jena.  Goethe  entwickelt  seine 
Gedanken  über  die  Urpflanze  und  zeichnet  „mit 
mancherlei  charakteristischen  Federstrichen  eine 
symbolische  Pflanze"  vor  Schillers  Augen.  Er 
erhält  von  Schiller  zur  Antwort:  „Das  ist  keine 
Erfahrung,  das  ist  eine  Idee".  Darüber  verwun- 
dert erwiderte  Goethe:  „Das  kann  mir  sehr 
lieb  sein,  wenn  ich  Ideen  habe  ohne  es  zu 
wissen  und  sie  sogar  mit  Augen  sehe."  Und  er 
war  ganz  unglücklich,  als  Schiller  des  weiteren 
erklärte:  „Wie  kann  jemals  eine  Erfahrung  ge- 
geben werden,  die  einer  Idee  angemessen  sein 
sollte.  Denn  darin  besteht  das  Eigentümliche  der 
letzteren,  daß  ihr  niemals  eine  Erfahrung  kon- 
gruieren könne."  Schärfer  läßt  sich  wohl  kaum 
die  Gegensätzlichkeit  zweier  Weltanschauungen 
formulieren.  Für  Schiller,  den  eifrigen  Schüler 
Kants,  gab  es  zwei  Quellen  der  Erkenntnis,  das 


Reich  der  Erfahrung,  des  raum-zeitlichen  Ge- 
schehens, und  das  Reich  der  Ideen,  einer  höheren 
Wirklichkeit,  die  der  Vernunft  sich  erschließt. 
Einen  solchen  Unterschied  gibt  es  für  Goethe 
nicht.  Er  weiß  nur  von  einer  Quelle,  der  Erfah- 
rungswelt, die  von  der  Ideenwelt  durchdrungen 
ist.  —  Die  Philosophie  seiner  Zeit  vermochte 
Goethe  nicht  über  das  wahre  Verhältnis  von 
Idee  und  P2r fahrung  aufzuklären.  Er  war 
auf  sich  selbst  angewiesen.  Der  einzige  Philo- 
soph, der  immer  eine  friedliche  Wirkung  auf  ihn 
ausgeübt  hat,  war  Spinoza.  Und  zwar  deshalb, 
weil  dieser  die  Welt  als  eine  große  Einheit  be- 
trachtet, die  mit  Notwendigkeit  die  Mannigfaltig- 
keit der  Erscheinungen  aus  sich  hervorgehen  läßt. 
Immer  jedoch,  wenn  er  sich  auf  den  Inhalt  dieser 
Lehre  einließ,  empfand  er  das  Unbefriedigende 
derselben.  „Denke  man  aber  nicht,  daß  ich  seine 
(Spinozas)  Schriften  hätte  unterschreiben  und 
mich  dazu  buchstäblich  bekennen  mögen."  —  In 
diesem  Streben  nach  Naturerkenntnis  kam  ihm 
seine  künstlerische  Natur  zu  Hilfe. 

Italien,  mit  seinen  herrlichen  Kunstschätzen, 
brachte  ihm  den  Schlüssel  zur  Lösung  des  Rätsels; 
hier  fand  er  die  geistige  Atmosphäre,  die  seine 
Erkenntnisorgane  reifen  ließ,  jene  Organe,  mit 
denen  er  später  in  das  Wesen  der  organischen 
Bildungen  einzudringen  suchte.  Unermüdlich 
spürt  er  den  Triebkräften  nach,  die  dem  echten 
Kunstwerk  zugrunde  liegen,  und  begeistert  schreibt 
er  beim  Anblick  von  besonders  vollkommenen 
Kunstschöpfungen  die  Worte  nieder:  „Die  hohen 
Kunstwerke  sind  zugleich  als  die  höchsten  Natur- 
werke von  Menschen  nach  wahren  und  natür- 
lichen Gesetzen  hervorgebracht  worden.  Alles 
Willkürliche,  Eingebildete  fällt  zusammen;  da  ist 
Notwendigkeit,  da  ist  Gott!"  Diese  Naturnot- 
wendigkeit glaubt  er  am  schönsten  an  den 
griechischen  Kunstwerken  zu  erkennen :  „Ich  habe 
die  Vermutung,  daß  die  Griechen  nach  den  Ge- 
setzen versuchen,  nach  welchen  die  Natur  selbst 
verfährt  und  denen  ich  auf  der  Spur  bin".  Die 
künstlerische  Natur  Goethes  war  es,  die  ihm  die 
Einsicht  in  das  richtige  Verhältnis  von  Idee  und 
Erfahrung  brachte.  Er  erkennt,  daß  es  die  Idee 
ist,  die  in  innigem  Bunde  mit  der  Materie  das 
objektiv  Schöne  hervorbringt.  In  den  „Ideen" 
Pia  tos  glaubt  er  das  wiederzufinden,  was  als 
Schöpferisches  aus  den  Kunstwerken  herausblickt 
und  das  der  Mensch  als  Ewiges,  Göttliches  ver- 
ehrt. Und  was  ihm  das  Kunstwerk  entgegen- 
brachte, das  suchte  er  auch  in  der  Natur.  Er 
suchte  nach  der  in  der  Mannigfaltigkeit  sich  mani- 
festierenden Idee,  weil  er  fand,  daß  dem  Kunst- 
werk dieselbe  Gesetzmäßigkeit  innewohnt,  wie 
dem  Naturwerk.  Wie  Ideelles  und  Materielles 
sich  im  Kunstwerk  durchdringen,  so  auch  im 
Naturwerk.  Und  das  Schaffen  des  Künstlers 
scheint  ihm  wesensverwandt  zu  sein  mit  dem 
Schaffen  der  Natur.  Im  Künstler  wirkt  auf 
höherer  Stufe  die  den  Naturdingen  zugrunde 
liegende    Gesetzmäßigkeit:    „Indem    der    Mensch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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auf  den  Gipfel  der  Natur  gestellt  ist,  so  sieht  er 
sich  wieder  als  eine  ganze  Natur  an,  die  in  sich 
abermals  einen  Gipfel  hervorzubringen  hat.  Dazu 
steigert  er  sich,  indem  er  sich  mit  allen  Voll- 
kommenheiten und  Tugenden  durchdringt,  Wahl, 
Ordnung,  Harmonie  und  Bedeutung  aufruft,  und 
sich  endlich  zur  Produktion  des  Kunst- 
werks erheb t."  —  Was  die  Philosophie  Goethe 
nicht  zu  geben  vermochte,  das  offenbart  ihm  die 
Kunst.  In  ihr  findet  er  das,  wodurch  sein  Er- 
kenntnisdrang Befriedigung  finden  konnte. 

Alles  wissenschaftliche  Streben  zielt  letzten 
Endes  darauf  hin,  die  Kluft  zwischen  Menschen-Ich 
und  Natur  zu  überwinden.  Ist  das  Band  geknüpft, 
so  ist  der  Erkenntnisdrang  befriedigt.  Wie  der 
Künstler  im  Anschauen  des  Schönen  sein  Sehnen 
stillt,  so  der  Wissenschafter  im  Erleben  der  Idee. 
Durch  die  Sinne  erhält  der  Mensch  Kunde  von  den 
Dingen  der  Sinnes  welt,  in  der  Betätigung  derVernunft 
spricht  sich  deren  ideelle  Seite  aus.  Beides,  Wahr- 
nehmung und  Begriff,  Erfahrung  und  Idee  gehört 
zusammen;  in  ihrer  Vereinigung  liegt  Wirklich- 
keit. Goethes  Erkenntnisweise  beruht  darauf, 
daß  „die  Geistesaugen  mit  den  Augen  des  Leibes 
in  stetem  lebendigem  Bunde  zu  wirken  haben, 
weil  man  sonst  in  Gefahr  gerät,  zu  sehen  und 
doch  vorbeizusehen".  Es  ist  im  Sinne  Goethes, 
das  Wesen  der  Erkenntnis  in  der  Synthese  von 
Anschauung  und  Begriff  zu  suchen.  Was  sich 
im  Anschauen  eines  Naturobjekts  den 
Sinnen  darbietet,  ist  nur  die  eine  Hälfte 
der  Wirklichkeit,  die  andere  Hälfte, 
der  Begriff,  die  Idee,  leuchtet  imDenken 
auf.  Diese  offenbar  einzig  mögliche  Methode 
liegt  aber  unbewußt  allem  exakten  Forschen 
zugrunde. 

Das  Denken  als  Form  stellt  die  Beziehungen 
zwischen  Ich  und  Natur  her.  Das  unmittelbar 
Gegebene,  die  Sinneswahrnehmung,  stellt  sich  dem 
Denken  gegenüber  und  wird  so  zum  Problem  der 
Naturwissenschaft.  Dieses  unmittelbar  Gegebene 
ist  chaotisch  und  bleibt  so  lange  Problem,  bis  es 
völlig  von  Begriffen  durchdrungen  ist.  Im  Be- 
griff wird  die  Trennung  von  Wahrnehmung  und 
Denken  aufgehoben.  Das  Ziel  der  naturwissen- 
schaftlichen Erkenntnis  besteht  darin,  im  Denken 
die  der  Wahrnehmung  entsprechenden  Begriffe 
aufzufinden  und  zu  zeigen,  w  i  e  dieselben  den  Er- 
scheinungen der  Sinneswelt  zugrunde  liegen. 

So  glaube  ich  in  G  o  e  t  h  e  s  Betrachtungsweise 
die  erkenntnistheoretischen  Grundlagen  für  die 
Methode  der  Naturwissenschaft  gefunden  zu  haben. 
Eine  solche  Denkweise  kennt  keine  Grenzen  des 
Erkennens  und  muß  jede  Metaphysik  prinzipiell 
zurückweisen.  Eine  Weltanschauung,  die  außer 
Wahrnehmung  und  Begriff  noch  „Dinge  an  sich" 
als  Träger  der  Erscheinungen  sucht,  muß  vom 
Goetheschen  Standpunkt  aus  abgelehnt  werden ; 
daher  auch  der  scharfe  Gegensatz  zu  Kant,  der 
bei  Goethe  immer  wieder  begegnet:  „Der  Ein- 
gang (der  Kritik  der  reinen  Vernunft)  war  es, 
der   mir    gefiel,    ins  Labyrinth    selbst   konnte    ich 


mich  nicht  wagen:  bald  hinderte  mich  die 
Dichtungsgabe,  bald  der  Menschenverstand  und 
ich  fühlte  mich  nirgends  gebessert".  Kant  und 
die  von  ihm  beeinflußte  neuere  Philosophie 
sprechen  dem  Menschengeiste  die  Fähigkeit  ab, 
in  das  Wesen  der  Dinge  einzudringen,  weil  sie 
im  Denken  nur  eine  subjektive  Tätigkeit 
erblicken,  die  nur  ein  abstraktes  Bild  von  der 
Wirklichkeit  entwerfen  kann.  Für  sie  ist  der 
Begriff  eben  ein  „bloß  Gedachtes".  Für  Goethe 
ist  es  der  Repräsentant  der  in  den  Naturobjekten 
sich  auswirkenden  Idee.  Er  fühlte  das  lebendige 
Schaffen  der  Idee  in  seinem  Innern,  daher  findet 
er  auch  den  Weg  zur  Natur  wieder  zurück.  Der 
Kreis  zwischen  Mensch  und  Natur  schließt  sich; 
was  im  Erleben  der  Idee  als  Subjektives  erscheint, 
wird  objektiv,  das  Objekt  wird  vom  Subjekt 
völlig  durchleuchtet.  Man  muß  das  Lebensvolle 
der  Denktätigkeit  durchschauen,  um  es  als  das 
gleichsam  göttliche  Gewand  zu  erkennen,  in  dem 
der  ideelle  Kern  der  Welt  erscheint.  Hätte  Kant 
die  Natur  des  Denkens  durchschaut,  so  wäre  ihm 
die  Identität  des  Begriffs  mit  dem  „Ding  an  sich" 
aufgegangen.  Goethe  meint,  der  Grundirrtum 
Kants  liege  darin,  daß  dieser  ,,das  subjektive 
Erkenntnisvermögen  selbst  als  Objekt  betrachtet 
und  den  Punkt,  wo  subjektiv  und  objektiv  zu- 
sammentreffen, zwar  scharf  aber  nicht  ganz  richtig 
sondert".  Diese  Kluft  zwischen  Subjekt  und  Ob- 
jekt muß  bestehen  bleiben,  so  lange  man  die  Er- 
kenntnistätigkeit als  bloß  subjektive  ansieht,  so- 
lange man  nicht  erkennt,  daß  es  die  Natur  selbst 
ist,  die  im  Menschen  als  diese  Tätigkeit  wirksam 
ist.  Es  ist  dasselbe,  was  im  Objekt  als  Gesetz, 
im  Subjekt  als  Begriff  erscheint.  Der  Gegensatz 
von  subjektiv  und  objektiv  wird  aufgehoben,  wenn 
man  die  in  der  Natur  sich  offenbarende  Gesetz- 
mäßigkeit als  die  im  Menschengeiste  aufleuchtende 
objektive  Ideenwelt  erkennt.  Im  denkenden  Wahr- 
nehmen baut  sich  der  Mensch  die  Brücke,  auf 
welcher  der  Spalt  zwischen  Erfahrung  und  Idee 
überbrückt  wird.  Im  Vollziehen  dieses  Aktes 
wird  das  Erkenntnisbedürfnis  befriedigt. 

Jetzt  können  wir  auch  verstehen,  was  der 
Dichter  mit  dem  Typus  (Urtier  und  Urpfianze) 
gemeint  hat.  Seine  Erkenntnismethode  gibt  uns 
das  Licht  mit  auf  dem  Weg  zum  Wesen  des 
Lebens.  Wenn  Kant  der  Philosoph  des  Anor- 
ganischen genannt  werden  kann,  so  öffnet  Goethe 
das  Auge  für  die  Erkenntnis  des  Organismus. 
Seine  Pflanzenmetamorphose  liegt  uns  in  allen 
Einzelheiten  vor.  Was  er  als  das  Verursachende 
derselben,  als  Typus  bezeichnet,  ist  seine  höchst 
eigene  Entdeckung  und  hat  nicht  im  entferntesten 
etwas  zu  tun  mit  der  hypothetischen  Urpflanze 
Hack  eis,  auch  wenn  letzterer  sich  bei  seinen 
diesbezüglichen  Äußerungen  auf  Goethe  beruft. 
Die  Größe  der  Tat  Goethes  kann  nur  derjenige 
in  vollem  Maße  würdigen,  der  versucht,  die  Ideen 
des  Dichtersehers  immer  wieder  in  seinem  Geiste 
lebendig  zu  machen.  Goethes  Typus  ist  keine 
Abstraktion,   kein   schattenhafter  Begriff,   sondern 


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die  Idee  eines  Komplexes  von  Bildungsgesetzen, 
die  als  Ganzes,  als  Beharrendes  im  ewigen  Wechsel 
der  organischen  Bildung  sich  äußern.  Sie  ist 
das  Pflanzliche  in  der  Pflanze  (Urpflanze),  das 
Tierische  im  Tier  (Urtier),  das  dominierende 
Prinzip  der  onto-  und  philogenetischen  Entwick- 
lung. Was  im  Geiste  des  Menschen  als  Begriff 
erscheint,  liegt  reell  dem  Organismus  als  Wesent- 
liches zugrunde,  wirkt  und  webt  im  Objekte,  ist 
überall  anwesend,  wo  von  Zellen  die  Rede  ist. 
Eine  Kraftgestalt  von  höchster,  innerlicher  Mo- 
bilität, voller  Entwicklungsmöglichkeiten,  die  nur 
in  Gedanken  festzuhalten  ist,  aber  in  der  Er- 
scheinung Form  und  Gestalt  annimmt.  Überall 
wo  von  Lebendigem  gesprochen  werden  kann,  ist 
der  Typus  das  schöpferische,  konstitutive  Prinzip. 

Der  Typus  kann  nicht  auf  dieselbe  Weise  be- 
griffen werden,  wie  eine  Erscheinung  der  anor- 
ganischen Natur.  Man  muß  über  das  abstrakte 
mathematisch-kausale  Urteilen  hinausgehen  und 
sich  zu  einer  höheren  Art  des  Anschau  ens 
erheben.  Bei  einem  anorganischen  Vorgang 
kommt  es  lediglich  darauf  an,  das  Verhältnis  der 
einzelnen  Phänomene  zueinander  aufzufinden ;  das 
Resultat  des  Zusammenschauens  der  Teile  stellt 
sich  dem  Verstände  dar  als  die  Einheit  des  Be- 
griffs. Anschauung  und  Begriff  fordern  einander, 
stehen  jedoch  in  einem  äußerlichen  Verhältnis 
zueinander,  weil  der  Begriff  nicht  in  den  einzelnen 
Gliedern  der  Erscheinungsreihe  selbst,  sondern 
nur  in  deren  Bezug  liegt.  Die  Einheit,  der  Be- 
griff, drückt  wohl  das  Verhältnis  der  sinnlich 
wahrnehmbaren  Glieder  aus,  faßt  dieselben  sum- 
marisch zusammen,  ist  aber  als  Ganzes  nicht  in 
diesen  zu  finden ;  er  bringt  die  Vorgänge  eines 
Erscheinungskomplexes  auf  eine  gemeinsame 
Formel.  Er  steht  über  oder  außer  ihnen.  Die 
Erkenntnis  anorganischer  Vorgänge  beruht  darauf, 
daß  deren  Beziehungen  durch  Begriffe  ausgedrückt 
werden. 

Eine  solche  Methode  versagt  jedoch  bei  or- 
ganischen Formen.  Beim  Organismus  spielen  die 
einzelnen  Organe  eine  funktionelle  Rolle,  sie  stehen 
nicht  in  einem  äußerlichen,  sondern  einem  inner- 
lichen Verhältnis  zueinander,  erhalten  Wesen  und 
Bedeutung  nur  innerhalb  des  Ganzen.  Das  Ganze 
ist  das  Maßgebende;  es  setzt  die  Teile  aus  sich 
heraus,  beherrscht  sie.  Das  Verhältnis  des  Ganzen 
zu  den  Gliedern  ist  ein  reelles  geworden,  der 
Begriff,  die  Einheit,  das  Ganze  lebt  nicht  nur  im 
Verstände,  sondern  bildet  eine  untrennbare  Ein- 
heit mit  dem  Objekt,  dessen  Mannigfaltigkeit  es 
aus  sich  selbst  hervorbringt.  Anschauung  und 
Begriff  fallen  nicht  mehr  auseinander;  der  Begriff 
durchdringt  die  Anschauung,  in  der  Anschauung 
offenbart  sich  der  Begriff.  Der  Begriff  wird  als 
Idee  selbst  angeschaut.  —  Das  Vermögen,  das 
Wesen  des  Organismus  zu  erkennen  nennt  Goethe 
„anschauende  Urteilskraft". 

Kant  bezeichnet  das  Denken,  das  den  Begriff 
nur  als  das  durch  Abstraktion  aus  der  Sinneswelt 
gewonnene  analytische  Allgemeine  kennt,  ein  dis- 


kursives. Dieses  Denken  genügt  für  eine  Er- 
kenntnis der  anorganischen  Vorgänge,  und  des- 
halb konnte  oben  Kant  auch  der  Philosoph  des 
Anorganischen  genannt  werden.  Die  höhere  Form 
der  Anschauung,  wodurch  ein  Organismus  be- 
griffen werden  kann,  ist  die  intuitive.  Der 
intuitive  Begriff  entnimmt  seinen  Inhalt  nicht  der 
raum-zeitlichen  Sinneswelt  wie  der  Abstraktions- 
begriff, sondern  aus  sich  selbst.  Er  gestaltet  sich, 
seinem  ureigenen  Wesen  gemäß,  aus  sich  selbst 
heraus.  Das  Ideelle,  der  Begriff,  drückt  nicht 
mehr  ein  anderes  aus,  ist  nicht  mehr  bloß  das 
aus  einer  Erscheinungsreihe  abgezogene  Allgemein- 
bild, er  ist  das  diese  Erscheinungsreihe  bewirkende, 
muß  daher  als  Primäres  gesetzt  werden;  das  Ideelle 
muß  als  solches  begriffen  werden.  Jetzt  können 
wir  auch  erkennen,  warum  in  den  anorganischen 
Naturwissenschaften  das  unmittelbar  Gegebene 
durch  Naturgesetze  erklärt  wird,  während  man 
bei  den  organischen  vom  Typus  spricht.  Das 
Naturgesetz  steht  über  der  Erscheinung,  Anschau- 
ung und  Begriff  stehen  im  Verhältnis  des  Neben- 
einander; beim  Typus  haben  wir  das  Verhältnis 
des  Nach-  oder  Ineinander,  Ideelles  und  Reelles, 
Anschauung  und  Begriff  sind  zur  Einheit  geworden, 
die  Vielheit  geht  hervor  aus  der  Einheit. 

Der  Organismus  zeigt  in  allen  seinen  Äuße- 
rungen Bewegung,  Entwicklung,  Gestaltung  und 
Umgestaltung;  Werden  und  Vergehen  kreisen  in 
ewigem  Rhythmus.  Er  wird  begriffen,  wenn  man 
in  das  Denken  selbst  jenes  bewegliche  Element 
aufnimmt,  das  die  Begriffe  ihrer  Starrheit  und 
Abstraktheit  entkleidet,  das  sie  innerlich  lebendig 
und  entwicklungsfähig  macht.  Goethe  sagt 
einmal  in  seinen  Sprüchen  in  Prosa:  „Die  Ver- 
nunft ist  auf  das  Werdende,  der  Verstand  auf  das 
Gewordene  angewiesen;  jene  bekümmert  sich 
nicht :  wozu  ?  dieser  fragt  nicht :  woher  ?  —  Sie 
erfreut  sich  am  Entwickeln ;  er  wünscht  alles  fest- 
zuhalten, damit  er  es  nutzen  könne",  oder  „die 
Vernunft  hat  nur  über  das  Lebendige  Herrschaft; 
die  entstandene  Welt,  mit  der  sich  die  Geognosie 
abgibt,  ist  daher  tot".  Der  Verstand  zerlegt, 
trennt,  isoliert,  bildet  sich  Begriffe  von  den 
Dingen,  sein  eigentliches  Gebiet  ist  das  der 
Analyse;  die  Vernunft  eint,  bringt  die  vom  Ver- 
stand isolierten  Begriffe  in  Fluß  und  verbindet 
sie  zu  einem  einheitlichen  Bilde.  Ihr  Gebiet  ist 
das  der  Synthese. 

So  erkennen  wir  im  Typus  jenes  Prinzip,  das 
mit  Goethe  eine  „Entelechie"  genannt  wer- 
den kann.  Dieses  entelechische  Prinzip  bestimmt 
sich  aus  sich  selbst,  steht  den  Erscheinungen  nicht 
als  ein  von  ihnen  Gesondertes  gegenüber,  sondern 
ruft  dieselben  aus  sich  selbst  heraus  ins  Dasein. 
Beim  Anschauen  eines  Organismus  erlebt  man 
ein  sinnlich  übersinnliches;  das  Übersinnliche,  die 
Entelechie,  verbirgt  sich  nicht  hinter  dem  Sinn- 
lichen, sondern  offenbart  sinnlicliwirklich  seinen 
ganzen  Inhalt.  Was  sich  den  Augen  des  Geistes, 
der  Vernunft,  als  Ideelles  erschließt,  das  nehmen 
die  Augen  des  Leibes  als  Reelles  beim  Anschauen 


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des  Organismus  wahr.  Sinnlich-Übersinnliches  in 
steter  Wechselwirkung,  darin  liegt  das  Geheimnis 
des  Organischen. 

„Natur  h.it  weder  Kern  noch  Schale, 
Beides  ist  sie  mit  einem  Male." 

Nun  ist  auch  zu  begreifen,  daß  der  Organismus 
als  sinnlich  wahrnehmbares  Objekt  wie  jeder 
andere  Körper  den  Einflüssen  der  Umwelt  aus- 
gesetzt ist  und  damit  mehr  oder  weniger  in  deren 
Abhängigkeit  gerät.  Licht,  Luft,  Temperatur, 
Bodenbeschaffenheit,  Reize  physikalisch  chemischer 
Natur  wirken  auf  ihn  ein,  insofern  sie  die  Be- 
dingungen darstellen,  auf  Grund  welcher  das  en- 
telechische  Prinzip  als  Organismus  in  Raum  und 
Zeit  auftreten  kann.  Aber  je  nach  Lage  und  Art 
des  Auftretens  einer  organischen  Form  machen 
sich  jene  Bedingungen  in  verschiedenem  Maße 
geltend.  Die  Ökologie  stellt  diese  Verhältnisse 
im  besonderen  fest.  Der  Organismus  kann  nie 
so  auftreten,  wie  er  seinen  Bildungsgesetzen  ge- 
mäß sich  entwickeln  sollte,  er  erscheint  nicht  in 
seiner  ureigenen  Reinheit.  Abstrahiert  man  nun 
von  allen  zufälligen  Einflüssen,  stellt  man  sich 
einen  Organismus  vor,  der  die  in  ihm  liegende 
Gesetzmäßigkeit  rein  zum  Ausdruck  bringt,  so 
muß  ein  solcher  reeller  sein  als  jeder  besondere 
Organismus,  man  erhält  die  Idee  des  Urorganis- 
mus,  den  Typus. 

Der  Typus  Goethes  ist  von  der  Entelechie 
Drieschs  grundsätzlich  verschieden.  Driesch 
glaubt  auf  Grund  seiner  biologischen  Studien,  die 
ihm  die  Autonomie  alles  organischen  Geschehens 
und  die  Unmöglichkeit  einer  mechanisch-kausalen 
Erklärungsweise  zum  Bewußtsein  bringen,  zu  der 
Annahme  einer  Ganzheitskausalität,  eine  „Ente- 
lechie" berechtigt  zu  sein.')  Wohl  ist  für  ihn  die 
Entelechie  die  unsichtbare  Ursache  der  onto-  und 
philogenetischen  Entwicklung,  dasjenige  was  „ganz 
macht",  was  nicht  im  Raum  wirkt,  sondern  in 
den  Raum  hinein,  aber  was  er  über  das  Wesen 
der  Entelechie  sagt,  erinnert  stark  an  die  vita- 
listischen  Anschauungen  vergangener  Zeiten;  es 
bleibt  blaß  und  abstrakt.  Klar  sieht  Driesch 
die  Grenzen  der  modernen  naturwissenschaftlichen 
Vorstellungsweise,  die  Unmöglichkeit,  mit  dem 
herrschenden  Vorstellungskreis  dem  Wesen  des 
Lebens  beizukommen,  aber  er  zieht  nicht  die 
Konsequenzen  für  das  Gebiet  jenseits  dieser 
Grenzen  neue  Erkenntniswege  zu  suchen.  Gerade 
der  Begriff  der  „Ganzheitskausalität"  zeigt  zur 
Evidenz  das  Versagen  der  mechanisch -kausalen 
Methode;  mit  ihm  ist  für  das  moderne  wissen- 
schaftliche Denken  nichts  anzufangen,  ein  solcher 
Begriff  bleibt  tot.  Das  charakteristische  Moment 
der  organischen  Bildung,  das  innerlich  lebendig- 
tätige Element  bleibt  einer  mechanistischen  wie 
vitalistischen  Anschauung  verborgen,  weil  für 
beide  dieses  Wesentliche  bloß  Begriff,  bloße 
Definition  ist.     Driesch  sieht  nicht  ein,  daß  ein 


')  Hans  Driesch,  Das  Problem  des  Lebeijs.     Vortrag, 
gebalten  in  Stuttgart  am  29.  März   1922. 


Denken  ausgebildet  werden  muß,  für  welches  das 
Lebendige  kein  Totes,  sondern  ein  Bewegliches, 
Schaffendes  ist.  Dieses  intuitive  Denken,  im 
Gegensatz  zum  Diskursieren,  hat  Goethe  im 
„Anschauen  einer  immer  schaffenden  Natur"  aus- 
gebildet, ein  solches  Denken  pulsiert  in  seinen 
naturwissenschaftlichen  Arbeiten. 

Es  ist  eigentümlich,  und  vielleicht  liegt  darin 
für  die  Naturwissenschaften  eine  gewisse  Tragik, 
daß  Goethes  Ideen,  die  an  Klarheit  des  Aus- 
drucks und  der  Darstellung  den  sonstigen  Schriften 
des  Dichters  keineswegs  nachstehen,  in  der  Folge- 
zeit so  wenig  Verständnis  gefunden  haben.  Das 
Gefühl  für  die  Ideen  ging  mehr  und  mehr  ver- 
loren. Die  Philosophie  geriet  durch  Kant  in 
ein  Netz,  aus  dem  sie  sich  nur  schwer  wieder 
herausarbeitet.  Erkenntnisgrenzen  verschleierten 
der  Menschenseele  den  Blick  ins  Reich  der  Ideen 
ein  einseitiges  Sichverlieren  ins  Gegenständliche 
Materielle  war  die  Folge  und  so  kam  es,  daß  die 
selbe  Vorstellungsweise,  durch  welche  die  anorga- 
nischen Naturwissenschaften  so  glänzende  äußere 
Erfolge  erzielten,  sich  auch  dem  Problem  des 
Lebens  bemächtigte.  Aufs  schärfste  bekämplen 
sich  die  Vertreter  des  Mechanismus  und  Vitalis- 
mus, aber  es  ist  ein  Kampf  gegen  Windmühlen, 
solange  man  sich  nicht  auf  jene  Ebene  empor- 
arbeitet, auf  der  das  Ideelle  nicht  ein  schatten- 
haftes Dasein  führt,  sondern  in  seiner  vollen, 
lebendurchpulsten  Realität  erlebt  wird.  Erst  von 
dieser  Warte  aus  ist  ein  Verständnis  Goethes 
möglich.  Erkennt  man  das  wahre  Verhältnis  von 
Wahrnehmung  und  Begriff,  von  Idee  und  Wirk- 
lichkeit, dann  öffnet  sich  wie  von  selbst  das  Tor 
ins  Reich  des  Organischen.  Goethe  hat  als 
erster  diesen  Schritt  getan  und  das  ist  sein  un- 
sterbliches Verdienst.  Seine  Idee  vom  Typus 
führt  hinein  ins  Zentrum  organischer  Bildung  und 
Umbildung,  und  der  Gedanke  der  Metamorphose 
wirft  ein  helles  Licht  auch  auf  das  System  der 
Naturwissenschaft.  Seinen  Ideen  ist  heute  immer 
noch  nicht  die  gebührende  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt worden,  sonst  hätte  man  schon  längst 
einsehen  müssen,  daß  die  Frage,  wie  sieMöbius 
eingangs  aufwirft,  in  dieser  F"orm  das  Wesentliche 
der  Goetheschen  Auffassung  gar  nicht  berührt. 

Haben  wir  im  vorstehenden  versucht,  uns  so- 
wohl von  den  erkenntnistheoretischen  Grundlagen 
einer  Goetheschen  Weltanschauung  als  vom  Typus 
in  der  Organik  ein  Bild  zu  machen,  so  dürfte  es 
nicht  schwer  fallen  die  Ansichten  Hansens  und 
Möbius'  ins  richtige  Licht  zu  stellen. 

Hansen  sieht  ein,  daß  es  sich  um  eine  reelle 
Metamorphose  handeln  muß:  ,,Ein  Blatt  gibt  es 
in  Wirklichkeit  nicht,  es  gibt  nur  Laubblätter, 
Hochblätter,  Blumenblätter,  Kelchblätter,  Frucht- 
blätter", jedoch  die  Ursache  dieser  Metamorphose 
bleibt  ihm  unbekannt:  „Dafür,  daß  das  Alte  in 
neuer  Form  erscheint,  sind  wir  gezwungen  eine 
Ursache  anzunehmen  und  da  hier  Beobachtung 
nicht  möglich  ist,  nehmen  wir  vorläufig  eine 
hypothetische  Ursache  an,  die  Metamorphose.    Auf 


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diesem  Standpunkt  stehen  Goethe,  Goebel 
und  andere  Botaniker  mit  ihm".*)  Wenn  Hansen 
meint,  Goethe  seien  diese  metamorphosierenden 
Kräfte  unbekannt  geblieben,  so  irrt  er  sich.  Für 
die  Summe  dieser  Kräfte  schuf  er  den  Ausdruck 
„Urpflanze",  worunter  nur  das  verstanden  werden 
kann,  was  oben  entwickelt  worden  ist.  Goethe 
führt,  nachdem  ihm  der  Begrifi"  des  Typus  und 
im  besonderen  derjenige  der  Urpflanze  aufge- 
gangen war,  die  einzelnen  Organe  des  Organis- 
mus auf  ein  Grundorgan  zurück,  nämlich  auf  das 
Blatt  mit  dem  Knoten,  an  dem  es  sich  entwickelt: 
„Es  mag  die  Pflanze  sprossen,  blühen  oder  Früchte 
tragen,  so  sind  es  doch  immer  nur  dieselbigen 
Organe,  welche  in  vielfältigen  Bestimmungen  und 
unter  oft  veränderten  Gestalten  die  Vorschrift  der 
Natur  erfüllen".  Diese  Identität  der  Pflanzen- 
organe untereinander  und  mit  der  ganzen  Pflanze 
ist  auch  ausgedrückt  in  den  Worten:  „Es  ist  mir 
nämlich  aufgegangen,  daß  in  demjenigen  Organ 
der  Pflanze,  welches  wir  als  Blatt  gewöhnlich  an- 
zusprechen pflegen,  der  wahre  Proteus  verborgen 
liege,  der  sich  in  allen  Gestaltungen  verstecken 
und  offenbaren  könne.  Vorwärts  und  rückwärts 
ist  die  Pflanze  immer  nur  Blatt,  mit  dem  künftigen 
Keime  unzertrennlich  vereint,  daß  man  eins  ohne 
das  andere  nicht  denken  darf."  Dem  Bildungs- 
prinzipe  nach  gleich,  der  Erscheinung  nach  ver- 
schieden schreitet  die  Pflanze  bei  der  Organbildung 
von  Stufe  zu  Stufe,  den  ewigen  Rhythmus  von 
Wachstum  und  Fortpflanzung  offenbarend.  Dieses 
Fortschreiten  von  Stufe  zu  Stufe,  vom  Samen  über 
das  Laubblatt,  Kelchblatt,  Blumenblatt  usw.  wie- 
derum zur  Samenbildung  bezeichnet  Goethe 
einmal  als  P'ortschreiten  auf  einer  geistigen  Leiter. 
Im  Samen  ist  der  Möglichkeit  nach  die  ganze 
Pflanze  enthalten.  Durch  Ausdehnung  und  Zu- 
sammenziehung des  Grundorgans,  die,  wie  Kern  er 
von  Marilaun  sich  ausdrückt,  in  3  Wellenbergen 
und  3  Wellentälern  erfolgen,  tritt  das  Ideelle,  die 
Urpflanze  sinnlich-übersinnlich  in  Erscheinung.  In 
der  stufenweise  vom  Samen  bis  zur  Frucht  sich 
vollziehenden  reellen  Metamorphose  des  Grund- 
organs lebt  sich  die  Idee  der  Urpflanze  aus. 
Gleichsam  den  Beweis  liefernd  für  die  Verwand- 
lungsfähigkeit  des  Grundorgans,  läßt  die  Pflanze 
unter  entsprechenden  Bedingungen  anstatt  eines 
Organs,  das  normalerweise  an  einem  bestimmten 
Ort  sich  hätte  bilden  sollen,  ein  anderes  hervor- 
gehen, z.  B.  bei  den  gefüllten  Tulpen  oder  Mohn- 
gewächsen, bei  denen  das  Organ,  das  der  Idee 
nach  zum  Staubblatt  bestimmt  war,  zum  Blumen- 
blatt geworden  ist.  Bekanntlich  diente  Goethe 
zur  Illustration  seiner  Urpflanze  das  Bryophyllum 
calycinum,  das  sich  durch  die  leichte  und  massen- 
hafte Knospenbildung  in  den  Kerbstellen  des 
Blattrandes  auszeichnete. 

So  stellt  sich  dem  unbefangenen  Betrachter 
der  Goetheschen  Ideen  das  Wesen  der  Pflanzen- 
metamorphose   dar.      Hansens    Standpunkt    als 

')  Naturw.  Wochcnschr.,   1921,  Nr.   I. 


Vertreter  einer  reellen  Metamorphose  ist  verständ- 
lich. Mit  innerer  Konsequenz  muß  er  daher  die 
Ansicht  Möbius'  zurückweisen,  weil  ,,eine  Meta- 
morphose von  Begriffen  weder  logisch  noch  er- 
kenntnistheoretisch zu  begründen  ist,  sondern  nur 
zu  scholastischen  Kunststücken  führen,  die  leicht 
ad  absurdum  zu  führen  sind".*)  Aber  auch  Han- 
sen bleibt  das  wahre  Verhältnis  von  Begriff  und 
Wirklichkeit  und  damit  auch  das  Wesen  der 
Metamorphose  dunkel  und  muß  es  bleiben,  so- 
lange man  nicht  erkennt,  daß  es  die  objektive, 
im  Naturwalten  tätige  Ideenwelt  selbst  ist,  die  im 
■  Subjekt  aufleuchtet. 

Ebensowenig  befriedigt  die  Auffassung  von 
Möbius,  weil  er  wie  Hansen  den  Begriff  nur 
in  seiner  Abstraktheit  kennt  und  sich  nicht  erhebt 
zum  intuitiven  Begriff,  zu  der  mit  Schöpfer- 
kräften ausgestatteten  lebendigen  Idee,  jener  Ente- 
lechie  (konstitutives  Prinzip  in  der  Pflanze),  die 
Goethe  am  6.  September  1787  (italienische 
Reise)  ein  h'  y.cu  nüv  (Ein  und  Alles)  nannte.  Er 
lehnt  die  reelle  Metamorphose  Hansens  ab,  be- 
gibt sich  aber  dadurch  auf  den  Standpunkt,  den 
Hansen  mit  Recht  als  „natürlichen  Realismus 
bezeichnet,  für  den  die  Sachen  so  sind,  wie  sie 
scheinen.  Für  ihn  ist  ein  Staubblatt  schon  in 
der  Anlage  ein  Staubblatt,  ein  Karpell  ein  Kar- 
pell. Es  gibt  also  keine  Metamorphose  der  Blüten- 
teile." -)  Wenn  demgegenüber  Möbius  be- 
hauptet, daß  „die  Bezeichnung  , Blatt'  dem  Ge- 
samtbegriff für  eine  Anzahl  bisher  als  eigenartig 
unterschiedener  Organe  entspreche  und  Goethe 
damit  der  Trennung  eine  Einigung  entgegen- 
setzen wollte",  so  wäre  damit  das  Verdienst 
Goethes  nicht  besonders  groß,  denn  bälder 
oder  später  wäre  die  offizielle  Wissenschaft  kraft 
ihrer  vollkommeneren  Untersuchungsmethoden  zu 
derselben  Erkenntnis  gekommen.  Möbius  bleibt 
auf  halbem  Wege  stehen,  weil  er  jene  höhere  An- 
schauungsweise nicht  kennt,  die  im  Begriff  nicht 
nur  ein  ,,bloß  Gedachtes"  sondern  das  den  Orga- 
nismus durchsetzende  wirksame  Reale  sieht.  Die- 
selbe Ansicht,  wie  sie  Möbius  vertritt,  findet  man 
schon  bei  Julius  Sachs,  wenn  er  schreibt, 
Goethe  übertrage  „die  vom  Verstand  vollzogene 
Abstraktion  auf  das  Objekt  selbst,  indem  er 
diesem  eine  Metamorphose  zuschreibt,  die  sich 
im  Grunde  genommen  nur  in  unserem  Begriffe 
vollzogen  hat".'')  Ohne  Zweifel  wollte  Goethe 
der  Trennung  eine  Einigung  entgegensetzen,  dem 
Besonderen  das  Allgemeine;  aber  ein  solches  All- 
gemeine, das  reell  die  ganze  Stufenleiter  der 
ontogenetischen  Entwicklung  hervorbringt.  Eben 
weil  Möbius  der  eigentliche  Charakter  von  Goethes 
Urpflanze  dunkel  bleibt,  sucht  er  die  Ursache  der 
Metamorphose  in  „besonderen  Reizen,  die  wir  frei- 
lich nicht  immer  mit  Sicherheit  bezeichnen  können". 
Er  meint  „das  käme  ungefähr  auf  dasselbe  hinaus, 


')  Nalurw.  Wochenschr.,  1921,  Nr.  I. 
')  Naturw.  Wochenschr.,  1921,  Nr.  I. 
')  Sachs,  Geschichte  der  Botanik  1875,  S.   169. 


N.  F.  XXI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


479 


was  Goethe  über  die  Ursache  der  Metamor- 
phose gesagt  hat,  daß  nämlich  die  Veränderung 
der  Säfte  einmal  zu  einer  Ausdehnung  und  ein- 
mal zu  einer  Zusammenziehung  führe".  Eine 
solche  Auffassung  stellt  die  Dinge  auf  den  Kopf. 
Das  Allgemeine,  Primäre,  Typische  wird  an  die 
Stelle  des  Sekundären,  Abgeleiteten  gerückt,  weil 
man  das  Hervorgehen  der  Teile  aus  dem  Ganzen 
nicht  vorstellen  kann.  Hier  zeigt  sich  deutlich 
der  Einfluß  Kants.  Bekanntlich  spricht  Kant 
dem  Menschen  die  Fähigkeit  ab  in  das  Wesen 
des  Organismus  einzudringen,  weil  beim  Organis- 
mus das  Einzelne  erst  Bedeutung  durchs  Ganze 
erhält  und  Kant  nur  den  durch  Abstraktion  aus 
der  Sinneswelt  gewonnenen  Allgemeinbegriff  kennt, 
nicht  aber  den  Begriff  als  synthetische  Einheit, 
als  das  die  Besonderung  bedmgende  Allgemeine. 
Die  Verstandsbegriffe  Kants  reichen  wohl  aus 
zur  Erklärung  des  Anorganischen,  versagen  aber 
in  ihrer  Anwendung  aufs  Organische.  Der  intu- 
itive Begriff,  dessen  Inhalt  auf  sich  selbst  beruht, 
dessen  Gehalt  durch  nichts  anderes  als  durch 
sich  selbst  bestimmt  ist,  bleibt  Kant  unbekannt. 
Wenn  Kant  es  ein  „gewagtes  Abenteuer  der 
Vernunft"  nennt,  das  Besondere  aus  dem  Allge- 
meinen zu  erklären,  so  glaubt  Goethe  dieses 
Abenteuer  bestanden  zu  haben.  Schreibt  er  doch 
in  dem  Aufsatz  über  „anschauende  Urteilskraft": 
„Zwar  scheint  der  Verfasser  (Kant)  hier  auf  einen 
göttlichen  Verstand  zu  deuten,  allein,  wenn  wir  ja 
im  Sittlichen,  durch  Glauben  an  Gott,  Tugend  und 
Unsterblichkeit  uns  in  eine  obere  Region  erheben 
und  an  das  erste  Wesen  annähern  sollen;  so 
dürfte  es  wohl  im  Intellektuellen  derselbe 
Fall  sein,  daß  wir  uns  durch  das  Anschauen  einer 
immer  schaffenden  Natur  zur  geistigen  Teilnahme 
an  ihren  Produktionen  würdig  machten.  Hatte 
ich  doch  erst  unbewußt  und  aus  innerem  Trieb 
auf  jenes  Urbildliche,  Typische  rastlos  gedrungen, 
war  es  mir  sogar  geglückt,  eine  naturgemäße 
Darstellung  aufzubauen,  so  konnte  mich  nunmehr 
nichts  weiter  verhindern,  das  Abenteuer  der 
Vernunft,  wie  es  der  Alte  von  Königsberg 
selbst  nennt,  mutig  zu  bestehen".  Vermag  man 
es,  den  Begriff  sich  in  seiner  ihm  selbsteigenen, 
leben-  und  krafterfüllten,  seiner  intuitiven  Form 
vorzustellen,  dann  hat  man  es  nicht  mehr  nötig, 
nach  „besonderen  Reizen",  etwa  mechanischen 
oder  physiologischen,  zur  Erklärung  der  Aus- 
dehnung und  Zusammenziehung  zu  suchen:  Das 
Primäre,  das  konstitutive  Prinzip  ist  es  selbst,  das 
durch  Ausdehnung  und  Zusammenziehung  die 
Metamorphose  des  Grundorgans  von  Stufe  zu 
Stufe  bewirkt.  Wenn  Goethe  sagt,  daß  „ein 
oberer  Knoten,  indem  er  aus  dem  vorhergehenden 
entsteht  und  die  Säfte  mittelbar  durch  ihn  emp- 
fängt, solche  feiner  und  filtrierter  erhalten,  auch 
von  der  inzwischen  geschehenen  Einwirkung  der 


Blätter  genießen,  sich  selbst  feiner  ausbilden  und 
seinen  Blättern  und  Augen  feinere  Säfte  zubringen 
müsse",  so  deutet  er  lediglich  auf  eine  gewisse 
Abhängigkeit  der  sich  nacheinander  entwickelnden 
Organe  von  der  Umwelt  und  voneinander,  inso- 
fern z.  B.  die  Wurzel  als  den  Nährstoffen  am 
nächsten,  diese  in  veränderter  Form  dem  Stengel 
und  den  Blättern  zukommen  läßt  und  letztere 
wiederum  verfeinert  den  Blütenteilen.  Von  einem 
durch  den  Saftstrom  verursachten  Reiz  kann  keine 
Rede  sein.  Man  muß  eben  diese  Dinge  in  dem 
ihnen  von  Goethe  beigelegten  Sinn  auffassen 
und  sie  werden  verständlich. 

So  wären  wir  denn  dabei  angelangt,  uns  ein 
Urteil  bilden  zu  können  über  das,  was  von  den 
beiden  eingangs  gekennzeichneten  Auffassungen 
der  Metamorphosenlehre  Goethes  zu  halten  ist. 
Beide  kranken  an  der  Abstraktheit  ihrer 
Begriffe,  an  dem  Unvermögen,  die  Idee  als 
jenes  objektiv  Reale  anzusehen,  das  als  wirksame 
Entität  sich  durch  die  gesamte  Organismenwelt 
hindurchzieht.  Beide  treten  mit  gebundener 
Marschroute  ihren  Weg  an.  Sie  vermögen  nicht 
den  Weg  zu  finden,  der  aus  dem  Begriffslabyrinth 
derzeitiger  Denkweise  herausführt  zum  Verständnis 
des  großartigen,  kristallklaren  Gedankenauf baus, 
den  nur  der  Genius  eines  Goethe  in  seiner 
„Metamorphose  der  Pflanzen"  der  Nachwelt  zu 
liefern  imstande  war.  Die  Welt  der  Erschei- 
nungen als  eine  Manifestation  der  Idee  zu  be- 
trachten, das  ist  der  Grundgedanke  jener  Lehre. 
Nimmermehr  hätte  der  Dichter  sich  in  jahrzehnte- 
langer Arbeit  mit  Einzelstudien  beschäftigt,  wenn 
es  ihm  möglich  gewesen  wäre,  sich  aus  den  wissen- 
schaftlichen Forschungsergebnissen  seiner  Zeit  ein 
Weltbild  aufzubauen,  das  seine  aufs  Ganze  gerich- 
tete Natur  befriedigt  hätte.  Er  mußte  ins  Reich 
der  Einzelheiten  herabsteigen.  Aber  was  er  da 
gefunden  hatte,  was  erst  einmal  durch  seine  Vor- 
stellung gegangen  ist,  das  trägt  das  Gepräge 
seines  umfassenden  Geistes.  Das  ist  es,  was  ihm 
als  Dichter  unsere  Herzen  so  freudig  entgegen- 
schlagen läßt.  Wer  sich  vorurteilsfrei  in  die  Per- 
sönlichkeit und  Schaffensart  Goethes  vertieft, 
der  empfindet  auch  die  befriedigende  Grund- 
stimmung, die  aus  solcher  Beschäftigung  fließt. 
Goethe  sagt  einmal:  „Wer  meine  Schriften  und 
mein  Wesen  überhaupt  verstehen  gelernt,  wird 
doch  bekennen  müssen,  daß  er  eine  gewisse 
innere  Freiheit  gewonnen."^)  Wie  Goethes 
dichterische  Erzeugnisse  nur  aus  dem  Ganzen 
seiner  Persönlichkeit  zu  beurteilen  sind,  so  auch 
das,  was  er  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiet 
geleistet  hat.  Mögen  diese  Zeilen  zu  solchem 
Verständnis  beitragen. 


')     Unterhaltungen      mit     dem     Kiinzlo 
5.  Jan.   1831. 


4?o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  35 


Bücherbesprechiin£?en. 


Bölsche,  Wilhelm,    Weltblick.     Neu   bearbei- 
tete Ausgabe.   13. — 17.  Tausend.  335  S.  Dresden 
1922,  Carl  Reißner.     Geb.  65  M. 
Der  Meister  der  Popularisationskunst  gibt  uns 

in   diesem  Werke  wieder   eine   erstaunliche  Fülle 


ist  dabei  anscheinend  noch  zurückgehalten,  was 
vielleicht  dem  Laien  bisweilen  eine  übertriebene 
Schätzung  dieser  Bewertungen  (und  „Patente"!) 
eingeben  kann.  Immerhin  wird  er  oft  die  hier 
endlich    gebotene    Möglichkeit,    sich    über    diese 


gedankentiefer    Exkurse    auf   die    verschiedensten      Kriegsmitteilungen  und  in  der  Presse  verbreiteten 
Gebiete.      Seit    20  Jahren    haben    sie    sich    einen      Angaben  beim  Fachmann  unterrichten  zu  können 


weiten  Leserkreis  erobert,  um  jetzt  aufs  neue 
wieder  in  durchgearbeiteter  und  ergänzter  Form 
neue  Freunde  zu  gewinnen.  Es  ist  da  nichts  An- 
empfundenes, rein  Lehrhaftes.  Der  ganze  Mann 
steht  selbst  dahinter  mit  tiefschürfendem  Studium 


dankbar  begrüßen.  Auch  naturwissenschaftlich 
ist  dem  Gegenstand  im  allgemeinen  vom  Ver- 
fasser Gerechtigkeit  zuteil  geworden,  manches 
dabei  ist  jedenfalls  auch  von  naturwissenschaft- 
licher Seite  bisher  nicht  genauer  angegeben.     Für 


und    weitem  „Weltblick"    über    nahe    und    fernste      jeden  behandelten  Gegenstand    sind  Vorkommen 


Gebiete  der  Naturforschung,  Philosophie,  Dich- 
tung und  Kunst.  Man  folgt  den  geistvollen  Plau- 
dereien, die  sich  uns  so  leicht  geben  und  in  denen 
doch  die  ernste  Arbeit  und  die  Erfahrung  eines 
langen  Lebens  ruht,  mit  stetem  Interesse.  Die 
Kapitelüberschriften  zeigen  die  Vielseitigkeit  des 
Inhalts:  „Das  Starenlied",  „Vom  ewigen  Weih- 
nachtsfest", „Ob  Naturforschung  und  Dichtung 
sich  schaden?",  „Das  Unberechenbare  in  der 
Natur",  „Die  Flucht  vor  der  Stadt",  „Ein  Becher 
Maiengeist",  „Vom  Religiösen  in  unserer  Zeit", 
„Gedanken  über  die  Schule",  „Ein  versteinertes 
Tier  und  ein  lebendiger  Gedanke",  „Zur  Geschichts- 
philosophie des  Bienenstaates",  „Drachenmärchen 
und  Drachenwahrheit",  „Fünf  Märchen  des  Lebens", 
„Ein  Besuch  bei  unserem  Fingertier".  Ich  per- 
sönlich empfinde  das  Kapitel  über  die  Schule  als 
nicht  recht  in  den  Rahmen  des  Ganzen  passend, 
vielleicht  weil  ich  allem  Schulwesen  stets  fern  ge- 
standen habe.  Würde  die  ausgezeichnete  Ab- 
handlung über  die  Drachen  noch  einmal  als  ge- 
sondertes Büchlein  herausgegeben,  aber  mit  sehr 
zahlreichen  Illustrationen,  so  würde  ihm  ein  außer- 
gewöhnlicher Erfolg  m.  E.  sicher  sein. 

V.  Buttel-Reepen. 


Glafey,     Hugo,      Rohstoffe     der     Textil- 
industrie.   2.  Aufl.  (Wissenschaft  und  Bildung 
Bd.  62).     202  S.  8",  mit  Abbildungen.     Leipzig 
1921,  Quelle  &  Meyer,  10  M. 
Der  gelehrte  Techniker   behandelt  in  gemein- 
verständlicher Weise    die    natürlichen    und    künst- 
lichen Rohstoffe  der  Textilindustrie.    Den  größten 
Umfang    unter    der    ersten    Gruppe    beanspruchen 
neben  Asbest    (mineralischem)    und  Wolle,    Seide, 
Federn  (tierischem  Rohstoff)    die  pflanzlichen  Er- 
zeugnisse,  unter  denen  wiederum  die  Fasern  den 
breitesten  Raum  einnehmen.     Hier  sind  beispiels- 
weise fast  alle   im  Lauf  der  Kriegszeit  genannten 
Pflanzenfasern    (bisweilen  ja  zu  Unrecht    als  tech- 
nische „Fasern"  bewertet)   nach  Herkommen   und 
Verwendung   aufgeführt.     Das   Urteil    über    viele 


Erzeugung,  Aufbereitung  und  auch  Verarbeitung 
anschaulich  berichtet,  die  Apparaturen  dazu  be- 
sonders erläutert  und  oft  durch  Abbildungen  be- 
legt. So  kann  das  Buch  auch  für  Laien  zum 
Nachschlagen  wie  zum  fesselnden  Selbstunterricht, 
nicht  zuletzt  für  den  heutigen  auf  technisches 
Interesse  rechnenden  Lehrer  der  Naturwissen- 
schaften empfohlen  werden. 

Prof.  Dr.  Fr.  Tobler. 


Handbuch  der  biologischen  Arbeitsmethoden, 
herausgegeben  von  E.  Abderhalden.    Lfg.  62 
(T.    3B,    H.    i)    und    Lfg.   63    (T.    5  A,    H.    i). 
Berlin-Wien    1922,    Urban    und  Schwarzenberg. 
Von    diesem    allumfassenden   Handbuche,    an 
dem  nicht  weniger  als  500  Fachmänner  arbeiten, 
bringt  die  62.  Lieferung  die  Methodik  der  Exstir- 
pation    und    Verpflanzung    der    Keimdrüsen,    der 
Thymus,  Thyreoidea,  Milz  und  Nebenschilddrüsen 
nebst    einer   allgemeinen  Technik    der    operativen 
Eingriffe  an  Tieren.  (Bearbeiter  :Katsch,  Klose, 
Lampe    und  Gulecke.)      Die  Darstellung  geht 
in  alle  Details  und    ist  von  so  zahlreichen  Abbil- 
dungen  begleitet,    daß   jeder  Zoologe    und  jeder 
Arzt   sich   mit   ihrer  Hilfe   diesem  Arbeitsgebiete 
zuwenden  kann. 

Pline  ausgezeichnete  Darstellung  der  Methoden 
der  Muskel-  und  Nervenphysiologie  beginnt  mit 
der  63.  Lieferung.  (Mitarbeiter  :Dittler, Jensen, 
V.  Tschermak,  Frhr.  v.  Weizsäcker ,  Zoth.) 
Von  diesen  sehr  wertvollen  Beiträgen  dürften  die 
meisten  wohl  nur  für  den  Fachmann  Interesse 
haben,  mit  Ausnahme  der  ergographischen  und 
ergometrischen  Methoden  (Zoth),  die  auch  für 
Turnlehrer,  Schulmänner  und  Orthopäden  von 
Wichtigkeit  sein  können.       Brücke  (Innsbruck). 

Literatur. 

Kleine  Schriften  zur  Seelenforschung.  Herausgegeben  von 
Dr.  med.  Kronfeld,  Theodor  Friedrichs;  Zur  Psychologie  der 
Hypnose  und  der  Suggestion.  I.  Heft.  Stuttgart  '22,  Julius 
Pütlmann. 


Inhalt:  Fr.  Waaser,  Grundsätzliches  zu  Goethes  Melamorphoscnlchre.  S.  473.  —  Bücherbesprechungen:  W.  Bölsche, 
Wellblick.  S.  4S0.  H.  Glafey,  Rohstofle  der  Textilindustrie.  S.  4S0.  Handbuch  der  biologischen  Arbeitsmethoden. 
S.  480.  —  I^iteratur:  Liste.  S.  480. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  F'ischer  iu  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'ichen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Ban 


Sonntag,  den  3.  September  1922. 


Nummer  36. 


[Nachdruck  verboten.] 


Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen. 

II.    Der  Kampf  der  Teile  im  Hydrakörper. 

Von  Dr.  Wilh.  Goetsch,  München. 
Mit  4  Abbildungen. 


Im  ersten  Aufsatze  über  die  Relativität  biolo- 
gischer Individuen  konnte  gezeigt  werden,  wie  in 
einem  normalen  Lebewesen ')  auf  Grund  seiner 
Organisation  eine  natürliche  Vielseitigkeit  herr- 
schen kann,  welche  bewirkt,  daß  Einzelteile  un- 
abhängig voneinander  reagieren  und  dadurch  eine 
sinnlose  Handlung  zustande  kommt.  Die  Selb- 
ständigkeit der  Teile,  die  bei  Seesternen  schon 
in  normalem  Zustand  zu  beobachten  ist,  läßt  sich 
bei  anderen  Tieren  auf  experimentellem  Wege 
erreichen,  d.  h.  man  kann  durch  Eingriffe  be- 
sonderer Art  bewirken,  daß  Erscheinungen  zustande 
kommen,  welche  denen  der  Echinodermen  ähneln. 


sobald    wir    durch    experimentelle  Eingriffe    diese 
Harmonie  stören. 

Spaltet  man  beispielsweise  einer  Hydra  den 
Kopfabschnitt  durch  eine  Einkerbung  in  der  Art 
der  Abb.  i  a,  so  gelingt  es  oftmals,  zweiköpfige 
Tiere  zu  erzielen,  da  die  Polypen  auf  Grund  ihrer 
großen  Regenerationsfähigkeit  die  Wunden  bald 
schließen.  Die  Abb.  i  b  zeigt  einen  derartigen 
Fall.  Einer  normalen  Hydra  war  durch  einen 
Schnitt  die  Mundpartie  —  auch  Peristom  genannt 
—  so  zerteilt  worden,  daß  von  den  6  Fangarmen 
3  rechts  und  3  links  stehen  blieben.  Im  Laufe 
des    Tages,    an    welchem    diese    Operation    vor- 


Als  geeignete  Objekte  für  derartige  Versuche      genommen  worden  war,  machte  die  Teilung  noch 


Abb. 
köpfig 


sollen  uns  zunächst  die  Hydren  beschäftigen,  die 
kleinen  Süßwasserpolypen,  die  bei  uns  in  Teichen 
und  stillen  Bächen  vorkommen. 

Eine  solche  Hydra  ist  einem 
doppelwandigen  Schlauch  zu  ver- 
gleichen ;  innen  haben  wir  das 
innere  Blatt  oder  Entoderm,  wäh- 
rend der  Körper  nach  außen  ab- 
geschlossen wird  durch  das  Ekto- 
derm  (oder  äußere  Blatt).  Am 
unteren  Ende  ist  der  Schlauch  des 
Hydrakörpers  geschlossen ,  und 
oben,  an  der  einzigen  Uffnung,  be- 
finden sich  eine  Anzahl  Fangarme 
oder  Tentakel  (Abb.  i  a).  Die 
Organe  sind  bei  diesem  Tiere 
äußerst  vereinfacht.  Der  innere 
Hohlraum  wirkt  als  Magen  und 
Darm  zugleich,  die  Mundöffnung 
dient  sowohl  zur  Aufnahme  der  Nahrung  wie  zum 
Auswurf  unverdauter  Stoffe.  Die  Bewegung  des 
meist  an  einer  Stelle  angehefteten  Tieres  wird 
vermittelt  durch  Quer-  und  Längsmuskeln,  und  die 
Reizleitung  erfolgt  durch  Nervenzellen,  die  überall 
im  Körper  verteilt  sind  und  kein  zentrales  Organ 
bilden. 

Diese  Einfachheit  der  Organisation  ist  auch 
die  Ursache,  daß  jeder  Einzelkomplex  des  Hydra- 
Individuums  eine  große  Selbständigkeit  besitzt. 
Im  normalen  Tier  merken  wir  das  weniger,  da 
auf  Grund  der  rhythmischen  Zusammenfassung 
alle  Teile  des  Organismus  zusammenwirken,  indem 
jeder  Abschnitt  sich  der  Reaktion  eines  anderen 
nachahmend  anschließt.     Das  wird  jedoch  anders. 


weitere    Fortschritte;    der    Spalt    erweiterte    sich 
und  die  Wunde  wurde  geschlossen. 

Am  dritten  Tage  danach    begannen    an  jedem 


')  W.  Goetsch,     Versuche    mit    Seesternen. 
Wocbenscbr.  Bd.  21,  1922,  S.  201. 


b  c  d  e  f 

Hydra,  die  durch  einen  Einschnitt  zwischen  den  Fangarmen  (a)  doppel- 
rd  (b).  In  Abb.  I  c  haben  beide  Köpfe  je  eine  Daphnie  gefangen,  der 
linite  Kopf  hat  sie  ganz  verschlungen,  während  sie  bei  dem  rechten  noch  teil- 
weise herausschaut.  Infolge  des  geringen  Vorsprungs  rutscht  die  Beute  schneller 
in  den  gemeinsamen  Magenraum  (d),  so  daß  die  rechte  Kopfhälfte  den  aufge- 
nommenen Bissen  nicht  mehr  hineinbefördern  kann.  In  e  gemeinsame  Ver- 
dauung einer  Daphnie,  während  in  f  jede  Hälfte  für  sich  die  Nahrung  aufge- 
nommen hat. 


Teilabschnitt  neue  Tentakel  hervorzuwachsen,  und 
bald  waren  beide  Hälften  zu  vollkommenen 
Köpfen  geworden,  die  ganz  normal  funktionierten. 
Das  zeigte  sich  besonders  dann,  wenn  man 
dem  Tiere  Nahrung  reichte.  Hielt  man  jedem 
der  beiden  Köpfe  eine  kleine  Daphnia,  die  bevor- 
zugte Nahrung  der  Hydren,  an  die  Tentakel,  so 
begann  sofort  die  Freßreaktion,  und  bald  war 
das  Beutestück  rechts  und  links  verschwunden. 

Bei  der  Nahrungsaufnahme  konnte  es  nun  zu 
eigenartigen  Erscheinungen  kommen.  Die  beiden 
Köpfe  machten  sich  nämlich  stets  Konkurrenz, 
und  jeder  suchte  auch  den  Anteil  des  anderen 
mit  zu  erwischen.  Besonders  schlimm  wurde  es, 
wenn  nur  ein  Beutetier  gereicht  wurde;  dann 
konnte  der  Kampf  so  stark  werden,  daß  kein 
Kopf  richtig  zum  Fressen  kam.     Beide  hinderten 


482 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


sich  dauernd  und  ermüdeten  schließlich  so  sehr, 
daß  die  Daphnie  wieder  frei  wurde.  Für  den 
Beobachter  muß  ein  solcher  Konkurrenzkampf 
natürlich  sehr  sinnlos  wirken ,  da  es  ja  ganz 
gleichgültig  ist,  auf  welcher  Seite  die  Beute  auf- 
genommen wird.  Rutscht  sie  doch  in  jedem  Fall 
in  den  gemeinsamen  Magenraum,  wo  sie  verdaut 
wird  und  dann  allen  Teilen  zugute  kommt. 
Biologisch  betrachtet  kann  natürlich  die  Hydra 
gar  nicht  anders  handeln ;  jeder  Teil  muß  das 
leisten,  wozu  er  bestimmt  ist  —  und  in  normalen 
Verhältnissen  ist  es  selbstverständlich  nützlich, 
einem  anderen  IVIund  die  Nahrung  wegzunehmen. 

Die  Verhältnisse  konnten  aber  noch  kompli- 
zierter werden.  Wurde  jedem  Kopf  gleichzeitig 
eine  Daphnia  gereicht  und  die  Konkurrenz  damit 
eingeschränkt,  so  konnte  es  natürlich  vorkommen, 
daß  der  eine  Kopf  etwas  eher  fertig  wurde  als 
der  andere  (Abb.  i  c).  Der  Bissen  rutschte  dann 
auch  etwas  früher  in  den  Magenraum  hinein  — 
und  die  Folge  davon  war  dann,  daß  der  andere 
Kopf  wieder  nicht  zu  seinem  Recht  kam.  Er 
mußte  sich  zwecklos  bemühen,  das  aufgenommene 
Beutetier  ins  Innere  zu  befördern :  die  Konkurrenz 
war  bereits  da  und  hatte  den  Platz  belegt,  und 
der  von  dort  aufgenommene  Bissen  versperrte  die 
Passage  (Abb.  i  d).  Meist  mußte  dann  der  Kopf, 
der  zu  spät  kam,  die  Beute  wieder  von  sich 
geben,  da  sie  der  Druck  der  bereits  im  Innern 
befindlichen  Nahrung  wieder  hinauspreßte.  War 
das  geschehen,  so  trat  Frieden  ein;  die  Daphnia 
konnte  in  die  Mitte  rutschen,  und  beide  Kon- 
kurrenten gaben  sich  nun  ihrer  gemeinsamen 
Verdauung  hin  (Abb.  i  e).  Nur  wenn  rechts  und 
links  ganz  gleichmäßige  Bedingungen  herrschten, 
ging  es  ohne  Kampf  ab,  so  daß  dann  beide  Tier- 
hälften je  einen  Bissen  vollkommen  aufnehmen 
und  für  sich  verdauen  konnten  (Abb.  i  f). 

Vergleichen  wir  die  Bilder  der  Abb.  i  e  und  f, 
so  fällt  uns  sofort  ein  Unterschied  auf:  das  eine 
(Abb.  I  e)  gibt  mehr  den  Eindruck  eines  ein- 
heitlichen Tieres,  das  zwar  2  Köpfe  besitzt,  wäh- 
rend das  andere  (f)  im  Gegenteil  so  aussieht,  als 
ob  nur  2  Tiere  unten  verwachsen  wären. 

Und  in  der  Tat  war  es  für  den  Enderfolg  des 
Experiments  nicht  gleichgültig,  in  welcher  Weise 
Nahrung  gereicht  würde.  Gab  ich  derartigen 
Hydren  viel  zu  fressen,  so  bestand  die  Tendenz, 
die  Kopfhälften  zu  vollständigen  Tieren  weiter 
zu  entwickeln,  indem  die  Durchschnürung  sich 
nach  unten  hin  ausdehnte;  umgekehrt  konnte 
nach  und  nach  wieder  eine  vollständige  Ver- 
schmelzung der  getrennten  Teile  eintreten,  wenn 
man  solche  Polypen  hungern  ließ.  Es  lag  also 
bei  solchen  Spaltungsexperimenten  in  meiner 
Hand,  den  einen  oder  anderen  Erfolg  zu  erzielen, 
es  kam  nur  auf  ein  Plus  oder  Minus  der  Fütte- 
rung an;  und  darin  konnte  man  nun  einen  wich- 
tigen Hinweis  auf  die  Ursachen  sehen,  welche 
den  Kampf  der  Teile  beeinflussen:  Das  Vor- 
handensein oder  Nichtvorhandensein  von  bil- 
dendem  Material    entscheidet    es,    ob   bei   einem 


solchen  Kampf  ein  oder  mehr  Individualitäten 
gebildet  werden. 

Diese  Tatsache  konnte  noch  in  anderer  Weise 
gezeigt  werden,  nämlich  bei  der  Fortpflanzung. 
Hydra  vermehrt  sich  sowohl  geschlechtlich  durch 
Eier  und  Sperma  wie  ungeschlechtlich  durch 
Knospung.  Veranlaßt  man  nun  eine  Hydra,  die 
der  Fortpflanzung  obliegt,  zu  gleichzeitiger  Re- 
generation, so  werden  die  Verhältnisse  stark  be- 
einflußt. Das  Endresultat  ist  dann  im  allgemeinen 
bei  der  geschlechtlichen  Vermehrungsart  ein  Über- 
wiegen der  Regenerationskräfte.  Die  Hoden  und 
Ovarien  entwickeln  sich  nicht  weiter,  sondern 
können  wieder  verschwinden;  bei  dem  un- 
geschlechtlichen Teilungsmodus  dagegen  wachsen 
stets  die  Knospen  weiter  und  die  Regeneration 
kann  unterdrückt  und  aufgehoben  werden.  Stets 
kommt  es  jedoch  zunächst  zu  einem  Kampf  der 
Teile,  und  wenn  aus  irgendeinem  Grunde  der 
eine  oder  andere  Abschnitt  mehr  bevorzugt  wird, 
kann  er  dann  die  anderen  beeinflussen. 

Wie  im  einzelnen  diese  Erscheinungen  vor 
sich  gehen,  ist  an  anderer  Stelle  ausführlicher 
beschrieben  worden.')  Die  Produkte  der  Keim- 
drüsen und  diese  selbst  werden,  sofern  sie  nicht 
•  schon  zu  weit  differenziert  sind,  bei  einer  gleich- 
zeitig einsetzenden  Regeneration  alle  vom  Ento- 
derm  übernommen,  und  die  auf  dem  Wege  einer 
gewissen  Selbstverdauung  gewonnene  Nahrung 
dient  dann  dazu,  die  Elemente  zu  speisen,  welche 
die  Neubildung  verloren  gegangener  Teile  zu  ver- 
anlassen haben. 

Dabei  kann  es  zu  eigenartigen  Erscheinungen 
kommen.  Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen, 
daß  die  einzelnen  Teile  eines  Hydrakörpers  große 
Selbständigkeit  besitzen.  An  Stellen  nun,  die 
durch  die  Einschmelzung  von  Hoden  gut  versorgt 
werden,  entsteht  ein  Nahrungsüberschuß,  der  dann 
den  in  der  Nähe  befindlichen  Zellen  zunächst  zu- 
gute kommt.  Sie  werden  also  im  Wachstum  und 
in  der  Vermehrung  begünstigt,  so  daß  gerade  an 
diesen  Stellen  leicht  Hervorwucherungen  ent- 
stehen, aus  denen  dann  Tentakel  werden.  Ich 
habe  solche  Umwandlungen  von  Hoden  in  Ten- 
takel einige  Male  direkt  verfolgen  können,  und 
in  der  Abb.  2  sind  einige  solche  Fälle  etwas 
chematisiert  dargestellt;  man  kann  daraus  er- 
kennen, daß  auf  diese  Weise  sogar  Tentakel  an 
Orten  entstehen,  an  welchen  normalerweise  gar 
keine  Fangarme  zu  finden  sind  (Abb.  2  e  u.  f). 

Verursacht  hier  die  gute  Ernährung  eines  be- 
stimmten Bezirks  eine  Hypertrophie,  so  kann  im 
anderen  Fall  Materialknappheit  ganz  besondere 
Ausfallserscheinungen  zeitigen.  Ein  Ovar,  das 
schon  eine  gewisse  Entwicklungshöhe  erreicht 
hat,  zieht  alles  Material  so  sehr  an  sich,  daß  an 
der  Seite,  an  welcher  es  angetroffen  wird,  die 
Regeneration    der    Tentakel    unterbleibt.     Es 


')  W.  Goetsch,  Neue  Beobachtungen  und  Versuche 
an  Hydren,  liiolog.  Zentralbl.  Bd.  39  (1919),  Bd.  39  (1920), 
Bd.  40  (1920). 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


483 


kommen  dann  Bilder  zustande,  die  der  Abb.  4 
ähneln.  Und  ebenso  hemmt  die  wachsende 
Knospe  in  gewissen  Fällen  die  Wiederherstellung 
des  mütterlichen,  durch  einen  Eingriff  geschädig- 
ten Individuums  so  sehr,  daß  es  sich  nicht  wieder 
erholen  kann. 


a  b  c  de 

Abb.  2.    Männliche  Hydra  mit  6  Hodenbläscheu,   die  durch   den  SchniU 

bei    a    nach    und    nach    infolge    der   Regeneration    resorbiert  werden. 

Am  unteren  Teilstück   Entstehung  von  Tentakeln    an    der  Stelle,    an 

der  sich  früher  Hoden  befanden. 


a  b  c  d  e  f  g 

Abb.  3.     Hydra  mit  Knospe,    die    infolge    der  Köpfung    des  MuUertieres  nach 
und  nach  den  Restkörper  aufsaugt. 


In  Abb.  3  ist  ein  derartiger  Fall  dargestellt. 
Wir  sehen  nach  Lostrennung  des  Kopf  komplexes 
bei  einer  Hydra  nur  die  Knospe  weiterwachsen, 
und  Hand  in  Hand  mit  ihrem  Größerwerden 
vermindert  sich  der  noch  verbleibende  Teil 
des  Muttertieres.  Zunächst  hat  dieser  Stumpf 
noch  eine  gewisse  Selbständigkeit.  Der  Fuß,  der 
von    ihm    noch    vorhanden    ist,    bleibt  funktions 


dingungen  mit  solcher  Reinheit  verfolgen,  und 
ich  glaube  es  gern,  daß  andere  Beobachter  mit 
geköpften,  in  Knospung  befindlichen  Hydren  etwas 
andere  Resultate  erziehen.  So  schreibt  beispiels- 
weise Boecker,  ^)  daß  bei  ihm  in  26  Fällen  die 
Knospen  sich  vom  dekapitierten  Muttertier  los- 
lösten, wobei  in  7  F'ällen  der  Mtitterpolyp 
bereits  Tentakelstttmpfe  gebildet  hatte,  bevor 
die  Knospe  sich  von  ihm  trennte.  Der  letzte 
Passus  scheint  zu  beweisen,  daß  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  auch  bei  Bo  ecke  r  eine  Ver- 
zögerung der  Regeneration,  also  ein  Kampf 
um  das  Material,  eingetreten  war,  und  das 
ist  es,  worauf  es  uns  hier  ankommt.  Da 
Boecker  auch  ältere  Knospen  zu  seinen 
Versuchen  verwandte,  sowie  die  Muttertiere 
manchmal  an  Stellen  köpfte,  die  der 
Knospungszone  entfernter  lagen,  ist  anzu- 
nehmen, daß  es  sich  hierbei  um  solche 
Fälle  handelte.  Auch  bei  meinen  Versuchen 
kam  es  zu  einer  völligen  Aufsaugung  des 
mütterlichen  Restes  nur  dann,  wenn  die 
Hydra  ganz  nahe  an  der  Knospungsstelle 
zerschnitten  wurde  und  das  junge,  in  Ent- 
stehung begriffene  Individuum  noch  so 
materialarm  ist,  daß  es  alle  vorhandenen 
Stoffe  für  seinen  Aufbau  verbraucht. 
Vorbedingung  für  eine  Aufsau- 
gung ist  daher  auch,  daß  während 
der  ganzen  Zeit  die  Nahrungszufuhr 
von  außen  unterbunden  wird.  Ge- 
schieht dies  nicht,  so  erhält  die  junge 
Knospe,  sowie  sie  selbst  zu  fressen 
imstande  ist,  von  dieser  Seite  ge- 
nügend Material,  und  der  mütter- 
liche Stumpf  gewinnt  dann  Zeit,  die 
Regeneration  zu  beginnen,  sofern  er 
nicht  zu  materialarm  ist. 

Daß  es  nur  eines  kleinen  Vor- 
sprungs bedarf,  um  der  Knospe  das 
Vorrecht  zu  sichern,  lehren  die 
Experimente,  bei  denen  auch  die  Knospe 
zur  Regeneration  veranlaßt  wird.  Schneidet  man 
z.  B.  der  Knospe  ein  Stückchen  an  der  Spitze 
ab,  wie  es  in  Abb.  3  b  angedeutet  ist,  so  hat  sie 
den  Vorteil,  welcher  in  der  bereits  in  Gang  ge- 
kommenen Entwicklungsrichtung  zu  suchen  ist, 
verloren  und  es  beginnt  der  Kampf  in  voller 
Stärke.      In    solchen  Fällen    pflegt    das  Muttertier 


fähig    und   kann   sich   an    der  Unterlage  anheften      sofort  zur  Regeneration  zu  schreiten,  während  bei 


(Abb.  3  b— f ).  Wenn  aber  erst  einmal  die  Knospe 
begonnen  hat,  ihrerseits  ein  Anheftungsorgan  aus- 
zubilden (3d— h),  nimmt  diese  Selbständigkeit, 
die  noch  geblieben,  bald  ein  Ende.  Bei  Abb.  3f 
erfüllen  beide  Füße  noch  ihre  Funktion,  die 
Hydra  ist  doppelt  am  Boden  verankert;  dann 
aber  wird  der  mütterliche  Fuß  nach  und  nach 
immer  kleiner,  so  daß  er  schließlich  nur  noch  als 
Anhängsel  des  neuen  Individuums  erscheint;  und 
schließlich  verschwindet  er  ganz  und  gar. 

Diese   hier   beschriebenen   Verhältnisse   lassen 
sich    indessen    nur    unter    ganz    bestimmten   Be- 


der  Knospe  die  Weiterentwicklung  an  der  Spitze 
gehemmt  ist. 

Die  einmal  eingeschlagene  Wachstumstendenz 
wird  nämlich  zunächst  beibehalten,  und  die  ge- 
köpfte Knospe  bildet  durch  Umbildung  der  unte- 
ren Zellpartien  eine  normale  Fußscheibe  aus.  Erst 
dann  beginnt  die  Regenerationskraft  einzusetzen, 
und  da  hierzu  Bildungsmaterial  nötig  ist,  wird 
nun  dem  Muttertier  Konkurrenz  gemacht.     Meist 


')  E.  Boecker,    Regenerationsversuche    an  knospenden 
Hydren.     Biolog.  Zentralbl.  41,   1921. 


484 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


ist  es  nun  in  diesem  Fall  der  ältere  Organismus, 
der  die  Vormacht  an  sich  reißt.  In  der  Zeit, 
in  der  die  Knospe  den  Fuß  weiter  ausbildete,  hat 
die  Regeneration  der  Mutter  bereits  eingesetzt 
und  damit  ist  ein  Vorsprung  erreicht,  den  das 
Tochtertier  nicht  mehr  einholen  kann.  Es  kann 
in  extremen  Fällen  dann  sogar  vollkommen  seine 
Individualität  verlieren  und  zu  einem  unnützen 
Anhängsel  der  mütterlichen  Hydra  werden,  wobei 
dann  ähnliche  Aufsaugungserscheinungen  zu  be- 
obachten sind,  ^)  wie  wir  es  in  Abb.  3  im  umge- 
kehrten Fall  sahen. 

Bei  manchen  meiner  Experimente  konnte  es 
indessen  zu  noch  komplizierteren  Verhältnissen 
kommen.  Es  trat  nämlich  bei  diesem  Konkurrenz- 
kampf, bei  dem  jeder  einmal  angelegte  Teil  seine 
Individualität  zu  vollenden  oder  herzustellen  be- 
müht war,  noch  eine  weitere  Generation  auf 
den  Plan  und  machte  Ansprüche  an  das  vorhan- 
dene Material.  Bei  Hydren,  die  in  regster  Knospen- 
bildung standen,  wurden  die  Spitzen  der  unge- 
schlechtlichen Fortpflanzungsprodukte  entfernt. 
Darauf  regenerierten  in  manchen  Fällen  weder 
die  Mutter,  die  ebenfalls  zur  Regeneration  veran- 
laßt wurde,  noch  die  Tochterknospe,  sondern  es 
traten  an  den  Stümpfen  der  zweiten  Generation 
neue  Knospenhöcker  auf,  die  vermutlich  in  der 
Anlage  schon  vorhanden  waren,  als  ich  das  Ex- 
periment begann.  Diese  dritte,  kräftige  und  un- 
gehemmte Generation  riß  nun  das  Material  an 
sich,  und  sie  ließ  den  Knospenstümpfen,  denen 
sie  aufsaß,  nur  so  wenig  Material,  daß  diese  oft 
nur  einen  einzigen  Fangarm  auszubilden  ver- 
mochten oder  überhaupt  tentakellos  bleiben  muß- 
ten. Auch  die  erste  Generation  konnte  in  ihrer 
Wiederherstellung  gehindert  sein,  und  bildete  bei- 
spielsweise bei  dem  Versuch,  welcher  der  Abb.  4 
zugrunde  lag,  auf  der  Seite  keine  Fang&rme  aus, 
auf  welcher  die  Nachkommenschaft  die  Bildungs- 
stofif  verbrauchte. 

Kann  man  ein  Ge- 
bilde, wie  es  die  Knospe 
in  Abb.  4  darstellt, 
eigentlich  noch  als 
wirkliches  Individuum 
auffassen  ?  Das  ist 
eine  Zwischenfrage,  die 
ich  hier  stellen  möchte. 
Ein  selbständiges  Le- 
ben läßt  sich  Knospen, 
die  derartig  in  ihrer 
Entwicklung  gehemmt 
sind,  doch  nicht  mehr 
zusprechen.  Individu- 
elle   Funktionen     wie 

Nahrungsaufnahme 
usw.  kommen  ihr  nicht 
mehr     zu;     sie    dient 
lediglich    einer    nach- 


Abb.  4.  Knospende  Hydra; 
nach  Entfernung  der  Kopfteile 
bei  Mutter  und  Knospe  hat  sich 
eine  neue  Knospengeneration 
gebildet,  die  das  Material  so 
an  sich  reißt,  daß  die  Knospe 
nur  einen  einzigen  Tentakel 
bilden  konnte.  Auch  die  Re- 
generation des  Muttertieres  ist 
gehemmt,  es  werden  nur  rechts 
3  kleine  Tentakel  gebildet. 


')  Vgl.  die  Abbildungen  im  Biolog.  Zentralblatt    Bd    40 
1920,  S.  468. 


folgenden  Generation  als  Stütze  und  Ausgangspunkt. 
Wir  haben  hier  einen  Fall  vor  uns,  der  wie  so 
viele  andere  es  äußerst  schwer  macht,  zu  ent- 
scheiden, wo  das  eine  Individuum  anfängt  und 
das  andere  aufhört.  Der  Individualbegrifif  ist 
eben  nichts  absolutes,  es  kommt  immer  darauf 
an,  was  für  einen  Ausgangspunkt  oder  „Bezugs- 
körper" man  ihm  zugrunde  legt. 

Bei  den  nächsten  Verwandten  unserer  Hydren, 
den  im  Meere  lebenden  Polypenstöckchen,  ge- 
hören derartige  Gebilde,  die  nur  den  Durchgangs- 
körper für  eine  neue  Generation  bilden,  zum  nor- 
malen Entwicklungszyklus;  sie  werden  dort  mit 
den  Namen  Gonophoren,  Blastostyle  u.  a.  Be- 
zeichnungen belegt,  je  nach  den  F"unktionen,  die 
sie  zu  erfüllen  haben.  Daß  hier  bei  Hydra,  wo 
wir  sonst  nichts  Derartiges  finden,  solche  Ge- 
bilde auf  experimentellem  Wege  durch  Entwick- 
lungshemmung entstehen  konnten ,  gibt  einen 
Fingerzeig,  wie  diese  Ausbildungen  der  marinen 
Hydrozoen  entstanden  sein  mögen. 

Bei  Hydra  ist  die  Ursache  solcher  Erscheinun- 
gen jedenfalls  stets  im  Kampf  um  das  Material 
zu  suchen.  Jeder  Abschnitt  sucht  das  zu  voll- 
enden, wozu  er  bestimmt  ist.  Die  wachsende 
Knospe  ist  bestrebt,  ihre  Individualität  auszubilden, 
und  wenn  sie  selbst  gehemmt  ist,  kann  wieder 
ihre  Nachkommenschaft  sich  soweit  entwickeln, 
daß  sie  alles  daran  setzt,  selbständig  zu  werden. 
Das  Muttertier  wiederum  sucht  mit  Hilfe  der 
Regenerationskraft  die  Einheit  zu  retten;  und  so 
tritt  dann  der  Konkurrenzkampf  ein,  da  ja  alle 
Abschnitte  noch  miteinander  in  Zusammenhang 
stehen  und  trotz  der  Selbständigkeit  doch  die  ein- 
zelnen Teile  aufeinander  angewiesen  sind. 

Während  nun  bei  reichlich  gefütterten  Exem- 
plaren dieser  Kampf  um  das  Material  leicht  be- 
friedigt werden  kann,  kommt  es  bei  hungernden 
Tieren  zu  einem  Wettlauf  der  einzelnen  Teile, 
bis  irgendein  Komplex  sein  Übergewicht  geltend 
machen  kann.  Das  dauert  unter  Umständen  sehr 
lange,  besonders  bei  gleichmäßiger  Entwicklungs- 
stufe der  Komponenten;  es  kann  sogar  vor- 
kommen, daß  keinem  der  Teile  der  Sieg  zu- 
kommt und  dann  alle  aus  Materialmangel  zu- 
grunde gehen.  Meist  tritt  dann  aber  bald  eine 
Regulation  ein;  das  kräftigste  Teilstück  mit  dem 
energischsten  Wachstum  vergrößert  sich  allein. 
Es  nimmt  zunächst  alle  vorhandenen  Nahrungs- 
materialien für  sich  in  Anspruch  und  unterdrückt 
so  die  Weiterentwicklung  an  anderen  Stellen. 
So  gewinnt  es  nach  und  nach  immer  größere 
Selbständigkeit  und  ein  immer  größeres  Über- 
gewicht, so  daß  es  auch  die  anderen,  noch  nicht 
soweit  differenzierten  Teile  als  Nahrungsreservoir 
benützt  und  einschmilzt.  Nach  anfänglichem 
Kampf  der  Teile  untereinander  wird  dadurch 
bald  ein  Gleichgewichtszustand  wiederhergestellt 
und  aus  dem  vorhandenen  Material  nicht  mehrere 
lebensunfähige  Teilprodukte  sondern  eine  einzige 
kräftige  Individualitätseinheit  geschafifen. 

Anders  als  bei  den  Seesternen  macht  sich  bei 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


485 


den  Hydren  die  Selbständigkeit  der  Teile  bemerk- 
bar. Im  Zusammenhang  miteinander  wirken  die 
Einzelabschnitte  als  Teile  eines  ganzen;  erst  wenn 
sie  experimentell  beeinflußt  werden,  zeigen  sie 
ihre  Aktivität  und  beweisen,  daß  sie  selbständig 
zu  leben  vermögen.  Jede  aktive  Potenz  sucht 
dann  die  Macht  an  sich  zu  reißen  und  ein  voll- 
kommenes Individuum  zu  bilden.  Bringt  man 
dagegen  herausgenommene  Teilstücke  wieder  in 
den  Zusammenhang  mit  anderen,  so  hört  die 
Selbständigkeit  und  damit  die  Aktivität  wieder 
auf.  Dabei  ist  es  dann  ganz  gleichgültig,  ob 
man  Teile  zusammenfügt,  die  schon  früher  zu- 
sammengehörten oder  nicht.  Wie  bereits  WetzeP) 
zeigen  konnte,  lassen  sich  auch  Abschnitte  ver- 
schiedener      Exemplare       zur      Verwachsung 


bringen,  und  ich  selbst  konnte  neuerdings  an 
verschiedenfarbigen  Hydren  nachweisen,')  daß 
durch  ein  Pfropfen  von  grünen  Teilen  auf  weiße 
oder  braune  Stücke  die  Regeneration  nicht  nur 
aufgehoben  wurde,  sondern  auch  ein  Zusammen- 
wachsen zu  einer  vollständigen  Einheit  mög- 
lich ist. 

Wie  bei  solchem  Austausch  ganzer  Tierhälften 
die  Individualität  der  so  entstandenen  neuen 
Tiere  beurteilt  werden  muß,  ist  natürlich  niemals 
mit  Sicherheit  anzugeben;  wieder  ein  Zeichen 
dafür,  daß  der  Begriff  „Individuum"  nichts  abso- 
lutes sein  kann. 


')  Wetzel,    S.,    Transplantationsversuche     mit    Hydren. 
Arch.  mikroskop.  Anatomie,  45   u.   52,   1895   u.  98. 


')  W.  Goetsch,  Eine  neue  Symbiose  bei  Süßwasser- 
polypen. Sitz.-Ber.  der  Ges.  f.  Morphologie  und  Physiologie. 
München   1921. 

—  — ,  Hermaphroditismus  und  Gonochorismus  bei  Hydro- 
zoen.     Zoolog.  Anzeiger,  Bd.   54  u.   55. 


Über  den  Einfluß  der  Erdiundrehuug  auf  den  Bau  von  Flußbetten. 


[Nachdruck  verboten. ]  Von    L. 

Der  vorstehende  Gegenstand  gilt  bei  der 
großen  Mehrzahl  der  Geographen  und  Geologen 
für  abgetan  durch  den  Vortrag  von  Prof.  Zöpp- 
ritz  auf  dem  2.  Deutschen  Geographentag  im 
Jahre  1882  „Über  den  angeblichen  Einfluß  der 
Erdrotation  auf  die  Gestaltung  von  Flußbetten". 
Die  Ausführungen  von  Zöppiitz  in  diesem 
Vortrag  richten  sich  gegen  einen  Satz  von 
K.  E.  v.  Baer,')  der  sich  kurz  in  folgende  Worte 
fassen  läßt:  „Ein  Fluß  auf  der  Nordhalbkugel 
greift  sein  rechtes  Ufer  stärker  an  als  das  linke. 
Auf  der  Südhalbkugel  ist  es  umgekehrt."  Zöpp- 
ritz  sagt:  Der  Theorie  nach  muß  in  der  Tat  die 
Erdrotation  einen  solchen  Einfluß  ausüben.  Ein 
jedes  bewegte  Wasserteilchen  erhält  durch  die 
Erdrotation  eine  Beschleunigung  gegen  rechts. 
Da  das  Bett  die  Wasserteilchen  eines  Flusses 
hindert  dieser  Beschleunigung  zu  folgen,  so  üben 
sie  einen  stetigen  Druck  gegen  das  rechte  Ufer 
aus.     Die  Beschleunigung  beträgt 

p  =  2((j- vsin/i. 
Hier    ist    w    die  Größe   der  Erddrehung   in    einer 

27t 

Sekunde,  also    „^    - — ,    v  die  Stromgeschwindig- 
öo  104 

keit,  ß  die  geographische  Breite. 

Die  Beschleunigung  gegen  rechts  bewirkt  eine 
Ablenkung  der  Schwerkraft  und  dadurch  ein  An- 
steigen des  Wasserspiegels  gegen  die  rechte  Seite. 
Diese  Ablenkung  der  Schwerkraft  beträgt  aber, 
wenn  man  für  v  den  schon  ziemlich  hochgegrif- 
fenen Wert  von  2  m  nimmt,  im  höchsten  Falle 
nur  6,15  Winkelsekunden,  die  dadurch  bewirkte 
Erhebung  des  Wasserspiegels  am  rechten  Ufer 
bei    einem    Fluß    von    looo  m  Breite    nur    3  cm. 


Henkel. 

Dieser  Betrag  aber,  so  schließt  Zöppritz,  ist 
so  geringfügig,  daß  er  keine  irgend  bemerkbare 
Wirkung  auf  die  Gestalt  der  F'lußbetten  ausüben 
kann.\)  DievonBaer  an  den  sibirischen  Flüssen 
beobachtete  Tatsache,  daß  das  rechte  Ufer  durch- 
weg steil,  das  linke  flach  ist,  muß  also  auf  anderen 
Gründen  beruhen.  „Zu  suchen  sind  sie  sicherlich 
in  den  das  ganze  Jahr  hindurch  dort  vorherr- 
schenden Westwinden,  welche  den  östlichen  Ufer- 
rand stärker  mit  Wellen  peitschen  und  abbröckeln." 

Zu  dem  letzten  Satz  von  Zöppritz  ist  nun 
zunächst  zu  bemerken,  daß  er  tatsächlich  voll- 
kommen unrichtig  ist,  wenn  er  auch  vierzig  Jahre 
lang  unwidersprochen  geblieben  ist.  Es  ist  eben 
eine  psychologische  Tatsache,  daß  gegen  eine 
Behauptung,  die  mit  der  nötigen  Sicherheit  und 
vor  allem  unter  Gebrauch  des  bestimmten  Artikels 
vorgetragen  wird  („die  das  ganze  Jahr  hindurch 
vorherrschenden  Westwinde"),  sich  so  leicht  nie- 
mand hervorwagt.  Wie  z.  B.  Tafel  X  in  Supans 
Physischer  Erdkunde  zeigt,  herrschen  in  Sibirien 
keineswegs  das  ganze  Jahr  hindurch  Westwinde, 
vielmehr  im  Sommer,  auf  den  es  allein  ankommt, 
Nordwinde.  Die  Windrichtung  im  Winter,  wo 
die  sehr  zusammengeschwundenen  Flüsse  von 
dicker  Eisdecke  geschlossen  sind,  ist  natürlich 
ohne  Einfluß. 

Ferner  aber  ist  die  Untersuchung  von  Zöpp- 
ritz überhaupt  auf  ein  falsches  Geleis  geraten 
und  ganz  am  Ziele  vorbeigegangen.  Baer  spricht 
von  dem  Einfluß  der  Erdrotation  auf  die  seitliche 


')  Über    ein    allgemeines  Gesetz    in    der    Gestaltung    der 
Flußbetten.     Bull,  de  l'acad.  de  St.  Petersbourg  1860. 


')  Der  gleiche  Gedankengang,  nur  mit  Zugrundelegung 
anderer  Zahlen,  findet  sich  schon  früher  bei  E.  D  unk  er 
(Zeitschr.  f.  d.  ges.  Naturw.  1S75).  Dieser  bestreitet  über- 
haupt, daß  ein  Unterschied  des  rechten  und  linken  Ufers  in 
Baers  Sinne  festzustellen  sei,  wobei  er  sich  auf  einige  Bei- 
spiele aus  Kurbessen  stutzt. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Erosion  der  Flüsse,  Zöppritz  spricht  von  der 
winzigen  Schrägstellung  des  Wasserspiegels,  die 
durch  die  Erdrotation  hervorgerufen  wird,  d.  h. 
von  etwas  ganz  anderem. 

Mathematische  Formeln  sind  gut,  nur  muß 
man  aus  ihnen  die  richtigen  Folgerungen  ziehen. 
Die  F"ormel  p^2vw.sin^  ist  natürlich  unfehlbar 
richtig.  Aus  ihr  folgt  für  v  =  i  m,  ß=  50",  der 
Wert  p=  0,01 12  cm.  Neben  dieser  seitlichen  Ab- 
lenkung wirkt  auf  die  Wasserieilchen,  und  zwar 
als  hauptsächliche  Kraft,  eine  Komponente  der 
Schwerkraft,  aber  keineswegs  die  ganze  Schwer- 
kraft. Jedes  Teilchen  erhält  daher  in  der  Gefälls- 
richtung nicht  die  Beschleunigung  g^^gSocm, 
wie  ein  frei  fallender  Körper,  sondern  nach  der 
Formel  für  den  Fall  auf  der  schiefen  Ebene  die 
Beschleunigung 

g'  =  gsinß, 
wo  «  der  Neigungswinkel  des  Flußbettes  ist.  Nun 
ist  der  Winkel  «  bei  allen  größeren  Flüssen  be- 
kanntlich recht  klein.  Selbst  bei  einem  Gefälle 
von  5  m  auf  i  km,  wie  es  an  Gebirgsbächen 
herrscht,  z.  B.  an  der  Schwarza  abwärts  von 
Schwarzburg,  beträgt  a  nur  o"  i  r',  g'  ist  dann 
4,866  cm.  Bei  0,25  m  Gefälle  auf  i  km  (Elbe 
bei  rirna)  ist  g'  =  0,3020  cm,  bei  o,  1 3  m  Gefälle 
(Elbe  unterhalb  der  Havelmündung)  0,1274  cm, 
bei  0,05  m  (unterer  Oxus)  0,0490  cm,  bei  0,03  m 
Gefälle  (Wolga  bei  Saratow)  0,0294  cm.  Die  Be- 
schleunigung g'  kommt  vom  Gefälle  des  Flusses 
her,  die  Beschleunigung  p  von  der  Wirkung  der 
Erdumdrehung.  Die  obigen  Zahlen  lehren  uns 
daher:  Die  Wirkung  der  Erdrotation  ist,  wenn 
die  Strömungsgeschwindigkeit  i  m  beträgt,  an 
der  Schwarza  '/^g,  von  der  Wirkung  des  Gefälles, 
an  der  Elbe  bei  Pirna  '/o.,,  an  der  unteren  Elbe 
Vij,  am  unteren  Oxus  ungefähr  ^/g,  an  der  Wolga 
bei  Saratow   -/j ;  oder  mit  anderen  Worten : 

Die  Wirkung  der  Erdrotation  ist  bei 
Flüssen  von  geringem  Gefälle  sehr  be- 
deutend, nimmt  aber  mit  wachsendem 
Gefälle  rasch  ab  und  wird  bei  Gebirgs- 
flüssen  unmerklich  gering.  (Übrigens 
hatte  Baer  selbst  schon  ausgesprochen,  daß  bei 
kleinen  Flüssen  keine  Wirkung  der  Erdrotation 
zu  bemerken  sei,  was  in  der  Praxis  sich  großen- 
teils mit  dem  eben  Gesagten  deckt.) 

Setzen  wir  die  beiden  auf  die  Wasserteilchen 
wirkenden  Kräfte,  Schwerkraftkomponente  und 
Erdrotation,  nach  dem  Parallelogramm  der  Kräfte 
zusammen,  so  ergibt  sich  (immer  eine  Strömungs- 
geschwindigkeit von  I  m  vorausgesetzt):  Die  Erd- 
rotation sucht  die  Wasserteilchen  von  der  Gefälls- 
richtuiig  abzulenken  an  der  Schwarza  um  o"  8', 
an  der  Elbe  bei  Pirna  um  2^1.,",  an  der  unteren 
Elbe  um  5 -74",  am  unteren  Oxus  um  12",  an  der 
Wolga  bei  Saratow  um  2  1  " I 

Übrigens  ist  die  ablenkende  Wirkung  der  Erd- 
rotation durch  die  bisher  betrachteten  Erschei- 
nungen noch  nicht  erschöpft. 

Zu  der  Rechtsablenkung,  die  auf  jeden  be- 
wegten Körper  auf  der  Erde  ohne  Rücksicht  auf 


seine  Bewegungsrichtung  gleich  stark  wirkt,  weil 
er  seine  Richtung  im  Räume  beibehält,  wäh- 
rend die  Linien  auf  der  Erdoberfläche  ihre  Lage 
im  Räume  infolge  der  Rotation  ändern,  kommt 
nämlich  noch  eine  zweite  Art  der  Ablenkung, 
wenn  er  bei  seiner  Bewegung  seine  geographische 
Breite  ändert. 

Diese  Ablenkung  beruht  darauf,  daß  ein  auf 
einen  anderen  Parallelkreis  versetzter  Körper  seine 
Flächengeschwindigkeit  beibehält  (d.  h.  die 
Fläche,  die  der  Radius  des  Parallelkreises  in  der 
Sekunde  bestreicht).  Diese  Ablenkung  ist  bei  pol- 
wärts  gerichteter  Bewegung  gegen  Ost,  bei  äqua- 
torwärts  gerichteter  Bewegung  gegen  West  ge- 
richtet. Wenn  sich  ein  Körper  unter  der  Breite  cp 
mit  der  Geschwindigkeit  v  bewegt  und  seine 
Richtung  mit  dem  Meridian  den  Winkel  «  bildet, 
so  erhält  er  durch  die  Ostablenkung  die  Be- 
schleunigung q  =  VW  sin  (p  ■  cos  a. ') 


■)  Diese  Formel  ergibt  sich  folgendermaßen: 
Es  seien  p  und  <<'  die  Radien  zweier  unendlich  benach- 
barter Parallelkreise  mit  der  geographischen  Breite  f  und 
(/ '  :=  if  -\~  d  (f '^  c  und  c'  seien  die  linearen  Umdrehungsge- 
schwindigkeiten auf  diesen  Parallelkreiscn.  Bewegt  sich  nun 
der  Körper  von  dem  ersten  dieser  Kreise  zum  zweiten  in  der 
Zeit  dt,  so  erhält  er  eine  neue  lineare  Umdrehungsgeschwin- 
digkeit X,  so  daß 

pc        p'x    . 


also 


oco  ist,  so  ist 


(/         rcos(5r-|-d9r)        cos(y  +  d-/) 
Der  Zuwachs  der  linearen  Umlaufsgeschwindigkeit  in  der 
Zeit  dt  ist  also 

rn»  cos  f  [cos  f  —  cos  (y  -|-  dy)] 


cos{5i>-|-d9r') 
Der  Zuwachs  in   einer  Sekunde,  d.  h.   die  Beschleunigung, 


Es  ist  aber  der  von  dem  Körper    in    der    Zeit    dt    durch- 
laufene Weg  DF=vdt; 


der  Abstand   der  Parallelkreise 

EF  =  r  dy,   daher 

.   rdy. 

cos  a' 

rdip 


Tdt  = 


dt  = 


folglich 


Vü^.  cos  «'COS  y  [cosy  —  cos  (y  -|-dy)] 
costyi-j-djrjdy 
/       d  cos  ff  \ 
=  Vß)  •  cos  a — 

\      dy   ; 

=  VW.  sin  y.cos  « 

In  den  Lehrbüchern  wird  diese  Wirkung  der  Erhallung 
des  Rotationsmoments,  durch  die  ein  Körper  bei  polwärts 
gerichteter  Bewegung  seine  lineare  Umdrehungsgeschwindigkeit 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


487 


Die  Ostablenkung  bildet  mit  der  Rechts- 
ablenkung ebenfalls  den  Winkel  «.  In  die  Rich- 
tung der  Rechtsablenkung  fällt  also  eine  Kom- 
ponente der  Ostablenkung.  Die  Größe  dieser 
Komponente  ist  qcos«  —  vwsiny-cos'-«.  Die 
Gesamtbeschleunigung    der   Rechtsablenkung    ist 

also  z  =  2vw-sinf/i-(i  +  -  cos-a). 

Nur  für  « =  90",  also  für  die  Bewegung  im 
Parallelkreis,  bleibt  also  z=  vto sin  (p.  Für  jeden 
anderen  Wert  von  a  ist  z  größer  und  erhält  für 
a  =  O  den  größten  Wert  ßvw  sin  cp. 

Von  besonderer  Bedeutung  muß  die  Wirkung 
der  Erdumdrehung  auf  die  Verteilung  der  Strom- 
geschwindigkeit innerhalb  des  Flusses  werden. 
Beide  Arten  der  Ablenkung  wachsen  im  selben 
Maß  wie  die  Strömungsgeschwindigkeit.  Die  am 
raschesten  bewegten  Teile,  die  des  „Stromstrichs", 
werden  also  auch  am  stärksten  abgelenkt.  Sie 
werden  überdies  sich  wie  ein  Wall  quer  vor  die 
langsamer  fließenden  Teile  rechts  von  ihnen  legen, 
sie  aufstauen  und  zwingen,  über  sie  selbst  hin 
abzuströmen.  Es  wird  also  bewirkt,  daß  der  am 
raschesten  fließende  Teil  des  Wassers  gegen  das 
rechte  Ufer  und  zwar  gegen  seinen  Fuß  gedrängt 
wird  und  so  um  so  stärker  an  dessen  Zerstörung 
arbeitet. 

Die  Wirkung  der  gegen  das  rechte  Ufer  ge- 
richteten zerstörenden  Kraft  auf  die  Geländeform 
wird  einigermaßen  von  der  vorhandenen  Boden- 
gestalt abhängig  sein.  Greift  der  Fluß  ansteigen- 
des Land  an,  so  wird  er  auf  der  rechten  Seite 
ein  Steilufer  erzeugen,  dem  ein  flaches  auf  der 
linken  Seite  gegenübersteht.  Fließt  er  aber  in 
einer  vollkommenen  Ebene,  so  wird  sich  ein  sol- 
cher Gegensatz  nicht  deutlich  ausbilden  können, 
obgleich  die  seitwärts  drängende  Kraft  vielleicht 
gerade  besonders  stark  wirkt. 

Der  Beobachtung  bieten  sich  wichtige  Auf- 
gaben. Es  wird  sich  darum  handeln,  festzustellen, 
wie  groß  das  Gefälle  werden  kann,  ohne  daß  der 
Einfluß  der  Erdrotation  unmerklich  wird.  Wirkt 
eine    andere    Kraft,    z.  B.  Winddruck,    im   selben 


nicht  blofi  beibehält,  sondern  vermehrt,  gewöhnlich 
nicht  beachtet.  Übrigens  möchte  ich  ausdrücklich  bemerken, 
daß  sie  für  die  Frage  der  Gültigkeit  des  Ba  er  sehen  Gesetzes 
nicht  von  Bedeutung  ist.  Die  steht  auch  schon  fest,  wenn 
man  nur  die   einfache  Rechtsablenkung  in  Betracht  zieht. 


Sinne  wie  die  Erdrotation,  so  ist  zu  untersuchen, 
wie  stark  der  Einfluß  ist,  der  jeder  von  ihnen 
zukommt.  Andererseits  werden  Fälle  vorkommen, 
wo  sich  die  Kräfte  entgegenwirken,  und  dann 
gilt  es ,  zu  bestimmen,  ob  und  inwieweit  von 
einer  ein  Rest  übrig  bleibt.  Dagegen  wird  man 
sich  die  Mühe  sparen  können.  Beweise  oder 
Gegenbeweise  zu  Baers  Theorie  an  ungeeigneten 
Gegenständen  führen  zu  wollen.  Man  widerlegt 
Baers  Theorie  nicht  durch  den  Hinweis  darauf, 
daß  an  der  Bode  oder  an  der  Fulda  bei  Ditters- 
hausen  oder  an  der  Lahn  bei  Gisselberg  das  Steil- 
ufer auf  der  linken  Seite  liegt.  Solche  Tatsachen 
erklären  sich  jetzt  zwanglos  aus  dem  beträcht- 
lichen Gefälle  der  genannten  Flüsse. 

Das  klassische  Gebiet  für  die  Wirkung  der 
Erdumdrehung  auf  die  Gestaltung  der  Flußbetten 
ist  Rußland  und  Westsibirien.  Hier  wirken  alle 
Umstände  zusammen,  um  den  Einfluß  der  Erd- 
rotation zur  Geltung  kommen  zu  lassen ;  geringes 
Gefälle,  vorwiegend  meridionaler  Lauf,  Boden  von 
geringer  Festigkeit,  mächtiges  Hochwasser,  dazu 
starker  Eisgang,  der  die  seitliche  Erosion  gewaltig 
unterstützt.  Hier  herrscht  wirklich  „das  Baer- 
sche  Gesetz".  Mit  großartiger  Regelmäßigkeit  ist 
rechts  vom  Fluß  die  Bergseite,  links  die  Wiesen- 
seite ausgebildet.  Zur  Erklärung  wird  zwar  die 
Wirkung  der  Winde  angeführt,  regelmäßig  mit 
souveräner  Nichtbeachtung  der  klimatologischen 
Tatsachen,  wie  in  dem  oben  angeführten  klassi- 
schen Beispiel.  Diese  Erklärung  widerlegt  sich 
aber  von  selbst  durch  die  Tatsache,  daß  das 
Bergufer  immer  rechts  liegt,  mag  der  Strom 
nach  Norden  oder  nach  Süden  fließen.  Am 
schönsten  ist  dies  zu  sehen  an  dem  schon  von 
K.  E.  v.  Baer  angeführten  Beispiel  der  Swijaga. 
Dieser  Fluß  kommt  bei  Simbirsk  der  Wolga  schon 
so  nahe,  daß  nur  der  schmale  Rücken,  auf  dem 
diese  Stadt  steht,  die  beiden  Flüsse  trennt  und 
man  bei  manchen  Häusern  das  Spülwasser  nach 
Gefallen  zur  Wolga  wie  zur  Swijaga  leiten  kann. 
Dann  aber  wendet  sich  die  Swijaga  scharf  nach 
Norden  und  mündet  erst  160  km  wolgaaufwärts 
in  den  Hauptfluß.  Auf  dieser  ganzen  Strecke 
hat  jeder  der  beiden  nebeneinander  herströmen- 
den Flüsse  das  Bergufer  auf  der  rechten  Seite, 
die  Wolge  also  im  Westen,  die  Swijaga  im  Osten. 
Es  ist  also  ganz  unmöglich,  daß  der  Gegensatz 
von  den  Winden  herrührt. 


Die  Verweitung  der  Meiulelschen  Spaltiuigs- 
gesetze  für  die  Deutung  von   Artbastardeu. 

Die  Herkunft  eines  Bastardes  genau  zu  er- 
mitteln, stößt  oft  auf  die  größten  Schwierigkeiten. 
Ich  erinnere  nur  an  die  verschiedenen  Stiefmütter- 
chen und  die  vielen  Rosenformen,  die  heutzutage 
unsere  Gärten  schmücken  und  von  denen  sich 
in  vielen  Fällen  nur  sagen  läßt,  daß  sie  hybriden 


Einzelberichte. 

Ursprungs  sind,  während  sich  über  die  Stamm- 
eltern nur  Vermutungen  anstellen  lassen.  Selbst 
durch  künstliche  Bestäubung  der  fraglichen  Eltern 
hat  sich  die  Herkunft  mancher  dieser  Bastard- 
formen nicht  restlos  aufklären  lassen.  R.  Wett- 
stein')  hat  nun  neuerdings  gezeigt,  wie  man  die 


')  Zeitschrift  f.  induktive  Abstammungs-  und  Vererbungs- 
lehre, XXllI.  Bd.,   1920. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Abstammung  solch  fragwürdiger  Bastarde  auch 
noch  auf  andere  Weise  ermitteln  kann.  Aus- 
gehend von  der  gesicherten  Beobachtungstatsache 
unserer  Vererbungsforscher,  daß  bei  reiner  Fort- 
züchtung eines  Bastardes  unter  günstigen  Be- 
dingungen auch  die  Stammeltern  wieder  erscheinen 
können,  hat  R.  Wettstein  versucht,  die  noch 
immer  fraglichen  Eltern  unserer  Gartenaurikel 
{Priniitla  Iwrtciisis)  auf  experimentelle  Weise  fest- 
zustellen. 

Zu  diesem  Zwecke  wurde  ein  Exemplar  von 
Priniiila  Jwrtciisis  mit  drüsigen  und  in  der  Jugend 
etwas  mehligen  Blättern,  sowie  dunkelbraunrot 
gefärbter  Blumenkrone  mit  gelbem  Schlund  ab- 
gesondert und  mit  eigenem  Pollen  bestäubt.  Die 
aus  den  Samen  dieser  Stammpflanze  im  Laufe 
von  einigen  Jahren  erzielten  75  Abkömmlinge 
zeigten  in  bezug  auf  Blütenfarbe,  Behaarung  und 
Bestäubung  der  Laubblätter  die  größte  Mannig- 
faltigkeit. Wichtig  waren  in  dieser  vielgestaltigen 
Gesellschaft  vor  allem  drei  Exemplare,  die  von 
Priniula  Jiirsiita  All.  äußerlich  nicht  zu  unter- 
scheiden waren  und  außerdem  noch  ein  Exemplar, 
das  der  schön  goldgelb  blühenden  Priinida  Atin- 
cula  L.  wenigstens  sehr  nahe  kam.  Damit  war 
die  alte  Streitfrage  nach  den  Stammeltern  unserer 
Gartenaurikel  in  einwandfreier  Weise  auch  durch 
das  Experiment  gelöst  und  die  schon  von  A.  Ker- 
ner geäußerte  Ansicht,  nach  der  Prinnila  hor- 
tcHsis  von  P.  piibcscciis  (=  P.  hirsiita  yC^Auricula) 
abzuleiten  ist,  bestätigt.  Zu  bemerken  wäre  noch, 
daß  nach  R.  Wettstein  mehrere  rein  gezüchtete 
Rassen  unserer  Gartenaurikel  wahrscheinlich  erst 
sekundär  durch  Mutationen  entstanden  sein  sollen. 
E.  Schalow  (Breslau). 

Holetxis-kxi^xi  als  Mykorrhizenpilze 
der  Waldbäunie. 

Den  Pilzsammlern  war  es  längst  aufgefallen, 
daß  sich  einige  unserer  höheren  Pilze  mit  Vor- 
liebe unter  ganz  bestimmten  Baumarten  finden. 
So  sollte  u.  a.  Boletus  clcgans  Schum.  nur  unter 
Lärchen,  B.  Intens  L.  fast  ausschließlich  unter 
Kiefern  MViA  B.  Boiidieri(^w&\.  nur  unter  Weimuts- 
kiefern vorkommen.*)  Neuerdings  ist  es  nun 
Elias  Melin  gelungen,  das  Zusammenleben 
einiger  Buletiis-Kx\.^x\  ,  mit  den  Wurzeln  be- 
stimmter Waldbäume  durch  Versuche  einwands- 
frei  zu  erweisen.-) 

Melin  war  von  der  Beschäftigung  mit  unseren 
Mykorrhizenpilzen  ausgegangen.  Dabei  war  es 
ihm  möglich  gewesen,  drei  echte  Mykorrhizen- 
pilze der  Kiefer  zu  isolieren,  die  er  Alyceliiiin 
Radicis  süvesiris  a,  ß,  y  nannte.  Bei  der  Mchte 
konnte  er  nur  eine  Form  {MyecUum  Radicis 
Abietis)  feststellen.     Da   diese  Pilze   in  den  Rein- 


')  Vgl.  hierzu  auch  die  Beobachlungen  einiger  Pilz- 
freunde in  der  Zeitschrift:  „Aus  der  Heimat"  1921,  H.  11/12 
u.   1922,  H.  3. 

'')  Vgl.  Elias  Melin  in  Ber.  Deutsch.  Bot.  Ges.  IQ22, 
H.  3. 


kulturen  weder  Konidien  noch  F"ruchtkörper  ent- 
wickelten, konnte  ihre  systematische  Stellung 
nicht  sicher  entschieden  werden.  Melin  ver- 
suchte nun  auf  andere  Weise  die  Mykorrhizen- 
pilze genauer  zu  bestimmen.  Die  Beobachtungen 
der  Pilzsammler  brachten  ihn  auf  den  Gedanken, 
daß  vielleicht  einige  dieser  bekannten  Waldpilze 
zur  Mykorrhizabildung  beitragen.  Durch  genaue 
Versuche  wurden  nun  diese  längst  vermuteten 
Zusammenhänge  nachgeprüft.  Zu  diesem  Zwecke 
stellte  M.  zunächst  Reinkulturen  verschiedener 
Boletus -hricn  her.  Sodann  wurden  etwa  3  Mo- 
nate alte,  steril  gezogene  Kiefernpflänzchen  mit 
dem  Myzel  von  Boletus  luteus  geimpft.  Dies 
geschah  in  der  Weise,  daß  Myzel  mit  einer  Platin- 
nadel direkt  auf  die  Stammbasis  der  kleinen,  in 
Kölbchen  gezogenen  Kiefern  gebracht  wurde. 
Das  Myzel  bildete  sich  zu  einer  typischen  Mykor- 
rhiza  aus.  Damit  war  der  erste  sichere  Nachweis 
erbracht,  daß  Boletus  luteus  an  der  Mykorrhiza- 
bildung beteiligt  ist.  Impfversuche  desselben 
Pilzes  auf  Fichte  führten  vorläufig  noch  zu  keinem 
klaren  Ergebnis.  Dagegen  veranlaßte  Boletus  clc- 
gans auf  den  Wurzeln  junger  Lärchen  {Larix 
eurof'aea)  recht  deutliche  Mykorrhizabildungen. 
Da  dieser  Pilz  mit  den  Wurzeln  von  Kiefer  und 
Fichte  nicht  zusammenlebte,  ist  er  nach  M.  wahr- 
scheinlich als  obligater  Lärchenpilz  zu  betrachten. 
Ob  außer  Boletus-Arlen  auch  noch  andere  Humus- 
pilze die  gleiche  Rolle  im  Haushalt  unserer  Wäl- 
der spielen,  müssen  weitere  in  Aussicht  gestellte 
Untersuchungen  lehren.      E.  Schalow  (Breslau). 

Neue  Verdunstungsmessungeu  an  Binnenseen. 

Das  alte  Problem,  den  numerischen  Wert  der 
Verdunstung  von  einer  Seeoberfläche  völlig  exakt 
zu  bestimmen,  das  nach  Foreis  Ansicht  (Handb. 
der  Seenkunde  S.  48)  für  die  Hydrologie  von 
größter  Bedeutung  ist,  war  bisher  trotz  vielfacher 
Versuche  auf  diesem  Gebiet  ungelöst  geblieben. 
Auf  zwei  Wegen  konnte  man  zur  Lösung  des- 
selben gelangen.  Entweder  stellte  man  die  Größe 
aller  Zu-  und  Abflüsse,  die  unmittelbar  auf  den 
See  fallende  Niederschlagsmenge  und  die  Ver- 
änderung der  Höhe  des  Seespiegels  fest  und  be- 
stimmt daraus  durch  eine  sehr  einfache  Rechnung 
die  Höhe  der  Verdunstung  oder  man  bestimmte 
in  einem  Gefäß,  in  welchem  das  Wasser  mög- 
lichst unter  gleichen  Bedingungen  stand  wie  im 
See,  die  durch  die  Verdunstung  entstehende 
Senkung  des  Wasserspiegels.  Zweifellos  ist  theo- 
retisch der  erstere  Weg  der  sicherere  und  voll- 
kommenere, weil  man  auf  ihm  die  Verdunstung 
in  ihrer  Gesamtheit  erliält,  während  auf  dem 
anderen  immer  nur  die  Verdunstung  an  einer 
bestimmten  Stelle  des  Sees  gemessen  werden 
kann  und  man  genötigt  ist,  da  die  Verdunstung 
an  verschiedenen  Stellen  des  Sees  meist  vonein- 
ander abweicht,  an  möglichst  zahlreichen  Punkten 
des  Sees  die  Messung  vorzunehmen.  Praktisch 
führt  aber  der  zuerst  genannte  Weg  nur  dann  zu 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


489 


einem  sicheren  Ziel,  wenn  man  imstande  ist,  den 
gesamten  Zu-  und  Abfluß  eines  Sees  wirklich 
einwandfrei  zu  messen.  Das  ist  aber  nur  dann 
möglich,  wenn  erstens  ein  unterirdischer  Abfluß 
und  Speisung  des  Sees  ausgeschlossen  ist  und 
wenn  die  oberflächlichen  Zuflußmengen  der 
kleinen  Zuflüsse  so  unbedeutend  sind,  daß  sie 
gegenüber  dem  Hauptzufluß  unbeschadet  einer 
vernünftigen  Genauigkeit  vernachlässigt  werden 
können.  Diese  Möglichkeit  ist  offenbar  nur  in 
außergewöhnlich  trockenen  Sommern  gegeben 
und  es  ist  daher  begreiflich,  daß  J.  Maurer- 
Zürich,  der  diesen  Weg  als  erster  —  und  einziger 
beschritten  hat,  für  seine  darauf  bezüglichen  Unter- 
suchungen den  ungewöhnlich  trockenen  Sommer 
des  Jahres   191 1   ausgesucht  hatte. 

Ob  in  diesem  Fall  auch  die  unterirdischen 
Zuflüsse  vernachlässigt  werden  konnten,  wie 
Maurer  annimmt,  oder  ob  dies  nach  der  Mei- 
nung von  Karl  Fischer  nicht  möglich  war, 
soll  hier  nicht  näher  erörtert  werden, i)  sicher  ist 
aber,  daß  für  die  Seen  des  norddeutschen  Flach- 
landes der  Maurersche  Weg  ungangbar  ist,  wie 
dies  auch  bei  vielen  anderen  Seen  unzweifelhaft 
der  Fall  ist,  und  daß  wir  dann  daher  genötigt 
sind,  das  zweite  Verfahren  der  Verdunstungsgröße 
eines  stehenden  Gewässers  trotz  aller  nicht  weg- 
zuleugnenden Mängel  einzuschlagen.  Diese  Mängel 
beruhen  auf  verschieden  Umständen.  Zunächst 
liefern  eine  oder  wenige  Meßstellen  notwendiger- 
weise kein  für  den  ganzen  See  allgemein  gültiges 
Resultat.  Die  Messungen  an  vielen  Stellen  aus- 
zuführen scheitert,  abgesehen  von  anderen  Gründen, 
schon  an  dem  Kostenpunkt,  der  sogar  dazu  nötigt, 
die  umständlicheren  Messungen  auf  der  Wasser- 
fläche selbst  durch  die  einfacher  durchzuführenden 
am  Ufer  zu  ersetzen.  Sodann  steht  das  Wasser 
in  Meßgefäßen  nicht  unter  denselben  Bedingungen 
wie  das  freie  Wasser,  und  es  läßt  sich  also  aus 
den  Resultaten  an  denselben  ohne  weiteres  kein 
sicherer  Schluß  auf  die  Verdunstung  auf  dem 
See  ziehen  und  zwar  wegen  der  großen  Behinde- 
rung des  Luftzutritts,  der  Verschiedenheit  der 
Wassertemperatur  im  Gefäß  und  im  See  und 
endlich  wegen  der  verschiedenen  Wellenhöhe  des 
Wassers  hier  und  dort.  Die  letztgenannte  Fehler- 
quelle möchte  allerdings  im  allgemeinen  als  die 
unwesentlichste  unter  ihnen  anzusehen  sein.  Es 
scheint  nun  der  Landesanstalt  für  Gewässerkunde 
Norddeutschlands  gelungen  zu  sein,  innerhalb 
einer  vieljährigen  Beobachtungszeit  am  Grimnitz- 
see  und  zum  Teil  auch  am  Werbellinsee  in  der 
Uckermark  Fehlerquellen,  die  aus  der  Aufstellung 
eines  besonderen  Meßgefäßes  notwendig  hervor- 
gehen, zwar  nicht  beseitigt  zu  haben  —  dies 
liegt  außerhalb  des  Bereichs  der  Möglichkeit  — 
sie  aber  doch  jetzt  so  meistern  zu  können,  daß 
wir  imstande  sind,  von  der  Verdunstung    im  Ge- 


fäß gewisse  Rückschlüsse  auf  diejenige  am  See 
selbst  zu  ziehen  und  so  deren  wahre  Größe 
kennen  zu  lernen.  Ist  dies  aber  der  Fall,  dann 
ist  das  eingangs  dieser  Zeilen  aufgestellte  Problem 
damit  tatsächlich  gelöst  und  die  Aufstellung  eines 
genauen  Wasserhaushalts  für  einen  See  unter  ge- 
wissen Kautelen  wirklich  möglich ,  der  bisher 
nicht  verwirklicht  werden  konnte. 

Die  darauf  bezüglichen  Untersuchungen  waren 
im  wesentlichen  schon  im  Jahre  1914  beendigt 
und  sollten  nur  noch  durch  einige  über  den  Ein- 
fluß der  Größe  des  Wassergefäßes  auf  die  Ver- 
dunstungshöhe ergänzt  werden  als  der  Weltkrieg 
ausbrach  und  sowohl  diese  Untersuchungen  als 
auch  die  Drucklegung  des  Berichtes  verhinderte, 
der  erst  jetzt  erfolgen  konnte.  Derselbe  ^)  ist 
mit  zahlreichen  Tabellen  und  graphischen  Dar- 
stellungen ausgestattet  und  legt  Zeugnis  ab  von 
den  überaus  sorgfältig  und  vielseitig  durch- 
geführten Beobachtungen  und  Berechnungen, 
welche  zwar  meines  Erachtens  nach  nicht  bis  zur 
völligen  Lösung  des  Problems  geführt,  es  aber 
doch  sehr  wesentlich  gefördert  haben. 

Ich  übergehe  die  Aufzählung  der  vielen  Vor- 
sichtsmaßregeln, die  getroffen  wurden,  um  die 
Verdunstungsgröße  des  auf  einem  freischwim- 
menden aber  verankerten  Floß  aufgestellten 
Verdunstungsgefäßes  von  2000  qcm  Fläche 
möglichst  exakt  festzustellen.  Eine  absolute  Voll- 
kommenheit konnte  natürlich  nicht  erzielt  werden 
schon  wegen  der  atmosphärischen  Erscheinungen, 
welche  die  Exaktheit  der  Beobachtungen  im  Floß 
stören  müssen,  aber  es  ist  zuzugeben,  daß,  was 
erreichbar  war,  auch  erreicht  wurde.  Da,  wie 
bereits  oben  hervorgehoben,  die  Beobachtungen 
auf  dem  Wasser  selbst  ebenso  kostspielig  wie 
zeitraubend,  wie  unter  Umständen  auch  recht  un- 
bequem sind,  wurde  schon  bei  Beginn  der  Beob- 
achtungen auf  die  Möglichkeit  Bedacht  genommen, 
sie  durch  Beobachtungen  an  Gefäßen  zu  ersetzen, 
die  am  Ufer  des  Sees  aufgestellt  wurden,  wie 
dies  in  gleicher  Weise  auch  andernorts,  z.  B.  auch 
am  Pyhäjärvi  in  Finnland  geschehen  ist.  Es  darf 
von  vornherein  ausgesprochen  werden,  daß,  sofern 
es  sich  nicht  um  die  Verdunstungsgröße  eines 
kleinen  Zeitraums  handelt,  die  ja  praktisch  von 
sehr  geringer  Bedeutung  ist,  sondern  um  diejenige 
längerer  Zeiträume,  diese  Bemühungen  von  einem 
vollen  Erfolg  gekrönt  wurden. 

Die  mittlere  tägliche  Verdunstung  für  die 
Sommer  der  Jahre  190S — 1913  betrug  in  dem 
im  Floß  aufgestelhen  Gefäß  3,62,  3,18,  3,56,  4,35, 
3,23  und  3,52  mm,  wobei  aber  zu  beachten  ist, 
daß  in  den  Jahren  1908  und  1909  nur  in  den 
Monaten  Juli  bis  Oktober,  in  den  übrigen  Jahren 
dagegen  von  April  bis  Oktober  gemessen  wurde. 
Die  Abweichung   von    den    beiden   am  Ufer    auf- 


')  Siehe  meinen  Aufsatz:  Über  die  Verdunstungsgröfie 
freier  Wasserflächen.  Diese  Zeitschr.,  N.  F.  Bd.  15,  Nr.  32, 
6.  Aug.  1916. 


1)  Die  VerdunstuDgsmessungen  der  Preuß.  Landesanstalt 
für  Gewässerkunde  auf  und  an  dem  Grimnitzsee  und  am  Wer- 
bellinsee bei  Joachimsthal  in  der  Uckermark  von  H.  Binde- 
mann. Jahrb.  für  die  Gewässerkunde  Norddeutschlands. 
Bes.  Mitteil.,  Bd.  3,  Nr.  3.     Berlin   1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gestellten  Meßgefäßen  betrug  im  Mittel  je  4,  16, 
II,  17,  16,  SO^/d,  war  also  recht  erheblich  und 
zwar  ergab  sich  stets  eine  kleinere  Verdunstung 
auf  dem  See  selbst  mit  alleiniger  Ausnahme 
des  Jahres  1908,  wo  das  eine  Verdunstungs- 
gefäß auf  dem  Lande  einen  größeren  Betrag 
ergab.  Im  Mittel  kann  die  Verdunstung  während 
eines  ganzen  Jahres,  wobei  für  die  Wintermonate 
Beobachtungen  an  einem  in  einer  englischen 
Hütte  geschützt  stehenden  Wildschen  Messer  Ver- 
dunstungsmessungen ergänzungsweise  angestellt 
wurden,  für  den  Grimnitzsee  auf  940  mm,  für  den 
Werbellinsee  auf  660  mm,  also  auf  70  v.  H.  jener 
Menge  veranschlagt  werden.  Da  der  Grimnitzsee 
sehr  frei  daliegt,  seine  Oberfläche  daher  den 
Winden  besonders  stark  ausgesetzt  ist,  kann  jenes 
Resultat  für  das  norddeutsche  Flachland  als  ein 
Maximum  aufgefaßt  werden.  Der  Werbellinsee 
wird,  im  Gegensatz  zum  Grimnitzsee,  von  hohen 
bewaldeten  Ufern  eingefaßt,  seine  Verdunstungs- 
fähigkeit ist  also  eine  wesentlich  geringere. 

Auf  die  einzelnen  Monate  verteilt  sie  sich 
folgendermaßen : 

Nov.     Dez.     Jan.     Febr.     März    April     Mai 
mm    38        30        27        29  44         60        121 

Juni     Juli     August     Sept.     Okt. 
mm    155      156        136  87  54. 

Im  Jahre  1911  erreichte  die  Verdunstung 
während  der  6  Sommermonate  (Mai — Okt.)  eine 
Höhe  von  870  mm,  kam  also  der  jährlichen  im 
Mittel  der  Jahre  1908— 191 3  ziemlich  gleich.  Den 
höchsten  Tageswert  erreichte  der  29.  und  30.  Juli 
mit  zusammen  22  und  der  4.  Sept.  mit  fast  12  mm{!). 
Die  Verdunstungshöhe  im  Landgefäß  stieg  am 
3.  Sept.  sogar  auf  14  mm. 

Es  hat  sich  gezeigt,  daß,  wenn  die  Messungen 
der  Wasserwärme  auf  das  Ufer  beschränkt  bleiben, 
keine  ganz  groben  Fehler  entstehen  können,  denn 
selbst  wenn  die  Abweichung  das  ganze  Jahr  hin- 
durch i"  C  betrüge,  so  würde  der  dadurch  ent- 
stehende Fehler  noch  nicht  3  v.  H.  der  Jahres- 
verdunstung beiragen.  F"ür  genauere  Mittelwerte 
für  einzelne  Monate  oder  noch  längere  Zeit- 
räume bedarf  es  ferner  weder  in  Hinsicht  auf 
die  Windstärke  noch  auf  die  Windrichtung  einer 
Umrechnung  der  Beobachtungen  am  Ufer  auf 
solche  vom  See  aus.  Dagegen  ist  die  Wirkung 
der  Luftfeuchtigkeit  und  der  Wassertemperatur 
so  erheblich,  daß  ihre  tatsächliche  Größe  von 
Fall  zu  Fall  in  Rechnung  gestellt  werden  muß. 
Beide  l'akloren  müssen  zusammen  behandelt 
werden,  weil  sie  in  einem  gewissen  natürlichen 
Zusammenhang  untereinander  stehen. 

Die  größere  Verdunstung  auf  den  Landgefäßen 
rührt  im  wesentlichen  von  der  höheren  Wasser- 
temperatur und  der  stärkeren  Sonnenstrahlung 
in  ihnen  her.  Es  gelang  für  die  beiden  Landge- 
fäße wie  für  das  Hoßgcfäß  gesonderte  Beziehungen 
zwischen  der  Verdunstung  einerseits,  der  Wasser- 
temperatur und  dem  Sättigungsfehlbetrag  anderer- 


seits aufzustellen,  wodurch  jederzeit  die  Beobach- 
tungen in  einem  dieser  Gefäße  mit  denjenigen  in 
den  anderen  verglichen  werden  können.  Selbst- 
verständlich hat  auch  die  Höhe  des  Wasserstandes 
in  den  Maßgefäßen  auf  die  Verdunstungshöhe 
einen  sehr  beträchtlichen  Einfluß,  dessen  Größe 
aber  recht  schwierig  zu  ermitteln  ist,  weil  er 
namentlich  durch  den  Einfluß  des  Windes  häufig 
überdeckt  wird.  _  Es  stellte  sich  aber  heraus,  daß 
derselbe  sich  nur  auf  die  Landgefäße  bezieht, 
während  die  Verdunstung  vom  Floßgefäß  von 
der  Höhe  des  Wasserstandes  in  ihm  sich  als  un- 
abhängig herausgestellt  hat.  Allerdings  hat  dieser 
Satz  die  Voraussetzung,  daß  das  F"loßgefäß  hoch 
gefüllt  ist  und  daß  die  Wasserstandsschwankungen 
innerhalb  verhältnismäßig  enger  Grenzen  gehalten 
werden.  Es  rührt  dies  daher,  daß  das  Wasser 
im  Gefäß  einfach  als  ein  Teil  des  Seewassers  an- 
zusehen ist,  so  daß  das  Maß  des  Luftwechsels 
nahezu  gar  keine  Rolle  spielt,  während  bei  den 
Landgefäßen  die  feuchteren  Luftschichten  bei  jeder 
Luftbewegung  teilweise  durch  trocknere  aus  der 
Umgebung  ersetzt  werden. 

Was  den  Einfluß  der  Größe  des  Meßgefäßes 
auf  die  Verdunstungshöhe  angeht,  so  wurden  die 
hierauf  bezüglichen  Untersuchungen,  wie  oben 
hervorgehoben,  durch  den  Weltkrieg  im  ganzen 
unterbrochen.  Nur  so  viel  konnte  —  entsprechend 
früherer  Untersuchungen  in  Kalifornien  —  fest- 
gestellt werden,  daß  sie  bei  Vergrößerung  der 
Wasseroberfläche  von  2000  auf  4000  qcm  ganz 
beträchtlich  abnimmt,  während  sie  bei  einer 
Abnahme  auf  lOOO  qcm  beinahe  unverändert  er- 
scheint, wahrscheinlich,  weil  der  Einfluß  des 
Randes  des  Gefäßes  mit  der  Verdunstungsmög- 
lichkeit mehr  und  mehr  zunimmt,  je  kleiner  die 
absolute  Größe  des  Gefäßes  ist.       W.  Halbfaß. 

Über  den  Oiftstoff  der  Kröte. 

Nachdem  bereits  191 3  H.  Wieland  und 
Weil  aus  der  Haut  der  einheimischen  Kröte 
einen  kristallisierten  Stoff  isolierten,  der  in  naher 
Beziehung  zu  dem  Giftstoff  jener  Tiere  stand,') 
ist  es  nunmehr  Wieland  und  seinem  Mitarbeiter 
R.  Alles  gelungen,  den  Giftstoff  selbst  zu  ge- 
winnen und  seine  chemische  Konstitution  wenig- 
stens in  groben  Zügen  sicher  zu  stellen.-) 

Zur  Gewinnung  des  Giftstoffs  wurden  mehrere 
Tausend  Krötenhäute  mit  Alkohol  erschöpfend 
ausgezogen.  Der  so  erhaltene  Alkoholextrakt 
wurde  unter  Luftleere  eingedämpft  und  getrocknet. 
Der  hinterbleibende  Rückstand  wurde  durch 
Waschen  mit  Petroläther  von  Fett  befreit.  .  Hier- 
nach wurde  abermals  mit  absolutem  Alkohol  aus- 
gelaugt. Wenn  alsdann  der  Alkoholauszug  mit 
Wasser  versetzt  wurde,  so  schied  sich  eine  zuerst 
teigige,  dann  pulvrig  werdende  Masse  ab,  der 
durch  eine  kombinierte  Behandlung  bzw.  Fällung 


')  Berichte  d.   D.  Cheni.  Gesellsch.  46,  S.  3315,   1913. 
^)  Ebenda  55,  S.    1789,   1922. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


491 


mit  Petroläther  und  Alkohol  der  Giftstoff  ent- 
zogen werden  konnte.  Nach  kurzem  Stehen 
schieden  sich  farblose  feinnadlige  Kristalldrusen 
vom  Schmelzpunkt  204/205"  ab:  sie  stellen  den 
ursprünglichen  Giftstoff  unserer  einhei- 
mischen Kröte  dar.  Wieland  gibt  ihm  den 
Namen  Bufotoxin. 

Bufotoxin  hat  die  Zusammensetzung 

ist  also  stickstoffhaltig.  Es  enthält  eine  Lakton- 
gruppe, eine  Azetoxyl-  und  sicherlich  zwei  Hy- 
droxylgruppen; daneben  sind  Korksäure 
CgHj^O^  und  Arginin  QH^jO^N^  als  wich- 
tige Spaltstücke  des  Bufotoxins  erkannt  und  nach- 
gewiesen worden.  Auf  diese  Weise  besteht  ein 
gewisser  Zusammenhang  der  Substanz  mit  den 
Eiweißstoffen  einerseits,  mit  den  Pflanzenstoffen 
andererseits.  Bufotoxin  ist  in  Wasser,  Äther, 
Chloroform  schwer  löslich,  dagegen  sehr  leicht 
löslich  in  Methylalkohol  und  in  Pyridin.  Diesen 
Löslichkeitsverhältnissen  kommt  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  eine  hohe  physiologische  Bedeutung 
zu,  denn  das  von  Wieland  seinerzeit  isolierte 
Bruchstück  des  Bufotoxins,  das  gleichfalls  giftige 
Bufotalin,  ist  im  Gegensatz  zu  dem  Stamm- 
körper lipoidlöslich.  Beide  Stoffe  sind  auch  in 
kleinsten   Mengen   kenntlich   durch   eine   intensiv 


kirschrote  Farbenreaktion,  die  sie  mit  konzen- 
trierter Schwefelsäure  und  Essigsäureanhydrid 
geben  und  wodurch  sie  ihre  Alkaloidnatur  er- 
kennen lassen. 

Daß  man  es  im  Bufotoxin  wirklich  mit  dem 
ursprünglichen  Giftstoff  unserer  Kröten  zu  tun 
hat,  wurde  schließlich  noch  auf  einem  zweiten 
Wege  bewiesen.  380  Kröten  wurden  mit  einer 
Pinzette  ohne  scharfen  Rand  die  Hautdrüsen,  ins- 
besondere die  sogenannten  Ohrdrüsen  ausgedrückt. 
Wie  1  and  gewann  auf  diese  Weise  einen  fast 
weißen  Milchsaft,  der  alsbald  nach  der  Isolierung 
im  luftleeren  Raum  getrocknet  wurde.  Es  hinter- 
blieben schließlich  4  g  einer  harten  glasigen  Masse. 
Wurde  diese  Substanz  mit  Alkohol  ausgezogen 
und  im  Auszug  mit  Gasolin  vorsichtig  gefallt, 
so  kristallisierte  endlich  ein  Stoff  aus,  der  nach 
Schmelzpunkt  und  Eigenschaften  sich  als  mit 
dem  Bufotoxin  identisch  erwies.  Diese  Gewin- 
nung aus  den  Drüsen  unmittelbar  läßt  es  als 
sicher  erscheinen,  daß  das  Bufotoxin  der 
eigentliche  Giftstoff  ist,  von  dem  das  Bufotalin 
gewissermaßen  ein  „Genin"  ist.  Späteren  Ar- 
beiten muß  die  nähere  Konstitutionsermittlung 
der  Stoffe  vorbehalten  bleiben;  indessen  konnte 
bereits  wahrscheinlich  gemacht  werden,  daß  der 
Giftstoff  in  naher  Verwandtschaft  zu  den  Gallen- 
stoffen steht.  H.  Heller. 


Bücherbesprechiingen. 


Klautke,  P.,  Lehrer  für  Biologie  an  der  Tung  Chi 
Medizin-    und   Ingenieurschule    für  Chinesen    in 
Wusung,    Nutzpflanzen    und    Nutztiere 
Chinas.     Mit  zahlreichen  Abbildungen.     Han- 
nover, Hahnsche  Buchhandlung,   1922. 
Dieser  in  der  Sammlung  „Weltwirtschaftlicher 
Abhandlungen",  herausgegeben  von  Prof  Dr.  S.  Ber- 
liner,  als    Band  V    erschienene   Band    muß   jeden 
Naturfreund,  besonders  aber  jeden  China-Deutschen 


beschränkt  worden.  Das  Hauptgewicht  ist  gelegt 
auf  Kultur  der  Nutzpflanzen,  auf  die  Zucht  der 
Nutztiere,  vor  allen  Dingen  aber  auf  die  Gewin- 
nung der  Rohprodukte  und  deren  Verwertung 
für  Handel  und  Industrie". 

Das  ist  ein  Hauptvorzug  des  Buches.  Es 
dient  zugleich  der  Biologie  wie  der  Weltwirt- 
schaft. Heute,  wo  schon  die  Sextaner  in  Deutsch- 
land sich    über   den  Dollarkurs  unterhalten,    muß 


mit    Freude    und    Genugtuung    erfüllen,    weil    bis     jedem  Kinde    bei    uns    die    ungeheure   Bedeutung 


heute  nur  ganz  wenige  und  einseitige  Quellen 
vorhanden  sind,  aus  denen  der  Neuankömmling 
in  China  Belehrung  schöpfen  könnte.  Der  Chi- 
nese selber  kann  in  den  meisten  Fällen  keine 
befriedigende  Auskunft  über  Namen  und  Art  der 
mannigfachen  Gattungen  erteilen.  Die  sehr  we- 
nigen Bücher  sind  entweder  bloße  trockene 
Pflanzenregister  oder  spezialisierte  Beschreibungen 
eines  ziemlich  engen  Gebiets.  Vor  allen  Dingen 
waren  sie  bisher  beinah  durchweg  in  fremder 
Sprache  abgefaßt,  meistenteils  lateinisch,  englisch 
oder  japanisch. 

So  entsprach  ein  deutsches  Werk  über  diesen 
Gegenstand  einem  wirklichen  Bedürfnis.  Es  will, 
wie  der  Verf.  in  der  Vorrede  sagt,  „das  Wissens- 
werte über  Nutzpflanzen  und  Nutztiere  Chinas 
übersichtlich  und  allgemeinverständlich  zusammen- 
stellen. In  den  Ausführungen  ist  deshalb  das 
rein  Naturwissenschaftliche   auf  das  Notwendigste 


der  Rohprodukte  für  unsere  Ernährung,  unseren 
Handel  und  den  Wiederaufbau  des  geknechteten 
Vaterlandes  klar  sein.  Wer  sich  in  diesem  Sinne 
über  Chinas  Erzeugnisse  und  unsere  wirtschaft- 
lichen Beziehungen  zu  China  unterrichten  will, 
der  möge  Klautkes  Buch  aufschlagen.  Er  wird 
willkommene  Belehrung  erhalten,  so  über  Tee- 
kultur, so  über  Seide  und  Reis,  die  alten  „heiligen" 
Urprodukte  Chinas.  Er  wird  erfahren,  wie  Baum- 
wolle und  Sesam,  Bataten  und  Erdnüsse  gebaut 
werden,  wo  und  wie  man  Rhabarber  und  Ingwer, 
Kampfer  und  Indigo  pflanzt  und  verarbeitet, 
welche  Tiere  in  China  Häute,  Felle,  Wolle  und 
Federn  liefern.  Und  er  wird  an  der  Hand  der 
jedem  Ausfuhrartikel  angefügten  Statistiken  der 
Jahre  1908 — 191 3  sich  ein  Bild  machen  können 
von  dem  ungefähren  Umfang  der  Produktion  an 
pflanzlichen  und  tierischen  Handelsprodukten. 
So   ist   unser   Buch    eine   seltene  Vereinigung 


492 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


von  Wissenschaft  und  Praxis,  und  gerade  in  dieser 
Beziehung  mustergültig.  Denn  bei  aller  Zurück- 
haltung spürt  man  wohltuend  wissenschaftlichen 
Geist.  Dabei  ist  es  frei  von  jedem  überflüssigen 
Ballast,  in  Sprache  und  Stil  von  hoch  erfreulicher 
Klarheit  und  Knappheit  (nur  160  Seiten)  und  mit 
ausgezeichneten  Abbildungen,  Zeichnungen  wie 
Photographien,  geschmückt.  Der  Band  ist  im 
Kriegsgefangenenlager  in  Japan  entstanden,  wo 
der  Verf.  sechs  volle  Jahre  geschmachtet  hat.  Es 
ist  fraglich,  ob  viele  Angehörige  anderer  Nationen 
für  ihr  Vaterland  so  nützliche  und  wertvolle  Ar- 
beit geleistet  haben  wie  die  Tsingtau  -  Kämpfer 
während  ihrer  langen  Haft. 

Daher  sei  dies  Werk  mit  Stolz,  Freude  und 
Dankbarkeit  aufgenommen  und  jedem  deutschen 
Naturfreunde  und  Nationalökonomen  angelegent- 
lich empfohlen.  Marie  du  Bois-Reymond. 


Stoklasa,    Dr.    J. ,    Über    die    Verbreitung 
des  Aluminiums  in  der  Natur  und  seine 
Bedeutung    beim    Bau-    und    Betriebs- 
stoffwechsel  der   Pflanzen.      500  Seiten. 
28  Abb.     Jena    1922,   Verlag   von   G.  Fischer. 
80  M. 
Nach   der    herrschenden    Ansicht    gehört   Alu- 
minium   nicht    zu    den    biogenen    Elementen,    die 
zu  einer  normalen  vollständigen  Entwicklung  der 
Pflanzen  nötig  sind.     Soweit  es  in  der  Asche  der 
Pflanzen  festgestellt    worden    ist,    soll  es  lediglich 
ein  zufälliger,  für  den  Aufbau  und  den  Stoffwechsel 
der   Pflanzen    belangloser    Bestandteil    sein.      Nur 
von    einzelnen    Forschern,    zuerst  von  Malaguti 
und    Durocher    1S58    wurde    dem    Aluminium 
eine  gewisse,    nicht    näher   präzisierte  physiologi- 
sche Bedeutung  zugeschrieben,  und  seit  Molisch 
wissen  wir,   daß  das  Aluminium  für  die  Färbung 
der  Blüten  der  Hortensie  von  Bedeutung  ist.     Es 
ist  das  Verdienst  des  Verf ,   das  hier  vorliegende 
Problem  in  seiner  ganzen  Tragweite  erkannt,  nach 
allen    Richtungen    durchforsclit    und    im    wesent- 
lichen gelöst  zu  haben. 

Das  oben  genannte  Werk  stellt  das  Ergebnis 
vierzigjähriger  F'orscherarbeit  dar  und  enthält  eine 
F"ülle  von  Beobachtungen  und  Versuchsergebnissen. 
Auch  die  gesamte  einschlägige  Literatur  ist  kri- 
tisch verarbeitet.  Es  ist  natürlich  nicht  möglich, 
im  Rahmen  eines  Referates  eine  erschöpfende 
Darstellung  von  dem  reichen  Inhalte  des  Werks 
zu  geben.  Ich  muß  mich  darauf  beschränken,  die 
wichtigsten  Ergebnisse  kurz  zusammenzufassen. 

Der  Verf.  beschäftigt  sich  zunächst  mit  der 
Verbreitung  des  Aluminiums.  Sowohl  in 
Mineralien  und  Gesteinen  als  auch  im  Acker- 
boden und  in  den  natürlichen  Wässern  ist  das 
Aluminium  weit  verbreitet.  Es  steht  unter  den 
an  der  Bildung  der  Erdkruste  beteiligten  Elementen 
mit  7,8  "/„  an  dritter  Stelle. 

Die  bei  der  Entstehung  der  Ackererde  mit- 
wirkenden Mikroorganismen  (Bakterien,  Algen, 
Flechten,   Moose)    sind    verhältiüsmäßig    reich    an 


Aluminium.  Von  den  höheren  Pflanzen  enthalten 
namentlich  die  Hydrophyten  und  Hygrophilen, 
z.  T.  auch  die  Mesophyten  mehr  oder  weniger 
reichlich  Aluminium.  Nur  die  Xerophyten  sind 
daran  arm. 

Das  Aluminium  findet  sich  besonders  im 
Wurzelsystem  bzw.  in  den  Wurzelstöcken,  Rhi- 
zomen  usw.,  ferner  in  bestimmten  Blüten  und 
Samen. 

Auch  im  Tierreich,  und  zwar  in  den  pigmen- 
tierten Körperteilen  von  Insekten,  Vögeln  und 
Säugetieren,  ist  das  Aluminium  verbreitet. 

Durch  umfangreiche  Keimversuche  stellt  der 
Verf.  fest ,  daß  Aluminium  in  geringer 
Konzentration  keim  fördernd,  in  höherer 
Konzentration  schädigend  bzw.  giftig  wirkt. 
Ebenso  verhält  sich  das  Mangan.  Wenn  den 
Samen  beide  Elemente  gleichzeitig  geboten  wer- 
den, so  spielt  das  Aluminium  die  Rolle  eines 
Schutzstoffes,  d.  h.  die  Gifiwirkung  des  Mangans 
wird  durch  Zusatz  von  Aluminium  paralysiert. 

Einen  breiten  Raum  nehmen  die  Versuche  des 
Verf.  über  den  Einfluß  des  Aluminiums 
auf  die  Entwicklung  der  Pflanzen  ein. 
Auch  hier  haben  geringe  Konzentrationen  einen 
günstigen  Einfluß,  während  größere  Konzentra- 
tionen schädigen.  Hydrophyten  und  Hygrophilen 
vertragen  eine  stärkere  Dosis  Aluminium  als 
Mesophyten,  diese  eine  stärkere  als  die  Xerophyten. 
Die  Hydrophyten  gedeihen  ohne  Aluminium  nicht 
oder  schlecht,  die  Mesophyten  ohne  Aluminium 
schlechter  als  mit  Aluminium.  Bei  einigen  Pflan- 
zen wird  die  Blütenbildung  durch  Aluminium  ge- 
fördert. Wenn  Xerophyten  in  einer  aluminium- 
reichen Nährlösung  gezogen  werden,  tritt  in  den 
Wurzelzellen  sehr  bald  Plasmolyse  ein.  Die 
Hydrophyten  dagegen  und  ein  Teil  der  Meso- 
phyten nehmen  das  Aluminium  auch  bei  ver- 
hältnismäßig hoher  Konzentration  ohne  Schaden 
auf.  Dabei  verhalten  sich  die  einzelnen  Arten 
spezifisch  verschieden.  Es  existiert  also  ein 
spezifisches  quantitatives  Wahlver- 
mögen für  Aluminium.  —  Schon  daraus 
kann  man  schließen,  daß  die  Aluminiumaufnahme 
für  bestimmte  Pflanzen  ein  physiologisches  Be- 
dürfnis ist. 

Welche  Bedeutung  hat  nun  das  Aluminium 
für  den  Stoffwechsel  der  Pflanzen,  insbesondere 
der  Hydrophyten?  Wie  bereits  gesagt,  wirkt 
Aluminium  in  bestimmten  Konzentrationen  gün- 
stig auf  das  Wachstum  ein.  Dieser  günstige 
Einfluß  zeigt  sich  besonders  bei  Gegenwart  von 
Eisen  in  der  Nährlösung.  Geringe  Mengen  von 
Eisen  sind  bekanntlich  für  die  Entwicklung  der 
Pflanzen,  namentlich  für  die  Ausbildung  des 
Chlorophylls,  unentbehrlich;  größere  Mengen 
dagegen  schädlich.  Es  tritt  in  diesem  Falle  in 
den  Wurzelzellen  Plasmolyse  ein;  außerdem  schei- 
den sich  auf  den  Wurzeln  Eisenverbindungen  ab, 
wodurch  eine  ganze  Kette  von  Lebenserscheinun- 
gen gestört  wird.  Diese  Giftwirkung  des 
Eisens    wird    schon     durch    Zusatz    ge- 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


493 


ringer  Mengen  von  Aluminium  aufge- 
hoben, es  sei  denn,  daß  in  dem  Nährmedium 
übermäßig  viel  Eisen  vorhanden  ist.  Als  Beispiel 
sei  das  Ergebnis  eines  Versuches  mit  Hafer  ge- 
nannt. Die  Trockensubstanz  von  je  10  Pflanzen 
betrug  bei  einer  aluminium-  und  eisenfreien  Nähr- 
lösung 59,05  g,  bei  einer  Nährlösung  nur  mit 
Aluminium  62,00  g,  nur  mit  Eisen  56,04  g  und 
bei  Gegenwart  von  Eisen  und  Aluminium  70,13  g. 
Die  entgiftende  Wirkung  des  Aluminiums  ist  be- 
sonders für  gewisse  eisenreiche  Böden  (Humus-, 
Torf-,  Moor-  und  Tonböden)  von  großer  Bedeu- 
tung. Sie  ermöglicht  hier  überhaupt  erst  die 
Existenz  einer  Vegetation. 

Das  Aluminium  greift  auch  sonst  regulierend 
in  die  Absorptions-  und  Austauschvorgänge  ein, 
die  sich  an  und  in  der  Membran  der  Wurzel- 
zellen abspielen.  Das  Aluminium  lagert  sich  hier 
in  die  Zellulosemoleküle  ein,  vergrößert  dadurch 
deren  Quellungsvermögen,  befördert  und  begün- 
stigt die  Wasseraufnahme  und  hindert  anderer- 
seits das  Eindringen  größerer  Mengen  von  Eisen, 
Mangan,  auch  Kalzium  und  Kalium.  Stoklasa 
geht  in  diesem  Zusammenhange  ausführlich  auf 
die  Mechanik  des  lonenaustausches  ein 
und  fördert  hier  neue  und  interessante  Gesichts- 
punkte zutage. 

Von  großer  Bedeutung  ist  ferner  das  Alumi- 
nium für  die  Farbstoffbildung  bei  gewissen  roten, 
blauen  und  violetten  Blüten.  Wie  bereits  von 
Molisch  festgestellt,  kann  man  die  rosaroten 
Blüten  der  Hortensie  durch  Zusatz  von  Alumi- 
niumsalzen intensiv  blau  färben.  Stoklasa  fand, 
daß  die  ersteren  0,032  "/„  AUOg ,  die  letzteren 
o>592  *'/o  AlgOg  enthalten.  Interessant  sind  die 
Versuche,  die  er  mit  Hyazinthen,  Chrysanthemen 
und  anderen  Pflanzen  anstellte.  Überall  erzielte 
er  durch  Aluminium  eine  viel  intensi- 
vere Blüten färbung,  die  sich  auch  als  ver- 
erblich erwies.  Bei  Papaver  sommfcnim  gelang 
es  ihm,  durch  dreijährige  Kultur  in  aluminum- 
reicher  Nährlösung  rosarote  und  weiße  Blüten  in 
sattrote  und  violette  zu  verändern,  ebenso  bei 
Matihiola  annua  mattrosa  Blüten  in  schön  vio- 
lette, bei  Digitalis  gelbe  in  rote.  Die  bei  An- 
wesenheit von  Aluminium  gezogenen  Pflanzen 
enthielten  in  den  Blüten  stets  mehr  Aluminium. 
Der  Einfluß  des  letzteren  erklärt  sich  nach 
Stoklasa  aus  der  Genese  der  Farbstoffe.  Die 
Anthozyane  entstehen  durch  Oxydation  aus  farb- 
losen Chromogenen  vermittels  besonderer  Enzyme 
(Oxydasen).  Letztere  enthalten  stets  Aluminium. 
Durch  Zusatz  von  Aluminium  wird  also  zunächst 
die  Oxydasenbildung  und  dadurch  indirekt  die 
Farbstoffbildung  begünstigt. 

Einen  besonderen  Abschnitt  widmet  der  Ver- 
fasser der  Nährstoffscheu  der  Hydro- 
phyten und  Hygrophilen,  besonders  der  Torf- 
moose. Diese  sind  empfindlich  gegen  alkalische 
Reaktion ;  Kalzium,  Kalium,  Phosphor  wirken  auf 
ihr  Gedeihen  ungünstig.  Die  Gegenwart  von 
Aluminium      hindert      die     Aufnahme      größerer 


Mengen  dieser  Elemente  wie  auch  des  Eisens. 
Daher  kommen  Spiiagmim  namentlich  auf  solchen 
Böden  vor,  die  im  Untergrunde  Aluminium  ent- 
halten. Ebenso  wie  andere  torfbildende  Hydro- 
phyten nimmt  es  die  biogenen  Elemente  vor- 
wiegend in  organischer  Form  oder  als  Bikarbo- 
nat auf. 

Zum  Schlüsse  gibt  Stoklasa  einen  Überblick 
über  die  Entwicklung  des  Pflanzenklei- 
des der  Erde  und  beschäftigt  sich  hier  vor  allem 
mit  der  Karbonflora  und  der  Entstehung  der 
Kohlenflötze.  Die  für  das  Karbon  charakteristische 
Sumpfvegetation  verdankt  ihre  üppige  Entwick- 
lung den  damals  herrschenden  optimalen  Lebens- 
bedingungen :  Die  Luft  war  reicher  an  Kohlen- 
säure als  heute,  Luft  und  Boden  radioaktiv,  das 
Nährmedium  reich  an  Aluminium,  Eisen  und  Sili- 
zium, die  von  diesen  Pflanzen  in  erster  Linie  be- 
nötigt werden.  Für  Kalzium,  Kalium  und  Phos- 
phor haben  sie  ein  geringeres  Bedürfnis.  Größere 
Mengen  davon  wirken  sogar  giltig.  Dem- 
entsprechend ist  die  Reinasche  der  Steinkohlen 
wie  des  Torfes  reich  an  Aluminium,  Eisen  und  Sili- 
zium, dagegen  arm  an  Kalium  und  Phosphor. 
Das  Aluminium  hat  hier  wiederum  die  wichtige 
Aufgabe  gehabt,  die  schädliche  Wirkung  des  Eisens 
auszugleichen  und  die  Aufnahme  von  Kalium  und 
Phosphor  zu  hemmen. 

Dr.  F.  Esmarch  -  Dresden. 


Dannemann,  Friedrich,  Aus  der  Werkstatt 
großer  Forscher.  Allgemeinverständliche, 
erläuterte  Abschnitte  aus  den  Werken  hervor- 
ragender Naturforscher  aller  Völker  und  Zeiten. 
4.  Aufl.  Mit  70  Abb.  XII,  442  S.  Leipzig 
1922,  W.  Engelmann.  Geh.  75  M.,  geb.  115  M. 
Seitdem  Ernst  Mach  und  Wilhelm  Ost- 
wald die  Bedeutung  historischer  Studien  für  die 
aktuelle  naturwissenschaftliche  Forschung  und  be- 
sonders für  ihre  Lehre  betont  und  durch  eigene 
Werke  gefördert  haben,  wobei  Ostwald  mit 
Recht  darauf  hinwies,  daß  es  keine  bessere  Ein- 
führung in  irgendeine  Naturwissenschaft  gäbe  als 
das  Studium  der  Abhandlungen  ihrer  großen 
P'orscher,  ist  es  neben  Ostwalds  „Klassikern" 
vor  allem  ein  Verdienst  des  vorliegenden  Buches, 
wenn  diese  Erkenntnis  nunmehr  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  Allgemeingut  geworden  ist.  Wäh- 
rend Ostwalds  Klassiker  sich  vorwiegend  an 
den  Forscher  selbst  wenden,  ist  Dannemanns 
Buch  in  erster  Linie  für  den  Schüler  der  oberen 
Klassen  unserer  höheren  Schulen,  den  jungen 
Studenten,  sowie  auch  für  jeden,  der  seine  sog. 
Allgemeinbildung  im  Gebiete  der  Naturwissen- 
schaft fördern  will,  bestimmt.  Daß  unser  Werk 
seine  Aufgabe  voll  und  ganz  erfüllt,  ist  durch  das 
Vorliegen  der  4.  Auflage  in  ausreichender  Weise 
bewiesen.  Die  Auswahl  aus  den  Klassikern  ist 
mustergültig,  alle  Gebiete  sind  gleichmäßig  be- 
rücksichtigt, Astronomie,  Physik,  Kosmologie, 
Physiologie   wie   auch  Biologie  im  engeren  Sinne 


494 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


und  Bakteriologie.  Der  Hunger  nach  naturwissen- 
schaftlicher Erkenntnis  soll  ja  auch  in  weiten 
Kreisen  unseres  Volkes  sehr  groß  sein.  Wohlan, 
man  sorge  für  eine  gründliche  Verbreitung  dieses 
Buches  in  möglichst  vielen  Volks-  und  Schul- 
büchereien, wie  auch  als  Prämiengeschenk  an 
fleißige  und  begabte  Schüler  an  unseren  Volks- 
und höheren  Schulen.  Es  ist  unvergleichlich  viel 
mehr  wert  als  das  meiste  von  dem,  was  gemein- 
hin unter  der  IVlaske  populärwissenschaftlicher 
Literatur  segelt,  die  ja  zumeist  ihre  Hauptaufgabe 
darin  sieht,  dem  Leser  in  prickelnden  blumigen 
Schilderungen  und  phantasievollen  Geistreicheleien 
die  allermodernsten  Theorien  zu  schildern.  Das 
ist  Literatenliteratur  statt  echter  Forschung,  die 
allemal  in  bescheidenen,  schlichten,  von  Erfahrung 
schweren  Worten  zu  uns  spricht.  Eine  wieviel 
bessere  Vorstellung  vom  Wesen  der  theoretischen 
Physik  erhält  z.  B.  der  Laie,  der  in  Danne- 
man ns  Buch  die  Abschnitte  aus  Galilei  und 
Newton,  liest,  als  derjenige,  der  irgendeinen 
modernen  populären  Traktat  über  die  Relativitäts- 
theorie zu  verdauen  versucht,  eine  Lehre,  die  ihre 
volle  Wahrheit  und  Schönheit  doch  nur  dem- 
jenigen enthüllen  kann,  der  über  eine  gehörige 
mathematische  Bildung  verfügt. 

Besonders  wertvoll  ist  Dannemanns  Werk 
auch  für  die  Gestaltung  des  an  unseren  höheren 
Schulen  wieder  auflebenden  Unterrichts  in  philo- 
sophischer Propädeutik.  Dieser  Unterricht  kann 
nur  dann  Erfolg  haben,  wenn  er  sorgsam  anknüpft 
an  die  sog.  Schulwissenschaften,  an  die  mathe- 
matisch-naturwissenschaftlichen, wie  an  die  philo- 
logisch-historischen Disziplinen,  und  versucht,  den 
Schülern      den      geistigen     Zusammenhang     aller 


Wissenschaft  klarzumachen  und  so  den  künftigen 
Philologen  Respekt  vor  der  geistigen  Leistung, 
die  in  aller  Naturwissenschaft  enthalten  ist,  beizu- 
bringen, wie  es  andererseits  den  künftigen  Natur- 
wissenschaftlern gar  nichts  schaden  kann,  wenn 
sie  den  hohen  Wert  philologisch  -  historischer 
Schulung  auch  für  die  naturwissenschaftliche  For- 
schung würdigen  lernen.  In  diesem  Sinne  kann 
Dannemanns  Buch  sehr  viel  Gutes  wirken,  da 
sehr  viele  der  in  ihm  vertretenen  Aufsätze,  z.  B. 
die  von  Aristoteles,  Newton,  Kant  u.  a. 
unmittelbar  die  Brücke  von  der  Naturwissenschaft 
zur  Philosophie  schlagen.  Namentlich  den  Ober- 
realschulen, die  an  sich  leicht  zu  dem  banausen 
Gegenwartsoptimismus  des  ,,Wie  herrlich  weit 
haben  wir  es  doch  gebracht I"  neigen,  sei  diese 
Bildungsmöglichkeit  des  Dannemannschen 
Buches  ans  Herz  gelegt.  Infolgedessen  teilen  wir 
auch  durchaus  nicht  die  von  Dannemann  ge- 
äußerte Befürchtung,  gegen  die  er  sich  wehrt, 
sein  Buch  könne  zu  einer  Art  von  Philologisierung 
des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  führen, 
halten  vielmehr  diese  „Gefahr"  für  einen  großen 
Vorzug  des  Buches  und  würden  uns  freuen,  wenn 
das  in  der  5.  Aufl.  dadurch  zum  Ausdruck  käme, 
daß  die  Quellenangaben  in  vielen  Fällen  nicht 
bloß  etwas  über  die  Ausgabe  sagen,  die  Danne- 
mann jeweils  benutzt  hat,  sondern  auch  ein 
wenig  auf  die  meist  sehr  interessante  Geschichte 
der  jeweiligen  Originalausgaben  eingehen.  Das 
Zitieren  und  Berücksichtigen  von  Literatur,  das 
heute  bei  Naturwissenschaftlern  sehr  oft  zu  wün- 
schen übrig  läßt,  wird  dadurch  bei  den  kommen- 
den Generationen  sicher  nicht  schlechter  werden. 
Adolf  Meyer  (Hamburg). 


Anregungen  und  Antworten. 


Bemerkungen  zu  dem  Aufsatz  von  C.  v.  Kegel:  „Über 
den  Ursprung  der  Getreidearten"  (Naturw.  Wochenschr.  N.  F. 
XXI  [1922J  Nr.  24,  S.  32S— 330). 

Die  Ausführungen  des  Verf.s,  durch  die  er  sich  in  seinem 
Referate  über  zwei  russische  Arbeiten  (von  N.  Vavilow  und 
Rob.  Regel)  in  bewußten  Gegensatz  zu  der  in  letzter  Zeit 
herrschend  gewordenen  Auffassung  stellt,  dürften  seitens  der 
Fachgenossen  nicht  unwidersprochen  bleiben;  leider  weilt 
freilich  einer  der  Berufensten  -  unter  ihnen,  Aug.  Schulz, 
nicht  mehr  unter  den  Lebenden.  Vorläufig  sei  an  dieser 
Stelle  nur  in  Kürze  auf  die  Hauptschwäche  der  neuen  Theorie 
aufmerksam  gemacht.  Nach  Vavilow  wäre  als  die  Wild- 
form des  Roggens  {Seealt-  ccrtaU  L.)  nicht  das  ausdauernde, 
mit  einer  brüchigen  Ährenspindel  versehene  S.  moiüaniim  Guss. 
zu  betrachten,  sondern  eine  mit  der  Kulturpflanze  ziemlich 
identische  Form  (also  offenbar  einjährig  und  mit  zäher  Ähren- 
spindel), die  sich  als  wildwachsendes  Unkraut  in  den  Weizen- 
und  Gerstenfeldern  Südwestasieus  findet,  wo  heute  der  Rog- 
gen nicht  oder  kaum  angebaut  wird;  .S',  monlanum  wäre  eine 
zwar  nahestehende,  aber  selbständige  Art.  Diese  Auffassung 
steht  nun  in  schroffem  Widerspruch  zu  den  Resultaten  der 
biologischen  Betrachtungsweise  des  Problems  der  Entstehung 
der  Kulturpflanzen.  Die  meisten  neueren  Forscher  sind  näm- 
lich zu  der  Vorstellung  gelangt,  ')  daß  die  Zähigkeit  der 
Blütenstandsachsen ,  die  in  übereinstimmender  Weise  alle 
Kullurgräser  gegenüber  ihren  Wildformen  auszeichnet,  eine 
vom  Standpunkte  der  Pflanze  unzweckmäßige  und  verhängnis- 


volle Eigentümlichkeit  darstellt,  die  nur  unter  dem  züchten- 
den Einiiuß  des  Menschen  entstehen  konnte,  während  die  auf 
solche  Weise  ihrer  natürlichen  Verbreitungsmittel  beraubten 
Pflanzen  in  der  freien  Natur  im  Kampfe  ums  Dasein  unter- 
liegen würden  und  auf  die  Länge  nicht  lebensfähig  wären. 
Wir  brauchen  dabei  nicht  notwendig  an  eine  bewußte  Aus- 
lese durch  den  züchtenden  Menschen  zu  denken,  sondern  es 
ist,  wie  a.  a.  O.  (191S)  ausgeführt,  auch  eine  unbewußte 
Selektion,  die  zum  gleichen  Endergebnis  (der  Erzielung  zäher 
Blütenstandsachsen)  führt,  sehr  wohl  vorstellbar.  Den  besten 
Beweis  hierfür  erblicke  ich  in  der  bisher  wohl  kaum  gewür- 
digten Tatsache,  daß  manche  Ackerunkräuter  ausgesprochene 
„Kulturpflanzenmerkmale"  besitzen,  d.  h.  Eigenschaften,  durch 
die  sie  sich  von  ihren  Verwandten  der  natürlichen  oder  halb- 
natürlichen Standorte  in  ganz  analoger  Weise  unterscheiden 
wie  die  Kulturpflanzen  von  ihren  Wildformen.  Hitrovo-) 
hebt  treffend  hervor,  daß  die  Unkräuter  der  zweiten  (mittlem) 
Schiebt   des    Getreideackers    die    Kulturpflanze    bezüglich    der 


')  Vgl.  z.  B. :  A.  Thellung,  Neuere  Wege  und  Ziele 
der  botanischen  Systematik,  erläutert  am  Beispiele  unserer 
Getreidearien  (Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XVII  (1918],  Nr.  32, 
33  [speziell  S.  453]). 

■^)  Vladimir  Hitrovo,  Sur  la  voilure  des  organes  de 
propagation  des  plantes  messicoles  de  niveaux  diff^erents.  Bull, 
f.  angew.  Bot.  (Petersb.)  V  (1912),  S.  103 — 138,  russisch  und 
franzosisch. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


495 


zeitlichen  Entwicklungsphasen  (Keimungs-  und  Blütezeit,  Frucht- 
reife) und  der  Ausbildung  der  Verbreitungsorgane  (z.  B.  des 
„Flugfähigkeitskoeffizienten"  [coefficient  de  voilure])  in  weit- 
gehendem Maße  nachahmen  bzw.  sich  ihr  angleichen.  Es  ist 
einleuchtend,  daß  durch  diesen  Angleichungsvorgang,  der  sich 
am  besten  auf  dem  Wege  der  —  seitens  des  Menschen  un- 
beabsichtigten —  Auslese  erklären  läßt,  die  Unkräuter  sich 
manche  ,,K  ultur  p  flanz  enm  erkmale"  angeeignet  haben. 
Von  solchen  seien  genannt: 

1.  Einjäh  rig  wer  den  unter  dem  Einfluß  der  Kultur. 
Beispiel:  das  mediterrane,  einjährige  Kulturlandsunkraut 
Phalaris  brachystachys ,  das  sich  im  übrigen  wenig  von  der 
ausdauernden  und  natürliche  Standorte  bewohnenden  Ph. 
trumata  unterscheidet. 

2.  Vergrößerung  derSamen:  z.  B.  bei  dem  Flachs- 
unkraut Camelina  Alyssiim  (dentata,  linicola),  im  Interesse 
einer  möglichst  weitgehenden  Angleichung  an  die  Samen  der 
Kulturpflanze  (Erschwerung  der  Trennung  des  Unkrautsamens 
vom   Leinsamen  nach   Zinger). 

3.  Verlust  der  natürlichen  Schutzmittel,  z.  B. 
der  Samen:  weich-  und  dünnschalige  Fruchtklappen  bei 
Came'tina  Alysstim  im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Formen  der 
Gesamtart   C.  sativa. 

4.  Verlust  der  natürlichen  Verbreitungs- 
mittel der  Samen:  ungeflügelte  Samen  bei  den  getreide- 
bewohnenden A'Ä/Krt;//'/H/A~-Sippen  im  Gegensatz  zu  den  wiesen- 
bewohnenden Parallelformen  (nach  Sterneck  vielleicht  durch 
Selektion  bei  der  Reinigung  des  Getreidesaatgutes  entstanden) ; 
zähe  Ährchenachse  und  Neigung  zur  Verkümmerung  der 
Grannen  bei  dem  Getreideunkraut  Bronuis  secaimus  im  Gegen- 
satz zu  dem  sonst  sehr  ähnlichen,  wiesenbewohnenden 
B.  pratensis  (commutatus) ;  wenig  sich  öffnende  und  die 
Samen  nicht  ausstreuende,  sondern  als  Ganzes  mit  dem  Ge- 
treide verbreitete  Kapselfrucht  von  Agrostimma  Githago,^)  die 
in  dieser  Hinsicht  bereits  an  die  vielsamigen  Schließfrüchte 
gewisser  Formen  des  Gartenmohns  {Papaver  somniferum)  und 
des    Dreschleins    [Linum    usitatissimtim    var.  vulgare)    erinnert. 

5.  Heimatlosigkeit:  Silene  linicola,  Cusciila  Epilinnm, 
die  nur  als  Unkräuter  in  den  Feldern  des  (wildwachsend  un- 
bekannten) angebauten  Flachses  angetroffen  werden. 

In  den  Rahmen  dieser  Betrachtungsweise  fügt  sich  nun 
ausgezeichnet  als  neues  Beispiel  die  Feststellung  von  Vavi- 
low,  daß  in  Südwestasien  eine  Roggenform  mit  zäher  Ähren- 
achse als  Getreideunkraut  auftritt.  Daß  diese  Form  in  manchen 
Fällen  als  direktes  Ausgangsmaterial  für  die  Roggenkultur 
gedient  haben  mag,  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden; 
unrichtig  ist  es  aber  nach  meiner  Meinung,  diese  offenbar 
unter  dem  unbeabsichtigten  Kultureintlufi  des  Menschen  ab- 
geänderte Pflanze  als  eine  eigentliche,  von  Secaie  montanttm 
spezifisch  verschiedene  Wildform  aufzufassen.  Ebenso  un- 
wahrscheinlich ist  für  mich  das  von  R.  Regel  angegebene 
Vorkommen  einer  wirklich  wilden,  sechszeiligen  Gerstenform 
mit  zäher  Ährenspindel  in  Transkaukasien.  Über  die  Frage 
der  Abstammung  des  Hafers  wird  man  erneut  diskutieren 
können,  wenn  einmal  über  die  von  Vavilow  angenommene 
Wildform  positive  Angaben  vorhanden  sein  werden  anstatt 
der  heute  einzig  vorliegenden,  ziemlich  apodiktisch  klingenden 
Behauptung,  daß  Avena  fatua  nicht  die  wilde  Stammform 
der  A,  sativa  sei. 

Zur  Vermeidung  jeglicher  Mißverständnisse  hebe  ich  aus- 
drücklich hervor,  daß  ich  die  Beobachtungen  der  genannten 
russischen  Forscher  als  äußerst  wertvoll  hoch  schätze,  dafi 
ich  aber  den  daraus  gezogenen  Schlußfolgerungen  nicht  bei- 
zupflichten vermag.  A.  Thellung  (Zürich). 


Über  die  Bedingungen  der  Blütenbildung  bei  Elodeen. 
Im  August  1917  berichtete  ich  zum  ersten  Male,  daß  die 
Blüten  meiner  kultivierten  Elodea  densa  hinter  den  Angaben 
aller  Diagnosen  in  der  Größe  nicht  unerheblich  zurückge- 
blieben seien.  Meine  Vermutungen,  die  sich  auf  anatomische 
und  morphologische  Untersuchungen  stützten  (worüber  ich  in 
Abh.  Nat.  Ver.  Bremen  Bd.  X.\IV,  i  p.  121— 28  Aufschluß 
gab),   bewegten   sich    in    der  Hauptsache  dahin,    daß  die  auf- 


fallende Kälte  des  Winters  1917  auf  die  Entwicklung  der 
Kronblätter  hemmend  eingewirkt  habe.  Zur  weiteren  Nach- 
prüfung war  ich  gezwungen,  die  Bedingungen  zu  finden,  unter 
denen  Blütenentwicklung  erzielt  wird.  Da  sie  sicher  von  all- 
gemeinerem Interesse  für  die  Physiologie  sowohl,  als  auch 
für  die  e-xperimentelle  Organographie  sind,  seien  meine  bis- 
herigen Ergebnisse  mitgeteilt.  Etwas  Abgeschlossenes  zu 
liefern,  erlaubt  auch  heute  noch  nicht  der  Stand  unserer 
Kenntnisse. 

In  den  Sommern  1918  und  1919  erhielt  ich  keine  Blüten, 
auch  1920  nur  ganz  wenige.  Nun  habe  ich  —  merkwürdiger- 
weise wiederum  nach  einem  ziemlich  strengen  und  langen 
Winter  —  nach  Überschlagen  des  vorigen  Jahres  jetzt  zahl- 
reiche Sprosse,  zum  Teil  an  verschiedenen  Stellen,  zur  Bildung 
der  Blütenstände  anzuregen  vermocht.  Der  Eifolg  scheint  also 
die  von  mir  gegebenen  Bedingungen  als  die  richtigen  zu  er- 
weisen. 

Es  ist  eine  altbekannte  Tatsache,  daß  zwischen  vegeta- 
tivem Wachstum  und  Blütenbildung  ein  gewisser  Gegen- 
satz besteht,  der  bei  vielen  Pflanzen  auch  in  der  normalen 
Entwicklung  insofern  hervortritt,  als  die  Blütenbildung  erst 
dann  einzutreten  pflegt,  wenn  die  Periode  des  intensivsten 
vegetativen  Wachstums  vorüber  ist.  Das  gilt  nach  Göbel 
(190S)  sowohl  für  einjährige,  als  auch  für  ausdauernde  Pflan- 
zen, die  vielfach  auch  schon  durch  die  Verschiedenheit  des 
Lebensalters,  in  dem  die  Blütenbildung  bei  verschiedenen 
Exemplaren  derselben  Art  einzutreten  pflegt,  deren  Abhängig- 
keit von  äußeren   Bedingungen  zeigen. 

EloJea  gehört  zu  den  Wasser-  und  Sumpfpflanzen,  die  im 
Wasser  zwar  ein  ungemein  üppiges  vegetatives  Wachstum  ent- 
falten, aber  sehr  selten  Blüten  hervorbringen  (Göbel,  1S93, 
S.  36g).  Allgemein  erfordert  die  Blütenbildung  eine  höhere 
Lichtintensilät  als  vegetatives  Wachstum,  so  daß  von 
vornherein  für  meine  Kulturgefäße  nur  ein  heller  Standort  in 
Frage  kommen  kann.  Die  geringere  Größe  der  Kronblätter 
kann  somit  kaum  auf  verminderte  Beleuchtung  zurückgeführt 
werden  (vgl.  z.  B.  Vöchting,  1893,  S.  149  seq.).  Daß  in- 
dessen die  Blütenbildung  nicht  vom  Licht  allein  abhängt, 
zeigen  andere  Erfahrungen  der  experimentellen  Morphologie. 
Ganz  unterdrückt  wurde  sie  bei  Glechoma  von  Klebs  (1903 
und  1906)  durch  reichliche  Wasserzufuhr,  gleichmäßige  Tem- 
peratur und  andere  möglichst  günstige  Wachstumsbedingungen, 
ebenso  durch  beständige  Stecklingsvermehrung.  Zu  ähnlichen 
oder  denselben  Ergebnissen  kamen  andere  Autoren,  deren 
Schriften  unten  verzeichnet  sind.  Sollten  diese  Verhältnisse 
bei  Elodea  erprobt  werden,  —  es  stand  durchaus  nicht  fest, 
daß  sie  auf  diese  Pflanze  übertragen  werden  konnten  —  so 
kam  es  darauf  an,  trotz  relativ  günstiger  Beleuchtung,  die 
unter  Umständen  das  Versuchsergebnis  ganz  umzustoßen  ge- 
eignet war  und  vielleicht  vor  2  Jahren  auch  vollführt  hat,  die 
Pflanzen  in  den  Kulturbecken  mit  möglichst  wenig  Wasser 
zu  versehen,')  die  Temperatur  in  weiten  Grenzen  zu  vari- 
ieren") und  den  Kulturen  überhaupt  möglichst  wenig  Pflege 
angedeihen  zu  lassen.  Kür  optimales  generatives  Wachstum 
ist  freilich  noch  mancherlei  sonst  zu  beachten.  Benecke 
(igo6)  zeigte,  daß  nich  t  die  Quanti  tat  d  er  Nährstoffe, 
sondern  deren  Qualität  darüber  entscheidet,  ob ,  die 
Pflanze  vegetativ  oder  fruktifikativ  wächst,  daß  somit  die 
Frage,  ob  bloß  reicher  oder  ärmer  an  Nährstoffen  noch  falsch 
ist.     Für  optimales  vegetatives  Wachstum  müssen  die  zur  Ver- 


')  A.  Nathansohn,  Saisonformen  von  Agrostemma 
Githago  L.  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.  LIII,  i.  Heft  (1913),  S.  125 
bis   153. 


•)  Göbel  weist  darauf  hin,  daß,  sobald  gewisse  Wasser- 
pflanzen auf  dem  Lande  zu  wachsen  gezwungen  werden,  das 
üppige  Wachstum  (unter  ungeschlechtlicher  Vermehrung)  zu- 
rücktritt und   die   Forlpflanzungsorgane  normal   entstehen. 

*)  Dabei  waren  die  Verhältnisse  des  letzten  Winters  denk- 
bar günstig.  Wie  H.  Müller  (1886)  annimmt,  wäre  die 
Tatsache,  daß  die  Blüten  von  Pflanzen,  die  bei  höherer  Tem- 
peratur getrieben  werden,  nicht  selten  ,,s lecken  bleiben", 
dadurch  bedingt,  daß  die  beblätterten  Triebe  den  Blüten- 
knospen die  Nahrung  entzögen.  Interessant  bleibt,  wie  auch 
bei  Holzgewächsen  ein  längeres  Verweilen  in  der  Kälte 
die  Triebfähigkeit  gegen  Ende  der  Ruheperiode  fördert  (siehe 
Friedl  Weber  in  Ber.  d.  D.  Bot.  Ges.  XXXIX,  1921, 
S.  152  f.,  sowie  W.  Kinzel,  Frost  und  Licht  als  beein- 
flussende Kräfte  bei  der  Samenkeimung,  Nachtrag  II,  Verlag 
E.  Ulmer,  Stuttgart  1920,  182  S.). 


496 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  36 


fügung  stehenden  organischen  und  anorganischen  Nährstoffe 
in  einem  bestimmten  gegenseitigen  Verhältnis  stehen.  Wird 
das  Verhältnis  zugunsten  der  organischen  Nährstoffe  geändert, 
so  bewirkt  dies  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  eine  Hem- 
mung des  Wachstums  und  löst  gleichzeitig  bei 
vielen  (nicht  allen)  Pflanzen  lil  iiten  b  ild  un  g  aus.  In  der 
Stahlfestschrift  (1918)  kommt  Klebs  (dort  weitere  Literatur- 
angaben!) zu  dem  Ergebnis,  daß  der  blühreife  Zustand  durch 
starkes  Überwiegen  der  C-Assimilation  über  die  Wachstums- 
und DissimilatioDsvorgänge  erzeugt  wird  und  so  lange  erhalten 
bleibt,  wie  genügend  Mengen  von  Assimilaten  vorhanden  sind. 
Die  Funktion  des  Lichtes  hält  er  bei  der  Erreichung  der 
Blühreife  für  rein  trophisch.  Nach  A.  Mayer  (1SS6,  S.  261) 
führt  Anreicherung  an  Phosphaten,  nach  Mülle  r-T  h  urgau 
(1S95  usw.,  ebenso  in  7ahlreichen  landwirtschaftlichen  und 
gärtnerischen  Schriften)  Einschränkung  der  N- Düngung,  d.  h. 
in  unserem  Fall  das  Fehlen  einer  ausgiebigeren  tierischen 
Lebewelt  in  den  Versuchsbecken  und  die  Verwertung  phos- 
phatreicher Erden,  zur  Blütenbildung.  Benecke  (1902, 
■3.  377)  meint,  daß  viele  Pflanzen  dem  N-Mangel  abzuhelfen 
suchen,  indem  sie  unter  Aufgabe  ihrer  eigenen  Existenz  für 
Nachkommenschaft  sorgen  (siehe  auch  Low,  1905 1).  Es 
bleibt  denkbar,  daß  derartige  Eingriffe  in  die  Ernährung  der 
Versuchspflanzen  an  der  gehemmten  Ausbildung  der  Kron- 
blätter wenigstens  zum  Teil  Schuld  tragen.  Vöchting 
(1893,  S.  149)  berichtet  von  solchen  Erfahrungen.  Wenn 
seine  Beobachtung  auch  für  FJodca  Geltung  hat,  so  können 
die  Kronblätter  nicht  zu  denjenigen  Organen  der  Blüten 
zählen,  die  in  normaler  Entwicklung  die  geförderten  sind,  in- 
dem an  solchen  die  Hemmung  am  geringsten  sein  müßte.  Da 
im  übrigen  die  Zahlenverhältnisse  der  einzelnen  BlUtenteile 
durch  das  Experiment  nicht  beeinflußt  wurden  (Göbcl,  1SS2, 
S.  357),  darf  den  Ernährungsbedingungen  kaum  die  alleinige 
Schuld  an  der  geringeren  Entwicklung  der  Kronblätter  zuge- 
sprochen werden. 

Anfangs  war  ich  der  Meinung,  daß  die  Beschaffen- 
heit des  Bodens  in  den  Kulturbecken  ohne  Einfluß 
auf  die  Entwicklung  der  Elodeen  sei,  daß  diese  vielmehr  be- 
dingt sei  von  den  im  Wasser  gelösten  Nährstoffen,  nahm  ich 
doch  an,  daß  die  Wurzeln  der  Sprosse  nur  der  Befestigung 
im  Boden,  nicht  aber  der  Aufnahme  von  Nährstoffen  aus 
diesem  zu  dienen  hätten.  Da  fand  ich,  daß  Poud  (1903) 
gezeigt  hatte ,  daß  auch  Wasserpflanzen  im  Wachstum  ge- 
stört werden,  wenn  ihren  Wurzeln  die  NährstoiTaufnahme  aus 
dem  festen  Substrat  nicht  gestattet  wird.  Da  die  C-Assimi- 
lation in  den  aus  dem  Boden  gerissenen  Sprossen  ungestört 
weitergeht,  so  stellt  sich  bei  ihnen  eine  enorme  Slärkean- 
sammlung  in  den  Blättern  ein,  die  offenbar  in  solchem  Falle 
ein  Ausdruck  für  den  Mangel  an  Nährsalzen  ist.  Ein  Ersatz 
der  Salze  des  Bodens  durch  im  Medium  gelöste  ist  unmög- 
lich ;  wenigstens  ermöglichten  weder  die  Sachssche,  noch  die 
Knopsche  Nährlösung  ein  optimales  Wachstum.  Auch  Snell 
(1908)  beobachtete,  daß  gewisse  bewurzelte  Wasserpflanzen 
die  Salze  nicht  durch  die  Blätter  auinehmen,  sondern  auf  die 
Beihilfe  der  Wurzeln  angewiesen  sind.')  Dahin  ist  auch 
Elodea  densa  zu  rechnen.  So  glaubt  W.  Riede  (1921)  auf 
Grund  mikrochemischer  Methoden  über  Aufnahme  und  Fort- 
Icitung  bestimmter  Nährsalze  und  F'arbstoffe  (bes.  Kobalt- 
papierproben, Ferrocyankaliumlüsung ,  ferner  Versuche  mit 
Potometern  und  Druckversuche)  entgegen  Mayr  die  Möglich- 
keit verneinen  zu  müssen,  daß  bei  Wasserpflanzen  mit  Apikal- 
öfifnungen  aufler  der  Wurzel  auch  die  Epidermis  an  der  Wasser- 

')  Bierberg  (1909)  glaubt  für  Lemna  eine  beschränkte 
Aufnahmerähigkeit  der  Salze  durch  die  Blätter  festgestellt  zu 
haben. 


aufnähme  beteiligt  sei.  Meine  eigenen  Versuche,  die  ich  nach 
Angaben  von  Maria  Buchholz  (1920)  mit  Trypanblau 
unternahm,  konnten  diese  Ergebnisse  nur  bestätigen. 

Die  oben  entwickelten  Bedingungen:  —  heller  Ort 
für  die  Kultur,  möglichst  wenig  Wasser,  stark 
wechselnde  Temperatur,  wenig  Pflege,  kein  Ab- 
trennen von  Stecklingen,  wenig  tierische  Be- 
wohner, endlich  möglichst  p  h  o  s  p  h  a  t  r  e  i  c  h  e 
Gartenerde  mit  Sand  gemischt  —  lieferten,  wie  er- 
wähnt, zahlreiche  Blütensprosse,  die  ohne  Ausnahme  zu  3  aus 
einer  Spatha  kamen  und  sämtlich  aus  cf'  Blüten  bestanden, 
deren  Kronblätter  fast  durchweg  ein  wenig  gegen  die  Maß- 
angaben der  Diagnosen  zurückblieben.  Besonders  gilt  das  für 
die  ersten  von  mir  in  diesem  Jahr  gesammelten  Blüten,  die 
ich  am  7.  Juni  feststellte.  Ich  glaube,  wenigstens  die 
wichtigsten  Bedingungen  zur  Züchtung  von  Blüten  an  Elo- 
deen gefunden  zu  haben,  und  möchte  nur  recht  vielen  Lesern 
raten,  wenn  angängig  die  Versuche  unter  denselben  oder 
ähnlichen  Bedingungen  zu  wiederholen. 

Dr.  Pfeiffer,  Bremen. 


Wichtigste  Literatur. 

Benecke  in  Schrift,  d.  Naturw.  Ver.  für  Schleswig- 
Holstein,  XII,   1902. 

Benecke,  Einige  Bemerk,  über  Beding,  d.  Blühens  u. 
Frucht,  d.  Gew.     Bot.  Zeitg.  LXIV,  2.  Abt.,   1906. 

Bierberg  in  Flora,  XCIX,   1909. 

Mar.  Buch  holz  in  Flora,  N.   F.  XIV,   1920. 

Di  eis,  Jugendformen  und  Blütenreife  im  Pflanzenreich. 
Berlin   1906. 

H.  Fischer,  Über  Blütenbildg.  in  ihrer  Abhängigk.  usw. 
Flora  XCIV,   1904. 

Göbel  in  Bot.  Zeitg.  XL,    1882. 

Göbel,  Pflanzenbiolog.  Schilderungen,  II.  Marburg  1893. 

Göbel,  Organographie  d.   Pfl.,  11.     Jena   1901. 

Göbel,  Einleitung  in  die  experiment.  Morphol.  d.  Pfl. 
Leipzig  u.  Berlin   1908. 

Klebs,  Willkürliche Entwicklungsänder.  b. Pfl.   Jena  1903. 

Klebs,  Über  künstl.  Metamorphosen,  Abh.  naturf.  Ges. 
Halle  XXV,    1906. 

Klebs,  Über  Blütenbildung  von  Sempervivum.  Flora, 
N.  F.  XI/XIl,   1918. 

Lindemuth,  Über  Samenbildg.  an  abgeschnitt.  Bluten- 
stand, usw.     Ber.  d.  D.  Bot.  Ges.  XIV,   1896. 

Low,  Über  Stickstoffentziehung  u.  Blütenbildg.  Flora  XCV, 
1905. 

A.  Mayer,  Agrikulturchemie.     3.  Aufl.   1886. 

Möbius,  Beitr.  zur  Lehre  von  der  Fortpflanz,  d.  Gew. 
Jena   1897. 

H.  Müller,  Beitrag  z.  Erkl.  d.  Ruheperiode  d.  Pfl. 
Landwirtsch.  Jahrb.   1886. 

Müller-Thurgau,  3.  Jahresber.  d.  deutsch-schweiz. 
Vcrsuchsstat.  Wärensweil   1895,  4.  Jahresber.    1896  usw. 

Poud,  The  biological  relation  of  aquatic  plants  to  the 
substratum.     U.  S.   Fish  Comm.   report   1903. 

W.Riede,  Untersuch,  über  Wasserpfl.    Flora  CXIV,  1921. 

Snell,  Untersuch,  über  Nahrungsaufn.  der  Wasserpfl. 
Flora  XCVIII,   1908. 

Vöchting,  Organbildg.  im  Pflanzenreich,  II.    Bonn  1SS4. 

Vöchting,  Über  Einfl.  d.  Licht,  auf  d.  Gestalt,  u. 
Anleg.  d  Blut.     Pringsh.  Jahrb.  f.  wiss.   Bot.  XXV,   1893. 

Vöchting  in  Ber.  d.  D.  Bot.  Ges.  XVI,   1898. 

W  a  1  s  t  e  r ,  Formative  effect  of  high  and  low  temperature 
upon  growth  of  barley,  a  chemical  correlation.  Botan. 
Gaz,  LIX,   1920. 


Inhalt:  W.  Goetsch,  Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen.  (4  Abb.)  S.  481.  L.  Henkel,  Über  den  Einfluß  der 
Erdumdrehung  auf  den  Bau  von  Flußbetten.  S.  4S5.  —  Einzelbericbte:  R.  Wettstein,  Die  Verwertung  der  Mendel- 
schen  Spaltungsgesetze  für  die  Deutung  von  Artbastarden.  S.  4S7.  E.  M  e  1  i  n ,  Bolelas-Antn  als  Mykorrhizenpilze  der  Wald- 
bäume. S.  4S8.  IL  B  in  d  e  ma  n  n ,  Neue  Verdunstungsmessungen  an  Binnenseen.  S.  488.  H.  Wieland  und  R.  Alles, 
Über  den  Giftstofl'  der  Kröte.  S.  490.  —  Bücherbesprechungen;  P.  Klaut  ke,  Nutzpflanzen  und  Nutztiere  Chinas. 
S.  491.  J.  Stoklasa,  Über  die  Verbreitung  des  Aluminiums  in  der  Natur  und  seine  Bedeutung  beim  Bau-  und  Be- 
triebsstoffwechscl  der  Pflanzen.  S.  492.  Fr.  Dannemann,  Aus  der  Werkstatt  großer  Forscher.  S.  493.  —  Anregungen 
und  Antworten :  Über  den  Ursprung  der  Getreidearten.  S.  494.     Über  die  Bedingungen  der  Blütenbildung  bei  Elodeen.  S.  495. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten, 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'ichen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H,,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 

Sonntag,  den  lo.  September  1922.  Nummer  37. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


[Nachdruck  verboten. 1 


Ein  neues  Uhrenparadoxon. 

Von  K.  Vogtlierr,  München. 


Das  sog.  „Uhrenparadoxon"  bildet  be- 
kanntlich ein  Streitobjekt  zwischen  Anhängern 
und  Gegnern  der  Relativitätstheorie.  ^)  Die  Gegner 
behaupten,  daß  von  zwei  Uhren ,  welche  nach 
ausgeführter  hin-  und  hergehender  Relativbe- 
wegung auf  der  X-Achse  nebeneinander  sich  wie- 
der in  Ruhe  befinden,  jede  gegenüber  der  anderen 
nachgehen  müsse,  denn  von  jedem  der  als  gleich- 
wertig anzusehenden  Systeme  aus  könne  ja  eine 
andere  Uhr  als  bewegt  gelten  und  bewegte  Uhren 
haben  nach  der  Relativitätstheorie  bekanntlich 
einen  langsameren  Gang  als  ruhende.  Das  führe 
aber  entweder  zum  logischen  Widerspruch  oder 
zur  Aufhebung  des  bisherigen  Wirklichkeitsbegriffs, 
nach  welchem  die  Beobachtungen  verschiedener 
beobachtender  Subjekte  auf  eine  objektive  raum- 
zeitliche Körperwelt  sich  beziehen  lassen.  Die 
Anhänger  der  Theorie  behaupten,  daß  die  ge- 
zogenen Schlüsse  nicht  gültig  seien,  weil  (bei  Be- 
ginn, Umkehr  und  Ende  der  Bewegung)  Beschleu- 
nigungen im  Spiele  wären  und  Einstein  selbst 
kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  nach  der  allge- 
meinen Relativitätstheorie  wegen  der  Wirksamkeit 
des  Unterschiedes  im  Gravitationspotential ,  die 
eine  Uhr  von  jedem  Standpunkt  aus  gegenüber 
der  anderen  um  den  gleichen  Betrag  nachgehen 
müsse. 

Wir  wollen  hier  diese  Streitfrage  auf  sich  be- 
ruhen lassen,  da  sich  ein  Uhrenparadoxon  auf- 
stellen läßt,  das  ohne  jedes  Hereinspielen  von  Be- 
schleunigungen zu  einem  gleichfalls  für  die  Relativi- 
tätstheorie belastenden  Ergebnis  führt.  Man  läßt 
in  dem  angeführten  Uhrenparadoxon  wohl  des- 
halb die  Uhren  nach  ausgeführter  Bewegung  zu- 
einander ruhen,  damit  die  Beobachtungen  an  bei- 
den Uhren  unter  gleichen  Umständen  erfolgen 
sollen.  Nun  ist  dies  aber  streng  genommen  nicht 
der  Fall,  denn  jeder  der  beiden  Beobachter  stellt 
fest,  daß  die  für  ihn  bewegt  gewesene  Uhr, 
d.  h.  diejenige  Uhr,  welche  ihm  gegenüber  eine 
Relativbewegung  ausgeführt  hat,  nachgeht,  die 
andere,  nicht  bewegt  gewesene,  nicht.  Hat  man 
dies  eingesehen,  so  findet  man  das  Paradoxon 
an  ruhenden  Uhren  um  nichts  verwunderlicher, 
als  das  Verhalten  bewegter  Uhren,  welches  nach 
der  Theorie  statthaben  soll,  nämlich  daß  von  zwei 
zueinander  geradlinig- gleichförmig  bewegten  Uhren 
jede  gegenüber  der  anderen  langsamer  geht,  weil 
ja  jede  gegenüber  der  anderen  eine  Relativbewegung 


ausführt.  Dies  merkwürdige  Verhalten  der  Uhren 
wird  auch  von  bekannten  Anhängern  der  Rela- 
tivitätstheorie ohne  weiteres  zugegeben.  So  sagt 
J.  Petzoldt:')  „Wir  müssen  uns  daher  ganz  klar 
darüber  sein,  daß  die  Theorie  prinzipiell  nicht  nur 
zuläßt,  sondern  fordert,  daß  zwei  gegeneinander 
bewegte  Beobachter  an  „ein  und  derselben"  Uhr 
gleichzeitig  verschiedene  Zeigerstellungen  sehen 
und  tasten  würden,  daß  für  den  einen  etwa  „die- 
selbe" Uhr  für  Auge  und  Hand  10  Uhr  zeigt,  an 
der  der  andere  gleichzeitig,  d.  h.  im  Moment  des 
Vorübergleitens  7  Uhr  30  Min.  ablesen  und  ab- 
tasten würde,  während  er  an  seiner  eigenen  Uhr 
auch  10  Uhr  abliest,  die  nun  aber  wieder  für  den 
ersten  7  Uhr  30  zeigt." 

Die  Relativisten  finden,  wie  es  scheint,  dies 
Verhalten  der  Uhren  ganz  in  der  Ordnung.  In 
dem  angeführten  Zitat  findet  sich  jedoch  ein 
Wort,  das  sie  eigentlich  beunruhigen  müßte,  näm- 
lich das  Wort  „gleichzeitig".  Es  ist  außerordent- 
lich interessant,  daß  hier  ein  überzeugter  Relati- 
vist zwei  Beobachter  in  verschiedenen  Systemen, 
deren  jedes  doch  seine  besondere  Zeit  haben  soll, 
„gleichzeitig"  Beobachtungen  machen  läßt.  Es 
scheint  also  die  absolute  Zeit,  die  doch  ein  glück- 
lich überwundenes  Vorurteil  der  Vergangenheit 
ist,  sogar  in  relativistischen  Köpfen  zuweilen  noch 
ihren  Spuk  zu  treiben.  Die  vorliegende  Unstim- 
migkeit verdient  jedoch,  wie  das  Resultat  zeigen 
wird,  eine  ernsthafte  Behandlung  und  wir  fragen 
uns  daher:  wie  ist  der  Sachverhalt,  wenn  man 
ihn  unter  die  Lupe  einer  streng  logischen  Analyse 
nimmt  ? 

Es  wird  in  dem  betrachteten  Paradoxon  an 
bewegten  Uhren,  wie  es  uns  J.  Petzoldt  schil- 
dert, von  den  beiderseitigen  Wahrnehmungen  der 
beobachtenden  Subjekte  im  Moment  ihrer  Be- 
gegnung gesprochen.'^)  Zwei  Subjekte  können  sich 
aber  ebenso  wie  zwei  Körper  nur  dann  begegnen, 
wenn  sie  gleichzeitig  am  gleichen  Orte  sind,  also 
in  demselben  Augenblick  an  demselben  Orte.    Be- 


')  Siehe  „Naturwissenschaften"  1918,  S.  697  und  die 
Kontroverse  E.  Gehrcke  und  H.  Thirring,  ebenda  1921, 
S.  209,  482,   550. 


')  Die  Stellung  der  Relativitätstheorie  in  der  geistigen 
Entwicklung  der  Menschheit.     Dresden   1921,  S.   104. 

'')  Es  handelt  sich  hier  darum,  die  Aussagen  zweier  wahr- 
nehmender Subjekte  über  denselben  körperlichen  Gegenstand 
in  eine  widerspruchslose  Beziehung  zu  bringen  oder  ihren 
Widerspruch  aufzudecken.  Zu  diesem  Zwecke  muß  bekannt 
sein,  von  wo  aus  die  Beobachtungen  gemacht  werden,  d.  h. 
man  muß  den  Subjekten  einen  Ort  im  Räume  anweisen,  an 
welchem  sie  ihren  Sitz  haben.  Es  ist  dies  der  Ort  der  per- 
zipierenden  Sinnesorgane.  Deshalb  sei  es  erlaubt,  in  diesem 
Zusammenhang  kurz  von  einer  Begegnung  der  Subjekte  zu 
reden,  während  es  genauer  heißen  muß ;  Begegnung  zweier 
Körper,  welche  Sitz  beobachtender  Subjekte  sind. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gegnung  setzt  Gleichzeitigkeit  in  diesem  Sinne  voraus. 
Nimmt  aber  jedes  der  beobachtenden  Subjekte 
nicht  die  Gegenwart,  sondern  die  Vergangenheit 
der  subjektiven  Systemwelt  des  anderen  beobach- 
tenden Subjekts  wahr  (wie  es  der  Fall  ist,  da  ja 
nicht  nur  der  Uhrengang,  sondern  jedes  raum- 
zeitliche Geschehen  in  dem  bewegten  System 
sich  verlangsamt)  so  kann  es  innerhalb  der 
Systemzeiten  für  beide  Subjekte  keine 
Gleichzeitigkeit  in  obigem  Sinne  geben, 
die  vielmehr  nur  durch  die  in  der  Relativitäts- 
theorie abgeschaffte   absolute  Zeit   denkbar  wäre. 

Da  also  für  die  beobachtenden  Subjekte 
eine  gemeinsam  gültige  Gleichzeitig- 
keit nicht  existiert,  so  ist  auch  eine 
Begegnung  für  sie  unmöglich,  denn 
Begegnung  setzt  Gleichzeitigkeit 
voraus.  Die  Unmöglichkeit  ihrer  Be- 
gegnung folgt  unmittelbar  aus  der 
„Relativität  der  Zeit."  Hat  jedes  der  be- 
obachtenden Subjekte  seine  eigene  Zeit,  so  gibt 
es  offenbar  für  sie  keine  Begegnung  (es  kann  nur 
das  eine  Subjekt  dem  Körper  des  anderen  be- 
gegnen), da  die  Begegnung  zweier  Subjekte,  ebenso 
wie  die  zweier  Körper  nur  in  einer  Einheit  der 
Zeit  (und  des  Raumes),  in  der  sich  beide  befinden, 
zu  denken  ist.')  Gibt  es  aber  keine  Begegnung 
der  beobachtenden  Subjekte,  so  kann  es  selbst- 
verständlich auch  nicht  erlaubt  sein,  von  ihren 
beiderseitigen  Wahrnehmungen  an  demselben 
Gegenstand  während  ihrer  Begegnung  zu  reden 
und  es  kann  ferner  der  menschliche  Kör- 
per, welchem  sich  der  eine  Beobachter  bei  der 
Begegnung  gegenübersieht,  nicht  Sitz  eines  be- 
obachtenden Subjekts  sein.  Man  sieht  hier  deut- 
lich, daß  die  Relativitätstheorie  erkenntnistheore- 
tisch auf  eine  Art  Solipsismus  hinausläuft,  wie 
dies  E.  Gercke  schon  1914  (in  Verfolgung  eines 
anderen    Gedankenganges)    hervorgehoben    hat. ") 

Mancher  wird  vielleicht  diese  Überlegungen 
zu  abstrakt  und  deshalb  wenig  überzeugend  fin- 
den.    Es  ist  deshalb  zur  Bekräftigung  obiger  Aus- 

')  Daß  man  in  der  Relativitätstheorie  von  einer  Begeg- 
nung der  beobachtenden  Subjekte  streng  genommen  nicht 
reden  kann,  und  daher  auch  nicht  von  deren  beiderseitigen 
Wahrnehmungen  an  demselben  Objekt  während  einer  Begeg- 
nung, geht  auch  daraus  hervor,  daß  eine  Begegnung  an  einem 
bestimmten  Ort  erfolgen  muß.  A  kann  nun  aber  B  nicht  an 
dem  Ort  begegnen,  wo  letztefer  sich  (von  B  aus  betrachteil 
„jetzt"  befindet,  sondern  wo  er  sich  (von  B  aus  betrachtet) 
früher  befand,  und  diese  beiden  Orte  können  verschiedene 
sein,  da  B  sich  in  der  Zwischenzeit  in  seinem  eigenen  System, 
etwa  senkrecht  zur  X-Achse ,  fortbewegt  haben  kann.  Die 
Begegnung  müßte  also  an  verschiedenen  Orten  erfolgen,  was 
unmöglich  ist. 

^)  Siehe  „Kantstudien"  1914,  S.  4S1.  Zu  diesem  Ergebnis 
gelangt  man  auch  auf  dem  Wege  folgender  einfacher  Über- 
legung. Bezeichnen  wir  in  dem  oben  zitierten  Beispiele  die 
Beobachter  mit  A  und  B  und  stellen  wir  uns  auf  den  Stand- 
punkt des  A,  so  ergibt  sich  :  nicht  nur  auf  die  eigene  Netz- 
haut des  A  muß  die  mit  ihm  bewegte  Uhr  die  Zeigerstellung 
10  Uhr  projizieren,  sondern  auch  auf  die  Netzhaut  des  B,  so 
wie  sie  im  Momente  der  Begegnung  in  der  Welt  des  A  vor- 
handen ist.  B  nimmt  jedoch  an  dieser  Uhr  die  Zeigerstellung 
7  Uhr  30  Min.  wahr,  also  kann  der  dem  A  gegenwärtige 
Körper  des  B  nicht  Sitz  des  wahrnehmenden  Subjekts  B  sein. 


führungen  sehr  dienlich,  daß  man  auch  auf  dem 
bequemeren  Wege  eines  anschaulichen  Gedanken- 
experiments zu  einem  ganz  ähnlichen  Ergebnis  ge- 
langen kann.  Denken  wir  uns,  genau  wie  in  dem 
angeführten  Beispiel  von  J.  Petzoldt,  einen  „ruhen- 
den" Beobachter  A  und  einen  geradlinig  gleichför- 
mig bewegten  Beobachter  B,  in  dessen  Nähe  sich 
eine  mit  ihm  bewegte  Uhr  befindet.  Die  Uhr  zeigt 
also  im  Moment  der  Begegnung  beider  Beobachter 
für  A  7  Uhr  30  Min.,  für  B  10  Uhr. ')  Nun  stecken 
wir  in  das  Gehäuse  der  Uhr  eine  Dynamitpatrone, 
welche  durch  einen  Zündkontakt  derart  mit  den 
Zeigern  verbunden  wird,  daß  die  Zeigerstellung 
9  Uhr  die  Patrone  zur  Explosion  bringt.  Lassen 
wir  nun  Uhr  und  Beobachter  wieder  in  gleicher 
Weise  sich  bewegen,  so  wird  A  im  Momente 
der  Begegnung  eine  Uhr  sehen  und  tasten,  die 
für  B  im  Momente  der  Begegnung  gar  nicht 
mehr  existiert,  weil  sie  vor  einer  Stunde  in 
Atome  zerrissen  wurde.  Entfernt  nun  A  die 
Zündvorrichtung  während  des  Vorübergleitens, 
so  ist  in  seiner  Welt  eine  Uhr  dauernd 
vorhanden,  die  in  der  Welt  des  B  dau- 
ernd nicht  vorhanden  ist.  Es  läßt  sich 
ferner  eine  Vorrichtung  derart  denken,  daß  der 
Zündkontakt  durch  die  Hand  oder  durch  einen 
Schuß  aus  einiger  Entfernung  geschlossen  werden 
kann ,  aber  auch  mit  dem  Uhrwerk  derart  ver- 
bunden ist,  daß  nur  in  der  Zeigerstellung  7  Uhr 
30  Min.  die  Explosion  erfolgen  kann.  Löst  nun 
A  während  des  Vorübergleitens  die  Explosion 
aus,  so  ist  jedenfalls  in  seiner  Welt  die  Uhr  für 
alle  Zukunft  beseitigt.  Wie  verhält  sich  aber  die 
Uhr  gegenüber  B?  Zur  Zeit,  als  die  Zeiger- 
stellung die  Explosion  ermöglicht  hätte,  war  sie 
noch  weit  von  A  entfernt,  zur  Zeit  der  Begegnung 
mit  A  stehen  die  Zeiger  auf  10  Uhr,  infolgedessen 
kann  die  Explosion  nicht  mehr  erfolgen.  „E  i  n 
und  dieselbe"  Uhr  ist  also  dann  umge- 
kehrt in  der  Welt  des  B  dauernd  vor- 
handen, in  der  Welt  des  A  dauernd 
nicht  vorhanden.  Man  hat  es  bisher  offen- 
bar übersehen,  daß  die  Wirkungen  des  A  auf 
die  mit  B  bewegten  Körper  in  der  Welt  des  B 
ohne  Einfluß  bleiben  müssen.  Denn  A  kann 
nur  auf  die  Welt  des  B  wirken,  so  wie  sie 
ihm  (A)  erscheint,  also  auf  die  Vergangenheit  der 
dem  B  gegenwärtigen  Welt;  seine  Handlungen 
kommen  also  als  Wirkungen  auf  letztere  gewisser- 
maßen zu  spät,  denn  die  Vergangenheit  der  dem 
B  subjektiv  gegenwärtigen  Welt  kann  nicht  mehr 


')  Um  Unklarheiten  zu  begegnen  sei  bemerkt,  daß  wir 
hier  unter  dem  Moment  der  Begegnung  beider  Beobachter 
den  Zeitpunkt  der  Begegnung  des  einen  beobachtenden  Sub- 
jekts mit  dem  Körper  des  anderen  Beobachters  verstehen 
wollen;  sonst  wäre  es  nötig  eine  den  Systemzeiten  übergeord- 
nete absolute  Zeit  einzuführen,  in  der  die  Begegnung  der  be- 
obachtenden Subjekte  erfolgen  könnte,  wie  dies  ja  auch  einige 
Relativisten  ganz  unbekümmert  tun,  wenn  sie  von  gleich- 
zeitigen Wahrnehmungen  der  Beobachter  während  einer  Be- 
gegnung reden.  Dies  würde  jedoch  auf  neue  Widerspruche 
führen,  ohne  daß  am  Ergebnis  obiger  Ausführungen  etwas 
geändert  würde. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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geändert  werden,  und  nur  diese  eigene  Vergangen- 
heit des  B  ist  für  dessen  Gegenwart  und  Zukunft 
maßgebend.*)  Dieser  eine  Körper,  der  in  der  Welt 
des  einen  Beobachters  allein  dauernd  vorhanden 
ist,  kann  aber  Anfangsglied  einer  unabsehbaren 
Kette  weiterer  Veränderungen  sein,  die  alle  nur 
in  der  Welt  des  einen  Beobachters  vor  sich  gehen. 
Er  kann  als  „kleine  Ursache"  „große  Wirkungen" 
entfalten.  Es  ist  ohne  weiteres  einzusehen,  daß 
auf  diese  Weise  die  subjektiven  Systemwelten  im 
Laufe  des  Geschehens  immer  mehr  den  Zusammen- 
hang verlieren  müssen  und  daß  die  Erscheinungen 
in  ihnen  schließlich  nicht  mehr  auf  eine  ihnen 
zugrunde  liegende  gemeinsame  Wirklichkeit  ge 
setzmäßig  bezogen  werden  können.  An  die  Stelle 
der  einen  objektiven  Natur  treten  die  subjektiven 
„Standpunktswelten",  zwischen  denen  es  letzten 
Endes  keine  gesetzmäßigen  Beziehungen  mehr  gibt. 
Die  Welt  des  einen  Beobachters  hat  mit  der  des 
anderen  nichts  mehr  zu  schaffen  und  die  kunst- 
vollsten Transformationsformeln  können  daran 
nichts  ändern. 

So  sind  wir  durch  das  angeführte  Gedanken- 
experiment zu  einem  Ergebnis  gelangt,  das  mit 
dem  auf  rein  logischem  Wege  abgeleiteten  im  Hin- 
weis auf  den  Solipsismus  übereinstimmt,  und  wir 
erkennen  die  abgrundtiefe  Kluft,  welche  die  Rela- 
tivitätstheorie von  der  bisherigen  Naturforschung 
trennt.  Gerade  darin  besteht  ja  die  Aufgabe  zu- 
nächst des  alltäglichen  Verstandesgebrauches  und 
weiterhin  des  naturwissenschaftlichen  Denkens  eine 


')  Man  kann  übrigens  diese  ganze  Betrachtung  auch  ohne 
Erwähnung  von  bewegten  Beobachtern  durchführen  und  so 
vereinfachen.  Es  genügt,  sich  im  einen  System  die  wie  oben 
eingerichtete  Uhr,  im  anderen  System  einen  Haken  zu  denken, 
welcher  im  Momente  des  Vorbeigleitens  die  zur  Zündung 
dienende  elektrische  Leitung  durchreißt.  Im  System  des 
Hakens  ist  die  Uhr  bewegt ,  geht  infolgedessen  langsamer 
und  ist  noch  nicht  explodiert,  wenn  dieser  die  Zündvorrich- 
tung außer  Funktion  setzt.  Im  anderen  System  ist  die  Uhr 
ruhend,  geht  rascher  und  die  Explosion  erfolgt,  bevor  die 
Begegnung  mit  dem  Haken  stattfindet.  Es  ist  dann  im  einen 
System  die  Uhr  dauernd  vorhanden,  im  anderen  dauernd  nicht 
mehr  vorhanden.  Das  Beispiel  läßt  sich  natürlich  beliebig 
variieren,  z.  B.  ein  Pulverfaß  mit  brennender  Zündschnur  im 
einen  und  eine  Löschvorrichtung  im  anderen  System,  oder 
ein  Verbrecher,  dem  ein  Einbruchsdiebstahl  glückt,  im  einen 
System,  und  der  herbeieilende  Schutzmann,  welcher  ihn  noch 
rechtzeitig  vertreibt,  im  anderen  System,  usw.  —  Aus  den 
Beispielen  ergibt  sich  als  Verallgemeinerung  folgendes:  vom 
System  a  aus  betrachtet  kann  dieses  auf  das  System  b  Wir- 
kungen ausüben.  Vom  System  b  aus  betrachtet  müssen  aber 
diese  Wirkungen  ungeschehen  bleiben,  da  sie  nicht  die  Gegen- 
wart, sondern  die  Vergangenheit  der  Zustände  des  Systems  b 
treffen  und  was  geschehen  ist  natürlich  nicht  mehr  geändert 
werden  kann. 


von  den  subjektiven  Täuschungen  befreite,  objektive, 
für  alle  erkennenden  Subjekte  gültige  Körperwelt  zu 
konstruieren.  In  dieser  objektiv  gültigen  Welt  exi- 
stiert z.  B.  ein  Würfel  von  5  cm  Seitenlänge  und 
dieser  Würfel  ist  für  alle  beobachtenden  Subjekte 
„derselbe"  Würfel  mit  den  gleichen  Bestimmungen, 
obwohl  er  jedem  Beobachter  je  nach  der  Per- 
spektive in  anderer  Form  und  je  nach  der  Ent- 
fernung in  anderer  Größe  erscheint.  Und  wissen- 
schaftlich hat  das  farbige  Licht  für  einen  Farben- 
blinden die  gleiche  Farbe,  wie  für  einen  Normal- 
sichtigen, nämlich  eine  ganz  bestimmte  Wellen- 
länge. Diese  Herausarbeitung  der  objektiven 
Wirklichkeit  aus  den  subjektiv  wechselnden  Er- 
scheinungen ist  aber  nur  möglich  durch 
einen  einzigen  für  alle  Subjekte  gülti- 
gen Raum  und  eine  einzige  Zeit,  also 
durch  einen  absoluten  Raum  *)  und  eine  absolute 
Zeit.  Durch  die  ,, Relativierung  der  Zeit"  führt 
die  Relativitätstheorie  unweigerlich  zum  extrem- 
sten Subjektivismus.  Nur  in  dem,  was  ein 
einzelner  Beobachter  wahrnimmt,  ist 
sie  widerspruchslos  durchführbar.  So- 
bald jedoch  die  Wahrnehmungen  verschieden  be- 
wegter Beobachter  in  ein  System  gebracht  werden 
sollen,  wird  man  gewahr,  daß  dies  unmöglich  ist, 
weil  jeder  derselben  in  einer  anderen  Zeit  und 
infolgedessen  in  einer  anderen  Welt  lebt,  und 
weil  ihre  subjektiven  räum  -  zeitlichen  Erlebnisse 
letzten  Endes  keinerlei  Zusammenhang  mehr  mit- 
einander haben.  Jeder  der  verschiedenen  Be- 
obachter lebt  also  als  Leibnizsche  fensterlose 
Monade.  Denn  nur  durch  eine  Einheit  des  Raumes 
und  der  Zeit  in  allen  bewegten  Systemen  und  für 
alle  beobachtenden  Subjekte  ist  die  Beziehung 
der  verschiedenen  subjektiven  Erscheinungswelten 
auf  eine  ihnen  übergeordnete  Wirklichkeit  denk- 
bar, und  auch  die  Transformationsgleichungen 
haben,  wenn  sie  Aussagen  über  die  gesetzmäßige 
Beziehung  zwischen  den  subjektiven  System- 
welten machen  wollen,  eine  Einheit  des  Raumes 
und  der  Zeit,  also  absoluten  Raum  und  absolute 
Zeit,  zur  unbedingten  Voraussetzung.  Wird  nur 
eines  von  beiden  angetastet,  so  muß  nicht  nur 
die  eine  objektive  Natur  der  Theorie  geopfert 
werden,  sondern  es  verschwindet  auch  jede  denk- 
bare IVIöglichkeit  einer  Gesetzmäßigkeit  zwischen 
den  subjektiven  „Standpunktswelten". 

')  Der  absolute,  d.  h.  für  alle  Subjekte  in  gleicher  Weise 
gültige  Raum  schließt  die  Relativität  der  Bewegung  nicht  aus. 
Wirkliche  Bewegung  kann  stets  nur  Bewegung  eines  Körpers 
gegenüber  anderen  Körpern  sein. 


Tom  Einfluß  der  Kriege  auf  die  PflanzenTerteiluuj 

[Nachdruck  verboten,]  Von  E.  SchaloW,  Breslau. 

Unter     den     1907    Gefaßpflanzen,     die     nach      mischen  Pflanzenbestandes 
Theodor    Schübe    bisher    in    Schlesien   beob- 
achtet wurden,    befinden  sich  insgesamt  378  Ad- 
ventivpflanzen,   also    Ankömmlinge    aus    fremden 
Ländern.*)    Das  sind  fast  20  "/o  des  gesamten  hei- 


Dabei  sind  die  schon 


')  Vgl.  Th.  Schübe,  Flora  von  Schlesien.  Breslau 
1904.  —  Inzwischen  sind  schon  wieder  eine  große  Zahl  neuer 
Adventivpflanzen  hinzugekommen,  und  andere  haben  sich  in 
den  letzten  Jahren  derartig  ausgebreitet,  daß  sie  jetzt  als  ein- 


5öö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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seit  der  prähistorischen  Zeit  bei  uns  vorkommenden 
Unkräuter  (Archäophyten),  wie  z.  B.  Centaiirea 
Cyanus,  Agrosteimna  Githago,  Stdlaria  viedia, 
Lolium  temulentum  u.  a.  schon  den  ursprüng- 
lichen Gewächsen  zugezählt  worden.  Von  den 
378  Adventivpflanzen  sind  nach  den  zuverlässigen 
Angaben  von  Th.  Schübe  mindestens  87  bereits 
als  völlig  eingebürgert  zu  betrachten.  Ähnlich 
dürften  auch  die  Verhältnisse  in  den  übrigen 
deutschen  Landschaften  wie  überhaupt  in  allen 
Kulturländern  liegen.  Schon  diese  wenigen  Zahlen 
lassen  deutlich  den  tiefgehenden  Einfluß  des 
Menschen  auf  unsere  heimatliche  Pflanzendecke 
erkennen.  Durch  die  regen  wechselseitigen 
Handelsbeziehungen  der  Länder  haben  die  meisten 
der  fremden  Elemente  bei  uns  Eingang  gefunden 
und  in  nicht  wenigen  Fällen  ist  es  ihnen  auch 
möglich  gewesen,  den  Wettkampf  mit  unseren 
einheimischen  Arten  erfolgreich  aufzunehmen. 
Doch  nicht  bloß  durch  den  friedlichen  Güter- 
austausch der  Völker  untereinander  sind  unserer 
Flora  neue  Bestandteile  zugeführt  worden,  sondern 
auch  die  kriegerischen  Unternehmungen  der  Völker 
haben  die  Pflanzenverteilung  auf  der  Erde  beein- 
flußt, indem  sie  die  Ausbreitung  der  Adventiv- 
pflanzen nicht  unwesentlich  begünstigten,  und  in 
zahlreichen  Fällen  hat  durch  fremde  Truppen 
auch  eine  Bereicherung  der  einzelnen  Landes- 
floren an  Adventivpflanzen  stattgefunden.  Im 
folgenden  soll  nun  zusammengestellt  werden,  was 
über  den  Einfluß  der  Kriege  auf  die  Pflanzen- 
verteilung  bekannt  geworden  ist.  Vollständigkeit 
des  in  Betracht  kommenden  Beobachtungsmaterials 
konnte  bei  der  überaus  verstreuten  Literatur  nicht 
erzielt  werden.  Immerhin  hofie  ich,  alle  wich- 
tigeren Angaben  ausfindig  gemacht  zu  haben. 

Inwieweit  durch  die  kriegerischen  Ereignisse 
der  ältesten  Zeit  die  Pflanzendecke  der  Erde  be- 
einflußt worden  ist,  entzieht  sich  aus  leicht  be- 
greiflichen Gründen  unserer  genauen  Kenntnis. 
Während  der  Römerzeit  hat  sich  allem  Anscheine 
nach  die  Ackerröte  {Sherardia  arvcnsis)  in  West- 
deutschland eingefunden,  ebenso  wie  auch  das 
Glaskraut  {Parietaria  officinalis),  welches  sich 
von  den  Wällen  und  Mauern  der  römischen 
Kastelle  aus  weiter  verbreitet  haben  soll.')  Im 
übrigen  lassen  sich  zur  Römerzeit  kriegerische 
Unternehmungen  und  friedliche  Kolonisation  noch 
nicht  scharf  voneinander  scheiden.  Auch  die  aus- 
gedehnten Wanderzüge  germanischer  Stämme  zur 
Völkerwanderungszeit  haben  ohne  Zweifel  zu  ge- 
legentlichen Einschleppungen  neuer  Pflanzen  ge- 
führt, wenn  uns  auch  keine  Kunde  davon  über- 
kommen ist.  Den  aus  den  Steppen  Asiens  nach 
Mitteleuropa    hereinbrechenden  Hunnen    hat  man 


gebürgert  betrachtet  werden  können.  Vgl.  hierzu  auch  meine 
Angaben  über  die  wichtigsten  Veränderungen  im  schlesischen 
Pflanzenbestandc  seit  1900,  die  ich  demnächst  an  anderer 
Stelle   geben  will. 

')  Vgl.  G.  llegi,  Illustrierte  Flora  von  Mitteleuropa. — 
Diesem  reichhaltigen  Werk  sind  auch  weiterhin  zahlreiche 
Angaben  entnommen. 


die  Einschleppung  zahlreicher  Steppenpflanzen 
zugeschrieben.  Doch  lassen  sich  für  diese  An- 
nahme ebenfalls  noch  keine  sicheren  Unterlagen 
erbringen. 

So  tappen  wir  auch  noch  durch  das  ganze 
Mittelalter  im  Dunkeln.  Etwas  heller  sehen  wir 
erst,  als  das  Interesse  für  die  umgebende  Pflanzen- 
welt dazu  führte,  die  freilich  zunächst  noch  dürf- 
tigen Kenntnisse  von  der  Verbreitung  der  Pflanzen 
einzelner  Gebiete  übersichtlich  zusammenzufassen. 
So  gibt  uns  eine  der  ältesten  bekannten  Spezial- 
floren  überhaupt,  die  von  Johann  Thal  1577 
niedergeschriebene  „Sylva  Hercynia",  immerhin 
recht  genaue  Auskunft  über  die  damalige  Pflanzen- 
verbreitung im  Harzgebiet.')  Es  muß  nun  auf- 
fallen, daß  Thal  in  seiner  Flora  einige  allgemeine 
Unkräuter,  wie  Chcnopodimn  rubrum,  Alyssuvi 
calycinuin,  Soiccio  vulgaris,  Airiplex  patuluin 
noch  nicht  aufführt,  während  sie  einige  Jahrzehnte 
später,  also  nach  dem  30jährigen  Kriege  auch 
schon  aus  dem  Harzgebiet  bekannt  waren.  Des- 
halb möchte  K.  Wein,  der  uns  die  „Sylva  Her- 
cynia" in  einer  gründlichen  Studie  zugänglich  ge- 
macht hat,  die  Einschleppung  dieser  Unkräuter 
ins  Harzgebiet  den  Stürmen  des  30jährigen 
Krieges  zuschreiben ;  denn  „der  schreckliche  Reli- 
gionskrieg schuf  Ruderalplätze  in  hoher  Zahl  und 
damit  Gelegenheiten  zur  Ansiedlung  neuer  An- 
kömmlinge. Die  hin-  und  herziehenden  Kriegs- 
völker mit  ihrem  unendlichen  Trosse  mußten 
natürlich  die  Einwanderung  von  Ruderalpflanzen 
außerordentlich  begünstigen".  Die  Möglichkeit 
dieses  Zusammenhanges  ist  ohne  weiteres  zuzu- 
geben. 

Ablehnen  möchte  ich  aber  die  Ansicht  von 
Gustav  Rothe  (br.),  der  auch  die  reichhaltige 
Flora  der  bekannten  Tartarenschanze  bei  Pristram 
im  Kreise  Nimptsch  auf  die  Verschleppung  durch 
fremdes  Kriegsvolk  während  des  30jährigen 
Krieges  zurückführt.  Zum  Pflanzenbestand  der 
Tartarenschanze  gehört  neben  Carcx  MicJirln, 
Vcrbascum  pliocin'cfum,  Ccrasfiuin  bracliypetaluni 
und  anderen  pontischen  Gewächsen  auch  Carcx 
■pediforniis,  ein  Riedgras,  das  im  nördlichen  Europa 
und  in  Nordasien  zuhause  ist.  Wie  sollte  nun 
diese  Pflanze  nach  Schlesien  gelangt  sein?  Eine 
Einschleppung  aus  ihrer  nordöstlichen  Heimat 
durch  fremdes  Kriegsvolk  kann  für  diese  Pflanze 
gar  nicht  in  Betracht  kommen.  Ich  habe  deshalb 
die  Reichaltigkeit  der  Pristramer  Schanze  an 
interessanten  Pflanzen  auf  andere  Weise  zu  er- 
klären versucht.-)  Dagegen  kann  es  wohl  als 
erwiesen  gelten,  daß  eine  unserer  ältesten  Ad- 
ventivpflanzeii,  nämlich  das  syrische  Schnabel- 
schötchen  {Euclidiuut  Syriacuvt)  durch  die  Türken 
während  der  Belagerung  von  Wien  1683  im  Prater 
zur  Ansiedlung  gelangte  (Hegi  IV,  463). 

')  Vgl.  K.  Wein,  Die  synanthropen  Pflanzen  des  Harzes. 
Beihefte  Bot.  Zentralbl.,  Bd.  XXIX,  1912,  Abt.  II. 

-)  Vgl.  E.  Schalow,  Über  die  Uezithungen  zwischen 
der  l'tlanzenverbreitung  und  den  ältesten  Siedeiungsstätten  im 
mittelsten  Schlesien.     Engl.  Bot.  Jahrb.,  Bd.  57. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Sichere,  unanfechtbare  Beobachtungstatsachen 
über  Kriegseinwirkungen  auf  die  Adventivflora 
liegen  erst  aus  dem  19.  Jahrhundert,  aus  der  un- 
ruhigen Napoleonischen  Zeit  vor.  Französische 
Truppen  überschwemmten  damals  nicht  nur  Ita- 
lien, Österreich  und  die  deutschen  Lande,  sondern 
der  ehrgeizige  Machtwille  Napoleon  I.  führte 
seine  Heere  sogar  tief  nach  Rußland  hinein. 
Schon  vor  1800  wurde  die  aus  Asien  stammende 
Radmelde  {Kocliia  scoparid)  durch  Militärtrans- 
porte in  Tirol  eingeschleppt  (Hegi  III,  251)  und 
an  den  Lagerstätten  der  österreichischen  Truppen 
um  Regensburg  tauchten  ijgj  Si'syiiibriinii  ptuiiiu- 
nicniii  Jacq.  (=  S.  al/issiinuin  L.),  LepiJiiiin  laii- 
foliu}ii  und  L.  Draba  auf,  die  bisher  aus  der 
Regensburger  Flora  nicht  bekannt  waren.')  In 
Westdeutschland  erinnerte  noch  nach  Jahrzehnten 
das  häufige  Auftreten  des  begrannten  Ruchgrases 
{Aiitlwxaiithum  aristatiini)  an  die  einstige  fran- 
zösische Besetzung,  und  auch  das  Knopfkraut 
[Galinsoga  parviflord)  fand  durch  die  französischen 
Truppen  weitgehende  Förderung  bei  seiner  Aus- 
breitung. In  Ostpreußen  trat  diese  aus  Südame- 
rika stammende  Pflanze  sicherlich  erst  1807  nach 
deip  Durchmarsch  der  Franzosen  auf.-)  Deshalb 
mag  sie  wohl  stellenweise  heute  noch  den  Namen 
„Franzosenkraut"  führen.  Die  steil  zum  Himmel 
aufragenden  Pyramidenpappeln  mit  ihren  meist 
verdorrten  Gipfeln  mahnen  uns  noch  heute  an 
jene  trübe  Zeit;  denn  es  ist  ja  bekannt,  daß 
Napoleon  I.  an  den  zahlreichen  neu  angelegten 
Heerstraßen  mit  Vorliebe  Pyramidenpappeln  an- 
pflanzen ließ  (Hegi  III,  64). 

Der  Brand  von  Moskau  wurde  sodann  das 
leuchtende  Zeichen  einer  neuen  Zeit.  Die  fran- 
zösischen Heeresmassen  fluteten  wieder  heimwärts 
und  ihnen  folgten  russische  Truppen  westwärts. 
Auf  den  Ruinen  des  abgebrannten  Moskau  machte 
sich  inzwischen  Sisyinbyiinn  altissiimtm  breit 
(Hegi  IV,  178).  Während  der  Befreiungskriege 
wurden  vor  allem  durch  die  Reiterscharen  der 
Kosaken  südrussische  Pflanzen  wohl  meist  ver- 
mittels des  Pferdefutters  weit  nach  Westen  ver- 
schleppt. So  zeigte  sich  18 14  bei  Breslau  das 
südosteuropäische  Gras  Beckmaiuiia  erncaeformis, 
dessen  Erscheinen  ich  gleichfalls  mit  den  Kriegs- 
verhältnissen in  Verbindung  bringen  möchte. 
Auch  das  Vorkommen  der  aus  den  Kaukasus- 
ländern stammenden  großblütigen  Katzenminze 
{Nepeta  graiidiflorä)  bei  Poischwitz  im  Kreise 
Jauer  wurde  von  Hugo  Schmidt  auf  die  Ein- 
schleppung durch  russische  Kriegsvölker  zurück- 
geführt.^) Nach  H.  Schmidt  soll  die  Ansiedlung 
dieser  Pflanze  folgendermaßen  vor  sich  gegangen 

')  Vgl.  Otto  Sendtner,  Die  Vegetationsverhältnisse 
Südbayerns.     München   1854.     S.   5S5. 

^)  Vgl.  R.  Hubert,  Über  einige  seit  Beginn  der  Er- 
forschung unserer  einheimischen  Hera  neu  ins  Gebiet  ein- 
gewanderte . . .  Pflanzen.  Schriften  der  Phys.  ökon.  Gesellsch. 
zu  Königsberg.     19 10. 

')  Vgl.  H.  Schmidt,  Ein  Vegetationsbild  aus  dem 
schlesischen  Vorgebirge.  Deutsche  bot.  Monatsschrift.  XXI. 
1903. 


sein :  „Irgendeinem  Kosaken  des  russischen  Heeres 
von  18 13  fiel  es  anno  dazumal  ein,  seinem  aus 
der  Heimat  mitgebrachten  Futtersack  am  Dorf- 
wege einmal  den  Kragen  umzudrehen  und  ihn 
einer  gründlichen  Reinigung  zu  unterwerfen. 
Dabei  entfielen  demselben  ein  paar  weitgereiste 
Fremdlinge  und  glitten  achtlos  zu  Boden.  Ihr 
Besitzer  hatte  von  ihrer  Existenz  gewiß  keine 
Ahnung  und  würde  sich  auch  im  anderen  Falle 
um  ihren  Abschied  nicht  gegrämt  haben.  Es 
waren  ja  nur  einige  winzige  Samenkörner.  Denen 
schien  es  aber  hier  in  der  Fremde  trotz  der 
Kriegswirren  zu  gefallen ;  denn  sie  keimten  und 
wuchsen  binnen  kurzer  Zeit  zu  schmucken  Stauden 
heran."  P"ür  das  rätselhafte  Auftreten  dieser  süd- 
russischen Pflanze  im  schlesischen  Vorgebirge 
eine  gewiß  recht  einleuchtende  Erklärung.  Nur 
schade,  daß  sie  nicht  fester  verbürgt  ist.  Übrigens 
hat  diese  Pflanze  „als  stürm-  und  wetterfestes 
Kind  großer  Zeit"  ihren  Platz  siegreich  bis  in 
die  jüngste  Zeit  behauptet.  Zweifellos  durch 
Kosaken  ist  das  osteuropäisch  -  westasiatische 
Corispcrmum  Marscliallü  auf  einer  Düne  bei 
Oftersheim  unweit  Schwetzingen  in  Baden  zur 
Ansiedlung  gelangt.  In  diesem  Falle  ist  der  Zu- 
sammenhang offensichtlich,  da  einwandsfrei  er- 
wiesen ist,  daß  ein  Kosakentrupp  auf  der  Düne 
kampiert  hat.  Corispeniiitin  Mayscliallii  hat  sich 
auf  dem  lockeren  Sande  der  Oftersheimer  Düne 
völlig  einbürgern  und  weiter  ausbreiten  können.') 
Selbst  noch  die  französische  Adventivflora  ist 
1814/15  durch  die  Kosaken  beeinflußt  worden. 
An  verschiedenen  Orten,  wo  Kosaken  gelagert 
hatten,  zeigten  sich  später  südrussische  Unkräuter. 
Das  Zackenschötchen  {Bunias  orioitalis)  war  bis 
1860  bei  Paris  völlig  heimisch  geworden.') 

Ehe  wir  zum  Deutsch  ■  französischen  Kriege 
1870/71  übergehen,  müssen  wir  noch  die  Ein- 
schleppung der  Spitzklette  {Xa)ithium  spinosit»/) 
in  die  Walachei  erwähnen,  die  1828  durch  rus- 
sische Truppen  erfolgt  sein  soll.  Die  Schweife 
und  Mähnenhaare  der  Kosakenpferde  sollen  von 
den  stacheligen  Scheinfrüchten  dicht  behangen 
gewesen  sein  (Hegi  VI,   12). 

Während  des  Deutsch  -  französischen  Krieges 
waren  es  vornehmlich  die  nordafrikanischen  Hilfs- 
truppen, die  neue  Gewächse  in  Frankreich  ein- 
schleppten. Um  Paris  zeigte  sich  damals  eine 
ganz  charakteristische  Gemeinschaft  verschiedener 
Adventivpflanzen,  die  sogenannte  Belagerungsflora 
(,,Florula  obsidionalis"),  zumeist  aus  algerischen 
und  südfranzösischen  Futterpflanzen  bestehend.^) 
Zu  dieser  Belagerungsflora  gehörten  u.  a.  Diplo- 
taxis  erucoides    (L.)    D.   C,    Erucastrum   incana 

')  Vgl.  Friedrich  Zimmermann,  Die  Adventiv-  und 
Ruderalflora  von  Mannheim.      1907.      S.  24. 

'-)  Vgl.  A.  T  hellung,  Pflanzenwanderungen  unter  dem 
Einfluö  des  Menschen.  Ber.  freie  Vereinig,  f.  Pflanzengeo- 
graphie u.  systemat.  Botanik.  1915.  —  Auf  desselben  Verf. 
Abhandlung  über  „Stratiobotanik"  (in  Vierteljahrsschrift  der 
Naturf.  Ges.  Zürich  1917)  wurde  ich  leider  erst  nach  Druck- 
legung dieser  Zeilen  aufmerksam. 

')  Vgl.  A.  Thellung  a.  a.  O. 


S02 


Natunvissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


Koch,  Rapisfmm  rugosiivi  (L.)  All.  (trat  nach 
1870  auch  vielfach  bei  Besangon  auf),  R.  pere7ine 
(L.)  All.  (auch  mehrfach  im  übrigen  Frankreich), 
Eruca  sativa  Coss.,  Sisyiiibriiuii  Locsclii  L.  (hat 
sich  bei  Paris  bis  heute  erhalten).  Bei  Orleans 
wurde  nicht  selten  Diplotaxis  icmiisiliqua  Del, 
eine  seltene  Doppelrauke  beobachtet,  die  durch 
algerisches  Heu  eingeführt  wurde.  Sogar  der 
Pflanzenbestand  der  neutralen  Schweiz  blieb  von 
Kriegseinwirkungen  nicht  unberührt.  Im  Tal  von 
Delemont  im  Jura  zeigten  sich  nach  dem  Kriege 
etwa  dreißig  neue,  der  Gegend  fremde  Adventiv- 
pflanzen, wie  Erncastnim  incana,  Coiiringia  orien- 
talis  And.  u.  a.  und  zwar  an  jener  Stelle,  wo  die 
Grenzbesatzung  Stroh-  und  Heumagazine  errichtet 
hatte.  An  der  französischen  Grenze  zeigte  sich 
auch  vielfach  Bertcroa  iiicana  und  Sisymbriitni 
Pyrenaiciun  (L.)  Vill.  als  Folge  der  Grenzbeset- 
zung (Hegi  IV,  172). 

Und  nun  kommen  wir  zum  letzten  Weltkriege, 
unter  dessen  furchtbaren  Nachwirkungen  wir  noch 
alle  leben  und  zu  leiden  haben.  Die  tiefgehenden 
Einwirkungen  dieses  gewaltigen  Kriegsgeschehens 
auch  auf  die  Pflanzenverbreitung  ist  bis  ins  ein- 
zelne noch  gar  nicht  genau  festgestellt.  Die  wirt- 
schaftliche Not  hat  leider  die  botanischen  Vereins- 
zeitschriften fast  zum  Erliegen  gebracht,  so  daß 
wir  über  viele  Kriegsbeobachtungen  vor  der  Hand 
wohl  überhaupt  nicht  unterrichtet  werden.  Dazu 
kommt  noch,  daß  uns  die  ausländische  Literatur 
nur  schwer  zugänglich  geworden  ist.  Immerhin 
wollen  wir  versuchen,  die  allgemeinen  Änderungen, 
welche  die  Pflanzenverbreitung  infolge  des  letzten 
Krieges  erfahren  hat,  kurz  zu  kennzeichnen. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Verhältnisse  auf 
den  eigentlichen  Kriegsschauplätzen.  Durch  eine 
beispiellose  Verwendung  von  Sprengstofifen  aller 
Art  wurde  die  ursprüngliche  Pflanzendecke  auf 
weite  Strecken  namentlich  der  engeren  Kriegs- 
zone stark  mitgenommen.  Ob  auch  seltenere 
Pflanzen  (Naturdenkmäler)  dabei  vernichtet  worden 
sind,  entzieht  sich  vorläufig  unserer  Kenntnis. 
Jedenfalls  wurde  in  reichem  Maße  Neuland  ge- 
schaffen für  die  Adventivpflanzen.  Die  Besiedlung 
des  offenen  Landes  mit  Unkräutern  ist  uns  von 
naturkundigen  Kriegsteilnehmern  oft  genug  geschil- 
dert worden.  Es  läßt  sich  aber  noch  nicht  im 
besonderen  angeben,  welche  Unkräuter  diese 
günstigen  Ausbreitungsverhältnisse  besonders  aus- 
genützt haben.  Auch  weiß  man  noch  nicht,  in 
welchem  Umfange  auf  den  einstigen  Kriegsschau- 
plätzen Neuansiedler  aufgetreten  sind.  Die  vielen 
verschiedenartigen  Hilfsvölker,  welche  die  Entente 
gegen  uns  aufgeboten  hat,  haben  sicherlich  auch 
in  der  Pflanzendecke  sichtbare  Spuren  hinterlassen. 
Besonders  ist  dies  von  den  Indern  anzunehmen, 
die  sogar  ihre  eigenen  Haustiere  aus  der  Heimat 


mitführten.  Die  zu  erwartenden  Berichte  nament- 
lich der  französischen  Floristen  dürften  gewiß 
manche  interessante  Einzelheit  bringen. 

Unsere  engere  deutsche  Heimat  war  zwar  nur 
ganz  vorübergehend  unmittelbarer  Kriegsschau- 
platz, doch  machten  sich  die  Kriegsverhältnisse 
auch  in  unserer  Adventivflora  bemerkbar.  Zu- 
nächst müssen  wir  feststellen,  daß  bei  Kriegsaus- 
bruch eine  völlige  Umstellung  unseres  Wirtschafts- 
lebens erfolgte,  die  bedingt  war  durch  die  über 
unsere  Küsten  verhängte  Blockade.  Infolgedessen 
hörte  unser  Überseehandel  mit  Amerika  so  gut 
wie  ganz  auf.  Dafür  entwickelten  sich  mit  Süd- 
osteuropa (Balkanländer,  Ukraine)  äußerst  lebhafte 
Handelsbeziehungen ,  die  auch  in  der  Adventiv- 
flora ihren  Ausdruck  fanden.  So  zeigte  sich  nach 
dem  Kriege  auf  den  im  Umschlagshafen  von 
Aken  a.  d.  Elbe  aufgestapelten  Chromeisenerzen 
aus  den  als  Tagebau  betriebenen  Bergwerken  von 
Radusche  in  Mazedonien  ein  reicher  Flor  von 
zumeist  mazedonischen  Gewächsen,  z.  B.  Alyssum 
murale,  Achillea  coarctata,  Triticum  vülosum,  Cen- 
taurea  micrant/ia.  Süene  faradoxa,  Trifolium  dal- 
maficiim,  Ptcrotlicca  bifida  u.  v.  a.^)  Auch  sonst 
war  die  Möglichkeit  zur  Einschleppung  fremder 
Samen  infolge  der  Kriegsmaßnahmen  in  reichem 
Maße  gegeben.  Ich  erinnere  nur  an  folgende 
Tatsachen.  Im  Herbst  des  Jahres  1914  durch- 
zogen österreichische  Truppen  mit  ihren  Proviant- 
kolonnen die  östlichen  Landesteile.  In  großen 
Lagern  waren  Gefangene  aus  aller  Herren  Länder 
vereinigt  und  bei  Görlitz  hatten  lange  Zeit  grie- 
chische Truppen  ein  Unterkommen  gefunden. 
Daß  noch  nicht  mehr  Beobachtungen  über  Be- 
reicherungen unserer  Adventivflora  durch  die 
Kriegsverhältnisse  vorliegen,  liegt  zum  Teil  auch 
an  der  strengen  Absperrung  der  in  Frage  kom- 
menden Ortlichkeiten,  wie  Güterbahnhöfe,  Hafen- 
gelände, Bahndämme,  Gefangenenlager  usw.  In- 
folge geringen  Entgegenkommens  der  Breslauer 
Eisenbahndirektion  war  es  selbst  nach  dem  Kriege 
noch  nicht  möglich,  die  Adventivflora  der  großen 
Breslauer  Bahnhofsanlagen  genauer  zu  erkunden. 
Infolgedessen  wird  mancher  interessante  Fund 
übersehen  worden  sein.  Manches  ließe  sich  viel- 
leicht noch  nachholen,  wenn  unsere  Floristen  in 
nächster  Zeit  der  Adventivflora  erhöhtes  Interesse 
schenken  wollten,  damit  wir  allmählich  ein  klares 
und  umfassendes  Bild  von  den  Einwirkungen  des 
Weltkrieges  auf  unsere  Adventivflora  gewinnen, 
noch  ehe  die  Zeit  die  Spuren  wieder  verwischen 
sollte. 


')  Vgl.  Paul  Schuster,  Eine  Genossenschaft  mazedo- 
nischer Pflanzen  bei  Aken  a.  d.  Elbe.  Ferner  J.  Bornmüller, 
Über  einen  bemerkenswerten  Fund  aus  der  Adventivflora  von 
Aken.  Verb.  bot.  Ver.  Prov.  Brandenb.,  63.  Jahrg.,  1920/21. 
—  Siehe  auch  mein  Referat  in  Naturw.  Wochenschr.,  1922, 
Nr.  19. 


N.  F.  XXI.  Nr.   37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


503 


Einzelberichte. 


Neuere  astronomische  Arbeiten. 

Die  Physik  des  Mars.  Nachdem  der  Pla- 
net 1909  zum  letztenmal  in  eine  sehr  günstige 
Stellung  zur  Erde  gelangt  war  und  die  Beobach- 
tungen jenes  Jahres  für  uns  sehr  wichtig  geworden 
sind,  steht  für  1924  eine  noch  günstigere  Mars- 
opposition bevor,  und  die  Astrophysiker  werden 
nicht  verfehlen,  sie  gründlich  auszunutzen.  Sieht 
man  nun  die  neueste  Literatur  nach  dem  Stande 
des  Marsproblems  durch,  so  ist  es  auffallend,  daß 
gerade  in  Deutschland  die  von  dem  Schweizer 
Ingenieur  Adrian  Bau  mann  ausgearbeitete  Er- 
klärung (Der  Planet  Mars,  Zürich  bei  Müller, 
Werder  &  Co.)  ganz  unbekannt  zu  sein  scheint, 
obwohl  sie  von  Picke  ring,  von  Cerulli  und 
anderen  hervorragenden  Marskennern  als  die  beste 
und  allseitig  befriedigendste  Erklärung  angesehen 
wird.  Jedenfalls  ist  sie  als  Arbeitshypothese  un- 
schätzbar und  daher  für  jeden  Marsbeobachter 
wertvoll.  Betrachtet  man  die  Marskarte  von 
Antoniadi  aus  dem  Jahre  1909,  so  findet  man 
darauf  gar  keine  Kanäle,  wohl  aber  eine  von 
dunklen  Massen  erfüllte  und  eine  helle  Marshälfte. 
Diese  ist  nach  B  a  u  m  a  n  n  das  zugefrorene  Mars- 
meer, jenes  die  Festlandshälfte,  die  in  steilen  Berg- 
zügen zum  Meere  abfällt.  Zwischen  den  Berg- 
ketten sieht  man  weiße  Streifen,  die  Gletscher. 
An  manchen  Stellen  ist  die  Struktur  einer  Berg- 
kette deutlich  zu  erkennen.  Baumann  berech- 
net die  Wärmemenge,  die  die  eine  Marshälfte 
bei  Sonnennähe  und  der  Schiefe  seiner  Achse 
und  der  Länge  seines  Jahres  erhält  und  findet 
den  Betrag  der  Sonnenstrahlung  sehr  erheblich, 
so  daß  die  Eismassen  des  Meeres  sich  stark  er- 
wärmen, ausdehnen  und  so  die  Kanäle  schließen, 
die  nichts  anderes  sind  als  Brüche  im  Eis,  hervor- 
gerufen durch  Spannungen.  Bei  zunehmender 
Entfernung  von  der  Sonne  kühlt  sich  das  Eis  ab, 
zieht  sich  zusammen  und  die  Kanäle  erscheinen, 
im  Einklang  mit  der  Beobachtung.  Bau  mann 
legt  aber  das  Hauptgewicht  auf  die  noch  heute 
vorhandene  vulkanische  Tätigkeit  auf  dem  Pla- 
neten. Die  bisweilen  auftretenden  Dunstmassen, 
die  weite  Flächen  des  Planeten  verschleiern,  sind 
vulkanischer  Staub  und  Asche,  die  auftretenden 
glänzendweißen  Flächen,  die  obendrein  veränder- 
lich sind,  sind  ausgestoßener  Dampf,  der  sich 
rings  um  den  Vulkan  als  Reif  und  Schnee  nieder- 
schlägt, langsam  wegtaut  und  so  die  scheinbaren 
Veränderungen  der  Marsoberfläche  hervorruft.  Aus 
diesen  seinen  Voraussetzungen  vermag  Bau  mann 
alle  Beobachtungen  auf  dem  Planeten  in  einwand- 
freier Weise  zu  erklären  und  meint,  daß  die  Mars- 
forschung für  Meteorologie  und  Klimatologie  von 
großem  Werte  sein  könnte.  Seine  Arbeiten  sind 
von  den  astronomischen  Gesellschaften  von  vier 
fremdsprachigen  Ländern  aufgenommen,  erst  vor 
kurzem  hat  die  britische  astronomische  Gesell- 
schaft sich  eingehend   und  kritisch   damit  befaßt, 


und  es  ist  zu  hofifen,  daß  die  bevorstehende  Mars- 
opposition neues  Material  zur  Kenntnis  des  Pla- 
neten herbeischaffen  wird,  und  die  Baumannsche 
Erklärung  wird  dann  zeigen,  was  sie  zu  leisten 
vermag. 

Die  Ergebnisse  2  oj  ähriger  Beobach- 
tungen an  der  Venus  faßt  Rordame  in 
Populär  Astronomy  März  1922  zusammen.  Er 
hat  in  dieser  Zeit  mehrere  looo  Zeichnungen  an- 
gefertigt, die  fast  alle  nur  die  Phase  zeigen,  einige 
haben  leuchtende  Flecken  an  den  Hörnerspitzen 
und  eine  matter  werdende  Schattengrenze.  In 
weniger  als  50  Fällen  sind  deutlich  und  unzweifel- 
haft Flecken  gesehen  worden  und  nur  in  6  F'ällen 
ließ  sich  eine  Bewegung  dieser  Flecken  feststellen. 
Jene  Flecken  sind  sehr  verwaschen  und  schwach, 
wie  es  bei  der  sehr  dichten  Atmosphäre  kein 
Wunder  ist.  Die  hellen  Stellen  an  den  Polen 
lassen  auf  Ansammlungen  von  Eis  dort  schließen. 
In  den  unteren  Schichten  der  sehr  dichten  Atmo- 
sphäre muß  sehr  viel  Wasserdampf  vorhanden 
sein,  die  Luftströme  werden  diesen  nach  den  Polen 
tragen,  so  daß  dort  größere  Schneeflächen  ent- 
stehen wie  bei  uns.  Vielleicht  sehen  wir  diese 
Eis-  und  Schneefelder  nicht  direkt  wegen  der 
Dichte  der  Atmosphäre,  aber  dann  jedenfalls  ihren 
starken  Reflex  als  helle  Flecken.  Diese  Wolken 
verhindern  auch  das  Entstehen  von  Absorptions- 
linien im  Venusspektrum,  so  daß  wir  die  dort 
vorkommenden  Gase  nicht  feststellen  können. 
Zur  spektroskopischen  Feststellung  der  Rotation 
können  nur  Tageslichtaufnahmen  gebraucht  werden, 
am  besten  auf  Films.  Rordame  faßt  seine  Er- 
gebnisse wie  folgt  zusammen:  Die  dichte  Atmo- 
sphäre ist  gegen  800  km  tief,  gerechnet  von  der 
Oberfläche  der  Wolkenhülle  an,  nicht  von  der 
des  Planeten.  Die  Wolken  selber  liegen  sehr 
hoch.  Die  feste  Oberfläche  des  Planeten  ist  fast 
nie  sichtbar.  Er  hat  eine  schnelle  Umdrehung, 
etwas  schneller  als  die  Erde  und  im  gleichen 
Sinne,  von  West  nach  Ost.  Die  Neigung  der 
Achse  weicht  höchstens  15  Grad  von  der  Verti- 
kalen ab. 

Hierzu  ist  es  von  Wichtigkeit,  daß  auf  dem 
Mt.  Wilson  zwei  so  ausgezeichnete  Beobachter 
wie  St.  John  und  Nicholson  das  Venus- 
spektrum mit  großen  Mitteln  untersucht  haben 
zu  einer  Zeit,  wo  wegen  der  gegenseitigen  Be- 
wegung von  Erde  und  Venus  die  relative  Be- 
wegung der  Venus  so  klein  war,  daß  die  Venus- 
linien sich  vollständig  von  denen  der  Erdatmo- 
sphäre trennten.  Unter  den  Venuslinien  war 
keine  Spur  von  Wasserdampf  und  Sauerstofflinien 
zu  entdecken.  Man  müßte  also  meinen,  daß 
diese  beiden  Gase  sich  nur  in  den  unteren 
Schichten  der  Venusatmosphäre  finden,  unterhalb 
der  dichten  Wolkenhülle,  und  daß  dann  andere 
Gase  darüber  lagern  wie  bei  uns  die  Stickstofif- 
atmosphäre  und  dann  die  aus  Geokoronium  nach 
der  Meinung  von  Wegen  er. 


504 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


Slip  her  berichtet  über  seine  Ergebnisse  der 
Photographie  der  Planeten,  besonders  des 
Mars  an  der  Flagstaffsternwarte  (Pacific  Juni  192 1). 
Nötig  ist  dazu  ein  starker  Refraktor  als  Kamera, 
isochromatische  Platten  und  Farbenfilter.  Die 
Versuche  begannen  1901  und  erstrecken  sich  auf 
Mars,  Venus,  Jupiter  und  Saturn.  1905  gelangen 
die  ersten  Aufnahmen  der  Marskanäle.  Bei  der 
außerordentlichen  Kleinheit  der  Fokusbilder  ist 
eine  Vergrößerungslinse  in  den  Strahlengang  ein- 
zuschalten. Sehr  unangenehm  ist  der  Farben- 
fehler des  Objektivs,  das  nicht  für  photographische 
Strahlen  gerechnet  ist.  Hier  muß  man  Farben- 
filter zu  Hilfe  nehmen,  so  daß  man  das  Licht 
auf  die  Platte  erhält,  für  das  die  Linse  geschliffen 
ist.  Sodann  ist  die  Emulsion  dieser  Wellenlänge 
anzupassen,  wozu  viele  Versuche  nötig  sind. 
Wie  genau  gearbeitet  werden  muß,  ergibt  sich 
daraus,  daß  bei  einer  Brennweite  der  Kamera 
von  180  Fuß  ein  Irrtum  von  '/so  F"ß  deutlich 
zu  merken  ist.  Die  Belichtungszeit  hängt  ganz 
von  dem  Planeten  ab,  sie  ist  bei  Venus  0,3  Sek., 
bei  Mars  1,5  bis  2,5  Sek.,  bei  Jupiter  etwa  5  Sek., 
bei  Saturn  15  bis  35  Sek.  Diese  kurzen  Zeiten  sind 
aber  oft  für  die  Unruhe  der  Luft  so  lang,  daß 
die  Aufnahme  mißlingt.  Es  ist  also  nach  mög- 
lichst kurzen  Belichtungen  zu  streben.  Diese 
setzt  eine  größere  Helligkeit  der  Bilder,  also 
deren  Verkleinerung  voraus,  der  dann  wieder  das 
Korn  der  Platte  im  Wege  steht,  so  daß  dies  Ver- 
fahren auf  einen  Ausgleich  zwischen  Maßstab  des 
Bildes  und  Belichtungszeit  hinauskommt.  Bei  dem 
angewandten  System  einer  äquivalenten  Brenn- 
weite von  180  Fuß  hat  man  eine  Vergrößerung 
des  Bildes  von  200,  das  ist  für  den  Mars  in  Erd- 
nähe 4 — 6  mal  die  Größe  des  Mondes  für  das 
bloße  Auge.  Es  sind  gegen  250000  Planeten- 
aufnahmen gemacht  worden.  Wenn  auch  in  ge- 
wissen Fällen  das  Auge  Einzelheiten  besser  wahr- 
nimmt wie  die  Platte,  so  liegt  deren  Stärke  in 
der  richtigen  gegenseitigen  Lage  der  Objekte  auf 
der  betreffenden  Oberfläche.  Das  tritt  besonders 
bei  Jupiter  hervor  mit  seinen  so  starken  Verände- 
rungen. Die  Veränderungen  des  Mars  während 
des  Marsjahres  lassen  sich  dauernd  beaufsichtigen, 
und  Lampland  stellt  eine  große  Anzahl  Sätze 
auf,  die  photographisch  abgeleitet  sind.  Er 
knüpft  daran  eine  Darstellung  der  Marsphysik, 
die  Kälte  scheint  ihm  nicht  so  hoch,  wie  man 
meist  angibt,  Wasser  und  Sauerstoff  kommen  dort 
sicher  vor,  also  seien  die  Bedingungen  für  orga- 
nisches Leben  gegeben.  Und  die  Kanäle  sollen 
auf  Vegetation  zurückzuführen  sein,  wie  ihre  Ver- 
änderungen und  andere  dunkle  Stellen  beweisen. 
Da  seiner  Meinung  nach  Pflanzen  und  Tiere  nicht 
eins  ohne  das  andere  bestehen  können  und  beide 
derselben  Herkunft  seien,  so  ist  ihm  auch  das 
Vorhandensein  von  Tieren  sicher.  Damit  dürfte 
Lampland  zwar  den  Lowellschcn  Traditionen 
seiner  Sternwarte  treu  geblieben  sein,  aber  in  der 
Astrophysik  allein  dastehen. 

Die   Veröffentlichung   Nr.  "]•]   des   Postsdamer 


astroph.  Observatoriums  befaßt  sich  in  zwei  Ar- 
beiten mit  der  Geologie  des  Mondes.  Der  erste 
Teil  enthält  die  Bearbeitung  Wilsings  früherer 
Messungen  über  das  Rückstrahlungsvermögen, 
die  Albedo,  einer  größeren  Anzahl  von  Stellen 
auf  dem  Monde,  und  entsprechend  Messungen  an 
irdischen  Gesteinen,  deren  Verhalten  Anhalts- 
punkte geben  könnte  für  die  dort  möglicherweise 
vorkommenden  Mineralien.  Hier  diente  die  Al- 
bedo der  Kreide  als  Einheit.  Manche  Mineralien 
gehen  dann  auf  den  äußerst  niedrigen  Betrag  von 
0,05  bis  0,02 1  herab,  wie  ein  Obsidian  vom  Hekla. 
Auf  den  Mondphotographien  fallen  ja  die  sehr 
starken  Unterschiede  auf,  fast  schwarze  Stellen 
neben  glänzenden  F"lächen.  Er  ergibt  sich  auch 
die  Mondalbedo  im  ganzen  zu  0,073,  einzelne 
Stellen  zu  0,242  und  0,029  '"  den  Extremen,  also 
helle  Stellen  wie  Quarzporphyr  neben  dunkelsten 
Laven  und  Obsidianen.  Pickering  hat  an  60 
Stellen  die  Mondoberfläche  gemessen  und  findet 
Helligkeitsunterschiede  von  5,5  Größen,  das  ist 
der  löofache  Betrag.  Gelegentliche  Messungen 
ergaben  für  Mars  die  Albedo  0,15,  für  Jupiter  0,56. 
An  diese  Messungen  schließt  nun  Wilsing  eine 
Entwicklungsgeschichte  des  Mondes  an,  die  im 
wesentlichen  vulkanisch  ist.  Er  sucht  für  alle 
Erscheinungen  auf  dem  Monde  parallele  Erschei- 
nungen in  der  Geologie  der  Erde.  Insbesondere 
verwendet  er  die  sich  aus  der  Beobachtung  der 
tätigen  Vulkane  mit  den  Lavaseen  ergebenden 
Schlüsse  in  weitem  Maße  auf  die  Entstehung  der 
Kratergebilde  auf  dem  Mond.  Wilsing  verhält 
sich  ablehnend  gegen  die  Meteorfallhypothese,  die 
darauf  beruhende  Arbeit  von  Weg"ener  war 
noch  nicht  erschienen.  Er  zieht  neben  vulka- 
nischen Erscheinungen  rein  tektonische  Vorgänge 
in  Betracht,  wie  sie  auch  in  dem  zum  Vergleich 
herangezogenen  Nördlinger  Ries  zutage  treten. 
Die  großen  Gebirge  werden  als  Horstgebirge  auf- 
gefaßt und  eine  Ähnlichkeit  mit  den  Horsten  der 
Insel  Island  festgestellt.  Die  Entstehung  der  hellen 
Strahlensysteme  legt  Wilsing  in  eine  sehr  frühe 
Zeit,  vor  der  Entstehung  der  anderen  Mondge- 
bilde. Es  sind  Begleiterscheinungen  der  ersten 
großen  Zentraleruptionen.  Ströme  sehr  heißer 
und  leichtflüssiger  Lava,  welche  sich  über  die  da- 
mals stetig  gegen  das  Zentrum  des  Ausbruches 
ansteigende  Mondoberfläche  verbreiten  konnten. 
Auf  dieser  entstanden  dann  später  die  anderen 
Gebilde,  ohne  sie  zu  zerstören,  durch  Aufwölbung, 
dabei  sind  dann  die  Streifen  geblieben.  Diese 
Lavaströme  gab  es  je  nach  ihrem  Gasgehalt  ver- 
schiedener Art,  wie  man  in  Hawaii  studieren 
kann.  Beide  haben  verschiedene  Zusammen- 
setzung, und  darauf  ist  die  so  verschiedene  Al- 
bedo der  hellen  und  dunklen  Flächen  zurückzu- 
führen. Polarisationsbeobachtungen  können  da- 
rüber vielleicht  noch  Aufschluß  geben,  ebenso 
Mondaufnahmen  mit  Farbenfiltern  im  kurzwelligen 
Teil  des  Spektrums. 

Eine  Bemerkung    zur  Lichtgeschwindig- 
keit  findet   sich   im  Bull  Nr.  763    der   Harvard- 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


505 


Sternwarte.  Im  Sternhaufen  Messier  S  finden  sich 
zahlreiche  veränderliche  Sterne,  deren  Lichtkurven 
sehr  genau  bekannt  sind.  Durch  Aufnahme  der 
photographischen  und  visuellen  Lichtkurve  ließ 
sich  ein  etwaiger  Unterschied  in  der  Geschwindig- 
keit des  gelben  und  des  blauen  Lichtes  feststellen, 
indem  durch  entsprechend  farbenempfindliche 
Platten  die  Zeiten  der  Maxima  an  9  Sternen  fest- 
gestellt wurden.  An  12  Sternen  wurden  die 
Unterschiede  der  Zeiten  des  größten  Lichtes 
photographisch  und  visuell  festgestellt.  Es  stellte 
sich  heraus,  daß  bei  diesen  21  Sternen  ein  Zeit- 
unterschied nicht  festzustellen  war.  Aus  dem 
geringen  Betrag  des  wahrscheinlichen  Fehlers  der 
Messungen  ergibt  sich  für  Wellenlängen,  die  um 
20 7o  verschieden  sind,  daß  diese  40000  Jahre 
durch  den  Raum  nebeneinander  herlaufen,  ohne 
mehr  als  etwa  2  Minuten  gegeneinander  zu  ge- 
winnen, falls  diese  Differenz  wirklich  reell  ist.  Die 
Geschwindigkeit  beider  Lichtwellen  unterscheidet 
sich  pro  Sekunde  um  noch  nicht  5  cm,  das  macht 
auf  der  Wanderung  im  Raum  eine  Sekunde  auf 
300  Jahre.  Während  die  Lichtgeschwindigkeit 
auf  Vi  0  000  bekannt  ist,  ist  der  Unterschied  der 
Geschwindigkeiten  für  gelb  und  blau  bekannt  auf 
I  zu  10  Billionen.  Die  große  Genauigkeit  dieser 
Bestimmung  kommt  von  der  großen  Zahl  der  be- 
obachteten Sterne  und  dem  Abstand  von  40  000 
Lichtjahren  der  Lichtquelle  von  der  Erde. 

Van  Maanen  gibt  eine  Fortsetzung  seiner 
Untersuchungen  über  innere  Bewegungen 
an  vier  Spiralnebeln  (Pop.  Astronomy  1921, 
August).  Die  Nebel  Messier  101,  33,  51  und  81 
sind  auf  einer  größeren  Anzahl  von  Platten  auf- 
genommen mit  längeren  Zwischenzeiten.  Sie 
zeigen  gemeinsam  dieselbe  Art  von  Bewegungen, 
solche  der  Rotation  um  den  Knoten  in  der  Mitte 
und  solche  der  Bewegung  der  Materie  von  innen 
nach  außen  längs  den  Armen.  Die  Rotation 
kommt  heraus  für  Messier  loi  zu  85000  Jahren, 
für  51  zu  45000,  für  81  zu  58000  und  für  33 
zu  160000  Jahren.  Bei  Messier  loi  scheint  die 
innere  Bewegung  für  alle  Punkte  die  gleiche  zu 
sein,  bei  den  andern  mit  dem  Abstände  von  der 
Mitte  nach  außen  hin  zuzunehmen,  und  zwar  ist 
der  Betrag  etwa  40  "/o  der  Rotationsgeschwindig- 
keit. Van  Maanen  glaubt  hier  eine  Bestätigung 
der  kosmogonischen  Ansichten  von  Jeans  zu 
haben.  Die  anfänglich  vorhandene  rotierende 
Linse  unterlag  einer  Anziehung  von  außen,  die 
eine  Art  Gezeitenwirkung  hervorrief.  So  bilden 
sich  zwei  gegenüberliegende  Punkte,  diese  ziehen 
Materie  an  sich,  diese  wird  in  zunehmendem  Maße 
ausgeworfen  und  ergibt  so  die  Arme,  deren  Form 
zwar  die  Analysis  nicht  berechnen  kann,  aber  die 
langen  Ströme  gasiger  Materie  müssen  der  Länge 
nach  unstabil  werden,  und  danach  streben,  in 
Knoten  zu  zerfallen.  Im  Gegensatz  dazu  neigt 
die  neuere  Forschung  dazu,  in  den  Spiralen  selb- 
ständige Weltgebilde  in  der  Art  der  Milchstraße 
zu  sehen. 

Über   Veränderungen   im  Krebsnebel 


im  Stier  berichtet  Lampland  (Pacific,  April 
1921).  Drei  veränderliche  Nebel  waren  bisher 
bekannt,  deren  Veränderlichkeit  aber  ohne  Zweifel 
mit  den  zugehörigen  Fixsternen  zusammenhängt. 
Ganz  anders  ist  die  dieses  Nebels,  der  seit  1913 
unter  photographischer  Aufsicht  steht.  Es  ist 
dabei  nötig,  immer  gleiche  Platten,  gleiche  Be- 
lichtungen, Entwicklungszeiten  und  Entwickler 
zu  benutzen.  Das  Material  ist  am  40  zölligen 
Lo well- Refraktor  gewonnen,  und  die  Platten  sind 
mit  dem  Blinkkomparator  verglichen,  der  mit 
einem  Blick  etwaige  Verschiedenheiten  zu  er- 
kennen gestattet.  Denn  der  Krebsnebel  ist  im 
Vergleich  zu  den  drei  anderen  stark  veränder- 
lichen ein  sehr  schwieriges  Objekt.  Er  gleicht 
einem  Oval,  bestehend  aus  einem  groben  Netz, 
das  am  Rande  stark  ausgefasert  ist.  Die  nähere 
Prüfung  der  Bilder  zeigt  nun,  daß  das  Gebilde 
in  mehrere  Flächen  zerfällt,  die  sich  einzeln  ver- 
ändert haben.  Es  treten  Verdichtungen  auf,  die 
ihre  Konturen  ändern,  andere  vergrößern  sich, 
eine  Stelle  zeigt  einen  Doppelstern,  den  eine 
Nebelverdichtung  umgibt,  die  sich  langsam  von 
dem  Stern  zurückzieht.  Ein  früher  lichter  Raum 
füllt  sich  langsam  mit  Materie  an.  Auch  jene 
dünnen  Fäden  des  Netzes  zeigen  Veränderungen 
auf  dem  nebligen  Hintergrund.  Andere  Stellen 
dagegen  sind  unverändert  geblieben ,  vielleicht 
weil  die  Zeit  der  Beobachtung  noch  zu  kurz  ist. 
Auch  das  Spektrum  des  Nebels  ist  einzigartig, 
wie  Slipher  nachgewiesen  hat,  da  es  Emis- 
sionslinien von  sehr  ungewöhnlichem  Charakter 
zeigt.  Die  Untersuchungen  sollen  fortgesetzt 
werden. 

Fessenkoff  im  Charkow  hat  die  Albedo 
der  Erde  von  neuem  zu  bestimmen  sich  bemüht. 
Der  einzige  mögliche  Weg  ist  der  indirekte  Weg, 
aus  dem  Vergleich  der  Helligkeit  des  Mondes 
bald  nach  Neumond  in  dem  von  der  Erde  und 
dem  von  der  Sonne  beleuchteten  Teil.  Es  wer- 
den dazu  bestimmte  Teile  der  Mondoberfläche 
herausgegriffen  und  miteinander  verglichen.  Eben- 
falls ist  bei  jeder  Messung  der  Einfluß  des  hellen 
Himmelshintergrundes  zu  berücksichtigen,  wegen 
des  durch  die  Atmosphäre  verstreuten  Lichtes, 
das  von  dem  Mondlicht  abzuziehen  ist.  Wegen 
des  sehr  großen  Helligkeitsunterschiedes  der  von 
der  Erde  und  der  von  der  Sonne  beschienenen 
Teile  ist  bei  Messung  der  letzteren  die  Helligkeit 
stark  abzublenden,  was  durch  Vorschalten  eines 
Diaphragmas  erreicht  wird,  dessen  Durchmesser 
mittels  eines  Keiles  mit  Millimeterteilung  bestimmt 
wird.  Es  wurden  ferner  immer  mehrere  Sätze 
von  Beobachtungen  mit  verschiedenen  Diaphrag- 
men gemacht.  Unter  Berücksichtigung  des  so 
sehr  verschiedenen  Reflexionsvermögens  verschie- 
dener Teile  der  Mondoberfläche  ergibt  sich  dann 
die  Albedo  der  Erde  zu  0,67  mit  einem  mittleren 
Fehler  von  0,032,  dessen  Größe  von  der  Unge- 
nauigkeit  der  zugrunde  liegenden  Lambertschen 
Formel  herrührt,  so  daß  aber  die  erste  Dezimale 
jedenfalls    noch    als    richtig    anzusehen    ist.     Die 


5o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


Erde  strahlt  also  die  reichliche  Hälfte  des  von 
der  Sonne  kommenden  Lichtes  wieder  zurück, 
meist  infolge  der  starken  Bewölkung  in  ihrer 
Atmosphäre. 

Das  Aufsuchen  unsichtbarer  Sonnen- 
flecke beschreibt  Haie  im  Pop.  Astronomy, 
Februar  1922.  Die  unveränderliche  Anwesenheit 
eines  magnetischen  Feldes,  die  Radialbewegungen 
der  überlagernden  Gase  aller  Schichten,  das  Hin- 
einfließen der  benachbarten  Hervorragungen,  der 
Bau  der  Wasserstoffflocken  beweisen ,  daß  die 
Sonnenflecken  Wirbel  sind,  den  irdischen  Tornados 
vergleichbar.  Ein  F"leck  ist  dann  sichtbar,  wenn 
in  dem  Wirbel  hinreichend  abgekühlte  Schichten 
vorkommen.  Ist  aber  die  Abkühlung  nicht  groß 
genug,  dann  ist  der  Fleck  nicht  sichtbar,  obwohl 
er  durch  den  Zeeman  -  Effekt  nachweisbar  ist. 
Gewisse  Erscheinungen  an  den  Flecken  und  an 
den  zweipoligen  Gruppen,  wo  das  kleinere  Glied 
in  kurzen  Zwischenzeiten  erscheint  und  ver- 
schwindet, geben  die  IVIöglichkeit  nach  Stellen 
unsichtbarer  Flecken  zu  suchen.  Der  75  füßige 
Spektrograph  des  1 50  füßigen  Turmteleskopes, 
eingestellt  auf  die  Linie  6173  ließ  die  Sonne  ab- 
suchen, und  Haie  hat  mit  El  1er man  zusammen 
eine  Anzahl  Stellen  gefunden,  an  denen  sich  bald 
darauf  in  der  Tat  Flecken  bildeten,  die  also  bei 
ihrer  Auffindung  noch  unsichtbar  waren. 

Die  größte  bisher  bekannt  gewordene  Eigen- 
bewegung hat  der  von  Barnard  vor  wenigen 
Jahren  gefundene  sog.  Schnelläufer  im  Ophiuchus, 
mit  10,3  Sek.  Eigenbewegung  im  Jahre.  Von 
ihm  ist  ferner  durch  spektroskopische  Messungen 
festgestellt,  daß  er  sich  mit  106  km  in  der  Se- 
kunde auf  uns  zu  bewegt.  Nun  hat  F  u  ß  in  Neu- 
babelsberg soeben  eine  sehr  genaue  Bestimmung 
der  Parallaxe  vorgenommen,  und  sie  zu  0,531  Sek. 
bestimmt,  mit  einer  Unsicherheit  von  nur  0,010  Sek. 
Die  von  ihm  erhaltene  Eigenbewegung  beträgt 
10,287  Sek.  in  Deklination,  während  der  Betrag 
in  RA  von  0,048  Zeitsek.  sehr  unbedeutend  ist. 
Jene  Eigenbewegung  bezogen  auf  die  angegebene 
Parallaxe  gibt  einen  linearen  Wert  von  go  km 
senkrecht  zur  Gesichtslinie;  nimmt  man  den  ge- 
gebenen Betrag  in  der  Gesichtslinie  hinzu,  so  er- 
gibt sich  eine  räumliche  Geschwindigkeit  von 
139  km  gegen  die  Sonrje  gerichtet.  Der  Stern, 
9,4  Größe,  gehört  zu  den  Zwergsternen,  setzt 
man  die  absolute  Helligkeit  des  Sirius  zu  lOOO  an, 
so  ist  die  der  Sonne  nur  34,  während  der  Barn- 
ardsche  Schnelläufer  nur  '/a,,  hat,  er  ist  also  nur 
an  absoluter  Helligkeit  gleich  '/i:oo  '^^^  Sonne. 
Der  Stern  gehört  also  trotz  seiner  Kleinheit  zu 
den  nächsten  Nachbarn  der  Sonne.  Der  aller- 
nächste Stern,  die  sog.  Proxima  Centauri  mit 
einer  Parallaxe  von  0,78  Sek.  ist  sogar  nur  von 
der  II.  Größe,  ebenfalls  ein  Zwergstern,  seine 
absolute  Helligkeit  beträgt  nur  Vjsoau  der  abso- 
luten Helligkeit  der  Sonne. 

Riem. 


Zur  physikalischen  Chemie  der  Bleioxjde. 

Bleioxyd,  technisch  Bleiglätte  genannt, 
kommt  in  mehreren  Modifikationen  vor.  Man 
unterscheidet  sie  nach  der  Farbe,  die  von  gelb 
über  verschiedene  Brauntöne  in  Rot  wechselt. 
Als  bestimmt  voneinander  verschiedene  Formen 
des  Bleioxyds  sieht  man  in  der  Regel  jedoch 
lediglich  die  rein  gelbe  und  die  rote  Modifikation 
an,  während  die  braunen  technischen  Produkte 
als  nicht  näher  zu  kennzeichnende  „verunreinigte" 
Stoffe  gelten.')  Über  die  Beziehungen,  die  zwischen 
gelbem  und  rotem  Bleioxyd  bestehen,  herrscht 
noch  keine  einheitliche  Auffassung.  Meist  nahm 
man  an,  daß  die  gelbe  Form  eine  metastabile  Modi- 
fikation darstelle,  die  zu  der  roten  im  Verhältnis 
der  Enantiotropie  stehe.  Ruer'-)  stützte 
diese  Auffassung  durch  Löslichkeitsbestimmungen, 
bei  denen  sich  die  gelbe  Form  in  der  Tat  als 
leichter  löslich  erwies.  Nunmehr  hat  S.  Glas- 
ston e  ^j  die  physikalische  Chemie  der  Bleioxyde 
einer  eingehenden  Untersuchung  unterworfen,  die 
die  bisher  so  unklaren  Verhältnisse  zu  deuten  er- 
lauben scheint. 

Glasstone  bestimmte  zunächst  die  Teilchen- 
größe der  verschiedenartig  gefärbten  Oxyde  — , 
ein  Verfahren,  das  nach  den  damit  an  anderen 
Stoffen  gewonnenen  Erfolgen  nahelag,  merkwür- 
digerweise bisher  noch  nicht  benutzt  wurde.  Es 
ergab  sich  bei  der  mikroskopischen  Teilchen- 
messung, daß  jeder  „Form"  des  Bleioxyds  eine 
bestimmte  und  in  hohem  Grade  konstant  blei- 
bende Größe  ihrer  Teilchen  zukommt.  So  sind 
die  roten  Teilchen  3 — 5  /.i  groß.  Werden  sie 
auf  ca.  700"  erhitzt,  so  ballen  sie  sich  zu  gelben 
Aggregaten  von  etwa  1 5  /<  Durchmesser  zusammen, 
die  aber  beim  Abkühlen  und  unter  leichtem 
Druck  zu  Teilchen  von  0,7 — 1,5  /<  zerfallen,  denen 
alsdann  eine  braune  Farbe  entspricht.  Die 
Teilchen  der  im  Handel  anzutreffenden  rötlich- 
braunen Form  sind  ebenfalls  ziemlich  gleich- 
mäßig 0,7  //  groß.  Die  verschiedenen  Farben 
des  Bleioxyds  beruhen  mithin  lediglich  auf  der 
verschiedenen  Teilchengröße.  Die  größ- 
ten Teilchen  weist  die  gelbe  Form  auf  Ihrer 
Natur  nach  sind  aber  diese  Teilchen  lediglich 
Aggregate  derselben  Teilchen,  aus  denen  die  rote 
Form  besteht.  An  der  Löslichkeit  beider  Formen 
in  normaler  Natronlauge  läßt  sich  dieser  Befund 
auch  rein  chemisch  erhärten.  Glasstone  be- 
rechnete bei  dieser  Gelegenheit  auch  die  Dis- 
soziationskonstante der  sich  beim  Lösen  des  Blei- 
oxyds in  Wasser  bildenden  Säure  H-HPbO.j.  Sie 
beträgt   1,32 -lo^'-. 

Nachdem  der  Charakter  der  verschieden  ge- 
färbten Bleioxyde  aufgeklärt  ist,  tritt  Glasstone 
in  einer  zweiten  Arbeit  der  Frage  nach  den 
wechselseitigen  Beziehungen  beider  Formen  nahe.*) 

')  Vg''  Pick  und  Ahrens,  Blei;  Abeggs  Handbuch 
III,  2,  S.  673. 

'-)  Zeitschr.  f.  anorg.  Chemie  50,  S.  265,   1906. 

■')  Journ.  of  the  Cbem.  Soc.  London  119,  S.  1689,  1921. 

*)  Ebenda,   119,  S.   1914,   1921. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


507 


Läge,  wie  bisher  angenommen  wurde,  Enantio- 
tropie  vor,  so  müßten  beide  Formen  ausgesprochen 
verschiedenen  Energieinhalt  haben.  Um  dies  zu 
prüfen  wurden  Halbelemente  der  Form  Blei/Blei- 
oxyd/n.Natronlauge  hergestellt,  wobei  je  eine  der 
beiden  Extremformen  des  Oxyds  eingeschaltet 
wurde.  Jedes  dieser  Halbelemente  wurde  einem 
Vergleichs-Halbelement  aus  Quecksilber/ Queck- 
silberoxyd/n.Natronlauge  verbunden.  Bei  20 "  er- 
gab sich  in  allen  untersuchten  Ketten  fast  die 
gleiche  elektromotorische  Kraft.  Die  freie 
Energie  der  Umsetzung  2  PbO  =  2  Pb  -[-  O,,  ist 
mithin  unabhängig  von  der  Form  des  angewandten 
Oxyds.  Diese  Oxyde  können  also  nicht  in  allo- 
tropem  Verhältnis  zueinander  stehen.  Der  Ein- 
wand, daß  die  Unterschiede  in  den  freien  Ener- 
gien vielleicht  nur  gering  sein  können,  ist  nicht 
bindend,  denn  nach  den  ziemlich  genau  aus- 
geführten Untersuchungen  von  Germs')  liegt 
der  „Umwandlungspunkt"  beider  Formen  bei  587", 
also  so  hoch,  daß  die  Energieunterschiede  sehr 
groß  sein  müßten.     Die  Messung  der  EMK  beider 


Bleioxyde  dürfte  im  Verein  mit  den  vorher  be- 
schriebenen Untersuchungen  entgültig  gegen  die 
Annahme  einer  Enantiotropie  beider  Formen  ent- 
schieden haben.  Sowohl  Dichte  wie  Kristallform 
beider  Modifikationen,  die  in  früheren  Arbeiten 
gern  für  eine  Enantiotropie  in  Betracht  gezogen 
wurden,  sind  derart  unbestimmt  und  widerspruchs- 
voll in  der  Literatur  angegeben,  daß  dauerhafte 
Schlußfolgerungen  hieraus  nicht  gezogen  werden 
dürfen.  Dagegen  sind  die  Befunde  von  Glas- 
stone durchaus  eindeutig.  Insbesondere  klärt 
er  auch  die  Frage  nach  dem  bisher  doch  ver- 
muteten, ja  sogar  „gemessenen"  Umwandlungs- 
punkte der  beiden  Formen.  Er  konnte  nach- 
weisen, daß  diese  „Umwandlungstemperatur"  über- 
haupt nicht  konstant  ist,  sondern  von  dem  Ver- 
teilungsgrad der  roten  Form  abhängig  ist. 

Nachstehend  sei  eine  schematische  Übersicht 
angeführt,  aus  der  die  gegenseitigen  Beziehungen 
der  verschiedenen  Bleioxydmodifikationen  ersicht- 
lich sind: 


Rötlichbraunes 
Oxyd 


20  proz.  KOH 


Bleiazetatlösung 


50  proz. 
KOH 


Rotes  Oxyd 


50  proz.  Alkali 


Bleihydroxyd 
(weiß) 


siedendes 
Alkali 


->   Gelblichgrünes 
Oxyd 


Erhitzen  auf 
600"  und 
Abkühlen 


Rötlichbraunes 

Oxyd 

des  Handels 

Pfeifergeschmack  uud  chemische  Konstitution. 

Einen  Beitrag  zu  der  allgemeinen  Frage  nach 
dem  Zusammenhang  zwischen  Geschmack  und 
chemischer  Konstitution  liefern  Erwin  Ott 
und  K.  Zimmermann.-)  Nachdem  man  den 
scharfen,  beißenden  Geschmack  des  schwarzen, 
weißen  und  des  langen  Pfeffers  lange  Zeit  dem 
Piperin ,  einem  ziemlich  kompliziert  gebauten 
Stoff  aus  mehreren  Ringsystemen,  zugeschrieben 
hatte,  wies  Nelson^)  nach,  daß  der  wirksame 
Bestandteil  des  spanischen  Pfeffers  das  Capsai- 
cin  sei,  dessen  Isolierung  und  Reindarstellung  zu 
der  folgenden  Konstitutionsformel  führte : 


CHaO^ 
HO' 


^\ 


|CH2-NH-CO.C(,Hi, 


V 


')  Dissertation  Groeningen   1917. 

')  Annalen  der  Chemie  425,  S.  314,  1921. 

')  Journ.   of  the  Americ.  Chem.  Soc.  41,  S.  1115  u.  2121, 


H.  Heller. 

Es  handelt  sich  mithin  um  ein  Derivat  des  Va- 
nillins, dessen  Aldehydgruppe  durch  Säure- 
amid  substituiert  worden  ist.  Wurde  in  diesem 
Stoff  die  freie  Hydroxylgruppe  methyliert,  also 
gleichfalls  in  CH3O —  übergeführt,  so  verschwand 
der  Pfeffergeschmack.  Ott  und  sein  Mitarbeiter 
variierten  nun  jeweils  die  verschiedenen  reaktiven 
Gruppen  in  obenstehender  Formel  und  konnten 
so  in  der  Tat  klarlegen,  daß  der  pfefifrige  Ge- 
schmack in  naher  direkter  Abhängigkeit  von  der 
chemischen  Konstitution  steht.  Ohne  die  hier 
nicht  interessierenden  experimentellen  Mitteilungen 
näher  zu  berühren,  kann  man  das  Ergebnis  dieser 
Untersuchungen  folgendermaßen  zusammenfassen: 
Die  bisher  bekannten  Stoffe  mit  pfeffrigem 
Geschmack  sind  Säureamide  aus  ungesät- 
tigten Säuren  mit  Oxybenzylaminen. 
Oxy-benzylamine  sind  nötig,  weil  Beseitigung 
oder  Substitution  der  phenolischen  Hydroxylgruppe 
den  Pfeffergeschmack  alsbald  zum  Verschwinden 
bringt.  Beispiel:  das  schon  genannte  Capsai ein. 
Ungesättigte   Säuren    sind   Bedingung,   weil   die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


entsprechenden  Stoffe  mit  einem  gesättigten 
Säureradikal  geschmacklos  oder  wenigstens  nicht 
scharf  schmeckend  sind.  Beispiele:  Die  Vanillyl- 
amide  der  Crotonsäure,  der  Nonylensäure,  der 
Ölsäure,  der  Zimtsäure  schmecken  pfeffrig,  die 
der  (gesättigten)  Palmitin-  und  Stearinsäure  sind 
fast  oder  völlig  geschmacklos.^)  Es  ergab  sich 
ferner,  daß  die  gegenseitige  Stellung  der 
Substituenten  des  Renzolkerns  von  Einfluß  auf 
den  Geschmack  ist")  So  sind  Stoffe  mit  der  p- 
Stellung  von  Hydroxyl  zur  CH.,NH-Gruppe  be- 
sonders scharf.  Schon  das  nich  substituierte  Va- 
nillylamid  schmeckt  sehr  scharf  pfeffrig,  duftet 
dabei  gleichzeitig  aprikosenähnlich  1  Läßt  man 
im  Vanillylamid  die  Oxy-  und  die  Methoxygruppe 
ausfallen,  so  bleibt  Benzylamid  übrig,  das  gleich- 
falls nach  Aprikosen  duftet,  aber  geschmacklos 
ist.  —  Die  CH.jO  Gruppe  verstärkt  den  Geschmack, 
beeinflußt  ihn  gleichzeitig  aber  auch  nach  der 
aromatischen  Seite.  (Es  ist  bemerkenswert,  daß 
die  Methoxygruppe  auf  die  Farbe  und  den  Duft 
in  gleicher  Weise  einwirkt!  Ref.)  Das  Vanillyl- 
amid der  Zimmtsäure  zeichnet  sich  durch  einen 
milden  aromatischen,  wenn  auch  ausgeprägt  pfeff- 
rigen  Geschmack  aus.  —  Endlich  ist  hervorzuheben, 
daß  die  Olefinkarbonsäuren  mit  mittleren  Kohlen- 
stoffzahlen (etwa  9 — II  C)  die  entschiedensten 
Vertreter  des  Pfeffergeschmacks  stellen. 

Heller. 


Farbeupsj'chologische  Studien  aii  Kindern. 

Die  Möglichkeit  Farben  zu  messen  und  damit 
eindeutig  zu  kennzeichnen,  hat  für  psychologische 
Untersuchungen,  die  sich  farbiger  Eindrücke  be- 
dienen,  besondere   Bedeutung.     Von   der   Repro- 


duzierbarkeit der  angestellten  und  in  der  Literatur 
mitzuteilenden  Arbeiten  abgesehen,  ist  dem  Ex- 
perimentator nunmehr  ein  Mittel  in  die  Hand 
gelegt,  bei  Versuchen  mit  verschiedenen  Farben 
untereinander  vergleichbare  Ergebnisse 
zu  erlangen.  Denn  es  lassen  sich  jetzt  nicht  nur 
gemessene  Farben  an  sich  auswerten,  sondern 
ihre  Abwandlungen  hinsichtlich  Farbton,  Reinheit 
und  Helligkeit  sind  eindeutig  festgelegt  und  nicht 
mehr  der  willkürlichen  Abschätzung  überlassen. 
Ältere  Versuchsreihen,  die  unter  Zuhilfenahme 
gemessener  bzw.  genormter  Farben  wiederholt 
werden ,  erhalten  durch  diesen  Umstand  einen 
oft  sehr  andersartigen  Charakter.  Ein  Beispiel 
bieten  C.  Paul  und  W.  Ostwald^)  in  einer 
Untersuchung  über  „die  Lieblingsfarben  der 
Kinder". 

Es  handelt  sich  in  dieser  Untersuchung  ledig- 
lich um  statistische  Vorarbeiten  an  einem  größeren 
möglichst  inhomogenen  Schülermaterial,  die  zum 
Ausdruck  bringen,  daß  und  welche  bestimmten 
Farben  die  Kinder  „vorziehen",  woraus  sich  dann 
ein  erster  Schluß  auf  die  psychische  Wirksamkeit 
der  Farben,  die  qualitativ  längst  bekannt  ist,  ziehen 
lassen  würde.  Zur  Prüfung  gelangten  insgesamt 
1149  Kinder  im  4. — 8.  und  i. —  3.  Schuljahr.  Es 
wurden  ihnen  Tafeln  eines  wertgleichen  Kreises 
(nc)  mit  den  8  Hauptfarben  vorgelegt.  Jedes 
Kind  schrieb  dann  die  ihm  am  besten  gefallende 
Farbe  auf,  wobei  auf  geheime  Bildung  und  Be- 
kanntgabe des  Urteils  Wert  gelegt  wurde.  Bei 
den  Kindern  im  i. — 3.  Schuljahre  wurden  nur  die 
4  Urfarben  (nach  Hering)  gezeigt.  Das  Urteil 
war  ganz  entschieden  für  bestimmte  Farben. 
Nachstehend  sind  die  Gefallend  urteile  prozentual 
wiedergegeben. 


Gelb 

Kreß 

Rot 

Veil            Ublau 

Eisblau       Seegrün 

Laubgrün 

I. -3. -Jahr 
4.-8.  Jahr 

16 

3.5 

5.1 

50 

38,7 

23 
26,3               9,6 

12 

2.4                1.4 

9.4 

Aus  dieser  (im  Original  weiter  spezialisierten) 
Übersicht  geht  zunächst  ganz  unzweifelhaft  her- 
vor, daß  Rot  in  der  Farbenempfindung  der  Kin- 
der weitaus  die  bevorzugte  Rolle  spielt,  ja  in  den 
ersten  Jahren  alle  anderep  Farben  stark  überwiegt. 
Die  bekannte  Wirkung  des  Rot  auf  Tiere  und 
primitive  Völker  findet  also  durchaus  ihre  Be- 
stätigung. An  Beliebtheit  kann  sich  damit  nur 
Veil  messen,  für  das  in  den  ersten  Jahren  Ublau 
tritt,  da  Veil  hier  nicht  gezeigt  worden  war.  Aus 
diesem  Befund  ist  nun  weiter  zu  folgern ,  daß  es 
lediglich  die  Farbtöne  sind,  die  das  Werturteil 
des  Kindes  beeinflussen,  nicht  aber,  wie  gelegent- 
lich vermutungsweise   ausgesprochen   worden   ist, 

■)  Dieser  Befund  steht  in  Widerspruch  zu  einigen  Ergeb- 
nissen von  Nelson! 

-)  Die  Stnllung  einzelner  Gruppen  im  Molekül  zucin,nnder 
ist  von  Einfluß  auch  auf  die  physiologische  Wirksamkeit.  Vgl. 
Naturw.  Wochcnschr.  N.  F.  XX,  S.  446,   1921. 


die  Helligkeit  der  Farben.  Denn  Gelb,  die 
hellste  Farbe  des  Spektrums  wie  des  100  teiligen 
Farbkreises,  nimmt  eine  Durchschnittsstellung  ein, 
ebenso  Blau,  das  am  dunkelsten  ist. 

In  späteren  Lebensjahren  verbreitert  sich  buch- 
stäblich das  Farbgebiet,  an  dem  das  Kind  das 
höchste  und  unmittelbarste  Wohlgefallen  hat,  denn 
man  sieht  neben  dem  dem  Rot  nächstbenach- 
barten Veil  das  Ublau  und  Kreß  bevorzugt.  See- 
grün tritt  dagegen  sehr  auffallend  zurück.  Des- 
gleichen findet  das  eisblaue  Gebiet  wenigLieb- 
haber. 

Die  Mitteilung  berichtet  des  weiteren  über 
Untersuchungen  an  Knaben  getrennt  von  Mädchen, 
an  begabten  und  unbegabten  Kindern,  alle  jeweils 
in  verschiedenen  Altersstufen  geprüft.  Das  Ge- 
samtergebnis   ist    im    ganzen    dasselbe    wie    oben 


')  Die  Earbe,   1922,   100,  S. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


509 


angegeben.  Nur  für  die  Knaben  liegen  die  Werte 
zum  Teil  beträchtlich  abweichend,  wenn  man  sie 
mit  denen  der  Mädchen  vergleicht.  Die  Vorliebe 
für  Rot  nämlich  liegt  bei  den  Knaben  bei  nur 
40,  bei  den  Mädchen  dagegen  bei  61  %  vor. 
Dafür  tritt  bei  den  Knaben  eine  Vorliebe  für 
Laubgrün  mit  12  °/q  auf!  Die  größere  Fein- 
heit der  Empfindung  liegt  also,  zum  mindesten 
in  den  untersuchten  Altersstufen,  bei  dem  männ- 
lichen Geschlecht,  wogegen  die  Intensität  der 
Farbenfreude  bei  beiden  Geschlechtern  gleich  zu 
sein  scheint. 

Am  bemerkenswertesten  aber  ist  die  bereits 
hervorgehobene  Abneigung  sowohl  der  Knaben 
wie  der  Mädchen  aller  Alters-  und  Begabungs- 
jtufen  gegen  Eis  blau  und  See  grün.  Diese 
Erkenntnis  reicht  über  den  engen  Rahmen  der 
vorliegenden  Untersuchung  hinaus.  Jeder  Be- 
schauer des  Ostwaldschen  Farbtonkreises  ist  im 
Anfang  über  die  große  Ausdehnung  der  G  r  ü  n  - 
und  benachbarten  Töne  erstaunt  und  meint  hier 
entschieden  einen  Fehler,  zum  mindesten  eine 
Unfertigkeit  des  gesamten  Kreises  zu  finden.  In 
der  Tat  haben  einzelne  Kritiker  Ostwalds  die 
Ausdehnung  des  Grün  beanstandet  und  darauf 
verwiesen,  daß  nach  dem  „Gefühl",  das  nach  dem 
Spektrum  orientiert  wird,  die  Grüntöne  einzu- 
schränken seien.  Auch  die  vermeintlich  klei- 
neren Unterschiede  zwischen  je  zwei  aufeinander 
folgenden  Farben  in  diesem  Teil  des  Kreises 
schienen  eine  Stütze  dieser  Auffassung  zu  sein. 
Nun  widerspricht  bereits  die  Ordnung  des  Kreises 
nach  dem  Grundsatz  der  Gegenfarben  einer-  dem 
des  chromatischen  Schwerpunkts  andererseits ') 
jeder  Willkür,  so  daß  die  Anzahl  der  eisblauen 
und  grünen  Töne  notwendig  und  nicht  aus  Mangel 


')    ^S'-    i,Oslw.iIds    Forschungen    zur    Farbenlehre"    von 
Verf.,  Naturw.   Wochenschr.  N.  F.   19,  S.   129,    1920. 


an  Besserem  oder  „Richtigerem"  entsteht.  Ferner 
hat  Ostwald  darauf  hingewiesen,  daß  gerade 
die  in  diesem  Gebiet  liegenden  Farben  in  der 
Natur  selten  oder  überhaupt  nicht  vorkommen, 
so  daß  wir  keine  Gelegenheit  haben  sie  kennen 
und  in  feinerer  Weise  unterscheiden  zu  lernen. 
Niemand  wird  diesen  Farben  deswegen  die  Reali- 
tät bzw.  die  Gleichberechtigung  neben  den  anderen 
reinen  Farben  absprechen  wollen  1  Die  vorlie- 
gende Untersuchung  bringt  für  die  letzte  Er- 
klärung Ostwalds  einen  besonders  ausdrucks- 
vollen Beleg.  Sagt  der  Versuch  an  den  Kindern 
doch  gleichfalls,  daß  diesen  das  eisblaue  und  das 
seegrüne  Gebiet  nicht  vertraut  sind,  denn  ihr  Ge- 
fallen meidet  die  hier  vorkommenden  Töne  ganz 
offenkundig.  Es  bedarf  kaum  des  Beweises,  daß 
die  beherrschende  Stellung  des  Rot  und  seiner 
Nachbarfarben  (auch  in  späteren  Entwicklungs- 
jahren) mit  einer  hochgesteigerten  Empfindlich- 
keit in  diesen  F"arben  parallel  gehen  muß;  sind 
die  roten  Farben  doch  gewissermaßen  psycho- 
logische Ur  färben.  Ein  jeder  Farbtonkreis,  der 
lediglich  nach  dem  „Gefühl"  aufgebaut  ist,  leidet 
mithin  unter  diesem,  nunmehr  genetisch  verständ- 
lichen Fehler  des  Vertrautseins  mit  Rot,  der  Ver- 
nachlässigung des  Eisblau  bis  Grün  andererseits. 
Auch  der  Künstler,  der  in  diesen  mathetischen 
F'ragen  gern  angerufen  wird,  unterliegt,  der  Stärke 
seines  Gefühlslebens  entsprechend,  dieser  „Täu- 
schung". So  wird  es  verständlich,  weshalb  bei- 
spielsweise der  von  Chevreul  aufgestellte 
Farbenkreis  diesen  Mangel  zeigt.  Auch  dieser 
sonst  wissenschaftlich  wohl  durchdachte  Kreis  ist 
hinsichtlich  der  P'arbtöne  nach  Gefühl  gebaut 
worden. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  den  hier  erstmalig 
unternommenen  Untersuchungen  zur  messenden 
Farbenpsychologie  weitere  bedeutungsvolle  Er- 
gebnisse beschieden  sein  werden.      H.  Heller. 


Bücherbesprechimgen. 


Bruns,  Ferd.,  Die  Zeich  enkunst  im  Dienst 
der       beschreibenden       Naturwissen- 
schaften.     Mit  6  Abbildungen    im  Text  und 
44  Tafeln.     VIII,    100   S.   4".     Jena    1922,   G. 
Fischer.     90  M.  und  Zuschläge. 
Für  den  Naturwissenschaftler  ist  das  Zeichnen 
von  allergrößter  Bedeutung,    nicht    nur    zur  Dar- 
stellung  des   von    ihm    zu  Schildernden,    sondern 
vor    allem   auch    zur    eigenen  Schulung,    um  sich 
selbst    über   das    Geschaute    klar  zu  werden,    um 
Sehen   zu    lernen.      Daß   seine  Ausbildung   dieser 
Bedeutung   gerecht    würde,    kann    wohl    niemand 
behaupten.      Die  Folgen    davon  lehrt   jeder  Blick 
in  illustrierte  naturwissenschaftliche  Werke,    lehrt 
vor  allem   die  Überhandnähme    der  photographi- 
schen  Illustration,    die,    ohne  ihre  Bedeutung  für 
viele  Fälle  zu  verkennen,   in  den   meisten  Fällen 


doch  nur  ein  ganz  ungenügender  Ersatz  ist  und 
vor  allem  die  Selbstschulung  des  Forschers  umgeht. 

Der  Zeichenunterricht  in  den  Schulen;  selbst 
in  den  Realanstalten,  der  schon  früher  ein  Stief- 
kind der  Ausbildung  war,  geht  neuerdings  Wege, 
die  vom  naturwissenschaftlichen,  d.  h.  genauen 
Zeichnen  weitab  führen.  An  manchen  Universi- 
täten werden  Kurse  in  naturwissenschaftlichem 
Zeichnen  abgehalten,  die  aber  günstigsten  Falles 
doch  immer  nur  wenigen  zugute  kommen. 

Diese  Ausbildungslücke,  die  wohl  jeder  Natur- 
wissenschaftler schon  empfunden  hat,  will  nun  das 
Brunssche  Buch  ausfüllen.  Es  wendet  sich  an 
geistig  Reife,  will  also  nicht  nur  technische  Rat- 
schläge erteilen  und  Hilfsmittel  bringen,  sondern 
vor  allem  auch  die  Theorie  des  Zeichnens  lehren, 
das  Objekt    richtig    zu   sehen   und   zu   verstehen, 


510 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


und  zu  verstehen,  warum  und  wie  zu  zeichnen 
ist;  denn  nur  das  theoretische  Verständnis  kann 
zum  richtigen  Zeichnen  und  zur  Ausnutzung  aller 
Möglichkeiten  führen. 

Der  Verf.,  selbst  Naturwissenschaftler  und 
Zeichner,  anerkannt  vorzüglicher  Illustrator  natur- 
wissenschaftlicher Werke  (S  c  h  m  e  i  1  s  Lehrbücher 
usw.),  verfügt  außerdem  über  jahrzehntelange 
pädagogische  Erfahrungen  als  Zeichenlehrer  an 
niederen  und  höheren  Schulen.  So  erscheint  er 
von  vornherein  besonders  berufen  zur  Abfassung 
eines  solchen  Buches;  und  daß  er  es  auch  ist, 
wird  jeder  empfinden,  der  dieses  in  die  Hand 
nimmt.  Die  völlige,  auch  theoretische  Beherr- 
schung des  ganzen  Gebietes,  die  höhere  Warte, 
von  der  aus  jede  einzelne  Frage  behandelt  wird, 
erheben  das  Buch  weit  über  etwa  einen  techni- 
schen Leitfaden. 

Eingeleitet  wird  es  durch  ein  Kapitel  über 
das  Zeichnen  der  Primitiven,  der  Urvölker,  Kin- 
der usw.,  das  eine  Fülle  überraschender  Einblicke 
in  die  Entstehung  bildlicher  Darstellung  erschließt, 
das  ganz  besonders  den  Psychologen  und  Völker- 
kundigen interessieren  dürfte,  aber  auch  erkennen 
läßt,  wie  die  Ursachen  so  mancher  Fehler  und 
Schwierigkeiten  im  Zeichnen  auf  psychologische 
Vorgänge  zurückzuführen  sind ,  die  heute  noch 
beim  ungeübten  Gebildeten  ebenso  verlaufen,  wie 
bei  den  noch  lebenden  oder  schon  längst  ausge- 
storbenen Primitiven.  Das  Schlußkapitel  bringt 
eine  Geschichte  des  naturwissenschaftlichen  Zeich- 
nens, eine  kritische  Würdigung  der  berühmte- 
sten alten  naturwissenschaftlichen  Bilderwerke,  die 
einerseits  unser  Erstaunen  über  das  fabelhafte 
Können,  andererseits  oft  unsere  Verwunderung 
über  das  ungenaue  Sehen  erregen.  Die  wichtig- 
sten Kapitel  des  eigentlichen  Inhaltes  sind:  Zeich- 
nen nach  ebenen  bzw.  räumlichen  Gebilden,  Ko- 
pieren, Zeichenapparate ,  Reproduktionstechnik, 
Perspektive,  Silhouette,  Licht  *Und  Schatten,  Spie- 
gelung und  Reflex,  Zeichnen  nach  mikroskopischen 
Präparaten. 

Jedes  Kapitel  beginnt  mit  einer  Übersicht  über 
die  historische  Entwicklung  des  Behandelten,  setzt 
die  in  Betracht  kommenden  theoretischen  Fragen 
auseinander,  zeigt  an  einzelnen  Beispielen,  wie 
und  welche  Fehler  zu  vermeiden  sind ,  welche 
Hilfsmittel  unseren  Zwecken   dienen  können  usw. 

So  ist  das  Werk  die  erste  gründliche  wissen- 
schaftliche Darstellung  des  naturwissenschaftlichen 
Zeichnens.  Es  beweist,  wie  nötig  es  wäre,  an 
den  Universitäten  das  naturwissenschaftliche  Zeich- 
nen als  besonderes  obligatorisches  Lehrfach  ein- 
zuführen, dürfte  aber  auch  für  die  Ausgestaltung 
des  Zeichenunterrichtes  an  den  Schulen,  der  heute 
zu  sehr  das  Künstlerische  auf  Kosten  des  genauen 
Sehens  betont,  von  allergrößtem  Werte  sein.  Daß 
CS  in  der  Bibliothek  keines  größeren  naturwissen- 
schaftlichen Institutes  fehlen  darf,  braucht  eigent- 
lich kaum  erwähnt  zu  werden. 

Zum  Schlüsse  ist  die  für  die  jetzigen  Verhält- 
nisse ganz  besonders  vorzügliche  Ausstattung  durch 


den  Verlag  hervorzuheben,  noch  mehr  aber  der 
für  ein  solches  Werk  ganz  ungewöhnlich  geringe 
Preis,  der  wohl  erkennen  läßt,  daß  der  Verlag 
auf  eine  starke  Nachfrage  rechnet,  die  vor  allem 
der  Sache  wegen  auch  dringend  zu  erhoffen  wäre. 

Reh. 


Lorentz,  H.  A.,  Einstein,  A. ,  Minkowski,  H., 
Das  Relativitätsprinzip.  Eine  Sammlung 
von  Abhandlungen.  Mit  einem  Beitrag  von 
H.  Weyl  und  Anmerkungen  von  A.  Sommer- 
feld. Vorwort  von  O.  Bl  u  men  t  ha  1.  4.  Aufl. 
159  S.  Heft  2  der  Fortschritte  der  Mathema- 
tischen Wissenschaften  in  Monographien.  Leip- 
zig-Berlin 1922,  B.  G.  Teubner.  Geh.  40  M., 
geb.  48  M. 
Das  Buch  enthält  eine  Zusammenstellung  von 
Arbeiten  über  die  sog.  Relativitätstheorie.  Neu 
hinzugekommen  ist  in  dieser  Auflage  eine  Ab- 
handlung von  H.  Weyl  über  „Gravitation  und 
Elektrizität".  Als  grundlegend  ist  die  Abhandlung 
„Der  Interferenzversuch  Michelsons"  von  Lorentz 
an  den  Anfang  gestellt;  gerade  der  Inhalt  dieser 
Betrachtung  muß  jedoch  Widerspruch  hervor- 
rulen.  Lorentz  hatte  auf  Grund  der  Vorstel- 
lung eines  festen,  absolut  ruhenden  Äthers  eine 
Theorie  der  Aberration  aufgestellt.  Die  Gestirne 
sollten  sich  durch  diesen  ruhenden  Äther  hin- 
durchbewegen. Der  Versuch  von  Michelson 
lieferte  im  Gegensatz  dazu  ganz  einwandfrei  das 
Ergebnis,  daß  der  Äther  sich  so  verhielt,  als  ob 
er  von  der  Erde  in  deren  näherer  Umgebung 
mitgeführt  würde,  wie  es  nicht  nur  einer  älteren 
Theorie  von  Stokes,  sondern  auch  dem  gesun- 
den Menschenverstände  entsprach.  Denn  eine' 
Bewegung  aller  Gestirne  durch  den  ruhenden 
Äther  hindurch  ist  physikalisch  nicht  recht  vor- 
stellbar. Grundsätzliche  Bedenken  scheinen  gegen 
die  Aberrationstheorie  von  Stokes  nicht  vorzu- 
liegen (namentlich  wenn  man  die  Mitnahme  des 
Äthers  durch  die  Erde  nicht  als  eine  Folge  der 
Reibung,  sondern  mehr  als  eine  F"olge  der 
Schwerkraft  auffaßt),  nur  ist  die  Theorie  natur- 
gemäß wesentlich  verwickelter.  Das  scheint  der 
Hauptgrund  dafür  zu  sein,  daß  Lorentz  den 
geraden  und  für  den  physikalisch  denkenden 
F"orscher  allein  gangbaren  Weg  verwirft  und  sich 
mit  dem  Starrsinn  des  Theoretikers  der  gegen 
ihn  sprechenden  experimentellen  Entscheidung 
widersetzt.  „Die  Schwierigkeiten,  auf  welche 
diese  Theorie  (von  Stokes)  bei  der  Erklärung 
der  Aberration  stößt,  scheinen  mir  zu  groß  zu 
sein,  als  daß  ich  dieser  Meinung  sein  könnte."  — 
Das  ist  alles  was  Lorentz  in  dieser  Abhandlung 
über  die  natürliche  Auffassung  zu  sagen  weiß, 
worauf  er  dann  sofort  die  berühmte  Idee  der 
sog.  „Lorentzkontraktion"  entwickelt.  Diese  Idee 
leuchtete  selbst  den  Theoretikern  nicht  ein  und 
führte  weiterhin  zu  der  ganz  abstrakten  Behand- 
lung des  Problems  durch  Einstein,  der  den 
„Lichtäther"    dabei    kurzerhand    als    „überflüssig" 


N.  F.  XXI.  Nr. 


37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sil 


abschaffte.  Die  Ablehnung  der  Theorie  von 
Stokes  durch  Lorentz  stellt  somit  den  ersten 
Schritt  vom  Wege  einer  anschaulichen,  verständ- 
lichen Physik  dar  und  bedürfte  m.  E.  einer  weit 
eingehenderen  Begründung,  damit  eine  Irreführung 
der  Leser  (wie  sie  tatsächlich  in  großem  Umfange 
eingetreten  ist)  von  vornherein  vermieden  wird. 
Nachdem  neuerdings  sich  Forscher  wie  Gehrcke 
und  Lenard  wiederum  entschieden  für  eine  IVlit- 
führung  des  Äthers  durch  die  Erde  ausgesprochen 
haben,  müßte  in  einer  künftigen  Auflage  der  Er- 
örterung des  Michelsonschen  Versuchs  ein  wesent- 
lich breiterer  Raum  gewährt  werden,  damit  der 
Leser  sich  unbefangen  für  die  anschauliche  oder  die 
formalistische  Richtung  in  der  Physik  entscheiden 
kann.  Eine  Anmerkung  aus  der  Feder  eines  an- 
erkannten Forschers,  etwa  derjenigen  Gehrckes, 
die  darauf  hinwiese,  daß  die  Anschauung  von 
Lorentz  in  der  Wissenschaft  heute  nicht  mehr 
allgemein  anerkannt  wird ,  ist  hier  unbedingt  er- 
forderlich, wenn  Einseitigkeit  vermieden  werden 
soll.  Wie  weit  die  nachfolgenden  theoretischen 
Betrachtungen  überflüssig  gemacht  werden,  wenn 
man  die  Lorentzsche  Auffassung  des  Michelson- 
schen Versuchs  aufgibt,  mag  dahingestellt  bleiben. 
Ein  gewisses  Mißverhältnis  besteht  hier  offensicht- 
lich zwischen  dem  Aufwände  an  Mathematik 
einerseits  und  den  sehr  dürftigen  und  umstrittenen 
physikalischen  Ergebnissen  andererseits.  Auffal- 
lend ist,  daß  in  dem  Artikel  von  Einstein  über 
den  „Einfluß  der  Schwerkraft  auf  die  Ausbreitung 
des  Lichtes"  jeder  Hinweis  auf  ältere  Arbeiten 
fehlt ;  der  auf  S.  80  von  Einstein  angegebene 
Wert  stimmt  mit  dem  bereits  1801  von  dem 
deutschen  Mathematiker  v.  Soldner  berechneten 
überein  (vgl.  Ann.  d.  Phys.  Bd.  65,  1921,  S.  593 
bis  604),  so  daß  man  die  von  der  britischen 
Sonnenfinsternisexpedition  entdeckte  Lichtablen- 
kung besser^  als  „Soldnereffekt"  und  nicht  als 
„Einsteineffekt"  bezeichnet.  Die  umfassende 
Kritik,  die  das  ganze  Gebäude  der  Relativitäts- 
theorie in  neuester  Zeit  erfahren  hat,  dürfte  in 
einem  so  bedeutenden  Quellenwerke,  das  doch 
der  ganzen  Wissenschaft  und  nicht  einer  be- 
stimmten Parteirichtung  dienen  will,  jedenfalls 
nicht  verschwiegen  werden.  Fricke. 


Schips,  Dr.  Martin,    Mathematik    und  Bio- 
logie.    Mathematisch- physikalische  Bibliothek, 
herausgegeben    von    W.  Lietzmann    und    A. 
Witting.     Bd.  42.     52  S.     Mit  16  Figuren  im 
Text.     Leipzig  und  Berlin  1922,  B.  G.  Teubner. 
Als    oberste    Aufgabe    biologischen    Forschens 
bezeichnet  der  Verf.  die  quantitative  Fassung  und 
Ableitung  der   bei    den  Lebenserscheinungen  ver- 
wirklichten Gesetze  auf  der  Grundlage  mathema- 
tischer Denkweise  und  Formulierung.     Erst  dann 
ist  ein  Naturvorgang  in  allen  seinen  gegenwärtigen, 
vergangenen  und  zukünftigen  Einzelfällen  zu  über- 
sehen ,    wenn    es   gelungen    ist,   seinen  Ablauf  in 
eine  mathematische  Formel  zu  fassen,  bei  der  die 


Wirkung  als  abhängige  Veränderliche  in  einer 
bestimmten  Funktion  der  unabhängig  veränder- 
lichen Ursache  erscheint.  Ihre  klassischen  Ver- 
treter hat  diese  Tendenz  in  Kant  (1786)  und 
Laplace  (181 4)  gefunden.  Astronomie,  Physik 
und  Chemie  waren  hier  in  einer  sehr  viel  günsti- 
geren Lage  als  die  Biologie:  Es  war  leichter  die 
für  den  vereinfachenden  Versuch  im  Laboratorium 
besser  zugänglichen  leblosen  Objekte  zu  analy- 
sieren, als  die  im  Zusammenhang  der  freien  Natur 
unter  der  Wirkung  vieler  Faktoren  stehenden 
Lebewesen  exakt  zu  erforschen. ')  So  ist  die 
Biologie  erst  später  von  qualitativer  Beschreibung 
zu  quantitativer  Erfassung  der  Lebenserscheinungen 
vorgeschritten.  Sie  verdankt  dies  wesentlich  der 
planmäßigen  Hinzunahme  und  Anwendung  jenes 
nämlichen  experimentellen  Verfahrens.  Hierfür 
stellt  sie  ihre  Objekte  unter  vereinfachte  und 
genau  kontrollierte  Bedingungen.  Denn  die 
Hauptschwierigkeit  einer  mathematischen  Formu- 
lierung biologischer  Vorgänge  ist  die  jederzeit 
nur  wenig  zu  beschränkende  Vielheit  ihrer 
Ursachen;  deswegen  tritt  eine  mathematisch 
abgeleitete  Beziehung,  die  in  der  Regel  nur  einen 
Faktor  berücksichtigen  kann,  empirisch  nie  rein 
hervor.  Bei  der  empirischen  Nachprüfung  werden 
aber  gerade  dadurch  jene  mitwirkenden  Faktoren 
oftmals  erst  aufgedeckt.  Entsprechenderweise  ist 
die  physische  Wurflinie  nie  eine  Parabel;  sie 
kann  höchstens  unter  empirisch  nicht  gegebenen 
vereinfachenden  Voraussetzungen  auf  eine  Parabel 
zurückgeführt  werden.  In  der  Biologie,  wo  vages 
Meinen  und  mancherlei  Anthropomorphes  allzu 
leicht  an  die  Stelle  exakter  Prüfung  zu  treten 
pflegt,  ist  die  Mathematik  mit  ihren  objektiven 
Maßstäben  ein  wertvolles  Korrektiv. 

Der  Verf.  hat  sich  der  dankenswerten  Aufgabe 
unterzogen,  eine  vielseitige  Auswahl  von  solchen 
biologischen  Problemen  zu  bieten,  deren  mathe- 
matische Bearbeitung  bereits  zu  relativ  gesicherten 
Ergebnissen  geführt  hat.  Aus  den  Größenverhält- 
nissen der  Organismen  ergeben  sich  die  Probleme 
der  Bewegungsfähigkeit,  der  Festigung,  des 
Fliegens  und  Schwebens,  der  Wärme-  und  Wasser- 
ökonomie. Eine  andere  Gruppe  von  Fragen  be- 
trifft die  Symmetrie  der  belebten  Körper  und  die 
Blattstellung.  Vom  inneren  Bau  der  Organismen 
sind  behandelt:  Die  mechanische  Widerstands- 
fähigkeit der  Röhrenknochen  und  die  Architektur 
der  Spongiosa  (Hermann  v.  Meyer  1873  bzw. 
1867),  sowie  die  durch  Schwendener  (1874) 
bekannt  gewordenen  entsprechenden  Verhältnisse 
bei  den  Pflanzen ;  das  am  Vegetationskegel  der 
Pflanzen  gefundene  Gesetz  der  rechtwinkligen 
Schneidung  aneinander  grenzender  Zellwände;  der 
Verlauf  der  Markstrahlen  in  exzentrisch  ausgebil- 
deten Stämmen;  die  Berechnungen  und  Unter- 
suchungen   von    Hess    (1903,    19 14)    über    den 


')  Die  Biologie  teilt  diese  Schwierigkeit  der  Matheraati- 
sierung  aus  gleichen  Gründen  mit  der  Geologie  und  Meteoro- 
logie. 


512 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  37 


günstigsten  Verzweigungswinkel  und  den  günstig- 
sten Querschnittsquotienten  der  Blutgefäße.  Die 
Psychophysik  ist  mit  dem  Weber-  F"echner- 
schen  Gesetz  vertreten. 

Referent  glaubt,  daß  die  „mathematische- Bio- 
logie" wie  bisher  so  auch  künftig  nur  langsam 
und  sporadisch  wachsen  wird,  und  sieht  den 
Grund  hierfür  auf  psychologischem  Gebiet:  Nur 
selten  finden  sich  produktives  mathematisches 
und  biologisches  Denken  in  einem  und  demselben 
Forscher  zusammen.  Diese  persönliche  Synthese 
ist  aber  die  Voraussetzung  für  Fortschritte  in 
der  vom  Verf.  bezeichneten  Richtung. 

Dr.  Norbert  Patschovsky. 


Stiny,  Josef,    Technische  Geologie.      Mit 
463    Textabbildungen    und    einer    geologischen 
Übersichtskarte  von  Mitteleuropa.      798  Seiten. 
Stuttgart   1922,  Ferd.  Enke. 
Ein  Lehrbuch  der  technischen    Geologie,    das 
auf   geologisch-technische    Bedürfnisse    Rücksicht 
nimmt,    felilt    zweifellos.     In    dieser  Ansicht  wird 
jeder  praktisch  arbeitende  Geologe  und  jedenfalls 
auch    der    Techniker,    der    sich    mit    Fragen    der 
Geologie  beschäftigt,  mit  dem  Verf.   übereinstim- 
men.    Eine  Ausfüllung  dieser  Lücke  wäre  sicher- 
lich in  den  beteiligten  Fachkreisen  aller  Anerken- 
nung gewiß. 

Das  vorliegende  Werk  ist  nun  aber  weniger 
eine  technische  Geologie,  obwohl  sie  sich  so  nennt, 
als  vielmehr  eine  Geologie  für  Techniker. 
Das  aber  ist  doch  ein  erheblicher  Unterschied. 
Ob  letztere  nötig  war,  wage  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. Gute  Lehrbücher  der  Geologie  in  ver- 
schiedenem Umfange  sind  jedenfalls  genügend 
vorhanden,  die  wohl  auch  für  den,  Geologie 
nebenbei  betreibenden  Techniker  verständlich  und 
ausreichend  sind.  Man  hätte  bei  dieser  Sachlage 
an  Umfang  und  Preis  des  Werkes  außerordentlich 
sparen  können,  wenn  man  das  allgemein  Geolo- 
gische in  ihm  gekürzt  und  die  Stratigraphie  ganz 
weggelassen  hätte.  Letztere  vor  allem  zu  bringen, 
war  für  eine  „technische"  Geologie  keinerlei  Ver- 
anlassung. 

Dafür  hätte  das  Technische,  das  nun  über  eine 
große  Anzahl  von  Kapiteln  verstreut  ist,  straffer 
zusammengefaßt  und  vielfach  wohl  auch  ausführ- 
licher gegeben  werden  können.  Damit  wäre  dem 
Buche  ein  großer  Dienst  erwiesen  worden.  Ich 
fürchte ,  daß  die  Stoffauswahl  und  -anordnung 
weder  dem  Geologen  noch  dem  Techniker  recht 
behagen  wird.     Vielleicht    wird    der  Verf.   einmal 


das  Technische  stärker  und  übersichtlicher  heraus- 
arbeiten und  so  wirklich  den  beteiligten  Kreisen 
einen  Dienst  erweisen. 

Das  wäre  die  prinzipielle  Seite.  Bei  der  Ab- 
fassung ist  sichtlich  das  Bestreben  maßgebend  ge- 
wesen, den  modernen  Anschauungen  der  Geologie 
überall  Rechnung  zu  tragen.  Über  diese  und  jene 
Ausführung  wird  man  anderer  Meinung  sein,  oder 
würde  es  lieber  gesehen  haben,  wenn  nicht  eine 
Lehrmeinung  allein  —  und  noch  dazu  manche 
recht  abseits  stehende  —  vorgetragen  worden 
wäre.  Diesem  Einwände  begegnet  allerdings  der 
Verf.  von  vornherein  damit,  daß  sein  Werk  nicht 
für  den  Fachgeologen  bestimmt  sei  und  man  dem 
Techniker  die  Qual  einer  Wahl  zwischen  ver- 
schiedenen Meinungen  ersparen  müsse. 

In  den  technischen  Zusätzen  und  auch  im 
letzten,  ausschließlich  technischen  Teile  ist  sehr 
viel  Wissenswertes,  oft  in  vorzüglicher  Form,  ge- 
bracht, was  man  bisher  recht  mühsam  und  in 
den  verschiedensten  Werken  zusammensuchen 
mußte.  Die  technische  Erfahrung  des  Verf.  spricht 
hier  deutlich  mit.  Eben  deshalb  möchte  ich  noch- 
mals betonen,  daß  gerade  diese  Teile  —  vielleicht 
bei  einer  Neuauflage  oder  in  einem  besonderen 
Werke  —  herausgehoben  und  vervollständigt 
werden  sollten.  Krenkel. 


Literatur. 

Lämmel,  Dr.  Rudolf,  Intelligenzprüfung  und  psycho- 
logische Berufsberatung.     Zürich-Meilen  '22,  Verlag  des  Verf. 

Frobenius,  Leo  von ,  und  Ritter  von  W i  1  m ,  Atlas 
Africanus.  2.  Lieferung.  München,  C.  H.  Becksche  Verlags- 
buchhandlung.    75   M. 

Junks  Naturführer.  Lämmermayr  u.  Hoffer;  Steiermark. 
Berlin  '22,  \V.  Junk.     Preis  60  M. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Band  21,  R.  Vater,  Die 
neueren  Wärmekraftmaschinen.  1.  Einführung  in  die  Theorie 
und  den  Bau  der  Gasmaschinen.  6.  Aufl.  Leipzig-Berlin  '21, 
B.  G.  Teubner. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Band  86 ,  R.  Vater,  Die 
neueren  Wärmekraftmaschinen.  II.  Gaserzeuger ,  Großgas- 
maschinen, Dampf-  und  Gasturbinen.  5.  Aufl.  Leipzig- 
Berlin   '22,  B.  G.  Teubner. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Band  2S,  M.  Geitel, 
Schöpfungen  der  Ingenieurtechnik  der  Neuzeit.  2.  Aufl.  Leip- 
zig-Berlin '22,  B.  G.  Teubner. 

Zimmermann,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Cucurbitaceen.  Bei- 
träge zur  Anatomie,  Physiologie,  Morphologie,  Biologie,  Patho- 
logie und  Systematik.  Heft  I  :  Beiträge  zur  Anatomie  und 
Physiologie.     Jena  '22,  G.   Fischer.     Brosch.   120  M. 

Hirmer,  Dr.  phil.  Max,  Zur  Lösung  dels  Problems  der 
Blattstellung.     Jena   '22,  G.   Fischer.     Brosch.  56  M. 

Mitteilungen  der  Preußischen  Hauptstelle  für  den  natur- 
wissenschaftlichen Unterricht.  Koch-Lowartz,  Heft  6: 
Zoologische  Bestimmungsübungen.  Leipzig  '22 ,  Quelle  & 
Meyer. 


InllBlt:  K.  Vogtherr,  Ein  neues  Uhrenparadoxon.  S.  497.  E.  Schalow,  Vom  Einfluß  des  Krieges  auf  die  Pflanzen- 
verteilung. S.  499.  —  Einzelberichte:  Riem,  Neuere  astronomische  Arbeiten.  S.  503.  S.  Glasstone,  Zur 
physikalischen  Chemie  der  Bleioxyde.  S.  506.  E.  Ott  und  K.  Zimmermann,  Pfeffergeschmack  und  chemische 
Konstitution.  S.  507.  C.  Paul  und  W.  Ostwald,  Farbenpsychologische  Studien  an  Kindern.  S.  508.  —  Bücher- 
besprechungen: F.  Bruns,  Die  Zeichenkunst  im  Dienst  der  beschreibenden  Naturwissenschaften.  S.  509.  H.  A. 
Lorentz,  A.  Einstein,  H.  Minkowski,  Das  Relativitätsprinzip.  S.  510.  M.  Schips,  Mathematik  und  Bio- 
logie. S.  511.     J.  Stiny,  Technische  Geologie.   512.  —  Literatur:  Liste.  S.   512. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'scbcn  Bucbdr.  Lippen  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  17.  September  1922. 


Nummer  38. 


Das  Wesen  der  Schwerkraft. 


[Nachdruck  verboten.]  Von   Dr.   phil 

Das  Rätsel  der  Schwerkraft  hat  die  Physiker 
von  jeher  lebhaft  beschäftigt  und  steht  auch  augen- 
blicklich wieder  im  Mittelpunkte  der  Erörterung. 
Eine  kurze  Betrachtung  über  diejenige  Lösung, 
die  der  Wahrheit  bisher  am  nächsten  zu  kommen 
scheint,  dürfte  daher  von  allgemeinem  Interesse 
sein.  Newtons  Theorie  formuliert  bekanntlich 
nur  gewisse  Eigenschaften  der  Schwerkraft  mathe- 
matisch und  ist  von  Vermutungen  über  das  Wesen 
der  Schwere  unabhängig.  Eine  solche  Theorie 
hat  aber  stets  etwas  unbefriedigendes;  erst  wenn 
man  sich  vom  Zusammenhange  der  Schwerkraft 
mit  den  übrigen  Naturkräften  ein  anschauliches 
Bild  machen  kann,  wird  man  Wert  und  Geltungs- 
bereich der  mathematischen  Theorie  richtig  ein- 
schätzen können.  Newton  selbst  hat  auch  be- 
reits nach  einer  Lösung  gesucht,  indem  er  eine 
verschiedenartige  Dichte  des  Äthers  im  Räume 
annahm,  derart,  daß  die  IVIassen  aus  den  dichteren 
in  die  weniger  dichten  Teile  gedrückt  würden. 
Auch  die  später  näher  erörterte  Stoßtheorie  der 
Schwere  war  ihm  anscheinend  bekannt. 

In  der  wissenschaftlichen  Literatur  wird  viel- 
fach die  Sachlage  so  dargestellt,  als  ob  die  bis- 
her eingeschlagenen  Wege  uns  der  Lösung  des 
Problems  nicht  erheblich  näher  gebracht  hätten. 
Im  Gegensatz  dazu  soll  hier  die  Auffassung  ver- 
treten werden,  daß  die  vorliegenden  Hypothesen 
die  Aufklärung  des  Problems  bereits  systematisch 
vorbereiteten,  sich  praktisch  verwerten  lassen,  und 
daß  die  ihnen  entgegenstehenden  Schwierigkeiten 
vielfach  stark  überschätzt  werden.  Auf  der  Braun- 
schweiger Naturforscherversammlung  1897  hat 
der  bekannte  Physiker  P.  Drude  eine  wertvolle, 
bisher  wenig  beachtete  Zusammenstellung  und 
Kritik  der  bis  dahin  zur  Erklärung  herangezogenen 
Vorstellungen  gegeben,  die  dieser  Betrachtung 
zugrunde  gelegt  werden  soll.  („Über  Ferne- 
wirkungen."    Ann.  d.  Phys.  62,   1897.) 

Man  hat  unter  Hinweis  auf  die  weitgehende 
mathematische  Ausgestaltung,  die  die  Schwerkraft- 
theorie Newtons  erfahren  hat,  vielfach  die  Not- 
wendigkeit anschaulicher  Vorstellungen  überhaupt 
bestritten.  Wie  hier  nun  gezeigt  werden  soll, 
lassen  uns  gerade  die  anschaulichen  Erklärungs- 
versuche erst  die  Unvollständigkeiten  der  Theorie 
erkennen.  Sie  führen  uns  zu  einer  Reihe  von 
Schlüssen,  von  denen  die  bisher  geltende  Theorie 
nichts  weiß  und  nichts  ahnen  läßt,  und  die  sich 
namentlich  auf  die  im  Schwerkraftraume  vor  sich 
gehenden  Energiebewegungen  beziehen.  Die  Not- 
wendigkeit, die  Lücken  der  Erkenntnis  hier  durch 


.  H.  Frlcke. 

möglichst  plausible  Hypothesen  zu  schließen,  mag 
gegenüber  der  rein  formalen,  hypothesenfreien  Be- 
handlung der  Physik,  die  in  neuester  Zeit  viel- 
fach als  das  Ideal  hingestellt  wird,  hier  durch 
einen  einfachen  Vergleich  dargetan  werden.  Wir 
können  den  Kampf  ums  Dasein  um  so  erfolgreicher 
kämpfen,  je  genauer  wir  die  Natur  erkennen.  Der 
Forscher  befindet  sich  also  in  einer  ähnlichen 
Lage  wie  ein  Feldherr  im  Kriege.  Wie  würde 
man  nun  einen  Heerführer  beurteilen,  der  sein 
Verhalten  allein  auf  die  ganz  exakten  und  sicher 
bewiesenen  Nachrichten  vom  Feinde  aufbauen 
wollte  nnd  alles  nur  Vermutete  als  nicht  vor- 
handen ansehen  wollte?  Jeder  gute  Feldherr 
wird  es  im  Gegenteil  für  seine  wichtigste  Aufgabe 
halten,  unter  Benutzung  der  spärlichen  exakten 
Meldungen  aus  allerlei  Anzeichen  sich  ein  mög- 
lichst vollständiges  Bild  vom  Feinde,  seiner  Stärke, 
seiner  Stellung  und  seinen  Absichten  zu  machen, 
selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  das  Bild  falsch  sei. 
So  sind  auch  in  der  Wissenschaft  die  Vermutungen 
über  das  Unbekannte  vielfach  wichtiger  und  in- 
teressanter, als  unser  spärliches  exaktes  Wissen. 
Nichts  ist  verkehrter,  als  das  Wesen  der  Physik 
nur  im  Messen  und  Zählen  oder  in  der  Beschrei- 
bung von  Einzelheiten  sehen  zu  wollen;  vermag 
uns  doch  gerade  diese  Wissenschaft  wie  keine 
andere  zu  den  Grundlagen  einer  Weltanschauung 
zu  führen ,  die  die  Zusammenhänge  aller 
Dinge  zu  erfassen  strebt.  Hypothetische  Betrach- 
tungen stellen  daher  hier  wie  in  den  meisten 
Wissenschaften  die  wichtigste  Aufgabe  dar. 

Zur  Erklärung  der  Fernwirkung  der  Schwer- 
kraft muß  man  im  scheinbar  leeren  Räume  eine 
wirksame  Substanz  annehmen.  Besonders  gerade 
und  schnell  zu  einem  gewissen  Abschluß  führend 
ist  der  Weg,  den  der  Genfer  Mathematiker 
George  Louis  Le  Sage  (1724 — 1803)  in  seiner 
bekannten  Stoß-  und  Schirmwirkungstheo- 
r  i  e  der  Schwerkraft  eingeschlagen  hat.  Er  besaß 
übrigens  darin  bereits  zwei  Vorläufer,  Nicolas 
Fatio  aus  Duiller,  der  als  ein  Freund  Newtons 
bezeichnet  wird  und  i.  J.  1694  mit  Leibniz 
korrespondierte,  und  F.  A.  Redeker,  der  1736 
als  Arzt,  anscheinend  in  Lemgo,  lebte.  LeSage 
übertraf  seine  Vorgänger  jedoch  weit  durch  eine 
gründlichere  und  einwandfreiere  Behandlung  der 
Aufgabe.  Veröffentlicht  hat  er  selbst  sehr  wenig; 
seine  meist  auf  der  Rückseite  von  Spielkarten 
geschriebenen  Handschriften  befinden  sich  in  der 
Genfer  Bibliothek.  Ein  Teil  der  Schriften  sowie 
eine  Lebensbeschreibung  ist  bald  nach  seinem 
Tode     in    Genf    veröffentlicht    worden;     größere 


514 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr." 38 


deutsche  Arbeiten  über  ihn  scheinen  leider  nicht 
vorhanden  zu  sein. 

Die  Vorstellungen,  mit  denen  Le  Sage  ar- 
beitet, sind  die  gleichen,  die  sich  auch  in  der 
modernen  kinetischen  Theorie  der  Materie,  be- 
sonders der  Gase,  wiederfinden.  Nach  Le  Sage 
wird  der  Raum,  in  dem  die  Schwerkraft  wirksam 
ist,  also  der  „Schwerkraftsraum",  ständig  nach 
allen  Richtungen  von  kleinen  Teilchen  durcheilt, 
die  eine  fast  unendlich  große  Geschwindigkeit 
besitzen  und  die  als  ultramundane  —  d.  h.  aus 
dem  Jenseits  oder  dem  Unendlichen  kommende 
—  Körperchen  oder  Korpuskeln  (corpuscules  ultra- 
mondains)  bezeichnet  werden.  Ein  einzelnes  Atom, 
das  in  einem  solchen  Räume  eingebettet  ist,  er- 
fährt keinen  Anstoß  zur  Bewegung,  da  die  von 
allen  Seiten  kommenden  Stöße  sich  gegenseitig 
aufheben.  Bringt  man  aber  zwei  Körper  hinein, 
so  schützen  sie  sich  gegenseitig  vor  diesen  Stößen 
und  werden  dadurch  zueinander  hingetrie- 
ben. Schreibt  man  den  ultramundanen  Teilchen 
eine  sehr  hohe  Durchdringungskraft  zu,  so  daß 
die  Schirmwirkung  nicht  von  der  Oberfläche, 
sondern  nur  noch  von  der  Masse  der  Körper  ab- 
hängt, so  kann  man  tatsächlich  das  Newtonsche 
Anziehungsgesetz  aus  der  Vorstellung  des  Le  Sage 
ableiten.  Besonders  die  Schwerkraftwirkung  auf 
der  Erde  wird  durch  die  Schirmwirkung  des  ge- 
waltigen Erdkörpers  unter  uns  tatsächlich  in  sehr 
plausibler  Weise  erklärt. 

Ein  besonderer  Vorzug  der  Theorie  ist,  daß 
sie  sich  zwanglos  an  die  herrschende  kinetische 
Theorie  der  Materie  anschließt.  Daß  der  schein- 
bar leere  Raum  tatsächlich  mit  Atomen  feinerer 
Art  erfüllt  ist,  lehrt  bereits  die  kinetische  Gas- 
theorie des  Lichtäthers.  Ob  wir  die  negativen 
Elektronen,  wie  Walte  meint,  bereits  als  die 
Ätheratome  betrachten  können,  oder  ob  wir  uns 
diese  noch  von  erheblich  kleineren  Abmessungen 
denken  müssen,  mag  vorläufig  dahingestellt  bleiben. 
Die  kinetische  Theorie  der  Materie  lehrt  nun,  daß 
die  verschieden  großen  Atome  im  Gleichgewicht 
nebeneinander  im  Räume  bestehen,  wenn  die 
lebendige  Kraft  (kinetische  Energie)  ihres  Stoßes 
gleich  ist,  die  der  Masse  und  dem  Quadrate  der 
Geschwindigkeit  proportional  ist.  Daraus  ergibt 
sich,  daß  die  Atomgeschwindigkeiten  um  so  größer 
werden,  je  kleiner  die  Atommassen  sind.  So  hat 
das  Wasserstoffatom  bekanntlich  eine  4  mal 
größere  Geschwindigkeit  als  das  16  mal  schwerere 
Sauerstoffatom.  Die  Geschwindigkeit  eines  Licht- 
ätheratoms ist  bereits  von  der  Größenordnung 
der  Lichtgeschwindigkeit  anzunehmen. 

Eine  naheliegende  Idee  ist  nun,  die  ultramun- 
danen Körperchen  den  Lichtätheratomen  gleich- 
zusetzen; bekannt  ist  in  dieser  Hinsicht  besonders 
die  Theorie  von  C.  Isenkrahc  geworden,  dessen 
Buch  „Das  Rätsel  der  Schwerkraft"  (Braunschweig 
1879)  auch  noch  eine  sehr  interessante  Zusammen- 
stellung älterer  Versuche  zur  Lösung  des  Schwer- 
kraftproblems enthält.     So  große  Erfolge  nun  die 


Gleichsetzung  des  die  elektromagnetischen  Er- 
scheinungen bewirkenden  Äthers  mit  dem  Licht- 
äther in  der  Maxwellschen  Theorie  gezeitigt  hat, 
so  wenig  Erfolg  hat  bisher  der  Versuch  gehabt, 
den  Lichtäther  in  der  die  Schwerkraft  hervor- 
rufenden Substanz,  die  man  den  „Gravitations- 
äther" nennen  kann,  wiederzuerkennen.  Drude 
erwähnt  Untersuchungen  von  Rysdnek,  Browne 
und  Bock,  wonach  die  Geschwindigkeit  der 
ultramundanen  Körperchen  die  Lichtgeschwindig- 
keit ganz  erheblich  übersteigen  müßte.  Auch 
glauben  die  Astronomen  die  Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit der  Schwerkraft  als  praktisch  un- 
endlich groß,  jedenfalls  aber  als  weit  größer  als 
die  Lichtgeschwindigkeit  ansetzen  zu  müssen. 
Wenn  sich  gegen  die  Begründung  dieser  Berech- 
nungen nun  auch  noch  vieles  wird  einwenden 
lassen,  so  wird  man  doch  Lichtäther  und  Schwer- 
kraftäther vorläufig  als  verschiedenartige  Sub- 
stanzen ansehen  müssen.  Die  Annahme  zweier 
oder  mehrerer  Arten  von  Äther  hält  Drude  für 
eine  zu  große  Verwicklung;  wie  ich  glaube,  jedoch 
vollständig  zu  Unrecht.  Mir  ist  es  im  Gegenteil 
von  vornherein  eine  unwahrscheinliche  Annahme, 
daß  wir  bei  Auflösung  des  zunächst  gestaltlos 
erscheinenden  Welthintergrundes  in  atomistische 
Gebilde  bei  den  Lichtätheratomen  bereits  als  den 
letzten  Weltbausteinen  angelangt  sein  sollten. 
Viel  wahrscheinlicher  ist  doch,  daß  sich  die  Reihe 
der  Atome  auch  jenseits  des  Lichtäthers  fort- 
setzen wird,  im  „Metäther"  oder  „Uräther".  Die 
Notwendigkeit  einer  solchen  Unterscheidung  ist 
neuerdings  besonders  von  L  e  n  a  r  d  in  seiner 
Schrift  „Über  Äther  und  Uräther"  (Leipzig  1921) 
betont  worden. 

Bilden  die  Atome  Teile  eines  räumlichen  Kon- 
tinuums,  wie  es  bei  der  Ätherwirbeltheorie  ver- 
mutet wird,  so  muß  die  Reihe  sich  sogar  bis  ins 
Unendliche  fortsetzen  lassen.  Der  Schwerkraft- 
äther würde  in  dieser  unendlichen  Reihe  alle 
Atome  umfassen,  deren  Geschwindigkeit  für  uns 
praktisch  unendlich  groß  ist.  Nach  Le  Sage 
lehrt  uns  also  die  Schwerkraft  die  feinste  aber 
doch  wichtige,  wirksame  und  fühlbare  Materie 
kennen,  eine  noch  unbekannte  Ursubstanz  der 
Welt,  viel  feiner  und  schneller  selbst  als  Elektri- 
zität und  Licht. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  nun,  daß  die 
Theorie  des  Le  Sage  uns  ein  Bild  von  den 
Energieumsetzungen  gibt,  die  im  Schwerkraft- 
raume  zwischen  der  feineren  und  der  gröberen 
Substanz  stattfinden.  Schreibt  man  nämlich  den 
ultramundanen  Körperchen  eine  vollkommene 
Elastizität  zu,  so  erhält  man  keine  Schirmwirkung. 
Nimmt  man  aber  mit  Le  Sage  an,  die  Teilchen 
seien  nicht  vollkommen  elastisch,  so  würden  zwar 
die  Anziehungen  möglich  sein,  die  Energie  der 
stoßenden  Teilchen  müßte  aber  von  den  wäg- 
baren Körpern  verschluckt  werden.  Daraus  hat 
nun  Maxwell  einen  schwerwiegenden  Einwand 
abgeleitet,  indem  er  meinte,  die  durch  die  Gravi- 
tation   erzeugte  Wärme    müßte    in    wenigen    Se- 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


515 


künden  das  ganze  sichtbare  Weltall  bis  zur 
Weißglut  erhitzen.       " 

Betrachtet  man  nun  einmal  unbefangen  in 
einer  sternklaren  Nacht  das  sichtbare  Weltall,  so 
findet  man,  daß  er  sich  tatsächlich  größtenteils 
in  Weißglut  befindet,  und  zwar  steht  dieser  Zu- 
stand im  Widerspruch  mit  den  bisher  bekannten 
physikalischen  Gesetzen.  Denn  von  Rechts  wegen 
müßten  doch  die  Sonne  und  alle  Fixsterne  in- 
folge der  Verschwendung,  die  sie  mit  der  Wärme- 
energie treiben,  längst  erkaltet  sein,  und  die 
Astronomen  verfehlen  auch  nicht,  eine  unabwend- 
bare Erkaltung  unseres  Zentralgestirns  zu  prophe- 
zeien. Die  Schwerkrafttheorie  des  Le  Sage  er- 
öffnet also  einen  neuen  Weg,  die  Konstanz  der 
Sonnentemperatur  zu  erklären,  was  als  erster 
Leray  1869  erkannt  zu  haben  scheint.  Auch 
die  Theorie  von  R  y  s  ä  n  e  k  führt  diesen  Gedanken 
aus.  Wie  man  sich  die  Energieumwandlung  vor- 
stellen kann,  habe  ich  unabhängig  von  diesen 
Vorarbeiten,  die  mir  erst  nachträglich  bekannt 
geworden  sind,  in  der  kleinen  Schrift  „Die  neue 
Erklärung  der  Schwerkraft"  (Wolfenbüttel,  Heck- 
ners Verlag,   1920)  näher  ausgeführt. 

Drude  kommt  zu  dem  Schluß:  „Die  Stoß- 
wirkungstheorien zeigen  zur  Genüge,  wie  sie  zu 
Experimenten  oder  Fragestellungen  der  Wirklich- 
keit drängen.  Bisher  kennen  wir  von  den  Eigen- 
schaften des  Vakuums  nur  die  eine,  nämlich  die 
Lichtfortpflanzungsgeschwindigkeit.  Erst  wenn  es 
gelingt,  noch  mehrere  Eigenschaften  zu  entdecken, 
so  ist  Hoffnung  vorhanden,  die  sog.  Gravitations- 
konstante mit  anderen  Erscheinungen  oder  Tat- 
sachen in  numerische  Beziehung  setzen  zu  können." 
Nun  glaube  ich  tatsächlich  eine  numerische  Be- 
ziehung aufgefunden  zu  haben,  die  aus  der  Newton- 
schen  Theorie  nicht  folgt,  aber  mit  dem  Charakter 
der  Schwerkraft  als  einer  Stoßwirkung  vortrefflich 
übereinstimmen  würde.  Es  besteht  in  unserem 
Planetensystem  nämlich  eine  auffallende  Propor- 
tionalität zwischen  Schwerkraft  und 
Temperatur.  Die  nachstehende  Tabelle  ist 
auf  der  einfachen  Annahme  gegründet,  die  Eigen- 
temperatur der  Oberflächen  sei  der  dort  herrschen- 
den Schwerkraft  proportional.  Um  die  so  dem 
Erdschwerefelde  entsprechende  Temperatur  zu 
ermitteln,  ist  von  der  mittleren  Oberflächentempe- 
ratur von  15"  C  oder  288"  absolut  noch  die 
Wirkung  der  Sonnenstrahlung  in  Abzug  zu  bringen, 
die  nach  Seh  ein  er  auf  88°  eingeschätzt  wird. 
Dem  Schwerkraftfelde  der  Erde  als  der  natürlich 
gegebenen  Einheit  würde  dann  die  absolute  Tem- 
peratur von  200°  oder  — 73"  C  entsprechen,  eine 
Zahl,  der  sich  die  Temperaturmessungen  in  den 
höchsten  Luftschichten  bereits  stark  annähern. 
Auf  dieser  Grundlage  ergibt  sich  die  folgende 
Temperaturen  tabelle  des  Planeten- 
systems:     (s.  rechts  oben.) 

Natürlich  will  die  Tabelle  keine  absolut  exakten 
Werte  geben,  da  außer  der  Schwerkraft  und 
Sonnenstrahlung  ja  noch  andere  innere  oder 
äußere  Einflüsse  die  Temperatur  entscheidend  be- 


Oberflächen- 

Name   des 
Welt- 
körpers 

Schwere 

auf  der 

Oberfläche 

rechnete  abso- 
lute Welt- 
raumtempe- 
ratur  auf   der 
Oberfläche 

Korrektur 
wegen  der 
Sonnen- 
strahlung 

temperatur 
mit  Berück- 
sichtigung der 
Sonnen- 
strahlung in 
Celsiusgraden 

Sonne 

27.7 

5520° 

— 

+  5247° 

Jupiter 

2,42 

484 

+3" 

+211 

Saturn 

1,21 

242 

+1 

—30 

Erde 

I 

200 

+88 

+15 

Venus 

0,8s 

170 

+88 

—IS 

Mars 

0,38 

76 

+38 

—159 

Merkur 

0,38 

76 

+587 

-I-390 

Mond 

0,16 

32 

+88 

—  '53 

einflussen  können.  Auffallend  ist  jedoch,  daß  in 
den  Fällen,  wo  wir  die  Temperatur  etwas  genauer 
schätzen  können,  die  Übereinstimmung  mit  der 
Erfahrung  besonders  überraschend  hervortritt. 
Die  Sonnentemperatur  hat  man  zu  etwa  5800 — 
6000"  ermittelt,  also  nur  wenige  hundert  Grad 
höher  als  hier  berechnet.  Die  Eigentemperatur 
des  IVlondes  kommt  dem  absoluten  Nullpunkt  tat- 
sächlich sehr  nahe.  Die  Temperatur  der  Welt- 
körper scheint  mit  ihrer  Masse  daher  viel  mehr 
zusammenzuhängen ,  als  man  bisher  nach  der 
herrschenden  Erkaltungslehre  vermutet  hatte.  Die 
Geologie  lehrt,  daß  die  Temperatur  von  Erde  und 
Sonne  wahrscheinlich  in  vielen  Jahrmillionen  — 
zur  Permzeit  soll  es  bereits  eine  Eiszeit  gegeben 
haben  —  nicht  merklich  geschwankt  haben  kann, 
und  über  den  früheren  Zustand  von  Erde  und 
Sonne  wissen  wir  nichts  bestimmtes.  Was  über 
die  Entstehung  der  Weltkörper  aus  glühenden 
Gasbällen  o.  dgl.  geschrieben  wird,  ist  reines 
Phantasieprodukt. 

Was  die  für  die  übrigen  Planeten  berechneten 
Zahlen  anbetrifft,  so  kann  man  über  ihren  Wert 
verschiedener  Meinung  sein;  auf  jeden  Fall  er- 
geben sie  eine  bessere  Übereinstimmung  mit  der 
Erfahrung  als  die  bisherige  Anschauung,  die  die 
Weltraumtemperatur  einfach  dem  absoluten  Null- 
punkte gleichsetzte.  Für  Venus  gewährt  die 
Theorie  —  wenn  man  die  Wärmeabsorption  dieses 
reinweißen  Planeten  besonders  niedrig  einschätzt 
—  die  Möglichkeit,  ihn  für  kälter  als  die  Erde 
zu  halten,  so  daß  sein  schneeweißes  Aus- 
sehen in  besonders  einfacher  Weise  tatsächlich 
als  Schneebildung  zu  erklären  wäre.  Neuere 
Untersuchungen  sollen  das  Fehlen  von  Wasser- 
dampf in  der  Atmosphäre  des  Planeten  ergeben 
haben,  was  mit  der  Schneetheorie  jedenfalls  besser 
übereinstimmt,  als  mit  der  herrschenden  Wolken- 
theorie. Für  Mars  ergibt  sich  eine  Mittelstellung 
zwischen  Mond  und  Erde,  was  auch  mit  anderen 
physikalischen  Beobachtungen  —  namentlich  der 
sehr  geringen  Dichte  der  Atmosphäre  —  überein- 
stimmt. Wenn  man  die  Polhauben  nicht  einfach 
als  Kohlensäureschnee  o.  dgl.  deuten  will,  so  kann 
man    in   ihnen   auch    reifartige   Niederschläge  aus 


5i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


den  spärlichen  Resten  einer  Wasserdampfhülle 
vermuten.  Die  Ansicht,  daß  es  auf  dem  Mars 
tatsächlich  sehr  kalt  sei,  ist  von  verschiedenen 
Astronomen,  z.  B.  von  B  a  u  m  a  n  n ,  vertreten 
worden.  Die  Meinung,  die  Temperatur  dort  sei 
mit  der  irdischen  vergleichbar,  ist  vom  physikali- 
schen Standpunkte  aus  von  vornherein  unwahr- 
scheinlich. Die  Beobachtungen  lassen  sich  natur- 
gemäß in  sehr  mannigfacher  Weise  auslegen.  — 
Die  Temperatur  der  äußeren  Planeten  Jupiter 
und  Saturn  wird  aus  Gründen,  deren  Mitteilung 
hier  zu  weit  führen  würde,  wahrscheinlich  noch 
erheblich  höher  sein,  als  die  Tabelle  angibt. 

Die  Bedeutung  der  vermuteten  zahlenmäßigen 
Beziehung  zwischen  Temperatur  und  Schwerkraft 
für  die  Theorie  liegt  vor  allem  in  dem  Umstände, 
daß  die  kinetische  Theorie  beide  Erscheinungen 
in  genau  der  gleichen  Weise  erklärt;  denn  die 
Temperatur  wird  als  die  lebendige  Kraft  der 
gröberen,  wägbaren  Atome,  die  Schwerkraft  als 
die  lebendige  Kraft  der  feineren,  ultramundanen 
Teilchen  aufgefaßt.  Zwischen  der  gröberen  und 
feineren  Materie  scheint  also  im  Planetensystem 
so  etwas  wie  ein  Gleichgewicht  der  Kräfte  zu 
bestehen.  Vermutlich  ist  auch  ein  Gleichgewicht 
in  den  Energiebewegungen  vorhanden;  dieses 
läßt  sich  aber  vorläufig  nicht  messend  verfolgen, 
da  die  Schwerkraftenergie  sich  durch  die  im 
Laboratorium  vorhandenen  Auffangvorrichtungen 
nur  in  ganz  geringem  Umfange  absorbieren  läßt. 
Die  Energie  kann  also  nicht,  wie  es  z.  B.  bei 
der  Strahlungsenergie  im  Lichtäther  möglich  ist, 
einfach  durch  Absorption  gemessen  werden. 

Die  große  Leistung  der  kinetischen  Theorie 
besteht  also  darin,  daß  zunächst  einmal  eine 
Grundlage  zum  Verständnis  des  Wesens  der 
Schwerkraft  geschaffen  wird.  Die  auf  Grund  der 
Newtonschen  Theorie  noch  gar  nicht  beachtete 
Rolle,  die  die  Schwerkraft  für  die  Erkenntnis 
einer  substantiellen  Erfüllung  des  Raumes  und 
für  den  Kreislauf  der  Energie  besitzt,  wird  in  sehr 
einfacher  Weise  deutlich  gemacht.  Dagegen  wird 
man  in  mathematisch-analytischer  Hinsicht  keine 
exakte  Lösung,  sondern  nur  eine  Annäherung  er- 
warten können.  Die  kinetische  Gastheorie  mit 
ihren  elastischen  Atombällen  ist  eben  ganz  allge- 
mein nur  eine  Annäherung  erster  Ordnung.  Bei 
näherer  Betrachtung  besitzen  Atome  und  um- 
gebender Raum  viel  verwickeitere  Eigenschaften. 
Es  ist  vor  allem  zweifelhaft,  ob  man  die  Atome 
wirklich  als  räumlich  getrennte  Teilchen  oder 
nicht  vielmehr  als  wellenartige  Impulse  im  Kon- 
tinuum  auffassen  soll,  wie  es  u.a.  v.  Dellings- 
hausen  tat.  Besonders  beachtenswerte  Aus- 
blicke gewährt  die  Idee  des  „Wirbelatoms",  wie 
sie  vor  allem  von  Lord  Kelvin  und  seiner 
Schule  ausgebildet  und  neuerdings  in  Deutsch- 
land auch  von  C.  Westphal  („Wirbelkristall", 
Braunschweig  1921)  weiter  verfolgt  worden 
ist.  Das  Atom  wird  hier  als  Wirbel  in  einer 
mehr  kontinuierlich  gedachten  feineren  Substanz 
—   Äther   oder   Uräther   —   aufgefaßt.     Bei  ein- 


gehenderer Bearbeitung  wird  die  atomistische 
Theorie  daher  so  verwickelt,  daß  man  von  ihr 
vorläufig  eine  abgeschlossene  mathematische  Lö- 
sung nicht  erwarten  kann.  Ihre  Bedeutung  beruht 
zunächst  mehr  in  ihrer  Anschaulichkeit. 

Ein  anderer  bisher  wenig  beachteter  Gedanken- 
gang verspricht  in  mathematischer  Hinsicht  viel- 
leicht größere  Erfolge.  Die  Annahme  von  Atomen, 
die  sich  reibungslos  im  leeren  Räume  bewegen, 
steht  mit  dem  Umstände  im  Widerspruch,  daß 
der  Raum  als  Lichtäther  und  auch  als  Schwer- 
kraftäther die  substantiellen  Eigenschaften  eines 
widerstehenden  Mittels  besitzt.  Die  gleichförmige 
Trägheitsbewegung,  die  nach  Galilei  und  New- 
ton als  eine  kräftefreie  Bewegung  aufgefaßt  wird, 
muß  dann  in  ganz  anderer  Weise,  nämlich  als 
die  unter  dem  Einfluß  einer  Kraft  erfolgende  Be- 
wegung durch  ein  widerstehendes  Mittel  gedeutet 
werden.  Wie  bereits  in  dem  Artikel  „Zur  Klärung 
des  Ätherproblems"  (diese  Zeitschrift  1922,  S.  i/O) 
ausgeführt,  hat  neuerdings  Slate  auf  diese  Weise 
Gleichungen  erhalten,  die  dem  elektromagnetischen 
Kraftfelde  entsprechen.  Der  wesentliche  Unter- 
schied zwischen  der  angeblich  veralteten  „mecha- 
nischen" und  der  neueren  „elektrodynamischen" 
Theorie  der  Materie  würde  danach  vermutlich 
darin  bestehen,  daß  man  bei  Anwendung  der 
elektromagnetischen  Gleichungen  auch  die  Flüssig- 
keitsreibung unter  dem  Namen  des  „Magnetismus" 
mit  berücksichtigt  (vgl.  hierzu  die  Abb.  auf  S.  169, 
Jahrg.  1922  dieser  Zeitschrift),  während  man  bei 
Anwendung  der  mechanischen  Stoßtheorie  sich 
der  falschen  Begriffe  des  „reibungslosen"  oder 
„leeren"  Raumes  bedient.  Trotz  der  Einführung 
der  Reibung  braucht  man  jedoch  nicht  anzuneh- 
men, daß  die  Atombewegung  jemals  zum  Still- 
stand kommen  müßte.  Denn  die  Energie,  die 
dem  Atom  durch  Reibung  verloren  geht,  kann 
aus  dem  Weltraum  nicht  heraus,  und  muß  infolge 
des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Energie  im 
ewigen  Kreislauf  zu  den  Atomen  wieder  zurück- 
fließen. Vielleicht  zerfallen  und  entstehen  die 
Atome  in  ähnlicher  Weise,  wie  wir  es  bei  den 
Lebewesen  verfolgen  können.  Neuerdings  haben 
auch  N ernst  und  Wiechert  ähnliche  Anschau- 
ungen entwickelt. 

Diese  Anschauung  steht,  allerdings  mit  einer 
weitverbreiteten  Meinung  im  Widerspruche,  wo- 
nach der  sog.  zweite  Hauptsatz  der  Wärmelehre, 
der  Entropiesatz ,  eine  allmähliche  Entwertung 
der  Energie  beweisen  soll,  so  daß  die  Umwand- 
lung der  Bewegungsenergie  durch  Reibung  in 
Wärmebewegung  kein  vollständig  umkehrbarer 
Vorgang  wäre.  Wie  früher  schon  Boltzmann 
u.  a.,  neuerdings  vor  allem  v.  Smoluchowski, 
gezeigt  haben,  läßt  sich  der  Entropiesatz  jedoch 
nicht  auf  das  ganze  Weltgeschehen  anwenden. 
Ich  führe  aus  der  Arbeit  v.  Smoluchowskis 
über  „Güitigkeitsgrenzen  des  zweiten  Hauptsatzes 
der  Wärmetlieorie"  („Vorträge  über  die  kinetische 
Theorie  der  Materie  und  der  Elektrizität",  Verlag 
von  Teubner,  Leipzig  1914,  S.  87  ff.)  nur  die  fol- 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


517 


genden  Sätze  an :  „Der  zweite  Hauptsatz  hat  seine 
Stellung  als  unerschütterliches  Dogma,  als  eines 
der  Grundprinzipien  der  Physik,  ein  für  allemal 
eingebüßt."  „An  den  in  den  letzten  Jahren  ex- 
perimentell beobachteten  Schwankungsphänomenen 
erscheint  gerade  der  Umstand  dem  Thermodyna- 
miker am  absonderlichsten,  daß  er  hier  mit  eigenen 
Augen  die  Umkehr  von  Prozessen  sieht,  die  all- 
gemein als  irreversibel  gelten."  „Ebenso  zeigt  die 
Brownsche  Bewegung  die  Umkehr  des  Prozesses 
der  inneren  Reibung  in  Flüssigkeiten,  denn  die 
Emulsionsteilchen  werden  in  ihrer  Bewegung  auf- 
gehalten, setzen  sich  aber  wieder  von  selbst  in 
Bewegung."  „Würden  wir  unsere  Beobachtung 
unermeßlich  lange  Zeit  hindurch  fortsetzen ,  so 
würden  uns  sämtliche  Vorgänge  reversibel  er- 
scheinen." „Wie  haltlos  erscheint  von  diesem 
Standpunkt  aus  die  Clausiussche  Behauptung: 
,Die  Entropie  des  Weltalls  strebt  einem  Maximum 
zu.'  Der  Molekularstatistiker  wird  in  derselben 
nur  eine  Äußerung  menschlicher  Kurzsichtigkeit 
und  Kurzlebigkeit  sehen.  So  glauben  vielleicht 
auch  die  ersten  Frühlingsblumen,  daß  das  Klima 
des  Weltalls  immer  wärmer  wird,  denn  die  um- 
gekehrte Änderung  im  Herbst  erleben  sie  niemals." 

Der  Energiezerstreuung,  die  wir  z.  B.  bei  der 
Strahlung  beobachten,  muß  daher  ein  von  der 
Wissenschaft  bisher  nicht  beachteter  Vorgang  der 
Energiesammlung  entsprechen  und  die  kinetische 
Theorie  der  Schwerkraft  läßt  den  geheimnisvollen, 
aus  dem  unendlich  Kleinen  kommenden  Weg  er- 
kennen, auf  dem  die  zerstreute  Energie  wieder 
zu  den  wägbaren  Atomen  zurückkehrt,  um  die 
vom  Reibungswiderstande  der  Weltraumsubstanz 
zur  Ruhe  gebrachten  Atome  von  neuem  anzu- 
treiben. 

Die  oben  erwähnte  Theorie  des  Wirbelatoms 
verknüpft  die  Stoßtheorie  der  Schwerkraft  mit 
den  hydrodynamischen  Theorien  der  Gravitation, 
wie  sie  u.  a.  von  A.  Korn  entwickelt  worden 
sind.  Die  scheinbar  verschiedenartigen  Grund- 
anschauungen, von  denen  man  bei  der  Erklärung 
der  Schwerkraft  ausgegangen  ist,  werden  sich  in 
einem  späteren  Zustande  der  Entwicklung  daher 
vermutlich  zu  einem  einheitlichen  Bilde  zusammen- 
fassen lassen.  Vielleicht  kehrt  dann  die  Astro- 
nomie von  der  abstrakten  Betrachtungsweise 
Newtons  wieder  mehr  zur  anschaulichen  Wirbel- 
theorie des  Descartes  zurück,  der  den  Raum 
überall  als  Substanz  auffaßte,  „weil  es  absurd 
sei,  daß  das  Nichts  eine  Ausdehnung 
habe".  Descartes  unterschied  auch  bereits 
Lichtäther  und  Gravitationsäther  voneinander. 
Darauf,  daß  es  ein  Schwerkraftträgheitsfeld  gibt, 
das  in  ähnlicher  Weise  mit  substantiellen  Eigen- 
schaften ausgestattet  ist,  wie  das  elektromagneti- 


sche Kraftfeld,  deuten  vor  allem  die  Erscheinungen, 
die  von  mir  in  dieser  Zeitschrift  unter  dem  Titel 
„Wind  und  Wetter  als  P'eldwirkungen  der  Schwer- 
kraft" (Jahrg.  192 1,  Heft  7,  S.  97)  beschrieben 
worden  sind.  ^) 

Wenn  nun  auch  eine  abschließende  mathema- 
tische Lösung  des  Schwerkraftproblems  heute 
noch  nicht  zu  erwarten  ist  —  dazu  hängt  das- 
selbe wohl  zu  eng  mit  dem  Weltproblem  über- 
haupt zusammen  —  so  glaube  ich  doch  durch 
die  vorstehenden  Ausführungen  dargetan  zu  haben, 
daß  uns  die  bisher  geleistete  Arbeit  schon  ein 
anschauliches  Bild  vom  Wesen  der  Schwerkraft 
und  ihrem  Zusammenhange  mit  den  übrigen 
Naturkräften  zu  geben  vermag  und  den  Weg  er- 
kennen läßt,  auf  dem  ein  weiteres  Vordringen 
recht  wohl  möglich  ist.  Die  übliche  Art,  die 
Schwerkraft  nur  als  ein  mathematisches  Pro- 
blem zu  behandeln,  schließt  die  schwere  Gefahr 
in  sich,  daß  wir  im  Kreislauf  der  Energie  ganz 
unberechtigterweise  Lücken  offen  lassen  und 
Naturkräfte  übersehen,  die  uns  aufs  innigste  be- 
rühren. Unsere  heutige  Wissenschaft  glaubt  über- 
all nur  Energieentwertung,  Alter,  Tod,  Erkaltung 
und  Untergang  als  das  Ziel  der  Naturentwicklung 
hinstellen  zu  müssen.  Erst  die  Erkenntnis  vom 
Wesen  der  Schwerkraft  lehrt  uns  die  aus  dem 
unendlich  Kleinen  stammenden  aufbauenden, 
schaffenden  Kräfte  erkennen,  die  gleichsam  den 
Lauf  der  Zeit  umkehrend  den  Tod  wieder  zum 
Leben  umwandeln  und  der  altgewordenen  Welt 
die  Jugend  zurückgeben. 


')  Wenn  man  die  Abb.  3  auf  S.  98,  Jhrg.  1921  dieser 
Zeilschrift  aufmerksam  betrachtet,  so  erkennt  man,  daß  die 
Erde  hier  talsächlich  unter  der  Wirkung  einer  in  Richtung 
ihrer  Bahn  liegenden  beschleunigenden  Kraft  und  eines  im 
Räume  vorhandenen  stofflichen  Widerstandes  zu  stehen  scheint. 
Es  gelang  mir  inzwischen,  diese  Anschauung  in  einer  neuen 
Schwerkrafttheorie  mathematisch  zu  begründen.  Der  Reibungs- 
widerstand wird  der  Planetenmasse  m  und  dem  Quadrate  der 
Geschwindigkeit  v,  also  m^v-  proportional  gesetzt.  Den  Aus- 
gleich findet  diese  Kraft  in  einer  bisher  unbeachteten  tangen- 
tialen Schwerkraftkomponente,  die  in  der  Sonnenrötation  ihren 
.\usdruck  findet.  Die  bekannte  Newtonsche  Kraft,  die  dem 
Quadrat  des  Sonnenabstandes  r  umgekeh;-t  proportional  ist, 
wirkt  auf  jeden  Planeten  mit  dem  Hebelarm  r  mitreißend,  so 

daß  diese  Kraft  der  Größe     „■r  =  —  proportional    ist.       Die 

Geschwindigkeit  der  Planeten    ist   nun  — =— ,    worin    T     die 

Umlaufszeit  in  der  zunächst  kreisförmig  angenommenen  Bahn 
ist.  Setzt  man  die  beschleunigende  Kraft  der  Reibung  gleich, 
so  erhält  man ,    wenn    man  alle    unveränderlichen   Größen  zur 


-,-  =  c,  also  das  dritte  Keplersche  Gesetz.  New- 
tons Ableitung  der  Planetenbahn  aus  einer  reibungslosen 
Trägheitskomponente  ist  also  nicht  die  einzig  mögliche  Lösung  I 


5i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


[Nachdruck  verboten.] 


Biozönologie  und  Soziologie. 

Von  E.  Schmid,  Wasserburg  am  Bodensec. 


Der  Wunsch,  für  die  Fülle  der  Formen  des 
Zusammenlebens  der  Organismen  Einheiten  zu 
finden  und  diese  übersichtlich  anzuordnen  oder 
natürlich  zu  klassifizieren,  ist  in  neuerer  Zeit  be- 
sonders rege  geworden.  Es  ist  klar,  daß  diese 
sehr  häufig  außerordentlich  komplizierten  Erschei- 
nungen von  den  verschiedensten  Gesichtspunkten 
aus  betrachtet  werden,  so  daß  sich  oft  mehrere 
SpezialWissenschaften  mit  den  gleichen  Phänome- 
nen abgeben,  daß  Systeme  aufgestellt  werden, 
welche  in  schon  bestehende  übergreifen.  Scharfe 
Grenzen  fehlen  meist,  es  handelt  sich  deshalb  bei 
der  Festlegung  derselben  nicht  so  sehr  um  lo- 
gische als  um  praktische  Forderungen;  infolge- 
dessen wird  es  vielfach  dem  Übereinkommen 
überlassen  bleiben,  an  welcher  Stelle  sie  gezogen 
werden,  wie  die  verschiedenen  Systeme  gegen- 
einander abgegrenzt  werden. 

Das  von  P.  Jaccard  (in  Flahault  und 
Schröter,  Phytogeographische  Nomenklatur, 
Berichte  und  Vorschläge,  Zürich  19 10)  in  die 
Geobotanik  eingeführte  Wort  „Soziologie",  womit 
„die  Lehre  von  den  Bedingungen  und  den  Ge- 
setzen der  Bildung  von  Pflanzengesellschaften" 
bezeichnet  werden  sollte,  scheint  sich  mehr  und 
mehr  einzubürgern,  trotzdem  die  hier  in  Frage 
stehenden  Erscheinungen  mit  Soziologie  nichts 
zu  tun  haben  (vgl.  E.  Rubel,  Die  Entwicklung 
der  Pflanzensoziologie.  Vierteljahrsschrift  d.Naturf.- 
Ges.  in  Zürich,  LXV,  1920.  —  J.  Pavillard, 
L'Association  vegetale.  Unite  Phytosociologique. 
IMontpellier  1921,  und  Cinq  ans  de  Phytosocio- 
logie.  Montpellier  1922.  —  E.  Du  Rietz,  Zur 
methodologischen  Grundlage  der  modernen  Pflan- 
zensoziologie. Upsala  1921).  Wenn  sich  auch 
viele  Autoren  darüber  klar  sind  und  deshalb  ge- 
legentlich von  „PseudoSoziologie"  sprechen,  so 
dürfte  sich  der  Name  nur  schwer  mehr  ausmerzen 
lassen.  Eine  kurze  Übersicht  über  die  Einheiten 
des  Zusammenlebens  der  Organismen  möge  die 
Notwendigkeit  einer  geeigneteren  Benennung 
deutlich  machen. 

Die  umfassenden,  am  meisten  in  die  Augen 
springenden  dieser  Einheiten  sind  zweifellos  die 
„topographischen"  (bei  H.  G a m s ,  Prinzipien- 
fragen der  Vegetationsforschung,  Vierteljahrsschrift 
der  Naturforschenden  Gesellschaft  Zürich,  LXIII, 
„biozönologischen").  Sie  umfassen  jeweils  alle 
auf  einer  einheitlichen  Charakter  besitzenden,  geo- 
graphisch umgrenzten  Lokalität  vorhandenen  Tiere 
und  Pflanzen,  und  zwar  sowohl  die  einzelnen  Indi- 
viduen als  auch  die  verschiedenartigen  Verbände, 
in  welchen  dieselben  auftreten.  Das  Band,  das 
diese  Einheiten  umgrenzt,  sind  lediglich  die  äußeren, 
abiotischen  Lebensfaktoren,  wie  Klima,  physi- 
kalische und  chemische  Bodenverhältnisse  usw. 
Zwischen  den  Lebewesen,  ob  sie  nun  einzeln  oder 
in  Verbänden  leben,  können,  aber  brauchen  nicht 
irgendwelche  gegenseitige  Abhängigkeiten  zu  be- 


stehen. Im  ersteren  Fall  ist  die  topographische 
Einheit  zugleich  eine  Gemeinschaft  vom  Werte 
einer  Biozönose  (s.  u.).  Eine  topographische  Ein- 
heit ist  z.  B.  der  mit  Sarothamnus-  und  Calluna- 
Unterwuchs  versehene  Föhrenwald  der  Burgsand- 
steinflächen um  Nürnberg.  Der  Calluna-Saro- 
thamnus-Unterwuchs  kommt  aber  als  von  den 
Föhren  unabhängige  Einheit  auch  ohne  diese  vor, 
ebenso  wie  die  Föhre  mit  ihren  Schmarotzern 
(Viscum,  Kiefernspinner  usw.)  und  ihrem  „Edaphon" 
auf  den  dortigen  nackten  Flugsanddünen  lichte  Be- 
stände bildet.  IVlit  den  topographischen  Einheiten 
haben  sich  bisher  in  der  Hauptsache  die  Geo- 
botaniker befaßt.  Zur  Charakterisierung  benützen 
dieselben  außer  den  Standortsfaktoren  besonders 
die  Lebensformen  der  am  meisten  hervortretenden 
Arten. 

Wichtige  Einheiten  sind:  das  konkrete  Indivi- 
duum der  topographischen  Einheiten,  die  Sied- 
lung (Kupffer  1909,  Gams  191 8)  (=  „Einzel- 
bestand" Schröters  1902),  und  der  aus  gleich- 
artigen Siedlungen  durch  Abstraktion  erhaltene 
Siedlungstypus  („Bestandestypus"  bei  Schröter 
1902).  Eine  Übersicht  der  topographischen  Ein- 
heiten innerhalb  größerer  Gebiete  wird  durch 
Gruppieren  der  Einheiten  mit  physiognomischer 
Ähnlichkeit,  in  kleineren  durch  Anordnen  nach 
den  physiographischen  Abschnitten  erhalten. 

Weniger  umfassend,  dafür  aber  meist  weit 
höheren  Gemeinschaftswert  besitzend  als  die  topo- 
graphischen Einheiten  sind  die  biozönologi- 
schen im  engeren  Sinne.  Der  Begriff  Biozö- 
nose ist  von  K.  IVI  ö  b  i  u  s  („Die  Austern  und  die 
Austernwirtschaft",  Berlin  1877)  aufgestellt  worden; 
er  bedeutet  „eine  den  durchschnittlichen  äußeren 
Lebensverhältnissen  entsprechende  Auswahl  und 
Zahl  von  Arten  und  Individuen,  welche  sich 
gegenseitig  bedingen  und  durch  Fortpflan- 
zung in  einem  abgemessenen  Gebiete  dauernd 
erhalten".  Wird  diese  Definition  allgemein  an- 
genommen, so  gehören  in  das  Gebiet  der  Bio- 
zönologie nur  jene  Lebensgemeinschaften,  deren 
Glieder  in  ihren  Beziehungen  zueinander  ihr  Ge- 
nüge finden,  die  in  biologischem  Gleichgewicht 
stehen,  die  diesen  Gleichgewichtszustand  durch 
Selbstregulation  erhalten,  die  nur  von  der  äußeren 
unbelebten  Umwelt  abhängig  sind,  relativ  stabil, 
so  lange  jene  unverändert  bleibt,  und  die  von  der 
belebten  Umwelt  nicht  oder  nur  unwesentlich 
abhängig  sind.  Auch  C.  Schröter  (C.  Schrö- 
ter und  O.  Kirchner,  Die  Vegetation  des  Boden- 
sees II.  Bodenseeforschungen,  Lindau  1902)  findet 
„eine  scharfe  Scheidung  nötig",  wo,  wie  bei  der 
limnetischen  Region  eines  Sees  und  dem  darunter 
liegenden  Seeboden,  die  Bedingungen  so  grund- 
verschieden und  die  Bewohner  gegenseitig  so 
unabhängig  sind.  J.  Braun-Blanquet 
(Essai  sur  les  notions  „delement"  et  de  „terri- 
toire"    phytogeographiques.     Arch.    Sc.    phys.    et 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


519 


nat.  5®  per.  i,  19 19)  spricht,  allerdings  nicht  im 
gleichen  Zusammenhang,  von  unselbständigen 
Gesellschaften,  die  an  das  Vorhandensein  anderer 
±  gebunden  sind,  und  bezeichnet  sie  als  „ab- 
hängige Gesellschaften".  Wenn  Fr.  Da  hl 
(„Kurze  Anleitung  zum  wissenschaftlichen  Sammeln 
und  zum  Konservieren  von  Tieren",  Jena  19 14) 
„Phytobiozönosen"  und  „Zoobiozönosen"  neben 
den  „Allobiozönosen"  in  sein  biozönologisches 
System  aufnimmt,  so  überschreitet  er  damit  die 
von  IVI  ö  b  i  u  s  festgestellten  Grenzen  des  Begriffes 
Biozönose,  indem  er  von  biotischen  Faktoren  ab- 
hängige, d.  h.  auf  andere  Lebewesen,  Pflanzen 
oder  Tiere  angewiesene  Einheiten  den  Biozönosen 
koordiniert,  Einheiten,  welche  denselben  unter- 
geordnet, nur  Glieder  derselben  sein  können. 
Ebensowenig  wie  die  Sippensystematik  von  der 
Physiolologie  aufgestellte  Einheiten  in  ihr  System 
aufnehmen  kann,  ebensowenig  sollte  die  Biozöno- 
logie  die  von  der  „Symphysiologie"  (H.  Gams 
191 8)  gelieferten  Einheiten  etwa  als  „niedere  Bio- 
zönosen" (A.  Thienemann,  Lebensgemeinschaft 
und  Lebensraum,  Naturwissenschaftliche  Wochen- 
schrift 191 8,  Nr.  20  u.  21)  den  Biozönosen  gleich- 
wertig zur  Seite  stellen.  Um  das  Beispiel  von 
Thienemann  zu  verwenden,  so  sind  das  Eichen- 
blatt mit  Gallen  und  Galltieren,  deren  Parasiten 
und  Einmietern,  IVlinierräupchen,  Pilzen  usw., 
ferner  die  Eichenrinde  mit  ihren  Organismen,  die 
ganze  Eiche  mit  all  den  auf  ihr  lebenden  Tieren 
und  Pflanzen  keine  Gemeinschaften,  welche  in 
das  System  der  Biozönosen  aufgenommen  werden 
können,  sie  sind  ja  jeweils  wieder  von  biotischen 
Faktoren  abhängig,  das  Blatt  mit  seinen  Be- 
wohnern von  der  Eiche,  die  Eiche  wiederum  von 
den  Lebewesen  des  Bodens,  in  dem  sie  wurzelt. 
Erst  der  ganze  Wald,  in  dem  die  Eiche  steht, 
mit  allen  Pflanzen  und  Tieren  ist  wesentlich  von 
biotischen  Faktoren  unabhängig,  er  nur  ist  eine 
Biozönose. 

Das  Wesen  der  Biozönose  liegt  in  erster 
Linie  begründet  in  ihren  Anpassungen  an  Klima, 
edaphische  und  orographische  Verhältnisse,  in 
der  „Auswahl  der  Arten",  welche  sie  zusammen- 
setzen, in  der  Geschichte  ihres  Lebensraumes, 
ferner  in  der  Art  ihrer  Entstehung,  in  der  Art 
der  Bindung  der  sie  zusammensetzenden  Einheiten. 
Aus  der  Definition  des  Begriffes  geht  hervor, 
daß  die  Biozönose  nur  „heterotypisch"  (P  e  t  r  u  c  c  i , 
Origines  polyphyletiques,  homotypie  et  non  com- 
parabilite  directe  des  societes  animales.  Notes  et 
memoires  de  l'institut  Solvay,  Bruxelles  1906, 
Heft  7)  sein  kann,  d.  h.  aus  Lebewesen  verschie- 
dener Art  zusammengesetzt.  Neben  zahlreichen 
Arten,  welche  auch  in  anderen  Einheiten  gedeihen 
können,  muß  jeder  Biozönosentypus  jeweils  eine 
Gruppe  bestimmter  Arten  enthalten,  die  in  ihrer 
Kombination  nur  dieser  Einheit  angehören  und 
die  für  ihn  charakteristisch  ist.  Auf  dem  gegen- 
wärtigen Stand  der  biozönologischen  Forschung 
spielt  die  Untersuchung  der  pflanzlichen  Glieder 
der  Biozönosen  die  Hauptrolle.     Sie  sind   für  die 


Einheit  meist  wichtiger  als  die  Tiere.  Ihre  Kennt- 
nis vermag  schon  einen  weitgehenden  Einblick 
in  das  Wesen  einer  Biozönose  zu  geben.  Die 
„Phytozönologie"  ist  der  Biozönologie  vorausge- 
gangen, sie  hat  bisher  am  meisten  zur  Gewinnung 
eines  Systems  der  Biozönosen  beigetragen. 

Die  wichtigsten  Einheiten  der  Phytozönologie 
sind :  die  einzelne,  konkrete,  als  Individuum  einer 
Phytozönose  erkannte  Gemeinschaft,  der  „Lo kal- 
best and".  Derselbe  ist  entweder  lokal  be- 
dingt, d.  h.  er  verdankt  sein  Entstehen  nur 
lokal  wirkenden  Faktoren  (z.  B.  P"elsfluren  in 
ozeanischem,  warmen  Klimagebiet)  oder  er  ist 
allgemein  bedingt,  d.  h.  die  Lebensfaktoren 
sind  über  größere  Strecken  hin  wirksam;  er  ist 
entweder  extrem,  d.  h.  sein  Charakter  wird 
durch  einen  oder  wenige  spezielle,  extreme  Fak- 
toren (Bodenverhältnisse,  Wind,  Feuchtigkeit  usw.) 
geprägt  oder  ein  „harmonischer",  d.  h.  er 
verdankt  seinen  Charakter  einem  Faktorenkomplex, 
aus  welchem  nicht  einzelne,  extrem  ungünstige, 
völlig  isoliert  heraustreten. 

Durch  Abstraktion  wird  aus  den  wesensgleichen 
Lokalbeständen  der  Begriff  „Assoziation" 
(im  Sinne  von  Braun-Blanquet,  1921)  ge- 
wonnen. —  Ein  „Assoziationsfragment" 
(Braun-Blanquet,  1918)  ist  eine  Gruppe  von 
Arten  einer  Assoziation,  welche  unter  entsprechen- 
den Bedingungen  isoliert  innerhalb  anderen  Assozia- 
tionen auftreten ;  nahe  verwandt  damit  ist  die 
„Elementarassoziation"  Drudes  („Die 
Elementarassoziation  im  Formationsbilde".  Bericht 
der  Freien  Vereinigung  für  Pflanzengeographie 
und  systematische  Botanik  für  die  Jahre  191 7  und 
191 8).  Ein  Beispiel  eines  solchen  Assoziations- 
fragmentes ist  das  Vorkommen  von  Anemone 
Hepatica,  Pulmonaria  officinalis,  Carex  alba  und 
anderen  Buchenwaldpflanzen  inmitten  des  Föhren- 
waldes mit  Calluna  -  Unterwuchs  der  Umgebung 
von  Nürnberg  und  zwar  da,  wo  dem  sterilen 
Stubensandstein  kleine  Fetzen  dolomitischer  Ar- 
kose  auflagern. 

Für  eine  Übersicht  der  biozönologischen  Ein- 
heiten großer  Gebiete  sind  von  besonderem  Wert 
die  „allgemein  bedingten"  Lokalbestände.  Ebenso 
wie  etwa  die  Geologie  einzelne  stratigraphische 
Profile  an  verschiedenen  Lokalitäten  untersucht, 
um  zuletzt  die  Teile  nach  ihrer  auf  die  Leit- 
fossilien begründeten  Verwandtschaft  zu  den  stra- 
tigraphischen  Formationen  zusammenzufügen ,  so 
kann  die  Biozönologie  die  durch  Analyse  gewon- 
nenen einzelnen  Lokalbestände  gleicher  Art,  welche 
den  Charakter  von  „allgemeinbedingten"  Lokal- 
beständen tragen,  samt  den  mit  ihnen  floristisch 
verwandten  lokalbedingten  und  den  Assoziations- 
fragmenten entsprechenden  zu  einer  biozönologi- 
schen Einheit  höherer  Ordnung  summieren,  für 
welche  ich  das  Wort  Hauptzönose  vorschlagen 
möchte.  Sie  dürfte  z.  T.  der  „B  i  o  c  h  o  r  e"  K  ö  p  - 
pens  entsprechen  (W.  Koppen,  Versuch  einer 
Klassifikation  der  Klimate  vorzugsweise  nach  ihren 
Beziehungen  zur  Pflanzenwelt,  Geogr.   Zeitschrift 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


1900),  welches  Wort  von  Vahl  1911,  Raun- 
kiär,  Rikli  1913,  Garns  191 8  fälschlicherweise 
im  Sinne  von  Grenzlinie  gebraucht  worden  ist. 
Vgl.  hierzu  auch  die  „Life  Zones"  von  M  e  r  r  i  a  m 
(C.  H.  Merriam,  Life  zones  and  Crop  zones  of 
the  United  States.  U.  S.  Dep.  of  Agriculture 
Bulletin  nr.  10,  1898).  Eine  solche  Einheit  ist 
z.  B.  die  Buchen-Hauptzönose  IVlitteleuropas.  Sie 
besteht  aus  sämtlichen  typischen  Lokalbeständen 
von  Fagus  silvatica,  dazu  kommen  etwa  Lokal- 
bestände, in  welchen  die  Buche  durch  eine  öko- 
logisch ähnliche  Art  ersetzt  sein  kann,  die  jedoch 
die  für  den  typischen  Buchenwald  charakteristische 
Artengruppe  enthalten,  wie  etwa  diejenigen  von 
Carpinus  Betulus  in  Polen,  welche  von  F.  Tessen- 
dorff  (Vegetationsskizze  vom  Oberlaufe  der 
Schtschara  Gouv.  Minsk  und  Grodno.  Berichte 
der  freien  Vereinigung  für  Pflanzengeographie  und 
systematische  Botanik  für  das  Jahr  1920,  Berlin 
1921)  geschildert  worden  sind,  ferner  Schuttfluren, 
Felsfluren,  Geröllfluren  usw.,  welche  von  den  für 
das  Buchengebiet  charakteristischen  Arten  vor- 
wiegend besiedelt  werden.  Nicht  dazu  gehören 
im  Areal  der  Buchen-Hauptzönose  liegende  Misch- 
bestände von  Buchen  und  Fichten,  deren  Begleit- 
flora zu  wesentlichen  Teilen  der  Fichten-Haupt- 
zönose  entstammen,  wie  sie  etwa  in  den  höheren 
Teilen  der  Voralpentäler  anzutrefi'en  sind,  oder 
mit  einem  lockeren  Bestand  von  Buchen  be- 
stockte Schutthänge  der  oberen  montanen  Stufe 
der  Voralpen,  welche  mit  subalpinen  Hochstauden 
bedeckt  sind,  oder  Felsfluren,  deren  Charakter- 
arten der  pontischen  Steppe  angehören.  Die 
Hauptzönose  der  Buche  bedeckt  so  ein  Areal, 
welches  vielfach  durchbrochen  wird  von  der 
Hauptzönose  der  Fichte,  von  der  Hauptzönose 
des  Quercus  sessiliflora  —  Tilia  cordata-Misch- 
waldes  usw.  Die  Größenordnung  der  Areale  dieser 
Hauptzönosen  dürfte  etwa  derjenigen  ähneln, 
welche  A.  K.  Cajander  („Zur  Frage  der  gegen- 
seitigen Beziehung  zwischen  Klima,  Boden  und 
Vegetation",  Acta  forestalia  fennica  1921.  Hel- 
singfors  1921)  für  seine  Klimatypen  beansprucht 
hat. 

Wenn  in  einem  Gebiet  mit  natürlichen  Ver- 
hältnissen restlose  Aufteilung  der  vorhandenen 
Vegetationseinheiten  nicht  möglich  ist,  so  ge- 
hören diese  nicht  unterzubringenden  Lokalbestände 
den  Zönosen  eines  Nachbargebietes  an,  oder  aber 
sie  deuten  auf  Zugehörigkeit  zu  einer  der  Haupt- 
zönose   übergeordneten    biozönologischen  Einheit. 

Damit  soll  natürlich  nicht  gesagt  sein,  daß  jeder 
beliebige  Vegetationsausschnitt  sich  einreihen  ließe. 
In  einem  florengeschichtlich  jungen  Gebiete  werden 
sich  unausgeglichene  Vegetationsdecken  oft  sehr 
heterogener  Art  finden,  wie  z.  B.  die  Heidewiesen 
der  bayrischen  Hochebene,  und  in  einem  vom 
Menschen  beeinflußten  Gebiete  sind  ausgeglichene, 
natürliche  Pflanzengemeinschaften  meist  nur  noch 
in  undeutlichen  Spuren  vorhanden. 

Daß  in  der  Hauptzönose  auch  nicht  ganz  gleich- 
wertige   Elemente     mit     eingeschlossen    werden, 


widerspricht  dem  Wesen  der  Biozönosen  durch- 
aus nicht,  sind  doch  auch  die  derselben  unter- 
geordneten Einheiten  heterotypischer  Art.  Im 
Gegensatz  zur  Sippensystematik,  in  der  die  Be- 
trachtung der  Summe  der  Individuen  einer  Art 
geringen  praktischen  Wert  hat,  dürfte  in  der 
Phytozönologie  bei  dem  unter  natürlichen  Ver- 
hältnissen oft  gewaltigen  Umfang  der  Lokal- 
bestände dem  Begriff'  der  Summe  erhöhte  Wich- 
tigkeit beigemessen  werden,  da  dieselbe  dann  sehr 
wohl  eine  übersichtliche  Darstellung  der  Vegeta- 
tion großer  Gebiete  ermöglicht. 

Wie  etwa  in  der  Geographie  eine  Übersicht 
über  die  Gebirge  der  Erde  gewonnen  wird  ein- 
mal durch  Gruppierung  genetisch  verwandter  Ge- 
birge (z.  B.  Alpiden,  Tauriden,  Altaiden  usw.)  und 
dann  durch  Aufstellen  eines  Systems  von  Typen 
(Schollengebirge,  Deckengebirge  usw.),  so  ergibt 
auch  in  der  Phytozönologie  das  Nebeneinander 
der  konkreten  Einheiten  höherer  Ordnung  (Haupt- 
zönose, Biochore)  eine  Übersicht  über  die  Vege- 
tation der  Erde,  welche  neben  der  Einteilung 
nach  abstrakten  Einheiten  ökologisch-physiogno- 
mischer  Art  (Vegetationstypus,  Hauptisözie  usw.) 
wohl  berechtigt  ist,  zumal  sie  freier  von  Hypo- 
thesen die  Verhältnisse  wiederzugeben  imstande 
ist,  und  zumal  die  bis  jetzt  existierenden  Systeme 
nicht  natürliche  genannt  werden  können.  An  ein 
natürliches  System  müssen  mindestens  folgende 
Anforderungen  gestellt  werden;  Die  Eintei- 
lung muß  nach  denjenigen  Prinzipien  bewerk- 
stelligt werden,  welchen  die  Einheiten  ihre  Ent- 
stehung verdanken;  dabei  muß  das  Verwandte 
nebeneinander  zu  stehen  kommen.  Daraus  folgt, 
daß  es  für  Gebilde  einheitlicher  Entstehung  jeweils 
nur  e  i  n  natürliches  System  geben  kann,  daß  aber 
Erscheinungen  so  zusammengesetzter  Art  und 
Entstehungsweise  wie  die  Biozönosen  nicht  in  ein 
solches  gebracht  werden  können.  Bei  dem  heuti- 
gen Stande  der  Phytozönologie  wird  es  jedenfalls 
sehr  schwer  sein,  das  Einteilungsprinzip  zu  finden, 
welches  dem  natürlichen  am  nächsten  kommt 
und  in  sich  die  wesentlichen  Faktoren  der  Phyto- 
zönosen  in  glücklicher  Weise  kombiniert.  Ein 
Anordnungsprinzip,  d.  h.  ein  Prinzip,  nach  welchem 
die  verwandten  Reihen  angeordnet  werden,  dürfte 
leichter  zu  finden  sein.  Hierzu  könnte  vielleicht 
die  Menge  der  von  der  Einheit  produ- 
zierten lebenden  Substanz  dienen,  wonach 
an  den  Anfang  des  Systems  etwa  die  offienen 
Phytozönosen  der  Kältewüsten,  an  das  Ende  des- 
selben die  tropischen  Regenwälder  zu  stehen 
kämen.  Dieses  Prinzip  dürfte  sich  nahezu  decken 
mit  dem  von  Braun-Blanquet  (Prinzipien 
einer  Systematik  der  Pflanzengesellschaften  auf 
floristischer  Grundlage,  Jahrbuch  der  St.  Galle- 
schen Naturwissenschaftlichen  Gesellschaft  57.  Bd., 
II.  Teil,  1920  und  1921)  vorgeschlagenen,  nämlich 
der  fortschreitenden  Organisations- 
höhe, wonach  das  „soziologisch"  Einfachste  am 
Anfang  und  das  Vollkommenste  am  Schluß  des 
Systems  steht. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


521 


Im  wesentlichen  die  gleichen  Phänomene  be- 
handelt die  Synusiologie  (Garns  1918).  Sie 
zerlegt  die  topographischen  Einheiten  in  ökologi- 
sche Gruppen,  indem  sie  als  Grundlage  nicht  die 
Art,  sondern  die  Lebensform  (Wuchsform),  ein 
beim  heutigen  Stande  der  Ökologie  allerdings 
noch  in  hohem  Maße  hypothetisches  Element  be- 
nützt. Diese  Gruppen  von  gleichem  Haushalt 
bestehen  aus  einer  oder  meist  mehreren  selbstän- 
digen, d.  h.  nicht  an  die  Anwesenheit  anderer 
Lebewesen   gebundenen   Arten   („Synusie    i.  und 

2.  Grades"  bei  Garns  191 8,  „Verein"  bei  War- 
ming  1907)  oder  mehrere  solcher  Gruppen  nach 
ihren  Ansprüchen  und  ihrer  Lebensform  überein- 
stimmende Arten  treten  zu  einer  in  sich  eng  ver- 
bundenen Gemeinschaft  höheren  Grades  zusammen 
(Synusie  3.  Grades  bei  Gams  191 8).  Die  kon- 
kreten Einheiten  nennt  Gams  Bestand,  wenn 
sie  aus  einer  oder  mehreren,  ökologisch  ähnlichen 
Arten  zusammengesetzt  sind,  Siedlung,  wenn 
mehrere  ökologische  Gruppen  eine  ökologische 
Einheit  bilden,  diese  dürfte  mit  dem  biozönologischen 
„Lokalbestand"  übereinstimmen.  Die  innerhalb 
mehrerer  Florengebiete  einander  entsprechenden 
Einheiten  nennt  Gams  Isözien.  Beispiele  einer 
Synusie  i.  Grades  sind  die  Reinbestände  von 
Calluna  auf  Sandboden  des  ozeanischen  Mittel- 
europa; einer  Synusie  2.  Grades  die  Bestände 
von  Vaccinium  uliginosum  mit  Empetrum  in  der 
alpinen    Stufe    der    Zentralalpen;    einer    Synusie 

3.  Grades  der  typische  subalpine  Fichtenwald. 

Die  bisher  erwähnten  Organismenverbände 
sind  nur  von  äußeren  Faktoren  abhängig,  von 
biotischen  Faktoren  aber  ganz  oder  wesentlich 
unabhängig.  Die  jetzt  zu  besprechenden  Ver- 
bände sind  außer  von  ihrer  abiotischen  Umgebung 
auch  von  den  Lebewesen  ihres  Lebensraumes  in- 
direkt abhängig  und  infolgedessen  den  ersteren 
untergeordnet.  Sie  sind  homotypisch  oder  hetero- 
typisch. Mit  ihnen  beschäftigt  sich  die  Autöko- 
logie, die  Soziologie,  die  idiobiologische  Morpho- 
logie und  Physiologie. 

Die  hierher  gehörigen  Einheiten,  mit  welchen 
sich  die  Autökologie  beschäftigt,  sind  meist 
heterotypisch,  sie  sind  außerordentlich  formen- 
reich und  durch  gegenseitige  oder  einseitige  mehr 
oder  weniger  große  Abhängigkeit  charakterisiert. 
Wichtige  heterotypische  sind:  Das  Sympho- 
rium(P.  Deegener,  Die  Formen  der  Verge- 
sellschaftung im  Tierreiche,  Leipzig  191 8),  welches 
durch  räumliche  Abhängigkeit  einer  Art  von  einer 
anderen  zustande  kommt,  eine  Art  lebt  auf  dem 
Körper  einer  anderen,  ohne  daß  eine  weitere  Be- 
ziehung zwischen  beiden  eintritt.  Hierher  gehören 
z.  B.  die  pflanzlichen  Epiphyten  (Nestbildende 
Platycerium- Arten,  Bromelia-Arten,  Tillandsia  usw.), 
ferner  die  auf  den  Schalen  von  Muscheln  sitzen- 
den Balaniden,  die  Batrachospermumrasen  auf 
Limnaea  stagnalis  usw.  usw.  Das  Parasitium, 
das  charakterisiert  wird  durch  einseitige  vollstän- 
dige Abhängigkeit  eines  Individuums  von  einem 
anderen,   das  Synözium,   das  Helotium  und 


viele  andere  solcher  Einheiten;  vgl.  hierzu  K. 
Kräpelin,  Die  Beziehungen  der  Tiere  zueinan- 
der und  zur  Pflanzenwelt.  Aus  Natur  und  Geistes- 
welt, Leipzig  -  Berlin  1905  und  die  Arbeit  von  P. 
Deegener  1918,  in  welcher  eine  große  Anzahl 
derartiger  Einheiten  beschrieben  und  benannt 
werden.  Hierher  gehören  auch  die  oben  erwähnten 
„abhängigen  Gesellschaften"  im  Sinne  von  Braun- 
Blanquet  und  ein  Teil  der  Synusien  von  Gams 
und  der  Elementarassoziationen  von  Drude. 
Homotypische  Einheiten  dieser  Art  sind :  Die 
Platz  gesellsch  aft  (Deegener  1918),  welche 
durch  zufalliges  Zusammentreten  von  gleichartigen 
Lebewesen  an  einer  günstigen  Lokalität  zustande 
kommt,  die  Freßgesellschaft  (z.B.:  Aaskäfer 
an  einem  Aas),  die  Wandergesellschaft 
(z.  B. :  Wanderheuschrecken)  und  viele  andere. 
Dazu  gehören  auch  die  organisch  verbundenen 
Einheiten,  wie  sie  in  den  Tierstöcken  vorliegen. 
Bei  diesen  kann  die  gegenseitige  Anpassung  sogar 
zu  weitgehender  Arbeitsteilung  und  Differenzierung 
gedeihen ,  z.  B.  bei  den  Siphonophoren.  Ein 
natürliches  System  ist  bei  der  Vielgestaltigkeit  der 
Bildungsweisen  unmöglich.  Die  Möglichkeiten 
einer  übersichtlichen  Gruppierung  sind  dem  mannig- 
faltigen Wesen  dieser  Einschnitte  entsprechend 
zahlreiche.  Die  Anordnung  erfolgt  praktisch  nach 
dem  Grad  der  Anpassung  und  Abhängigkeit  der 
Glieder  voneinander. 

Übrig  geblieben  sind  jetzt  im  wesentlichen 
nur  noch  homotypische,  abhängige  Einheiten.  Sie 
gehören  in  das  Gebiet  der  Soziologie,  Morpho- 
logie und  Physiologie.  Die  letztere  erforscht  die- 
jenigen Formen  des  Zusammenseins  von  Organis- 
men, welche  auf  Grund  geschlechtlicher  und  un- 
geschlechtlicher Fortpflanzung  zustande  kommen, 
wie  z.  B.  Herden  von  Pflanzen  und  Tieren,  welche 
durch  Ausläuferbildung,  Brutknospenbildung,  Sa- 
menausstreuung, Ausschlüpfen  aus  Eihaufen  usw. 
zustande  kommen  (z.  B. :  bei  Hieracium  Pilosella, 
Lycopodium  Selago,  Sagina  nodosa.  Arenaria  ser- 
phyllifolia,  bei  Spinnen,  Borkenkäfern  usw.),  ferner 
die  verschiedenen  Formen  der  Familien  (Mutter- 
familie, Elternfamilie  usw.)  und  der  Ehe.  Die 
Morphologie  untersucht  die  durch  das  Prinzip 
der  Arbeitsteilung  und  Differenzierung  besonders 
charakterisierten  homotypischen  Verbände  orga- 
nisch verknüpfter  Individuen,  die  Koloniebildungen 
der  Protozoen,  die  Verbände  der  Zellen  im  Meta- 
zoenkörper  und  in  der  mehrzelligen  Pflanze. 

Mit  zum  wesentlichen  Teile  homotypischen 
Einheiten  befaßt  sich  die  Soziologie.  Die 
Frage  nach  der  Natur  der  menschlichen  Gesell- 
schaft haben  zuerst  die  griechischen  Sophisten 
aufgestellt.  Aristoteles  hat  dieselbe  als  ein 
natürliches  Wesen  erkannt,  das  auf  die  nämliche 
Weise  wie  die  Natur  erforscht  werden  muß.  Doch 
noch  bei  Rousseau  findet  sich  die  entgegen- 
gesetzte Ansicht  vom  Staat  als  Kunstwerk,  ge- 
schaffen und  erhalten  durch  die  Vernunft  der 
Bürger.  Erst  Kant  und  später  Hegel  versuchen 
beide  Ansichten   zu   vereinigen.     Die   nur  speku- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


lative,  vom  ethischen  Standpunkt  ausgehende  Er- 
forschung der  soziologischen  Probleme,  wie  sie 
vom  Altertum  bis  zur  Neuzeit  (A  u  g  u  s  t  i  n , 
Spinoza,  Rousseau,  Fichte  u.  a.)  herrschend 
war,  wird  im  Laufe  des  18.  und  19.  Jahrhunderts 
mehr  und  mehr  von  induktiven,  analytischen  und 
experimentellen  Methoden  verdrängt.  Außer  der 
Geschichte  und  Nationalökonomie  befaßt  sich  jetzt 
auch  die  Biologie  mit  denselben.  A.  Comte 
(Cours  de  philosophie  positive,  Paris  1830 — 42 
und  Systeme  de  politique  positive  1822)  begrün- 
det die  Soziologie  als  selbständiges  Forschungs- 
gebiet auf  naturwissenschaftlicher  Grundlage.  Ihr 
Arbeitsgebiet  ist  nach  ihm  die  Erforschung  der 
Statik  und  Dynamik  der  menschlichen  Gesellschaft. 
In  dem  mehrfachen  Wandel,  den  die  Soziologie 
durchgemacht  hat,  ist  der  Punkt,  welcher  uns  hier 
allein  interessiert,  das  Verhältnis  zur  Biologie, 
einer  der  wandelbarsten  gewesen.  Spencer  be- 
schränkt wie  Comte  die  Aufgabe  der  Soziologie 
auf  die  menschlichen  Verhältnisse.  A.  Espinas 
(Les  societes  animales,  Paris  1875,  übersetzt  nach 
der  2.  Auflage  von  W.  Schloesser,  Braun- 
schweig 1879),  welcher  als  erster  die  sozialen  Er- 
scheinungen bei  den  Tieren  umfassend  behandelt 
und  dieses  Forschungsgebiet  als  Soziologie  der 
Tiere  bezeichnet  hat  (vgl.  auch  die  wertvolle  histo- 
rische Einleitung  der  Arbeit  von  E  s  p  i  n  a  s),  schließt 
in  die  der  Soziologie  zufallenden  Erscheinungen 
nicht  nur  die  Verbände  freier,  nicht  durch  orga- 
nische Bande  verknüpfter  Tierindividuen  ein,  son- 
dern auch  die  Verbände  der  Zellen  im  IVIetazoen- 
körper  und  die  Kolonien  der  Protozoen,  ja  er  ist 
geneigt,  noch  weiter  zu  gehen:  „Sollte  es  einem 
exakten  Beobachter  gelingen,  in  den  Beziehungen 
der  Pflanzen  zueinander  oder  in  den  Beziehungen 
der  Teile  einer  und  derselben  Pflanze  Spuren 
eines  Zusammenwirkens  nachzuweisen,  so  würden 
wir  in  der  Einverleibung  dieser  Ergebnisse  in  die 
soziale  Wissenschaft  gar  keine  Schwierigkeiten 
sehen."  E  s  p  i  n  a  s  beschränkt  sich  jedoch  schließ- 
lich auf  die  homotypischen  Verbände  freier  Indi- 
viduen und  auf  die  Zellsozietäten  der  Tiere,  spricht 
heterotypischen  Organismenverbänden  die  Fähig- 
keit, „normale"  Gesellschaften  („Sozietäten")  zu 
bilden,  ab  und  behandelt  dieselben  nur  als  zufällige 
Assoziationen.  Eine  ähnliche  Auffassung  vertritt 
Petrucci  (1.  c.)  Ganz  auf  biologischem  Boden 
steht  auch  der  vielfach  E  s  p  i  n  a  s  sich  anschließende 
Zoologe  P.  Deegener  (I.e.).  Er  gibt  eine  um- 
fassende Übersicht  über  die  Fülle  der  IVIöglich- 
keiten  des  Zusammenlebens  der  Tiere  und  be- 
zieht sowohl  homotypische  wie  heterotypische 
Verbindungen  freier  Individuen,  Zellsozietäten  und 
Protozoenkolonien  in  sein  „System"  ein,  alle  diese 
Einheiten  in  die  Gruppen  der  akzidentiellen, 
d.  h.  zufälligen  Assoziationen  und  der  essen- 
tiellen, d.  h.  zweckhaften  Sozietäten  scheidend. 
Bezeichnenderweise  läßt  sich  Deegener  auf 
eine  Diskussion  der  Beziehungen  seines  Systems 
zur  Soziologie  nicht  ein.  Logischerweise  ist  die 
Soziologie   ein  Spezialgebiet   der  Biologie.     Doch 


verfügt  die  heutige  Biologie  noch  nicht  über  die 
Mittel,  das  ganz  eigentümliche  Wesen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  zu  erfassen,  könnte  deshalb 
auch  nicht  in  einem  rein  „biologischen"  System 
derselben  gerecht  werden,  andererseits  findet  die 
überwiegend  geisteswissenschaftlich  orientierte 
Soziologie  unter  den  sozialen  Phänomenen  der 
Tierwelt  Ansätze  zu  Bildungen ,  welche  den 
menschlichen  Einrichtungen  verwandt  sind,  und 
bezieht  so  die  tierischen  Gesellschaften  in  ihre 
Interessensphäre  ein,  wenigstens  soweit  sie  auf 
psychischer  Bindung  beruhen.  So  ist  es  die  Auf- 
gabe der  Tierpsychologie,  die  in  das  Gebiet  der 
Soziologie  („Tiersoziologie")  fallenden  Formen  des 
Gemeinschaftslebens  abzutrennen.  Dieselbe  scheint 
diese  Grenze  erst  bei  sehr  hochentwickelten 
Säugern  und  Insekten  suchen  zu  wollen;  vgl. 
hierzu:  Waxw eiler,  Sur  la  modification  des 
instincts  sociaux.  Societe  de  l'anthropologie 
Bruxelles  1907;  Georges  Bohn,  Die  neue 
Tierpsychologie ,  übersetzt  von  R.  T  h  e  s  i  n  g , 
Leipzig  1912. 

Die  soziologischen  Einheiten  Dauerehe  (im 
Gegensatz  zur  kurzfristigen  Ehe  mit  nur  sexuellen 
Zielen,  welche  keine  soziale  Einheit  ist),  Fami- 
liengruppe, Herde,  Volk  usw.  sind  zunächst 
stets  homotypisch,  sie  zeigen  Arbeitsteilung,  die 
Bindung  ist  psychischer  Art  und  setzt  ein  hoch- 
entwickeltes Zentralnervensystem  voraus.  Ein 
durchgehendes  Klassifikationsprinzip,  welches  ihrem 
Wesen  und  Bildungsgesetzen  gerecht  würde,  fehlt 
bis  jetzt  noch.  Die  Deszendenztheorie,  welche 
die  Klassifikation  der  tierischen  und  pflanzlichen 
Sippen  ermöglicht,  läßt  im  Stich.  Der  Versuch 
von  W.  Stempeil  (Entwicklungsgeschichte  der 
Tiergesellschaften.  Mitteilungen  aus  dem  zoolog. 
Inst,  der  Westf.  Wilh.Univ.  Münster  i.  W.,  Heft  2, 
1920)  als  Klassifikationsprinzip  der  Tiergesellschaf- 
ten (welche  er  im  gleichen  Umfange  einbezieht  wie 
Espinas,  Petrucci,  Deegener),  die  Entwick- 
lungstheorie zu  verwenden,  kann  höchstens  dem 
Zoologen  eine  Übersicht  liefern,  ist  aber  für  die 
Soziologie  wertlos,  denn  die  Ansätze  zur  sozialen 
Bildung  zeigen  sich  ja  an  den  verschiedensten 
Stellen  auf  ganz  verschiedenen  Entwicklungs- 
stufen der  Tierwelt  und  durchlaufen  vielfach 
nur  kurze  Strecken  des  Stammbaumes,  oft  in 
rascher  Entwicklung.  Als  Anordnungsprinzip  der 
soziologischen  Einheiten  im  System  könnte  der 
Grad  der  Arbeitsteilung  und  der  Differenzierung 
der  in  der  Einheit  verbundenen  Einzelorganismen 
dienen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  auf  die  psychischen 
Bindungen  zwischen  ungleichartigen  Tieren  hin- 
gewiesen, welche  mit  sich  gegenseitig  ergänzenden 
Fähigkeiten  ausgestattet  erhöhte  Sicherheit  ein- 
ander gewährleisten  (z.  B.  Wildpferde  und  Strauße, 
Giraffen  und  Elefanten).  Besondere  Berücksich- 
tigung verlangen  auch  Eigentümlichkeiten,  welche 
bei  hoch  differenzierten  Sozietäten  auftreten  und 
welche  wohl  geeignet  sind,  denselben  über  den 
Wert   von   Sozietäten   hinaus   einen   höheren  Ge- 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


523 


meinschaftswert  zu  verleihen.  Ameisenvölker  aus 
der  Gruppe  der  Attini  kultivieren  Pilze,  andere 
Arten  (Azteca  olithrix,  A.  Ulei,  Camponotus  femo- 
ratus  u.  a.)  säen  epyphytische  Pflanzen  in  ihre 
hoch  oben  in  Baumwipfeln  angelegten  Nester,  um 
denselben  mehr  Festigkeit  zu  geben.  Wieder 
andere,  welche  die  Exkrete  von  Blattläusen  ver- 
zehren, pflegen  dieselben  und  deren  Eier.  Sie 
bauen  schützende  Hüllen  um  sie,  sorgen  für  Nah- 
rung, ja  sie  legen  unterirdische  Blattlausställe  (für 
Wurzelaphiden)  an  und  gewinnen  so  reichlich 
Nahrung  von  ihren  „Kühen",  daß  sie  auf  den 
Nahrungserwerb  außerhalb  des  Nestes  verzichten 
können.  Die  Domestikation  dieser  Aphiden  kann 
so  weit  gehen,  daß  dieselben  ohne  die  Pflege  der 
Ameisen  lebensunfähig  sind.  Ähnliche  Beziehungen 
bestehen  zu  Cocciden  und  Lycäniden  und  kommen 
auch  bei  Termiten  vor.  Durch  diese  von  den 
Ameisenbiologen  Trophobiose  genannte  Form 
der  Symbiose  erwerben  sich  die  betreffenden 
Ameisenvölker  eine  gewisse  Unabhängigkeit  von  der 
Biozönose,  innerhalb  welcher  sie  leben.  Dazu  mag 
auch  die  bei  einigen  Arten  vorkommende  Sklaven- 
haltung und  Adoption  (vgl.  K.  Escherich,  Die 
Ameise.  Braunschweig  19 17)  beitragen.  Bei  den 
Wirbeltieren  zeigt  sich  Emanzipation  von  den 
niederen  biozönologischen  Einheiten  bei  den  Zug- 
vögeln und  dann  in  ganz  besonderem  Maße  beim 
Menschen.  Der  primitive  Mensch  ist  noch  steno- 
top,  d.  h.  er  ist  nur  an  wenige  Biozönosen  an- 
gepaßt. Der  Paläolithiker  war  z.  B.  auf  waldfreie 
Gebiete  angewiesen;   er   hat   den  wildarmen  Ur- 


wald gemieden,  in  welchem  er  hätte  verhungern 
müssen.  Auch  heute  kann  bei  primitiven  Völker- 
schaften weitgehende  Stenotopie  beobachtet 
werden.  K.  Sapper  (Über  Stenothermie  der 
Tropenbewohner.  Mittlgn.  d.  Geogr.-  Ethnogr. 
Ges.  Zürich  1918/19,  Bd.  XIX)  schreibt  vom  Aus- 
sterben von  Indianerfamilien  des  Hochlandes  von 
Guatemala,  welche  im  Tiefland  sich  ansiedelten, 
und  kommt  bei  Untersuchung  über  die  Wohn- 
plätze der  verschiedenen  Indianerstämme  des  nörd- 
lichen Mittelamerika  zum  Ergebnis,  daß  diese 
kleinen  Völkerschaften  zumeist  Gebiete  bewohnen, 
die  in  sich  „ziemlich  einheitlicher"  Natur 
sind.  Er  beobachtet  Trennung  in  „biologisch 
recht  verschiedene  Zweige  besonderer  Arbeitsart", 
wo  ein  Indianervolk  sich  über  zwei  Vegetations- 
formationen, Urwald  und  Savannenland  ausbreitet. 
Aus  seiner  Stellung  als  untergeordnetes  Glied 
einer  oder  weniger  Biozönosen  macht  sich  der 
Mensch  mit  fortschreitender  Kultur  (Arbeitsteilung, 
Verbesserung  der  Werkzeuge,  Tier-  und  Pflanzen- 
zucht) mehr  und  mehr  los,  nimmt  den  Kampf 
gegen  den  Wald  siegreich  auf,  entwässert  Sumpf- 
gebiete, bewässert  arides  Land  und  rückt  so  selb- 
ständiger werdend  in  immer  höhere  Ordnungen 
der  biozönotischen  Einheiten  ein,  um  zuletzt 
durch  eine  große  Auswahl  von  Kulturpflanzen 
und  Tieren  unabhängig  gemacht,  und  eine  den 
niederen  Biozönosen  gleichwertige  und  mit  der- 
selben in  Konkurrenz  tretende  Einheit  schaffend, 
nur  noch  der  letzten  derartigen  Einheit,  der  Ge- 
samtvegetation der  Erde  anzugehören. 


Einzelberichte. 


Geschlechtsbestimmung  und  Reduktions- 
teilung bei  Basidiomyzeten. 

Wie  bei  den  höheren  Pflanzen,  so  findet  auch 
bei  den  Basidiomyzeten  ein  regelmäßiger  Wechsel 
zwischen  Haplophase  und  Diplophase  (Gameto- 
phyt  und  Sporophyt)  statt.  Die  Diplophase 
kommt  hier  dadurcli  zustande,  daß  in  einem  von 
zufälligen  Verhältnissen  abhängigen  Zeitpunkt  der 
Entwicklung  aus  einem  Nachbarmyzel  ein  Kern 
in  eine  Zelle  übertritt.  Alle  Derivate  dieser  Zelle 
sind  weiterhin  zweikernig,  die  Verschmelzung 
findet  erst  in  der  jungen  Basidie  statt.  Hierauf 
teilt  sich  der  Verschmelzungskern  zweimal  hinter- 
einander und  je  ein  Teilkern  wandert  in  die 
4  Basidiosporen.  Da  während  dieser  Tetraden- 
teilung  die  Reduktion  der  Chromosomenzahl  statt- 
findet, so  hebt  mit  der  Spore  die  Haplophase  an. 
Kniep  hat  nun  festgestellt,  daß  bei  manchen 
Hymenomyzeten  der  Geschlechtsakt  ausbleibt, 
und  daß  dessenungeachtet  das  Myzel  zur  Frucht- 
körperbildung schreitet.  Diese  Fruchtkörper  sind 
im  Gegensatz  zu  den  normalen  haploid,  die  Re- 
duktionsteilung unterbleibt  infolgedessen  bei  der 
Sporenbildung,    und    wir   stehen    somit   vor    der 


bemerkenswerten  Tatsache,  daß  der  ganze  Ent- 
wicklungszyklus im  haploiden  Zustand  durchlaufen 
werden  kann.  Man  kann  solch  haploide  Frucht- 
körperbildung erzwingen,  wenn  man  Sporen  ein- 
zeln aussät  und  die  Berührung  mit  anderen  My- 
zelien verhindert.  Weiterhin  hat  sich  ergeben, 
daß  nicht  jedes  Myzel  mit  jedem  anderen  kopu- 
lieren kann,  sondern  daß  offenbar  geschlechtliche 
Differenzierung  vorliegt.  Diese  Verhältnisse  sind 
in  einer  neueren  Arbeit  von  Kniep  (Verh.  der 
physik.-mediz.  Ges.  Würzburg,  N.  F.  47,  1922) 
eingehender  analysiert  worden.  Kniep  ging  bei 
seinen  Experimenten  von  der  Aussaat  einer  Basi- 
diosporenvierergruppe  aus,  um  zu  ermitteln,  wie 
sich  die  vier  aus  ein  und  demselben  Basidienkern 
hervorgegangenen  Myzelien  gegeneinander  ver- 
halten. Es  ergab  sich,  daß  immer  je  2  Myzelien 
einander  gleichwertig  sind,  und  zwar  können  die 
Angehörigen  des  einen  Paares  nicht  unter  sich, 
wohl  aber  mit  jedem  Paarung  des  anderen  Paares 
in  Kopulation  treten,  d.  h.  es  ist  eine  deutliche 
geschlechtliche  Differenzierung  eingetreten.  Die 
beiden  Geschlechter  lassen  sich  schon  äußerlich 
dadurch  unterscheiden,  daß  stets  ein  Paar  der 
jungen  Myzelien  den  anderen  in  der  Entwicklung 


524 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


voraneilt.  Nunmehr  wurden  die  Abkömmlinge 
zweier  verschiedener  Basidiosporentetraden  eines 
und  desselben  Fruchtkörpers  gegeneinander  ge- 
prüft. Es  zeigte  sich  folgendes:  entweder  kopu- 
lieren die  Paarlinge  einer  Vierergruppe  kreuzweise 
mit  je  einem  Paar,  der  anderen,  dann  hat  man  es 
offenbar  mit  2  Basidien  derselben  Konstitution  zu 
tun,  welche  dieselben  beiden  Geschlechtstypen 
nebeneinander  produzieren,  oder  aber  eine  Vierer- 
gruppe reagiert  mit  der  anderen  überhaupt  nicht. 
Es  sind,  wie  sich  herausstellte,  2  Sätze  von  Vierer- 
gruppe vorhanden,  die  sich  gegeneinander  ab- 
lehnend verhalten ,  während  die  Vierergruppen 
ein  und  desselben  Satzes  alle  in  der  geschilderten 
Weise  miteinander  reagieren.  Die  geschlechtliche 
Differenzierung  ist  also  komplizierter,  als  es  an- 
fangs erscheinen  mochte,  es  sind  nämlich  4  ver- 
schiedene Geschlechtsmyzelien  vorhanden,  die 
paarweise  zueinander  gehören.  Wie  kann  man 
sich  nun  die  Verhältnisse  im  einzelnen  erklären  ? 
Darüber  bildete  sich  Kniep  folgende  Vorstellung: 
die  Spaltung  in  Geschlechter  fügt  sich  hier  —  im 
Gegensatz  zu  den  Rostpilzen  —  dem  dihybriden 
Schema.  Es  müssen  2  Faktorenpaare  für  die 
Geschlechtsbestimmung  angenommen  werden : 
Aa  und  Bb.  Das  diploide  Myzel  hat  die  Konsti- 
tution AaBb.  Es  werden  in  üblicher  Weise 
4  Gametensorten  gebildet  AB,  Ab,  aB,  ab  und  es 
sind  16  Kombinationsmöglichkeiten  vorhanden, 
die  sich  auf  9  verschiedene  Genotypen  verteilen. 
Von  diesen  g  Genotypen  sind  4  (nämlich  AA  BB, 
AA  bb,  aaBB  und  aabb)  homozygotisch  in  beiden 
Faktoren,  4  (nämlich  AABb;  AaBB;  Aabb  und 
aaBb)  homozygotisch  in  einem  Faktor,  und  bloß 
einer  heterozygotisch  in  beiden  Faktoren,  nämlich 
AaBb.  Kniep  schließt  nun  weiter:  „da  nun  in 
dem  von  mir  untersuchten  umfangreichen  Material 
von  Aleurodiscus  polygonius,  das  von  verschie- 
dener Herkunft  war,  immer  innerhalb  der  Nach- 
kommenschaft -eines  Fruchtkörpers  vier  (niemals 
mehr  oder  weniger)  geschlechtsverschiedene  My- 
zelien auftraten,  so  ist  der  Schluß  kaum  abweis- 
bar, daß  nur  solche  Kombinationen  möglich  sind, 
bei  denen  vollständige  Heterozygoten  in  bezug 
auf  die  beiden  Faktorenpaare  entstehen".  Dies 
sollen  die  Pfeile  in  dem  beigefügten  Schema  ver- 
anschaulichen. 

AB<-    ^ab 

1     ><     I 

Ab  < »  aB 

Auf  diese  Weise  läßt  sich  auch  in  sehr  ein- 
facher Weise  das  Auftreten  der  2  Sätze  von  Basi- 
diosporen  an  ein  und  demselben  P^ruchtkörper 
erklären.  Der  eine  entspricht  der  Aufspaltung 
des  diploiden  Kerns  in  AB  und  ab,  der  andere 
derjenigen  in  Ab  und  aB.  Da  nur  Befruchtungen 
stattfinden,  die  wieder  zu  vollständigen  Hetero- 
zygoten AaBb  führen,  so  kann  der  erste  Satz  mit 
dem  zweiten  nicht  in  Reaktion  treten,  und  inner- 
halb ein  und  desselben  Satzes  kann  natürlich  auch 
bloß  die  Hälfte  der  Kopulation  gelingen,  nämlich 


Ab  X  aB  oder  aB  X  Ab,  nicht  aber  Ab  X  Ab 
oder  aB  X  aB  usw.  Wie  es  nach  dem  dihybri- 
den Schema  unter  den  gegebenen  Voraussetzungen 
zu  erwarten  wäre,  treten  die  4  Geschlechtstypen 
in  demselben  Mengenverhältnis  auf.  So  betrug 
das  Verhältnis  bei  einem  bestimmten  Fruchtkörper 
50  :  54  :  52  :  54.  Das  deutet  darauf  hin,  daß  die 
Faktoren  A  und  B  in  verschiedenen  Chromosomen 
liegen.  Alle  bisherigen  Angaben  beziehen  sich 
auf  Gametophyten,  die  demselben  Fruchtkörper 
entstammen.  Prüft  man  nun  die  Abkömmlinge 
zweier  an  verschiedenem  Standort  gewachsener 
Fruchtkörper  gegeneinander,  dann  ergibt  sich  die 
auffällige  Tatsache,  daß  alle  Kreuzungen  gelingen. 
Kniep  deutet  dies  so,  daß  die  in  Frage  kommen- 
den Faktorengruppen,  die  Aa  Bb  und  A'a'B'b'  ge- 
nannt sein  mögen,  sich  so  stark  voneinander  unter- 
scheiden, wie  dies  AB  und  ab  innerhalb  desselben 
Fruchtkörpers  tun.  Es  würden  sich  nunmehr  also 
z.  B.  AB  und  A'B'  als  „multiple  Allelomorphe" 
einander  gegenübertreten,  und  vorläufige  Versuche 
scheinen  darauf  hinzudeuten,  daß  auch  sie  ent- 
sprechende Stellen  im  Chromosom  einnehmen. 
Die  geschilderten  Befunde  zeigen,  daß  das  sexuelle 
Verhalten  der  Hyphomyzeten  sehr  kompliziert 
ist.  Mit  der  gewöhnlichen  Ungeschlechtigkeit 
kommen  wir  hier  nicht  mehr  durch.  Das  zeigt 
folgende  Überlegung:  „Innerhalb  der  Nachkommen- 
schaft eines  Fruchtkörpers  kopulieren  die  Myzelien 
I  und  2  miteinander.  Nennen  wir  einmal  i  männ- 
lich und  2  weiblich.  Nun  kombinieren  wir  so- 
wohl mit  I  wie  mit  2  ein  Einspormyzel  (3)  eines 
Fruchtkörpers  anderer  Herkunft.  Es  tritt  in  bei- 
den Fällen  Kopulation  ein.  Ist  nun  3  männlich 
oder  weiblich?  Offenbar  weder  das  eine  noch 
das  andere  —  oder  beides  zugleich.  Letzteres 
ist  aber  nicht  gut  möglich,  denn  einerseits  kopu- 
liert ja  3  mit  sehr  vielen  Einspormyzelien  des 
F"ruchtkörpers ,  von  dem  er  isoliert  worden  ist, 
nicht,  mit  anderen  dagegen  kopuliert  es.  Anderer- 
seits gibt  es  innerhalb  der  von  einem  Frucht- 
körper abstammenden  Population  Myzelien,  die 
weder  mit  i  noch  mit  2  kopulieren,  aber  mit 
anderen  Myzelien  (4,  5,  6  usw.).  Es  sind  das 
bei  Aleurodiscus  polygonius  die  Abkömmlinge 
einer  Basidie  desselben  P^ruchtkörpers ,  bei  der 
eben  die  Aufspaltung  in  anderer  Weise  vor  sich 
gegangen  ist."  Diese  Betrachtung  führt  zum  Be- 
griff der  multipolaren  Sexualität,  für  die  auch  die 
Versuche  Burgeffs  mit  Mucorineen  Anhalts- 
punkte gegeben  haben.  Daß  man  diesen  Vor- 
gängen nicht  etwa  den  Charakter  der  Geschlecht- 
lichkeit absprechen  kann,  das  geht  daraus  hervor, 
daß  wir  stets  die  typischen  Merkmale  der  Sexualität 
antreffen:  Zellkopulation,  Kernverschmelzung  und 
darauf  folgende  Reduktionsteilung.  Man  kann 
sich  diese  Verhältnisse  phylogenetisch  so  erklären, 
daß  an  Stelle  des  einen  Faktorenpaares  für  Ge- 
schlechtstrcnnung  verschiedene  P"aktorenpaare  auf- 
getreten sind,  wie  dies  ja  der  geschilderten  Be- 
trachtung zugrunde  liegt.  Zum  Schlüsse  wird 
noch  ausgeführt,  daß  die  beobachteten  Erscheinun- 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


52§ 


gen  nichts  mit  Selbststerilität  zu  tun  haben  —  es 
ist  ja  vielfach  gerade  das  gegensätzliche  Verhalten 
zu  verzeichnen.  Peter  Stark. 


Eine  teilweise  geschleclitsgebuiideiie  Ver- 
erliung  der  Augenfarbe  beim  Meiisclien. 

Davenport  und  Hurst  haben  auf  Grund 
ihrer  statistischen  Ermittlungen  die  Ansicht  ver- 
treten, daß  die  Vererbung  der  braunen  und  blauen 
Augenfarbe  nach  dem  einfachen  Mendelschen 
monofaktoriellen  Typus  verläuft  und  zwar  derart, 
daß  braun  über  blau  dominiert.  In  Wirklichkeit 
scheinen  die  Dinge  aber  komplizierter  zu  liegen, 
wofür  neuerdings  Winge  (Zeitschr.  für  indukt. 
IVIitt.  28,  1922)  interessantes  Zahlenmaterial  bei- 
bringt. Winge  hat  die  Erblichkeitsverhältnisse 
für  gegen  1400  Kinder  ermittelt  und  findet  fol- 
gende Daten.  Die  Ehen  blau  blau  lieferten 
625  blauäugige  und  12  braunäugige,  die  Ehen 
blauXbraun  317  blauäugige  und  322  braunäugige, 
endlich  die  Ehen  braun  braun  25  blauäugige 
und  416  braunäugige  Kinder;  zweifelhafte  Fälle 
(graugrün  bis  blaugrün)  sind  hier  weggelassen. 
An  dieser  Statistik  fällt  zunächst  auf,  daß  sich 
unter  der  Deszendenz  blauäugiger  Eltern  braun- 
äugige Kinder  befinden,  wenn  auch  in  sehr  ge- 
ringer Anzahl  (2  %).  Dies  dürfte  nicht  der  Fall 
sein,  wenn  braun  über  blau  tatsächlich  dominiert. 
Da  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  hier  einer  der 
beiden  Eltern  doch  verkappt  braunäugig  war, 
daß  also  gleichzeitig  ein  Hemmungsfaktor  vor- 
handen ist,  der  die  braune  Augenfarbe  nicht  zur 
Entfaltung  gelangen  läßt.  Dieser  Faktor  scheint 
auch  auf  die  sonstigen  Eigenschaften  des  Auges 
einzuwirken;  so  beobachtete  Winge  in  den  kri- 
tischen Fällen  häufig  gleichzeitig  Astigmatismus, 
Schwachsichtigkeit  u.  dgl.  Die  Daten  der  Kom- 
binationen braun  ;•  blau  und  braun  X  braun  schei- 
nen mit  der  Davenportschen  Annahme  gut  zu 
stimmen.  Im  ersten  F"all  ergeben  sich  nahezu 
gleichviel  braunäugige  und  blauäugige  Nach- 
kommen, im  zweiten  verhalten  sich  blau  :  braun 
etwa  wie  i :  3.  Da  in  Dänemark  die  braun- 
äugigen Individuen  fast  durchweg  Heterozygoten 
sind,  so  sind  nach  dem  monofaktoriellen  Schema 
gerade  die  gefundenen  Zahlen  zu  erwarten.  Und 
trotzdem  liegt  die  Sache  nicht  so  einfach.  Be- 
rücksichtigt man  bei  der  Nachkommenschaft 
gleichzeitig  das  Geschlecht,  dann  ergibt  sich,  daß 
bei  den  weiblichen  Individuen  ein  ganz  erheb- 
licher Überschuß  an  braunen  Augen  vorhanden 
ist.  Das  ist  eine  Tatsache,  die  schon  früher  die 
Statistiken  der  verschiedensten  Länder  (P'inland, 
Schweden,  Norwegen,  Polen  usw.)  ergeben  haben. 
Winge  sucht  ihr  gerecht  zu  werden,  indem  er 
annimmt,  daß  zwei  Faktoren  für  braune  Augen- 
farbe vorhanden  sind,  von  denen  der  eine  in 
einem  Autochromosomenpaar  (B  bzw.  b) ,  der 
andere  im  Geschlechtschromosom  sitzt  (W  bzw.  w). 
Beide  bewirken  für  sich  allein  oder  zusammen 
braune  Farbe.     Weiterhin  wird  angenommen,  daß 


bW-Eier  nicht  existenzfähig  sind.  Es  handelt 
sich  also  um  einen  besonderen  Fall  geschlechts- 
begrenzter Vererbung.  Wie  Winge  durch  eine 
ausführliche  Analyse  des  gefundenen  Zahlenmate- 
rials nachweist,  lassen  sich  mit  den  geschilderten 
Voraussetzungen  alle  Einzeldaten  erklären ,  ins- 
besondere die  Tatsache,  daß  die  reziproken  Ehen 
blau  >;  braun  und  braun  X  blau  einen  ganz  ver- 
schiedenen Ausfall  zeigen.  Solche  geschlechts- 
begrenzte Vererbung  ist  ja  beim  Menschen  schon 
für  die  verschiedensten  Eigenschaften  (Farben- 
blindheit, Bluterkrankheit  u.  dgl.)  nachgewiesen 
worden.  Stark. 


Gift  Wirkung  des  Meerrettichs. 

Das  Meerrettichöl ,  das  identisch  mit  dem 
ätherischen  Senföl  zu  sein  scheint,  ist,  wie  dies, 
ein  starkes  Gift,  das  eine  heftige  entzündliche 
Wirkung  auf  die  Schleimhäute  ausübt.  Bei  Ge- 
legenheit von  Versuchen,  größere  Mengen  des 
zerriebenen  Wurzelstockes  zu  konservieren,  stellten 
sich,  wie  J.  K  o  c  h  s  ^)  berichtet,  bei  der  damit 
beschäftigten  Person  folgende  Vergiftungserschei- 
nungen ein.  Nach  einigen  Stunden  traten  uner- 
trägliche Kopfschmerzen  auf,  abgesehen  von  dem 
heftigen  Tränen  der  Augen.  Mattigkeit,  heftige 
Gliederschmerzen ,  eine  fast  an  Erblindung  gren- 
zende Reizung  der  Augen,  Erbrechen,  Bronchial- 
katarrh, Schlaflosigkeit  schlössen  sich  an.  Zuletzt 
war  auch  das  Gehör  beeinträchtigt  und  eine 
heftige  Herzunruhe  zeigte  sich.  Konjunktivitis, 
Bronchialkatarrh  und  Gehörsdämpfung  hielten 
mehr  als  2Y2  Wochen  an.  Die  letzten  Krank- 
heitserscheinungen waren  erst  nach  7  Wochen 
verschwunden.  Miehe. 


Der  Eötvöseffekt. 

Die  letzten  Untersuchungen  von  Baron  Roland 
Eötvös  beziehen  sich  auf  die  durch  die  Bewegung 
verursachte  Schwereänderung.  Wie  wir  es  aus 
der  nach  seinem  Tode  erschienenen  Veröffent- 
lichung '-)  erfahren,  hat  sich  Eötvös  schon  vor 
einem  Vierteljahrhundert  mit  der  Schwereänderung 
beschäftigt,  welche  nach  ihm  den  Namen  „Eötvös- 
effekt" erhielt,  jedoch  wartete  er,  bis  die  Ent- 
wicklung der  Wissenschaft  seine  einfache  Theorie 
einwandfrei  bewiesen  hätte.^) 

Was  ist  der  Eötvöseffekt  f  Ein  irdischer  Punkt 
bewegt  sich  z.B.  in  Berlin,  auf  der  52V2"  d.  n.  Br, 


')  Angewandte  Botanik,  Zeitschrift  für  Erforschung  der 
Nutzpflanzen   1922,  Bd.   IV,  S.  90. 

^)  Experimenteller  Nachweis  der  Schwereänderung,  die 
ein  auf  normal  geformter  Erdoberfläche  in  östlicher  oder  west- 
licher Richtung  bewegter  Körper  durch  diese  Bewegung  er- 
leidet, von  Roland   Eötvös.     Ann.  d.  Physik  59,  743,   1919. 

')  Bestimmung  der  Schwerkraft  auf  dem  Schwarzen  Meere 
und  an  dessen  Küste,  sowie  neue  Ausgleichung  der  Schwer- 
kraft auf  dem  Atlantischen,  Indischen  und  Großen  Ozean. 
Von  Prof.  Dr.  D.  Hecker,   1910,   103. 

The  Investigation  of  Gravity  at  Sea  by  Prof.  W.  G.  Duf- 
field.     Nature,  1921,  106,  732. 


526 


Naturwissenschaftlich  e  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


mit  einer  Geschwindigkeit  von  278  m  um  die 
Erdachse,  und  so  entsteht  eine  Zentrifugalkraft, 
welche  das  Gewicht  der  Körper  mit  0,1  "Ja  ver- 
ringert; z.B.  ein  Mann  von  100kg  Gewicht  wäre 
um  10  dkg  schwerer  in  dem  Augenblick,  wo  die 
Erde  sich  nicht  weiter  dreht.  Nehmen  wir  an, 
daß  dieser  Mann  „Unter  den  Linden"  bei  seinem 
behäbigen  Spaziergange  mit  i  m  Geschwindigkeit 
nach  dem  königlichen  Palast  sich  bewegt.  Dann 
ist  seine  Geschwindigkeit  um  die  Erdachse  schon 
279  m,  also  es  entsteht  eine  größere  Zentrifugal- 
kraft und  so  vermindert  sich  sein  Gewicht  weiter, 
und  zwar  macht  diese  durch  die  eigene  Bewe- 
gung verursachte  Schwereänderung  ig  aus. 
Wenn  unser  Mann  nach  dem  Tiergarten,  also 
nach  Westen  geht,  so  ist  seine  Drehungsgeschwin- 
digkeit 277  m,  also  er  wird  um  i  g  schwerer 
sein.  Auf  einem  Personenzug  macht  seine  Schwere- 
änderung 10  g,  auf  dem  Expreßzug  30  g  und  auf 
einem  Flugzeug  60  g  aus.  Bei  einem  mächtigen 
Ozeandampfer  von  50000  t  Gewicht  macht  der 
Eötvöseffekt  10  t  aus  und  die  Tauchlinie  liegt 
mit  2  mm  tiefer  bei  westlicher  als  bei  östlicher 
Fahrt.  Bei  größeren  Geschwindigkeiten  und  auf 
niederen  geographischen  Breiten  wächst  der  Eötvös- 
effekt viel  stärker  als  bei  kleineren  Geschwindig- 
keiten und  auf  höheren  Breiten.  Auf  dem  Äqua- 
tor ist  der  Eötvöseffekt  um  so"/,,  größer,  und 
bewegt  sich  ein  Körper  mit  einer  Geschwindigkeit 
von  8  km/sec,  so  verliert  er  sein  Gewicht  voll- 
ständig. —  Wenn  ein  Körper  nach  West  mit  einer 
zweimal  größeren  Geschwindigkeit  sich  bewegt 
als  seine  von  der  Erddrehung  stammende  Ge- 
schwindigkeit ist,  so  tritt  der  Eötvöseffekt  nicht 
auf.  In  diesem  Falle  ist  nämlich  die  Drehungs- 
geschwindigkeit des  Körpers  um  die  Erdachse 
ebenso  groß  wie  in  ruhendem  Zustand,  jedoch 
in  entgegengesetzter  Richtung.  Diese  Geschwin- 
digkeit ist  auf  dem  Parallelkreis  BerHns  556m/sec; 
wenn  ein  Körper  eine  größere  Geschwindigkeit 
hat,  so  entsteht  eine  Gewichtsverminderung  in 
jeder  Richtung  und  zwar  die  größte  nach  Ost, 
die  kleinste  nach  West.     Wenn  die  Geschwindig- 


keit kleiner  als  556  m  ist,  so  gibt  es  immer  eine 
Richtung,  wo  das  Gewicht  unverändert  bleibt. 
Diese  „neutrale  Richtung"  liegt  desto  mehr  nach 
West,  je  mehr  die  Schnelligkeit  der  von  556  m/sec 
sich  nähert. 

Außer  der  Kinematik  ist  in  erster  Reihe  die 
Meteorologie,  wo  der  Eötvöseffekt  anwendbar 
ist,  ja  es  waren  sogar  eigentlich  Quecksilberbaro- 
meterablesungen auf  hoher  See,  welche  die  erste 
Bestätigung  des  Eötvöseffekts  lieferten.^)  Die 
Korrektionen  des  Quecksilberbarometers  machen 
pro  10  m/sec  Geschwindigkeitszuwachs  rund 
0,1   mm  aus. 

Der  Eötvöseffekt  hängt  auch  mit  den  Pro- 
blemen zusammen,  die  sich  auf  den  Aufbau  des 
Weltsystems  beziehen.  Eötvös  selbst  hat  seine 
Formel  „auf  ein  ruhendes  Sonnensystem  bezogen", 
doch  es  läßt  sich  das  Prinzip  des  Eötvöseffekts  auch 
auf  ein  sich  bewegendes  System  anwenden.  In  die- 
sem Falle  ist  es  aber  die  Sonnengravitation, 
bei  welcher  der  Eötvöseffekt  auftreten  kann.  So 
läuft  z.  B.  die  Erde  samt  dem  Mond  mit  einer 
SchneUigkeit  von  30  km/sec  um  die  Sonne  und 
in  derselben  Zeit  kreist  der  Mond  mit  einer  Ge- 
schwindigkeit von  I  km/sec  um  die  Erde.  So 
bewegt  sich  eigentlich  der  Mond  bei  Neumond 
mit  einer  Geschwindigkeit  von  29  km  pro  Sekunde 
und  bei  Vollmond  mit  einer  von  31  km  um  die 
Sonne,  da  bei  Vollmond  die  Erd-  und  Mond- 
zirkulation eine  gleichgesinnte  und  bei  Neumond 
eine  entgegengesetzte  ist.  Die  gegenseitige  An- 
ziehung der  Sonne  und  des  Mondes  unterliegt 
also  einer  vom  Eötvöseffekt  geforderten  Veränder- 
lichkeit. Da  die  berechnete  Bewegung  des  Mondes 
von  der  Beobachtung  abweichend  ist,  so  ist 
vielleicht  die  sog.  säkulare  Beschleunigung  des 
Mondes  zum  Teil  auf  den  Eötvöseffekt  zurück- 
zuführen.-) Dr.  phil.  Em.  Szolnoki. 


')  1,  c.  von  Hecker,   I04. 

^)  Die  Anwendung  des  Eötvöseffekts  im  bewegenden 
Sonnensystem ;  von  Imrc  Szolnoki.  —  Ann.  d.  Physik,  07,  73i 
1922  und   Astronomische  Nachrichten  Nr.  5168,   127. 


Bücherbesprechunsen. 


Sierks,   M.  J.,    Handboek    der    algemeene 
Erfelijkheidsleer.      X    u.   494    S.,    5    färb. 
Taf.  u.  127  Textabb.     'sGravenhage,  M.  Nijhoff, 
1921.     In  Ganzleinen  geb.  15  fl. 
Das   vorliegende    Werk   stellt    eine    erweiterte 
Neuauflage    der    „Erblichkeitsfragen"    (191 8)    des 
Verf.    dar    und   ist   das    erste    Lehrbuch    der  Erb- 
lichkeitslehre,   das    in    holländischer    Sprache    er- 
scheint.    Inhalt  und  Aufbau  läßt  sich  naturgemäß 
nur  in  großen  Zügen  wiedergeben. 

Nach  einem  einleitenden  Kapitel  (I),  das  die 
verschiedenen  Methoden  der  Erblichkeitsforschung 
einander  gegenüberstellt,  wird  zunächst  über  die 
statistische    Methode    und    ihre    Resul- 


tate (II)  ein  Überblick  gegeben.  Dies  bietet 
auch  Gelegenheit,  einen  Teil  der  wichtigsten 
Fachausdrücke  abzuleiten.  Die  Behandlung  der 
prämendelistischen  Erblichkeitstheo- 
rien (III)  und  der  aufkommenden  experi- 
mentellen Methode  (IV)  gibt  ein  gutes  Bild 
von  der  historischen  Entwicklung  der  Problem- 
stellung. Die  Besprechung  der  Resultate  von 
Mendels  Experimenten  (V)  führt  zur  Ab- 
leitung des  Verhaltens  bei  monohybrider,  di- 
hybrider  und  trihybrider  Kreuzung;  die  Regeln 
der  Mendel  sehen  Vererbung  werden  dabei  nicht 
besonders  gefaßt.  Beim  Zusammenwirken 
der  Faktoren  (VI)  wird   die  (irrtümlich  M e n - 


N.  F-  XXI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


527 


del  statt  de  Vries  zugeschriebene)  Dominanz- 
regel abgelehnt.  Von  den  verwickelten  Verhält- 
nissen der  Auswirkung  verschiedener  Faktoren- 
paare wird  vor  allem  die  Polymerie  gewürdigt, 
des  weiteren  auch  Epistasie  und  Hypostasie  ab- 
geleitet. Die  gegenseitige  Abhängigkeit 
der  Faktoren  (VII)  erweist  sich  an  Batesons 
Lathyrusversuchen,  durch  welche  das  Vorkommen 
von  Koppelung  und  Abstoßung  abgeleitet  wird. 
Batesofis  Theorie  der  Reduplikation  wird  be- 
handelt und  abgelehnt;  zweckmäßig  erscheint  die 
Gegenüberstellung  der  Batesonschen  und  Mor- 
gan sehen  Schreibweise  für  die  Koppelung.  Eine 
Besprechung  der  Renner  sehen  Komplextheorie 
ist  hier  angefügt. 

An  diese  vorwiegend  referierenden  Kapitel, 
welche  die  nötige  Einführung  liefern,  schließen 
sich  dann  weitere  an,  die  mehr  und  mehr  eine 
subjektive  Stellungnahme  des  Verf.  verraten. 

Die  Langsche  Uniformität  der  F, -Indi- 
viduen (VIII)  wird  gegen  neuere  Angriffe  ver- 
teidigt. Multiforme  Fj- Generationen  können  einer- 
seits genotypisch  bedingt  sein  entweder  durch 
kryptomere  Heterozygotie  der  Eltern  oder  Ein- 
greifen von  Polymerie  oder  infolge  von  Komplex- 
heterozygotie.  Andererseits  kann  Multiformität 
plastotypisch  bedingt  sein  durch  Ungleichheit 
der  Außenbedingungen  oder  Ungleichheit  des  re- 
lativen Gametenalters.  All  diese  Möglichkeiten 
widersprechen  aber  der  Uniformitätsregel  im  Prin 
zipe  nicht.  Wichtiger  sind  die  Ausnahmen  von 
der  (Gärt nerschen)  Regel  der  Uniformität 
der  reziproken  Bastarde  (IX).  Ditypie 
kann  bedingt  sein  durch  Umweltseinflüsse  während 
der  Embryonalzeit  oder  durch  von  mütterlicher 
Seite  übertragene  Plasmakrankheit.  Ferner  spielt 
eine  große  Rolle  die  Heterogamie,  wie  sie  bei 
OeuotJiera  lavmrckiaiia  und  in  anderer  Form 
beim  Morgan  sehen  Typus  der  Kroßvererbung 
in  Betracht  kommt,  und  schließlich  auch  ge- 
schlechtsgebundene Faktoren. 

Mit  größter  Zurückhaltung  wird  die  Natur 
und  Lokalisation  der  Faktoren  (X)  be- 
handelt. Auf  Sutton  (und  doch  wohl  auch 
Boveril)  fußend  und  Janssens  Chiasmatypie- 
lehre  ausbauend  hat  Morgan  seine  verwickelten 
Theorien  aufgestellt,  welche  nirgends  zytologisch 
einwandfrei  erwiesen  sind.  Krossung,  doppelte 
Krossung  und  Faktorenlokalisation  werden  be- 
sprochen, die  weiteren  Komplikationen  weggelassen. 
Außer  dieser  rein  mechanischen  Theorie  wird 
auch  der  physiologischen,  besonders  von  Loeb 
und  Goldschmidt,  gedacht.  Die  Allmacht  der 
Chromosomen  für  die  Vererbung  wird  dabei  mit 
Recht  bezweifelt.  Anschließend  wird  der  Augen- 
blick der  Faktorenspaltung  behandelt.  Erwiesen 
scheint  die  Faktorenspaltung  bei  der  Reduktion. 
Daneben  wird  nun  noch  die  Knospenvariation  als 
Parallelerscheinung  gestellt :  Pfropfchimären  zeigen 
das  Auftreten  von  abweichenden  Sprossen  an 
scheinbar  einheitlichen  Klonen;  ähnliches  gilt  für 
Sproßchimären  {Pelargoniuvi).   Somatische  Diffe- 


rentiation, Mutation  oder  somatische  Bastard- 
spaltung kommen  als  Erklärungswege  dafür  in 
Betracht;  insbesondere  der  letzteren  wird  eine 
ausgiebige,  wohlwollende  Diskussion  gewidmet. 

Konstante  Bastarde  (XII)  sind  seltener 
als  man  früher  annahm,  da  viele  Beispiele  der 
Literatur,  wie  Wichuras  Weidenbastarde,  sich 
als  spaltend  erwiesen.  Es  kommt  vielmehr  nur 
in  Betracht  Scheinkonstanz  bei  echter  Bastardie- 
rung infolge  Vorhandenseins  polymerer  Faktoren 
(Kaninchenohrenlänge),  echte  Konstanz  bei  Schein- 
bastardierung infolge  von  Apogamie  oder  Pseudo- 
gamie  {Bicracünii),  echte  Konstanz  bei  echter 
Bastardierung,  wenn  gewisse  Typen  ausfallen 
(Homozygoten-Elimination  bei  Ocnotlicra  lamar- 
ckiand).  Die  Vererbung  des  Geschlechts 
(XIII)  wird  an  Hand  des  Rückkreuzungsbeispieles 
abgeleitet  und  durch  das  Verhalten  der  Hetero- 
chromosomen  bestätigt.  Geschlechtsgebundene 
Vererbung  und  Spaltungsverzug  (non-disjunction) 
werden  unter  dem  zytologischen  Gesichtswinkel 
erörtert,  und  eine  Besprechung  der  sog.  physio- 
logischen Geschlechtsdifferenzierung  bei  Pilzen 
angeschlossen.  Die  Untersuchungen  von  C  o  r  r  e  n  s 
und  C  o  1 1  i  n  s  über  den  Zeitpunkt  der  Geschlechts- 
differenzierung führen  zur  Wiedergabe  von  Gold- 
Schmidts  Intersexualitätstheorie. 

Für  die  Veränderung  der  Erbanlagen 
beim  Individuum  (XIV)  werden  die  allo- 
genetischen und  autogenetischen  Theorien  ein- 
ander gegenübergestellt.  Bakterienversuche  schei- 
tern daran,  daß  es  sich  nicht  um  Linien  handelt. 
Protozoen  versuche  haben  an  Durchschlagskraft 
verloren,  seit  über  die  Konjugation  hinaus  be- 
ständige Dauermodifikationen  bekannt  sind.  Die 
Versuche  über  indirekte  (somatische)  Induktion 
bei  Metazoen  sind  noch  nicht  beweisend,  ebenso 
ist  direkte  Induktion  noch  nicht  erwiesen.  Ähn- 
liches gilt  nach  Aufklärung  der  Önotherenmuta- 
tionen  auch  für  autogenetische  Änderungen.  „Für 
ein  spontanes  Auftreten  einer  genotypischen  Ver- 
änderung irgendeines  Organismus  ist  gegenwärtig 
kein  Beleg  zu  finden"  (S.  405).  Also  ist  ein  homo- 
zygotischer  Organismus  wahrscheinlich  genotypisch 
„weder  spontan,  noch  durch  äußere  Einflüsse  ver- 
änderlich" (S.  406)  1 

Bei  der  Besprechung  der  Veränderung  der 
Erbanlagen  in  reinenLinien  und  Popu- 
lationen (XV)  finden  außerordentlich  viele  ver- 
schiedenartige Dinge  Erwähnung.  Reine  Linien 
kommen  praktisch  kaum  vor;  für  sie  gilt  die 
gleiche  Konstanz  wie  für  das  Individuum.  Erst 
Kreuzung  bedingt  Veränderung.  Veränderungen 
in  Populationen  in  ihrer  Bedeutung  für  das  Art- 
bild sind  abhängig  von  der  Fortpflanzungsweise: 
bei  Autogamie  (besser  Endomixis,  Ref.)  erfolgt 
fortschreitende  zahlenmäßige  Reduktion  der  He- 
terozygoten, bei  Panmixie  bleibt  das  Verhältnis 
erhalten  (Hardy).  Inzucht  ist  nur  scheinbar 
schädlich.  Heterosis  führt  zwar  oft  zu  üppigerem 
Wachstum,  aber  nicht  stets;  eine  Erklärung  dafür 
allein  durch  Erbvorgänge  erscheint  nicht  möglich. 


52^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  38 


Homozygoten  werden  gelegentlich  infolge  der 
Duplizität  von  Letalfaktoren  ausgemerzt  oder  von 
Subletalfaktoren  geschwächt;  nur  dies  ist  eine 
Gefahr  bei  Inzucht.  Außerdem  kann  die  Umwelt 
Populationen  verändern  durch  Einfluß  auf  die 
Spaltungsweise,  auf  Zertationsvorgänge  oder  auf 
Krossungsverhältnisse.  Schließlich  können  Selbst- 
sterilität, geographische  Trennung  und  physio- 
logische Sonderung  (Fortpflanzungsperioden)  eine 
Rolle  spielen.  Ebenso  kommt  Aussonderung  be- 
stimmter Typen  vor.  Im  ganzen  führen  alle  Be- 
sonderheiten zur  Verringerung  des  Formenreich- 
tums, während  Bastardierung  ihn  vergrößert.  Zum 
Schlüsse  wird  noch  ein  kurzer  Überblick  über 
Begrenzung  und  Anwendung  der  Erb- 
lichkeitslehre (XVI)  gegeben,  in  welchem 
ihre  Bedeutung  für  die  Wiederkehr  von  Krank- 
heitsanlagen und  geistigen  Fähigkeiten  behandelt 
und  ihre  gelegentlich  in  Betracht  kommende  juri- 
stische Bedeutung  erwähnt  wird. 

Da  der  Verf.  ein  Botaniker  ist,  wird  die  starke 
Betonung  der  botanischen  Seite  der  Vererbungs- 
lehre, die  im  ganzen  Buche  hervortritt,  nicht  weiter 
überraschen.  Trotzdem  hätten  die  Erfahrungen 
an  Tieren  vielleicht  eine  stärkere  Hervorhebung 
verdient.  Insbesondere  wäre  es  wohl  kein  Schaden 
gewesen,  wenn  die  M  o  r  g  a  n  sehen  Forschungen 
etwas  ausgiebiger  Berücksichtigung  gefunden 
hätten.  Die  Gegenüberstellung  von  zwei  grund- 
sätzlich so  verschiedenen  Dingen,  wie  Faktoren- 
spaltung bei  Reduktion  und  Knospenvariation, 
erscheint  didaktisch  recht  unzweckmäßig;  auch 
scheint  Ref.  die  Theorie  der  somatischen  Bastard- 
spaltung im  Verhältnis  zu  ihrer  Wahrscheinlich- 
keit etwas  zu  ausführlich  behandelt.  Bei  der  Be- 
sprechung der  Veränderung  des  Genotypus  im 
Individuum  wäre  wohl  ein  erneuter  Hinweis  auf 
die  Knospenvariation  am  Platz  gewesen;  auch 
der  Mutationen  bei  Drosopl/ila  wäre  zu  gedenken 
gewesen,  da  sonst  die  Beweisführung  einseitig 
erscheint. 

Zusammenfassend  darf  man  wohl  sagen,  daß 
im  Sirksschen  Buche  ein  Werk  vorliegt,  das 
zweifellos  geeignet  ist,  einen  guten  Überblick 
über  den  Stand  der  Erblichkeitslehre  zu  geben. 
Die  meist  sehr  vorsichtige  Stellungnahme  zu  den 
einzelnen  Problemen,  welche  vielfach  in  der  wört- 
lichen Wiedergabe  der  entgegenstehenden  An- 
sichten einzelner  Forscher  ihren  Ausdruck  findet, 
bietet  dabei  dem  Leser  selbst  Gelegenheit,  sich 
ein  persönliches  Urteil  über  die  Sachlage  zu  bil- 
den. Jedenfalls  wird  der  Leser  von  dem  Werk, 
insbesondere  auch  wegen  der  reichlichen  Literatur- 
hinweise, erheblichen  Nutzen  haben.     Zu  bedauern 


ist  nur,  daß  es  wegen  seiner  Abfassung  in  hollän- 
discher Sprache  (und  obendrein  angesichts  der 
Valutaverteuerung)  bei  uns  wohl  nicht  im  ver- 
dienten Umfange  berücksichtigt  werden  kann. 
Die  Ausstattung  des  Werkes  darf  in  jeder  Be- 
ziehung als  mustergültig  bezeichnet  werden;  viel- 
leiclit  würde  die  reichlichere  Verwendung  von 
Strichätzung  statt  Autotypie,  besonders  für  die 
Schemata,  einen  Gewinn  bedeuten. 

Prell  (Tübingen). 


Die  Farbe.     Jahrgang    1922.     iVIappe  I.     Leipzig 

1922,  Unesma. 

Der  Beginn  des  neuen  Jahrgangs  dieser  „Sam- 
melschrift für  alle  Zweige  der  Farbkunde"  gibt 
Gelegenheit,  auf  einige  wertvolle  Arbeiten  hinzu- 
weisen. So  handelt  W.  Ostwald  über  „das 
Auge  und  die  Schule"  —  eine  äußerst  anregende 
methodische  Grundlegung  des  wissenschaftlich 
betriebenen  Zeichenunterrichtes,  von  der  man 
wünscht,  die  Lehrerschaft  möchte  sich  die  darin 
niedergelegten  Gedanken  in  der  einen  oder  anderen 
Weise  zu  eigen  machen.  —  In  andere  Richtung 
weist  ein  Beitrag  „Neue  Forschungsmethoden  zur 
Physiologie  des  Auges".  Hier  ist  jedem  Farb- 
kundigen ein  neues  Betätigungsfeld  gewiesen,  ohne 
daß  es  sehr  kostspieliger  apparativer  Hilfsmittel 
bedürfte.  —  Den  Historiker  der  Naturwissen- 
schaften endlich  wird  eine  Neuherausgabe  der 
„Farbenpyramide"  von  J.  H.  Lambert  fesseln. 
Man  erstaunt  über  die  hohe  begriffliche  Klarheit 
dieses  Physikers,  der  schon  im  18.  Jahrhundert 
diesen  wichtigen  Beitrag  zur  Mathetik  der  Farbe 
lieferte. 

Es  sei  betont,  daß  die  genannten  Arbeiten 
auch  einzeln  bezogen  werden  können;  in  sich  ge- 
schlossen und  ohne  Mehrpreis.  Die  buchhändle- 
rische Ausstattung  ist  vortrefflich.  H.  H. 


Literatur. 


Bühler,  Karl,  Die  geistige  Kniwicklung  des  Kindes. 
3.  Aufl.     Jena  '22,  G.   Fischer.     Brosch.    160  M.,  geb.  210  M. 

Behrmann,  Dr.  W.,  Im  Stromgebiet  des  Scpik.  Eine 
deutsche  Forschungsreise  in  Neuguinea.  Berlin  '22 ,  August 
Scherl,  G.m.b.H. 


Druckfehlerberichtiguug:. 

In  der  Besprechung  des  Werkes:  Petersen,  H.,  „Histologie 
und  mikroskopische  Anatomie"  I.  und  II.  Abschnitt:  Das 
Mikroskop  und  allgemeine  Histologie  von  M.  Wolff  (Ebers- 
walde) (Nr.  27,  N.  K.  21.  Bd.  der  Naturw.  Wochenschr.  S.  383) 
muß  es  heiflen:  Braus  statt  Bruns   (dreimal). 


Inhalt:  H.  Kricke,  Das  Wesen  der  Schwerkraft.  S.  513.  E.  Schmid,  Biozönologie  und  Soziologie.  S.  518.  —  Binzel- 
berjcbte:  Kniep,  Geschlcchtsbestimmung  und  Reduklionsteilung  bei  Basidiomyzeten.  S.  523.  Davenport  und 
Hurst,  Eine  teilweise  geschlechtsgebundene  Vererbung  der  Augenfarbc  beim  Menschen.  S.  525.  J.  Kochs,  Gift- 
wirkung des  Meerrettichs.  S.  525.  R.  Eötvös,  Der  Eötvöseffekt.  S.  525.  —  BUcherbesprecbungen:  M.  J.  Sirks, 
Ilandboek  der  algcmecne  Erfelijkheidsleer.  S.  526.  Die  Farbe.  S.  528.  —  Literatur:  Liste.  S.  528.  —  Druckfehler- 
bcrichtigung.  .S.    528. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena.  • 

Druck  der  G.  Pätz'achen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H,,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  24.  September  1922. 


Nummer  39. 


Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen. 

III.    Die    Wiederherstellung    der   Individualität    bei    Würmern. 


[Nachdruck  verboten.^ 


Von  Dr.  Wilh.  Goetsch,  München. 
Mit  7  Abbildungen. 


Die  Versuche  mit  Seesternen ')  beschäftigten 
sich  mit  dem  Phänomen,  das  wir  jedem  Indivi- 
duum zuzusprechen  haben :  der  mehr  oder  weni- 
ger koordinierten  Reaktion  auf  äußere  Reize,  wo- 
durch erst  die  einzelnen  Teile  zu  einer  Gemein- 
samkeit verbunden  werden.  Die  Untersuchungen 
an  den  Süßwasserpolypen  -)  zeigten  uns  eine 
zweite  Eigentümlichkeit  individuellen  Lebens  :  das 
Bestreben,  die  Individualität  zu  erhalten  oder  aber 
eine  neue  zu  bilden,  wenn  genügend  Material 
dafür  vorhanden  ist.  Daß  in  beiden  Fällen  die 
Einzelteile  für  sich  arbeiten  können,  darin  zeigt 
sich  eben  das  Relative  bei  den  einzelnen  Indivi- 
duen, das  bei  den  Seesternen  sowohl  wie  bei  den 
Hydren  so  deutlich  hervortritt,  weil  beiden  Klassen 
ein  örtlich  lokalisiertes  zentrales  Nervensystem 
fehlt,  das  bei  anderen  Formen  in  so  hohem  Maße 
dazu  beizutragen  pflegt,  die  Einheitlichkeit  zu 
regeln. 

Die  Würmer  besitzen  dagegen  eine  solche 
Zentralstelle  oder  Hirn,  wenn  auch  meistens  noch 
in  primitiver  Art.  Bei  den  Strudelwürmern,  mit 
denen  wir  uns  hier  hauptsächlich  beschäftigen 
wollen,  steht  es  in  unmittelbarem  Zusammenhang 
mit  den  Augen,  den  charakteristischsten  Sinnes- 
organen dieser  Tiere,  und  bei  den  Regenwürmern, 
welchen  wir  am  Schluß  dieser  Untersuchung  einige 
Worte  zu  widmen  haben,  besteht  das  zentrale 
Nervensystem  in  einer  Anhäufung  nervöser  Sub- 
stanz am  Vorderende  des  Tieres,  von  wo  aus  es 
mittels  zweier  Schlingen,  die  den  Darm  umgreifen, 
sich  in  das  Bauchmark  fortsetzt.  Die  Strudel- 
würmer oder  Turbellarien  sind  ein  bevorzugtes 
Objekt  für  experimentelle  Untersuchungen;  be- 
sonders sind  unter  ihnen  die  Planarien  für  Rege- 
nerationsversuche schon  häufig  herangezogen  wor- 
den, da  sie  wie  kaum  eine  andere  Tierklasse  die 
„Unsterblichkeit  unter  des  Messers  Schneide"  de- 
monstrieren. Man  kann  diese  Lebewesen  nach 
allen  Richtungen  zerlegen;  stets  macht  sich  das 
Bestreben  geltend,  auch  aus  kleinsten  Stücken 
einen  neuen  Wurm  wiederherzustellen. 

Dabei  ist  es  die  Regel,  daß  stets  die  Polari- 
tät gewahrt  wird;  d.  h.  der  Planarienkörper  er- 
gänzt immer  das  Fehlende  an  der  Stelle,  an 
welcher  es  verloren  gegangen  ist;  das  Vorn  und 
Hinten,  das  Rechts  und  Links  bleibt  stets  gewahrt. 


ebenso  wie  ein  Magnet  die  Richtung  des  positiven 
Pols  zum  negativen  stets  beibehält,  mag  man  ihn 
auch  in  noch  so  kleine  Stücke  zerlegen. 

Von  dieser  Regel  gibt  es  indessen  Ausnahmen. 
Schneidet  man  z.  B.  einen  Planarienkopf  unmittel- 
bar hinter  den  Augen  ab,  wie  das  in  Abb.  2  mit 
der  gestrichelten  Linie  angegeben  ist,  so  kann  das 
an  diesem  Kopfstückchen  entstehende,  eigentlich 
nach  hinten  gerichtete  Regenerat  ebenfalls  einen 
kopfartigen  Charakter  tragen.  In  der  Abb.  I  ist 
ein  derartiger  Fall  dargestellt :  Wir  sehen  in  dem 
Zapfen,  der  am  hinteren  Ende  des  abgeschnittenen 
Kopfes  gebildet  worden  ist,  zwei  Augen  entstehen, 
so  daß  durch  diese  Neubildung  nicht  etwas  ver- 
loren gegangenes  wieder  ersetzt  wird,  sondern  im 
Gegenteil  das,  was  schon  vorhanden  ist,  in  dop- 
pelter Gestalt  erscheint.  Diese  Neubildung  von 
Augen  in  dem  nach  hinten  gerichteten  Stück  ist 
wahrscheinlich  durch  den  Einfluß  des  Hirns  zu 
erklären,  das  durch  den  Schnitt  verletzt  wurde 
und  nun  bei  der  Regeneration  diese  Sinnesorgane 
entstehen  läßt,  die  stets  mit  ihm  in  engstem  Zu- 
sammenhang stehen.  Die  Auflösung  des  einen 
ursprünglichen  Auges  in  dem  Präparat,  welches 
der  Abb.  i  zugrunde  liegt,  spricht  für  eine  der- 
artige Annahme.  Ganz  geklärt  sind  indessen 
diese  Phänomene  noch  keineswegs. 


')  W.  Goetsch,  Beiträge  zur  Relativität  der  Individ 
Naturw.  Wochenschr.  Bd.  21,   1922,  Nr.   15. 

^)  —  — ,  Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen  II. 
turw.  Wochenschr.  Bd.   21,    1922,  Nr.  36. 


Abb.  I.     Sog.  Heteroraorphose.    Ein  abgeschnittener  Planarien- 
kopf hat  nicht,  wie  zu  erwarten  stand,  einen  Schwanzteil  rege- 
neriert, sondern  einen    neuen,    nach    hinten    gerichteten  Kopf 
mit  2  kleinen  Augen  (in  der  Abb.  hier  links), 
(Nach  einem  Präparat  von  Frhr.  v.  Brand,  München). 


Dagegen  glaube  ich  für  die  Erscheinungen 
eine  Deutung  gefunden  zu  haben ,  die  ebenfalls 
für  Heteromorphosen  gehalten  worden  sind :  für 
das  Auftreten  von  Köpfen  in  den  Schnittwinkeln 
von  Planarien,  die  von  hinten  her  bis  in  den 
Kopfabschnitt  durch  einen  Schnitt  längsgespalten 
wurden  (Abb.  2).  Es  handelt  sich  meiner  Ansicht 
nach  dabei  nämlich  nicht  um  eine  Umkehr  der 
Polarität,  sondern  nur  um  eine  Abdrängung  von 
Teilen,  die  ursprünglich  in  normaler  Richtung 
angelegt  worden  sind. 

Zu  dieser  Annahme    kam    ich    aus    folgenden 


530 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  39 


Gründen.  Spaltet  man  eine  Planarie  in  der 
Längsrichtung  vollkommen  durch,  so  läßt  jede 
Hälfte  eine  neue  Individualität  entstehen;  der 
rechte  Halbteil  ergänzt  die  fehlende  Seite  und 
umgekehrt.  Wird  nun  der  Schnitt  nicht  ganz 
durchgeführt,  so  daß  zwar  die  Augen  getrennt 
werden,  am  Kopflappen  aber  noch  ein  Zusammen- 
hang besteht,  so  wird  an  dem  Erfolg  nichts 
wesentliches  geändert;  nur  sind  die  beiden  neu- 
entstehenden Individualitäten  nicht  ganz  vonein- 
ander gelöst,  sondern  noch  durch  eine  kleine 
Brücke  miteinander  verbunden.  Die  so  vereinigten 
Tiere  hindern  sich  naturgemäß  in  ihrer  freien 
Beweglichkeit  außerordentlich,  und  es  kommt  da- 
her  auch    meist    bald    zu    einer    Trennung    dieser 


Eindruck  von  Einheitlichkeit,  da  dann  die  vordere 
Partie  immer  die  Direktion  angibt  und  dadurch  die 
Reaktionen  auf  äußere  Reize  keinen  Schwankun- 
gen unterworfen  sind.  Die  hinteren  Teile  folgen 
den  Impulsen  des  Kopfstücks,  und  so  bewegt  sich 
das  Tier  im  allgemeinen  normal. 

Jedoch  gibt  es  dabei  Ausnahmen.  Wird  z.  B. 
Nahrung  dargereicht,  so  kriecht  das  Tier,  von 
seinen  einheitlich  zusammengefaßten  Sinnesorganen 
geleitet,  bald  darauf  zu ;  die  Rüssel  jedoch,  welche 
die  Nahrung  in  sich  aufzunehmen  haben,  machen 
sich  dann  stets  Konkurrenz,  wenn  der  Schnitt  so 
weit  geführt  worden  ist,  daß  die  weit  hinter  dem 
Kopf  befindliche  Mundregion  bei  der  Regeneration 
doppelt  ausgebildet  wurde  (Abb.  3  S).   Jeder  Rüssel 


Abb.  2.  Planarie  mit  kleinem,  nach  hinten 
gerichteten  Kopf  im  Schnittwinkel.  (Die 
Abb.  ist  ebenso  wie  die  folgenden  meiner 
Arbeit  „Regeneration  und  Transplantation 
bei  Planarien",  Arch.  f.  Entw.-Mech.  1921 
u.  1922,  entnommen.) 


Abb.  3.      Planarie,     die    von    hinten    her 

gespalten  worden    ist    und    2  Mund-  und 

Rüsselpartien  (S)  gebildet  hat. 


4.     Doppelplanarie    in  verschiedenen  Bewegungsstadien, 
al  =  altes  linkes,    ar  ^  altes  rechtes  Auge, 
n  1   =  neues  linkes,    n  r  =  neues  rechtes  Auge. 


Siamesischen  Zwillinge,  besonders  dann,  wenn 
man  sie  sich  selbst  überläßt.  Nur  durch  einen 
dauernden  Aufenthalt  im  F"instern  lassen  sich 
solche  Bildungen  überhaupt  erzielen,  da  eine  Ab- 
dunkelung  die  Bewegung  der  Planarien  außer- 
ordentlich herabsetzt. 

Richtet  man  die  Schnittrichtung  so  ein,  daß 
größere  Verbindungsstrecken  bestehen  bleiben,  so 
entstehen  nicht  wie  in  den  soeben  beschriebenen 
Fällen  zwei  Individualitäten,  sondern  nur  eine 
einzige.  Das  tritt  besonders  dann  ein,  wenn  der 
Kopf  nicht  verletzt  wird,  wie  in  Abb.  3.  Man  hat 
dann    trotz    der    Gabelung    des    Hinterendes    den 


sucht  dann  das  größte  Stück  zu  erwischen  und 
drängt  den  anderen  weg,  obwohl  doch  alles,  was 
von  dem  einen  oder  anderen  aufgenommen  wird, 
der  Gesamtheit  zugute  kommt.  Wie  bei  den 
Hydren,  zeigt  sich  auch  bei  den  Planarien  die 
Selbständigkeit  der  Teilkomplexe;  nur  ist  beiden 
Strudelwürmern  insofern  eine  größere  Einheitlich- 
keit zu  verzeichnen ,  als  in  der  Mehrzahl  der 
F"älle  der  Kopfteil  mit  seinen  ausgedehnten  Sinnes- 
organen die  Direktion  angibt  und  die  übrigen 
Abschnitte  sich  trotz  ihrer  Selbständigkeit  dem 
dadurch  gegebenen  Bewegungsrhythmus  nach- 
ahmend unterordnen. 


N.  F.  XXI.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S3I 


Ob  bei  der  Regeneration  gespaltener  Planarien 
ein  oder  zwei  Direktionszentren  entstehen  und 
damit  ein  oder  zwei  Individualitäten  gebildet 
werden,  liegt,  wie  aus  dem  soeben  Gesagten  her- 
vorgeht, lediglich  an  der  Schnittführung.  Mein 
Bestreben  ging  nun  dahin,  das  Experiment  so 
einzurichten,  daß  ein  ganz  geringes  IVlehr  oder 
Weniger  darüber  entschied,  welchen  Erfolg  die 
Operation  zeitigte.  Da  eine  exakte,  genau  ein- 
gestellte Schnittführung  bei  der  Beweglichkeit  der 
Objekte  niemals  möglich  ist,  mußten  eine  große 
Anzahl  Tiere  gespalten  werden,  bis  die  Versuche 
das  gewünschte  Resultat  lieferten. 

Der  eine  dieser  gelungenen  Versuche  ist  der 
Abb.  4  zugrunde  gelegt.  Die  bis  in  die  Augen- 
region gespaltene  Planarie  regenerierte  sich  in  einer 
abgedunkelten  Schale  zu  einem  Gebilde,  wie  es 
Abb.  4b  darstellt;  d.  h.  jede  Teilhälfte  hatte  ein 
Auge  neugebildet,  so  daß  es  ganz  den  Anschein 
erweckte,  als  ob  hier  zwei  Individuen  mit  der 
Stirnpartie  zusammengewachsen  seien.  Die  Ver- 
bindung der  alten  Augenpartien  —  in  der  Ab- 
bildung mit  al  und  ar  bezeichnet  —  war  aber 
nicht  durchtrennt,  sondern  die  Verbindungsstränge 
müssen  noch  vorhanden  gewesen  sein,  so  daß 
doch  noch  diese  Abschnitte  eine  Einheit  bil- 
deten. Das  zeigte  sich  dann,  wenn  das  Tier  ins 
Helle  gebracht  wurde  und  sich  hier  in  Bewegung 
setzte.  Dann  konnte  der  ursprüngliche  alte  Kopf 
die  Richtung  angeben,  in  der  das  Tier  sich  vor- 
wärts bewegte  (Abb.  4  a);  die  beiden  neu  ent- 
standenen Augen  wurden  dann  nach  hinten  ab- 
gedrängt und  spielten  kaum  eine  Rolle,  ein  ein- 
ziges Direktionszentrum  ließ  beide  Teilhälften 
einheitlich  reagieren.  Die  beiden  neu  entstandenen 
Augen  mit  ihren  Nervenganglien  waren  jedoch 
etwas  mehr  als  nur  ein  unwesentliches  Anhängsel. 
Durch  irgendwelche  innere  oder  äußere  Ursache 
konnte  es  plötzlich  ganz  anders  kommen.  Dann 
trat  vielleicht  das  alte  rechte  (ar  in  Abb.  4b)  und 
neue  linke  (n  1)  als  richtunggebend  auf,  und  die 
Folge  war  dann,  daß  auch  die  beiden  anderen 
Kopfhälften  als  eine  Einheit  fungierten.  Das  Ge- 
bilde wirkte  dann  plötzlich  wieder  als  Doppel- 
wesen, und  jede  Hälfte  bewegte  sich  für  sich 
allein.  Da  aber  immer  noch  eine  Verbindung 
bestand,  versuchten  beide  Stücke  förmlich  durch- 
einander durchzukriechen,  so  daß  Bilder  in  der 
Art  der  Abb.  5  entstanden. 

Doch  damit  nicht  genug!  Es  müßte  auch 
noch  eine  Verbindung  zwischen  den  neuentstan- 
denen Augen  eingetreten  sein,  und  diese  Verbin- 
dung konnte  bewirken,  daß  manchmal  die  neuen 
Augen  die  Direktion  angaben  und  die  Bewegungs- 
richtung bestimmten  (Abb.  4  c),  wobei  dann  der 
alte  Kopf  als  nebensächlich  beiseite  gedrängt 
wurde. 

Diese  sonderbaren  Erscheinungen  derartiger 
Doppeltiere  veranlaßten  mich  nun,  auch  die  Köpfe, 
welche  in  der  Art  von  Abb.  3  nach  hinten  ge- 
sichtet sind,  als  abgedrängte  Teilprodukte  anzu- 
rehen,  die  ursprünglich  normal  angelegt  worden  sind. 


Läßt  man  nämlich  eine  Doppelplanarie  dauernd 
in  der  Art  sich  fortbewegen,  wie  es  die  Abb.  4  a 
zeigt,  so  werden  nach  und  nach  die  neuen  Augen 
schließlich  mehr  oder  weniger  fixiert  und  behalten 
ihre  nach  hinten  gerichtete  Stellung,  während  die 
Bewegungsrichtung  dann  dauernd  durch  die  alten 
Kopfpartien  bestimmt  wird. 

Bei  meinen  zahlreichen  Versuchsobjekten  ließen 
sich  alle  möglichen  Übergänge  dazu  finden,  und 
nicht  nur  Übergänge  zwischen  solchen  akzesso- 
rischen Köpfen  und  richtigen  Doppeltieren,  son- 
dern auch  Zwischenformen  zwischen  kleinen,  nach 
hinten  gerichteten  Köpfen  und  einfachen  Gabe- 
lungen der  hinteren  Körperregion.  Ein  solches 
Zwischenstadium  sind  beispielsweise  Tiere,  die  in 
dem  Winkel,  der  von  den  beiden  Hinterhälften 
gebildet  wird,  ein  einziges  Auge  besitzen.  Man 
hat  sich  die  Entstehung  eines  solchen  Auges  so 
vorzustellen,  daß  es  von  der  rechten  und  linken 
Spalthälfte  gleichzeitig  gebildet  wird.  Jede  Hälfte 
legt  zwar  ursprünglich  ein  Sehorgan  an  als  spiegel- 
bildliche Ergänzung  des  rechten  und  linken  Auges; 


Abb.  5.    Doppelplanarie 
in  Bewegung.      Die   Re- 
generate  sind   heller  ge- 
zeichnet. 


Abb.  6.       Planarie    mit    einem 

einzigen  Auge  im  SchniUwinkel. 

Bezeichnung  wie  in  Abb.  4. 


durch  eine  mechanische  Ursache  jedoch,  etwa 
durch  dauernde  Kriechrichtung,  werden  diese  An- 
lagen zusammengedrängt  und  gewissermaßen  auf- 
einander projiziert,  so  daß  nun  ein  einziges 
Auge  die  Ergänzung  zu  beiden  alten  Sehorganen 
bildet  (Abb.  6). 

Eine  solche  Annahme  ist  nun  nicht  nur  eine 
theoretische  Spekulation,  sondern  ließ  sich  durch 
Versuche  erhärten.  Wenn  man  nämlich  solche 
Tiere  in  der  Art  zerschnitt,  wie  es  in  Abb.  6  eine 
der  gestrichelten  Linien  andeutet ,  so  rückte  das 
eine  nach  hinten  gerichtete  Auge  sofort  nach 
vorn.  Es  stellte  je  nach  der  Schnittführung  das 
spiegelbildliche  Gegenstück  zum  alten  rechten 
oder  linken  Auge  dar,  §0  daß  unmittelbar  nach 
einer  solchen  Operation  die  Planarienhälfte  als 
einheitliches  Ganzes  wirkte. 

Das  gleiche  trat  übrigens  ein,  wenn  man  rieh- 


532 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  39 


tige  Köpfe,  die  wie  in  Abb.  2  im  Spaltungswinkel 
nach  hinten  gerichtet  waren,  derart  zerschnitt,  wie 
es  der  Pfeil  angibt.  Sofort  bildete  dann  das 
rechte  Auge  des  alten  Kopfes  mit  dem  des  neuen 
eine  Einheit  und  umgekehrt,  ein  Zeichen  dafür, 
daß  auch  hier  keine  Heteromorphosen  vorliegen, 
sondern  ursprünglich  normal  gerichtete  Partien, 
die  durch  Wachstums-  und  Bewegungsprozesse 
aus  ihrer  Richtung  abgedrängt  worden  sind  und 
nur  dadurch  ihre  sonderbare  Lage  erhalten  haben. 

Bei  einer  solchen  Trennung  längs  gespaltener 
Tiere,  die  zwei  Augen  neugebildet  hatten,  machte 
ich  einmal  eine  schöne  Beobachtung  darüber,  wie 
ein  gleicher  Reiz  auf  ganz  gleiche  Weise  wirken 
kann.  Unmittelbar  nach  der  Trennung  der  zu- 
sammengewachsenen Hälften  begannen  die  Tiere 
in  großen  Kreislinien  herumzukriechen,  so  daß 
die  Regenerationszone  immer  dem  Kreisinnern 
zugewandt  war.  Diese  Bewegung  ist,  wie  ich 
bereits  an  anderer  Stelle  ausführte,  ^)  „ein  Zeichen 
dafür,  daß  die  ursprünglichen  Nervenbahnen ,  die 
zwischen  den  ursprünglichen  Augen  vorhanden 
waren,  noch  nicht  verloren  sein  konnten.  Denn 
genau  die  gleichen  Bewegungen  machen  auch 
Tiere,  die  man  einseitig  blendet. 

Eigenartig  war  es  auch  zu  sehen,  wie  die 
beiden  vollkommen  gleich  gebauten  Tiere,  auf  die 
der  trennende  Schnitt  natürlich  in  ganz  derselben 
Weise  wirkte,  in  ihrer  Reaktion  vollkommen  über- 
einstimmten. Die  Kreise,  die  sie  zogen,  waren 
so  einander  kongruent,  daß  sie  bei  ihren  ersten 
Begegnungen  an  genau  derselben  Stelle  mit  den 
Köpfen  zusammenstießen.  War  dies  geschehen, 
so  zuckten  beide  etwas  zusammen,  um  dann  unter- 
und  übereinander  wegzukriechen.  Beim  vierten 
JVIale  kamen  sie  dabei  in  etwas  andere  Bahnen, 
so  daß  ihre  Kreise  sich  nicht  mehr  schnitten. 
Sie  krochen  dann  in  derselben  Weise  noch  unge- 
fähr lo  Minuten  herum  und  kamen  dann  auch 
gleichzeitig  zur  Ruhe.  Trotz  der  Trennung  waren 
die  Tiere  also  noch  ganz  auf  denselben  Lebens- 
und Reaktionsrhythmus  eingestellt,  der  sie  auf 
gleichen  Reiz  in  gleicher  Weise  reagieren  ließ. 
Da  sie  ja  von  ein  und  demselben  Individuum  ab- 
stammten, oder  vielmehr  noch ,  die  zwei  Hälften 
eines  einzigen  Wesens  gebildet  hatten,  verhielten 
sie  sich  trotz  der  Trennung  noch    so  einheitlich". 

Weil  die  Tiere  hier  ursprünglich  Teile  ein 
und  desselben  Individuums  gewesen  sind,  mag 
die  Gleichheit  der  Reaktion  vielleicht  nicht  so 
verwunderlich  erscheinen.  Es  gibt  jedoch  bei  den 
Würmern  noch  andere  Fälle,  in  denen  trotz  auf- 
gehobener Verbindung  Einzelteile  ihre  Bewegungs- 
weise fortsetzen,  und  diese  Phänomene  sind  manch- 
mal so  eigenartig,  daß  sie  mit  Recht  besondere 
Beachtung  verdienen. 

Als  ein  Beispiel  dafür,  wie  eine  Reaktion  ledig- 
lich durch  den  einmal  gegebenen  Rhythmus  be- 
dingt wird,  soll  uns  der  Regenwurm  dienen,  über 


')  W.  Goetsch,    Regeneration  und    Transplantation  bei 
Planarien.     Arch.  f.  Entwickl.-Mecli.  lid.  XLIX,   1922. 


dessen  Organisation  einige  Worte  vorausgeschickt 
werden  müssen. 

Die  Anneliden  oder  Ringelwürmer,  zu 
denen  unser  Regenwurm  gehört,  zeichnen  sich 
durch  deutliche  Einkerbungen  ihres  Körpers  aus,  wo- 
durch sie  in  einzelne  Ringel  oder  Segmente  ein- 
geteilt sind.  Ein  jedes  Segment  enthält  Teile  des 
Darms,  des  Blutgefäßes,  des  Nierenapparates  in 
ganz  der  gleichen  Weise;  es  besitzt  ferner  eine 
Anzahl  von  Borsten,  die  bei  den  einzelnen  Arten 
verschieden  gebaut  sind,  an  jedem  Ringel  jedoch 
stets  in  derselben  Zahl  und  Anordnung  ange- 
troffen werden.  Endlich  besitzt  ein  jedes  Seg- 
ment noch  eine  besondere  Verdickung  des  durch- 
gehenden Nervensystems,  das  für  uns  hier  beson- 
ders wichtig  ist ;  kurzum,  ein  jeder  der  abgeteilten 
Körperregionen  hat  im  großen  und  ganzen  die 
gleiche  Ausbildung  erfahren  und  enthält  alles,  was 
zum  Leben  des  Wurmes  nötig  ist. 

Einzig  und  allein  das  Vorderende  ist  anders 
gebaut ;  es  besitzt  eine  große  Anzahl  von  Sinnes- 
organen ,  wenn  auch  ausgebildete  Augen  unseren 
einheimischen  Anneliden  fehlen,  im  Gegensatz  zu 
manchen  Meeresformen ,  die  außerordentlich  gut 
organisierte  Sehorgane  besitzen.  Wie  Versuche 
zeigen,  sind  aber  auch  unsere  Regenwürmer  für 
die  verschiedensten  Reize  sehr  empfänglich;  sie 
fliehen  das  Licht  und  müssen  daher  eine  Emp- 
findungsmöglichkeitbesitzen; sie  spüren  den  Unter- 
schied des  Bodengehaltes  und  sind  auch  für  die 
Aufnahme  anderer  chemischer  und  physikalischer 
Reize  ausgerüstet. 

Die  vollkommene  Gleichheit  der  Segmente, 
die  nur  im  Kopfabschnitt  spezielle  Ausbildungen 
tragen,  ist  nun  die  Ursache,  daß  jeder  Körper- 
abschnitt eine  große  Selbständigkeit  bewahrt ;  und 
daraus  resultiert  wiederum,  daß  bei  Zerstücke- 
lungen die  einzelnen  Teile  nicht  zugrunde  gehen, 
sondern  am  Leben  bleiben.  Viele  Anneliden  be- 
sitzen daher  auch  die  Fähigkeit  weitgehendster 
Regeneration;  auch  unser  Regenwurm  kann  ver- 
loren gegangenes  wieder  ersetzen.  Seine  Regene- 
rationsfähigkeit  ist  jedoch  an  den  verschiedenen 
Teilen  verschieden  stark;  wenn  man  nur  den 
Kopfteil  abschneidet,  so  dauert  es  zum  mindesten 
sehr  lange,  ehe  dieser  Teil  vollständig  wieder 
ersetzt  wird.  Die  größten  Feinde  der  Regen- 
würmer, die  Maulwürfe,  sollen  diese  Erscheinung 
benutzen,  wenn  sie  sich  Wintervorrat  anlegen 
wollen.  Sie  sammeln  dann  eine  Anzahl  Würmer 
und  beißen  ihnen  nur  den  Kopfteil  ab.  Die 
armen  Geschöpfe  bleiben  dann  am  Leben,  sind 
aber  unfähig  davonzukriechen. 

Ob  diese  Angaben  nun  stimmen  oder  nicht, 
das  eine  ist  sicher:  Regenwürmer,  denen  der 
Kopfteil  fehlt,  vermögen  keine  koordinierten  Be- 
wegungen auszuführen.  Die  Bewegungsfähigkeit 
an  sich  ist  zwar  nicht  aufgehoben,  wohl  aber  die 
zielbewußte  Direktion;  sie  können  sich  zwar 
winden  und  krümmen,  aber  nicht  einheitlich  in 
einer  Richtung  davonkriechen,  ganz  im  Gegensatz 


N.  F.  XXI.  Nr.    39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


533 


zu  einem  vorderen  Teilstück  mit  Kopfabschnitt, 
das  bald  die  Flucht  ergreift. 

Man  sollte  nun  glauben,  daß  der  Verlust  des 
Hirns  die  Ursache  der  unterbrochenen  Bewegungs- 
koordination sei.  Das  zentrale  Nervensystem,  so 
wäre  anzunehmen,  gibt  den  Impuls,  der  durch 
die  Stränge  des  den  Körper  durchziehenden 
Bauchmarkes  an  die  einzelnen  Teile  weitergeleitet 
wird.  Das  ist  jedoch  nicht  der  Fall.  Präpariert 
man  nämlich,  wie  dies  Friedländer  zuerst  ge- 
tan hat,  Teile  des  Bauchmarkes  aus  der  mittleren 
Region  eines  Regenwurmes  heraus,  so  laufen  die 
Kontraktionswellen,  welche  die  Bewegung  ver- 
mitteln, gleichwohl  noch  unverändert  über  den 
Körper  hinweg,  und  die  koordinierte  Reaktion 
erleidet  auch  an  den  Stellen,  die  hinter  dem 
durchtrennten  Bauchmark  liegen,  keinerlei  Ab- 
weichung. 

Man  kann  sogar  den  Versuch  noch  weiter 
fortsetzen  und  den  Wurm  vollkommen  zer- 
schneiden, so  daß  jede  Verbindung  von  Vorder- 
und  Hinterteil  gelöst  ist.  Verbinden  wir  nun  die 
beiden  Wurmhälften  durch  einen  dünnen  Faden, 
so  machen  wir  die  überraschende  Erfahrung,  daß 
sich  auch  über  diesen  Zwischenraum  von  einigen 
Zentimetern  die  unterbrochene  Wellenbewegung 
auf  das  Hinterende  fortsetzen  kann.  Wenn  sich 
das  letzte  Glied  des  Vorderteils  kontrahiert  hat, 
spannt  sich  der  Faden;  ist  dies  geschehen,  so 
zieht  sich  sofort  der  erste  Ring  des  hinteren 
Wurmabschnitts  zusammen,  die  Kontraktion  setzt 
sich  auf  die  folgenden  fort  und  die  Folge  davon 
ist,  daß  auch  dieser  Abschnitt,  der  gar  nicht  mehr 
in  organischem  Zusammenhang  mit  den  anderen 
Teilen  ist,  mit  regelmäßigen  Wellenbewegungen 
dahinkriecht. 

Wie  sind  derartige  Erscheinungen  zu  erklären? 
In  dem  hier  behandelten  Spezialfall  wird  an- 
genommen, daß  in  jedem  Segmente  ein  ge- 
schlossener Reflexbogen  vorhanden  ist  und  die 
Erregung  von  Segment  zu  Segment  allein  durch 
Zug  des  vorhergehenden  Ringels  ausgelöst  wird, 
so  daß  es  gleichgültig  ist,  ob  dieser  Zug  durch 
einen  gespannten  Faden  übermittelt  wird  oder 
durch  feste  organische  Verbindung.  Der  Antrieb 
und  die  Direktion  wird  zwar  durch  den  mit 
Sinnesapparaten  ausgestatteten  Kopfabschnitt  ge- 
geben; ist  dies  aber  einmal  geschehen,  so  ahmt 
jeder  Ringel  nach,  was  der  vorhergehende  vor- 
macht. Allgemeiner  ausgediückt  bedeutet  dies, 
daß  jeder  Teil  eine  gewisse  Selbständigkeit  be- 
sitzt, aber  doch  auf  einen  gegebenen  Rhythmus 
eingestellt  ist.  Wird  dieser  Rhythmus  ausgelöst, 
so  geht  die  Reaktion  ungehindert  vor  sich,  und 
es  spielt  nur  eine  untergeordnete  Rolle,  ob  das 
Nervensystem  unmittelbar  der  auslösende  Faktor 
ist  oder  auf  eine  andere  Weise  ein  Mitschwingen 
eingeleitet  wird. 

Da  sich  einzelne  Teilstücke  so  leicht  dem 
Ganzen  anpassen,  daß  sie  sogar  bei  einer  ganz 
losen  Vereinigung  den  gemeinsamen  Bewegungs- 
rhythmus    mitmachen,    wird     es     nicht    wunder 


nehmen,  daß  Transplantationen  und  Pfropfungen 
von  Körperteilen  bei  Würmern  leicht  auszuführen 
sind.  Bei  Regenwürmern  ließen  sich  beliebig 
viel  Segmente  mit  anderen  in  beliebiger  Zahl 
vereinigen  und  dadurch  lange  und  kurze  Wurm- 
einheiten hervorbringen ;  und  bei  Planarien  glückte 
es  ebenfalls  mit  einiger  Geduld,  Stücke  von  ver- 
schiedenen Individuen  zur  Verwachsung  zu  bringen. 
Wie  die  Abb.  7   zeigt,  sogar  in  inverser  Stellung. 


Abb.   7.     Die  Hinterenden  von  einer  hellen  und  einer  dunklen 
Planarie  sind  umgekehrt  aufeinandergepfropft.     Eine  Regene- 
ration unterbleibt,   da  die  Wunden  durch  die  Transplantation 
verschlossen  sind. 


Das  Charakteristische  solcher  Transplantationen 
ist,  daß  auf  den  einen  Organismus  wohl  ausgebil- 
dete Abschnitte  eines  anderen  als  Ganzes  ver- 
pflanzt werden,  die  sich  der  Gemeinsamkeit  ein- 
ordnen, ohne  besonders  umgebildet  zu  werden; 
d.  h.  daß  aus  zwei  oder  mehr  Teilstücken  ein 
neues  Individuum  hergestellt  wird.  Die  regenera- 
tiven Prozesse,  die  sonst  aus  eigener  Kraft  aus 
dem  Vorhandenen  eine  Einheit  zu  bilden  bemüht 
sind,  treten  dann  meist  nicht  in  Wirksamkeit,  da 
die  Herstellung  der  Individualität  auf  andere  Weise 
möglich  scheint. 

Es  ist  in  den  einzelnen  Fällen  vermutlich 
immer  nur  der  Wundreiz,  der  die  Ergänzung  des 
Fehlenden  an  dieser  Stelle  auslöst.  Wird  die 
Wunde  künstlich  geschlossen,  so  wird  dieser  Reiz 
behoben.  Der  Verschluß  braucht  dabei  nicht 
immer  durch  ein  aufgesetztes  Teilstück  bewirkt 
zu  werden,  sondern  kann  auch  auf  andere  Weise 
geschehen.  Bei  meinen  Planarienversuchen  schnitt 
ich  zur  Demonstration  dieser  Verhältnisse  z.  B.  an 
gespaltenen  Tieren  in  der  Art  der  Abb.  2  Hirn 
und  Augen  heraus,  und  da  die  Spalthälften  sich 
infolge  des  herausgenommenen  Zwickels  ausein- 
anderspreizten, wurde  die  Wunde  geschlossen. 
Die  Ausbildung  von  Augen  konnte  dadurch  bei 
solchen  Tieren   vollkommen    unterdrückt    werden. 

Die  Herstellung  von  Individualitäten  bei  Wür- 
mern kann  demnach  durch  mannigfache  Weise 
geschehen.  Überall  spielt  in  erster  Linie  das 
Material  eine  Rolle,  da  bei  all  solchen  Prozessen 
ein  Mangel  an  bildungsfähigen  oder  umbildungs- 
fähigen Stoffen  die  Wiederherstellung  ungünstig 
beeinflussen  muß.  Neben  dem  Materialmangel  oder 
Materialreichtum  kommt  es  aber  auch  noch  auf 
die  Direktionszentren  an,  da  es  von  ihnen  ab- 
hängig sein  kann,  ob  aus  dem  Vorhandenen  ein 
oder  zwei  Individualitäten  sich  herausbilden,  in- 
dem Einzelteile  aufgelöst  oder  zusammengefaßt 
werden.  Bei  einer  solchen  Zusammenfassung  spielt 
stets     der     nachahmende    Rhythmus     eine 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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große  Rolle,  da  durch  ihn  Einzelteile  zu  einer 
Einheit  verbunden  werden  können,  die  eine  ge- 
wisse Selbständigkeit  besitzen  —  gleichwie  eine 
Saite  anklingt  und  sich  der  Harmonie  einfügt, 
wenn  eine  andere,  gleichgestimmte  angeschlagen 
worden  ist. 

Dieser  auf  Nachahmung  und  Mitschwingen 
beruhende  Rhythmus  ist,  wie  wir  später  noch 
wiederholt  sehen  werden,  für  eine  Zusammen- 
fassung von  selbständigen  Gebilden  zu  einer 
größeren  Einheit  äußerst  wichtig.  Er  bildet  mit 
der  koordinierten  Reaktion  der  so  zusammen- 
gefaßten   Einzelteile     ein     Hauptcharakteristikum 


einer  Individualität.  Kommt  zu  einer  solchen 
Zusammenfassung  von  Einzelteilen  dann  noch 
das  Bestreben,  die  so  gewonnene  Einheit  zu  er- 
halten und  etwaige  Verluste  zu  ergänzen  und  zu 
ersetzen,  so  können  wir  solche  Gebilde  als  orga- 
nisches Individuum  auffassen.  Dabei  ist  aber 
immer  wieder  zu  bedenken,  daß  dieser  Begriff 
etwas  durchaus  relatives  ist,  und  ebenso  wie  bei 
den  Würmern  auch  bei  anderen  Organismen,  die 
wir  als  vollkommene  Individualitäten  zu  betrachten 
gewohnt  sind ,  die  Zusammenfassung  wirklich 
manchmal  nur  in  einem  ganz  „dünnen  Faden" 
beruhen   kann. 


Bücherbesprechungen. 


Diels,  Ludwig,  Die  Methoden  der  Phyto- 
graphie  und  der  Systematik  der  Pflan- 
zen. Handbuch  der  biologischen  Arbeits- 
methoden, Abt.  XI,  Heft  2.  Berlin  und  Wien, 
192 1,  Urban  und  Schwarzenberg. 
Mit  der  philosophischen  Durchdringung  der 
Naturwissenschaft,  besonders  auch  der  Biologie, 
geht  eine  Besinnung  über  die  Methode  Hand  in 
Hand.  In  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  jener 
steht  zwar  nur  die  Diskussion  der  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Methode,  wie  sie  in  der  Bio- 
logie besonders  Tschulok  und  Schaxel  an- 
geregt haben;  offenbar  entspringt  aber  auch  das 
vielfach  empfundene  Bedürfnis  nach  zusammen- 
fassender Darstellung  der  Einzelmethoden  einer 
gewissen  synthetischen,  philosophischen  Geistes- 
richtung. Dieser  Darstellung  ist  ein  im  Erscheinen 
begriffenes  „Handbuch  der  biologischen  Arbeits- 
methoden" gewidmet,  herausgegeben  von  Emil 
Abderhalden,  eine  Leistung,  die  nach  ihrem 
Abschluß  wohl  einzig  dastehen  und  den  Beweis 
liefern  helfen  wird,  daß  die  deutsche  Wissenschaft 
trotz  aller  Not  immer  wieder  literarische  Felder 
zu  einer  möglichen  und  lohnenden  Bearbeitung 
zu  finden  weiß.  Für  viele  modernen  Arbeitsrich- 
tungen wird  es  die  erste  methodologische  Zu- 
sammenfassung sein.  Aber  auch  die  ältesten 
biologischen  Disziplinen ,  wie  die  Beschreibung 
und  Klassifizierung  der  Lebewesen,  sind  von  neuen 
Erfahrungen  und  Ideen  so  vielfach  beeinflußt 
worden,  daß  auch  da,  wo  ältere  Darstellungen 
ihrer  Methode  vorhanden  sind,  der  Versuch  einer 
neuen  lohnt.  Linne,  dessen  Fundamenta  bota- 
iiica  (1736)  und  Philosophia  botanica  (1751)  zum 
großen  Teil  die  erste  moderne  Behandlung  der 
„Methoden  der  Phytographie  und  der  Systematik 
der  Pflanzen"  bieten,  hat  die  heute  noch  trag- 
fähigen Grundlagen  dieser  Disziplinen  gelegt;  die 
Anatomie  findet  bei  ihm  noch  keine  Verwertung. 
Alphons  de  Candolle  (La  Phytographie  ou 
l'art  de  decrire  les  vegetaux,  Paris  1880)  lehrt 
schon,  daß  die  Einteilung  der  Pflanzen  auf  alle 
Tatsachen  gegründet  werden  müsse,  auf  die  mit 
bloßem  Auge,  mit  der  Lupe  und  mit  dem  Mikro- 


skop erkennbaren;  aber  von  der  Bedeutung  der 
Vererbungslehre,  der  Variationsstatistik,  der  Serum- 
diagnostik, von  der  Darstellung  in  Stammbäumen 
ahnt  er  noch  nichts. 

Diels  hat  sich  seiner  Aufgabe,  wie  bei  seiner 
Erfahrung  auf  den  in  Frage  stehenden  Gebieten 
zu  erwarten  war,  mit  größtem  Geschick  entledigt. 
Stets  wird  das  Notwendige  gesagt,  auch  durch 
Beispiele  erläutert,  aber  —  wenige  Absätze  aus- 
genommen —  ohne  unnötige  Breite.  Auf  die 
Leistungsgrenzen  der  einzelnen  Methoden,  bzw. 
ihre  noch  geringe  Erprobung  oder  ungenügende 
Durcharbeitung  wird  mit  großer  Sachkenntnis 
hingewiesen.  So  ist  das  Buch  allen  denen,  die 
sich  mit  Pflanzenbeschreiben  und  Systematik  — 
die  beiden  verbreitetsten  Zweige  der  scientia  ama- 
bilis  — ,  und  nicht  nur  der  Phanerogamen,  be- 
schäftigen wollen,  zum  einführenden  Studium 
dringend  zu  empfehlen.  Sammler  mögen  be- 
sonders ad  notam  nehmen,  was  Diels  über  die 
Notwendigkeit  eingehender  geographischer,  öko- 
logischer und  ökonomischer  Angaben  sagt.  Aber 
auch  der,  den  System  und  Systematik  mehr  von 
ihrer  theoretischen  Seite  iriteressieren,  findet  eine 
Orientierung.  Gerade  die  grundlegende  Anschau- 
ung freilich,  daß  die  Art  nur  ein  Begriff,  keine 
Realität  sei,  scheint  mir  doch  noch  nicht  so  end- 
gültig begründet,  wie  Diels  es  ausgibt.  So 
nimmt  Heribert  Nilsson  (Experimentelle  Stu- 
dien über  Variabilität,  Spaltung,  Artbildung  und 
Evolution  in  der  Gattung  Äi/z-V,  1918)  die  Existenz 
der  mehr  oder  minder  wohldifferenzierten  Arten 
in  der  Natur  als  eine  Tatsache  und  gibt  vom 
genetischen  Standpunkt  eine  ganz  neue  Artdefini- 
tion: die  Art  ist  „eine  Kombinationssphäre,  wo 
der  Durchschnittstypus  von  der  Frequenz  der 
Gametenarten  bedingt  ist  und  wo  die  Variabilität 
von  der  Anzahl  spaltender  Faktoren  bestimmt 
wird".  Durch  Selektion  seien  in  der  Natur  die 
lebensfähigsten  Kombinationskreise  (Genotypen- 
mischungen) ausgesondert  worden,  und  das  sind 
die  gegenwärtigen  Arten  der  Natur.  Ferner  sind 
meinem  Gefühl  nach  in  dem  Bestreben,  zwischen 
den    Ansprüchen     der    praktischen    Klassifikation 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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und  der  wissenschaftlichen  Systematik  zu  ver- 
mitteln, die  Interessen  der  ersteren  etwas  zu  weit- 
gehend gewahrt  worden,  was  der  Einsteilung  der 
Berliner  Systematikerschule  entspricht,  aber  wohl 
auch  in  dem  praktischen  Ziele  des  Buches  be- 
gründet ist.  Zum  Schluß  möchte  ich  den  Wunsch 
aussprechen,    es    möge    bald    eine    genauere    Zu- 


sammenstellung des  iVIaterials  erscheinen,  das  in 
den  der  Forschung  zugänglichen  Herbarien  auf- 
bewahrt wird,  auch  den  ausländischen.  Sie 
könnte  dem  Phytographen  und  Systematiker  beim 
Entleihen  fremder  Herbarien  wertvolle  Fingerzeige 
geben  und  viele  unnötige,  hohe  Portokosten  er- 
sparen. Hubert  Winkler,  Breslau. 


Anregungen  und  Antworten. 


In  Nr.  14  dieser  Zeitschrift  hatte  ich  gelegentlich  einer 
Kritik  von  N  ac  h  ts  h  e  i  ms  Auffassung  über  die  ,, Entstehung 
blinder  Höhlenformen"  behauptet,  es  sei  unmöglich,  daß  eine 
einmal  zufällig  aulgetretene  dominierende  Abart  ohne  Hilfe 
von  Selektion  die  Stammform  im  Laufe  noch  so  vieler  Gene- 
rationen verdrängen  könne,  vielmehr  bleibe  das  Verhältnis 
Mutante  zu  Stammform  auch  in  allen  späteren  Generationen 
das  gleiche.  Kranich  feld  (Nr.  24  d.  Zeitschr.)  stimmt  nun 
zwar  dem  ersten  Teil  meiner  Behauptung  vollkommen  zu, 
lehnt  aber  die  zweite  Hälfte  in  längeren  Ausführungen  ab, 
und  das  veranlaßt  mich  im  Interesse  der  Klärung  der  Sach- 
lage nochmals  das  Wort  zu  ergreifen. 

Nehmen  wir  einmal  an,  bei  irgendeiner  Tierart,  die  (der 
einfachen  Rechnung  wegen)  nur  1000  Individuen  umfassen 
soll,  träte  plötzlich  unter  diesen  looo  eine  abweichende  erb- 
liche Form  auf,  die  sich  gegenüber  der  Stammart  dominant 
verhält.  Wir  hätten  dann  also  I  DD  -j- 999  RR.  Jedes  Paar 
dieser  (einjährigen)  Art,  soll  nun,  wie  wir  ebenfalls  der  Ein- 
fachheit halber  annehmen,  nur  2  Junge  haben.  In  Wirklich- 
keit wird  natürlich  die  Zahl  der  Jungen  stets  größer  sein, 
doch  geht  dann  die  lOOO  übersteigende  Individuenzahl  im 
Kampfe  ums  Dasein  zugrunde.  Denn  im  allgemeinen  bleibt 
ja  die  Individuenzahl  einer  Art  bekanntlich  immer  etwa  die 
gleiche.  Übrigens  würde  sich  am  Zahlen  Verhältnis  Mu- 
tante zu  Stammform,  auf  das  es  ja  allein  ankommt,  auch 
nicht  ändern,  wenn  alle  Individuen  am  Leben  blieben.  Das 
eine  DD  muß  sich  natürlich  mit  einem  der  999  RR  paaren 
und  die  übrigen  99S  RR  geben  499  Paare,  also  i  (DDXKR) 
-(-  449  (RR  X  RR)-  Bei  2  Jungen  pro  Paar  ergibt  F,  ;  2  DR 
-f-  998  RR. 

Wir  hätten  also  eine  Verschiebung  der  Verhältnisse  Mu- 
tante zu  Stammform  zugunsten  der  ersteren.  Natürlich  ist 
diese  Zunahme  nur  scheinbar,  da  ja  die  2  abweichenden  D- 
Formen  von  F[  heterozygot  sind ,  während  die  ursprüngliche 
Mutante  homozygot  war.  Übrigens  treten  ja  in  Wirklichkeit 
die  meisten  Mutanten  von  vornherein  heterozygot  auf,  wobei 
natürlich  die  scheinbare  Zunahme  in  F,  wegfällt.  —  Nach  den 
Kegeln  der  Wahrscheinlichkeit    werden    sich    im    allgemeinen 


hältnis :  dominierende  Mutante  zu  Stammform   wenigstens  von 
der  F[ -Generation  an  bei  fehlender  Selektion  nicht  ändert. 

Die  Annahme  Plates  in  der  3.  Auflage  von  „Selektions- 
prinzip usw.",  daß  eine  neu  entstehende  dominierende  Mutation 
ohne  Selektion  die  Stammform  zu  verdrängen  vermöge  ,  war 
natürlich  falsch.  Denn  einmal  berücksichtigte  er  die  RR- 
Formen  überhaupt  nicht  genügend,  sodann  beachtete  er  nicht, 
daß  die  Gesamtindividuenzahl  der  Art  durch  den  Kampf  ums 
Dasein  immer  wieder  auf  die  ursprüngliche  reduziert  wird, 
war  natürlich  Stammform  und  Mutante  in  verhältnismäßig  ganz 
gleicher  Weise  trifft,  fetner,  daß  auch  beim  Nichteintreten 
dieser  Reduktion  die  Wahrscheinlichkeit  einer  Paarung  DR^DR 
nur  gering  ist,  da  zwar  die  Mutante ,  im  gleichen  Verhältnis 
aber  auch  die  Stammform  an  Zahl  zunimmt,  endlich,  daß  sich» 
am  Zahlenverhältnis  Mutante  zu  Stammform,  wie  leicht  zu  er- 
mitteln, auch  beim  Eintreten  solcher  Paarungen,  nichts  ändern 
würde  (abgesehen  von  einer  scheinbaren  kleinen  Änderung 
zuungunsten  der  Mutante ,  da  ja  wieder  DD-Formen  auf- 
treten). Die  Tatsache,  daß  Platc  diesem  Irrtum  zum  Opfer 
fiel,  beweist,  beiläufig  bemerkt,  daß  Herrn  Nachtsheims 
Entrüstung  darüber,  wie  man  einen  bekannten  Forscher,  der 
doch  mit  diesem  .\BC  der  Vererbungslehre  vertraut  sei,  einen 
derartigen  Fehler  zutrauen  könne,  durchaus  nicht  am  Platze 
ist.  Übrigens  hat  Plate,  wie  schon  Herr  Kranich  feld 
feststellte,  diesen  Fehler  bereits  in  der  4.  Auflage  des  „Selek- 
tionsprinzips" ebenso  wie  in  seiner  ,, Vererbungslehre"  ausge- 
merzt, andererseits  aber  anerkennenswerterweise  in  einer  an- 
deren Arbeit  den  Irrtum  offen  zugegeben. 

Wie  kommt  nun  aber  Herr  Kranichfeld  zu  der  ab- 
weichenden Auffassung,  daß  die  Mutantenformen  in  den  spä- 
teren Generationen  ständig  abnehmen?  Das  hat  seinen  Grund 
einfach  darin,  daß  er  zwar  dauernd  die  ursprünglich  vorhan- 
dene RR-Staramformindividuen  und  ihre  Nachkommen  als 
Paarungspartner  für  die  Mutantenformen  in  seine  Rechnung 
hineinzieht,  sie  aber  sonst  ganz  unberücksichtigt  läßt.  Sein 
Schema  wäre  also  (bei  Annahme  von  999  unveränderten  Art- 
individuen und  I  Mutante  in  der  P-Generation,  sowie  4  Jungen 
pro  Paar)  folgendermaßen  abzuändern: 


Generation 
P 


Gesamtzahl 

der 
Individuen 

1000 

2000 


Anzahl  der  D-   und   R-Formen 
IDD 
4  DR 


-4-8  RR 


Verhältnis  D  :  R 
+999  RR        I  :      999 
-f-i996RR       4;     1996  =  2:998 

-I-3984  RR       8  :     3992  =  2  :  998 


16DR-I-16RR        32RR 


+  7936  RR      16:     7984  =  2: 


Fl 


16  000 


32DR-f  32RR  64RR  128RR  -J-I5744RR     32:15968  =  2:998 


die  2  DR  mit  Normalformen  RR  paaren  müssen  (im  anderen 
Falle  würde  sich  übrigens  auch  nichts  ändern).  Es  ergeben 
sich  also  in  F,  folgende  Paare  :  2  (DR  X  RR)  +  49»  (RR  X  RR) 
und  für  F^  :  2  DR  -f  2  RR  -f  996  RR  =  2  DR  -|-  99S  RR ,  also 
genau  das  gleiche  Zahlenverhältnis  wie  in  F, .  Natürlich  muß 
dann  auch  in  Fj,  F^  usw.  das  Verhältnis  das  gleiche  bleiben, 
nämlich  2  Mutanten  =  zu  998  Stammformindividuen,  oder, 
falls  die  allererste  Mutante,  wie  das  gewohnlich  der  Fall  ist, 
DR  war,    I  :  999.    Damit  ist  aber  bewiesen,  daß  sich   das  Ver- 


Man  sieht  ohne  weiteres,  daß  in  jeder  Generation  das  Plus 
an  RR-Formen  unter  der  direkten  Nachkommenschaft  der 
Mutante  bei  den  RR-Nachkommen  der  999  Stammformindivi- 
duen fehlt,  daß  also  im  ganzen  das  Verhältnis  D  :  R,  wie 
wir  ja  das  schon  oben  sahen,  von  der  Di-Generation  an  un- 
verändert bleibt,   nämlich  in  unserem   Falle  2  :  998. 

Nun  noch  einige  Worte  zu  Nachtsheiras  Erwiderung 
in  Nr.  17.  Auf  die  zitierten  Aussprüche  seiner  3  Autoritäten 
will  ich   nicht    weiter    eingehen ,    denn    Herr  N.  zweifelt  doch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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wohl  kaum  daran,  daß  es  leicht  sein  würde,  ihnen  ebcnsoviele 
Bemerkungen  nicht  minder  bekannter  Biologen  entgegen- 
zusetzen. Am  Schluß  seiner  Ausführungen  präzisiert  N.  seine 
Auffassung  nochmals  mit  folgenden  Worten:  „Das  Auge  hat 
nun"  (im  Dunkeln)  ,, keinen  Selektionswert  mehr,  die  augen- 
losen Mutanten  werden  infolgedessen  nicht  mehr  eliminiert 
und  infolge  ihrer  Dominanz  über  die  Ursprungsform 
werden  sie  diese  mehr  und  mehr  zurückdrängen".  Abgesehen 
davon,  daß  es  damals  statt  „zurückdrängen"  wohl  ,, verdrängen" 
hieß,  ist  das  etwa  dasselbe,  was  N.  schon  im  ersten  Artikel 
gesagt  hatte.  Nun  kommt  aber  jetzt  noch  ein  Zusatz,  der 
damals  fehlte  und  den  Sinn  gänzlich  ändert.  Es  heißt  näm- 
lich weiter:  ,,Die  von  Herrn  Peter  aufgestellte"  (und,  wie 
wir  oben  sahen,  richtige)  Behauptung,  daß  die  Nachkommen 
der  Stammform  und  der  Mutante  während  aller  Generationen 
in  demselben  Zahlenverhältnis  zueinander  blieben,  wäre  nur 
dann  richtig,  wenn  keine  neuen  gleichsinnigen  Mu- 
tationen erfolgen  würden.  Aber  das  ist  eben  der 
Fall.  Resultat  also:  die  größte  Mehrzahl  der  Tiere  ist  augen- 
los, die  Augentiere  werden  mit  der  Zeit  immer  seltener." 
Jetzt  sollen  also  auf  einmal  die  neu  entstehenden  gleichsinni- 
gen Mutationen  daran  schuld  sein,  daß  die  Abart  die  Über- 
zahl erlangt.  Zur  Überzahl  gehören  aber  bei  einer  Art  von 
nur  looo  Individuen  bekanntlich  mindestens  501.  So  viele 
Mutationen  gleicher  Art  müßten  also  im  Minimum  unabhängig 
voneinander  enstehen.  Zu  solchen  gewagten  Hilfsannahmen 
seine  Zuflucht  nehmen,  heißt  doch  wohl  m.  E.  den  Bankrott 
der  Mutationstheorie  selbst  anmelden.  Vollends  unbegreiflich 
ist  mir  gar  die  Behauptung:  ,,Aber  das  ist  eben  der  Fall." 
Welchen  Sinn  soll  übrigens  nun  der  obige  Passus  ,, infolge 
ihrer  Dominanz  über  die  Ursprungsform"  noch  haben?  Wenn 
er  fehlte  würde  sich  doch  am  Sinn  der  obigen  Behauptung 
gar  nichts  ändern.  Könnte  doch  nach  der  obigen  Methode 
schließlich  sogar  eine  rezessive  Mutation  die  Stammform  zu- 
rückdrängen. — 

Was  die  Entstehung  der  blinden  Höhlenformen  anlangt, 
so  möchte  ich  zum  Schluß  auf  einen  kürzlich  in  der  Zeit- 
schrift für  induktive  Abstammungslehre  erschienenen  Aufsatz 
von  Alverdes  verweisen,  worin  dieser  zu  jener  Frage  ähn- 
lich wie  ich  Stellung  nimmt.         W.  Peter,  Buenos  Aires. 


Eine  Anregung  zur  Reform  der  botanisch  -  anatomischen 
Terminologie.  Wohl  keine  Wissenschaft  hat  eine  ganz  folge- 
richtig durchgeführte  Terminologie.  Das  liegt  an  der  stück- 
weisen Entstehung  und  den  geschichtlichen  Um-  und  Irrwegen 
der  Wissenschaft.  Fachausdrücke,  die  halbe  oder  ganze  Irr- 
tümer zum  Ausdruck  bringen,  haben  sich  in  der  Überlieferung 
und  im  Schrifttum  der  Wissenschaft  festgesetzt  und  werden 
heute  noch  angewendet,  obgleich  sie  Relikte  früherer  Zeiten 
mit  anderen  Anschauungen  sind.  Natürlich  hat  auch  nicht 
bei  allen  Fachausdrücken ,  denen  an  sich  eine  richtige  Auf- 
fassung der  Tatsachen  zugrunde  liegt,  die  Logik  Pate  ge- 
standen. Daß  ich  hier  eine  Nachprüfung  der  anatomischen 
Fachausdrücke  anrege,  obwohl  ich  auf  dem  Gebiete  der  Ana- 
tomie nicht  gearbeitet  habe,  hat  zwei  Gründe.  Der  akademi- 
sche Lehrer  muß  dem  Nachwuchs  auch  Stoffe  übermitteln,  die 
er  selbst  nur  übernommen  hat.  Da  nach  einem  treffenden 
Worte  Max  Schelers  die  einzige  geistige  Beseelung,  welche 
Stoffüberlicferung  besitzen  kapn,  die  genau  durchdachte  päda- 
gogische Methodik  der  Stoffüberlieferung  ist,  so  muß  auch 
der  akademische  Lehrer,  wenn  er  nicht  ein  Automat  werden 
will,  die  pädagogische  Methode  pflegen.  Und  gerade  dabei 
bin  ich  zu  Reibungen  mit  der  anatomischen  Terminologie  ge- 
kommen. Übrigens  hat  schon  Sachs  in  seinen  „Physiologi- 
schen Notizen"  es  beklagt,  daß  die  Biologen  im  Gegensatz  zu 
den  Astronomen,  Physikern,  Kristallographen  und  Chemikern 
ihre  Nomenklatur  nicht  dem  Stande  diir  wissenschaftlichen 
Erkenntnis  angepaßt  haben. 

Von  geringerer  Bedeutung  ist  es,  daß  Ausdrücke,  die  aus 
früheren  falschen  Deutungen  stammen,  weiter  benutzt  werden, 
wie  Trachce  und  Tracheide  für  die  w  asser  leitenden 
Elemente  des  Holzes.     Man  kann  ja,    wenn    man    diese    Aus- 


drücke etymologisch  und  sachlich  erklärt,  auf  die  frühere  irr- 
tümliche Auffassung  hinweisen,  was  in  vielen  Fällen  didak- 
tisch sogar  nützlich  ist;  aber  doch  nur,  wenn  man  den  Irrtum 
nicht  nur  kurz  berührt,  sondern  in  seiner  Entstehung  begrün- 
det. Zu  solchen  geschichtlichen  Abschweifungen  mangelt  es 
aber  meist  an  Zeit.  Anatomische  Fachausdrücke  sollen  nicht, 
wie  binäre  Tier-  und  Pflanzennamen,  ,, nichts  bedeuten"  (nur 
den  Organismus  in  seiner  systematischen  Stellung  gegen  andere 
abgrenzen),  sondern  sie  sollen  im  Gegenteil  möglichst  an- 
schaulich, lebens-  und  bedeutungsvoll  sein.  Dann  kann  man 
doch  aber  Elemente,  die  der  Wasserleitung  dienen,  nicht 
,, Tracheen''  und  ,,Tracheiden"  nennen!  Schon  Potonie 
hat  in  diesem  Falle  eine  Verbesserung  vorgeschlagen :  ,,Hy- 
droiden",  ein  Wort,  das  hinsichtlich  seiner  Bedeutsamkeit  gut 
gewählt,  nach  seiner  dem  Ausdruck  ,,Tracheiden"  angegliche- 
nen Form  aber  wohl  zu  beanstanden  ist.  Potonies  Vor- 
schlag hat  keinen  Erfolg  gehabt;  andere  Fachausdrücke,  die 
auf  falschen  Auffassungen  beruhten,  sind  aber  ganz  verschwun- 
den, wie  Nägelis  ,,Fibrovasalstrang"  beweist. 

Didaktisch  schwerer  wiegen  Folgewidrigkeiten  im  System 
der  Fachausdrucke.  Nur  einen  Fall,  der  seil  Jahren  meinen 
Widerspruch  geweckt  hat,  will  ich  hier  anführen.  Soll  dem 
Studenten  das  Dickenwachstum  des  Dikotylenstammes  klar 
werden,  so  muß  er  den  Gegensatz  von  primären  und  sekun- 
dären Geweben  verstehen.  Besagt  der  Ausdruck  ,, primäres 
Holz"  und  ,, primäres  Phloem",  daß  diese  Gewebe  schon  vor 
Einsetzen  der  Kambiumtätigkeit  vorhanden  waren,  und  zwar 
—  abgesehen  von  der  Zwischenzone  des  Kambiums  —  auf 
demselben  Radius  eng  aneinander  liegend,  und  daß  sie  durch 
den  ,, sekundären  Zuwachs"  auseinander  gedrängt  werden,  so 
daß  jeder  von  zwei  Urmarkstrahlen  begrenzte  Gewebekeil  aus 
drei  hintereinander  liegenden  Teilen  besteht,  zu  äußerst  dem 
primären  Phloem,  zu  innerst  dem  primären  Xylem,  dazwischen 
dem  sekundären  Zuwachs;  bezieht  man  hier  also  die  Aus- 
drücke ,, primär"  und  ,, sekundär"  auf  Gewebe  in  radialer  An- 
ordnung, so  ist  es  eine  Folgewidrigkeit,  die  ganzen  durch  die 
Kambiumtätigkeit  verlängerten  Urmarkstrahlen  als  ,, primäre 
Markstrahlen",  die  später  in  die  Holzkeile  eingeschobenen 
Markstrahlen  als  „sekundäre"  zu  bezeichnen.  Auch  die  Ur- 
markstrahlen der  verdickten  Achse  bestehen  aus  primärem 
und  durch  die  Kambiumtätigkeit  erzeugtem  sekundären  Ge- 
webe, genau  wie  jeder  Gewebeteil  zwischen  den  Urmark- 
strahlen aus  primärem  und  sekundärem  Xylem  und  Phloem 
besteht.  Zweckmäßig  wäre  es  vielleicht,  den  Ausdruck 
primäre  und  sekundäre  Markstrahlen  überhaupt  fallen  zu 
lassen ,  die  Urmarkstrahlen  kurzweg  Markstrahlen  und  die 
später  eingeschalteten  nach  dem  Vorschlage  Strasburgers 
als  ,, Holzbaststrahlen"  zu  bezeichnen.  Hinzu  kommt,  daß  der 
primäre  Markstrahl  —  dieser  Begriff  in  seiner  einzig  richtigen 
Bedeutung  angewendet  —  gar  kein  ,, Strahl",  sondern  eine 
mehr  oder  minder  dünne  Gewebelamelle  ist,  die  man  ,, Gefäß- 
bündelmaschen-Platte" oder  kurzweg  „Maschenplatte"  nennen 
könnte.  Aus  diesen  Maschenplatten  entstehen  beim  sekundären 
Dickenwachstum  die  Markstrahlen. 

Eine  große  Anzahl  von  Studenten,  die  nur  Worte  hören 
und  auswendig  lernen,  vielleicht  auch  nicht  die  nötige  Schu- 
lung des  Denkens  haben,  merken  die  Inkonsequenz  gar  nicht. 
Die  denkenden  aber,  die  sich  auch  eine  Vorstellung  bilden 
wollen,  werden  verwirrt.  Aber  auch  abgesehen  von  diesem 
pädagogischen  Gesichtspunkt  müßte  doch  jede  Wissenschaft 
nach  einem  folgerichtigen  System  ihrer  Fachausdrücke  streben. 

Der  Grund  dafür,  daß  ich  jetzt  diese  Anregungen  ver- 
öftentliche,  obgleich  ich  den  Mangel  schon  jahrelang  empfinde, 
ist  ein  äußerer.  Es  ist  augenblicklich  ein  von  Linsbauer 
herausgegebenes,  wie  es  scheint,  sehr  ausführliches  Handbuch 
der  Anatomie  in  Vorbereitung.  Das  wäre  eine  gute  Gelegen- 
heit, der  Nomenklaturfr.ige  näher  zu  treten,  wenigstens  auf 
jenen  älteren  Forschungsgebieten ,  die  heute  einen  gewissen 
Abschluß  erreicht  haben,  der  Lehre  vom  ,, Zellhautgerüst"  der 
Pflanzen  und  der  topographischen,  z.  T.  auch  der  physiolo- 
gischen Gewebelehre.  Die  rechte  Energie  wie  das  rechte  Maß 
bei  diesem  Unternehmen  muß  man  den  Fachleuten  überlassen. 
Hubert  Winkler,   Breslau. 


Illlmlt:  W.  Goetsch,  Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen.  (7  Abb.)  S.  529.  —  Bücherbesprechungen:  L.  Di  eis, 
Die  Methoden  der  Phytographie  und  der  Systematik  der  Pflanzen.  S.  534.  —  Anregungen  und  Antworten :  Entstehung 
blinder  Höhlenformen.  S.   535.     Eine  Anregung  zur  Reform  der  botanisch-anatomischen  Terminologie.  S.   536. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,   Invalidenstraße  42,  erbeten. 
"     Verlag  von   Gustav   Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'gchen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band 


Sonntag,  den  i.  Oktober  1922. 


Nummer  40. 


Über  die  Homomerie. 

Vortrag,  gehalten  auf  der  Versammlung  der  D.  Zoolog.  Gesellschaft  in  Würzburg. 
Von  Prof.  Dr.  H.  E.  Ziegler. 

[Nachdruck  verboten.]  M''  ^  Abbildungen  im  Text. 


Das  von  P 1  a t e  eingeführte  Wort  Homo- 
merie bezeichnet  eine  Vererbungsweise,  bei 
welcher  eine  Anzahl  von  Faktoren  (Genen)  gleich- 
sinnig zusammenwirkt;  andere  Autoren  gebrauchen 
die  Bezeichnung  Polymerie  oder  Prinzip 
von  Nilsson-Ehle.  Der  erstgenannte  Aus- 
druck ist  vorzuziehen,  weil  er  schon  in  dem  Wort 
das  Wesentliche  angibt,  die  Gleichartigkeit  der 
Faktoren.  Im  Sinne  der  Chromosomentheorie  be- 
deutet die  Homomerie  folgendes :  eine  Eigenschaft 
beruht  auf  mehreren  oder  auf  allen  Chromosomen- 
paaren, und  deren  Wirkungen  addieren  sich. 

Die  Homomerie  ist  praktisch  von  großer 
Wichtigkeit,  da  viele  Eigenschaften  der  Haustiere 
(Größe,  Schnellwüchsigkeit,  Milchergiebigkeit 
u.  a.  m.)  und  auch  manche  Veranlagungen  beim 
Menschen  (insbesondere  geistige  Eigenschaften 
und  Geisteskrankheiten  sowie  konstitutionelle 
Krankheiten)  sich    in  dieser  Weise  vererben. ') 

Für  die  Homomerie  gelten  bestimmte  Gesetz- 
mäßigkeiten, welche  zwar  in  den  Lehrbüchern 
der  Vererbungslehre  besprochen  werden,  -)  aber 
doch  nicht  so  allgemein  bekannt  sind  wie  die 
Mendelsche  Regel.  Sie  können  in  folgender  Weise 
erläutert  werden.  Wenn  zwei  Tiere  gekreuzt 
werden,  welche  in  einer  Eigenschaft  sich  unter- 
scheiden, z.  B.  in  den  Längenmaßen  10  und  16 
und  welche  in  der  betreffenden  Eigenschaft  in 
allen  Chromosomenpaaren  Homozygoten  sind,  so 
erhält  die  F^-Generation  den  Mittelwert  (13),  weil 
ebensoviele  Chromosomen  für  den  Wert  10  wie 
für  den  Wert  16  vorhanden  sind.  In  die  reifen 
Sexualzellen  kommen  nun  infolge  der  Reduktion 
schwankende  Zahlen  der  beiden  Arten  von  Chro- 
mosomen (Abb.  i),  und  erkennt  man  die  Häufig- 
keit der  einzelnen  Zahlenverhältnisse  aus  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung ;  ■')  sie  wird  durch  die 


')  Die  Vererbungsweise,  welche  man  jetzt  als  Homomerie 
bezeichnet,  ist  von  mir  schon  im  Jahre  1906  für  den  Men- 
schen beschrieben  worden  (H.  E.  Z  i  e  g  1  e  r ,  Die  Chromosomen- 
theorie der  Vererbung  in  ihrer  Anwendung  auf  den  Menschen. 
Archiv  für  Rassenbiologie  3.  Jahrg.   1906,  S.   797 — S12). 

2)  L.  Plate,  Vererbungslehre.     Leipzig   1913,  S.  155  ff. 

Erwin  Baur,  Einführung  in  die  experimentelle  Ver- 
erbungslehre.    2.  Aufl.     Berlin    1914,  S.   170 — 174. 

R.  Goldschmidt,  Einführung  in  die  Vererbungs- 
wissenschaft.    3.  Aufl.      1920,    S.  233  ff. 

V.  Haecker,  Allgemeine  Vererbungslehre.  3.  Aufl. 
192 1,    S.  244. 

H.  E.  Ziegler,  Die  Vererbungslehre  in  der  Biologie  und 
in  der  Soziologie.     Jena   1918,  S.   134  ff. 

^)  Vgl.  in  meiner  Vererbungslehre  (1918)  S.  39 — 41  und 
S.  »35—137- 


Binomialkoeffizienten  bestimmt.  Die  F., -Genera- 
tion geht  aus  der  Kombination  solcher  Sexual- 
zellen hervor  und  enthält  folglich  ebenfalls  schwan- 
kende Zahlenverhältnisse.  Aus  der  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung ergibt  sich,  daß  die  Häufigkeiten 
der  einzelnen  Fälle  ebenfalls  durch  die  Binomial- 
koeffizienten zu  bestimmen  sind;  die  Häufigkeits- 
kurve ist  also  die  Binomialkurve  (Abb.  2).  Das 
Ergebnis  ist  demnach  ein  ähnliches  wie  man  es 
von  der  fluktuierenden  Variation  kennt.')  Die 
mittleren  Werte  sind  die  häufigsten,  die  kleineren 
und  die  größeren  Werte  sind  weniger  häufig,  und 
die  extremen  Werte  (hier  10  und  16)  sind  so 
selten,  daß  sie  praktisch  gar  nicht  in  Betracht 
kommen. 

Wichtig  ist  nun  die  Frage,  was  bei  der  Selek- 
tion geschieht.  Bringt  man  zwei  mittlere  Werte 
zusammen,  so  ist  das  Ergebnis  dasselbe  wie 
in  dem  vorigen  Falle.  Wählt  man  aber  zwei 
seitliche  Werte  derselben  Richtung  aus  (z.  B. 
zwei  Werte  15),  so  pendelt  das  Ergebnis  um  den 
ausgewählten  Wert,  -)  wie  Abb.  2  zeigt  und  wie 
dies  aus  den  unten  mitgeteilten  Experimenten 
hervorgeht. 

Das  Ergebnis  solcher  Selektion  ist  aber  nicht  immer  ge- 
nau dasselbe,  sondern  nach  den  Elternindividuen  verschieden. 
Es  gibt  Individuen,  welche  einen  größeren  Einfluß  auf  die 
Vererbung  haben  wie  andere;  der  Züchter  spricht  in  solchem 
Falle  von  größerer  Durchschlagskraft  oder  größerer  ,,Indivi- 
dualpotenz".  Aus  der  Chromosomentheorie  erklärt  sich  dies 
in  folgender  Weise.  Wenn  ein  Elternlier  in  mehreren  Chro- 
mosomenpaaren homozygot  ist,  so  kommt  das  betreffende 
Chromosom  aus  jedem  dieser  Paare  mit  Sicherheit  in  die  Ge- 
schlechtszellen hinein.  Jede  Sexualzelle  muß  also  in  der  be- 
treffenden  Richtung  einen  Einfluß  ausüben.  Wenn  aber  das 
Elterntier  die  betreffenden  Chromosomen  nur  heterozygot  be- 
sitzt, so  schwankt  die  Zahl  der  betreffenden  Chromosomen 
in  den  Sexualzellen  sehr  stark,  und  folglich  ist  die  Durch- 
schlagskral't  des  betreffenden  Individuums  weniger  sicher. ') 

Die  Züchter  haben  auf  diese  Unterschiede  der  ,,Individual- 
potenz"  mehr  geachtet  als  die  Vererbungstheoretiker,  weil  die 
Züchter  mit  vielen  Eigenschaften  zu  tun  haben,  die  sich  nach 
den  Gesetzen  der  Homomerie  vererben,  wie  Körpergröße, 
Schnellwüchsigkeit,  Milchergiebigkeit  u.  a.  m.,  während  anderer- 
seits die  Vererbungsforscher  der  Homomerie  wenig  Aufmerk- 
samkeit geschenkt  haben. 

Experimentelle      Untersuchungen      über      die 


')  Vgl.  in  meiner  Vererbungslehre  (1918)  S.  217—232. 

'')  Der  mathematische  Beweis  ist  in  meiner  „Vererbungs- 
lehre" gegeben  (S.   146 — 151). 

ä)  Wie  ich  dies  in  meiner  „Vererbungslehre"  (S.  140— 142) 
erwähnt  und  in  der  Schrift  über  die  „Zuchtwahlversuche  an 
Ratten"  (S.  396 — 399)  eingehender  dargelegt  habe  (in  der 
Festschrift  zur  Feier  des  loojährigen  Bestehens  der  K.  Landw. 
Hochschule  in  Hohenheim,  Stuttgart  1918,  Verlag  von  Ulmer.) 


538 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Homomerie  liegen  nicht  viele  vor.  Das  bekann- 
teste Beispiel  ist  das  Experiment  von  Nilsson- 
E  h  1  e  mit  der  Kreuzung  von  roten  und  weißen 
Weizenkörnern.*)  In  allen  Lehrbüchern  werden 
auch  die  Versuche  von  Castle  über  die  Ohrlänge 
der  Kaninchen  erwähnt.     Aber  auch   die  Körper- 


Vater 


die  Mulatten,    die 
Matter 


©e®®eeee 


nuiniüich 


Vorkt 


nriliUrh 


6,25 


3 


Kin(L' 


e©00 
eeee 
ee©e 


Abb.  I.  Wenn  8  Chromosomen  zusammenwirkend  die  Eigenschaft  bestimmen, 
so  sind  bei  den  Bastarden  zweier  homozygoter  Individuen  4  Chromosomen  der 
einen  Art  und  4  der  anderen  Art  vorhanden.  Für  die  Scxualzellen  gibt  es  die 
Möglichkeiten  .1 — e  oder  f  — k  mit  den  beigeschriebenen  prozentualen  Häufigkeiten. 
Bei  der  Befruchtung  kann  sich  jeder  der  Fälle  a — e  mit  jedem  Fall  ( — k  kombinieren. 
Aus  Ziegler,  Vererbungslehre. 


Dasselbe  gilt  vermutlich  auch  für  die  Größe  der 
inneren  Organe  und  somit  auch  flir  das  Hirn- 
gewicht des  Menschen.  —  Ein  bekanntes  Beispiel 
bietet  auch  die  Hautfarbe  beim  Menschen.  Bei 
der  Kreuzung  von  Negern  mit  Weißen  entstehen 
in  der  Hautfarbe  intermediär 
sind,  und  in  der  folgenden  Ge- 
neration zeigen  sich  schwan- 
kende Färbungen.  (Nach  Da- 
ve np  ort.)  —  Auch  bei  den 
Kreuzungen  der  Zahnkarpfen- 
arten Xiphophorus  strigatus 
und  Platypoikilus  maculatus 
scheint  ein  Teil  der  äußeren 
Eigenschaften  sich  nach  dem- 
selben Gesetz  zu  vererben, 
nämlich  die  Querstreifen  und 
der  merkwürdige  Fortsatz  der 
Schwanzflosse,  das  sog. 
Schwert.  \) 

Ein  neues  Beispiel  der 
Vererbung  nach  den  Gesetzen 
der  Homonerie  bilden  die 
Holländer  -  Kaninchen.  Diese 
sollen  in  der  hinteren  Hälfte 
des  Körpers  schwarz  sein  und 
ebenso  an  den  Ohren  und  an 
den  Seiten  des  Kopfes;  die 
schwarze  Färbung  kann  aber 
einen  größeren  oder  einen  klei- 
neren Teil  des  Körpers  be- 
decken, so  daß  es  viele  Stufen 
gibt.  Nach  Pap  beruht  die 
Ausdehnung  der  Färbung  auf 
mehreren  (mindestens  vier) 
Faktorenpaaren,  deren  Wirkung 
sich  summiert.  '■*) 

Hier  will  ich  nun  eingehen- 
der nur  von  der  Vererbung 
der  Scheckung  sprechen,  über 
welche  ich  bei  Ratten  (sog. 
irischen  Ratten)  seit  neun 
Jahren  Zuchtversuche  gemacht 
habe.  Zwar  ist  die  Scheckung 
insofern  ein  mendelndes  Merk- 
mal, als  Scheckung  und  Ganz 
farbigkeit  alternative  Merkmale 
sind.  Aber  die  Art  und  das 
Maß  der  Scheckung  vererbt 
sich  nicht  nach  der  einfachen 
Mendelregel,  und  ich  vertrete 
die  Ansicht,  daß  das  Maß  der 
Scheckung  nach  den  Gesetzen 
der  Homomerie  zu  erklären  ist. 
Auch    frühere   Autoren    haben 


öö  ^  £S^  (T\ 

\l7  W   W  tu 

h  e  ®  0  0 
l  ©000 

/'  0  0  0  0 


25 


37 


25 


625, 


große  der  Kaninchen  folgt  demselben  Gesetz. 
Ebenso  nach  aller' Wahrscheinlichkeit  die  Körper- 
größe  aller   Säugetiere    und   auch   des  Menschen. 


')  In  der  ersten  Generation  ergab  sich  ein 
Farbe  (hellrot),  in  der  zweiten  eine  Stufenreihe 
zu  dunl<elroten  Körnern. 


intermedi.Hre 
von    helleren 


')  Wenngleich  dies  aus  der  Darstellung  von  Gerschlcr 
nicht  klar  zu  erkennen  ist. 

M.  W.  Gerschier,  Über  alternative  Vererbung  bei 
Kreuzung  von  Cyprinodonten.  Zeitschr.  f.  ind.  Abstammungs- 
lehre Bd.   12,    1914. 

^)  Endre  Pap,  Über  Vererbung  von  Farbe  und  Zeich- 
nung bei  den  Kanimhen.  Zeitschr.  für  ind.  Abslammungs- 
und Vererbungslehre  1921,  Bd.  26,  S.  218 — 256. 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


539 


schon  diese  Auffassung  gehabt;*)  selbst  Castle 
hat  sich  neuerdings  dieser  Ansicht  ange- 
schlossen, während  er  früher  die  Hypothese  einer 
Veränderlichkeit  der  Erbfaktoren  zur  Erklärung 
verwendet  hat.  Im  Sinne  dieser  früheren  Ansicht 
von  Castle  hat  Goldschmidt  die  von  ameri- 
kanischen Forschern  aufgestellte  Theorie  der 
„multiplen  Allelomorphe"  beigezogen ; ")  es  ist  das 
ein  nicht  gerade  geschickt  gewählter  Ausdruck 
für  die  erwähnte  Hypothese,  daß  ein  Gen  in  ver- 
schiedener Stärke  vorkommen  könne.  Ich  bin 
aber  der  Ansicht,  daß  man  hier  solcher  kompli- 
zierter Annahmen  nicht  bedarf,  indem  die  Homo- 
merie  eine  einfachere  Erklärung  gibt. 


Gemessene 
Werte :     1 
Chromo- 
somen- 

ver- 


4:8         6:6         8:4       t6: 


12:0 


klärt  sich  in  folgender  Weise :  Die  Ratte  hat  min- 
destens 12  Chromosomenpaare,  und  wir  nehmen 
hypothetisch  an,  daß  sie  alle  auf  die  Größe  der 
Flecken  Einfluß  haben. ')  Beide  Eltern  enthalten 
eine  Anzahl  von  Chromosomen,  welche  die  weiße 
Farbe  bedingen,  das  Männchen  (mit  den  kleinen 
Flecken)  nur  wenige,  das  Weibchen  (mit  dem 
großen  P"leck)  erheblich  mehr.  Beide  Elterntiere 
sind  aber  keine  Homozygoten,  folglich  bekommen 
die  Sexualzellen  bei  jedem  der  beiden  Elterniiere 
eine  verschiedene  Zahl  von  solchen  Chromosomen, 
welche  das  Weiß  bedingen.  *)     Die  verschiedenen 


hältnis:  0:12  2 
Abb.  2.  Die  Wirkung  der  Selektion  im  Falle  der  Homo- 
merie.  Aus  der  Menge  der  Individuen,  welche  durch  die 
links  stehende  Binomialkurve  angegeben  ist,  wird  der  Wert  14 
herausgewählt;  dann  ergibt  sich  bei  der  nächsten  Generation 
die  nach  rechts  verschobene  Kurve,  deren  Scheitel  über  dem 
Wert  14  liegt.  Wählt  man  den  Wert  15  aus,  so  entsteht  die 
punktierte  Linie.     Aus   Ziegler,  Vererbungslehre. 

Ich  will  nun  aus  meinen  Zuchtergebnissen 
einige  Fälle  herausgreifen.  ^)  Kreuzt  man  ein  Tier 
mit  kleinen  Bauchflecken  mit  einem  solchen  mit 
großen  Bauchflecken,  so  erhält  man  eine  sehr 
unterschiedliche  Größe  der  weißen  Flecken ;  wie 
Abb.  3  zeigt,  schwankt  die  Färbung  von  fast  ganz 
schwarzen  Tieren  zu  ziemlich  hellen.  *)      Das    er- 

')  Die  beiden  Hagedoorn,  welche  auch  mit  solchen 
Ratten  experimentiert  haben  wie  ich ,  sprechen  von  dieser 
Ansicht,  schließen  sich  ihr  aber  nicht  völlig  an. 

A.  L.  Hagedoorn  und  A.  C.  Hagedoorn,  Studies 
on  Variation  and  selection.  Zeitschrift  für  indukt.  Abstara- 
mungs-  und  Vererbungslehre  Bd.  II,   1914. 

^)  R.  Goldschmidt,  Die  quantitative  Grundlage  von 
Vererbung  und   Artbildung.      Berlin   1920,  S.   76. 

*)  Ich  habe  über  einen  Teil  meiner  Versuche  in  meinem 
Lehrbuch  der  Vererbungslehre  berichtet  (S.  151  — 159)  und 
eingehender  in  der  Festschrift  zum  hundertjährigen  Bestehen 
der  K.  Württ.  Landwirtschaftl.  Hochschule  in  Hohenheim. 
Stuttgart,   Verlag  von   Ulmer,    191S,  S.   385  —  399. 

*)  Man  sieht  an  Abb.  3  in  der  untersten  Reihe  zwei 
Tiere,  welche  am  Bauch  ganz  schwarz  sind,  also  noch  dunkler 
als  das  väterliche  Tier.  Aber  an  den  Händen  zeigt  sich  doch 
noch  etwas  von  dem  Weifl,  indem  auf  dem  Handrücken  weifle 
Haare  stehen,  wie  dies  auch  bei  den  beiden  Eltern  der  Fall 
war.  Ich  habe  auf  den  Bildern,  welche  die  Tiere  von  unten 
darstellen,  das  Weiß  auf  dem  Handrücken  doch  eingezeichnet, 
obgleich  es  von  unten  nicht  zu  sehen  ist.  Die  hellen  Flecken 
auf  dem  Bauch  und   die  weißen  Handrücken    sind    durch  die- 


Abb.  3.     Das  Ergebnis  der  Kreuzung  einer  dunklen  Ratte 

mit  einer  hellen. 

Das  Elternpaar  und  zwei  Würfe  von  je  fünf  Jungen. 


selben  Vererbungsanlagen  bedingt;  ebenso  gehören  bei  Pfer- 
den der  weiße  Stirnfleck,  ein  seltener  vorkommender  weißer 
Bauchfleck  und  die  weiße  Fessel  zusammen. 

')  Es  ergeben  sich  dieselben  Folgerungen,  wenn  man  an- 
nimmt, daß  nur  10  oder  nur  6  Chromosomenpaare  diesen 
Einfluß  ausüben.  —  Was  die  Chromosomeuzahl  der  Ratten 
betrifft,  so  haben  J.  E.  L.  Moore  (1S94)  und  E.  v.  Ebner 
(1899)  als  Normalzahl  16  angegeben,  M.  v.  Lenhossek 
(1S98)  24,  J.  Duesberg  (iqo8)  ebenfalls  24,  Regaud 
(1909)  26,  van  Hoof  32,    Moore  und  Arnold  (1906)  32. 

*)  Das  ergibt  sich  aus  den  Gesetzen  der  Reduktion.  Wenn 
z.  B.  bei  der  väterlichen  Ratte  6  Weiß  bedingende  Chromo- 
somen vorhanden  sind  und  diese  in  verschiedenen  Paaren 
liegen,  so  können  die  Samenzellen  o — 6  solche  Chromosomen 
bekommen  und  sind  die  Wahrscheinlichkeiten  der  möglichen 
Fälle  folgende: 


§4Ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


IVIöglichkeiten  in  den  männlichen  Sexualzellen 
kombinieren  sich  mit  den  Möglichkeilen  in  den 
reifen  Eizellen  und  daraus  folgt  die  Mannigfaltigkeit, 
welche  in  der  Nachkommenschaft  zutage  tritt 
(Abb.  3). 

Würde  man  nun  aus  der  Zahl  der  Nachkommen 
helle  Tiere  zur  Nachzucht  nehmen,  so  würde  man 
in  der  nächsten  Generation  mehr  helle  Tiere  be- 
kommen. Bringt  man  aber  zwei  Tiere  zusammen, 
welche  beide  nur  sehr  wenig  Weiß  haben,  so  er- 
hält man  meistens  auch  wieder  dunkle  Tiere,  und 
sie  schwanken  um  die  Helligkeitswerte  der  Eltern 
(Abb.  4 — 6).  In  Abb.  4  ist  ein  Männchen,  das  am 
Bauch  ganz  schwarz  ist  und  nur  auf  dem  linken 
Handrücken  noch  etwas  weiß  zeigte,  gepaart  mit 
einem  Weibchen,  das  am  Bauch  drei  kleine  Fleck- 
chen hatte;  von  den  fünf  Jungen  ist  eines  ganz 
schwarz    am  Bauch    und    hat    nur    an  dem  linken 


Abb.  4. 
Das  Elternpaar  und   fünf  Junge. 

Handrücken  ein  wenig  weiß,  während  die  vier 
anderen  am  Bauch  kleine  Flecken  von  schwan- 
kender Form  haben.')  Bei  Abb.  5  ist  ein  Männ- 
chen mit  ganz  kleinem  Fleck  am  Bauch  und  et- 
was weiß  auf  dem  linken  Handrücken  gepaart 
mit  einem  Weibchen,  das  nur  auf  dem  linken 
Handrücken  weiß  war  und  einige  weiße  Haare 
links  an  der  Brust  zeigte;'-')  unter  den  fünf  Kin- 
dern  dieses  Paares   sind  zwei  ganz  schwarz,  also 

0  1,5   Prozent 

1  9,3        ,. 

2  23 

3  32 

4  23 

5  9.3 

6  1,5        „ 

')  Eines  zeigt  ebenfalls  etwas  Weiß  auf  dem  linken  Hand- 
rücken und  zwei  (das  3.  und  4.)  zeigen  weiße  Flecken  am 
Arm  (das  3.  rechts,  das  4.  links). 

*)  Die  beiden  Tiere  hatten  rechts  silbergrauen  Hand- 
rücken ;  die  silbergraue  Farbe  ist  dadurch  bedingt ,  dafl  die 
einzelnen  Ilaare  weniger  dunkles  Pigment  enthalten  als  die 
schwarzen  Haare. 


dunkler  als  beide  Eltern,  und  drei  haben  ein 
wenig  weiß,  teils  am  Handrücken  (das  dritte  und 
das  fünfte),  teils  an  der  Brust  oder  dem  Bauch. 
In  entwicklungsmechanischer  oder  phänogene- 
tischer  Hinsicht  ist  zu  bemerken,  daß  die  Stellen, 
an  welchen  die  weißen  Haare  auftreten,  durch  die 
Vererbung  nicht  genau  bestimmt  sind.  Es  gibt 
zwar  bevorzugte  Plätze,  an  welchen  die  weiße  I'arbe 


Abb.  5. 


Abb.  6. 

auftreten  kann,  aber  es  ist  nicht  vorherzusagen,  an 
welcher  Stelle  und  in  welcher  P'orm  das  Weiß 
erscheinen  wird.  So  sehen  wir  in  Abb.  4  bei 
den  Kindern  die  weißen  Flecken  am  Bauch  im 
Vergleich  zu  der  Mutter  in  anderer  Lage  und 
anderer  Form.  Ein  weißer  Handrücken  war  beim 
Vater  auf  der  linken  Seite  vorhanden  und  findet 
sich  bei  dem  ersten  und  zweiten  Kinde  ebenfalls 
links,  bei  dem  dritten  gibt  es  aber  einen  größeren 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S4I 


Annfleck  rechts  und  bei  dem  vierten  einen  kleinen 
Armfleck  links.  In  Abb.  5  haben  die  beiden  El- 
tern weißen  Handrücken  links,  von  den  Kindern 
besitzt  eines  einen  weißen  Handrücken  links,  das 
andere  rechts;  bei  einem  der  Kinder  ist  ein  Bauch- 
tleck  am  unteren  Teil  des  Bauches  vorhanden, 
wie  er  bei  keinem  der  beiden  Eltern  vorkam,  bei 
dem  vierten  Kinde  der  Reihe  liegt  der  Brustfleck 
rechts,  bei  dem  fünften  links.  Durch  die  Ver- 
erbung ist  also  nur  soviel  gesetzmäßig  bestimmt, 
ob  an  den  bevorzugten  Plätzen  große  oder  kleine 
Flecken  oder  gar  keine  erscheinen,  d.  h.  ob  im 
ganzen  viel  oder  wenig  Weiß  auftritt. 

Dies  zeigt  auch  Abb.  6.  Die  beiden  Eltern- 
tiere haben  nur  wenige  kleine  Bauchflecken,  und 
von  den  fünf  Jungen  sind  vier  am  Bauch  ganz 
schwarz,  während  das  fünfte  einen  Fleck  auf  der 
Brust  zeigt,  der  viel  größer  ist  und  ganz  andere 
Form  hat  als  die  Flecken  der  Eltern.  Die  Er- 
klärung ist  folgende:  die  beiden  Elterntiere  hatten 
nur  wenige  von  den  Chromosomen,  welche  das 
Weiße  bedingen ,  und  durch  das  Zufallsspiel  der 
Reduktion  sind  nur  bei  einem  von  den  fünf  Jungen 
solche  Chromosomen  in  etwas  größerer  Zahl  zu- 
sammengekommen. 

Bringt  man  zwei  ganz  schwarze  Tiere  zu- 
sammen, so  erhält  man  unter  den  Kindern  teils 
schwarze,  teils  solche  mit  kleinen  weißen  Flecken 
verschiedener  Art.  So  stammen  auch  die  Eltern- 
paare der  Abb.  4,  5  und  6  von  schwarzen  Paaren 
ab.')  Es  ist  also  sicher,  daß  auch  diejenigen 
Tiere,  welche  ganz  schwarz  erscheinen,  doch  noch 
Anlagen  zu  weißen  Flecken  enthalten  können; 
dies  ist  in  dem  Sinne  zu  erklären,  daß  eine  ganz 
kleine  Zahl  von  Weiß  bedingenden  Chromosomen 
in  dem  Aussehen  sich  nicht  geltend  macht,  wohl 
aber  zufällig  in  eine  Sexualzelle  gelangen  kann 
und  dadurch  mit  ebenso  veranlagten  Chromo- 
somen der  anderen  Seite  zusammentreffend  wieder 
weiße  Flecken  hervorbringen  kann. 

Da  man  also  bei  den  ganz  schwarzen  Tieren 
nicht  erkennen  kann,  ob  sie  nicht  noch  einige 
weiße  Chromosomen  enthalten,  so  ist  es  sehr 
schwer,  vielleicht  unmöglich,  durch  wiederholte 
Selektion  einer  Reinzucht  schwarzer  Tiere  zu  ge- 
langen. Dies  entspricht  der  bekannten  züchte- 
rischen Erfahrung,  daß  man  aus  Mischlingen  nie- 
mals wieder  die  Reinzucht  herauszüchten  kann, 
z.  B.  aus  Pferden,  die  Kreuzungsprodukte  des 
Landschlags  mit  Vollblutpferden  sind,    durch  Se- 


')  Wobei    allerdings    jeweils    eines    der  Elterntiere  einen 
silbcrgraucn  Handrücken  hatte. 


lektion  nur  Annäherungen  an  das  Vollblut,  aber 
niemals  ein  solches  erreichen  kann. 

Diese  ganze  Betrachtung  hat  insofern  eine 
Beziehung  zur  Medizin,  als  manche  Krankheits- 
anlagen ebenfalls  nach  den  Gesetzen  der  Homo- 
merie  sich  vererben.')  Es  ist  nicht  zutreffend,  wenn 
man  bei  allen  Krankheiten  eine  Vererbung  nach 
dem  Pisum-Schema  der  Mendelregel  erwartet.  Die 
vererblichen  Geisteskrankheiten  und  manche  kon- 
stitutionelle Krankheiten  treten  in  sehr  verschie- 
denen Graden  auf  und  lassen  sich  also  nicht  kurz- 
weg auf  ein  einziges  Faktorenpaar  zurückführen. 
Vielfach  verhält  sich  die  Vererbung  ganz  ähnlich 
wie  in  den  besprochenen  Beispielen  der  Ratten. 
Heiratet  z.  B.  ein  geisteskranker  Mann  eine  ge- 
sunde Frau ,  so  sind  weder  alle  Kinder  belastet 
noch  alle  frei  von  Belastung,  sondern  die  Kinder 
bekommen  wie  bei  Abb.  3  verschiedene  Grade 
der  Belastung.  Kommen  in  einer  Ehe  zwei  Men- 
schen zusammen,  welche  beide  nach  der  gleichen 
Richtung  ein  wenig  belastet  sind,  ohne  daß  dies 
deutlich  hervortritt,  so  wird  ein  Teil  der  Kinder 
wenig  oder  gar  keine  Belastung  bekommen,  wäh- 
rend einzelne  der  Kinder  stärker  belastet  sein 
können  als  beide  Eltern  (vgl.  Abb.  6). 

Schließlich  will  ich  noch  eine  Bemerkung  über 
die  Selektion  beifügen.  In  allen  Fällen  der  Ho- 
momerie  kann  durch  Zuchtwahl  ein  Erfolg  er- 
reicht werden ,  aber  es  ist  schließlich  nur  eine 
Annäherung  an  den  Endpunkt  der  Skala  der 
fluktuierenden  Variation  möglich.  Nimmt  man 
die  Faktoren  oder  Gene  als  unveränderlich  an, 
so  ist  die  Wirkung  der  Selektion  in  diesem  Sinne 
begrenzt.  Aber  in  der  phylogenetischen  Entwick- 
lung kann  doch  durch  Selektion  noch  eine  weiter- 
gehende Wirkung  ausgeübt  werden,  weil  die  Gene 
im  Laufe  der  phylogenetischen  Entwicklung  nicht 
unveränderlich  sind.  Durch  Idiovariation ,  d.  h. 
durch  Veränderung  der  Gene  kann  die  Variations- 
breite sich  verschieben,  so  daß  der  Endpunkt  der 
fluktuierenden  Variation  ganz  unmerklich  nach 
einer  Seite  weiterrückt.  Demgemäß  kann  dann 
auch  die  Wirkung  der  Selektion  über  das  ursprüng- 
liche Maß  hinausgehen.  Demnach  können  bei 
solchen  Merkmalen,  die  auf  Homomerie  beruhen, 
kleine  Abänderungen,  die  nicht  als  sprunghafte 
Mutationen  auffallen  und  nur  in  der  fluktuieren- 
den Variation  sich  zeigen,  durch  die  Selektion 
befestigt  werden,  und  so  ist  eine  allmähliche 
Weiterzüchtung  nach  einer  Richtung  möglich,  wie 
dies  die  Züchter  stets  beobachtet  haben  und  wie 
dies  auch  Darwin  sich  vorgestellt  hat. 

')  Vgl.  in  meiner  Vererbungslehre  (1918)  S.  240  und 
260 — 265. 


Moderne  Probleme  der  Elektrobiologie. 

(Nach  einem  in  der  Wiener  Urania  gehaltenen  Vortrag.) 

INachdiuck  verboten.]  Von   Fei'd.  Scheilliusky,  Wien. 

Die  Elektrobiologie  ist  die  Wissenschaft,  welche      wesen    befaßt,    welche    aber    auch    die  Reaktions- 
sich  mit  den  elektrischen  Vorgängen  in  den  Lebe-      weise  der  Organismen  gegenüber  dem  elektrischen 


542 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Strom  studiert.  Bei  der  Frage  nach  der  Reak- 
tionsweise denkt  man  wohl  gleich  an  das  Nerv- 
muskelpräparat des  P'rosches,  oder  an  die  galvano- 
tropen  Reaktionen.  Indessen  handelt  es  sich  in 
den  soeben  genannten  Fällen  um  Momentanreize 
und  momentan  beobachtbare  Wirknngen.  Lassen 
wir  hingegen  die  Elektrizität  in  irgendeiner  Form 
in  einer  nicht  letalen  Intensität  dauernd  einwirken, 
so  können  wir  oft  ganz  andere  Erscheinungen 
studieren. 

Die  Aufzucht  tierischer  und  pflanzlicher  Orga- 
nismen im  elektrischen  Feld  nennt  man  gewöhn- 
lich Elektrokultur.  Beim  Studium  der  bisherigen 
Ergebnisse  drängt  sich  aber  die  Frage  auf,  ob 
denn  das  gewöhnliche  Feld  der  Erde  und  das  der 
uns  umgebenden  Lufthülle  nicht  ebenfalls  wirksam 
sei.  Elektrokultur  und  elektrische  Beeinflussung 
im  natürlichen  Lebensraum  sind  die  beiden  mo- 
dernsten Probleme  der  Elektrobiologie,  denen  sie 
momentan  nachgeht  oder  doch  in  allernächster 
Zeit  nachgehen  wird,  da  sich  die  Ansätze  dazu 
allenthalben  zeigen. 

Man  kann  nicht  behaupten,  daß  speziell  das 
Problem  der  Elektrokultur  von  heute  stammt. 
Hierher  gehörige  Versuche  gehen  bis  in  das 
18.  Jahrhundert  zurück.  Wenn  es  aber  erst  heute 
aktuell  wird,  so  liegt  es  daran,  daß  wirklich 
exakte  Experimente  erst  in  der  jüngsten  Zeit 
ausgeführt  wurden  und  erst  jetzt  eine  planmäßige 
Forschung  einzusetzen  beginnt. 

In  erster  Linie  wurden  Versuche  an  Pflanzen 
gemacht.  Diese  Untersuchungen  hatten  infolge 
ihrer  landwirtschaftlichen  Bedeutung  stets  mehr 
Interesse  erweckt.  Die  Literatur  ist  ungeheuer 
groß,  doch  die  tatsächlichen,  verläßlichen  Befunde 
sehr  gering.  Ich  werde  im  folgenden  nur  auf 
das  AUerwichtigste  bezugnehmen. 

Wenn  wir  uns,  um  die  Übersicht  zu  erleichtern, 
alle  Versuchsanordnungen  in  drei  Gruppen  ein- 
teilen wollen,  so  können  wir  folgendes  feststellen: 

die  eine  Gruppe  von  Forschern  leitete  den 
elektrischen  Strom  dem  Boden  oder  dem 
Versuchsgefäß  direkt  zu; 

eine  andere  Gruppe  untersuchte  die  Ein- 
wirkung der  Luftelektrizität  und  ahmte 
die  natürlichen  Verhältnisse  durch  Be- 
strahlung mit  hochgespannter  Elektrizität 
nach; 

eine  dritte  endlich  induzierte  die  Ströme 
mit  Hilfe  magnetischer  oder  elektromagne- 
tischer Kraftfelder  in  den  Versuchspflanzen 
selbst. 

Der  erste,  welcher  Pflanzen  den  elektrischen 
Einflüssen  ausgesetzt  hat,  war  Maimbray, 
welcher  im  Jahre  1746  und  zwar  im  Monat  Ok- 
tober Myrtenstöcke  bestrahlte  und  beobachten 
konnte,  wie  diese  neue  Triebe  ansetzten.  In  der 
l'"olgezeit  sind  dann  unzählige  Versuche  gemacht 
worden,  die  Elektrizität  in  diesem  Sinn  der  Land- 
wirtschaft nutzbar  zu  machen,  aber  von  den  vielen 
Versuchen  sind  nur  wenige  so  kritisch  angestellt. 


daß  man  den  erhaltenen  Resultaten  wirklich 
trauen  kann. 

Wir  wollen  uns  zunächst  mit  den  Versuchen 
der  Stromdurchleitung  befassen.  Man  hat  da 
zwei  Metallplatten  in  den  Boden  gesteckt,  diese 
mit  einer  Batterie  verbunden  und  die  Pflanzen 
einfach  zwischen  den  Platten  wachsen  lassen. 
Manche  Autoren  haben  noch  einfachere  An- 
ordnungen verwendet:  sie  haben  die  beiden  in 
den  Boden  eingesenkten  Platten  nicht  aus  dem 
gleichen  Metall  gewählt,  sondern  zwei  verschie- 
dene Substanzen  dazu  genommen,  beispielsweise 
Kupfer  und  Zink.  Indem  sie  nun  die  beiden 
Platten  außen  durch  einen  Draht  verbunden 
haben,  entstand  zwischen  den  Platten  ein  Strom, 
welcher  die  Pflanzen  in  ihrem  Wachstum  fördern 
sollte. 

Besonders  interessant  sind  die  Ergebnisse  der 
Versuche  von  Löwenherz.  Dieser  konnte  be- 
obachten ,  daß  der  Wechselstrom  den  Pflanzen 
nicht  schadet  oder  wenigstens  nicht  so  sehr,  als 
ein  ebenso  starker  Gleichstrom.  Die  günstigen 
Erntezahlen  sind  allerdings  anders  zu  werten: 
beim  Stromdurchgang  haben  sich  die  Töpfe  mit 
den  Versuchspflanzen  oft  um  20"  über  ihre  Um- 
gebung erwärmt.  Daß  bei  einer  solchen  Wärme- 
zufuhr die  Lebenstätigkeit  der  Pflanze  gesteigert 
wird,  ist  ohne  weiteres  klar,  aber  das  ist  ja  keine 
spezifische  Wirkung  der  Elektrizität. 

Die  Versuche  von  Löwenherz  fanden  dann 
durch  Gassner  eine  Fortsetzung.  Dieser  zeigte, 
daß  die  Wirkung  der  durch  den  Boden  geleiteten 
Elektrizitätsmenge,  welche  durch  eine  Kupfer- 
und  Zinkplatte  geliefert  wird,  viel  zu  klein  sei, 
um  überhaupt  zu  wirken.  In  bezug  auf  den 
Wechselstrom  erweiterte  er  die  Befunde  von 
Löwenherz  dahin,  daß  ein  Strom  um  so 
weniger  schadet,  je  öfter  er  seine  Richtung 
wechselt.  Besonders  interessant  ist  die  verschie- 
dene Empfindlichkeit  von  Pflanzen  und  Tieren: 
während  bei  bestimmten  Stromstärken  bei  Wech- 
selstrom alle  im  Boden  vorhandenen  Engerlinge 
getötet  werden,  bleiben  die  Pflanzen  noch  völlig 
ungeschädigt. 

Aber  nicht  nur  die  wachsenden  Pflanzen  will 
man  dem  elektrischen  Strom  aussetzen,  sondern 
man  hat  auch  die  Samen,  noch  bevor  sie  in  den 
Boden  eingesenkt  werden,  elektrisch  beeinflußt. 
Ein  derartiges  Verfahren  wurde  erst  in  letzter 
Zeit  in  Amerika  von  Wolf  und  Fry  ausgear- 
beitet und  führt  heute  den  Namen  Wolfrynprozeß. 
Die  genannten  Amerikaner  gingen  von  der  etwas 
merkwürdigen  Voraussetzung  aus,  daß  die  Heil- 
wässer nicht  nur  auf  den  Menschen,  sondern 
auch  auf  die  Pflanzensamen  günstig  einwirken 
müßten.  Daraufhin  angestellte  Versuche  haben 
ein  gutes  Resultat  ergeben.  Es  zeigte  sich  aber, 
daß  ebenso,  wie  die  Heilwässer,  auch  radium- 
haltiges  Wasser  wirkte.  Nun  versuchten  sie  auch 
die  Wirkung  einer  kurzdauernden  elektrischen 
Durchströmung,  wenn  die  Samen  in  einer  Lösung 
verschiedener   Salze,   hauptsächlich  Salpeter,   ein- 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


543 


gelegt  wurden.  Solche  Versuche  mit  einer  elek- 
trischen Samenbeize  wurden  im  Jahre  19 19  mit 
Unterstützung  der  Gartenbaugesellschaft  von  Erich 
Bandl  in  Eßling  bei  Wien  gemacht.  Bei  Hafer 
wurde  gegenüber  der  Kontrollkultur  ein  Mehr- 
ertrag von  ca.  80  %  beobachtet.  Da  es  sich  in 
diesen  Versuchen  jedoch  nur  um  eine  einmalige 
Beobachtungsreihe  handelt,  so  wird  man  bei  der 
Beurteilung  des  Erfolges  ein  wenig  vorsichtig  sein 
müssen. 

Von  viel  größerem  Interesse  sind  aber  die 
Versuche  über  die  Einwirkung  der  atmosphärischen 
Elektrizität.  Seit  den  Versuchen  von  Maimbray 
ist  ein  lebhafter  Streit  um  die  Frage  entbrannt, 
ob  die  Luftelektrizität  überhaupt  wirksam  sei. 
Die  Mehrzahl  der  Versuche  hat  ergeben,  daß  ein 
Bedecken  der  Pflanzen  mit  einem  geerdeten  Gitter- 
kasten, einem  sogenannten  Faradayschen  Käfig, 
zu  einer  Wachstumsverlangsamung,  oft  direkt  zu 
einer  Verkümmerung  führt.')  Die  ersten  der- 
artigen Untersuchungen  stammen  von  Grandeau. 

Aber  die  anderen  Autoren  lieferten  in  bezug 
auf  die  Wirksamkeit  der  Elektrobestrahlung  nur 
ein  sich  gegenseitig  widersprechendes  Material. 
Derartige  Versuche  werden  gewöhnlich  so  ge- 
macht, daß  man  über  den  Versuchspfianzen  ein 
Drahtnetz  ausspannt  und  in  dieses  den  Strom 
einer  Elektrisiermaschine  oder  den  hochgespannten 
Strom  eines  Ruhmkorff,  der  durch  eine  Ventil- 
röhre gegangen  ist,  hineinleitet.  Solche  Versuche 
sind  auch  von  Wollny  angestellt  worden,  welcher 
durchwegs  negative  Resultate  erzielte. 

Nach  den  Arbeiten  von  Wollny  schien  das 
Problem  auf  einem  toten  Punkt  angelangt.  Aber 
schon  nach  kurzer  Zeit  brach  eine  neue  Ära  für 
die  Elektrokultur  durch  die  Arbeiten  von  Lem- 
ström  an.  Dieser  wies  darauf  hin,  daß  die 
Reifung  der  Gerste  im  nördlichen  Norwegen 
durchschnittlich  um  elf  Tage  früher  erfolgt  als  in 
Norddeutschland.  Der  Sommertag  ist  allerdings 
im  Norden  länger,  doch  die  dem  Boden  zugeführte 
Menge  an  Licht  und  Wärme  ist  trotzdem  geringer. 
Als  einziger  den  zeitlichen  Unterschied  erklärender 
Faktor  könnte  seiner  Meinung  nach  nur  die  Luft- 
elektrizität in  Frage  kommen.  Er  verweist  zu- 
nächst auf  die  Tatsache,  daß  der  Norden  reich 
an  elektrischen  Entladungen,  wie  Nordlichtern  usw., 
ist,  sowie  daß  die  Pflanzen  dieser  Gegenden  reich 
mit  spitzen  Anhängseln,  Grannen,  Stacheln,  langen 
Blattspitzen  usw.,  versehen  sind.  Indem  er  die 
natürlichen  Verhältnisse  mit  einer  kleinen  Elek- 
trisiermaschine nachahmte  bzw.  verstärkte,  erhielt 
er  tatsächlich  bessere  Ernteerträgnisse.  Die  Me- 
thode von  Lemström  wurde  dann  vonLodge 
und  Newman  in  England  eingeführt  und  ver- 
bessert. Sie  ersetzten  das  Netz  durch  eine  Reihe 
paralleler  Drähte,  welche  in  einem  Abstand  von 
6  m  voneinander  gezogen  waren  und  sich  etwa 
in  Mannshöhe    über   dem    Boden    befanden.     Die 


')  Da  durch  den  geerdeten  Käfig  die  Luftelektrizilät  von 
den  Pflanzen   abgehalten  wird   und  daher   nicht  wirken  kann. 


Influenzmaschine  wurde  durch  eine  Maschine  er- 
setzt, welche  einen  hochgespannten  Gleichstrom 
lieferte.  Die  bei  Birmingham  ausgeführten  Ver- 
suche zeigten,  daß  in  den  elektrisch  bestrahlten 
Kulturen  ein  Mehrertrag  von  35  %  zu  verzeichnen 
war. 

In  der  Folgezeit  wurden  solche  Versuche  viel- 
fach in  England  angestellt  und  merkwürdiger- 
weise wurde  dort  immer  von  günstigen  Ergebnissen 
berichtet.  In  Deutschland  wurde  zwar  weniger 
Elektrokultur  getrieben,  jedoch  die  Ergebnisse 
waren  so  wie  früher  widersprechend.  Die  ganze 
Elektrokultur  krankte  damals  daran,  daß  man 
Versuche  machte,  ohne  die  zugrunde  liegenden 
physiologischen  Tatsachen  festgestellt  zu  haben. 
Man  bestrahlte  die  Pflanzen  elektrisch,  ohne  zu 
wissen,  in  welchen  Dosen  eine  solche  Bestrahlung 
erträglich  und  förderlich  sei,  ohne  auch  nur  die 
verschiedene  Empfindlichkeit  der  einzelnen  Arten 
zu  kennen.  Die  ersten  systematischen  Versuche, 
welche  einiges  Licht  in  die  Sache  gebracht  haben, 
sind  jüngsten  Datums  und  stammen  von  Höster- 
man  n  an  der  Gärtnerlehranstalt  in  Berlin-Dahlem. 
Es  wurden  eine  Reihe  von  Versuchsbeeten  von 
gleicher  Bodenbeschaffenheit,  gleicher  Bewässerung 
und  gleicher  Düngung  ausgewählt,  und  mit  Erd- 
beeren, Radieschen,  Rapünzchen  und  Möhren  be- 
pflanzt. Die  Beete  wurden  in  vier  Reihen  ein- 
geteilt: die  ersten  dienten  als  Kontrollen,  deren 
Ertrag  gleich  lOO  "/q  gesetzt  wurde;  die  zweite 
Reihe  erhielt  Drahtkäfige  zur  Abschirmung  der 
atmosphärischen  Elektrizität;  dieses  Beet  ergab 
einen  geringeren  Ertrag,  etwa  86  %.  Die  dritte 
Gruppe  der  Parzellen  erhielt  einen  Überbau  aus 
einem  Netz  von  Kupferdrähten,  in  die  ein  hoch- 
gespannter Gleichstrom  gesendet  wurde.  Starke 
Ströme  verminderten  den  Ertrag,  bis  zu  go  %, 
während  schwächere  günstig  wirkten  und  etwa 
125  "/u  lieferten.  Die  letzten  Beete  erhielten  einen 
ganz  ähnlichen  Überbau,  aus  Kupferdrähten,  der 
jedoch  mit  einem  Fesselballon  verbunden  wurde, 
welcher  an  einem  Stahlkabel  befestigt  in  einer 
Höhe  von  250  m  schwebte.  Diese  Beete  zeitigten 
das  günstigste  Ergebnis:  im  Gegensatz  zu  den 
Kontrollen  lieferten  sie   14O  •'/q. 

Besonders  interessant  sind  aber  auch  die  Neben- 
ergebnisse von  Höstermann.  So  konnte  er  fest- 
stellen, daß  Luft  und  Bodenfeuchtigkeit  eine  große 
Rolle  spielen.  Die  Bestrahlung  wirkt  um  so 
günstiger,  je  größer  die  Luftfeuchtigkeit  ist,  oder 
je  besser  der  Boden  berieselt  wird.  Jetzt  ver- 
stehen wir,  warum  in  England  günstigere  Ergeb- 
nisse als  in  Deutschland  erzielt  worden  sind:  das 
Klima  Englands  ist  seiner  Lage  im  Meere  ent- 
sprechend ein  wesentlich  feuchteres,  als  es  in 
Deutschland  der  Fall  ist.  Auch  wechselt  die 
Feuchtigkeit  natürlich  an  den  verschiedenen  Orten 
Deutschlands  sehr:  an  der  Küste  liegen  weit 
günstigere  Verhältnisse  vor  als  tief  im  Inneren 
des  Landes.  Auch  die  Tageszeit  der  Bestrahlung 
spielt  eine  Rolle :  am  besten  ist  die  Zeit  am 
Morgen  und  am  Abend.     Dauernde  Beeinflussung 


544 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


schadet.     Auch  hier  dürfte  der  Grund    wieder   in 
den  Verdunstungsverhältnissen  gelegen  sein. 

Schon  Gassner  hatte  beobachtet,  daß  die 
solcherart  elektrisierten  Pflanzen  mehr  Wasser 
verdunsten.  Ähnliches  hat  schon  vor  Gassner 
Nollet  festgestellt.  In  der  erhöhten  Verdunstung 
sieht  nun  der  erstgenannte  Autor  auch  das  Wesent- 
liche der  elektrischen  Bestrahlung:  wenn  nämlich 
mehr  Wasser  verdunstet  wird,  so  muß  solches  in 
erhöhter  Menge  durch  die  Wurzeln  aufgenom- 
men werden.  Da  aber  im  Wasser  immer 
Salze  gelöst  sind,  so  wird  auch  eine  reichere  Salz- 
zufuhr in  den  Pflanzenkörper  stattfinden,  und  da- 
durch soll  eben  der  Mehrertrag  bedingt  sein. 
Daß  bei  Durchleiten  elektrischer  Ströme  tatsäch- 
lich eine  Erhöhung  der  Assimilationstätigkeit  er- 
folgt, ist  durch  Versuche  von  Pollaci,  Thou- 
venin  und  Koltonski  erwiesen.  Freilich  bleibt 
noch  immer  die  Frage  offen,  wie  die  Mechanik 
des  Vorganges  zu  denken  sei.  Diese  Frage  wird 
die  Pflanzenphysiologie  lösen  müssen,  bevor  eine 
wirklich  rationelle  Elektrokultur  volkswirtschaft- 
liche Bedeutung  gewinnt. 

Damit  wollen  wir  das  Gebiet  der  künstlichen 
Stofifwechselsteigerung  verlassen,  denn  es  gibt 
noch  eine  Reihe  von  außerordentlich  interessanten 
Tatsachen  über  die  Wirkung  der  Luftelektrizität. 
In  Altholzbeständen  ist  die  Gipfeldürre  der  Koni- 
feren ein  bekanntes  Krankheitsbild.  Zender 
und  Tubeuf  konnten  zeigen,  daß  solche  Krank- 
heitsbilder auch  künstlich  an  eingetopften  Koni- 
feren nach  Durchleiten  hochgespannter  Ströme 
auftreten.  Die  genannten  Autoren  schließen  da- 
raus, daß  auch  in  der  Natur  dieses  Krankheits- 
bild in  gleicher  Weise  durch  elektrische  Entladun- 
gen zustande  kommt.  Solche  Entladungen  sind 
ja  gar  nicht  so  selten,  und  sie  dürften  gerade  in 
der  Nähe  von  Koniferen  besonders  häufig  auf- 
treten, da  Er n est  und  Zacek  gefunden  haben, 
daß  die  Anwesenheit  von  Koniferenzweigen  die 
Leitfähigkeit  der  Atmosphäre  erhöht.  Interessant 
ist  auch  die  Beobachtung  von  Molisch,  daß 
die  Wirkung  von  Radiumpräparaten  in  den  ein- 
zelnen Monaten  eine  verschiedene  ist ;  die  Ham- 
burger Botanikerin  R.  Stoppel  hat  dann  ge- 
zeigt, daß  die  Wirkungen,  die  Molisch  in  den 
einzelnen  Monaten  erhalten  hat,  den  Leitfähig- 
keiten der  Atmosphäre  zu  den  Versuchszeiten 
parallel  gehen. 

Die  genannte  Botanikerin  R.  Stoppel  hat 
auch  die  Schlafbewegungen  der  Bohnenblätter 
untersucht.  Es  hat  sich  nämlich  nachweisen 
lassen,  daß  die  Spreiten  der  einzelnen  Blätter  zur 
Nachtzeit  sinken  und  sich  gegen  Morgen  wieder 
heben.  Diese  Erscheinung  ist  in  der  Pflanzen- 
physiologie schon  lange  unter  der  Bezeichnung 
Pflanzenschlaf  bekannt.  Stoppel  hat  feststellen 
können,  daß  für  diese  Bewegungen  ein  äußerer 
rhythmisch  sich  ändernder  Faktor  verantwortlich 
gemacht  werden  muß.  Als  solcher  kommt  nur 
die  Luftelektrizität  in  Betracht.  Kontrollversuche 
haben  dies  bestätigt.     Wird   z.  B.   der  Topf  iso 


liert  aufgestellt  oder  gar  durch  Aufstellen  eines 
geerdeten  Netzes,  eines  sog.  Faradeyschen  Käfigs 
die  Luftelektrizität  abgeleitet,  so  zeigen  sich  er- 
hebliche Störungen,  welche  oft  zu  einem  Ver- 
schwinden der  entsprechenden  Zacke  führen 
können. 

Die  Bewegungen  der  Bohnenblätter  sind  durch 
Schwankungen  des  osmotischen  Druckes  in  den 
Zellen  des  Stengels  bedingt.  Die  Blätter  nehmen 
ihre  tiefste  Stellung  zu  einem  Zeitpunkt  ein,  der 
mit  dem  Maximum  der  Leitfähigkeit  der  Atmo- 
sphäre zusammenfällt.  Es  ist  nun  jedenfalls  inter- 
essant, daß  auch  die  Schlafkurven  des  Menschen 
zwei  Maxima  zeigen,  welche  kurz  nach  den  Ex- 
tremen der  Leitfähigkeitskurve  liegen. 

Und  damit  wollen  wir  uns  den  Reaktionen 
der  tierischen  Organismen  gegenüber  dauernder 
Elektrizilätswirkung  zuwenden,  denn  die  Versuche 
über  die  Wirkung  induzierter  Elektrizität  auf 
Pflanzen,  und  wie  ich  gleich  vorausnehmen  will, 
auch  auf  die  Tiere,  haben  völlig  negative  Resul- 
tate ergeben,  wenn  man  nicht  auf  einige  verein- 
zelte Beobachtungen  eingehen  will,  welche  ebenso 
gut  Fehlbeobachtungen  sein  könnten. 

Eine  Reihe  der  verschiedensten  Elektrothera- 
peuten  haben  angegeben,  daß  Galvanisierung  von 
Tieren,  entsprechend  analogen  Beobachtungen  am 
Menschen,  zu  einer  leichten  Steigerung  des  Stoff- 
wechsels führen  soll.  Auch  der  bekannte  Be- 
gründer der  experimentellen  Entwicklungsmechanik, 
Geheimrat  Roux,  hat  auf  diese  Tatsache  hinge- 
wiesen. 

Wenn  man  verschiedene  Eier  niederer  Tiere 
in  einem  elektrischen  F'eld  sich  entwickeln  läßt, 
so  tritt  nach  Angabe  verschiedener  Autoren  eine 
Entwicklungsbeschleunigung  ein.  Ich  selbst  habe 
während  des  heurigen  Winters  Forelleneier  wäh- 
rend ihrer  ganzen  Entwicklung,  d.  i.  während 
53  Tagen,  einem  sehr  schwachen  elektrischen 
Gleichstrom  ausgesetzt  und  ebenfalls  bei  stärkeren 
Strömen  eine  Abkürzung  der  Zeit,  welche  inner- 
halb der  Eischale  zugebracht  wird,  beobachten 
können.  Die  Beschleunigung  des  Schlüpfens  be- 
trug ca.  4  Tage.  Allerdings  hat  die  genaue 
Untersuchung  gezeigt,  daß  es  sich  in  diesen  Fällen 
nicht  etwa  um  eine  Entwicklungsbeschleunigung 
handelt,  daß  vielmehr  unter  dem  Einfluß  des 
elektrischen  Stromes  eine  Zerstörung  der  Ei- 
membran  erfolgt,  so  daß  die  Larven  das  Ei  früher 
verlassen  können.  Ob  in  den  anderen,  in  der 
Literatur  beschriebenen  Fällen  auch  nur  eine 
solche  indirekte  Wirkung  des  Stromes  vorliegt, 
werden  erst  weitere  Untersuchungen  entscheiden 
können.  Ich  habe  aber  noch  einige  andere  inter- 
essante Beobachtungen  machen  können:  so,  daß 
schon  bei  etwa  30  Tage  alten  Embryonen  die 
galvanotrope  Reaktion  eintritt,  und  dann,  daß  die 
Eier,  welche  durch  zu  starke  Stöme  getötet  wer- 
den können,  im  Laufe  der  Entwicklung  immer 
widerstandsfähiger  werden,  so  daß  sie  knapp  vor 
dem  Ausschlüpfen  gerade  ein  Zehntel  ihrer  ur- 
sprünglichen Empfindlichkeit  besitzen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


545 


Von  besonderem  Interesse  ist  auch  die  elek- 
trische Klimawirkung.  Nach  Helipach  müssen 
wir  da  unterscheiden:  Wirkung  der  Elektrizität 
des  Bodens,  Wirkung  der  atmosphärischen  Elek- 
trizität. 

Zu  den  Wirkungen  der  Elektrizität  müssen 
wir  wohl  auch  die  Beeinflussung  der  Wünschel- 
rutengänger durch  unterirdische  Substanzen  rech- 
nen. Es  ist  noch  gar  nicht  so  lange  her,  daß 
ein  ernster  Wissenschaftler  von  der  Wünschel- 
rute sprechen  durfte.  Um  nicht  allzu  weitschweifig 
zu  werden,  will  ich  nur  ganz  kurz  auf  das  Pro- 
blem eingehen.  Viele  nehmen  heute  an,  daß  die 
Wünschelrutengänger  tatsächlich  ein  besonderes 
Wahrnehmungsvermögen  haben,  daß  sie  nicht, 
wie  man  früher  glaubte,  einfach  Schwindler  sind, 
oder  aber  einer  Selbsttäuschung  erliegen.  Speziell 
die  Versuche,  welche  Prof.  Haschek  am  II.  Phy- 
sikalischen Institut  der  Wiener  Universität  ausge- 
führt hat,  haben  wohl  auch  frühere  Gegner  zum 
Schweigen  gebracht. 

Man  versteht  bekanntlich  unter  Wünschel- 
rutengängern Individuen,  welche  von  unterirdischen 
Substanzen  in  einer  derartigen  Weise  affiziert 
werden,  daß  ein  in  den  Händen  gehaltenes  Instru- 
ment, die  sog.  Wünschelrute,  in  Drehung  gerät. 
Die  Formen  dieser  Wünschelrute  sind  sehr  ver- 
schieden. Das  gleiche  gilt  für  das  Material,  aus 
welchem  sie  gefertigt  werden.  Aber  auch  die 
Haltung  des  Instrumentes  ist  bei  verschiedenen 
Individuen  verschieden.  Wenn  nun  einzelne 
Rutengänger  angeben,  daß  sie  zum  Aufsuchen 
bestimmter  Objekte  verschiedene  auf  diese  abge- 
stimmte Wünschelruten  haben  müssen ,  so  stellt 
der  unparteiische  Statistiker  dem  bloß  die  Tat- 
sache gegenüber,  daß  die  einen  für  die  gleichen 
Substanzen  gerade  die  entgegengesetztesten  For- 
men, Haltungen  und  Materialien  verwenden,  ja, 
daß  viele  auf  spezielle  Wünschelruten  ganz  ver- 
zichten, und  entweder  stets  mit  dem  gleichen 
Instrument  arbeiten,  oder  erst  an  Ort  und  Stelle 
sich  eine  Rute  vom  nächtbesten  Baume  schneiden, 
daß  endlich  einige  wenige  die  Rute  vollständig 
entbehren  können  und  sich  bei  ihren  Mutungen 
lediglich  ihren  subjektiven  Gefühlen  überlassen. 
Aus  der  Fülle  der  sich  oft  widersprechenden  An- 
gaben zieht  der  Statistiker  nur  den  Schluß,  daß 
die  Form,  das  Material  und  die  Haltung 
der  Wünschelrute  ganz  belanglos  ist. 
Hat  auch  so  mancher  Rutengänger  seine  Lieb 
lingsrute,  so  leistet  doch  jeder  von  ihnen  das 
gleiche  mit  ihr,  sofern  er  eines  besitzt :  hinreichende 
Wünschelrutenfähigkeit. 

So  ist  denn  das  Wünschelrutenproblem  als  ein 
rein  physiologisches  Problem  aufzufassen.  Die 
Drehung  der  Wünschelrute  erfolgt  durch  den 
Rutengänger  selbst,  durch  eine  entsprechende 
Tätigkeit  seiner  Muskulatur,  welche  nach  Art 
einer  Reflexbewegung  abläuft.  Die  Versuche  von 
Haschek  haben  nun  ergeben,  daß  der  Ruten- 
gänger auf  Änderungen  des  elektri- 
schen Feldes  der  Erde   reagiert.     Dort,  wo 


die  Stromlinien  verdichtet  wurden,  dort  trat  die 
Reaktion  ein;  das  ist  aber  nur  dort  der  Fall,  wo 
in  einem  Gebiete  geringerer  Leitfähigkeit  ein 
guter  Leiter  eingeschlossen  ist.  Mit  dieser  Be- 
obachtung stimmen  auch  die  Angaben  von  A  m  - 
bronn  überein,  der  die  Stellen,  wo  Rutengänger 
einen  Ausschlag  erhalten,  vom  physikalischen 
Standpunkt  aus  untersucht  hat.  Er  konnte  unter 
anderem  feststellen,  daß  an  solchen  Orten  die 
Leitfähigkeit  erhöht  ist,  daß  also  auch  hier  elek- 
trische Phänomene  im  Spiele  sind. 

Die  Wünschelrutenfrage  gehört  in  die  Gruppe 
jener  Erscheinungen,  welche  von  dem  Psychologen 
Helipach  als  „geopsychische"  Erscheinungen 
beschrieben  worden  sind.  Er  versteht  darunter 
die  seelischen  Wirkungen  vom  Wetter,  Klima 
und  Landschaft.  Zu  diesen  „geopsychischen" 
Erscheinungen  gehört  auch  die  sog.  Föhnkrank- 
heit, welche  sich  in  ihrer  höchsten  Ausbildung 
zu  einer  dumpfen  Verzweiflung,  zu  einer  qual- 
vollen Bangigkeit,  wie  vor  einem  großen  Unglück, 
steigern  kann.  Föhnkranke  verlieren  ihre  geistige 
Leistungsfähigkeit,  werden  unruhig,  ihre  Glieder 
erscheinen  wie  Blei  so  schwer,  der  Kopf  wird 
eingepreßt  gefühlt,  Speisen  sind  ohne  Geruch  und 
Geschmack.  Vielfach  wirkt  auch  die  Gewitter- 
schwüle in  ähnlicher  Weise,  obwohl  zur  Gewitter- 
schwüle nicht  wie  beim  Föhn  trockene,  sondern 
feuchte  Luft  gehört.  Beiden  gemeinsam  ist  aber 
die  starke  Jonisation  und  aus  diesen  Gründen 
glaubt  Helipach  hier  eine  Wirkung  atmosphä- 
rischer Elektrizität  vor  sich  zu  haben.  Außer 
Gewitter  und  Föhn  wirkt  noch  die  Rauchschwüle 
mit  folgenden  Schneefällen  oder  Graupelschauern 
besonders  auf  empfindliche  Menschen.  Es  ist 
nun  außerordentlich  interessant,  daß  auch  hier 
wieder  als  meteorologisches  Element  die  Luft- 
elektrizität besonders  in  Erscheinung  tritt.  Es 
soll  aber  nicht  geleugnet  werden,  daß  nicht  etwa 
noch  andere  Elemente,  speziell  der  Luftdruck,  mit 
im  Spiele  sind,  doch  sprechen  z.  B.  gegen  die 
alleinige  Wirksamkeit  des  Luftdruckes  gar  zu 
viele  Argumente. 

Epileptische  Anfälle  sollen  periodisch  mit  den 
Mondphasen  ablaufen.  Arrhenius  hat  dies  an 
einer  langwierigen  mathematischen  Ableitung 
nachgewiesen.  Allerdings  sind  die  Ergebnisse 
.Arrhenius'  nicht  unwidersprochen  geblieben  — 
z.B.  von  Gallus  — ,  doch  hat  unter  anderem 
Am  mann  an  einem  einwandfreieren  Kranken- 
material als  das  von  Gallus  ebenfalls  gezeigt, 
daß  „eine  Periodizität  der  Anfallshäufigkeit"  mit 
dem  Mond  vorhanden  ist. 

Es  hat  sich  auch  feststellen  lassen,  daß  die 
Gewitter  sich  mit  zunehmendem  Mond  häufen, 
und  Arrhenius  und  Ekholm  haben  dann  ge- 
zeigt, daß  eine  rund  27-  und  aötägige  Periodik 
aller  luftelektrischen  Erscheinungen  der  Gewitter 
und  Polarlichter  insbesondere  besteht,  und  die 
genannten  Autoren  haben  diese  Periode  als  mond- 
abhängig aufgefaßt.  So  wären  denn  die  Wir- 
kungen des  Mondes   auf  den  Epileptiker  und  den 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Noktambulen  nicht  als  direkte  Wirkung  zu  denken, 
vielmehr  als  eine  Wirkung  der  atmosphärischen 
Elektrizität. 

Arrhenius  hat  auch  für  periodische  Er- 
scheinungen am  menschlichen  Weibe  ein  Ge- 
bundensein an  den  Mond  angenommen  und  auch 
hier  an  luftelektrische  Einflüsse  gedacht.  Eine  viel 
interessantere  Beziehung  des  Geschlechtslebens 
zum  Mond  zeigt  aber  nicht  der  Mensch,  sondern 
ein  kleiner  Wurm  der  Südsee,  der  sogenannte 
„Palolo"wurm,  Eunice  viridis.  Dieser  Wurm  lebt 
in  den  Gängen  von  Koralleiirififen.  Die  Fort- 
pflanzung erfolgt  so,  daß  bei  beiden  Geschlechtern 
die  hintersten  Segmente  ihres  Leibes  sich  zu 
ganz  kurzem  selbständigen  Dasein  ablösen  und 
an  die  Meeresoberfläche  ausschwärmen,  ihre  Keim- 
zellen entleeren,  um  nach  Vollendung  dieser  Auf- 
gabe zu  sterben.  Die  abgestoßenen  Körperteile 
werden  von  den  Polynesiern  „Palolo"  genannt  und 
gern  gegessen.  Die  Eingeborenen  hatten  nun 
behauptet,  daß  die  Palolo  nur  zweimal  im  Jahre 
schwärmen  und  wieder  nur  in  der  Nacht  vor  der 
Vollendung  des  letzten  Mondviertels  im  Monat 
November  und  Dezember.  Eine  Nachprüfung 
dieser  Angaben  durch  verschiedene  Forscher  hat 
dies  überraschenderweise  bestätigt.  Es  fehlt 
natürlich  nicht  an  Vor-  und  Nachzüglern,  aber 
der  Hauptschwarm  tritt  mondpünklich  ein.    Eunice 


viridis  hat  im  Atlantik  einen  Verwandten,  Eunice 
fucata.  Bei  dieser  finden  wir  die  gleichen  Fort- 
pflanzungsverhältnisse, nur  tritt  das  Schwärmen 
Ende  Juni  oder  Anfang  Juli  ein,  auch  hier  ist 
eine  Abhängigkeit  vom  letzten  Mondviertel  zu 
beobachten,  wenn  sie  vielleicht  auch  nicht  so 
deutlich  ist,  wie  bei  Eunice  viridis.  Wenn  wir 
nun  nach  einer  Erklärung  für  das  Palolophänomen 
suchen,  so  bleibt  nach  Arrhenius  nur  wieder 
die  Luftelektrizität  übrig.  Daß  hier  eine  Eigen- 
periodik  vorliegt,  ist  natürlich  von  vornherein 
klar,  aber  das  mondpünktliche  Schwärmen  bedarf 
eines  auslösenden  Faktors.  Mechanische  Momente, 
wie  Ebbe  und  Flut  können  zur  Erklärung  nicht 
herangezogen  werden,  da  die  Erscheinung  auch 
in  vom  I^eere  abgeschlossenen  Behältern  beob- 
achtet wird.  Auch  bedeckter  Himmel  oder  son- 
stige Verschiedenheiten  der  Witterung  haben  auf 
das  Schwärmen  keinen  Einfluß. 

Die  physiologische  Wirkung  der  Luftelektrizität 
ist  ein  interessantes  und  auch  medizinisch  wich- 
tiges Problem,  da  es  nicht  ausgeschlossen  ist,  daß 
sie  auch  einen  Faktor  des  Höhenklimas  darstellt. 
Jedenfalls  zeigen  die  bisherigen  Versuche  wieder 
einmal  in  überaus  deutlicher  Weise  die  innige 
Verknüpfung  pflanzlichen,  tierischen  und  nicht 
zuletzt  menschlichen  Daseins  mit  den  unbelebten 
Elementen  der  Natur. 


Einzelberichte. 


Physiologische  Untersuchuugeu  au  Flavoiioleu 
und  Authozyanen. 

Mit  der  Bedeutung  der  Anthozyane  für  den 
Haushalt  der  Pflanze  beschäftigt  sich  eine  Arbeit 
von  Kurt  Noack  (Zeitschr.  f.  Bot.  14,  1922). 
Daß  das  Anthozyan  innerhalb  der  Blütenregion 
im  Dienste  der  Insektenanlockung  steht,  ist  ja 
ohne  weiteres  klar.  Nun  tritt  aber  das  Antho- 
zyan auch  sehr  häufig  in  Laubblättern  auf,  die 
dann  die  charakteristische  rote  bis  violette  Tönung 
annehmen.  Man  hat  viel  über  die  Funktion 
solchen  Anthozyangehalts  diskutiert  und  theoreti- 
siert,  ohne  zu  einer  durchweg  befriedigenden  Er- 
klärung zu  gelangen.  So  ist  es  denn  interessant, 
daß  Noack  das  Problem  von  einer  ganz  neuen 
Seite  angreift.  Er  geht  von  der  Tatsache  aus, 
daß  sich  die  Anthozyane  nur  durch  die  Oxy- 
dationsstufe von  einer  anderen  chemischen  Gruppe, 
den  Flavonolen,  abheben,  deren  reduzierte  Phase 
sie  darstellen.  Es  bestehen  hier  also  ähnliche 
Beziehungen  wie  zwischen  Chlorophyll  b  und 
Chlorophyll  a,  Xanthophyll  und  Carotin,  Atmungs- 
pigment und  Atmungschromogen.  Von  dem 
System  Atmungschromogen  ■  Pigment  ist  nun 
durch  Wieland  nachgewiesen,  daß  es  eine  wich- 
tige aktive  Rolle  in  dem  Oxydationsprozeß  der 
Atmung  spielt,  und  Noack  verficht  die  Ansicht, 
daß   dem    System   Flavonol -Anthozyan    eine    ent- 


sprechende Aufgabe  in  dem  Reduktionsprozeß 
der  CO., -Assimilation  zufällt,  daß  also  die  Oxydation 
der  Anthozyane  zu  Flavonolen  ein  Glied  in  der 
Reduktionskette  darstellt.  Ist  das  richtig,  dann 
muß  gefordert  werden,  daß  in  den  betrefifenden 
Pflanzenorganen  Flavonol  und  zugehöriges  Antho- 
zyan stets  gepaart  auftreten.  Hierfür  konnte  der 
Nachweis  in  verschiedenen  Fällen  tatsächlich  er- 
bracht werden.  Man  muß  nun  annehmen,  daß 
in  jedem  Falle  ein  verschiebbares  Verhältnis 
zwischen  beiden  Stoffen  vorhanden  ist,  derart, 
daß  das  Gleichgewicht  durch  die  Assimilation 
mehr  und  mehr  nach  der  Seite  der  Flavonole  — 
also  Entfärbung  —  verschoben  wird.  Damit 
stimmen  die  Erfahrungen  über  das  Auftreten 
von  Anthozyanen  in  Laubblättern  aufs  schönste 
überein.  So  kann  man  das  Erscheinen  von  Rot- 
färbung im  Frühjahr  und  im  Herbst  damit  er- 
klären, daß  im  ersten  P"all  die  Assimilationstätig- 
keit noch  nicht  ihre  normale  Größe  erreicht  hat, 
während  sie  im  Herbst  mit  der  Degeneration 
des  Chlorophylls  schrittweise  erlischt.  Manchmal 
läßt  sich  sehr  deutlich  beobachten,  daß  gerade  bei 
den  Blättern,  bei  denen  der  Chlorophyllzerfall  am 
weitesten  fortgeschritten  ist,  die  Rotfärbung  am 
stärksten  ist,  während  sie  in  benachbarten  Zellen 
mit  noch  normalem  Chlorophyll  fehlt.  Außerdem 
besteht  ein  sehr  auffälliger  Parallclismus  zwischen 
all  den  Eingriffen,   die   eine  Hemmung  der  Assi- 


N.  F.  XXI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


547 


milationstätiglceit  bedingen,  und  dem  Vorhanden- 
sein von  Anthozyan.  Hierher  gehört  die  Narkose, 
der  Entzug  von  Stickstoff  und  Phosphor  (Störung 
der  normalen  Bildung  von  Chlorophyll)  und  die 
Zufuhr  von  Zucker,  durch  welche  die  Assimilation 
nachweisbar  unterdrückt  wird.  Auch  die  von 
T  o  b  1  e  r  betonte  Tatsache,  daß  rotblättrige  Hedera- 
formen  am  weitesten  nach  Norden  vordringen, 
ließe  sich  in  diesen  Rahmen  einfügen.  JVlan 
braucht  nur  die  Annahme  zu  machen,  daß  die 
Kälteresistenz  —  wie  so  oft  —  durch  gesteigerten 
Zuckergehalt  bedingt  ist,  um  auch  hier  zu  einer 
Gleichgewichtsversciiiebung  des  Systems  Antho- 
zyan-Flavonol  nach  der  Anthozyanseite  zu  ge- 
langen. Neu  ist  die  wiederum  zugunsten  der  vor- 
getragenen Deutung  sprechende  Beobachtung, 
daß  Rotfärbung  durch  CO.^- Entzug  hervorgerufen 
werden  kann;  dadurch  wird  ja  ebenfalls  die  Assi- 
milation gehemmt.  Es  muß  weiteren  Versuchen 
überlassen  bleiben,  festzustellen,  ob  die  Noacksche 
Hypothese,  die  zweifellos  heuristischen  Wert  be- 
sitzt, weil  sie  so  verschiedenartige  Tatsachen 
unter  einem  Gesichtspunkt  vereinigt,  allen  Ein- 
wänden gegenüber  standhält.  Vor  allem  wäre  die 
Art  des  Eingreifens  der  Anthozyane  in  dem  Assi- 
milationsprozeß noch  näher  zu  präzisieren. 

Stark. 


Die  Verbreitung  der  Erdbeben  uud  ihre 
Bedeutung  für  Fragen  der  Tektonik. 

Eine  wichtige  Bereicherung  unserer  Kenntnisse 
über  die  geographische  Verbreitung,  Häufigkeit 
und  Stärke  der  Erdbeben  und  über  ihre  Beziehun- 
gen zum  tektonischen  Bau  bestimmter  Erdräume 
gibt  uns  A.  Sieb  erg.') 

Als  Grundlage  seiner  Untersuchung  dienten 
25  000  makroseismisch  beobachtete  Beben  und 
636  Großbeben.  Sie  verfolgt  drei  verschiedene 
Aufgaben,  deren  vereinigte  Ergebnisse  erst  einen 
tieferen  Einblick  in  die  örtlichen  Besonderheiten 
der  Erdbebentätigkeit  ermöglichen :  die  ver- 
gleichende Darstellung  der  mittleren  Bebenhäufig- 
keit in  den  verschiedenen  tektonischen  Einheiten 
der  Erdrinde  —  die  Lagebestimmung  und  Fest- 
legung der  unterscheidenden  Merkmale  derjenigen 
Bebenherde,  die  sich  entweder  durch  große  Stärke 
oder  durch  große  makro-  und  mikroseismische 
Reichweiten  auszeichnen  —  Ermittlung  der  Zu- 
sammenhänge zwischen  den  statistisch  erkannten 
Bebenverhältnissen  und  dem  tektonischen  Bau 
der  Erdrinde. 

Als  wichtige  Leitsätze  werden  formuliert: 
Erdbeben  geben  im  allgemeinen  den  Vollzug 
echter  Bruchdislokationen  infolge  tektoni- 
scher  Vorgänge  zu  erkennen.  —  Die  Größe  des 
Schüttergebietes  wächst  bei  gleicher  Bebenstärke 
im  Epizentrum,  wenn  gleichzeitig  die  Tiefenlage 
des  unterirdischen  Herdes  und  die  dortige  Beben- 


')    Veröffentlichungen     der    Hauptstation     für    Erdbeben- 
forschung in  Jena.     Heft   1.     Jena   I922,   G.  Fischer. 


stärke  zunehmen.  Daraus  ergeben  sich  sechs 
Charakterklassen  von  Beben  (Welt-  und  Wieder- 
kehrbeben, Groß-,  Mittel- ,  Kleinbeben  in  zwei 
Gruppen,  und  Lokalbeben).  —  Die  lebensprudeln- 
den Dislokationen  sind  an  solche  Erdräume  ge- 
knüpft, in  denen  orogenetische  und  epirogenetische 
Bewegungen  auch  heute  besonders  energisch 
am  Werke  sind;  in  ihnen  werden  die  häufigsten, 
heftigsten  und  weitest  reichenden  Beben  auftreten. 
—  Dislokationen  sind  seismisch  um  so  träger,  je 
früher  die  Gebirgsbildung  in  ihrem  Bereiche  zur 
Ruhe  gekommen  ist. 

Im  „seismisch  ■  tektonischen  Antlitz  der  Erde" 
werden  Kontinente  und  Ozeane  nach  ihrer  Seis- 
mizität  besprochen.  Tabellen  geben  für  ihre  tek- 
tonischen Elemente  die  mittlere  Jahreshäufigkeit 
der  gefühlten  und  der  seismisch  registrierten 
schweren  Beben,  für  letztere  auch  die  Zahl  der 
Epizentren ,  die  makro-  und  mikroseismischen 
Reichweiten.  Hier  ist  eine  erstaunliche  Fülle  von 
Material  übersichtlich  verarbeitet  und  für  tektoni- 
sche  Betrachtungen  in  vorbildlicher  Weise  nutzbar 
gemacht. 

Aus  den  „allgemeinen  Ergebnissen"  sei  er- 
wähnt : 

Alljährlich  ist  bei  den  heutigen  Beobachtungs- 
mitteln mit  dem  Nachweise  von  mindestens  8  bis 
10  000  Beben  zu  rechnen.  Jede  Stunde  wird  die 
Erde  von  einem  Beben  erschüttert.  Alle  52  Tage 
verspürt  sie  ein  Weltbeben  des  Festlandes,  alle 
28  Tage  eins  des  Meeresgrundes. 

Die  seismisch  regsamsten  Teile  der 
Erde  sind  die  Randsenken  des  Pazifischen  Ozeans 
(Tonga-,  Kermadec-,  Aleutengraben  als  Ursprung 
der  meisten  und  gewaltigsten  Welt-  und  Groß- 
beben). An  zweiter  Stelle  steht  Asien,  dann 
Südamerika  mit  den  Hochgebirgen  des  Westens 
und  Nordens.  Von  einheitlicher  Größenordnung 
etwa  sind  Mittelamerika  mit  Westindien,  Nord- 
amerika (dabei  ist  die  Westhälfte  Südmexikos  und 
Mittelamerikas  die  am  reichsten  mit  festländischen 
Weltbeben  ausgestattete  Gegend  der  Erde)  und 
der  Indische  Ozean.  In  merklichem  Abstände 
erst  folgt  der  Atlantische  Ozean,  in  gleichem  Ab- 
Stande wieder  Europa,  dann  Afrika,  während  die 
größte  seismische  Ruhe  in  Australien  herrscht. 
Die  bebenreichsten  Landgebiete  überhaupt  sind: 
die  nord-  und  mittelchilenische  Kordillere  mit 
über  1000  Beben  im  Jahre,  die  japanischen  Inseln 
mit  430  und  die  ostafrikanischen  Gräben  mit  300. 

Die  einzelnen  tektonischen  Grund- 
elemente zeigen  sehr  verschiedenes  seis- 
misches Verhalten:  das  bebenärmste  tektonische 
Element  (0,4  %)  ist  die  Gesamtheit  der  paläo- 
zoischen Rumpfgebirge.  Es  folgen  die  alten 
Massen  und  Tafeln.  Die  großen  festländischen 
Einbruchsgebiete  kommen  an  dritter  Stelle.  Es 
schließen  sich  die  tertiär  gefalteten  Hochgsbirge 
an.  Diese  vier  Grundelemente  sind  durch  so  ge- 
ringe Bebentätigkeit  charakterisiert,  daß  sie  zu- 
sammengenommen nur  8  "/o  ''"^''  i^n  Jahre  ge- 
fühlten  Beben   liefern.     Eine   große  Kluft   trennt 


548 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sie  von  den  übrigen  drei  tektonischcn  Grund- 
elementen, in  denen  Brüche  vorherrschen.  Hier- 
lier  gehören  die  Bruchschollenländer,  die  in  junger 
Zeit  durch  Brüche  zerstückelten  P"altengebirge 
und  vor  allem  die  den  Tiefseerinnen  benachbarten 
Landgebiete.  Hier  entstehen  die  meisten  Welt- 
und  Großbeben.  Hieraus  ergibt  sich:  Faltung 
ist  für  die  Auslösung  von  Beben  von 
ganz  untergeordneterBedeutung,  Bruch 
und  Verwerfung  beherrschen    das  Feld. 

Die  Tiefseegräben  sind  in  der  Mehrzahl 
nach  ihrem  seismischen  Verhalten  gewaltige 
Verwerfungen,  zum  Teil  die  gewaltigsten 
der  Erde  überhaupt. 

Die  Becken  der  Weltmeere  haben  nicht,  wie 
A.  Wegener  annimmt,  einen  ähnlichen,  sondern 
einen  grundverschiedenen  Bau,  der  ihre  Entstehung 
widerspiegelt.  Die  Absenkung  des  Bodens  des 
Atlantischen  Ozeans  geschah  in  der  Hauptsache 
bruchlos  an  F'lexuren.  Die  Atlantische  Schwelle 
in  ihm  ist  ein  werdendes  großes  Faltengebirge. 
Der  recht  gleichförmige  Boden  der  innerpazifischen 
Tiefseeflur  bildet  im  allgemeinen  eine  einheitliche 
starre  Tafel,  die  als  Ganzes  im  Sinken  be- 
griffen ist. 

Alles  in  allem  darf  angenommen  werden,  es 
sei  der  Zusammenbruch  der  Erdrinde,  der 
sich  in  den  Erdbeben  zu  erkennen  gibt.  — 

Eine  sehr  schöne  seismisch-tektonische  Welt- 
karte begleitet  die  ausgezeichnete  Arbeit,  deren 
Folgerungen  man  sich  vom  geologischen  Stand- 
punkt aus  nur  anschließen  kann. 

Krenkel. 

Die  Chromosomen  der  Obstfliege  (Drosopliila). 

Bridges')  geht  von  der  Vorstellung  aus,  daß 
ein  Gen  eine  chemische  Einheit  ist ,  welche  in 
einem  bestimmten  Chromosom  liegt.  Das  Gen 
erzeugt  in  dem  Organismus  charakteristische 
chemische  Vorgänge  und  beeinflußt  infolgedessen 
die  Entwicklungsvorgänge.  Eine  Eigenschaft  kann 
durch  manche  Gene  stärker  oder  auffälliger  ge- 
macht werden,  durch  andere  schwächer. 

Die  Beobachtungen  von  Bridges  beziehen 
sich  auf  die  Obstfliege  (Drosophila),  welche  ja 
T.  H.  Morgan  und  seinen  Schülern  schon  zu 
vielen  Experimenten  gedient  hat.  Dieses  Insekt 
hat  vier  Paare  von  Chromosomen ,  wobei  eines 
eines  davon  das  Geschlechtschromosomenpaar  ist; 
unter  den  übrigen  Paaren  (den  „Autosomen")  be- 
findet sich  eines  mit  kleinen  kugeligen  Chromo- 
somen (Abb.  i).  Es  gelang  Bridges  Individuen 
zu  finden,  welchen  eines  von  diesen  kleinen  Chro- 
mosomen fehlte  ,und  die  Folgen  zeigten  sich  in 
geringerer  Größe,  kürzeren  Flügeln,  kleineren 
i'"ühlerborsten,  blasserer  Kür])erfarbe,  dunklerem 
Fleck  auf  dem  Thorax  (darker  trident  pattern), 
und  späterem  Ausschlüpfen.   Man  erkennt  daraus, 

')  Bridges,  Dr.  Calvin  B.,  The  origin  of  varialions  in 
sexual  and  seN-limited  characters.  .'\merican  Naturalist  vol.  56, 
1922,  p.  51—63.     7  Fig. 


daß  das  kleine  Chromosom  in  bezug  auf  den 
P'leck  einen  hemmenden,  hinsichtlich  der  anderen 
genannten  Eigenschaften  einen  fördernden  Einfluß 
besitzt.  Auch  bei  anderen  Eigenschaften,  die  auf 
anderen  Chromosomen  beruhen,  kommen  die 
kleinen  Chromosomen  mitwirkend  in  Betracht; 
fehlt  eines  der  kleinen  Chromosomen,  so  zeigt 
sich  z.  B.  die  haarlose  Mutation,  welche  auf  einem 
anderen    Autosomenpaar    beruht,    in    verstärkter 


V  6 


')f 'X 


'X  T 


Abb.   I.     Chromosomen  von  Drosophila. 

Mach  Morgan    aus    Goldschmidt,    Mechanismus  der 

Geschlcchtsbestimmung.     Berlin   1920. 


Weise.  —  Wenn  eines  der  kleinen  Chromosomen 
fehlt,  hat  das  andere  kleine  Chromosom  keinen 
Paarung;  infolgedessen  kommt  es  bei  den  Rei- 
fungsteilungen nur  in  die  Hälfte  der  Sexualzellen; 
kreuzt  man  also  ein  solches  Tier  mit  normalen 
Tieren,  so  entstehen  zur  Hälfte  ebensolche  Tiere, 
zur  Hälfte  normale. 

Fehlt  eines  von  den  großen  Autosomen,  so 
ist  die  Störung  so  schwer,  daß  die  Tiere  nicht 
am  Leben  bleiben. 

Bei  Drosophila  ist  eines  von  den  4  Paaren 
das  Geschlechtschromosomenpaar  (Abb.  i),  und 
dieses  besteht  im  männlichen  Geschlecht  aus  zwei 
ungleichen  Chromosomen  (x  und  y),  im  weib- 
lichen Geschlecht  aus  zwei  gleichartigen  (2  x). 
Die  Entfernung  eines  Geschlechtschromosoms 
wirkt  ähnlich  wie  die  Entfernung  eines  der  beiden 
kleinen  Chromosomen.  Das  y  Chromosom  scheint 
allerdings  nur  einen  unbedeutenden  Einfluß  zu 
haben.  Ein  Individuum  ohne  y- Chromosom  wird 
männlich, ')  aber  kleiner  als  ein  normales  Männ- 
chen, hat  kleinere  Fühlerborsten,  ist  weniger 
lebenskräftig  und  schlüpft  später  aus. 

Bridges  hat  Individuen  gefunden,  welche  tri- 
ploid  sind,  d.  h.  welche  dreimal  die  halbe  Chromo- 
somenzahl enthalten,  also  12  Chromosomen.  Diese 
Tiere  sind  Weibchen,  aber  ein  wenig  größer  als 
normale  Weibchen.  Unter  ihren  Nachkommen 
gibt  es  intersexuelle  Tiere,  welche  weder  männ- 
lich noch  weiblich  sind;  diese  besitzen  die  Auto- 
somen triploid  und  haben  zwei  x- Chromosomen 
und  müßten  demnach  Weibchen  sein,  werden 
aber  durch   die  Autosomen  nach    der  männlichen 


1)  Das  erinnert  an  den  bei  vielen  Tieren  vorkommenden 
Protenor-Typus,  bei  welchem  im  weiblichen  Geschlecht  zwei 
Geschlechtschromosomen,  im  männlichen  nur  eines  vorhanden 
sind. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


549 


Richtung  hin  beeinflußt,  was  beweist,  daß  die 
Autosomen  neben  den  Geschlechtschromosomen 
auch  eine  Einwirkung  auf  die  Geschlechtscharak- 
tere haben  und  einen  Einfluß  nach  der  männ- 
lichen Seite  hin  ausüben.  —  Die  geschlechtlichen 
Zwischenformen  (Intersexes)  sind  teils  mehr  männ- 
lich, teils  mehr  weiblich. 

Es  kann  vorkommen,  daß  man  Tiere  erhält 
mit  der  diploiden  Zahl  von  Autosomen,  aber  mit 
3  X-Chromosomen;  da  die  letzteren  eine  weibliche 


Tendenz  haben,  entsteht  ein  „Überweibchen" 
(Superfemale);  es  besitzt  aber  abnorme  Ovarien 
und  ist  unfruchtbar.  Andererseits  gibt  es  Tiere 
mit  einem  einzigen  x  Chromosom  und  einer  tri- 
ploiden  Zahl  von  Autosomen;  da  nun  dem  weib- 
lichen Einfluß  des  x-Chromosoms  der  männliche 
Einfluß  der  drei  Sortirnente  von  Autosomen 
gegenübersteht,  gibt  es  „Übermännchen"  (Super- 
males),  die  aber  auch  unfruchtbar  sind. 

H.  E.  Ziegler  (Stuttgart). 


Bücherbesprechungen. 


Pfaff,  Dr.  A.,  Für  und  gegen  das  Blinstein- 
sche  Prinzip.     44  S.     Diessen  vor  München 
1921,  Jos.  C.  Huber. 
Wittig,  Hans,    Die  Geltung    der  Relativi- 
tätstheorie.    Eine  Untersuchung  ihrer  natur- 
wissenschaftlichen Bedeutung.     67  S.     Berlin  W 
1921,  Hermann  Sack. 
Richter,  Dr.  Hans,    Prof   a.  d.  Univ.  Bern,   Die 
Entwicklung  der  Begriffe  Kraft,  Stoff, 
Raum,  Zeit  durch  die  Philosophie  mit  Lösung 
des    Einsteinschen    Problems.     30    S.     Leipzig 
1921,  Otto  Hillmann. 
Strasser,  Dr.  H.,    o.  Prof.    d.  Anatomie    in   Bern, 
Die     Grundlagen     der     Einsteinschen 
Relativitätstheorie.     Eine  kritische  Unter- 
suchung.     HO  S.     Bern   1922,  Paul  Haupt. 
Die  Denkempörung  gegen  Einstein  kommt  in 
einer     noch     immer    wachsenden    Hochflut     von 
Streitschriften,    die    sich    gegen    die    Relativitäts- 
theorie   richten,    und    zu    denen   auch    diese    vier 
Arbeiten    gehören,    zum    Ausdruck.      Die    Schrift 
von  Pfaff  stellt   eine  eingehende  Diskussion  des 
Michelsonschen  Versuchs  vom  Standpunkte   eines 
Kritikers   dar,    der    nicht    Berufsmathematiker    ist, 
und  kommt    zu  dem    an   sich   jedenfalls  richtigen 
Schluß,    daß    die    Relativitätstheorie    in    den  Ver- 
suchen von  Michelson   und  Morley  oder  El- 
ze au   keinerlei   physikalische   Stütze    findet.     Die 
Arbeit    von  Witt  ig    stellt    eine    sehr    gründliche 
Diskussion    sowohl    der    physikalischen    wie    der 
philosophischen    Grundlagen     der     Einsteinschen 
Theorie    dar.     Indem    einzelne  Gebilde    der  Rela- 
tivitätstheorie,   z.  B.    die    Uhrentheorie    oder    die 
mit  Lichtgeschwindigkeit  bewegt  gedachte  Materie 
oder  die  „Verjüngung"  rückläufig  bewegter  Lebe- 
wesen zu  Ende  gedacht  werden,  gelangt  der  Verf 
auf  Widersprüche,    die   sich    mit   Hilfe    der   Rela- 
tivitätstheorie nicht  lösen  lassen.     Die  angeblichen 
Widersprüche  in  der  alten  Äthertheorie,  die  zur  Zeit- 
relativierung      und      Lorentzkontraktion      führten, 
werden    als    nicht  vorhanden  nachgewiesen.     Der 
Verf.  kommt  zu  dem  Schluß,   daß  für  die  Physik 
kein    Anlaß    besteht,    von    der    Annahme    eines 
,, Äthers"  abzusehen.     Würde  die  Naturwissenschaft 
auf  Grund  rein  formaler  Entwicklungen  den  Äther 
gänzlich  annullieren,  so  müßte  sie  aus  materialen 
Gründen    doch    wieder    zu    einer    anderen    Hilfs- 


hypothese greifen,  um  die  Nahewirkung  überhaupt 
erklären  zu  können,  die  sie  an  die  Stelle  der 
Newtonschen  Fernwirkungen  eingeführt  hat.  — 
Die  kleine  Schrift  von  Richter  ist  ganz  anderer 
Art  und  macht  den  interessanten  Versuch,  vom 
Standpunkt  des  Biologen  eine  Stellung  zur  Ein- 
steinlehre oder  richtiger  zu  den  erkeantnistheore- 
tischen  Prinzipien  der  Mathematik  und  Physik  zu 
gewinnen.  Das  Gemeinsame  zwischen  Zeit  und 
Raum,  mathematisch  ausgedrückt  „der  Quotient" 
des  Verhältnisses  Raum  zu  Zeit,  erblickt  er  in 
dem  biologischen  Prozeß  der  „Aufteilung",  von 
ihm  als  „Merie"  bezeichnet.  Die  Schrift  ist  nur 
vorläufig  orientierend  und  man  wird  bei  der  Fülle 
von  anregenden  Gedanken,  die  sie  enthält,  auf 
die  in  Aussicht  gestellte  Fortführung  in  einer 
breiter  angelegten  Abhandlung  gespannt  sein 
dürfen.  Strasser  kommt  auf  Grund  seiner 
Untersuchungen  zu  einer  sehr  entschiedenen  Ab- 
lehnung der  sog.  Relativitätstheorie.  Er  glaubt 
nachgewiesen  zu  haben,  „daß  Lorentz  und  Ein- 
stein ihre  ,Transformationsformeln'  in  rechnerisch 
unstatthafter  Weise  abgeleitet  haben.  Es  handelt 
sich  dabei  um  prinzipielle  Verstöße  gegen  die 
Logik  der  Deduktion,  meist  von  der  Art,  daß 
den  gewonnenen  Symbolen  neue,  mit  den  Prä- 
missen unvereinbare  Bedeutungen  zuerkannt  wer- 
den." „Die  Einsteinsche  Lehre  von  der  Konstanz 
der  Lichtgeschwindigkeit  ist  unhaltbar.  Diese 
Lehre  ist  durch  keine  Tatsache  bewiesen  und 
wird  zu  Unrecht  aus  dem  Versuch  von  Michel- 
son und  Morley  gefolgert.  Dieser  Versuch 
beweist  nur  die  Konstanz  der  Geschwindigkeit 
des  Lichtes,  das  von  einem  auf  der  Erde  ruhenden 
Punkt  ausgeht,  der  Erde  gegenüber.  —  Es  führt 
auch  die  Lehre  von  der  Konstanz  der  Licht- 
geschwindigkeit zu  ganz  absurden  Schlußfolge- 
rungen." —  „Die  Lehre  Einsteins  von  der  Va- 
rianz und  Variabilität  der  Zeit  wird  zu  einem  un- 
entwirrbaren Chaos."  —  „Das  Uhrenbeispiel  ist 
eine  naive  und  ganz  unhaltbare  Fiktion."  Auch 
die  Grundlagen  der  allgemeinen  Relativitätstheorie 
werden  einer  Kritik  unterzogen;  insbesondere  die 
Lehre  von  den  Zentrifugalkräften  muß  nacli  An- 
sicht des  Verf.  Bedenken  erregen.  P'ricke. 


5  so 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Hartwig,  O.,  Das  Werden  der  Organis- 
men. Zur  Widerlegung  von  Darwins  Zufalls- 
theorie durch  das  Gesetz  in  der  Entwicklung. 
3.  Aufl.  XX  u.  686  S.  mit  115  Abb.  im  Text. 
Jena  1922,  G.  Fischer.  Geh.  200  M. ,  geb. 
240  M. 

Selten  hat  ein  Werk  der  biologischen  Wissen- 
schaften einen  solchen  Siegeslauf  zu  verzeichnen 
gehabt,  wie  H er twigs  Werden  der  Organismen. 
Innerhalb  der  kurzen  Spanne  von  vier  Jahren  ist 
jetzt  bereits  die  dritte  Auflage  nötig  geworden, 
ein  Beweis  dafür,  welche  begeisterte  Aufnahme 
das  Werk  gefunden  hat. 

Und  berechtigt  ist  diese  Begeisterung  zweifel- 
los, weil  hier  ein  Werk  vorliegt,  das  aus  der 
Feder  eines  der  führenden  Männer  der  nachdarwi- 
nianischen  Zeit  stammend,  in  leichtverständlicher 
Form  einen  Überblick  gibt  über  die  Errungen- 
schaften, welche  die  Entwicklungslehre  in  den 
letzten  50  Jahren  aufzuweisen  hatte.  Vieles  von 
dem,  was  namentlich  die  erste  Auflage  vermissen 
ließ,  ist  jetzt  eingeflochten  worden,  so  daß  eine 
weitgehende  Abrundung  des  Gesamtbildes  er- 
reicht ist. 

Die  klare  Entwicklung  der  Gedanken,  die 
ruhige  Form  der  Darstellung,  die  kritische  Wer- 
tung der  Tatsachen  müssen  auch  auf  den  Laien 
fesselnd  wirken.  Sie  sind  es,  welche  dem  Werk 
seine  Verbreitung  in  und  außerhalb  des  Kreises 
der  Fachgenossen  gesichert  haben. 

Die  weite  Verbreitung  des  Hertwigschen 
Werkes  zwingt  nun  auch  dazu,  ein  besonderes 
Maß  daran  zu  legen.  Der  Biologe  wird  gern  aus 
der  Fülle  des  Gebotenen  schöpfen  und  wird  hier 
und  da  vielleicht  eine  andere  Folgerung  daraus 
ziehen.  Der  Laie  wird,  durch  die  überlegene  Form 
gefesselt,  auch  die  Resultate  des  Werkes  als  ein- 
wandfrei und  bindend  ansehen. 

Darin  liegt  zweifellos  eine  gewisse  Gefahr,  die 
von  vielen  Seiten    auch    klar    erkannt  worden  ist. 

So  kommt  es,  daß  das  „Werden  der  Organis- 
men" nicht  nur  begeisterte  Zustimmung,  sondern 
auch  heftigste  Ablehnung  gefunden  hat. 

Daß  der  Nebentitel  von  der  Widerlegung  von 
Darwins  Zufallstheorie  für  den  gebildeten  Laien 
besonders  deshalb  zugkräftig  ist,  weil  er  dahinter 
eine  Widerlegung  des  Deszendenzgedankens  ver- 
mutet, ist  selbstverständlich ;  der  Leser  wird  sich 
in  dieser  Erwartung  ebenso  selbstverständlich  ge- 
täuscht finden,  denn  Hertwig  vertritt  den  Ent- 
wicklungsgedanken überall. 

Das,  was  Hertwig  vielmehr  anstrebt,  ist 
eine  Bekämpfung  der  speziell  als  Darwinismus  zu 
bezeichnenden  Theorie  der  Selektion.  Seine  Deduk- 
tionen, welche  zu  diesem  Ziele  führen  sollen,  sind 
klar  und  einleuchtend.  Sein  Resultat,  die  Ableh- 
nung des  Darwinismus,  ist  aber  trotzdem  nicht 
bindend,    weil    seine  Voraussetzungen   falsch  sind. 

Darwin  dürfte  der  erste  Vertreter  deszendenz- 
theoretischcr  Vorstellungen  gewesen  sein,  welcher 
für  die  Artentwicklung  zwei  antagonistische  Prin- 
zipien verantwortlich  machte,  nämlich  ein  formen- 


schöpfendes und  ein  formenvernichtendes  Prinzip. 
Das  formenschöpfende  war  für  ihn  die  Variation, 
das  formenvernichtende  die  Naturselektion.  Die 
Variation  schafft  dauernd  neue  Erscheinungsformen 
von  Organismen ,  die  Selektion  vernichtet  davon 
alle  diejenigen,  welche  im  Kampf  ums  Dasein 
sich  weniger  bewähren. 

Von  den  beiden  Grundprinzipien  war  Dar- 
w  i  n  das  formenschöpfende  vorerst  gleichgültig. 
Rein  deskriptiv  stellte  er  das  Vorhandensein  einer 
Variation  fest,  und,  indem  er  sich  mit  dem  Ge- 
gebenen abfand,  fragte  er  danach,  wie  daraus  ein 
Fortschritt  resultieren  könne.  Die  Naturselektion 
gab  ihm  darauf  eine  restlos  befriedigende  Ant- 
wort, denn  wenn  sie  alles  Minderwertige  ausschied, 
mußte  äußerlich  („phänotypisch"  würde  man 
vielleicht  prägnanter  sagen  können)  ein  Fortschritt 
zu  beobachten  sein. 

Heutzutage  steht  nicht  mehr  das  negative 
formenvernichtende  Prinzip  im  Brennpunkt  des 
Interesses,  sondern  das  positive,  formenschöpfende. 
Man  fragt  danach,  woher  die  neuen  Formen 
kommen,  wodurch  die  Variation  bedingt  wird. 
Es  herrscht  jetzt  also  eine  kausalanalytische  Ten- 
denz in  der  Bearbeitung  der  Entwicklungslehre  vor. 

Darwin  machte  den  „Zufall"  für  das  Auf- 
treten neuer  Formen  verantwortlich.  Zufall  aber 
ist  eine  Erfindung  des  Menschen,  welche  das  be- 
zeichnet, dessen  Gesetzmäßigkeiten  man  noch 
nicht  kennt.  Darwins  Ansicht  von  der  Zufällig- 
keit der  Variation  ist  also  nichts  weiter,  als  ein 
vorläufiger  Verzicht  auf  eine  genauere  Analyse. 
Die  neuere  Biologie,  und  mit  ihr  Hertwig, 
begnügt  sich  nicht  mit  diesem  Provisorium,  son- 
dern setzt  dafür  allerlei  Ursachen  ein.  Allerdings 
hat  Darwin  schon  die  Verschiedenheit  der 
Varianten  erkannt  und  Verschiedenheiten  ihrer 
Entstehung  vermutet,  ohne  dem  aber  weiter  nach- 
zugehen. Heute  ist  gerade  dies  die  herrschende 
Problemstellung. 

Hertwig  tut  also  Darwin  bitter  unrecht, 
wenn  er  behauptet,  ihn  widerlegt  zu  haben.  ^) 
Nicht  um  die  Widerlegung  eines  Irrtums,  sondern 
um  den  Ausbau  eines  Provisoriums  handelt  es 
sich,  wenn  Hertwig  die  Zufälligkeit  der  Varia- 
tion bekämpft.  Das  Entscheidende  an  Darwins 
Gedanken  wird  dadurch  gar  nicht  berührt. 

An  der  Bedeutung  der  Naturselektion  als  eines 
formenvernichtenden  Prinzips  wird  niemand  zweifeln 
können;  Darwin  ist  damit  heute  noch  ebenso 
„modern",  wie  bei  der  Aufstellung  seiner  Theorie. 
Die  Analyse  der  Variation  als  des  formenschöpfen- 
den Prinzips  ist  aber  in  der  Tat  seit  Darwin 
schon  erheblich  gefördert  worden;  darüber  gibt 
Her  twigs  Buch  trefflichen  Aufschluß. 

Wenn  also  Hertwigs  „Werden  der  Organis- 
men" als  eine  Übersicht    über   reiches  Tatsachen- 


')  Es  ist  schwer  verständlich,  wie  in  der  neuen  Auflage 
eine  Stellungnahme  zu  den  leider  in  der  Form  reichlich 
schroffen,  aber  sachlich  sehr  beachtenswerten  Bemerkungen 
Study s  zu  Hertwigs  „Werden  der  Organismen"  fehlen 
konnte  1 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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material  überaus  wertvoll  ist  und  daher  nicht 
warm  genug  empfohlen  werden  kann,  so  legt  die 
Achtung  vor  Darwin  doch  den  Wunsch  nahe, 
es  möge  der  irreführende  Zusatztitel  des  Werkes 
bei  künftigen  Auflagen  verschwinden,  und  ebenso 
alles,  was  diesen  Zusatztitel  zu  unterstützen 
scheint,  einer  Revision  unterzogen  werden.  Möch- 
ten doch  recht  viele  Leser  durch  Hertwigs 
Werk  veranlaßt  werden,  auch  einmal  Darwins 
Entstehung  der  Arten  zu  lesen,  um  Darwins 
eigene  Meinung  kennen  zu  lernen! 

H.  Prell. 


Schaffer,  J.,  Lehrbuch  derHistologie  und 
Histogenese,  nebst  Bemerkungen  über 
Histotechnik      und      das      Mikroskop. 
IL  verb.  Aufl.,  VIII  u.  536  S.,   mit  600  z.  Teil 
färb.  Abb.  i.  Text  u.  auf  14  Taf.     Leipzig  1922, 
W.  Engelmann.     Preis  geh.  245. —  M.,   in  echt 
Leinen  geb.  290. —  M.,  zuzüglich' 100  "/o  Verleger- 
zuschlag. 
Die   „Vorlesungen   über  Histologie"  des  Verf. 
haben    im  vorliegenden  Werke   unter  geändertem 
Titel    eine  Neuauflage    erfahren.      Sachlich   ist    es 
damit    insofern    anders    gestellt,    als    man   an    ein 
Lehrbuch    andere  Anforderungen   stellen  wird,  als 
an  zwanglosere  Vorlesungen  über  ein  Gebiet.    Und 
in    diesem  Charakter   weicht   Schaffers  Histologie 
recht    erheblich    von    den    anderen    Lehrbüchern 
über  das   Gebiet   ab.       Ein   Überblick   über   den 
Inhalt  zeigt  das  sofort. 

Eine  historische  Einleitung  bietet  in  gedrängter 
Form  einen  guten  Überblick  über  die  wichtigsten 
Daten  aus  der  Geschichte  der  Histologie  und 
über  den  Wechsel  der  Probleme  und  Methoden. 

Der  erste  Hauptteil  (S.  8 — 37)  widmet  sich 
einer  Besprechung  des  Mikroskopes  und  seiner 
Hilfsapparate.  Hier  hätte  vielleicht  die  praktisch 
kaum  mehr  gebräuchliche  Parallelogrammführung 
zugunsten  eines  kurzen  Hinweises  auf  die  Mecha- 
nik der  Feineinstellungen  an  den  Leitzschen  und 
den  neuesten  Zeissschen  Instrumenten  gekürzt 
werden  können.  Von  den  Zeichenapparaten  ist 
der  Oberhäusersche  kaum  noch  gebräuchlich, 
jedenfalls  weniger  verbreitet,  als  die  „Zeichen- 
okulare"  verschiedener  Firmen.  Eine  stärkere 
Benutzung  des  didaktisch  geschickten  Büchleins 
von  Leitz  würde  diesen  Abschnitt  erheblich  ver- 
bessern können.  Auch  würde  es  Ref.  richtig  er- 
scheinen, hier  die  Bemerkungen  über  Untersuchung 
im  polarisierten  Lichte  anzuschließen,  um  alles 
Technische  zusammenzuhalten. 

Der  zweite  Hauptteil  führt  dann  in  die  eigent- 
liche Materie  ein  und  behandelt  „die  Lehre  von 
den  einfachen  Geweben",  also  die  allgemeine 
Histologie  (S.  38 — 278).  Die  starke  Betonung, 
welche  der  allgemeine  Teil  findet,  bildet  mit  den 
charakteristischsten  Zug  von  Schaf  fers  Histolo- 
gie. Ob  das  für  ein  Lehrbuch  in  der  Hand  des 
jüngeren  Studenten  zweckmäßig  ist,  mag  dahin- 
gestellt bleiben.     Für  den  Fortgeschrittenen  ist  es 


zweifellos  recht  wertvoll,  auch  genauere  Hinweise 
zu  finden,  insbesondere  da  auch  von  denen  des 
Verf.  abweichende  Ansichten  Berücksichtigung 
finden. 

Der  dritte  Hauptteil  schließlich  führt  in  „die 
spezielle  Gewebelehre  oder  Histologie  der  Organe" 
(S.  279 — 516)  ein,  also  in  das  Gebiet  der  mikro- 
skopischen Anatomie.  Hier  überrascht  die 
streng  histologische  Auffassung  des  Gebietes,  bei 
welcher  weitgehend  von  dem  Gesamtbau  der  be- 
handelten Organe  abgesehen  wird.  Nur  wenige 
Schemata  versuchen,  nicht  stets  glücklich,  auch 
die  Einheit  der  Organe  zu  erläutern.  Manche 
Kürzen  in  der  Behandlung  dürften  auf  diese  Zu- 
spitzung zur  rein  histologischen  Betrachtungsweise 
zurückzuführen  sein. 

Ein  doppelter  Index,  nach  Tiernamen  und  nach 
der  Materie,  erleichtert  die  Auffindung  bestimmter 
Gegenstände.  Ein  kurzes  Literaturverzeichnis 
orientiert  über  die  wichtigsten  Lehrbücher,  deren 
Gebiete  berücksichtigt  werden. 

Was  die  Gruppierung  des  gesamten  Stoffes 
anlangt,  so  wäre  es  vielleicht  richtiger  gewesen, 
den  Abschnitt  über  das  Mikroskop  als  den  anderen 
Hauptteilen  des  Werkes  nicht  gleichgeordnet  in 
die  Einleitung  zu  übernehmen. 

Eine  Erweiterung  der  Einleitung  durch  einen 
geschlossenen  Überblick  über  die  histologische 
Technik  würde  sicher  einen  Gewinn  bedeuten. 
Allerdings  wäre  dabei  nicht  an  die  Wiedergabe 
spezieller  Handgriffe  und  Rezepte  zu  denken,  wie 
sie  ja  in  zahlreichen  sowieso  unentbehrlichen  Hilfs- 
büchern zu  finden  sind.  Wertvoll  ist  aber  gerade 
für  den  Anfänger,  etwas  über  Zweck  und  Ziel 
der  verschiedenen  Methoden,  sowie  über  Charakter 
und  Wirkungsweise  ganzer  Farbstoffgruppen  usw. 
zu  erfahren.  Das  pflegte  in  den  Hilfsbüchern 
hinter  den  praktischen  Anweisungen  verloren  zu 
gehen. 

Daß  eine  besondere  Behandlung  der  Zelle 
als  des  elementaren  Bausteines  eines  jeden  Ge- 
webes fehlt,  wird  vielen  Benutzern  des  Schaf  fer- 
schen Buches  recht  unangenehm  auffallen.  Der 
Hinweis  auf  die  spezielle  Behandlung  der  Zelle 
von  Böhmig,  welche  als  Ergänzung  heran- 
gezogen werden  soll,  befriedigt  (insbesondere  im 
Zeitalter  der  hohen  Bücherpreise)  nur  wenig. 
Vielleicht  entschließt  sich  Verf.  doch,  in  einer 
Neuauflage  trotz  aller  seiner  Bedenken  möglichst 
vor  der  allgemeinen  Histologie  einen  Grundriß 
der  Cytologie  zu  geben. 

Während  die  Differenzierung  der  Zelle  ja  in 
vieler  Hinsicht  schon  von  selbst  im  zweiten 
Hauptteile  behandelt  wird,  wäre  hier  dann  viel- 
leicht auf  den  primären  Bau  der  Zelle,  auf  ihre 
Vermehrungserscheinungen  und  auf  die  Vorgänge 
bei  der  Gameten-  und  Zygotenbildung  einzugehen. 
(Die  Behandlung  der  synaptischen  Phänomene  usw. 
S.  437  ist  wirklich  zu  knapp!) 

Die  Ausstattung  der  Schaf  ferschen  Histo- 
logie ist  buchtechnisch  als  mustergültig  zu  be- 
zeichnen und  entspricht  vollkommen  der  Qualität, 


SS2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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wie  sie  in  besseren  Zeiten  üblich  war.  Sachlich 
wäre  es  vielleicht  kein  Fehler  gewesen,  wenn 
weniger  Wert  auf  die  Originalität  der  Abbildungen 
gelegt  wäre.  Es  ist  vielmehr  zweckmäßiger,  aus 
anderen  Werken  und  Spezialarbeiten  besonders 
geglückte  Abbildungen  zu  übernehmen,  statt  über- 
all eigene  Bilder  vorzulegen.  Hervorgehoben  sei 
als  Beispiel  nur  ein  Vergleich  der  Bilder  von  den 
Zentren  in  Leukozyten  mit  Heidenhains  Ab- 
bildungen! 

Eine  stärkere  Betonung  des  anatomischen  Ge- 
samtaufbaues der  Organe  läßt  sich  vielleicht  trotz 
der  Tendenz  des  Werkes  rechtfertigen  und  durch- 
führen. 

Im  ganzen  darf  man  Schaf  fers  Histologie 
als  ein  wertvolles  Glied  der  histologischen  Lite- 
ratur ansehen,  dessen  Anschaffung  trotz  des  ver- 
hältnismäßig hohen  Preises  denen,  welche  sich 
eingehender  mit  Histologie  befassen  wollen,  nur 
empfohlen  werden  kann.  Prell,  Tübingen. 


Karsten,  Georg,    Methoden    der  Pflanzen- 
geographie.     (Handbuch    der    biologischen 
Arbeitsmethoden,  Abt.  XI,  Teil  i,  Heft  3),  S.  309 
bis  324.      Berlin    und    Wien   1922,    Urban    und 
Schwarzenberg. 
Rubel,     Eduard,      Geobotanische     Unter- 
suchungsmelhoden.      Berlin    1922,    Gebr. 
Borntraeger. 
Die    Pflanzengeographie     zählt     nicht    zu    den 
jungen  Wissenschaften,    ist  aber  auch  heute  noch 
in  sich  wenig  geschlossen.     Darin  liegt  wohl  mit 
ein  Grund  dafür,    daß  wir  eine  Zusammenfassung 
ihrer  Methoden  noch  nicht  besitzen.     In  Amerika 
kamen    1905    Clements'    Research    methods   in 
ecology    heraus,   ein  Buch,  das  nur  die  Pflanzen- 
soziologie,   diese    allerdings    eingehend,    berück- 
sichtigt,   aber  zu  sehr  auf  amerikanische  Verhält- 
nisse zugeschnitten  ist.    Karstens  kaum  16  Seiten 
lange    Arbeit    kann    die    Lücke    in    keiner  Weise 
ausfüllen.      Obwohl    sie    in  einem  „Handbuch  der 
biologischen     Arbeitsmethoden"      erschienen     ist, 
bietet  sie  von  Methodenbeschreibung  doch  nichts; 
denn  wenn  der  Verf.  auch  von  floristischer,    öko- 
logischer, genetischer  Methode  spricht,  so  handelt 
es  sich  dabei  immer  um  Darstellung  „materieller 
Gesichtspunkte"     (Tschulok)      der     P'orschung. 
Man  könnte  die  Arbeit   am    treffendsten    als    eine 
vortreffliche  knappe  Zusammenfassung  dessen  be- 
zeichnen, was    über  Pflanzengeographie    in   jedem 
Lehrbuch    der  Botanik    stehen  sollte.     Leider  be- 
rücksichtigen die  Lehrbücher  diese  Disziplin  immer 
noch  ungenügend  oder  gar  nicht. 


Zu  gleicher  Zeit  ist  aber  in  Rübeis  „Geo- 
botanischen  Untersuchungsmethoden"  ein  Ersatz 
erschienen.  Für  jeden,  der  pflanzengeographisch 
arbeiten  oder  als  Lehrer  pflanzengeographische 
Arbeiten  anregen  und  fördern  will,  ist  das  Buch 
unentbehrlich.  Es  ist  selbst  entstanden  als  ein 
Zusammenklang  von  praktischer  Erfahrung  und 
Lehre.  Bei  der  Abgrenzung  des  Gebietes  gegen 
Meteorologie,  Physik,  Physiologie,  Bodenkunde, 
Mineralogie,  die  Verf.  selbst  als  sehr  schwierig 
bezeichnet,  hat  er  wohl  den  richtigen  Maßstab 
verwendet.  Die  bedauerliche  Vernachlässigung 
der  floristischen  Pflanzengeographie  —  die 
doch  auch  zur  „Geobotanik"  gehört  und  doch 
auch  ihre  Methoden  hat  ■ —  ist  wohl  auf  die  be- 
sondere soziologische  und  ökologische  Arbeits- 
richtung der  schweizerischen  Pflanzengeographen 
zurückzuführen.  Für  floristische  Feldaufnahmen 
bieten  übrigens  Ernst  Kehl  hofers  „Ratschläge 
für  Anfänger  in  pflanzengeographischen  Arbeiten" 
(Zürich,  Röscher  &  Co.,  191 7)  gute  Fingerzeige. 
Rubel  gibt  in  der  Einleitung  seines  Buches  eine 
Übersicht  über  die  pflanzengeographischen  Pro- 
bleme und  F"orschungsziele,  erörtert  dann  die 
Standortsfaktoren  und  ihre  Messung  und  die  dazu 
dienenden  Instrumente,  im  zweiten  Hauptabschnitt 
die  Untersuchung  der  Pflanzenbestände.  Dieser 
letzte  ist  besonders  wertvoll,  weil  die  Methoden 
der  soziologischen  Forschung  in  der  deutschen 
Literatur  noch  niemals  zusammengestellt  worden 
sind.  Die  einzelnen  Methoden  werden  diskutiert 
und  dabei  wertvolle  Anregungen  zur  Weiterbildung 
dieses  in  vielen  Punkten  noch  strittigen  Forschungs- 
gebietes gegeben.  Von  der  kartographischen 
Darstellung,  die,  soweit  möglich,  noch  der  Ver- 
einheitlichung bedarf,  handelt  der  Schluß  des 
Buches.  Auf  Einzelheiten  kann  unmöglich  ein- 
gegangen werden.  Erwähnen  möchte  ich  einige 
Schönheitsfehler.  Die  schweizerische  .Ausdrucks- 
weise des  Verf.  macht  es  dem  Reichsdeutschen 
zuweilen  schwer,  den  Sinn  genau  zu  erfassen. 
Sehr  merkwürdig  ist  die  Neben-  und  Unterord- 
nung und  die  Zählung  der  Abschnitte.  Wenn 
darin  nicht  ein  Versehen  beim  Druck  erfolgt  ist, 
kann  man  diese  Methode  wohl  sehr  originell,  aber 
wenig  übersichtlich  nennen. 

Hubert  Winkler,  Breslau. 


Literatur. 


Rutgers,  Dr.  med.  J.,  Das  Sexualleben  in  seiner  bio- 
logischen Bedeutung.     Dresden  22,   R.   A.  Giesecke. 

Linke,  Felix,  Der  ewige  Kreislauf  des  Werdens.  Be- 
trachtungen über  das  Schicksal  der  Erde  und  des  Lebens. 
Leipzig  '22,  Th.  Thomas.     Geh.  36  M.,  geb.   52  M. 


IiiIihU:  U  E.  Ziegler,  Über  die  Homomerie.  (6  Abb.)  S.  537.  Kerd.  Scheminsky,  Moderne  Probleme  der  Elektro- 
biologie.  S.  541.  —  Einzelbericbte-  K.  Noak,  Physiologische  Untersuchungen  an  Klavonolen  und  Anthozyanen.  S.  546. 
A.  Sieberg,  Die  Verbreitung  der  Erdbeben  und  ihre  Bedeutung  für  Kragen  der  Tektonik.  S.  547.  C.  B.  Bridges, 
Die  Chromosomen  der  Obsllliege  (Drosophila).  (l  Abb.)  S.  548.  —  Bücherbesprechungen:  A.  Pfaff,  Für  und  gegen 
das  Einsteinsche  Prinzip.  H.  Wittig,  Die  Geltung  der  Relativitätstheorie.  H.  Richter,  Die  Entwicklung  der  Be- 
griffe Kraft,  Stoff,  Raum,  Zeit.  H.  Strasse  r,  Die  Grundlagen  der  Einsteinschen  Relativitätstheorie.  S.  549.  O. 
Hertwig,  Das  Werden  der  Organismen.  S.  550.  J.  Schaffer,  Lehrbuch  der  Histologie  und  Histogenese,  nebst  Be- 
merkungen über  Histotechnik  und  das  Mikroskop.  S.  551.  G.  Karsten,  Methoden  der  Ptlanzengeographie.  Ed. 
Rubel,  Geobotanische  Untersuchungsmethoden.  S.  552.  —  Literatur:  Liste.  S.   552. 

Manuskripte   und   Zuschriften  werden  an   Prof.   Dr.  H.   Miehe,  Berlin  N   4,   Invalidenstraße   42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'ichen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
■r  ganzen  Reihe  37.  Ba 


Sonntag,  den  8.  Oktober  1922. 


Nummer  41. 


[Nachdruck  verboten.] 


Beiträge  zur  Relativität  der  Individuen. 

IV.    Probleme  der  Symbiose. 

Von  Dr.  Willi.  Goctscb,  München. 
Mit  3  Abbildungen. 


Selten  hat  wohl  ein  Schlagwort,  das  eigentlich 
nur  zu  wissenschaftlichem  Gebrauche  geprägt 
wurde,  so  sehr  alle  Wirkungskreise  erobert  wie 
das  Wort  vom  „Kampf  ums  Dasein",  das  Dar- 
win zur  Erklärung  der  artbildenden  Umwand- 
lungsprozesse heranzog.  Ursprünglich  ganz  eng 
gefaßt,  gewann  das  Schlagwort  allmählich  immer 
weitere,  ausgedehntere  Bedeutung,  so  daß  es 
schheßlich  zu  dem  Begriff  eines  Kampfes  aller 
gegen  alle  wurde,  und  damit  dann  Entschuldigung 
für  vieles  bot,  was  sonst  nicht  der  Billigung  der 
Gesittung  entsprach.  Überschritt  im  privaten  oder 
gesellschaftlichen  Verkehr  ein  einzelner  das  er- 
laubte Maß  zu  eigenem  Nutzen,  oder  unterdrückte 
und  vernichtete  ein  Staat  um  des  reinen  Erwerbes 
willen  fremde  Völker  oder  Stämme,  so  konnte 
man  immer  sich  damit  entschuldigen,  daß  man 
achselzuckend  sagte:  „Das  ist  eben  der  Kampf 
ums  Dasein;  naturgewollt  und  damit  gottgefällig." 

Ein  beliebtes  Gebiet,  um  Beispiele  für  das 
vernichtende  Ringen  in  der  Natur  anzuführen, 
lieferten  immer  die  Erscheinungen,  die  in  der 
Biologie  als  Parasitismus  bezeichnet  werden. 
Die  Unzahl  von  Mitteln,  die  dem  Schmarotzer 
bei  der  Ausnützung  seines  Opfers  zur  Verfügung 
standen,  und  die  Gegenmittel,  mit  denen  sich  der 
Überfallene  gegen  die  lästigen  Bewohner  wehrte, 
boten  Argumente  genug,  auf  die  hingewiesen 
werden  konnte. 

Dabei  vergaß  und  übersah  man  aber,  daß  es 
gerade  in  diesem  Kriege  der  Organismen  unter- 
einander Waffenstillstände  und  Friedensschlüsse 
gab,  und  daß  aus  solchen  Kampfeseinstellungen 
Bündnisse  von  einer  Stabilität  entstehen  konnten, 
wie  sie  wohl  sonst  nirgends  zu  finden  sind. 

Wie  groß  deren  Verbreitung  ist,  und  wie  sehr 
wir  rings  umgeben  sind  von  solch  symbio- 
tischen  Vereinigungen,  wie  der  wissen- 
schaftliche Name  heißt,  dafür  geht  uns  erst  jetzt 
durch  die  neuesten  Forschungen  das  volle  Ver- 
ständnis auf.  Das  Zusammenleben  von  zwei  ganz 
verschiedenartigen  Organismen  kann  so  eng 
werden,  daß  der  eine  förmlich  zum  Organ  des 
anderen  wird,  und  der  eine  Teil  ohne  den  anderen 
nicht  existenzfähig  ist.  Solche  Geschöpfe  sind 
demnach  aus  einer  Vielheit  zusammengesetzt; 
und  das  ist  der  Grund,  weshalb  die  Probleme  der 
Symbiose  hier  bei  unseren  Untersuchungen  über 
die  Relativität  der  Individuen  behandelt  werden 
sollen. 


Die  Natur  macht  keine  Sprünge,  so  sagt 
das  Sprichwort  mit  Recht;  und  so  ist  es  kein 
Wunder,  daß  bei  den  Formen  der  Vergesellschaf- 
tung alle  möglichen  Übergänge  zu  finden  sind. 
Auf  der  einen  Seite  steht  der  reine  Parasitismus; 
d.  h.  nur  der  Schmarotzer  hat  vom  Zusammen- 
leben Nutzen,  während  das  Wirtstier,  auf  dem  er 
lebt,  geschädigt  wird  und  nur  gewissermaßen  als 
Medium  dient,  auf  das  der  Parasit  angewiesen  ist 
wie  der  Fisch  aufs  Wasser.  Den  anderen  End- 
punkt stellt  die  reine  Symbiose  dar,  ein  Begriff, 
unter  dem  alle  die  Fälle  zu  verstehen  sind,  in 
welchen  sich  Organismen  verschiedener  Kate- 
gorien zu  einem  festen,  dauernden  Zusammen- 
leben vereinigen,  in  der  Art  und  Weise,  daß 
beide  Teile  voneinander  Vorteil  haben. 

Das  bekannteste  Beispiel  einer  Symbiose  ist 
der  Einsiedlerkrebs  (Pagurus),  der  seinen  weichen 
Hinterleib  in  einem  Schneckenhaus  verbirgt  und 
dieses  mit  einer  Seerose  (Aktinie)  besetzt.  Der 
Nutzen  dieses  Zusammenlebens  besteht  darin,  daß 
die  Seerose  auf  diese  Weise  eine  gesteigerte  Orts- 
bewegung bekommt;  auch  mögen  mancherlei 
Nahrungsbissen  für  sie  abfallen,  wenn  der  Krebs 
Beute  erjagt  hat.  Der  Krebs  wiederum  hat  be- 
deutende Vorteile  von  der  Seerose,  da  er  von 
der  Aktinie  Schutz  genießt.  Alle  Seerosen  sind 
nämlich  wegen  ihrer  Nesselorgane  sehr  gefürchtet 
und  werden  kaum  von  räuberischen  Tieren  an- 
gegriffen, so  daß  auch  der  Krebs,  der  sich  mit 
einem  solchen  wehrhaften  Geschöpf  vergesell- 
schaftet hat,  vor  Nachstellungen  sicherer  ist. 

Ein  solches  Zusammenleben  von  Tier  mit  Tier 
führt  niemals  zu  solch  innigen  Vereinigungen, 
von  denen  wir  hier  zu  reden  haben;  derart  feste 
Gemeinsehaften,  welche  für  beide  Teile  lebens- 
wichtig sind,  kommen  nur  bei  Bündnissen  vor, 
welche  Vertreter  des  Pflanzen-  und  des  Tier- 
reiches miteinander  eingehen. 

Solche  Symbiosen  zwischen  Tier  und  Pflanze 
sind  ungemein  weit  verbreitet;  nachdem  man  ein- 
mal auf  ihre  Wichtigkeit  aufmerksam  geworden 
ist,  findet  man  nach  und  nach  in  allen  Tierklassen 
Beispiele  dafür,  sogar  bei  den  Säugetieren. 

Eine  der  schon  bekannteren  Formen  ist  beim 
Faultier  zu  beobachten.  In  seinem  dichten  Pelz 
siedeln  sich  Algen  der  Gattungen  Trichophilus 
und  Cyanoderma  an,  so  daß  das  Fell  stellenweise 
eine    grüne    Farbe    bekommen  kann. 

Der  Vorteil  für  beide  ist  augenscheinlich;  das 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Faultier,  das  am  Tage  bewegungslos  in  den 
Bäumen  hängt,  wird  dadurch  vor  seinen  Ver- 
folgern leichter  geborgen,  und  die  Algen  finden 
in  dem  Pelzwerk  mit  seinen  Ausscheidungspro- 
dukten günstige  Existenzbedingungen. 

Die  soeben  beschriebene  Symbiose  ist  ver- 
hältnismäßig unkompliziert  und  mehr  zufällig; 
bei  anderen  lassen  sich  jedoch  ganz  konstante 
Verhältnisse  feststellen,  besonders  in  Fällen,  in 
denen  der  eine  Symbiont  in  den  Zellen  des 
anderen  lebt. 

Aus  der  Fülle  der  Beispiele  möchte  ich  hier 
nur  zwei  extreme  Vereinigungen  von  solch  intra- 
zellulärer Symbiose')  anführen;  zunächst  einmal 
das  Zusammenleben  von  Insekten  mit  niederen 
Pilzen  und  Bakterien,  und  dann  die  Symbiose 
von  kleinen  Wassertieren  mit  grünen  Algen. 

Jeder  hat  schon  einmal  das  Glühwürmchen 
oder  Johanniskäferchen  bewundert,  das  in  Sommer- 
nächten mit  seinem  glitzernden  Schein  herum- 
schwirrt und  das  Weibchen  sucht,  das,  ebenfalls 
leuchtend,  an  den  Boden  gebunden  bleibt,  weil 
ihm  die  Flügel  fehlen.  In  unseren  Gegenden  ist 
das  Glühwürmchen  der  einzige  Vertreter  der 
leuchtenden  Insekten;  in  wärmeren  Regionen  gibt 
es  dagegen  eine  ganze  Anzahl  solcher  Lichtträger. 

Der  leuchtende  Schein,  der  vom  Körper  dieser 
Tiere  ausgeht,  ist  nun  nicht  eigentlich  in  der 
Organisation  des  Insekts  begründet;  sondern  es 
ist  wirklich  eine  Art  Laternchen,  wie  es  von  den 
Johanniswürmchen  in  unseren  Märchen  immer 
erzählt  wird.  Die  Ursache  des  Leuchten?  sind 
nämlich  Bakterien,-)  und  zwar  ähnliche  Bakterien, 
die  auch  faules  Holz  zu  Lichterscheinungen  ver- 
anlassen. Solche  Leuchtbakterien  sind  am  Hinter- 
ende unserer  Glühwürmchen  angesiedelt;  aber 
nicht  etwa  äußerlich  und  zufällig,  sondern  in 
ganz  komplizierten  inneren  Organen,  in  denen  sie 
ganz  gesetzmäßig  angetroffen  werden. 

Das  Tier,  das  in  diesem  Falle  vom  Leuchten 
Vorteile  besitzt,  stellt  also  für  die  Pilze  an  ge- 
wissen Körperstellen  besonders  günstige  Be- 
dingungen her,  wo  die  Bakterien  ein  gutes  Fort- 
kommen finden.  Und  soweit  geht  die  gegen- 
seitige Förderung,  daß  sogar  dafür  gesorgt  wird, 
diese  Symbiose  dauernd  zu  erhalten.  Mit  Hilfe 
komplizierter  Einrichtungen  ist  es  ermöglicht,  auch 
den  Eiern  gleich  eine  Portion  des  leuchtenden 
Stoffes  mitzugeben ;  gerade  das  Leuchten  der  Eier 
gab  die  Hinweise  dafür,  in  den  Lichtorganen  sym- 
biotische  Verhältnisse  zu  suchen. 

Wächst  das  junge  Tier  heran,  so  werden  die 
Symbionten  an  ganz  bestimmten  Stellen  lokalisiert; 
und  die  ausschlüpfenden  Larven  zeigen  dann  be- 
reits eine  Anzahl  von  Lichtpunkten.  Die  Stellen, 
an  denen  die  Larven  ihre  Helligkeit  ausstrahlen 
lassen,  sind  übrigens  ganz  andere  als  die  am  fer- 

')  Den  derzeitigen  Stand  der  intrazellulären  Symbiose 
gibt  P.  Buchner  in  seinem  Werke:  Tier  und  Pflanze  in 
intrazellularer  Symbiose  (Berlin   1921). 

')Pierantoni,  La  luce  dcgli  insetti  luminosi  e  la  sini- 
biosi  cri-dilaria.     Kcnd.   delle  R.  Acrad,  Sr.     Napoli   1914. 


tigen  Tier;  erst  bei  der  Verwandlung  zum  Käfer 
werden  die  Pilze  an  die  hintere  Partie  der  Leibes- 
wand transportiert,  wo  sie  dann  beim  erwachsenen 
Tier  zu  finden  sind.  Nur  an  diesen  ganz  be- 
stimmten Stellen  können  die  Leuchtbakterien  ihre 
Funktion  ausüben;  in  anderen  Körperregionen 
finden  sie  nicht  die  ihnen  zusagenden  Bedingungen. 

Die  Beziehungen  der  beiden  Parteien  sind  dem- 
nach ganz  genauen  Gesetzen  unterworfen,  die 
immer  konstant  bleiben,  und  ein  Symbiont  ist 
immer  vollkommen    auf  den  anderen  angewiesen. 

Die  Erkenntnis,  daß  leuchtende  Substanzen 
bei  gewissen  Tieren  Bakterien  sind,  führte  nun 
dazu,  auch  bei  anderen  Organismen  mit  Leucht- 
organen nachzuforschen,  ob  ihnen  nicht  ebensolche 
Symbiosen  zugrunde  liegen.  Pierantoni  und 
andere  italienische  Forscher  haben  in  dieser  Rich- 
tung gearbeitet,  und  zu  gleicher  Zeit  entdeckte 
unabhängig  davon  Buchner  in  München  die 
leuchtenden  Symbionten  in  den  Feuerwalzen. 

Sie  alle  fanden,  daß  wirklich  überall,  wo  bisher 
ein  Leuchten  im  Tierreich  genauer  untersucht 
werden  konnte,  Bakterien  die  Ursache  waren, 
auch  an  den  so  kompliziert  gebauten  Organen 
der  Tintenfische,  die  mit  projizierenden  Linsen 
versehen  sind  und  nach  Belieben  der  Tiere  auf- 
leuchten und  verlöschen  können. 

Bei  diesen  Tintenfischen  erreicht  die  Kompli- 
ziertheit der  Leuchtorgane  überhaupt  ihren  Höhe- 
punkt. Auch  bei  ihnen  werden  dem  Ei  immer 
einige  Leuchtbakterien  mitgegeben,  die  in  den 
sog.  akzessorischen  Nidamentaldrüsen,  deren  Funk- 
tion man  sich  immer  nicht  recht  erklären  konnte, 
günstige  Lebensbedingungen  finden.  Dort  leuchten 
sie  aber  im  allgemeinen  nicht;  erst  wenn  sie 
durch  schlauchartige  Gebilde  an  die  streng  loka- 
lisierten Partien  kommen,  die  durch  besonders 
gute  Sauerstoffzufuhr  begünstigt  sind,  werden  sie 
zum  Leuchten  gebracht;  und  da  sie  dort  unter 
Linsen  und  anderen  lichtverstärkenden  Einrich- 
tungen lokalisiert  sind,  ist  das  Tier  imstande,  sich 
in  der  dunklen  Tiefsee  seinen  Weg  zu  erhellen 
oder  aber  auch  dem  anderen  Geschlecht  Leucht- 
signale zu  geben,  da  es  auf  Grund  der  kompli- 
zierten Organe  befähigt  ist,  mittels  Abbiendung 
oder  Sauerstoffzufuhr  die  Intensität  des  Lichtes 
zu  regeln. 

Ich  habe  gerade  die  Symbiose  mit  Leucht- 
bakterien  als  Beispiel  gewählt,  da  sie  mir  am 
instruktivsten  erschien.  Die  Beziehungen  der 
Insekten  und  anderen  Tiere  mit  anderen,  nicht 
leuchtenden  Spaltpilzen,  die  noch  weit  größere 
Bedeutung  besitzen,  zeigen  teilweis  mindestens 
ebensolch  interessante  Verhältnisse.  Beispielsweise 
scheinen  alle  blutsaugenden  Tierformen  ganz  be- 
sondere symbiotische  Anpassungen  zu  besitzen, 
bei  denen  ebenso  wie  bei  den  Leuchtorganen 
dafür  gesorgt  ist,  daß  die  Bakterien  auch  der 
neuen  Generation  mitgegeben  werden.')     In  allen 


')    P.  Bu  ebner,    Ilämophagie    und    Symbiose.      Natur- 
wissenschaften  1922. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


555 


derartigen  Fällen  muß  man  annehmen,  daß  die 
Symbionten  ihrem  Wirtstier  irgendwie  bei  der 
Verdauung  Vorteile  gewähren  und  sie  befähigen, 
Stoffe  aufzunehmen,  die  sonst  den  verdauenden 
Säften  Schwierigkeiten  entgegensetzen.  Ganz  ge- 
klärt sind  diese  Erscheinungen  noch  nicht  über- 
all; das  gesamte  Gebiet  der  Symbiose  mit  Bak- 
terien ist  noch  Neuland,  dessen  Bearbeitung  erst 
in  den  letzten  Jahren  begonnen  ist. 

Zum  Stoffwechsel  der  Wirtstiere  tragen  sicher 
auch  die  Algen  bei,  die  mit  vielen  Wassertieren 
in  Symbiose  leben ;  in  einigen  Fällen  ist  die  Ab- 
hängigkeit beider  Komponenten  unmittelbar  ex- 
perimentell zu  erweisen.  Bei  dieser  Art  der  Sym- 
biose, der  wir  noch  einige  Worte  widmen  wollen, 
sind  auch  die  Vorteile  für  die  pflanzlichen  Be- 
standteile noch  augenscheinlicher  als  bei  den 
Spaltpilzen.  Die  grünen  oder  braunen  Algen  er- 
halten in  den  meist  durchsichtigen  Wassertieren 
reichlich  Licht  zur  Assimilation,  außerdem  steht 
ihnen  von  selten  der  Wirte  Wasser  und  Kohlen- 
säure zur  Verfügung.  Ferner  ist  für  sie  noch  der 
gebotene  Schutz  von  Vorteil,  besonders  wenn  sie 
sich,  wie  dies  häufig  geschieht,  bei  Seerosen, 
Quallen  und  anderen  mit  nesselnden  Organen 
ausgerüsteten  Tieren  ansiedeln. 

Andererseits  bringen  auch  die  Algen  ihren 
Wirten  Nutzen.  Manche  derselben  schaffen  nicht, 
wie  die  freilebenden  Formen,  Reservestoffe,  son- 
dern geben  alle  Überschüsse  in  gelöster  Form 
an  das  Tier  ab,  das  sie  bewohnen.  Sie  versehen 
dasselbe  ferner  mit  Sauerstoff  zur  Atmung,  so 
daß  Tiere,  die  mit  Algen  behaftet  sind,  nach  den 
Mitteilungen  mancher  Autoren  ungünstige  Lebens- 
bedingungen besser  und  leichter  aushalten  können 
als  algenfreie  Individuen.  Durch  alle  diese  Be- 
ziehungen kann  eine  derartige  Einstellung  aufein- 
ander eintreten,  daß  manche  solcher  Symbiosen 
ganz  den  Charakter  eines  einheitlichen  Organis- 
mus angenommen  haben. 

Bei  den  Convoluten  beispielsweise,  kleinen 
Strudelwürmern  des  Meeres,  ist  das  Zusammen- 
leben von  Tier  und  Pflanze  ein  unentbehrliches 
Bündnis  geworden,  so  daß  beide  Faktoren  den 
Tod  finden,  wenn  sie  getrennt  werden.^) 

Es  ist  verhältnismäßig  leicht,  die  Convoluten 
algenfrei  zu  bekommen,  da  die  jungen,  aus  dem 
Ei  ausschlüpfenden  Tierchen  noch  keine  Algen 
besitzen.  Es  sind  also  hier  noch  nicht  die  kom- 
plizierten Einrichtungen  getroffen  wie  bei  den 
Insekten  und  Tintenfischen,  sondern  die  Infektion 
muß  immer  von  neuem  erfolgen.  Hindert  man 
nun  die  Tiere,  die  Algen  aufzunehmen,  so  krän- 
keln sie  und  sterben  bald;  sie  sind  jedoch  am 
Leben  zu  erhalten,  sobald  man  ihnen  Algen  ein- 
verleibt. 

Das  wird  verständlich,  wenn  man  sich  vor 
Augen  hält,  daß  diese  Strudelwürmer  zeitweise 
lediglich   von    den    ölartigen  Ausscheidungen   der 


')  F.  W.  Gamble  s  und   F.  Keable,    Proc.    roy.    Soc. 
London  1905  u.  1907. 


Algen  leben,  und  die  Algen  wiederum  die  stick- 
stoffhaltigen Exkretstoffe  des  Wurms  so  aus- 
nützen ,  daß  es  gar  nicht  zur  Aufstapelung  ge- 
formter Massen  kommt,  wie  es  normalerweise 
geschehen  müßte.  Sie  funktionieren  ganz  als  ein 
Organ  des  Wurms,  als  seine  Nieren;  und  da 
die  Tiere  in  den  Algen  diese  Ersatznieren  be- 
sitzen, haben  sie  die  eigentlichen  Apparate  zur 
Beseitigung  der  Exkrete  auch  vollkommen  ab- 
geschafft. Die  Berechtigung  dieser  Annahme 
geht  daraus  hervor,  daß  junge,  noch  nicht  infi- 
zierte Tiere  noch  nierenartige  Vakuolen  mit 
langen,  spitzen  Kristallen  besitzen,  die  später  ver- 
schwinden, wenn  die  Aufnahme  der  Algen  er- 
folgt ist. 

Die  gegenseitige  Anpassung  und  Einstellung 
aufeinander  hat  also  einen  sehr  hohen  Grad  der 
Vollkommenheit  erreicht,  der  aber,  wie  alle  ex- 
tremen Anpassungen,  zum  Verderben  ausschlagen 
kann.  Das  zeigt  sich  auch  bei  einigen  Formen 
der  Convoluten.  Da  sie  ihr  Nahrungsreservoir 
in  sich  selbst  tragen  und  dieses  durch  ihre  eigenen 
Abfallprodukte  sich  immer  selbsttätig  erneuert,  so 
brauchen  sie  überhaupt  keine  Beute  mehr  zu 
fangen  und  schaffen  somit  schließlich  auch  noch 
den  Mund  als  überflüssig  ab.  Nun  genügen  zwar 
die  Fette  der  Algen  eine  Zeitlang  als  Nahrung; 
später  muß  jedoch  auch  stickstoffhaltige  Substanz 
aufgenommen  werden,  da  die  Abscheidungen  der 
Symbionten  zum  dauernden  Aufbau  nicht  aus- 
zureichen scheinen.  Hat  der  Stickstoffhunger  im 
Wurmkörper  nun  eine  gewisse  Stärke  erreicht, 
so  fangen  die  Tiere  an,  nicht  nur  die  Produkte 
der  Algen  zu  verdauen,  sondern  sich  an  diesen 
selbst  zu  vergreifen.  Damit  ist  dann  der  Stick- 
stoffhunger einige  Zeit  gestillt  —  aber  diese 
Tiere  sind  dann  auch  selbst  dem  Tode  geweiht. 
Sie  fressen  damit  ihre  eigenen  Nieren  auf  und 
berauben  sich  gleichzeitig  ihrer  Fettquelle,  so  daß 
sie  elend  zugrunde  gehen.  Da  inzwischen  aber 
reichlich  Nachkommen  erzeugt  sind,  bleibt  die 
Art  erhalten;  und  darauf  kommt  es  der  Natur  ja 
viel  mehr  an  als  auf  die  Erhaltung  der  Individuen. 

Für  die  Probleme  der  Symbiose  ist  nun  eine 
Frage  von  Interesse:  Ist  es  möglich,  daß  auch 
jetzt  noch  neue  Bündnisse  zwischen  Tier  und 
Pflanze  entstehen?  Und  werden  vielleicht  dadurch, 
daß  eine  solche  Symbiose  auftritt,  die  einzelnen 
Teile  irgendwie  beeinflußt,  so  daß  etwas  Neues, 
noch  nie  Dagewesenes  entsteht? 

Diese  Fragen  können  nach  den  letzten  Ergeb- 
nissen des  vergangenen  Jahres  wohl  in  bejahendem 
Sinne  beantwortet  werden. 

Die  Organismen,  welche  eine  neue  Symbiose 
eingingen,  waren  Süßwasserpolypen  und  grüne 
Algen,  die  beide  zu  derartigen  Verbindungen 
neigen.  Eine  Art  unserer  Hydren  verdankt  dieser 
Symbiose  sogar  ihren  Namen,  da  sie  sich  normaler- 
weise nicht  von  ihren  grünen  Bestandteilen  trennt: 
die  Chlorohydra  viridissima,  früher  Hydra  viridis 
genannt. 

Die  übrigen  Spezies  oder  Gattungen  sind  braun 


556 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


oder  grau  gefärbt,  da  sie  der  Algen  entbehren, 
und  trugen  daher  früher  auch  die  Namen  Hydra 
fusca  und  Hydra  grisea,  während  sie  jetzt  nach 
anderen  Gesichtspunkten  systematisch  bewertet 
werden,  welche  eine  sicherere  Feststellung  ge- 
währleistet als  die  leicht  wechselnde  Farbe.') 

Diese  algenfreien  Tiere  versuchte  ich  nun 
künstlich  zu  einer  Symbiose  zu  bringen,  indem 
ich  ihnen  algenhaltige  Teile  der  grünen  Form 
einverleibte.  Das  war  nicht  ganz  leicht,  gelang 
aber  schließlich  mittels  einiger  Kunstgriffe.  Der 
Erfolg  war  indessen  vollkommen  negativ;  die 
Hydren  gaben  die  Algen,  die  ihnen  mit  der  Nah- 
rung in  das  Innere  gebracht  wurden,  wieder  von 
sich ,  und  die  Versuche ,  durch  Transplantation 
grüne  Teilstücke  überzupflanzen,  mißglückten 
ebenfalls. 

An  demselben  Tage,  an  dem  ich  diese  Ver- 
suche als  aussichtslos  aufgeben  wollte,  tat  mir 
die  ■  Natur  selbst  den  Gefallen :  einige  braune 
Tiere  begannen  an  gewissen  Stellen  grün  zu 
werden;  und  zwar  waren  es  Tiere,  mit  denen 
ich  noch  niemals  experimentiert  hatte,  und  die 
Algen,  welche  diese  Verfärbung  verursachten, 
waren  ebenfalls  ganz  andere  als  die,  welche  bis- 
her bei  ihren  grünen  Verwandten  bekannt  waren  1 
(Vgl.  Abb.  3-) 

Die  ersten  Anzeichen  der  Verfärbung  machten 
sich  an  der  Mundpartie  geltend;  dann  siedelten 
sich  die  Algen  an  der  Fußscheibe  an,  und  im 
Verlauf  von  2 — 3  Wochen  war  der  dazwischen- 
liegende Raum  ausgefüllt  und  aus  dem  braunen 
Tier  ein  grünes  geworden. 

Die  Knospen,  die  zu  dieser  Zeit  auftraten, 
waren  noch  so  lange  braun,  als  die  mütterliche 
Körperpartie,  der  sie  entsprossen,  algenfrei  blieb; 
war  auch  sie  von  Algen  besiedelt,  so  bekam  auch 
das  junge,  neue  Tier  grüne  Bestandteile  mit. 

Mein  Bestreben  mußte  nun  darauf  gerichtet 
sein,  das  mir  durch  diesen  Zufall  zuteil  gewordene 
Material  zu  vermehren  und  zu  erhalten.  Das  war 
zunächst  nicht  leicht,  da  das  Eindringen  der  Algen 
gewisse  pathologische  Erscheinungen  hervorrief, 
an  denen  die  Tiere  leicht  eingingen.  Es  bedurfte 
auch  hier  mancherlei  Kunstgriffe  und  vor  allem 
vorsorglicher  Pflege,  um  die  Hydren  diese  kri- 
tische Zeit  überstehen  zu  lassen.  Nach  einiger 
Zeit  war  dann  eine  Anpassung  an  die  neuen  Ver- 
hältnisse eingetreten ,  und  durch  Aufzucht  von 
Knospen  gelang  es  dann  eine  ganze  Anzahl  von 
Kulturen  herzustellen,  die  alle  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag  die  Symbiose  beibehielten. 

Auch  glückte  es  nunmehr,  die  Algen,  welche 
einmal  den  Körper  der  Hydren  passiert  hatten, 
auf  andere,  noch  nicht  infizierte  Tiere  zu  über- 
pflanzen und  dort  konstant  zu  erhalten.  Stets 
kam  es  in  solchen  F"ällen  zunächst  zu  gewissen 
krankhaften  Erscheinungen,  die  sich  aber  über- 
winden ließen,    so    daß    einzelne    Tiere    und  Kul- 


')  P.  Schulze,  Bcslimmungstabellen  der  deutschen  Süß- 
wasserhydrozoen.     Zoolog.  Anzeiger   192a. 


turen  jetzt  schon  i'',  Jahre  in  diesen  neuen  V^er- 
hältnissen  leben. 

Eine  gleichmäßige  konstante  Verteilung  der 
Algen  im  Hydrakörper  ist  indessen  nicht  immer 
leicht  zu  erhalten.  Im  Gegensatz  zu  anderen 
Symbiosen  wirken  nämlich  die  Außenbedingungen 
auf  das  neuentstandene  Bündnis  bedeutend  ein. 
Am  besten  bekommt  den  Algen  ein  warmer, 
heller  Standort  und  kalkhaltiges  Wasser;  an  einer 
solchen  Stelle  kam  auch  die  erste  Verbindung 
zustande,  da  die  Tiere,  welche  die  Algen  zuerst 
in  sich  duldeten,  in  einem  Warmwasserbassin  ge- 
halten wurden.  Dunkelheit  und  Kälte  läßt  die 
Zahl  der  Algen  bedeutend  abnehmen,  und  ähn- 
lich wirkt  eine  Verminderung  des  Kalkgehalts. 
Wenn  es  auch  längerer  Zeit  bedarf,  um  die  letzten 
Reste  der  Algen  zum  Verschwinden  zu  bringen, 
so  genügen  doch  4 — 5  Wochen  Kälte  oder  Dunkel- 
heit, um  die  Symbiose  aufzuheben  und  die 
Hydren  auf  die  Dauer  algenfrei  zu  machen. 

Wie  man  sieht,  haben  sich  noch  keineswegs 
dauerhafte  Verhältnisse  herausgebildet.  Die  Eier 
werden  auch  nicht  während  ihrer  ersten  Ent- 
wicklungsstadien mit  Algen  versehen,  wie  dies 
bei  den  grünen  Verwandten,  bei  Chlorohydra 
viridissima,  stets  zu  geschehen  pflegt,  so  daß  die 
geschlechtlich  erzeugten  jungen  algenfrei  bleiben. 
Kurzum,  eine  solche  Konstanz,  wie  wir  sie 
bei  anderen  solchen  Bündnissen  gewohnt  sind, 
fehlt  noch  vollkommen  —  ein  Zeichen  für  die 
Neuheit  dieser  Symbiose. 

Die  Erfahrungen,  die  ich  bei  der  Aufzucht  und 
Beobachtung  der  neu  infizierten  Hydren  gesammelt 
hatte,  veranlaßten  mich  nun  zu  versuchen,  wie 
fest  wohl  bei  den  schon  immer  grünen  Chloro- 
hydren  die  symbiotischen  Verhältnisse  sind. 
Ich  ließ  die  Faktoren,  welche  den  Algen  sich 
schädlich  erwiesen  hatten,  kombiniert  ein- 
wirken; und  wirklich  gelang  es  mir,  durch 
wochenlang  dauernde  Kälte  und  Dunkelheit  in 
Verbindung  mit  herabgesetztem  Kalkgehalt  eine 
Abnahme  der  Algen  zu  erreichen. 

Da  die  mittlere  Körperpartie  zuerst  algenfrei 
wurde,  glückte  es  schliefSlich,  ganz  weiße  Chloro- 
hydren  zu  züchten,  die  sich  im  allgemeinen  von 
ihren  grünen  Geschwistern  nicht  sehr  unter- 
schieden. Nur  sind  sie  etwas  hinfälliger  als  diese 
und  müssen  sorgfältiger  behandelt  werden.  Be- 
sonders muß  für  regelmäßige,  reichliche  Fütterung 
gesorgt  werden,  denn  Hunger  vertragen  sie  nicht 
so  gut  wie  die  grün  gebliebenen  Exemplare. 
Fünf  weiße  Tiere,  die  einem  Hungerversuch  unter- 
worfen wurden,  waren  beispielsweise  nach  fünf 
Wochen  ganz  klein  geworden  und  gingen  unter 
Depressionszuständen  ein,  während  die  mit  ihnen 
zusammen  gehaltenen  grünen  Individuen  zu  der- 
selben Zeit  unter  denselben  Bedingungen  ohne 
irgendwelche  Krankheitserscheinungen  blieben; 
nur  ihr  Volumen  war  etwas  verringert.  Der- 
artige Beobachtungen  zeigen,  daß  auch  die 
Hydren  von  ihren  Zellbewohnern  Nutzen  haben 
müssen.     (Vgl.  Abb.  i.) 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


557 


Das  Eingestelltsein  auf  symbiotische  Verhält- 
nisse zeigte  sich  übrigens  noch  in  anderer  Weise. 
Die  weißen  Chlorohydren  hatten  nämlich  die 
Tendenz,  von  neuem  Algen  aufzunehmen.  Daß 
es  sich  bei  einem  Wiederergrünen  nicht  etwa  um 
zurückgebliebene  Symbionten  handeln  konnte, 
bewies  die  Art  der  Entstehung.  Tiere,  die  drei 
bis  vier  Monate  lang  dauernd  beobachtet  wurden, 
zeigten  plötzlich  an  ein  oder  mehreren  Stellen 
kleine  grüne  Flecke,  die  sich  dann  ausbreiteten: 
in  genau  der  gleichen  Weise  traten  die  Algen 
auf  wie  in  all  den  Fällen,  in  denen  durch  Ver- 
fütterung  eine  Wiederinfektion  eingeleitet  werden 
konnte.  Eine  Bevorzugung  gewisser  Körper- 
partien war  bei  den  Chlorohydren  niemals  zu  be- 
merken ;  während  die  bisher  braun  gewesenen 
Arten  die  Algen  zunächst  nur  an  der  Tentakel- 
basis duldeten,  konnte  eine  Chlorohydra  an  jeder 
Körpersteile  die  Symbionten  aufnehmen  und 
dauernd  beherbergen. 


Abb.  1.  Grüne  und  weiße  Chloro- 
hydra viridissima  nach  einer  Hunger- 
periode von  5  Wochen.  Das  algen- 
freie helle  Exemplar  ist  bedeutend 
verkleinert  und  der  Auflösung 
nahe,  das  dunkle,  grüne  Tier  voll- 
kommen normal. 


.•\bb.    2. 

Neuinfektion  von  weißen 

Chlorohydren      in      der 

Körpermitte. 


Und  wenn  man  trotz  alledem  immer  noch  im 
Zweifel  sein  konnte,  ob  nicht  doch  etwa  zurück- 
gebliebene Symbionten  die  Ursache  der  neuen 
Verfärbung  wären,  so  mußte  eine  Tatsache  jeden 
Zweifel  beseitigen:  die  Algen,  die  in  den  weißen 
Chlorohydren  auftraten,  waren  in  drei  Fällen  ganz 
andere  als  die,  welche  sonst  in  diesen  Tieren 
gefunden  werden.  Sie  waren  nicht  rund  mit  den 
typischen  glockenförmigen  Chromatophoren,  son- 
dern länglich  oval  mit  deutlichem  Kern  (Abb.  3). 
Auch  ihr  Umfang  war  bedeutend  größer  als  wie 
er  sonst  den  Chlorellen  von  den  grünen  Hydren 
zukommt,  so  daß  eine  Identität  beider  Formen 
abzulehnen  ist. 

Die  Chlorohydren ,  die  auf  künstliche  Weise 
algenfrei  gemacht  worden  sind,  suchen  demnach 
die  Symbiose  wiederherzustellen  und  nehmen 
dabei  nicht  nur  die  Algen  auf,  die  gewöhnlich 
in  ihnen  zu  finden  sind,  sondern  auch  andere, 
ungewohnte,  mit  denen  sie  auch  dauernd  in  Ge- 
meinschaft bleiben  können. 

Innerhalb  ganz  kurzer  Zeit  sind  demnach  in 
meinen  Kulturen  zwei  neue  Bündnisse  entstanden, 
ein  Zeichen,  daß  auch  jetzt  noch  Symbiosen  ge- 
bildet werden. 


Wirken  nun  solch  neue  Symbiosen  auch  auf 
die  Art-  und  Rassenbildung?  Das  ist  eine  Frage, 
die  vorläufig  noch  nicht  endgültig  entschieden 
werden  kann.  Bei  den  Hydren  sprechen  einige 
Anzeichen  dafür,  da  alle  Tiere,  die  eine  Algen- 
infektion erlitten  haben ,  gewisse  Veränderungen 
zeigen,  so  daß  ihre  Einreihung  in  das  System 
Schwierigkeiten  macht.  Da  aber  nicht  einwand- 
frei festgestellt  werden  kann,  ob  bei  den  Exem- 
plaren, denen  durch  Transplantation  oder  Ver- 
fütterung  von  algenhaltigen  Teilstücken  die  Sym- 
bionten einverleibt  werden ,  nicht  vielleicht  eine 
Art  Bastard-  oder  Chimärenbildung  eintritt,  muß 
diese  Frage,  inwieweit  die  Symbiose  die  Artbil- 
dung beeinflußt,  noch  zurückgestellt  werden.  Ein 
logisches  Postulat  ist  eine  solche  Beeinflussung 
aber  unbedingt,  da  man  sonst  die  Anpassungen 
der  Wirte  an  ihre  Bewohner  nicht  recht  erklären 
könnte. 


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Abb.  3.      a:    Chlorella    vulgaris,     die    typischen   Symbionten 

von  Chlorohydra  viridissima    (==  Hydra  viridis), 
b ;    Chlorellen ,    die    von  der  braunen  Hydra  attenuata  aufge- 
nommen werden  und  mit  ihr  eine  dauernde  Symbiose  bilden 

können 
c:   Algen,  die  von  den  künstlich  algenfrei  gemachten  Chloro- 
hydren aufgenommen  wurden. 
.Alle  Algen  sind  in  gleicher  Vergrößerung  gezeichnet. 


Die  Erscheinungen  der  Symbiose  zeigen  uns 
in  deutlichster  Weise,  daß  es  in  der  Natur  nicht 
nur  einen  Kampf  aller  gegen  alle  gibt,  sondern 
daß  auch  ein  „Bund  fürs  Dasein"  möglich  ist; 
ein  Bund  sogar  zwischen  Organismen,  die  ganz 
verschiedenen  Reichen  angehören.  Auf  den  An- 
fangsstadien sind  die  Beziehungen  noch  recht 
locker;  das  zeigen  die  Hydren,  welche  bei  mir 
die  Symbiose  eingingen  und  erst  ganz  kurze  Zeit 
mit  den  Algen  in  Gemeinschaft  leben.  Bei  ihren 
nächsten  Verwandten,  bei  Chlorohydra,  die  nun 
schon  lange  auf  die  Algen  eingestellt  sein  muß, 
ist  die  Abhängigkeit  schon  größer;  Tiere,  welchen 
die  Algen  entzogen  werden,  halten  ungünstige 
Verhältnisse  nicht  mehr  so  leicht  aus  wie  ihre 
normalen  Artgenossen.  Auch  ist  bei  diesen 
Chlorohydren  die  Anpassung  so  weit  gegangen, 
daß  bereits  die  Eier  mit  den  Symbionten  infiziert 
werden.  Andere  Tiere  sind  mit  ihren  Symbionten 
noch  enger  verbunden,  und  auf  den  extremen 
Endstadien  symbiotischer  Vereinigungen  kommt 
es  dann  so  weit,  daß  ein  Teil  ohne  den  anderen 
absolut  nicht  existieren  kann:  Die  Algen  der 
Convoluten  und  die  Leuchtkörper  der  Insekten 
und  Tintenfische  sind  zu  Organen  dieser  Lebe- 
wesen geworden.     Sie  stellen   somit  Bestandteile 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


der  Organisation  dar,  welche  nicht  fehlen  dürfen 
und  nicht  weggedacht  werden  können;  oder  mit 
anderen  Worten:  das,  was  wir  ein  „Individuum" 
nennen,  ist  in  diesen  Fällen  zusammengesetzt  aus 
ganz    verschiedenen    Teilen ;    Vereinigungen    von 


verschiedenen  Lebewesen,  die  auch  jetzt  noch 
entstehen  können,  bilden  im  Endstadium  ihrer 
Entwicklung  eine  solche  Einheit,  die  alles  das 
enthält,  was  wir  als  Individualität  zu  bezeichnen 
gewohnt  sind. 


Die  Stinkdrüsen  der  Wanzen  in  ihrer  Bedeutung  als  Schutzmittel. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Franz  Ueikertinger,  Wien. 


Die  Wanzen  [Hemipiera  hcteroptera)  sind  mit 
Stinkdrüsen  ausgerüstet,  welche  bei  den  noch 
flügellosen  Larven  auf  den  ersten  Rückenplatten 
des  Hinterleibes,  bei  dem  reifen  Insekt  hingegen 
auf  der  Unterseite  der  IVIittelbrust ,  hinter  den 
Hüften  der  IVIittelbeine,  ausmünden.  Diese  Drüsen 
liefern  ein  Sekret,  welches  beim  Verdunsten  einen 
eigentümlichen  Geruch  verbreitet. 

Nach  J.  Guide,  der  die  Dorsaldrüsen  der 
Larven  zum  Gegenstand  einer  eingehenden  Unter- 
suchung gemacht  hat,  ^)  ist  das  Sekret  eine  helle, 
klare  Flüssigkeit,  in  welcher  stark  lichtbrechende 
Öltröpfchen  schwimmen,  die  beim  Verdunsten 
den  bekannten,  an  Fettsäure  erinnernden  Wanzen- 
geruch verbreiten.  Nach  Untersuchungen  von 
Künckel  d'Herculais  an  der  Bettwanze 
stimmt  das  Sekret  der  Dorsaldrüse  der  Larven 
mit  jenem  der  Thorakaldrüse  der  Imagines  über- 
ein. Es  ist  eine  stark  sauer  reagierende  I'lüssig- 
keit,  deren  wirksamer  Bestandteil  die  Cimicinsäure 
ist,  die  Lackmuspapier  leicht  rötet.  Nach  L.  Ca- 
rius  ist  diese  Säure  der  Ölsäure  nächstverwandt 
und  besitzt  die  Formel  Cg^H^gO., ;  über  die  bei- 
gemengten widrigriechenden  Substanzen  erhielt 
genannter  Forscher  keine  Klarheit.  Das  Sekret 
soll  im  menschlichen  Munde  einen  scharfen  Ge- 
schmack haben  (nach  Schumacher).  ^)  ^)  JVIanche 
ausländischen  Arten  (z.  B.  Oiicome/is  ostracioptera 
aus  Neukaledonien,  Pachylis  sp.  aus  IVIittelamerika) 
sprühen  das  Sekret  mehrere  Fuß  weit  weg;  in 
die  Augen  geraten,  soll  es  heftigen  Schmerz  ver- 
ursachen. L  a  n  d  o  i  s  berichtet,  bei  seinen  Arbeiten 
mit  der  Bettwanze  durch  Entzündung  des  Binde- 
gewebes im  Auge,  heftiges  Brennen  und  Stechen 
belästigt  worden  zu  sein,  wogegen  Guide  nur 
geringe  Wirkungen  auf  das  Auge  verspürte.  Bei 
längerem  Hantieren  werden  die  F"inger  von  dem 
Sekret  wie  von  Salpetersäure  gebräunt  (Guide, 
Schumacher). 

Das  Hervorstechende  an  dem  Sekret  für  die 
menschlichen  Sinnesorgane  aber  ist  sein  Geruch, 
der  im  allgemeinen  als  „ekelhaft",  „widerwärtig" 
usw.  bezeichnet  wird.  Vom  Standpunkt  exakter 
Forschung  darf  hierbei  zweierlei  nicht  außer  Be- 
tracht bleiben: 


1.  Die  Begriffe  „ekelhaft"  usw.  sind  ausschließ- 
lich menschliche  Urteile,  auf  menschlichen 
Sinnesorganen  basiert,  menschlichem  Ge- 
schmacke  angepaßt;  es  sind  typische,  naive 
Anthropodoxismen,  die  a  priori  für 
kein  anderes  Lebe wesen  Gült igkeit  be- 
anspruchen können.  Nur  Beobachtungen 
und  Versuche  am  Tier  selbst  können  Aufschluß 
darüber  geben,  wie  dieser  Geruch  auf  ein  Tier 
wirkt.  Der  direkte  Schluß  vom  IVIenschen  auf 
das  Tier  ist  unzulässig,  unwissenschaftlich. 

2.  Selbst  für  den  Menschen  sind  nicht  alle 
Wanzensekrete  widerwärtig;  es  gibt  ihrer  nicht 
wenige,  die  von  unbefangenen  Forschern  sogar 
als  dem  Menschen  angenehm  riechend 
bezeichnet  werden.  ')  Es  ist  nicht  zulässig,  in 
Bausch  und  Bogen  von  einem  „Ekelgeruch  der 
Wanzen"  zu  sprechen ,  auch  nicht  für  den  Men- 
schen allein. 

Im  Folgenden  soll  ein  kurzer  Blick  auf  die 
menschliche  Wertung  der  Wanzengerüche  ge- 
worfen und  sodann  sollen  Beobachtungen  und 
Versuche  im  Abriß  vorgeführt  werden ,  welche 
einen  Blick  in  die  tierische  Wertung  derselben 
Gerüche  gestatten. 

Der  Geruch  einer  Bett-,  einer  Baum- ,  einer 
Beerenwanze  ist  dem  Kulturmenschen  unangenehm. 
Ob  Naturmenschen  der  gleichen  Meinung  sind, 
ist  zumindest  sehr  fraglich.  Snellen  van 
Vollenhoven  und  Piepers  berichten,  daß  die 
Javanen  Wanzen  ihrer  Reisfelder  (z.  B.  Lepto- 
corisa  acuta),  welche  nach  ihrem  unangeneh- 
men Gerüche  „Walang  sangit"  genannt  werden, 
sehr  gerne  essen.  Schumacher  erwähnt,  daß 
in  Assam  die  große  Schildwanze  Aspongopiis  iic- 
paleiisis  zerstampft  zum  Würzen  der  Reisspeisen 
verwendet  wird.  Gewohnheit  und  Erziehung, 
engere  Beziehungen  zu  natürlicher  Tierernährung 
usw.  haben  in  diesen  Dingen  ausschlaggebenden 
Einfluß. 

Aber  auch  dem  im  Ekel  vor  Bett-  und  Beeren- 
wanze aufgewachsenen  Kulturmenschen  dünken 
weitaus  nicht  alle  Wanzengerüche  unangenehm. 
Snellen    van  Vollenhoven    nennt   als  ange- 


')  Man    erinnert    sich    hier  an  die  ungemein  nahe  chemi- 

')  Bericht  d.  Senckcnbergischen   naturfursch.   Gesellschaft  sehe  Verwandtschaft  von  Wohlgerüchen  und  Ekelgerüchen  und 

Frankfurt  a.  M.,   igo2,  S.  85 — 134.  die    leichte    Überführbarkcit    der    einen    in  die  anderen.      So 

'')  Nach    F.    Schumacher    (Deutsche    Entom.    Zeitschr.  werden  aus  der  (beispielsweise    im    menschlichen    Fußschweiß 

1918,  S.   161).  vorhandenen)  Valeriansäure  die  feinsten  Wohlgerüche  erzeugt. 

')  P.   Mayer    fand  bei  Pyrrliororis  und   Guide  bei  den  —  Auch  die  Konzentration  eines  Duftes    kommt  in  Betracht; 

Larven  von  Palornena  prasina  und  Rhaphigasta-  iiebulosa  einen  derselbe  Stoff,  der  in   feiner  Verteilung  angenehm  wirkt,  kann 

süßlichen,  an  Chloroform  erinnernden  Geschmack.  konzentriert  schon  unangenehm  sein. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nehm  duftende  Arten  Capsus  pastinacae  und 
Alydus  calcaratus.  Heymons  erwähnt  eine  im 
Sommer  auf  Wiesen  häufige  Capside,  Adclphocoris 
scticoniis,  die  „im  Geruch  an  reife  Birnen  erinnert". 
Die  Dei'aeocoris  -  hr\.tn  riechen  nach  Mitteilung 
von  A.  Handlirsch  nach  Obst.')  Nach  Hahn 
strömen  tote  BrotlirostctJms  ammlipcs  noch  lange 
einen  sehr  angenehmen  Geruch  aus.  Theraplia 
hyoscyami  riecht  nach  Guide  angenehm  zimt- 
artig; eine  kleine,  unter  Rinde  lebende  Cimicide, 
Piezostcthiis  cursitaiis,  verriet  demselben  Forscher 
ihre  Anwesenheit  oft  durch  einen  feinen  erdbeer- 
artigen Geruch.  Nach  Handlirsch  duften 
manche  Wasserwanzen  moschusähnlich  und  nach 
W.  A.  Locy  entströmt  Belostoina  ein  angeneh- 
mer, gut  gereiften  Birnen  oder  Bananen  ähnlicher 
Geruch. 

Geteilt  sind  die  JVIeinungen  über  die  häufige 
Coreide  Syromasfcs  marginatits.  Heymons  gibt 
ihr  einen  eigentümlichen  aromatischen  Geruch, 
der  etwas  an  Borsdorfer  Äpfel  erinnert.  Auch 
Schumacher  bezeichnet  den  Geruch  der  Co- 
reiden  als  Apfelgeruch.  Ich  schließe  mich  ihnen 
an  und  finde  den  Geruch,  falls  er  nicht  allzu  kon- 
zentriert auftritt,  nicht  unangenehm,  obstätherartig. 
Von  den  zarten  Capsiden  sagt  Schumacher, 
daß  sie  mitunter  beim  Nadeln  einen  ,, geradezu 
köstlichen  Wohlgeruch  ausströmen".  K.  Friede- 
richs berichtet  von  Stcnoceplialiis  agilis ,  daß 
dessen  starker  Geruch  seinem  Empfinden  nach 
für  Menschen  nicht  unangenehm  sei.  Nach  F"rey- 
Geßner  und  V.  G red  1er  soll  die  berüchtigte 
Stinkwanze  Pciitatoma  {Tropicoris)  rufipes  bei 
geeigneter  Behandlung  ein  feines,  dem  Patschuli 
nicht  unähnliches  Parfüm  liefern. 

Zahlreichen  Wanzenarten,  besonders  aus  den 
Familien  der  Nabiden,  Saldiden,  Capsiden,  fehlt 
der  Geruch  ganz  oder  fast  ganz.  Auch  unter 
den  Stinkwanzen  gibt  es  nicht  selten  Individuen, 
die  keinen  oder  nur  einen  sehr  schwachen  Geruch 
von  sich  geben. 

Es  ist  nach  alledem  nicht  zulässig,  wissen- 
schaftlich von  einem  „Schutzgestank"  der  Wanzen 
im  allgemeinen  zu  sprechen.  Wird  der  Menschen- 
sinn als  Maß  genommen  (was  wissenschaftlich 
unzulässig  ist),  dann  bliebe  die  Entstehung  des 
anlockenden  Wohlgeruches  vieler  Arten  und  die 
Geruchlosigkeit  anderer  unerklärbar.  Setzt  man 
aber  den  Menschensinn  als  Richter  ab,  dann  ver- 
sinkt damit  auch  der  rein  anthropodoxische  Be- 
griff ,, ekelhaft",  eine  der  Grundlagen  der  Schutz- 
mittelhypothesen, zur  Gänze. 

Nur  Beobachtung  und  Versuch  kön- 
nen lehren,  ob  ein  Insektenfresser  von 
dem  Wanzengeruch  irgendwie  berührt, 
am  Fraß  gehindert  werden  kann  oder 
nicht.  Von  diesem  einzig  wissenschaftlichen 
Grundsatz    darf    keinerlei     teleologisch    noch    so 


lockende  Erscheinung  wegführen.  Als  Beispiel 
einer  solchen  führe  ich  die  Tatsache  an,  daß  die 
Ausmündungsporen  der  Stinkdrüsen  bei  den 
Larven  auf  dem  Rücken  gelegen  sind,  mit  der 
Ausbildung  der  Flügel  aber,  die  den  Rücken 
völlig  bedecken,  auf  die  freie  Körperunterseite 
verlagert  werden.  Wie  zweckmäßig!  Die  Drüsen- 
mündungen wechseln  den  Ort,  um  ihre  Aufgabe 
dauernd  erfüllen  zu  können !  Sie  müssen  wohl 
eine  Aufgabe  haben,  wozu  wären  sie  sonst  da.? 
Welche  Aufgabe  (gemeinhin  gesprochen  „welchen 
Zweck")  aber  könnten  sie  haben  als  die  eines 
Schutzmittels?  Es  ist  klar,  daß  diese  Dinge  ein- 
leuchtend verlockend  zu  der  beliebten  Auffassung 
derSlinkdrüsen  als  Schutzmittel  hindrängen  müssen. 

Der  objektive  Tatsachenforscher  aber  kombi- 
niert nicht,  wenigstens  insolange  nicht,  als  noch 
empirisch  leicht  lösbare  Grundfragen  ungelöst  vor- 
liegen. Und  eine  solche  Grundfrage  ist  hier  ge- 
geben: Sind  die  Wanzen  wirklich  ge- 
schützt? Zeigen  Beobachungen  und 
Versuche  mit  Insektenfressern  einen 
Schutz? 

Die  möglichen  Arbeitsmethoden  sind  zweierlei: 
I.  Beobachtungen  an  freilebenden  In- 
sektenfressern und  2.  Versuche  mit  ein- 
gezwingerten.  Erstere  lassen  sich  scheiden 
in  direkte  und  indirekte  Beobachtungen. 
So  schwierig  es  ist,  einen  Freilandvogel  bei  der 
Nahrungsaufnahme  im  Feld  direkt  zu  beobachten 
und  die  Art-  oder  Gattungszugehörigkeit  eines 
von  ihm  aufgenommenen  Insekts  sicher  fest- 
zustellen —  so  einfach  und  sicher  gelingt  diese 
Feststellung  auf  dem  indirekten  Wege  der  Unter- 
suchung des  Magen-  und  Kropfinhaltes 
im  Freiland   erlegter  Vögel. 

Die  Frage  nach  der  Art  und  Zusammensetzung 
der  Vogelnahrung  ist  noch  von  einer  anderen 
Seite  her  aufgeworfen  worden,  nämlich  von  der 
landwirtschaftlichen,  als  Frage  nach  Nützlich- 
keit oder  S  c  h  ä  d  1  i  c  h  k  e  i  t  jeder  Vogelart.  Und 
da  der  Eigennutz  des  Menschen  ganz  andere 
Mittel  zur  Verfügung  stellte,  so  verfügen  wir  über 
eine  relativ  recht  befriedigende  Literatur  über 
Vogelmageninhalte,  eine  Literatur,  die  für  unsere 
Frage  den  Vorzug  objektiver  Unbefangenheit  be- 
sitzt, weil  die  Verfasser,  von  ganz  anderen  Ge- 
sichtspunkten ausgehend ,  unserer  Frage  fern 
standen.  Insbesondere  ist  in  Europa  und  Nord- 
amerika auf  diesem  Gebiete  rege  gearbeitet 
worden. 

In  Europa  sind  es  in  erster  Linie  die  ein- 
gehenden Untersuchungen  von  E.  Csiki,*)  eines 
kenntnisreichen  Fachentomologen  vom  Ungarischen 
Nationalmuseum  in  Budapest,  die  uns  statistisches 
Material  an  die  Hand  geben.  Sie  berücksichtigen 
fast  ausschließlich  typische  Insektenfresser  und 
umfassen    ein    reiches    Material    (im   Durchschnitt 


')    Ich    nehme    die    Gelegenheit    wahr,    Herrn  Hofrat  A.  ')    Positive    Daten     über     die    Nahrung     unserer    Vögel. 

Handlirsch  (Wien)  für  eine  Reihe  fachmännischer  Hinweise       Aquila,    Zeitschr.    d.    Ungar.    Ornithol.    Zentrale.       Budapest, 
und  Mitteilungen  bestens  zu  danken.  11. — 21.  Bd.,  1904 — 1915. 


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mehr  als  40  Magen  von  jeder  untersuchten  Vogel- 
art). Aus  Csikis  Untersuchungen  ergibt  sich, 
daß  Wanzen  in  einem  den  übrigen  In- 
sektenordnungen völlig  entsprechenden 
Verhältnisse  verzehrt  werden,  daß  ein 
Geschütztsein  nirgends  zutage  tritt 
und  daß  die  verzehrten  Wanzen  viel- 
fach gerade  den  übelriechendsten  Arten 
zugehören.  Der  mangelnde  Raum  verbietet 
mir,  diese  Feststellung  hier  mit  Einzeldaten  zu 
belegen;  ich  tue  dies  an  anderer  Stelle.*)  Auch 
die  übrigen  vorliegenden  Untersuchungen  von 
Magen  europäischer  Vögel  (ich  verweise  auf  Ar- 
beiten von  Gr.  Rörig,  A.  Reichert  und  E.  Rey, 
W.  Baer,  K.  Loos  u.a.)  bezeugen,  daß  Stink- 
wanzen nicht  minder  als  andere  Insekten  verzehrt 
werden. 

Reicheres  statistisches  Material  liegt  aus  Nord- 
amerika vor.  Hier  hat  das  U.  S.  Department  of 
Agriculture  großzügige  Untersuchungen  durch- 
geführt, zu  welchen  etwa  40000  Vogelmagen  auf- 
gebracht wurden.  Die  Aufarbeitung  erfolgte  durch 
W.  L.  Mac  Atee,  F.  E.  L.  Beal,  S.  Judd  u.  a.; 
eine  Reihe  von  Arbeiten  dieser  Forscher,  einzelne 
Vogelgruppen  betreffend,  liegen  als  Bulletins  des 
Biological  Survey  obgenannten  Departments  vor. 
Auch  hier  muß  ich  mir  die  Vorführung  von  Einzel- 
heiten an  dieser  Stelle  versagen  und  beschränke 
mich  auf  ein  zusammenfassendes  Urteil,  das  Beal 
nach  reicher  Tatsachenerfahrung  abgegeben  hat: -) 
„  .  .  .  Es  hat  die  Untersuchung  der  Mageninhalte 
zahlreicher  Vögel  erwiesen,  ..  daß  trotz  schützender 
Färbung,  schützender  oder  nachahmender  Form, 
ekelhafter  Gerüche,  scharfer  Absonderungen  und 
abwehrender  Rüstungen  die  dergestalt  geschützten 
Insekten  von  den  Vögeln  gefunden  und  gefressen 
werden  und  in  vielen  Fällen  einen  namhaften 
Prozentsatz  deren  jährlicher  Nahrung  ausmachen. . . . 
So  besitzen  Pentatomiden  einen  äußerst  wider- 
lichen Geruch  und  Geschmack  . .  und  haben  hier- 
zulande den  Namen  , stink  bugs'  erhalten.  Es 
zeigt  sich  jedoch,  daß  die  Vögel  sie  gar 
nicht  ekelhaft  oder  irgendwie  unan- 
genehm finden,  denn  sie  fressen  die- 
selben ohne  Umstände.  Tatsächlich 
sind  wenige  Insekten  in  den  Magen  so 
vieler  Vogelarten  und  Vogel individuen 
gefunden  worden  wie  diese." 

Über  die  Nahrung  der  Vögel  Indiens  haben 
C.  W.  Mason  und  H.  Maxwell  Lefroy  eitie 
umfangreiche  Arbeit  geliefert.  ^)  Sie  stellen  darin 
fest:  „Die  Heteroptera  oderWanzen  bil- 
den eine  durchaus  allgemeine  Nahrung 
der  Vögel..."  Über  die  indischen  Pirole  Oriolits 
kundüo  und  inelaiioceplialiis  findet  sich  sogar  die 
Bemerkung,  daß  diese  Vögel  eine  besondere 
Vorliebe    für    Wanzen    besäßen,    was    auch 


')  Biologisches  ZcntralblaU  (im  Erscheinen). 

^)  The  Relation  between  Birds  and  Insects.  Ycarbook 
Dept.  Agric.     Washington   1908,  p.  346. 

')  The  Food  of  Birds  in  India.  Mem.  Dept.  Agric.  i 
India.  III.  igi2. 


auffällig  aus  den  Mageninhaltslisten  hervorgeht. ') 
Auch  die  Forschungen  F.  Dahls  im  Bismarck- 
Archipel  erweisen  trotz  der  Dürftigkeit  der  An- 
gaben die  Schutzlosigkeit  der  Wanzen.  Des- 
gleichen die  Forschungen  G.  A.  K.  Marshalls 
in  Afrika.  Der  unbefangene  P'orscher  wird  sich 
an  den  Tatsachenangaben  überzeugen,  daß  Wanzen 
nicht  nur  überhaupt  verzehrt,  sondern  auch  in 
einer  ihrer  Rolle  im  Naturleben  völlig  entsprechen- 
den Anzahl  verzehrt  werden,  daß  sie  also  weder 
einen  absoluten  noch  einen  relativen 
Schutz  genießen.  Soviel  über  die  indirekte 
Beobachtung. 

Die  zweite  Untersuchungsmethode  ist  der 
planmäßige  Versuch.  Er  steht,  da  er  stets  ein 
unnatürliches  Element  enthält,  an  Beweiskraft  weit 
hinter  der  Beobachtung  zurück.  Für  ihn  kommen 
zwei  Formen  der  Problemfassung  in  Betracht: 
I.  Die  Behauptung,  der  „Wanzengestank"  sei  im 
allgemeinen  für  Insektenfresser  ekelhaft,  sei 
also  im  allgemeinen  schützend  wirksam. 
—  2.  Die  Behauptung,  der  Wanzengestank  sei 
als  Schutzmittel  durch  Auslese  im  Da- 
seinskampf herausgearbeitet  worden. 
In  den  Versuchen  zu  Behauptung  i  sind  beliebige 
Kombinationen  von  Raubtier  und  Beutetier  zu- 
lässig; es  kann  beispielsweise  ein  britisches  Insekt 
einem  indischen  Vogel ,  es  kann  ein  taglebendes 
Insekt  einem  Nachtvogel  usw.  usw.  angeboten 
werden.  In  den  Versuchen  zu  Behauptung  2  dürfen 
aber  nur  Tiere  der  gleichen  Lebensgemein- 
schaft, die  Zeit  und  Raum  in  allen  Einzelheiten 
miteinander  gemeinsam  haben,  einander  regel- 
mäßig begegnen,  verwendet  werden;  ein  mittel- 
europäisches, taglebendes  Bauminsekt  beispiels- 
weise darf  nur  einem  gleichfalls  mitteleuropäischen, 
tagjagenden  Baumvogel  vorgelegt  werden,  da  sonst 
die  Möglichkeit  dauernder  Begegnung  und  Beein- 
flussung und  die  Möglichkeit  wirksamer  Auslese 
fehlt.  So  oft  die  Ungenießbarkeit  der  Stinkwanzen 
in  der  Literatur  a  priori  behauptet  worden  ist,  so 
wenig  exakte  Untersuchungen  über  den  Gegen- 
stand liegen  vor  und  die  von  mir  durchgeführten 
Versuche,  über  die  ich  andernorts  eingehender 
berichten  möchte,  sind,  soweit  mir  bekannt,  so 
ziemlich  die  umfangreichsten  auf  diesem  Gebiete. 
Ich  habe  mich  bemüht,  nach  Möglichkeit  mit 
Individuenserien  typischer  Stinkwanzen  einerseits 
{Eiirygasfcr  iiiaitra  und  jugrociicullata,  Aclia 
acuiinnata ,  Carpucoris  p/trpnn'pcjtins ,  Dolycoris 
baccantDi,  Palomena  prasina,  Tropicoris  rttfipes, 
Eurydenia  olcracciiiii,  Syromasies  inargüiafus) 
und  mit  grellfarbigen  Arten  andererseits  {Pyrrho- 
coris  aptcrus,  Lygaeits  saxatilis)  zu  arbeiten.  Die 
Ergebnisse  sind,  in  Umrissen  gekennzeichnet,  fol- 
gende: 

I.  Die  Trutztrachlhypothesen  besagen:  Gut 
schmeckende  Tiere  sind  unauffällig  gefärbt,  schutz- 
farbig   —    schlechtschmeckende    Tiere     dagegen 


')  Auch  vom  europäischen  Pirol,  Orlolus  galbula,  ist  diese 
Wanzenvorlicbe  bekannt. 


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warnend  grellfarbig;  die  Grellfärbung  ist  für  sie 
ein  ausschlaggebender  Vorteil,  denn  er  warnt  den 
Feind  im  voraus  vor  dem  Verkosten  (welches 
dem  Beutetier,  auch  wenn  es  sich  später  als  un- 
genießhar  erweisen  sollte,  doch  das  Leben  kosten 
würde). 

Eine  Voruntersuchung  der  verwendeten  Wan- 
zen mit  menschlichen  Sinnesorganen  ergab  nun: 
Die  aufgeführten  Stinkwanzen  sind  (bis  auf  eine, 
Eurydcma  olcraceiim)  ungeachtet  ihres  Geruches 
unauffällig,  gelblich,  bräunlich  oder  grün  gefärbt, 
im  großen  und  ganzen  also  schutzfarbig;  die 
grellfarbigen  Arten  {Pyrrliocon's,  Lygaetis)  dagegen 
besitzen  als  Vollinsekten  keinen  nennenswerten 
Geruch.  Die  Voraussetzungen  für  die  Trutztracht- 
hypothese sind  somit  nicht  erfüllt,  die  Fär- 
bungen sind  eher  im  entgegengesetzten  Sinne 
verteilt,  stehen  im  Widerspruch  mit  den  Hypo- 
thesen. 

2.  Die  Trachthypothesen  besagen:  Die  Stink- 
wanzen sind  durch  Ekelgeruch  geschützt.  Die 
Versuche  (mehr  als  200)  erweisen,  daß  die  Wan- 
zen von  allen  jenen  Insektenfressern, 
welche  Insekten  dieser  Größe,  Körper- 
beschaffenheit, Aufenthaltsorte  usw. 
überhaupt  jagen,  ohne  jede  Rücksicht 
auf  Gestank  ebenso  gern  genommen 
werden,  wie  irgendwelche  andere,  nicht 
übelriechende  Insekten.  Der  Geruch 
findet  keine  Beachtung  (die  Vögel,  die  als 
die  Hauptfeinde  der  Insektenwelt  in  Betracht 
kommen,  sind  bekanntlich  außerordentlich  geruchs- 
und  geschacksstumpf  und  beriechen  eine  Beute 
niemals)  und  der  Geschmack  der  Wanzen  scheint 
ihnen  völlig  zu  behagen.  Dagegen  zeigen  die 
Versuche  ein  anderes  belangreiches  Ergebnis. 

Die  Fälle  nämlich,  in  denen  die  Wanze  vom 
Vogel  nicht  angenommen  wurde,  betreffen  fast 
gar  keine  typischen  Stinkwanzen,  wohl  aber  nicht- 
stinkende, grellfarbige  Arten.  Die  Ablehnung 
erfolgte  auf  den  bloßen  Anblick  hin,  ohne  Be- 
riechen, ohne  Verkosten.  Die  Wanzen  sind  den 
jahrelang  eingezwingerten  Vögeln  sicherlich  nicht 
im  voraus  bekannt;  der  Grund  für  die  Ablehnung 
liegt  offenkundig  in  Färbung  oder  Gestalt 
der  Wanzen. 

Kontrollversuche  bestätigen  dies.  Die  grell- 
farbige Feuerwanze,  PyrrJwcoris  apicnis,  wird 
häufig  auf  den  bloßen  Anblick  hin  verschmäht 
(obwohl  der  erwachsenen  Wanze  der  Wanzen- 
gestank fehlt);  der  Leibesinhalt  dieser  Wanze, 
unter  die  Normalnahrung  von  Vögeln  gemengt, 
wurde  von  diesen  ohne  Anstand  verzehrt.  Andere 
Insekten,  mit  dem  Leibesinhalt  der  Wanze  be- 
strichen ,  wurden  verzehrt.  Geruch  und  Ge- 
schmack erscheinen  sohin  nicht  als  das  Schützende. 
Dagegen  wurden  sonst  gerne  gefressene  Insekten 
von  Vögeln  mit  Vorsicht  oder  Ablehnung 
behandelt,  sobald  ihnen  ein  ähnlich 
grelles  Aussehen  gegeben  wurde,  wie 
ies  die  Feuerwanze  besitzt.  Wurden  bei- 
spielsweise die  sonst  sehr  gern  gefressenen  Eiiry- 


gaskr-hrtzn  mit  geruchlosen  Wasserfarben  grell 
rot  und  schwarz  bemalt,  so  wurden  sie  mit  dem- 
selben Staunen  betrachtet  wie  Pyrrlwcoris  und 
blieben  wie  diese  oft  eine  Zeillang  unverzehrt. 
Auch  grell  bemalte  Ameisenpuppen  u.  dgl.  wurden 
so  behandelt,  wogegen  natürlich  gefärbte  Ameisen- 
puppen sofort  angenommen  wurden,  auch  dann, 
wenn  sie  mit  sehr  stark  riechenden  und  scharf 
schmeckenden  Substanzen  (ich  verwendete  Nelkenöl, 
Kreolin ,  Petroleum ,  Essigäther  u.  a.)  getränkt 
waren.  Es  ist  somit  in  der  Regel  das 
auffällige,  die  Vögel  befremdende  und 
sie  mißtrauisch  machende  Aussehen, 
das  den  Fraß  zu  verzögern  oder  für  eine 
Zeit  zu  verhindern  vermag.  Auch  andere 
Forscher  haben  diese  Beobachtung  des  Stutzens 
der  Vögel  vor  fremden,  ungewohnten  Färbungen 
gemacht,  und  auch  aus  ihren  Beobachtungen  er- 
gibt sich,  daß  die  fremde,  ungewohnte  Färbung 
ihre  fraßverhindernde  Wirkung  verliert,  sobald 
Gewöhnung  eintritt.  Ist  diese  letztere  einmal 
eingetreten,  so  bildet  auch  die  Färbung  kein 
Fraßhindernis  mehr.     Es  ergibt  sich  hiernach: 

Grellfarbige  Insekten  werden  in  einer  Mehr- 
heit der  E'älle  ebensogut  verzehrt  wie  unauffällig 
ausgestattete.  Werden  grellfarbige  Insekten  aber 
mit  zögernder  Vorsicht  behandelt  oder  verschmäht, 
so  liegt  der  Grund  hierfür*  in  der  Regel  nicht  in 
schlechtem  Geruch  oder  in  dem  Wissen  von 
schlechtem  Geschmack  (denn  die  Versuchstiere 
haben  das  Insekt  früher  nicht  gekannt  und  auch 
im  Versuche  weder  berochen  noch  gekostet),  ' 
sondern  die  Ablehnung  erfolgt  zumeist  nach 
bloßem  Hinsehen  aus  dem  Gefühle  der  Vorsicht, 
des  Befremdens,  Mißtrauens  heraus,  das  alle  geistig 
höher  stehenden  Tiere  einem  ihnen  fremden,  ihnen 
auffällig  Dünkenden  entgegenbringen.  „Was  der 
Bauer  nicht  kennt,  das  ißt  er  nicht",  sagt  ein 
volkstümliches  Sprichwort,  das  zwanglos  auch 
auf  die  höhere  Tierwelt  bezogen  werden  kann. 
Es  ist  das  Prinzip  der  Ungewohnttracht, 
des  Misoneismus,  des  Mißtrauens  vor  Neuem, 
das  ich  andernorts  dargelegt  und  eingehend  be- 
gründet habe. 

Die  Erörterungen  abschließend,  lege  ich  fest: 
Insolange  wir  auf  rein  anthropodoxischer  Basis 
stehen,  die  Insektenfresser  in  bezug  auf  Geruchs- 
und Geschmacksurteile  als  kleine  Menschen  be- 
trachten und  werten ,  erscheinen  die  Trutztracht- 
hypothesen zum  Teil  leidlich  begründet  (zum 
Teil  nur,  denn  das  Dasein  anlockender  VVohlge- 
rüche,  ferner  die  den  Hypothesen  vielfach  ent- 
gegengesetzte Verteilung  der  Färbungen  usw. 
bilden  auch  dann  noch  bleibende  Widersprüche). 
Sobald  wir  aber  den  anthropodoxischen  Stand- 
punkt verlassen  und  die  wissenschaftliche  Erkennt- 
nis gewinnen,  daß  mit  Menschensinnen  nicht  über 
den  Tiei  geschmack  (bzw.  über  Tausende  unter  sich 
völlig  verschiedener  Tiergeschmacksarten)  abge- 
urteilt werden  kann,  sondern  daß  das  durch  Be- 
obachtung und  Versuch  empirisch  zu  ermittelnde 
Benehmen   jedes    einzelnen    Insektenfressers    den 


S62 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


alleinberechtigten  Richter  in  dieser  Frage  darstellt,  der  Wanzen  sagt  sie  uns,  daß  derselbe  seinen 
dann  müssen  wir  uns  entschließen,  die  einst  auf  Träger  in  keiner  Weise  vor  natürlichen 
naiv  anthropodoxischer  Basis  aufgerichtete  Hypo-  Feind  en  seh  ützt,  daß  es  keinen  „Schutz- 
these, so  lieb  und  vertraut  sie  uns  inzwischen  gestank"  der  Wanzen  gibt,  daßäufdie- 
auch  geworden  sein  mag,  zu  verlassen  und  aus  ser  Basis  überhaupt  kein  Platz  für  eine 
der  Wissenschaft  zu  weisen.  Hypothese  ist.  Ob  die  Stinkdrüsen  der  Wan- 
Die  Sprache  der  Tatsachen  ist  alleingültig  in  zen  einen  „Zweck"  haben,  das  ist  uns,  wie  so 
der    Wissenschaft.      Hinsichtlich    des    Ekelgeruchs  vieles  andere,  heute  noch  unbekannt. 


Die  künstliche  Zedeguug  von  Elementen. 

(Mit   I  Abbildung  im  Text.) 

Vor  20  Jahren  stellten  Rutherford  und 
Soddy  die  kühne  Hypothese  auf,  die  von  den 
radioaktiven  Stoffen  ausgestrahlte  Energie  rühre 
vom  Atomzerfall  dieser  Elemente  her.  Ruther- 
ford    und  Soddy    konnten   auch    vom  Thorium 


Einzelberichte. 

ihrer  Verschiebungssätze  mit  völliger  Sicherheit 
voraussagen,  daß  das  nach  wiederholter  Abspal- 
tung von  Helium  entstehende  Endprodukt  des 
radioaktiven  Zerfalls  von  Uran,  Thorium  und  Ak- 
tinium Blei  sein  müsse,  das  aber  im  Atomgewicht 
vom  gewöhnlichen  Blei  abweiche.  Dies  wurde 
im  Jahre  19 14  und  in  der  darauf  folgenden  Zeit 
glänzend    bestätigt,    als    durch    Hönigschmid, 


einen    stark    radioaktiven    Stoff,    das    Thorium  X,      Richards  und  andere  sehr  genaue  Atomgewichts- 


auf chemischem  Wege  abtrennen,  den  das  rück- 
ständige Thorium  immer  wieder  von  neuem  nach- 
bildet. In  gleicher  Weise  hatten  bereits  vorher 
Crookes  und  Becquerel  beim  Uran  die  fort- 
währende   Neubildung    von    Uran  X    unter    Aus 


bestimmungen  von  Uranblei  und  Thorblei  aus- 
geführt wurden.  Vor  3  Jahren  ist  es  schließlich 
Rutherford')  gelungen,  den  zu  den  leichtesten 
Elementen  gehörigen  Stickstoff  künstlich  zum 
Zerfall  zu  bringen,  indem  aus  den  Stickstoffatomen 


Sendung    von    radioaktiven    Strahlen    beobachtet,      durch    rasche    «Strahlen    Wasserstoffkerne    abge- 
Doch    konnten    die    aus    dem    zerfallenden    Uran     splittert  wurden. 


oder  Thorium  entstandenen  neuen  Stoffe,  das 
UX  und  das  ThX,')  nicht  in  sichtbarer,  wäg- 
barer oder  spektroskopisch  nachweisbarer  IVIenge 
dargestellt  werden;  nur  durch  seine  radioaktiven 
Eigenschaften    konnte   das    in    verschwindend    ge- 


Trifft  ein  «-Teilchen  von  der  Masse  4  mit 
2  positiven  Elementarladungen  auf  ein  Wasser- 
stoffatom von  der  Masse  i,  so  muß  dieses  als 
Wasserstoffion  H+  die  16  fache  Geschwindigkeit 
und  damit   die  4  fache  Reichweite   der  stoßenden 


ringem  Maße  gebildete  UX  und  ThX  gekenn-  «  Strahlen  erlangen.  Die  angewandten  «-Strahlen 
zeichnet  werden.  1903  wurde  von  Rutherford,  des  Radiums  C  vermögen  eine  Luftschicht  von 
Becquerel  und  des  Coudres  die  Ablenkbar-  7  cm  zu  durchdringen.  Die  Wasserstoffstrahlen, 
keit  der  «Strahlen  in  starken  magnetischen  und  welche  durch  «Strahlen  von  7  cm  Reichweite 
elektrischen  Feldern  entdeckt  und  die  Messungen  aus  Wasserstoff  oder  Wasserstoffverbindungen 
ergaben,  daß  die  «-Strahlen  rasch  bewegte,  posi-  entstehen,  durchdringen  eine  Luftschicht  von 
tiv  geladene  Atome  des  Wasserstoffs  oder  Heliums  29  cm  Dicke.  Die  Wasserstoffstrahlen  des  Stick- 
sind. Rutherford  und  Soddy  schlössen,  daß  Stoffs  haben  jedoch  eine  Reichweite  von  40  cm, 
das  Helium  wegen  seines  regelmäßigen  gleich-  so  daß  ein  Teil  ihrer  Energie  aus  dem  explo- 
zeitigen  Vorkommens  in  Uran-  und  Thorminera-  dierenden  Stickstoffatom  stammen  muß.  Dies 
lien  eines  der  Zerfallsprodukte  der  radioaktiven  Ergebnis  zeigt,  daß  diese  H -Teilchen  nicht  von 
Stoffe  ist.  Im  Juli  1903  machten  dann  Ramsay  irgendeiner  Wasserstoffverunreinigung  herrühren 
und   Soddy   die    denkwürdige    Entdeckung,    daß  können. 

die  Emanation  des  Radiums  unter  der  spektro-  Neuerdings  berichtet  Rutherford-)  über 
skopisch  nachweisbaren  Bildung  von  Helium  zer-  weitere  Versuche  zur  Zertrümmerung  von  Ele- 
fällt.  Dies  war  eine  glänzende  Bestätigung  für  menten  durch  «-Strahlen.  Die  Stoffe  wurden  in 
Rutherfords  Hypothese  vom  Atomzerfall  radio-  Gasform  oder  in  festem  Zustand  als  dünne  Schich- 
aktiver  Stoffe  und  war  die  erste  mit  den  gewöhn-  ten  mit  «Teilchen  durchstrahlt.  Eine  Glimmer- 
lichen   Methoden    der   Analyse    beobachtete    Um-  platte,    welche    in    ihrem    Bremsvermögen    einer 


Wandlung  eines  Elementes  in  ein  gut  bekanntes 
anderes.  1909  zeigte  Rutherford  auf  spektro- 
skopischem Wege,  daß  die  «Strahlen  der  radio- 
aktiven Stoffe  von  Heliumatomen  gebildet  werden 
und  daß  daher  alle  Elemente  mit  «-Strahlen  eine 
Neubildung  von  Helium  aufweisen.  F"ajans  und 
Soddy  konnten    dann    im  Jahre    1913    mit  Hilfe 

')  Nach  der  damaligen  Nomenklatur. 


32  cm  dicken  Luftschicht  gleichkommt,  hält  alle 
Wasserstoffstrahlen  aus  etwaigen  Verunreinigungen 
des  durchstrahlten  Materials  von  der  Beobachtung 
fern.  Die  folgende  Tabelle  enthält  in  der  i.  Spalte 
das   untersuchte  Element,    die    2.  Spalte    gibt   die 


')  Naturw.   Wochenschr.  XIX,  S.  30 — 32,   1920. 
'')  Naturc  Nr.  27.10,  S.  584—586;  Nr.  2741,  S.  601— 602 
und  S.  614-617  (1922). 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


563 


Form  an,  in  welcher  der  Stoff  mit  «-Teilchen 
des  Radiums  C  durchstrahlt  wurde,  und  die 
3.  Reihe  gibt  die  Reichweite  der  abgespaltenen 
Wasserstoffteilchen  in  der  Luft  an. 


Li 

Li^O 

— 

Be 

BeO 

— 

B 

Bor 

ungef.  45  cm 

C 

CO2 

— 

N 

Luft 

40  cm 

0 

0, 

— 

F 

CaF„ 

über  40  cm 

Na 

Na^Ö 

ungef.  42  cm 

Mg 

MgO 

— 

AI 

Alu.ALO, 

90  cm 

Si 

Si  " 

— 

P 

P  (rot) 

ungef.  65  cm 

s 

Su.SO., 

— 

Cl 

MgCl., 

— 

K 

KCl' 

— 

Bei  den  Elementen  Ca,  Si,  Mn,  Fe,  Sn,  Cu,  Ag 
und  Au  wurden  keine  Wasserstoffteilchen  von 
über  32  cm  Reichweite  beobachtet.  Ob  lang- 
samere Wasserstoffkerne  abgespalten  werden,  muß 
noch  untersucht  werden.  Zunächst  scheint  es, 
als  ob  Elemente,  deren  Kernladung  größer  wie 
15  ist,  durch  die  a-Strahlen  von  Radium  C  nicht 
zertrümmert  werden. 

Durch  besondere  Versuche  wurde  gezeigt,  daß 
die  Energie  der  raschesten  [i  Strahlen  und  der  •/- 
Strahlen  nicht  ausreicht ,  um  Wasserstofifstrahlen 
aus  irgendeinem  Element  abzuspalten.  Die  frühe- 
ren Beobachtungen  von  J.  J.  Thomson,  Ram- 
say  und  anderen  Forschern  über  das  Auftreten 
von  Wasserstoff,  Helium  und  den  übrigen  Edel- 
gasen in  Vakuumröhren  nach  der  Kathoden- 
bestrahlung von  Elementen  sind  nach  den  Unter- 
suchungen Rutherfords  unmöglich  durch  eine 
Zerlegung  oder  Neubildung  von  Grundstoffen  zu 
erklären.  Die  geringen  spektralanalytisch  nach- 
gewiesenen Spuren  von  neu  auftretenden  Gasen 
sind  Verunreinigungen  aus  der  Glaswand  oder 
aus  den  Elektroden.  So  erklärt  Rutherford 
auch  eine  jüngst  aus  Amerika  gemeldete  Be- 
obachtung über  das  Auftreten  von  Helium  beim 
Zerstäuben  von  Wolframdrähten  im  Hochvakuum. 

Eine  Anzahl  von  Versuchen ')  wurde  ange- 
stellt, um  den  Einfluß  zu  prüfen,  den  die  Ge- 
schwindigkeit der  einfallenden  «Strahlen  auf  die 
Zahl  und  die  Reichweite  der  abgesprengten 
Wasserstoffteilchen  hat.  Im  allgemeinen  zeigte 
sich  die  Reichweite  der  Wasserstoffkerne  der 
Reichweite  der  «  Strahlen  proportional;  die  Zahl 
der  ausgelösten  Wasserstoffkerne  nimmt  mit  der 
Geschwindigkeit  der  «Strahlen  rasch  zu.  So 
scheinen  im  Aluminium  durch  « Strahlen  von 
5  cm  Reichweite  keine  Wasserstoffteilchen  mehr 
abgelöst  zu  werden.  Die  zur  Zertrümmerung 
nötige  Minimalenergie  soll  noch  näher  festgestellt 
werden. 


Durch  die  «Strahlen  des  Radiums  C  werden 
im  Aluminium  Wasserstoffteilchen  abgelöst,  deren 
kinetische  Energie  1,4  mal  größer  ist  wie  die  der 
einfallenden  «Teilchen  und  ein  Teil  der  Energie 
muß  daher  vom  Aluminiumkern  selbst  geliefert 
werden.  Die  Zertrümmerung  der  Aluminiumatome 
geschieht  nur  in  äußerst  geringem  Maße.  Ein 
«-Teilchen  des  Radiums  C  geht  durch  ungefähr 
looooo  Aluminiumatome;  aber  nur  etwa  2  0- 
Teilchen  von  i  Million  kommen  dem  inneren 
Kern  nahe  genug,  um  ein  Wasserstoffteilchen  ab- 
zuspalten. Die  gesammelten  «-Teilchen  von  i  g 
Radium  ergeben  im  Jahr  163  cbmm  Helium; 
würden  alle  diese  «Teilchen  in  Aluminium  ge- 
schossen, so  könnte  in  einem  Jahr  doch  nur 
"1000  cbmm  Wasserstoffgas  befreit  werden.  Diese 
Menge  ist  so  gering,  daß  sie  mit  den  gewöhn- 
lichen physikalischen  und  chemischen  Methoden 
nicht  nachgewiesen  werden  kann. 

Ein  auffallendes  Ergebnis  hatte  die  Unter- 
suchung der  im  Aluminium  ausgelösten  Wasser- 
stoffstrahlen in  bezug  auf  die  Richtung  der  ein- 
fallenden «Strahlen.  Es  traten  nämlich  von  der 
Rückseite  der  Aluminiumfolie  nahezu  ebenso 
viele  Wasserstoffteilchen  wie  auf  der  Vorderseite 
aus.  Dies  wird  durch  die  Annahme  erklärt,  daß 
die  Wasserstoffteilchen  im  Aluminiumatom  einen 
Kreis  um  den  Kern  beschreiben,  wobei  dann  die 
Austrittsrichtung  des  Wasserstoffkerns  nur  von 
seiner  Stellung  im  Augenblick  des  Zusammen- 
stoßes mit  dem  «-Teilchen  abhängt.  Die  Abbil- 
dung zeigt  die  Bahn  eines  rückwärts  austretenden 
Wasserstoffteilchens. 


In  früheren  Versuchen ')  schienen  durch  die 
«Strahlen  des  Radiums  C  im  Sauerstoff  und  Stick- 
stoff Teilchen  von  der  Masse  3  mit  2  positiven 
Elementarladungen  und  9  cm  Reichweite  befreit 
zu  werden;  diese  X3  genannten  Teilchen  wären 
dem  Helium  isotop.  Es  ist  nun  sehr  interessant, 
daß  neuerdings  Rutherford '^)  selbst  das  Vor- 
kommen solcher  Xg-Strahlen  in  Abrede  stellt. 
Rutherford  erklärt,  daß  die  vergleichende 
Methode  der  Schätzung  der  Teilchenmassen  nicht 
länger  vertrauenswürdig  sei  und  daß  eine  sehr 
große  Zahl  von  Versuchen  erforderlich  sei,  um 
die  Natur  der  Strahlung  endgültig  festzustellen. 
Nach  allen  anderen  Erfahrungen  sind  die  Xj- 
Atome  doch  ziemlich  sicher  Heliumkerne  und 
einstweilen  ist  Rutherford  wenigstens  beim 
Sauerstoff  der  Nachweis  gelungen,    daß  die  „X3"- 


»)  Phil-.  Mag.  42,    S.  809— S25    (1921)    nach    Phys.    Ber 

s.  313—314  (1922). 


')  Naturw.   Wochenschr.   XX,  S.   729  (192 1). 
')  Nature  1.  c. 


564 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Strahlen  ihren  Ursprung  nicht  im  Gasraume  haben, 
sondern  daß  sie  unmittelbar  von  der  Strahlenquelle, 
dem  Radium  C,  ausgehen.  Die  Aussendung  von 
Strahlen  mit  9  cm  Reichweite  stellt  also  eine  bis- 
her unbekannte  neue  Umwandlungsart  des  Ra- 
diums C  dar. 

Man  darf  den  weiteren  Untersuchungen 
Rutherfords  über  die  „X3"-Strahlen  mit  Inter- 
esse entgegensehen  und  man  wird  von  der  Radio- 
chemie noch  manche  wichtige  Aufschlüsse  über 
den  inneren  Bau  und  die  Beständigkeit  der  Atome 
zu  erwarten  haben.  K.  Kuhn. 

Über  die  ältesten  Nutz-  inul  Kulturpflauzeu. 

Die  noch  immer  spärlichen  Altertumsfunde 
vermögen  uns  nur  ein  unvollkommenes  Bild  der 
Vorzeit  zu  übermitteln.  Namentlich  über  die 
ältesten  Nutz-  und  Kulturpflanzen  wissen  wir  bis- 
her noch  nicht  allzu  viel.  Deshalb  versucht  H. 
Brockmann-Jcrosch  in  der  Vierteljahrsschrift 
der  Naturforschenden  Gesellschaft  in  Zürich,  Bd.  62 
auch  die  Volkskunde  zur  Klärung  dieser  Frage 
heranzuziehen.  Die  alten  Sitten  und  Gebräuche 
namentlich  von  Volksteilen  in  abgelegenen  Wohn- 
gebieten sind  nach  ihrer  Auffassung  als  die  letz- 
ten Reste  einstiger  primitiver  Kulturstufen  zu  be- 
trachten und  deshalb  können  sie  uns  auch  bis  zu 
einem  bestimmten  Grade  Aufschluß  geben  über 
die  früheren  Verhältnisse. 

Mit  Hahn  u.  a.  Forschern  ist  auch  Br.-J.  der 
Ansicht,  daß  sich  die  Völker  im  Urzustände  we- 
niger von  der  Jagd  als  vielmehr  von  gesammelten 
Pflanzen  ernährten.  Allerhand  Pflanzenteile,  wie 
Blätter,  Knospen,  Wurzeln,  Knollen  wurden  ge- 
sammelt und  dienten  als  Hauptnahrung.  („Sammel- 
stufe".) Auf  Grund  der  alten  volkstümlichen  Ge- 
bräuche besonders  der  Bewohner  abgelegener 
Alpentäler  stellt  nun  Br.-J.  die  vermutlich  ältesten 
Nutz-  und  Kulturpflanzen  zusammen.  Demnach 
müssen  früher  die  Mehl-  oder  Vogelbeeren  (S  o  r  - 
bus  spec.)  viel  allgemeiner  als  menschliche  Nah- 
rung gedient  haben  als  heutzutage.  Sicherlich 
wurden  diese  nutzbaren  Bäume  auch  schon  in 
früher  Zeit  nicht  nur  geschont,  sondern  auch  an 
günstigere  Stellen  verpflanzt.  Der  Unterschied 
zwischen  wildwachsenden  Nutzpflanzen  und  Kultur- 
pflanzen verwischt  sich  hier  also  noch  völlig.  Auch 
die  Kiche  soll  schon  recht  früh  nicht  nur  ein 
wichtiger  Nutz-  sondern  auch  ein  Kulturbaum  ge- 
wesen sein,  da  die  Eicheln  eine  wertvolle  Mehl- 
nahrung lieferten.  Ebenso  hätten  Buche,  Hasel- 
nuß und  Schlehe  zu  den  ältesten  Nutz-  und 
Kulturpflanzen  zu  gehören.  Leicht  erklärlich  er- 
scheint in  diesem  Zusammenhange,  daß  diese  für 
das  Leben  der  Menschen  so  wiclitigen  Pflanzen 
früher  als  „heilig"  galten.  Auf  die  Beschädigung 
der  Eichen  war  bei  den  Germanen  eine  schwere 
Strafe  gesetzt.  So  bestimmte  z.  B.  das  Ober- 
urseler  Weistum:  „Item  es  soll  niemand  Bäume 
.  .  .  schälen,  wer  das  täte,  dem  soll  man  sein  Na- 
bel   aus    seinem    Bauch    schneiden    und   ihn    mit 


demselben  an  den  Baum  negeln  und  denselben 
Baumschäler  um  den  Baum  führen,  so  lang  bis 
sein  Gedärm  alle  aus  dem  Bauche  auf  den  Baum 
gewunden  sein."  Die  Wertschätzung  dieser  nutz- 
baren Laubhölzer  kann  nicht  ohne  Einfluß  auf 
das  einstige  Landschaftsbild  geblieben  sein. 

Wenn  die  Ansicht  von  Br.-J.  richtig  ist,  so 
müssen  auch  manche  unserer  Sumpf-  und  Wasser- 
pflanzen zu  den  ältesten  Nutzpflanzen  gezählt 
werden.  Wie  stellenweise  noch  gegenwärtig,  so 
werden  auch  schon  in  frühester  Zeit  die  getrock- 
neten Wurzelstöcke  des  Schilfes  und  des  P"ieber- 
klees  {AIoiyiDitlics  trifoliatd),  die  jungen  Triebe 
des  Rohrkolbens  (7;y^/w- Arten) ,  die  mehlreichen, 
wohlschmeckenden  Samen  der  Schwaden-  oder 
Mannagrütze  [Glyccria  ßuitans),  die  PVüchte  der 
Wassernuß  (Trapa  nafaiis)  verwendet  worden 
sein.  Wenn  aber  Br.-J.  die  einstige  weitere  Ver- 
breitung der  Wassernuß  im  mitteleuropäischen 
Waldgebiet  auf  die  Tätigkeit  des  Menschen  zurück- 
führt, so  kann  man  ihr  wohl  nicht  ohne  weiteres 
zustimmen. 

Andere  Nutzpflanzen  sind  ehemals  Ruderal- 
pflanzen  gewesen.  Hierher  gehören  der  Gute 
Heinrich  {Choiopodiiim  boiius  Hairicus),  dessen 
Blätter  noch  heute  in  der  Schweiz  zur  Spinat- 
bereitung benutzt  werden,  der  Hollunder  {Sani- 
buciis  nigra)  und  der  Alpenampfer  [Riimex  alpi- 
niis),  der  mannigfache  Verwendung  im  Haushalt 
der  Alpenbewohner  findet,  vor  allem  auch  zur 
Sauerkrautbereitung.  Eine  besondere  Kultur  die- 
ser Ruderalpflanzen  war  kaum  nötig.  Es  genügte 
vielmehr,  wenn  sie  in  der  Umgebung  der  mensch- 
lichen Wohnstätten  gelegentlich  geschont  wurden. 
Daß  Unkräuter  mitunter  Kulturpflanzen  werden 
können,  dafür  führt  Br.-J.  als  Beispiel  u.  a.  auch 
den  tartarischen  Buchweizen  {Fagopyrum  tartari- 
cinn)  an,  der  in  niederen  Gegenden  als  ein  lästi- 
ges, schwer  auszurottentes  Unkraut  gilt,  in  höhe- 
ren Teilen  der  Alpen  und  des  Himalaya  als  ge- 
schätztes Getreide  angebaut  wird. 

Das  wäre  im  allgemeinen  der  Hauptinhalt  der 
gedankenreichen  Arbeit.  Ohne  Zweifel  ist  der 
Weg,  den  Br.-J.  hier  betreten  hat,  geeignet,  die 
Frage  nach  den  natürlichen  Verhältnissen  der 
Vorzeit  zu  klären.  Zu  wünschen  wäre  freilich, 
daß  die  Ergebnisse,  die  durch  diese  Arbeitsweise 
erzielt  werden,  durch  prähistorische  Funde  be- 
stätigt würden.  E.  Schalow  (Breslau). 

Ein  ueuer  xeroniorpher  Spaltöttuiiugsapparat 
bei  den  üiliotjiedoueu. 

In  der  Osterreichischen  Botanischen  Zeitschrift, 
Jahrgang  1922,  Nr.  i — 3  macht  uns  A.  Mühl- 
dorf mit  einem  neuen  xcromorphen  Spaltöffnungs- 
apparat bekannt,  den  er  bei  einer  Nieswurz  {Hclle- 
horiis  lugcr)  feststellen  konnte  und  der  seines- 
gleichen in  der  Pflanzenanatomie  sucht. 

Die  Spaltöfi'nungen,  welche  sich  auch  bei 
Uellchorus  iiigcr  nur  auf  der  Blattunterseite 
finden,   sind  in  der  Flächenansicht   fast  kreisrund 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


56s 


und  heben  sich  kaum  über  die  Nachbarzellen 
empor.  Der  Vorhof  ist  in  der  Regel  mit  einer 
körnigen  Masse  angefüllt,  die  sich  mit  Alkannin 
färbt.  Diese  Erscheinung  ist  auch  bei  anderen 
Hcl/edofi/s -Arten  anzutreffen^  Wodurch  sich  der 
Spaltöffnungsapparat  von  Hellcborus  iiigcr  aber 
besonders  auszeichnet,  das  sind  die  8 — 10  zähn- 
chenartigen  Leisten,  die  sich  an  den  Wänden  der 
Spaltöffnung  von  der  Zentralspalte  an  zeigen  und 
die  nach  innen  zu  immer  kleiner  werden.  Diese 
Leisten   passen  wie   die  Zähne   zweier  Zahnräder 


genau  ineinander,  so  daß  eine  recht  innige  Ver- 
bindung der  Schließzellen  und  ein  vorzüglicher 
Abschluß  gegen  die  Außenluft  erzielt  werden 
kann.  Sicherlich  kommt  diese  Einrichtung  der 
immergrünen  Pflanze  besonders  im  Winter  zu- 
statten, wenn  die  Wasseraufnahme  aus  dem  Boden 
infolge  des  Frostes  bedeutend  erschwert  ist.  Auf- 
fällig bleibt  es  nur,  daß  diese  abweichenden  Spalt- 
öffnungen früheren  Untersuchern  (Haberlandt, 
Schwendener,  Koernicke  u.a.)  entgangen 
sind.  E.  Schalow,  Breslau. 


Bticlierbesprechiingen. 


Hartwig,  R.,   Lehrbuch   der  Zoologie.     8. 
verm.    u.    verbess.    Aufl.      XIV   u.   682  S.    mit 
588  Abb.  im  Text.     Jena  1922,  G.  Fischer.  — 
Brosch.  ICO  M.,  geb.  130  M. 
Im    wesentlichen    sind     es     drei    Lehrbücher, 
welche  bei  uns  dem  Studierenden  das  Eindringen 
in  das  Gebiet  der  Zoologie  erleichtern  sollen,  die 
Lehrbücher  von  Boas,  von  Claus    und   Grob- 
ben,    und    von  Hertwig.     Jedes  in   seiner  Art 
sehr  charakteristisch,    legt  Boas    den    Hauptwert 
auf  die  Herausarbeitung   von    Organisationstypen, 
Claus-Grobben    bietet    eine    möglichst    reich- 
haltige   enggedrängte    Stoffübersicht,     Hertwig 
aber  versucht  mehr,  eine  gewisse  Beziehung  zwi- 
schen dem  Studierenden  und  seinem  Lernstoff  zu 
schaffen. 

Es  hieße  Eulen  nach  Athen  tragen,  wenn  man 
„den  Hertwig"  erst  besonders  charakterisieren 
wollte.  Die  meisterhafte  Form ,  in  welcher  dem 
Leser  spielend  die  wichtigsten  Tatsachen  eines 
großen  Gebietes  vorgeführt  werden,  haben  das 
Lehrbuch  ja  lange  zum  weitaus  verbreitetsten  ge- 
macht, und  besonders  dem  jungen  Mediziner  ge- 
hört es  wohl  zum  selbstverständlichen  Rüst- 
zeuge. Die  neue  Auflage  berücksichtigt  auch  in 
Einzelheiten  weitgehend  die  Literatur  der  letzten 
Jahre,  soweit  ihre  Resultate  für  den  Rahmen  des 
Lehrbuches  in  Betracht  kommen. 

Nur  an  einigen  Stellen  ist  der  frühere  Stand- 
punkt gewahrt  worden,  wo  eine  Änderung  am 
Platze  gewesen  wäre.  Unzweckmäßig  erscheint 
Ref.  beispielsweise,  daß,  aus  sonst  wohl  verständ- 
lichen Gründen  der  Übersichtlichkeit,  bei  den 
Insekten  eine  zu  weitgehende  Zusammenfassung 
in  Sammelgruppen  beibehalten  wurde.  Die  Archi- 
ptera  enthalten  so  heterogene  Komponenten,  daß 
sie  zerlegt  werden  müssen;  sind  doch  Odonaten 
und  Ephemeriden  Gruppen,  welche  den  übrigen 
Ordnungen  zum  mindesten  gleichwertig  zu  achten 
sind.  Abgesehen  von  solchen  Einzelheiten,  die 
in  künftigen  Auflagen  vielleicht  verschwinden 
können,  hält  das  Werk  vollkommen  die  Höhe 
der  früheren  Auflagen.  Eine  besondere  Verbrei- 
tung ihm  erst  zu  wünschen,  erscheint  überflüssig, 
da  es  sich  seinen  Weg  wie  bisher  selbst  schaffen 
wird.  Prell  (Tübingen). 


Nevi^man,  H.  H.,  The  biology  of  twins 
(m  a  m  m  a  1  s).  The  University  of  Chicago  Press, 
Vol.  VI,  1917,  X+186  p.,  Frontisp. -f-  55  Fig 
1,50  Dollar. 

Der  Verf.  versucht  in  gemeinverständlicher 
Form  einen  Überblick  über  das  Wesen  der 
Zwillingsbildungen  bei  Säugern  zu  geben.  Zu 
dem  Zwecke  wird  zwischen  fraternalen  oder  di- 
zygotischen,  also  mehreiigen,  Zwillingen  und  den 
„duplicate  Twins"  oder  monozygotischen,  also 
eineiigen,  Zwillingen  unterschieden.  Monozygo- 
tische Zwillinge  kommen  beim  Menschen  in  etwa 
V^  aller  Zwillingsgeburten  vor,  wozu  noch  die 
überwiegende  Metirzahl  der  teratologischen  Doppel- 
bildungen hinzutreten  würde.  Über  die  Genese 
derartiger  eineiiger  Zwillinge  ist  direkt  kaum  et- 
was zu  ermitteln.  Den  einzigen  gangbaren  Weg 
bildet  das  Studium  von  Tieren,  bei  welchen  dieses 
Verhalten  regelmäßig  auftritt,  und  das  gilt  für 
einige  Gürteltiere.  Bei  dem  texanischen  Dasypus 
iiovcmci'uctiis  hat  Verf.  in  Gemeinschaft  mit  anderen 
Forschern  ausgiebige  Studien  angestellt  und  gibt 
an  der  Hand  neuer,  hervorragend  übersichtlicher 
Schemata  einen  Überblick  über  seine  entwicklungs- 
geschichtlichen Resultate.  Während  hier  normaler- 
weise stets  Vierlinge  geworfen  werden,  bringt  der 
argentinische  D.  Iiyhridus  7 — 12,  vorwiegend 
8  Junge  bei  jedem  Wurf  hervor,  deren  mono- 
zygotische Entstehung  im  Anschluß  an  Fernan- 
de z  behandelt  wird.  Im  Gegensatze  dazu  sind 
die  Zwillinge  des  argentinischen  EiipJiracfiis  vil- 
losus  stets  zweieiig,  also  den  Wurfgeschwistern 
etwa  bei  Hunden  gleichzuachten,  obwohl  sie  ein 
gemeinsames  Chorion  besitzen.  Theoretisch  kann 
die  Polyembryonie  der  Dasypus-AxXevs.  als  Blasto- 
tomie,  als  Knospung  oder  als  Teilung  betrachtet 
werden.  Echte  Blastotomie  liegt  nun  sicher  nicht 
vor,  da  keineswegs  jeder  der  vier  Embryonen  bei 
D.  novcmcincfus  aus  je  einem  Elastomer  hervor- 
geht, sondern  erst  viel  später  nach  Ablauf  der 
Gastrulation.  Knospung  leuchtet  wenig  ein,  weil 
man  die  Gastrula  nur  ungern  als  agame  Eiter- 
generation oder  Stock  betrachten  wird.  Teilung 
im  üblichen  Sinn  läßt  sich  nach  den  ontogene- 
tischen  Vorgängen  kaum  vertreten.  Eine  neue 
Definition   der  Teilung   ermöglicht  dann   die  Ein- 


566 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Ordnung  bei  dieser.  —  Auch  bei  Rindern  kommen 
gelegentlich  Zwillinge  vor,  sehr  selten  mono- 
zygotisch, meist  dizygotisch  und  monochorial. 
Bei  ungleichgeschlechtigen  Zwillingen  ist  es  nun 
bekannt,  daß  neben  einem  Stier  entweder  eine 
Kuh  oder  ein  Zwitter  geboren  wird.  Die  Unter- 
suchungen Li  1  lies,  welche  den  zweiten  Fall  auf 
hormonale  Beeinflussung  infolge  der  Verschmelzung 
der  Choriongefäße  beider  Embryonen  zurück- 
führten, werden  wiedergegeben;  Kellers  ent- 
sprechende Beobachtungen  sind  dem  Verf.  an- 
scheinend entgangen.  —  Angesichts  der  zygo- 
tischen Geschlechtsbestimmung  bei  Säugern  sind 
monozygotische  Zwillinge  stets  gleichgeschlechtig. 
Wohl  zu  beachten  ist  aber,  daß  Geschlechtsdifife- 
renzierung  auch  unabhängig  davon  später  hormo- 
nal bedingt  sein  kann.  —  Die  Neigung  zur 
Zwillingsproduktion  als  solcher  ist  nach  Beobach- 
tungen am  Schaf  erblich.  Ausgiebig  wird  dann 
über  spezielle  Vererbungserscheinungen  bei  Gürtel- 
tieren berichtet,  wobei  allerdings  zum  Vergleich 
nur  Mutter  und  Kinder  herangezogen  werden 
können.  Die  Resultate  erscheinen  Ref.  recht  un- 
sicher. Unregelmäßigkeiten  des  Panzers  scheinen 
als  Tendenz  vererbt  zu  werden,  jedoch  ohne  be- 
sondere Lokalisation.  Da  die  vier  Geschwister 
einem  Klon  angehören  und  doch  verschieden  sind, 
wird  „somatic  segregation"  der  elterlichen  Anlagen 
angenommen.  Vergleiche  mit  den  Verhältnissen 
bei  menschlichen  Zwillingen  beschließen  diese 
Erörterungen.  —  Das  reiche  Tatsachenmaterial 
macht  das  Buch  zu  einer  sehr  lesenswerten  und 
recht  wertvollen  Einführung  in  ein  interessantes 
Gebiet,  wenn  man  auch  den  theoretischen  Er- 
örterungen des  Verf.  nicht  stets  folgen  wird. 

H.  Prell,  Tübingen. 


Coulter,  J.  H.,    The    Evolution    of    Sex    in 
Plants.     The   Univefsity    of  Chicago   Science 
Series,  Vol.  L     Und  Impress.   1916,  X-|-'40  S. 
Preis  in  Ganzleinen  geb.  1,25  Dollar. 
Die  ursprüngliche,    zahlenmäßig  überwiegende 
Portpflanzungsweise    der  Pflanzen    ist    die  unge- 
schlechtliche Fortpflanzung  (I).     Sie  führt 
von   einfacher  Zellteilung    zur  Sporenbildung    und 
weiter  zum  Auftreten  von  allerlei  Komplikationen 
bei  der  Sporenbildung.     Die   Entstehung    der 
Geschlechtlichkeit   (II)    erfolgt   dann,    wenn 
solche    Sporen    als    Gameten    fungieren,    also    zur 
Bildung     ruhebedürftiger    Zygoten    verschmelzen. 
Durch      nachträgliche     Rückgängigmachung     der 
hierbei    entstehenden    Chromosomenverdoppelung 
durch  eine  Reduktion  entsteht  ein  Phasenwechsel. 
Eine    Spezialisierung    der    Geschlechter 

(III)  führt  dabei  von  Isogametie  zur  Anisogametie 
unter  Wahrung  des  Entstehens  eines  fortpflan- 
zungsfähigen Individuums  als  Hauptzug.  Fort- 
schreitende Entwicklung  der  Sexualorgane 

(IV)  läßt  sich  besonders  bei  den  Algen  verfolgen, 
von  der  einfachen  Umwandlung  vegetativer  Zellen 
in    Gameten    beginnend    bis    zur    Bildung    hoch- 


komplizierter Gametangien.  Die  Pilze  zeigen 
demgegenüber  wieder  eine  fortschreitende  Re- 
duktion, wie  das  ähnlich  auch  für  die  Phanero- 
gamen  gilt.  Das  Vorkommen  einer  geschlecht- 
lichen und  einer  ungeschlechtlichen  Fortpflanzung 
nebeneinander  bedingt  dann  einen  Generations- 
wechsel (V)  zwischen  Gametophyt  und  Sporo- 
phyt,  bei  dem  anfangs  der  erstere,  dann  der  letz- 
tere überwiegt.  Im  engsten  Zusammenhang  da- 
mit steht  die  Differenzierung  der  sexuellen 
Individuen  (VI),  vom  Gameten  allmählich  über 
den  Gametophyten  zur  Spore,  und  weiter  auch 
über  den  Sporophylen  sich  ausdehnend,  wobei 
viele  Komplikationen  zu  berücksichtigen  sind.  — 
Parthenogenese  (VII)  als  Entwicklung  eines 
Eies  ohne  Befruchtung  zum  Sporophyten  wird 
mehr  anhangweise  behandelt.  Durch  Nichtberück- 
sichtigung der  Marchalschen  Moosversuche  und 
Beibehaltung  der  Theorie  von  der  doppelten  Ko- 
pulation bei  Ascomyzeten  verliert  der  Abschnitt 
an  Wert.  —  Zum  Schluß  wird  der  Versuch  ge- 
macht, zu  einer  Theorie  des  Geschlechts 
(VIII)  zu  gelangen.  Da  die  kausalen  Definitionen 
einer  Zelle  als  Geschlechtszelle,  Beweglichkeit, 
geringe  Größe,  Befruchtungsbedürftigkeit,  versagen, 
wird  ein  Gamet  final  definiert  als  eine  unter  dem 
Einfluß  gehemmten  Slofirwechsels  entstehende 
Zelle,  welche  nach  Fusion  mit  einer  anderen  zur 
Bildung  eines  neuen  Individuums  führt.  Aufgabe 
dieser  Fusion,  also  der  Sexualität  als  solcher,  ist 
aber  die  Erweiterung  und  Beschleunigung  der 
organischen  Evolution. 

Das  Büchlein  als  Ganzes  will  weniger  Neues 
bringen ,  als  Bekanntes  neu  darstellen.  Dabei 
zeichnet  es  sich  durch  hervorragend  klare  und 
übersichtliche  Entwicklung  eines  überall  festgehal- 
tenen Gedankenganges  aus,  so  daß  es  auch  für 
weitere  Kreise  biologisch  interessierter  Leser 
durch  seine  große  Überzeugungskraft  von  erheb- 
lichem Werte  sein  dürfte.         Prell,  Tübingen. 


Pietzsch,  Kurt,  Die  geologische  Literatur 
über    den    Freistaat    Sachsen    aus    der 
Zeit    1870  —  1920.      Veröffentlichungen    der 
Geologischen  Landesuntersuchung  von  Sachsen. 
Leipzig   1922. 
Als    erste  Veröffentlichung    der  Sachs.  Geolo- 
gischen   Landesuntersuchung    erschien    1874    die 
von  A.  Jentzsch  bearbeitete  Zusammenstellung 
der  „Geologischen  und    mineralogischen  Literatur 
des   Königreichs    Sachsen    und   der   angrenzenden 
Landesteile  von  1835  — 1873". 

Nunmehr  ist,  gewissermaßen  als  Fortsetzung 
dieser  ersten,  eine  zweite  vollständige  Zusammen- 
stellung der  über  Sachsen  vorliegenden  geologi- 
schen und  mineralogischen  Literatur  erschienen, 
die  die  Jahre  1870 — 1920  umfaßt.  K.  Pietzsch 
hat  sich  in  sehr  dankenswerter  Weise  dieser  um- 
fänglichen Arbeit  unterzogen.  Die  nicht  eben 
leichte  Aufgabe,  in  die  sehr  beträchtliche  wissen- 
schaftliche Literatur  dieser    50  Jahre  Ordnung  zu 


N.  F.  XXI.  Nr.  4  t 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


567 


bringen,  ist  in  glücklicher  und  übersichtlicher 
Weise  gelöst.  Die  „Geologische  Literatur  Sach- 
sens" wird  die  wissenschaftliche  Weiterarbeit  sehr 
erleichtern.  Sie  zeigt  klar  den  Einfluß,  den  die 
Geologen  und  Mitarbeiter  der  Landesuntersuchung 
auf  die  Entwicklung  der  Kenntnisse  des  heimat- 
lichen Bodens  ausgeübt  haben.  Ebenso  spiegelt 
sich  in  ihr  die  allgemeine  Entwicklung  der  geo- 
logischen Wissenschaft,  der  Wechsel  in  den 
Fragestellungen  und  in  der  Auswahl  der  am  ein- 
gehendsten behandelten  Stoffe  deutlich  wieder. 

Krenkel. 


Vageier,  P.,  Bodenkunde.  Zweite  völlig  um- 
gearb.  Aufl.     Sammlung  Göschen,   1921. 

Die  „Bodenkunde"  gibt  zunächst  die  Ent- 
stehung der  Böden  (Allgemeine  Übersicht;  boden- 
bildende Gesteine,  Pflanzen-  und  Tiergemein- 
schaften; die  bei  der  Bodenbildung  wirksamen 
Kräfte),  die  gegenwärtige  Verteilung  der  Boden- 
arten auf  der  Erde  und  die  physikalischen  und 
chemischen  Eigenschaften  des  Bodens.  Weiter 
werden  besprochen  die  Beziehungen  des  Bodens 
zur  Lebewelt,  und  zwar  der  Boden  als  Vorbe- 
dingung der  Verteilung  der  natürlichen  Pflanzen- 
und  Tierwelt  und  als  Vorbedingung  der  Land- 
wirtschaft und  damit  der  Verteilung  der  landwirt- 
schaftlichen Kulturgebiete  der  Erde.  Den  Schluß 
bildet  die  Bewertung  der  Böden  durch  die  land- 
wirtschaftliche Praxis. 

Die  ganze  Darstellung  ist  auf  durchaus  moder- 
nen Anschauungen  aufgebaut  und  wissenschaftlich 
trefflich  und  klar.  Doch  scheint  es,  als  ob  die 
gedrängte  Kürze ,  mit  der  nicht  immer  einfache 
Probleme  der  Bodenkunde  gebracht  werden,  hin 
und  wieder  nur  auf  Kosten  der  Verständlichkeit 
für  den  weniger  Eingeweihten  erreicht  ist. 

Nicht  einwandfrei  ist  der  Abschnitt  über  die 
bodenbildenden  Gesteine;  er  bedarf  dringend  der 
Umarbeitung.  Krenkel. 


Schröter,   C,    Die   Aufgaben    der   wissen- 
schaftlichen Erforschung  in  National- 
parken.    Handbuch  der  biologischen  Arbeits- 
methoden, Abt.  XI,  Teil  i,  Heft  2.     Berlin  und 
Wien   1922,  Urban  u.  Schwarzenberg. 
Auch  Schröter    bietet    nichts   über  die  Me- 
thoden    dieses    Arbeitsgebietes,     begründet    aber 
seine     dem    Titel     des    „Handbuchs"    nicht    ent- 
sprechenden Ausführungen  mit  folgenden  Worten: 
„Da    die    speziellen    Methoden    der    wissenschaft- 
lichen Untersuchung  hier  die  allgemein  gebräuch- 
lichen   sind,    erblicke    ich    meine  Aufgabe    nicht 
darin,    hier  die  biologischen    und    anderen  Unter- 
suchungsmethoden zu  beschreiben,  sondern  darin, 
ein  Untersuchungsprogramm  aufzustellen,  welches 
den    eigenartigen    Bedingungen,    die    in    der    Un- 
gestörtheit  der   Naturschutzgebiete  liegen,    beson- 
ders Rechnung   trägt."     Dann  wird  „Naturschutz- 
gebiet" definiert  und  sein  Zweck  dargelegt ;   über 


den  Umfang  des  Schutzes  und  den  Umfang  des 
Gebietes;  über  die  wissenschaftliche  Bedeutung 
dieser  Bestrebungen  und  endlich  über  die  spe- 
ziellen Aufgaben  der  wissenschaftlichen  Beobach- 
tung in  Naturschutzgebieten  gesprochen.  Schrö- 
ter gibt  nur  drei  größere  Gebiete  an,  die  nach 
einheitlichem  Plan  gründlich  erforscht  oder  in  der 
Erforschung  begriffen  sind:  das  Plage fenn  bei 
Chorin  in  der  Mark,  das  Sarekgebiet  in 
Schwedisch  -  Lappland,  den  Schweizerischen 
Nationalpark  im  Unter-Engadin. 

Hubert  Winkler,  Breslau. 


Behrmann,  Prof.  D.  W.,  Im  Stromgebiet 
des  Sepik.  Eine  deutsche  Forschungsreise 
in  Neu-Guinea.  Mit  lOi  Textabbildungen  und 
einer  Karte.  Berlin  1922,  A.  Scherl.  80  M. 
Der  Verf.  gehörte  als  Geograph  einer  Ex- 
pedition an,  die  im  Jahre  1912  vom  Reichskolo- 
nialamt nach  Neu-Guinea  gesandt  wurde.  Sie 
wurde  von  Stolle  geführt  und  hatte  die  Auf- 
gabe, das  Stromgebiet  des  Kaiserin- Augusta-Husses, 
der  an  seiner  IVIündung  den  inländischen  Namen 
Sepik  trägt,  zu  durchforschen.  Dieser  F"luß,  der 
ungefähr  die  Länge  des  Rheines  hat,  aber  erheb- 
lich größere  Wassermengen  führt,  wurde  zuerst 
1886  und  1887  von  Schrader  bis  weit  in  seinen 
Oberlauf  hinauf  befahren  und  auch  später,  wenn 
auch  nur  in  seinem  Unterlauf  berührt,  so  von  der 
Hamburger  Südsee-Expedition.  Man  gewann  da- 
mals Kenntnis  von  der  Bevölkerung  unmittelbar 
am  Flußufer  und  ihrer  hochstehenden  Kultur,  das 
von  dichtestem  Wald  bedeckte  Land  blieb  da- 
gegen ein  Geheimnis.  Selbst  die  im  übrigen  so 
erfolgreiche,  zum  Zwecke  der  Festlegung  der 
deutsch  holländischen  Grenze  1910  ausgesandte 
Expedition  unter  Leonhardt  Schulze  hatte 
sich,  den  Sepik  bis  zum  Oberlauf  verfolgend,  nur 
hier  im  Gebiet  des  Grenzmeridians  flächenhaft  aus- 
gebreitet und  das  Land  erkundet.  So  war  eigent- 
lich im  wesentlichen  nur  die  Küstenlinie  und  der 
Lauf  des  Sepik  bekannt,  der  größte  Teil  des 
Binnenlandes,  namentlich  die  Gebirgssysteme 
südlich  des  Flusses,  gänzlich  in  Dunkel  gehüllt. 
Während  etwas  später  im  Jahre  191 3  Thurn- 
wald  an  zwei  Stellen  nach  Norden  bis  zur  Küste 
vorstieß,  stand  der  Verf.  vor  der  Aufgabe,  an 
möglichst  vielen  Stellen  vom  Sepik  nach  Süden 
vorzudringen,  um  die  Bodenbeschafifenheit  zu  er- 
kunden. Das  war  mit  großen  Schwierigkeiten 
verbunden,  da  der  Sepik  von  ausgedehnten 
Sümpfen  umsäumt  ist  und  das  Land  unabsehbar 
weit  unter  ungeheuren  Wäldern  begraben  liegt. 
Der  Verf.  schildert  nun  einem  größeren  Publikum 
in  einer  frischen  Weise,  auf  die  noch  ein  Ab- 
glanz der  ersten  tlntdeckerfreude  fällt,  wie 
sich  die  Expedition  von  ihrem  Standlager  in 
Malu  aus  auf  zahlreichen  Zügen  durch  Sumpf 
und  Wald  in  das  Innere  des  Landes  hineinarbei- 
tete und  was  sie  erschaute  und  erlebte.  Dies  im 
einzelnen    wiederzugeben,    ist    nicht    am    Platze. 


568 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  41 


Man  folgt  dem  Verf.  dauernd  mit  größtem  Anteil, 
und  auch  der  Leser,  welcher  sich  gerne  spannen 
läßt,  findet  genug  Szenen  und  Begebenheiten  von 
romantischem,  ja  abenteuerlichem  Reiz. 

Von  den  Ergebnissen  sei  nur  hervorgehoben, 
daß  es  dem  Verf.  gelang,  das  Rückgrat  der  Insel, 
die  zentrale  Wasserscheide  zu  erreichen,  daß 
neben  anderen  ein  wichtiger  Seitenfluß  des  Sepik, 
der  Töpferfluß ,  entdeckt  und  festgelegt  wurde, 
der  sich  in  seinem  Oberlauf  bis  auf  wenige  Kilo- 
meter dem  zweiten  bedeutenden  Flusse  unserer 
ehemaligen  Kolonie,  dem  Ramu,  nähert.  Er- 
wähnenswert ist  noch  die  geschickte  Art,  wie  die 
Expedition  mit  den  Inländern  in  Verbindung  trat. 
Trotzdem  die  Mehrzahl  nie  oder  nur  sehr  selten 
einmal  mit  Fremden  in  Berührung  gekommen 
war  und  oft  eine  feindselige  Haltung  zeigte,  ge- 
lang es  fast  immer,  durch  besonnenes  Auftreten 
die  Bevölkerung  zu  beruhigen  und  zu  gewinnen 
und  Zusammenstöße  zu  vermeiden.  Man  möchte, 
wenn  das  nicht  ein  frommer  Wunsch  wäre,  dem 
Buche  viele  aufmerksame  Leser  in  jenen  Län- 
dern wünschen,  die  sich  nicht  genugtun  konn- 
ten in  der  gehässigsten  Beschimpfung  deutscher 
Kolonialtätigkeit.  Der  deutsche  Leser  möge 
aber  auch  aus  diesem  Buche  das  erhebende  Be- 
wußtsein von  den  großen  Leistungen  deutscher 
I^orscher  und  Pioniere  in  Übersee  schöpfen,  die 
nicht  vergebens  bleiben  werden  —  wenn  wir  sie 
nicht  vergessen  1  Miehe. 

Strömgren,  E.,  AstronomischeMiniaturen. 

Übersetzt  von  Bottlinger.     87  S.  m.   14  Abb. 

Berlin  1922,  J.  Springer.  36  M. 
Jedem  Liebhaber  der  Sternkunde,  der  sich 
über  die  neuesten  Forschungen  namentlich  auf 
dem  Gebiete  der  F"ixsternwelt  belehren  will,  kann 
die  kleine  Schrift  als  Ergänzung  größerer  Werke 
älteren  Datums  warm  empfohlen  werden.  Nach 
einem  Kapitel  über  die  Kometen  und  Meteore, 
in  dem  die  Erkenntnis,  daß  diese  Körper  dem 
Sonnensystem  angehören,  begründet  wird,  folgt 
ein  kurzer  Abschnitt  über  die  Sonne;  der  Haupt- 
inhalt des  Büchleins  bezieht  sich  jedoch  auf  die 
Fixsterne.  Es  werden  die  neueren  Begriffe  Par- 
sek, absolute  Größe  erklärt,  die  der  Sonne  be- 
nachbarten F'ixsterne  werden  in  ihrer  Lage  zu 
derselben  bildlich  dargestellt,  die  Beziehung  zwi- 
schen Eigenbewegung,  Radialgeschwindigkeit, 
Entfernung  und  Bewegungsrichtung  erläutert,  die 
zur  neueren  Entfernungsbestimmung  von  Stern- 
strömen (z.  B.  Hyaden)  führt.     Nachdem  ein  wei- 


terer Abschnitt  die  Sternspektren  und  ihre  Be- 
ziehung zur  absoluten  Helligkeit  und  Parallaxe 
gestreift  und  die  verschiedenen  Methoden  der 
Sternparallaxenbestimmung  übersichtlich  zusam- 
mengestellt hat,  sucht  Verf.  schließlich  von  der 
sehr  interessanten,  aber  schwer  verständlichen 
Methode  Michelsons  zur  Messung  kleiner 
Winkelabstände  am  Himmel  und  scheinbarer 
Fixsterndurchmesser  durch  Interferenzerscheinun- 
gen einen  Begriff  zu  geben.  Das  letzte  Kapitel 
endlich  entwirft  die  gegenwärtige  Lehre  der 
Sternentwicklung  vom  riesigen,  noch  kühlen  Gas- 
stern, der  sich  mehr  und  mehr  kontrahiert,  zum 
heißen,  weißen  Stern  und  schließlich  zum  wieder 
abgekühlten,  roten  Zwergen  und  die  neueste  Ver- 
vollkommnung dieser  Theorie  durch  Eddington, 
die  zu  sehr  bemerkenswerten  Ergebnissen  über 
die  Grenzen,  zwischen  denen  die  Massen  der  Fix- 
sterne eingeschlossen  sind,  geführt  hat.  —  Das 
sachlich  mit  diesen  sublimen  Forschungen  in  gar 
keinem  Zusammenhang  stehende,  auf  Seite  38 
eingeschobene  Kapitel  über  die  Berechnung  von 
Wochentagen  beliebiger  Daten  hätte  besser  fort- 
bleiben können.  Kbr. 


Literatur. 

Oltmanns,  Friedrich,  Das  Pflanzenleben  des  Schwarj- 
waldes.  I.  Text.  Herausgegeben  vom  Badischen  Schwarz- 
waldverein  1922. 

Oltmanns,  Friedrich,  Das  Pflanzenleben  des  Schwarz- 
waldes. II.  Bilder  und  Karlen.  Herausgegeben  vom  Badi- 
schen Schwarzwaldverein   1922. 

Klinckowström,  C.  von,  Die  Wünschelrute  als  wissen- 
schaftliches Problem.  Mit  Anhang :  Geophysikalische  Auf- 
Schlußmethoden.     Stuttgart  '22,   Konrad   Wittwer.      18  M. 

Wissenschaft  und  Bildung  175:  Wolff,  Dr.  Ferd.  von, 
Einführung  in  die  allgemeine  Mineralogie,  Kristallographie, 
Kristallphysik,  Mineralchemie.  Leipzig  '22,  Quelle  &  Meyer. 
Geb.  24  M. 

Aus  dem  Kaiser-Wilhelra-Inslitut  für  Kohlenforschung  in 
Mülheim-Ruhr.  Fischer-Schrader,  2.  Aufl.  Entstehung 
und  chemische  Struktur  der  Kohle.  Essen  '22,  W.  Girardet. 
Geh.  20  M.  und   10  "/(,  Teuerungszuschlag. 

Fischer-Geistbeck- Wagner,  Erdkunde  für  höhere 
Lehranstalten.  Einheitsausgabe.  i.  Teil:  Heimatkunde  als 
Zusammenfassung  des  Beobachtungsunterrichts.  Deutsche 
Landschaften.     München-Berlin  '22,  R.  Oldenbourg.      16  M. 

Bergens  Museums  Aarbok  1920 — 1921.  I.  Heft:  Natur- 
videnskabelig  Kaekke.  Bergen  '22,  A.  S.  John  Griegs  Bok- 
trykkeri  Og.  N.  Nilssen  &  S0n. 

Jäggli,  Dr.  Mario,  11.  Delta  della  Maggia  e  la  sua 
vegetazione.     Zürich   '22,  Rascher  vi  Co.     7  Fr. 

City  of  New  York  American  Museum  of  Natural  History 
1869 — 1921.     Fifty-Third   Annual  Report    for    the   Vear  1921. 

Sammlung  Göschen  3S3:  Werner,  Prof.  Dr.  Franz,  Das_ 
Tierreich.  III.  Reptilien  und  Amphibien.  I.Band:  Reptilien. 
Berlin-Leipzig  '22,  Vereinigung  wissenschaftl.  Verleger.    12  M. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav   Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'ichen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  15.  Oktober  1922. 


Nummer  43. 


Theoretische  Erwägungen  über  die  Entstehung  der  Alterserscheinungen 

und  des  Todes. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Theodor  Koppäuyi 


Wenn  wir  es  unternehmen  das  Problem  des 
Todes  zu  diskutieren,  so  müssen  wir  vor  allem 
einig  sein,  was  wir  eigentlich  unter  Tod  zu  ver- 
stehen haben.  Und  gleich  bei  der  begrifflichen 
Begrenzung  des  Todes  bieten  sich  nicht  geringe 
Schwierigkeiten  dar.  Daß  der  Tod  ein  Aufhören 
des  Lebens  bedeutet,  das  wissen  wir  alle.  Die 
Lebewesen  sind  stationäre  (im  Gegensatz  zu  den 
stabilen)  Systeme,  die  die  Eigenschaften  der  Er- 
nährung, des  Wachstums,  der  Fortpflanzung,  der 
Bewegung,  der  Reizbarkeit  und  der  Regulation 
aufweisen.  Morphologisch  aber  können  diese 
Systeme  aus  einer  oder  aus  mehreren  Lebens- 
einheiten, d.  h.  Zellen  bestehen.  Es  kann  daher 
vorkommen,  daß  in  einem  mehrzelligen  System 
einige  Zellen  den  Zusammenhang  mit  dem  Zellen- 
komplex verlieren  und  allmählich  alle  Eigen- 
schaften verlieren,  die  der  lebenden  Zelle  zu- 
kommen. Diese  Zellen  sterben  ab,  sie  werden 
nekrotisch.  Die  Erscheinung  kann  als  Zelltod 
bezeichnet  werden.  Allgemein  bekannt  ist  die 
Erscheinung,  daß  an  vom  Arzt  als  tot  bezeich- 
neten Menschen  die  Zellen  in  ziemlich  großer 
Anzahl  noch  lange  überleben  und  dann  erst 
serienweise  ihre  Funktionsfähigkeit  einbüßen.  Es 
gibt  also  einen  Zelltod  im  lebendigen  Einzel- 
wesen und  Zelleben  nach  dem  Tode  des  Einzel- 
wesens. Daraus  geht  hervor,  daß  der  Tod  nur 
dann  eintritt,  wenn  der  Organismus  aufhört  ein 
der  Außenwelt  gegenüber  handelndes  Wesen  zu 
sein.  Ein  abgegrenztes  der  Außenwelt  gegenüber- 
stehendes Lebewesen  wird  in  der  Biologie  als 
Individuum  bezeichnet,  daher  ist  der  Tod  nur  im 
Sinne  des  individuellen  Todes  zu  gebrauchen. 
Bei  den  vielzelligen  Tieren  ist  der  Tod  mit  der 
Anwesenheit  einer  Leiche  verknüpft,  da  nur 
wenige  Zellen,  wenige  Keimprodukte,  aus  dem 
zum  Zerfall  bestimmten  Zellstaate  gerettet  werden 
können.  Bei  den  Einzelligen  kann  das  Vergehen 
sich  darin  bekunden,  daß  die  Protistenzelle  sich 
in  zwei  Tochterzellen  teilt.  Sei  der  Tod  im  Zu- 
rückbleiben einer  Leiche  oder  in  Zellteilung  aus- 
gedrückt, immerhin  handelt  es  sich  um  ein  Auf- 
hören der  bisherigen  Individualität.  Ein  Indivi- 
duum ist  nicht  teilbar,  das  wissen  wir  erfahrungs- 
gemäß. Mit  dem  extrauterinären  Leben  des 
Kindes  haben  die  Ellern  ja  gar  keine  Gemein- 
schaft, und  genau  so  muß  es  sich  verhalten  mit 
der  Protistenmutterzelle.  Wenn  Doflein  daher 
sagt,  daß  der  Tod  der  Protisten  nur  ein  logischer 
Tod,  der  mit  der  Naturwissenschaft  gar  nichts  zu 
tun  hat,    kein  harter,    bitterer  Tod  ist,    da  er    die 


Leiche  vermißt,  so  müssen  wir  antworten,  daß 
Tod  und  Zelltod  nicht  identisch  sind.  Das  ist 
ja  mit  der  Homologie  der  Fortpflanzung  und  der 
Möglichkeit  von  in  vitro-Kulturen  genügend  er- 
klärt. 

Wenn  wir  über  die  kausale  Erforschung  des 
Todes  berichten  wollen,  so  versteht  es  sich  von 
selber,  daß  es  sich  da  nicht  um  die  Ursachen  des 
traumatisch-gewaltsamen  oder  durch  eine  Krank- 
heit hervorgerufenen  Tod  handeln  kann,  bei  dem 
die  Ursachen  von  Fall  zu  Fall  gegeben,  ver- 
schieden und  uns  teilweise  bekannt  sind.  Tod 
heißt  bei  uns  natürlicher  Tod,  welcher  durch 
einen  vorbereitenden  Alterungsvorgang  eingeleitet 
wird.  Es  wird  auch  behauptet,  es  gebe  keinen 
natürlichen  Tod,  da  es  kein  Altern  gibt,  das  nicht 
mit  gewissen  Krankheiten  identisch  wäre.  Unser 
natürlicher  Tod  wäre  demnach  ein  gewaltsamer, 
durch  Krankheit  bedingter  Tod.  Wenn  wir  unter 
Krankheit  eine  funktionelle  Abnormität  des  Or- 
ganismus verstehen,  so  ist  das  Altern  gewiß 
krankhaft,  wenn  es  nicht  wäre,  so  könnte  man 
es  von  der  Jugend  gar  nicht  unterscheiden  und 
führte  nicht  zum  Tode.  Für  die  Funktionsabnor- 
mitäten des  Alterns  ist  eben  das  charakteristisch, 
daß  die  bei  verschiedenen  Tiergruppen  in  ver- 
schiedenen konstanten  Zeitpunkten  in  stets  dem- 
selben Bild  erscheinen  und  praktisch  in  gleicher 
Weise  den  Tod  herbeiführen.  Ja  es  gibt  ganz  ob- 
jektive Merkmale  des  alternden  Organismus.  Man 
kann  ja  bekanntlich  einzelne  vom  Organismus 
entnommene  Gewebe  in  verschiedenen  Körper- 
flüssigkeiten dauernd  am  Leben  erhalten,  ja  sogar 
zum  Wachstum  reizen.  Nun  beobachtete  Ca rrel, 
daß  in  den  zum  Nährboden  dienenden  Körper- 
flüssigkeiten die  Gewebe  schneller  wachsen,  wenn 
der  Körperflüssigkeitsspender  jung,  und  langsamer, 
wenn  er  alt  war.  Strudelwürmer  können  nach 
Child  in  verdünnter  Alkohollösung  gedeihen. 
Junge  Individuen  gewöhnen  sich  eher  an  Alkohol 
als  alte  Exemplare.  Wiederherstellungsprozesse 
verlaufen  in  jungen  Individuen  viel  rascher  und 
günstiger  als  in  alten.  Wir  müssen  also  den 
natürlichen  Tod  als  ein  Endprodukt 
des  Alterns  auffassen  und  annehmen, 
daß  die  Ursachen  der  beiden  Phäno- 
mene identisch  sind. 

Jeder  Organismus  ist  mehr  oder  weniger  ein 
höchst  kompliziert  dififerenziert-integriertes  System. 
Im  Bereiche  dieses  Systems  hat  jedes  Organ  seine 
bestimmte  Rolle,  und  es  wäre  nicht  denkbar, 
daß  der  Organismus  als  Ganzes  betrachtet  werden 


5;o 


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könnte,  wenn  es  zwischen  den  Teilen  des  lebenden 
Körpers  keine  Harmonie  gäbe.  Im  lebenden 
Körper  herrscht  Harmonie,  die  einzelnen  Teile 
sind  einander  korreliert,  es  besteht  im  Organis- 
mus eine  bewundernswerte  Korrelation.  Wir 
haben  erwähnt,  daß  der  Zelltod,  also  das  Ab- 
sterben einzelner  Teile  im  lebenden  Körper,  von 
der  richtigen  Fassung  des  Todesbegriffes  aus- 
geschaltet werden  muß.  Es  besteht  also  nur  die 
IVIöglichkeit,  den  Organismus  als  Ganzes,  als  ein 
Korrelat  vom  Standpunkt  des  Todesproblemes 
aufzufassen,  ein  Gedanke,  auf  den  schon  Goette 
hingewiesen  hat.  Die  Korrelation  bedarf  ver- 
schiedener Bahnen,  die  diese  bewirken.  Es  gibt 
eine  physikalische  Korrelation,  geleistet  durch  das 
Nervensystem,  und  eine  physikalisch  -  chemische, 
geleistet  durch  die  Zirkulation.  Mit  der  dritten 
und  wichtigsten  Form ,  der  rein  chemischen, 
werden  wir  uns  später  beschäftigen.  Ich  möchte 
gleich  hier  meine  Erklärung  für  die  Todesursachen 
geben  und  dann  erst  die  Beweise  und  den  er- 
klärenden Wert  der  Hypothese  besprechen.  Diese 
Erklärung  ist  sehr  naheliegend,  fast  selbstverständ- 
lich; wenn  die  organische  Korrelation  aufhört, 
so  hört  auch  der  Organismus  als  Korrelat,  als 
harmonisches  System  auf.  Einzelne  Teile  können 
noch  überleben,  aber  nicht  im  Zusammenhange 
mit  anderen  Organen,  der  Organismus  hört  auf 
ein  Individuum  zu  sein.  Also  tritt  der  Tod  ein. 
Wenn  die  Zirkulationseinrichtungen,  die  die 
physikalisch  chemische  Korrelation  bewirken,  ver- 
sagen, was  infolge  eines  Aderlasses  bei  einem 
Tier  geschehen  kann,  und  wenn  die  anderen 
korrelativen  Bahnen  intakt  sind,  so  verursacht 
dieser  Eingriff  nicht  den  Tod  des  Versuchstieres. 
(Zumindest  nicht  infolge  ihrer  korrelativen  Tätig- 
keit.) Wenn  rechtzeitig  die  gesamte  Blutmenge 
des  Tieres  mittels  Transfusion  nicht  defibrinierten 
Blutes  ersetzt  wird,  so  erholt  sich  das  Tier. 
Ribbert  hat  in  einer  geistvollen  Abhandlung 
den  Tod  als  Gehirntod  bezeichnet,  d.  h.  der  in- 
dividuelle Tod  beginnt  dann,  wenn  die  Gehirn- 
tätigkeit aufhört.  Nach  unserer  Auffassung  liegt 
hier  ein  Versagen  der  physikalischen  Korrelation 
vor.  Ich  verkenne  keineswegs  die  Bedeutung,  von 
der  die  Nerventätigkeit  für  die  Individualität  ist, 
doch  glaube  ich,  daß  bei  der  Beurteilung  der 
Ausfallserscheinungen  d6s  Nervensystems  beson- 
ders aber  des  Gehirnes,  wie  überhaupt  der  an- 
geblichen Zentren  für  den  Tod  eine  Überschätzung 
vorliegt.  Vor  allem  könnte  dieser  Satz  nur  für 
die  Wirbeltiere  gültig  sein,  da  bei  den  Wirbel- 
losen das  Gehirn  bzw.  das  Zerebral-  oder  Ober- 
schlundganglion nicht  lebenswichtig  ist.  Dies 
haben  besonders  die  ausgezeichneten  Unter- 
suchungen Bethes  bei  den  Arthropoden  gezeigt. 
Aber  auch  für  die  Wirbeltiere  kann  der  Rib- 
bertsche  Satz  keine  Gültigkeit  beanspruchen. 
IVIeine  noch  unpublizierten  Versuche  ergaben,  daß 
die  Tritonen  ohne  Gehirn  lebens-,  ja  bewegungs- 
fähig sind.  Das  Psychische  muß  natürlich  bei 
der  Beurteilung  der  Todesfrage  wegfallen,  da  wir 


auch  ein  Tier  ohne  assoziatives  Gedächtnis  als 
lebend  bezeichnen  müssen,  da  doch  auch  ein 
großhirnloser  Hund  lebt.  Da  wir  Ichgefühle  nur 
dem  Menschen  zuzuschreiben  berechtigt  sind, 
müssen  derartige  Erwägungen  aus  dem  Spiele 
gelassen  werden.  Andererseits  aber  ist  das  Ge- 
hirn nicht  gar  so  empfindlich  wie  es  Ribbert 
meint.  Mit  Beihilfe  der  günstigen  Versorgung 
kann  man  ja  die  schon  eingestellte  Tätigkeit  des 
Gehirnes  wieder  zum  Aufleben  bringen.  Die 
Versuche  von  Guthrie  und  seinen  Mitarbeitern 
haben  gezeigt,  daß,  wenn  man  Hunde  derart  ent- 
hauptet, daß  die  Gehirne  keinen  Moment  lang  ohne 
Zirkulation  bleiben,  nach  dem  Eingriff  die  Atem- 
bewegungen und  die  Cornealreflexe  des  abgetrennten 
Kopfes  erlöschen.  Fünf  Minuten  später  traten  Atem- 
bewegungen am  Kopfe  auf  und  auch  Reflexe 
der  Hornhaut.  Nach  weiteren  drei  Minuten  konn- 
ten die  Experimentatoren  Bewegungen  der  Lider 
feststellen,  nach  22  Minuten  löste  ein  in  das  Maul 
gestecktes  Fleisch  Schluckbewegungen  aus.  Nach 
einer  halben  Minute  waren  diese  Reflexe  jedoch 
nicht  mehr  zu  konstatieren. 

Wir  können  also  die  Zirkulation  ebensowenig 
wie  das  Gehirn  für  den  Tod  verantwortlich  machen. 
Die  Ausfallserscheinungen  derselben  sind  meist 
sekundäre  Todesursachen.  Man  könnte  z.  B. 
nicht  die  Altersdegeneration  des  Wirbellosen- 
gehirnes für  den  Tod  verantwortlich  machen,  wenn 
das  Tier  ohne  Gehirn  weiterleben  kann. 

Gibt  es  noch  einen  Typus  der  Korrelation? 
Ja,  und  zwar  eine  solche,  die  auf  chemischem 
Wege  zustande  kommt.  Es  gibt  in  den  tierischen 
Organismen  Gebilde,  welche  äußerst  spezifische 
Reizstoffe,  sog.  Hormone  produzieren  und  mit 
diesen  Stoffen  Einflüsse  auf  andere  Organe  und 
auf  den  ganzen  Organismus  ausüben,  daher  er- 
halten sie  eminent  wichtige  Wechselbeziehungen 
zwischen  den  Teilen  des  Organismus  aufrecht.  Wir 
müssen  aber  diesen  hormonproduzierenden  Or- 
ganen, den  Blutdrüsen,  noch  eine  wichtige  Funk- 
tion zuschreiben.  Die  Blutdrüsen  sind  ausschlag- 
gebend für  die  Entwicklung  und  das  Wachstum 
der  organischen  Formen.  Sie  sondern  Reizstoffe 
ab,  welche  die  Entfaltung  somatischer  Merkmale 
direkt  hervorrufen  können.  Daher  kann  man 
manche  von  ihnen  als  wahre  Wachstumsdrüsen 
bezeichnen.  Wir  werden  noch  Gelegenheit  haben 
diese  Wirksamkeit  näher  zu  besprechen.  Jetzt 
müssen  wir  uns  aber  mit  dem  Zusammenhange 
der  Wachstumsprozesse  im  allgemeinen  beschäfti- 
gen. Unter  Wachstum  verstehen  wir  generell  die 
Zunahme  der  lebenden  Substanz.  Daß  die  Einfuhr 
und  Verarbeitung  fremder  Stoffe  und  Energien 
zum  Wachstum  allein  nicht  genügt,  daß  muß  jedem 
klar  sein,  da  der  Organismus  sich  auch  in  solchem 
Lebensalter,  vielleicht  sogar  besser,  ernährt,  wo 
keine  Spur  von  Wachstum  mehr  vorhanden  ist. 
Das  Wachstum  benötigt  eine  innere  Disposition, 
welche  eben  die  genannten  Reizstoffe  bedingen. 
Die  Hormone,  welche  im  Gegensatz  zu  den 
übrigen  Hormonen,  die  nur  für  die  physiologischen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Vorgänge  bestimmend  wirken,  somatische  Merk- 
male zur  Entfaltung  bringen,  werden  mit  G 1  e  y 
als  Harmozone  bezeichnet.  Diese  Harmozone 
sind  notwendig  zum  Wachstum.  Schon  R  u  b  n  e  r 
vertrat  die  Ansicht,  daß  das  Aufhören  der  Wachs- 
tumsphänomene die  eigentliche  Ursache  des  Todes 
darstellt.  Diesem  Satze  R  u  b  n  e  r  s  können  wir 
zustimmen,  nur  dessen  Begründung  nicht.  Wir 
sehen  es  nicht  ein,  warum  die  Folgen  des  „ein- 
seitigen Prozesses"  des  Kraftwechsels  durch  das 
Wachstum  vereitelt  werden  können,  ja  wir  wissen 
nicht  einmal,  warum  diese  Folgen  dem  Organis- 
mus vom  Nachteil  wären.  Wir  geben  seinem 
Satze  eine  viel  einfachere  Begründung.  Bei  einem 
nicht  mehr  wachsenden  Individuum  ist  mit  dem 
Ausfall  der  Harmozone  das  korrelative  Gleichge- 
wicht gestört.  Die  Einstellung  gewisser  Blut- 
drüsenfunktionen bewirken  abnorme  Funktionen 
anderer  inkretorischer  Organe,  welche  Störungen 
dann  im  Bilde  der  Seneszenz  zum  Vorschein 
kommen. 

Nun  fragt  es  sich  aber,  ob  die  Hypothese  auf 
einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  beruht,  ob  der 
Ausfall  der  formbildenden  Reizstoffe  tatsächlich 
solche  Veränderungen  hervorrufen  kann,  daß  er 
für  ein  Eintreten  der  Seneszenz  verantwortlich 
gemacht  werden  könnte.  Diese  Frage  können 
wir  nur  dann  lösen,  wenn  wir  die  morphogenetisch 
wirkenden  Organfunktionen  besprechen  und  dann 
die  Ausfallserscheinungen  derselben  uns  vergegen- 
wärtigen wollen. 

Die  Schilddrüse  ist  eine  der  wichtigsten  der 
inkretorischen  Drüsen.  Ihr  obliegt  die  wichtige 
physiologische  Tätigkeit:  die  Regulierung  des 
Stoff-  und  Energiewechsels,  außerdem  entfaltet  sie 
morphogenetische  Wirkungen.  Sie  wirkt  entschei- 
dend auf  den  Verlauf  der  Entwicklung  und  des 
Wachstums.  Hofmeister  und  Eiseisberg 
ermittelten  es  für  die  höheren  Säugetiere,  daß  bei 
jungen  Exemplaren  die  Exstirpation  der  Schild- 
drüse zur  Entwicklungshemmung  führt,  und  auch 
Wachstumsphänomene  derart  beeinträchtigt  wer- 
den, daß  es  zu  regressiven  Veränderungen  kommt. 
Bei  den  niederen  Wirbeltieren  liegen  die  Verhält- 
nisse genau  so,  auch  dort  ist  ja  die  Anwesenheit 
der  Schilddrüse  für  die  Entwicklung,  Metamorphose 
und  Wachstum  unbedingt  notwendig.  —  Was  ge- 
schieht nun,  wenn  dieses  Organ  in  seiner  hormon- 
produzierenden Tätigkeit  gestört  wird  ?  Wir 
kennen  zufällig  genau  eine  Krankheit,  die  zufolge 
einer  ungenügenden  Schilddrüsentätigkeit  eintritt. 
Diese  Krankheit  ist  das  Myxoedem.  Die  Krank- 
heit äußert  sich  im  Ausfallen  der  Haare  und  Zähne, 
in  dem  Faltigwerden  der  Haut.  Die  Körper- 
temperatur sinkt,  die  Schweißabsonderung  ist  un- 
zureichend. Die  Verdauung  ist  träge  und  der 
Stoffwechsel  stark  herabgesetzt.  Es  tritt  in  den 
Anfaiigsstadien  der  Krankheit  Fettsucht  und  dann 
eine  rasche  Abmagerung  ein.  Die  Geschlechts- 
organe werden  atrophisch,  die  psychischen  Po- 
tenzen nehmen  allmählich  ab  und  die  gesamte 
Nerventätigkeit   kann    als  herabgesetzt  bezeichnet 


werden.  Daß  dieses  Bild  mit  dem  der  Seneszenz 
übereinstimmt,  haben  schon  Horsley,  Lorand 
und  andere  betont,  die  auch  auf  die  gewebliche 
Degeneration  der  inkretorischen  Drüsen  bei  den 
Alterungsprozessen  hingewiesen  haben.  Bei  der 
Schilddrüse  haben  wir  ein  schönes  Beispiel,  wie 
die  physikalischen  Korrelationsbahnen  durch  die 
Störung  der  chemischen  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen werden  können,  daß  die  Veränderung  des 
Nervensystems  bei  dem  Altern  auch  eine  sekun- 
däre sein  kann.  Der  Kretinismus  ist  auch  auf 
eine  Hypofunktion  der  Schilddrüse  zurückzuführen. 
— '-  Auch  die  Nebenschilddrüsen  sind  lebenswichtige 
Organe,  die  wahrscheinlich  eine  ähnliche  Rolle 
wie  diese  haben. 

Die  Thymus  ist  im  intrauterinären  Leben  und 
im  frühesten  Kindesalter  ein  lebenswichtiges, 
morphogenetisch  wirkendes  Organ.  Wenn  man 
bei  I — 3  Wochen  alten  Tieren  die  Thymus  ent- 
fernt, so  tritt  eine  Entwicklungshemmung  des 
Knochengerüstes  ein,  es  kann  auch  Muskelatrophie 
erfolgen.  Mit  dem  Beginn  der  Keimdrüsentätigkeit 
bedarf  der  Organismus  nicht  mehr  der  Briesel- 
funktion  und  sie  wird  auch  involviert.  Interessant 
und  beweisend  für  das  notwendige  Hormongleich- 
gewicht im  Körper  ist  die  Tatsache,  daß,  wenn 
die  Thymus  sich  nicht  zurückbildet  (Thymus 
persistens),  unter  Umständen  ein  plötzlicher  Tod 
(mors  thymica)  eintreten  kann.  —  Daß  der  Briesel 
auch  ein  physiologisch  wichtiges  Organ  darstellt, 
zeigt  die  Tatsache,  daß  mittels  Injektion  von 
Thymus-Extrakten  die  Muskelermüdung  aufge- 
hoben werden  kann.     (H.  Müller,   Del  Campo.) 

Der  Gehirnanhang  (Hypophyse)  reguliert  bei 
sämtlichen  Wirbeltieren  die  Entwicklung  des 
Binde-,  Knorpel-  und  Knochengewebes.  Die  Ent- 
fernung des  Gehirnanhanges  bewirkt  regressive 
Entwicklung.  Von  der  Bedeutung,  die  der  Hypo- 
physe für  das  Wachstum  zukommt,  überzeugen 
uns  am  besten  Fälle,  bei  denen  wir  es  mit  der 
Überproduktion  der  Hypophysenhormone  zu  tun 
haben.  Dabei  kommt  es  nämlich  im  frühesten 
Alter  zu  einem  wirklichen  Riesenwuchs  (Gigan- 
tismus) ,  in  späteren  Lebensperioden  zur  Ver- 
größerung des  Unterkiefers  und  der  Gliedmaßen 
(Akromegalie  oder  Pachyakrie).  Bei  dem  Zwerg- 
wuchs (Nanismus)  werden  wir  es  vermutlich  mit 
der  Hypofunktion  des  Gehirnanhanges  zu  tun 
haben.  Als  eine  interessante  Tatsache  sei  er- 
wähnt, daß  der  magyarische  Paläontologe  Freiherr 
V.  Nopcsa  auch  die  riesenhafte  Körpergröße 
und  das  Aussterben  der  Dinosaurier  mit  der 
Überfunktion  des  Gehirnanhanges  in  Zusammen- 
hang bringt.  Seiner  Ansicht  nach  deutet  die 
ungewöhnliche  Größe  der  Knochengrube  an  der 
unteren  Schädelbasis  dieser  Saurier  auf  eine  Hyper- 
plasie der  Hypophyse.  Da  diese  Abnormität  erb- 
lich ist,  wird  auch  das  rasche  Untergehen  der 
Dinosaurus-Gattungen  versländlich. 

Die  Nebennieren  sind  eminent  lebenswichtige 
Organe,  deren  Entfernung  bei  den  meisten  Tier- 
arten den  Tod  zur  Folge  hat.     Auch  die  Neben- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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niere  nimmt  mit  ihren  Lipoidstoffen  unter  den 
morphogenetisch  wirkenden  Blutdrüsen  einen  vor- 
nehmen Platz  ein.  Außerdem  obliegt  ihr  die 
Regulierung  des  Tonus  der  Gefäßwände  und  da- 
mit des  Blutdruckes.  Nun  ist  jetzt  schon  eine 
allgemein  bekannte,  in  allen  Lehrbüchern  zitierte, 
hauptsächlich  von  J  o  s  u  e  entdeckte  Tatsache,  daß 
Nebennierenmarkextrakte  (Adrenalin)  eine  typische 
Verkalkung,  Atherosklerose  hervorrufen  können. 
Es  liegt  daher  sehr  nahe,  anzunehmen,  daß  die 
für  das  Altern  so  charakteristische 
Atherosklerose  einer  Nebennierendys- 
funktion  ihr  Dasein  verdankt. 

Außerdem  muten  wir  noch  den  Nebennieren 
eine  sehr  wichtige,  für  die  Seneszenz  äußerst  ver- 
hängnisvolle Funktion  zu :  die  Regulierung  des 
Pigmentstofifwechsels.  Schon  M  ü  h  1  m  a  n  n  gab 
seiner  Ansicht  Ausdruck,  daß  die  Nebennieren 
den  Tyrosinstoffwechsel  beherrschen.  Tyrosin  ist 
ein  Chromogen,  ein  Farbbildner,  der  mit  Zusatz 
eines  oxydativen  Fermentes,  der  Tyrosinase,  als 
Niederschlag  ein  melanolisches  Pigment  gibt.  Nun 
gibt  es  Ansichten,  nach  denen  Adrenalin  aus 
Tyrosin  entstehen  kann,  wir  benötigen  aber  diese 
Ansicht  ja  gar  nicht,  da  Tryptophan,  ja  auch  der 
wichtigste  Bestandteil  der  Nebenniere,  Adrenalin, 
als  Muttersubstanzen  des  melanotischen  Pigments 
dienen  können,  wie  dies  von  Meirowsky,  Neu- 
berg, Jager  u.  A.  gezeigt  worden  ist.  Diese 
fanden  nämlich  in  dem  menschlichenlntegument  und 
in  Melanosarkomen  ein  Ferment,  welches  nicht  das 
Tyrosin,  sondern  das  Adrenalin  zu  einem  dunklen 
Farbstoff  oxydierte.  Die  Addisonsche  Krankheit, 
die  sich  auch  in  einer  dunklen  Verfärbung  der 
Haut  (bronced  skin)  äußert,  beruht  auf  einer 
Hypofunktion  der  Nebenniere.  (Übrigens  hat 
auch  diese  Krankheit  viel  Ähnlichkeit  mit  den 
Alterungssymptomen.) 

Für  den  Vorgang  des  Alterns  ist  die  pigmen- 
töse  Degeneration  des  Nervensystems  sehr  charak 
teristisch.  Schon  Mü  hl  mann  betonte,  daß  das 
Alterspigment  tyrosinogen  sei,  wir  möchten  hin- 
zufügen, höchstwahrscheinlich  epinephrogen. 
Es  widerspricht  nicht  den  bisherigen  Erfahrungen, 
wenn  wir  annehmen,  daß  die  Entstehung  des 
Alterspigmentes  genau  so,  wie  die  Haut  Verfärbung 
auf  unrichtiger  Pigmentregulation  durch  die  Neben- 
niere beruht. 

Die  Pigmentdegeneration  im  Altern  ist  eine  nicht 
bloß  auf  die  Wirbeltiere  beschränkte  Erscheinung. 
Harms  und  andere  haben  gefunden,  daß  für  die 
Würmer  und  Arthropoden  ungefähr  dasselbe  gilt. 
Die  degenerativen  Prozesse  überfallen  am  deut- 
lichsten das  Nervensystem,  was  uns  ja  nicht 
wundern  kann,  wenn  wir  uns  vor  Augen  halten, 
daß  die  Adrenalinproduzenten  echte  Paraganglien 
sind,  welche  aus  den  Sympathogonien  sich  ent- 
wickeln. Außerdem  besteht  zwischen  Nerven- 
system und  Blutdrüsen  eine  innige  Beziehung, 
wir  kennen  Fälle,  wo  die  Hormon  Wirkung  nur 
via  Nervensystem  zur  Geltung  kommen  kann. 
Harms    hat    vor    kurzem    eine    sehr   bedeutsame 


Entdeckung  gemacht.  Er  fand  bei  Würmern 
(Gephyreen)  eine  nebennierenähnliche  Blutdrüse: 
das  Internephridialorgan,  dessen  Exstirpation  oder 
Hypofunktion  vollkommen  den  Symptomen  der 
Addisonschen  Krankheit  ähnelt.  Die  Haut  solcher 
der  genannten  Blutdrüse  beraubten  Tiere  wird 
grau,  dann  pechschwarz.  Das  Organ  ist  lebens- 
wichtig, die  dauernde  Abwesenheit  führt  zum 
Tode.  Haben  wir  hier  nicht  Beweise  für  die 
Möglichkeit  des  Zustandekommens  der  pigmen- 
tösen  Altersdegeneration  geleistet  durch  die  Neben- 
niere auch  bei  den  Wirbellosen  ?  Ist  da  nicht  eine 
Übereinstimmung  zwischen  Evertebraten  und 
Vertebraten  zu  konstatieren?  Die  Afunktion  des 
Adrenalinproduzenten  führt  bei  allen  untersuchten 
Tieren  zur  Pigmentanhäufung. 

Wir  haben  in  diesen  morphegenetischwirkenden, 
lebenswichtigen  Organen  Systeme  kennen  gelernt, 
die  eminent  lebenswichtig  sind ,  deren  Ausfall 
typische  Cachexie-  und  Comaerscheinungen  her- 
vorruft. Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß 
diese  Cachexie erscheinungen  der  Alters- 
cachexie  ähneln. 

Nun  wäre  noch  ein  Organ  zu  besprechen,  das  zwar 
imstande  ist,  morphogenetische  Prozesse  hervor- 
zurufen, dessen  Ausfall  aber  keine  Cachexie  bewirkt, 
also  nicht  lebenswichtig  ist.  Dieses  Organ  ist  die 
Keimdrüse.  Die  Entfernung  der  Keimdrüse,  die 
Kastration,  bewirkt  zwar  Veränderung  im  Habitus, 
aber  keine  Hemmung  des  Wachstums.  Sie  ist  so 
wenig  lebenswichtig,  daß  bei  den  Pflanzen  mittelst 
Kastration  sogar  eine  Verlängerung  des  Lebens 
erzielt  werden  kann. 

Und  gerade  bei  dieser  Drüse  ist  es  Steinach 
gelungen,  durch  die  Neubelebung  derselben  im 
alten  Organismus  einen  gewaltigen  Aufblühungs- 
effekt  hervorzurufen.  Der  Effekt  wäre  gar  nicht 
verständlich,  wenn  wir  es  nicht  wüßten,  daß 
zwischen  allen  Blutdrüsen  ein  inniger  Zusammen- 
hang besteht,  daß  durch  die  Überproduktion  einer 
die  anderen  auch  in  Hyperfunktion  geraten  können. 
So  kann  z.  B.  bei  der  Akromegalie  nicht  nur  eine 
Hyperfunktion  der  Hypophyse,  sondern  auch  der 
Schilddrüse,  des  Thymus  und  der  Keimdrüse 
festgestellt  werden.  Genau  so  verhält  sich  die 
Keimdrüse  in  bezug  auf  andere  inkretorische  Or- 
gane. 

Immerhin  bleibt  noch  die  Frage  offen,  wie 
wir  bei  der  Anwendung  unserer  Hypothese  die 
zum  Tode  führenden  Prozesse,  nämlich  den  Weg- 
fall der  Harmozone  beseitigen  können.  Den  Weg 
hat  Steinach  angebahnt.  Die  Keimdrüse  hat 
sicher  einen  Einfluß  auf  die  Arbeitsleistung  des 
Körpers,  das  haben  die  ergographischen  Versuche 
von  Zoth  gezeigt.  Sind  aber  keine  anderen  Or- 
gane da,  dessen  Substitution  auf  Grund  unserer 
Hypothese  dies  besser  leisten  könnten.? 

Da  sind  die  Harmozonproduzenten,  deren  Ver- 
sagen nach  dem  Stillstehen  des  Wachstums  auch 
in  anatomischen  Veränderungen  ausgeprägt  ist. 
Das  ist  ja  der  Gedanke  Bütschlis,  der  die  Ur- 
sache des  Todes  in  einem  allmählichen  Verbrauch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


573 


(wir  sagen  Ausbleiben)  der  zum  Leben  notwendi- 
gen Fermentstoffe  erblickte.  Wir  müssen  daher 
die  Harmozone  dem  alternden  Organismus  zurück- 
geben, damit  das  korrelative  Gleichgewicht  nicht 
gestört  werde.  Die  Substitution  der  Schilddrüse 
mittels  Transplantation  jungen  Thyreoideal- 
gewebe  (die  bei  Basedow- Kranken  in  genügender 
Anzahl  entfernt  wird  und  daher  zur  Verfügung 
steht)  könnte  nach  unseren  Anschauungen  das 
korrelative  Gleichgewicht  wiederherstellen.  Ebenso 
könnte  man  Fall  zu  Fall  mit  anderen  jugendlichen 
funktionstüchtigen  Blutdrüsen  experimentieren. 
Es  besteht  die  Hoffnung  nach  anderen  Versuchen, 
daß  nach  der  Überpflanzung  selbst  das  bisher  trag 
oder  gar  nicht  funktionierende  Organ  zur  ge- 
steigerten Tätigkeit  gereizt  werden  könnte.  Dies- 
bezügliche Tierversuche  werde  ich  zur  Befestigung 
meiner  Hypothese  in  der  nächsten  Zukunft  aus- 
führen. 

Nun  gäbe  es  noch  einige  Fälle  zu  be- 
sprechen ,  die  den  erklärenden  Wert  der  Hypo- 
these noch  mehr  demonstrieren.  So  wäre  es  zu- 
nächst noch  zu  bemerken,  daß  bei  den  Einzelligen 
gerade  die  Störung  der  Kcrnplasmarelation ,  also 
eine  Störung  der  Korrelation,  den  Tod,  bzw.  die 
Zellteilung  hervorruft. 

Auch  die  Befunde  von  Carrel  können  von 
unserem  Standpunkte  erklärt  werden :  in  der 
Körperflüssigkeit  des  jungen  Spenders  sind  Har- 
mozone anwesend,  die  nur  ihre  wachstumsfördernde 
Wirkung  äußern. 

Weiter  fragt  es  sich,  auf  welche  Art  und 
Weise  können  wir  nach  unseren  Anschauungen 
die  Abnahme  bzw.  das  Ausbleiben  der  Reparations- 
prozesse im  Alter  erklären  ?  Gerade  hier  sind 
wir  imstande  den  erklärenden  Wert  unserer  Hypo- 
these am  besten  zu  demonstrieren.  Walt  her 
hat  nämlich  ermittelt ,  daß  bei  den  Tritonen  die 
Exstirpation  der  Schilddrüse  eine  Unfähigkeit  zur 
Regeneration  verursacht.  Es  ist  somit  klar,  daß 
die  Hypofunktion  der  Thyreoidea  eine  Abnahme 
der  Restitutionsfähigkeit,  die  Afunktion  dieser 
Blutdrüse  das  gänzliche  Aufhören  des  Ersatz- 
wachstums bedeutet. 

Man  macht  und  mit  Recht  für  manche  Alters- 
veränderungen Vergiftungsprozesse,  Intoxikationen 
verantwortlich.  D.  h.,  daß  die  Exkretionsapparate 
die  anhäufenden  giftigen  Produkte,  nicht  im  not- 
wendigen Maße  ausscheiden  können.  Das  erklärt 
sich  zwanglos  aus  unserer  Hypothese.  Schon 
Wiesel,  Schur,  Darre,  Parisotu.  A.  haben 
darauf  hingewiesen,  daß  die  Dysfunktion  der 
Nebenniere  schwere  Nierenschädigungen  verur- 
sacht. In  neuester  Zeit  aber  haben  Marschal 
und  Davis  entdeckt,  daß  bei  der  Exstirpation 
der  Nebennieren  die  exkretorische  Tätigkeit  der 
Nieren  stark  herabgesetzt  wird.  —  So  erklärt  sich 
die  Intoxikation    aus   dem  Wegfall  der  Hormone. 

Gegen  Diabetes  ist  der  jugendliche  Organismus 
viel  weniger  widerstandsfähig  als  der  alte.  Nun 
ist    aber    ermittelt    worden,    daß   der  Wegfall  der 


Schilddrüsenhormone  die  Bauchspeicheldrüse  (deren 
Erkrankung  für  den  menschlichen  Diabetes  ver- 
antwortlich gemacht  wird)  zur  gesteigerten  Funk- 
tion reizt. 

Die  kleinen  Verschiedenheiten  in  der  Morpho- 
genese der  beiden  Geschlechter  werden  auch  da- 
durch verständlich,  daß  die  Nebennieren,  wie  das 
K  o  1  m  e  r  ermittelte,  echte  sekundäre  Geschlechts- 
merkmale darstellen  und  daß  die  wichtigste  Blut- 
drüse, die  Schilddrüse,  bei  den  beiden  Geschlech- 
tern von  verschiedener  Größe  ist. 

Die  Abnahme  der  psychischen  Fähigkeiten  er- 
klärt sich  auch  aus  dem  Wegfall  der  Schilddrüsen- 
hormone. 

Man  könnte  aber  zum  Schlüsse  fragen,  ja, 
warum  hört  plötzlich  die  Harmozonproduktion 
und  damit  das  Wachstum  auf? 

Auf  diese  Frage  kann  ich  eine  Antwort  geben, 
die  mir  plausibel  scheint  und  das  fußt  auf  den 
Ideen  Boltzmanns  und  Hasenöhrls.  Boltz- 
mann  hat  bekanntlich  die  Entropie  als  einen 
Übergang  vom  unwahrscheinlicheren  Zustande 
in  das  Wahrscheinliche  definiert.  Hasenöhrl 
fragte  nun:  daß  sich  in  einem  nach  Außen  abge- 
schlossenen Quantum  Wasser  und  Luft  aus  einem 
Samen  eine  Pflanze  bildet,  ist  das  ein  Übergang 
vom  Unwahrscheinlichen  ins  Wahrscheinliche  ? 
Nein,  es  scheint  uns  dies  von  vornherein  ein 
Übergang  von  Wahrscheinlichem  zu  Unwahr- 
scheinlichem. Ich  möchte  noch  hinzufügen: 
Ist  die  wunderbare  Harmonie  des  Körpers, 
das  Hormongleichgewicht  und  die  daraus  resul- 
tierenden morphogenetischen  Prozesse  nicht  et- 
was höchst  unwahrscheinliches?  Die  geringste 
Störung  muß  wieder  zum  Zustande  der  Wahr- 
scheinlichkeit führen.  Das  Unwahrscheinliche  muß 
zusammenbrechen,  um  in  einem  wahrschein- 
licheren Zustande  übergehen.  Die  Lebensdauer 
wäre  mit  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  be- 
stimmbare Zeit,  die  sich  aus  der  Dauerfahigkeit 
der  Harmozonproduzenten  und  des  Hormon- 
gleichgewichtes ergibt.') 

Natürlich  ist  diese  Hypothese  nur  ein  Versuch 
bekannte  Tatsachen  zu  erklären  und  sie  führt 
sicherlich  nicht  zur  Befriedigung.  Aber  gerade 
das  ist  das  Schöne  an_  der  Forschung,  daß  man 
immer  deutlicher  bemerkt,  wie  wenig  wir  wissen 
und  wieviel  zu  erschließen  ist,  daß  man  mit  Re- 
sultaten nie  zufrieden  sein  kann,  daß  gerade  dies 
der  Wissenschaft  die  Ewigkeit  sichert,  der  Wissen- 
schaft, die  nach  den  schönen  Worten  v.  Baers 
„ewig  in  ihren  Quellen,  unermeßlich  in  ihrem 
Umfange,  endlos  in  ihrer  Aufgabe,  unerreichbar 
in  ihrem  Ziele  ist"  (zit.  nach  Nusbaum). 

')  Dieser  Satz  soll  nicht  etwa  als  ein  Ausgleich  mit  den 
Abnützungshypothesen  aufgefaßt  werden.  Unserer  Meinung 
nach  handelt  es  sich  hier  um  eine  nachweisbare  Wechsel- 
beziehung zwischen  inneren  und  äußeren  Kaktoren.  Die  Rück- 
bildung der  Thymus  wird  durch  die  beginnende  Keimdrüsen- 
inkretion verursacht,  und  da  die  Blutdrüsen  größtenteils  emp- 
findliche Epithelien  sind,  ist  ihre  Abhängigkeit  von  schäd- 
lichen Aufienfaktoren  (Hitze  usw.)  eine  ziemlich  große. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Die  Eutstehuug  der  diluvialen  Kalktuffe  des  Ilmtales  bei  Weimar. 


[Nachdruck  verboten.)  Von    Dr.    Frit 

Als  vom  4. — 6.  August  d.  J.  in  Weimar  der 
Verband  Deutscher  Vorzeitforscher  tagte,  standen 
im  Vordergrunde  des  wissenschafthchen  Interesses 
die  zwischeneiszeitlichen  Kalktuffe  von  Weimar — 
Taubach — Ehringsdorf  mit  ihrer  Fülle  von  pflanz- 
lichen und  tierischen  Versteinerungen,  unter  denen 
die  beiden  1914  und  1916  im  Kämpfeschen  Stein- 
bruch gefundenen  menschlichen  Unterkiefer  die 
größte  Bedeutung  haben,  und  ihrem  Reichtum  an 
Feuersteinwerkzeugen  der  Altsteinzeit,  die  Ehrings- 
dorf zur  wichtigsten  altvorge>-chichtlichen  Fund 
Stätte  Norddeutschlands  machen.  Geschlagene 
Feuersteine  waren  zwar  in  den  Kalktuffbrüchen 
von  Taubach  schon  seit  den  70  er  Jahren  bekannt, 
aber  erst  der  Abbau  in  den  Ehringsdorfer  Brüchen 
ergab  die  wunderschönen  Sammlungen  wirklich 
bearbeiteter  Werkzeuge,  die  durch  das  Entgegen- 
kommen der  Steinbruchsbesitzer  in  ihrer  Gesamt- 
heit als  dauernde  Leihgabe  an  das  Naturhistorische 
Museum  zu  Weimar  kamen  und  dieses  damit  zu 
einer  der  wichtigsten  Stätten  deutscher  prähisto- 
rischer Forschung  machten. 

Über  die  Entstehung  der  Kalktuffe,  die  diese 
wertvollen  Schätze  bergen,  herrscht  vielfach  noch 
wenig  Klarheil,  so  daß  es  mir  lohnend  erscheint, 
den  Inhalt  meines  Vortrages,  gelegentlich  der 
Führung  der  Teilnehmer  des  Verbandes  Deutscher 
Vorzeitforscher  nach  Ehringsdorf,  weiteren  Kreisen 
zugänglich  zu  machen. 

Unter  „Kalktuff"  versteht  man  einen  meist 
porösen,  lockeren  an  der  Oberfläche  der  Erde 
gebildeten  Süßwasserkalk  (in  Italien  lapis  tibur- 
tinus  =  Tibergestein  genannt,  woraus  der  auch  in 
Deutschland  gebräuchliche  Ausdruck  „Travertin" 
geworden  ist),  während  die  in  Höhlen,  also  im 
Innern  der  Erde  durch  Verdunstung  kalkhaltigen 
Wassers  entstandenen  dichten  Kalkausscheidungen 
(Tropfsteine  u.  a.)  als  „Kalksinter"  bezeichnet 
werden.  „Seekreide  und  Wiesenkalk"  dagegen 
sind  Kalkabsätze  am  Grunde  von  Seen  oder 
flachen  Gewässern,  also  in  ihrer  Entstehung  und 
Struktur  grundsätzlich  verschieden  von  dem  Kalk- 
tuff, der  ein  Absatz  aus  Quellwasser  ist.  Wenn 
demnach  früher  die  Ansicht  verbreitet  war,  daß 
die  Ilmtalkalktuffe  in  einem  großen  See  ent- 
standen wären,  so  ist  diese  Deutung  schon  aus 
petrogenetischen  Gründen  völlig  irrig,  weil  dann 
Seekreide  hätte  entstehen  müssen,  in  der  sich 
ausschließlich  die  Reste  von  Wassertieren  und 
■pflanzen  vorgefunden  hätten.  Da  wir  außerdem 
wissen,  daß  am  Grunde  der  Kalktuffe  grobe 
Schotter  einer  eiszeitlichen  Um  liegen,  also  ein 
durchgehendes  ehemaliges  Flußtal  vorhanden  war, 
so  hätte  zuerst  eine  Sperrmauer  von  etwa  20  m 
Höhe  bei  Weimar  aufgerichtet  werden  müssen, 
um  das  Ilmwasser  so  hoch  aufzustauen,  daß  sich 
ein  16 — 18  m  mächtiges  Kalktufflager  in  dem 
entstandenen  Stausee  hätte  bilden  können.     Solche 


z  AViegers. 

Werke  der  modernen  Technik  aber  hat  der 
Neandertaler  noch  nicht  gebaut. 

Die  richtigen  Hinweise  für  die  Erklärung  der 
Bildung  des  Kalktuffes  geben  uns  die  Pflanzen 
und  Tiere,  die  in  ihm  erhalten  geblieben  sind, 
und  die  allgemeine  geologische  Lagerung.  Die 
Ufer  der  diluvialen  Um  werden  gebildet  von  den 
Schichten  des  Muschelkalks,  auf  den  sich  nach 
Norden  zwischen  Taubach,  Umpferstedt  und  Tie- 
furt  der  Untere  Keuper  auflegt.  Das  Ilmtal  selbst 
ist  aber  kein  reines  Erosionstal,  das  der  Fluß  sich 
ausgenagt  hat,  sondern  es  ist  ein  sogenannter 
„Graben",')  der  dadurch  entstanden  ist,  daß  ein 
ungefähr  i  km  breiter  Streifen  des  Geländes  um 
etwa  120  m  in  die  Tiefe  gesunken  ist,  wodurch 
die  weichen  Mergel  des  Mittleren  Keupers  in 
gleicher  Höhe  neben  die  harten  Bänke  des  Oberen 
Muschelkalks  gelagert  wurden.  In  diesen  weichen, 
wenig  widerstandsfähigen  Mergel  nagte  sich  die 
Um  ihr  Bett  und  lagerte  während  der  zweiten 
Eiszeit  eine  Schotterterrasse  aus  bis  faustgroßen 
Thüringerwaldgesteinen  ab,  die  mit  wenigen  nor- 
dischen Gesteinen  vermischt  sind.  Hierauf  folgt 
zunächst  eine  0,5  m  mächtige  grünliche  Ton- 
schicht, entstanden  bei  den  Überschwemmungen 
des  Flusses,  wie  noch  unser  heutiger  Eibschlick 
bei  regelmäßig  eintretendem  Hochwasser  aus  der 
tonigen  Flußtrübe  sich  niederschlägt.  Über  dem 
Ton  liegt  der  Kalktuff. 

Durch  die  Einsenkung  des  Ilmgrabens  und  die 
dadurch  veränderte  Lagerung  der  Schichten  folgte, 
daß  die  wasserdurchlässigen  klüftigen  Kalke  des 
Oberen  Muschelkalks  in  der  Horizontalen  un- 
mittelbar gegen  die  undurchlässigen  tonigen  Mer- 
gel des  Mittleren  Keupers  stießen.  Da  auch  der 
Mittlere  Muschelkalk  tonig  ausgebildet  ist,  so 
mußte  sich  über  ihm  ein  Grundwasserhorizont 
ansammeln,  dessen  Wasser  schließlich  in  einer 
Reihe  von  „Verwerfungsquellen"  längs  der  Ver- 
werfungsspalte zum  Überfließen  kam.  Dieses 
Wasser  hatte  beim  Durchsickern  des  Oberen 
Muschelkalks  eine  Menge  Kalk  gelöst  und  zwar 
in  der  Form  des  doppeltkohlensauren  Kalkes 
Ca(Co^)^,  den  es  nun  beim  Überrieseln  der  Ilmaue 
wieder  abgab,  sobald  die  Pflanzen  durch  Entnahme 
von  einem  Molekül  Kohlensäure,  die  Lösungs- 
fähigkeit des  Wassers  soweit  vermindert  hatten, 
daß  ein  einfachkohlensaurer  Kalk  ausfiel.  Als 
feststehende  Tatsache  muß  also  zunächst  gelten, 
daß  Quellen  die  erste  Ursache  der  Entstehung 
des  Kalktuffes  sind.  Nun  haben  sich  an  organi- 
schen Einschlüssen  in  ihm  zahlreiche  Pflanzen- 
und  Tierreste  gefunden ,  die  auf  die  biologischen 
Entstehungsbedingungen       Licht      werfen.  B. 


')  P.  Michael,  Die  Ilmtalslörung  bei  Weimar.  Jahr- 
buch der  Geolog.  Landesanstalt  1916,  Bd.  37,  I,  S.  415 — 442. 
3  Taf. 


N.  F.  XXI.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


575 


Hergt')  hat  die  Flora  des  Travertins  be- 
schrieben und  41  Arten  bestimmt.  Wenn  wir 
die  Liste  überfliegen,  so  finden  wir  eine  sehr 
gemischte  Gesellschaft,  nämlich  Wasserpflanzen, 
Sumpfpflanzen  und  Landpflanzen.  Wasserbe- 
wohner sind  die  Grünalgen  (Conferven)  und  die 
Armleuchtergewächse  (Chara  hispida  L.),  die  am 
Grunde  von  flachen  Teichen  25  —  30  cm  hohe 
Unterwasserwiesen  bilden.  Von  den  Moosen  leben 
das  Ouellenmoos  (Fontinalis  antipyretica)  und 
das  flutende  Astmoos  (Hypnum  fluitans)  im  Wasser, 
während  das  Kranzastmoos  (Hypnum  triquetum) 
meist  an  trockenen  waldigen  Stellen ,  aber  auch 
auf  Wiesen  vorkommt.  Schachtelhalm,  Schilf 
(Phragmites  communis),  Wasserschwaden  (Glyceria 
aquatica),  Minze  u.  a.  sind  ausgesprochene  Sumpf- 
pflanzen, ebenso  wie  die  verschiedenen  Weiden- 
arten (Salix  caprea  und  S.  aurita)  und  die  Schwarz- 
erle am  Rande  der  Gewässer  wachsen.  Dagegen 
sind  Birken,  Hasel,  Eichen,  Linde,  Ahorn,  Hart- 
riegel, Walnuß,  Wilder  Apfel,  Mehlbeere  (?),  Hecken- 
rose, Lebensbaum,  Fichte  und  Kiefer  Waldbäume 
und  -Sträucher,  die  z.  T.  sehr  trockene  Böden 
vorziehen,  wie  auch  das  felsenbewohnende  Bart- 
moos (Barbula  muralis).  Von  der  Kiefer  sind 
zahlreiche  Zapfen  und  Nadeln,  so  wie  auch  ein 
ganzer  benadelter  Zweig  gefunden  worden,  und 
sehr  häufig  sind  die  Blattabdrücke  des  Hasel- 
strauches; die  anderen  Pflanzen  sind  seltener. 
Bemerkenswert  sind  2  Abdrücke  von  Hagebutten 
(Rosa  canina)  und  die  in  Ehringsdorf  gefundenen 
Platten  mit  Abdrücken  von  Äpfeln.  Sehr  be- 
zeichnend ist  ferner,  daß  sich  sowohl  der  Keim- 
ling einer  dikotylen  Pflanze,  wie  Reste  ganzer 
Baumstämme,  sowie  ein  Stück  vielleicht  zu  Betula 
gehöriger  Rinde  im  Kalktuff  erhalten  haben  und 
A.  Weiss-)  erwähnt  aus  dem  Hirschschen  Stein- 
bruch bei  Weimar  aufrecht  stehende  Baumstämme, 
leider  ohne  Angabe,  was  es  für  Bäume  waren, 
und  aus  welcher  Schicht  sie  stammen. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
genannten  Pflanzen  sämtlich  bodenständig  waren, 
und  daß  sie  nicht  durch  Einschwemmung  in  die 
vorhandenen  Teiche  gekommen  sind.  Nach  He  r  g  t 
geben  die  Platten  mit  dem  Pomaceen  -  Früchten 
, .vollständig  das  Bild  des  unter  der  Baumkrone 
befindlichen  schlammigen  Bodens  wieder,  in  den 
die  herabfallenden  Früchte  sich  eindrückten.  Die 
eine  Platte  enthält  über  50  solcher  Eindrücke  von 
Früchten  mit  bis  zu  3,5  cm  großem  Durchmesser; 
einige  Abdrücke  zeigen  mehr  oder  minder  deut- 
lich das  Kerngehäuse".  ■ — 

Der  Kalktuff  tritt  uns  in  den  Brüchen  in  drei- 
facher Form  entgegen :  Als  fester  Kalkstein  (Werk- 
bankkalkstein),  als  poröser  Kalkstein  und  als 
pulvriger  Kalkstein  (Scheuer-,  Tuff-  oder  Knochen- 
sand); er  ist  bald  dickbankig,  bald  dünnplattig, 
schwach    geneigt    nach    der    Um;    die    Schichten 

')  B.  Hergt,  Die  Flora  der  Travertine  von  Weimar  und 
Ehringsdorf.     Weimar  19 12. 

^)  A.  Weiss,  Das  Pleistozän  der  Umgegend  von  Weimar. 
Hildburghausen. 


keilen  meist  linsenförmig  aus.  Wir  finden  alle 
Übergänge  vom  festen,  harten  Kalkstein  bis  zum 
losen  Kalksand ;  die  harten  Werksteinbänke  sind 
häufig  von  Schilfstengeln  durchzogen  und  Schilf 
wächst  mit  Vorliebe  am  Rande  flacher  Gewässer. 
Nun  wissen  wir  aus  den  Untersuchungen  von 
S.  Passarge,  ^)  daß  in  den  Schilfregionen  unserer 
Seen  die  Algen  eine  große  Rolle  spielen  und  zwar 
die  Spaltalgen,  Schizophyceen  (Nostoc-Arten)  und 
die  Grünalgen  (Confervoideen),  denen  eine  starke 
kalkabscheidende  Tätigkeit  zukommt,  wodurch  die 
Zwischenräume  zwischen  den  inkrustierten  Stengeln 
höherer  Pflanzen  ausgefüllt  werden. 

Man  könnte  sich  also  vorstellen,  daß  die 
Schilfzone  eines  Teiches  durch  allmähliche  Inkru- 
stierung mit  Kalk  in  einen  zunächst  weichen  und 
lockeren  Kalktuff  umgewandelt  würde,  in  dem  die 
im  Wasser  lebenden  Schnecken  ebenfalls  einge- 
bettet werden.  Dieser  Annahme  steht  aber  die 
Tatsache  entgegen,  daß  die  Pflanzensubstanz  des 
Schilfs  und  der  Algen,  wenn  sie  unter  Wasser 
verwest,  Humussäuren  bildet,  die  den  Kalk  durch 
Bildung  von  Kalkhumaten  in  Kalkschlamm  um- 
wandelt und  daß  auch  die  Molluskenschalen,  die 
im  Kalktuff  in  schönen  dickwandigen  Exemplaren 
enthalten  sind,  durch  die  Humussäuren  stark  zer- 
setzt oder  ganz  zerstört  werden.  Ebeilfeo  verhält 
es  sich  mit  dem  CharaRasen,  der  von  einem 
dichten  Netz  von  Algen  übersponnen  ist.  Trotz- 
dem die  Charen  ihre  Stengel  mit  einer  dicken 
Kalkkruste  überziehen ,  wird  diese  durch  die 
Humussäuren  völlig  in  einen  weichen,  weißlich- 
gelblich-grauen  Schlamm  umgewandelt.  Im  Ilmtal 
aber  ist  ein  lockerer  oder  nur  schwach  verkitteter 
Kalksand,  der  als  „Scheuersand"  verkauft  wird 
und  kein  Charenschlamm  vorhanden.  Es  muß 
daher  die  Bildung  des  Kalktuffs  unter  wesentlich 
anderen  Umständen  vor  sich  gegangen  sein,  als 
sich  in  den  Seen  die  Bildung  von  Kalkablagerungen 
vollzieht.  Es  darf  vor  allem  keine  Bildung  der 
Humussäuren  und  Quellsatzsäuren  stattgefunden 
haben,  da  durch  diese  sämtliche  Inkrustierungen 
wieder  zerstört  und  die  Bildung  von  Abdrücken, 
von  Blättern  und  Stengeln  unmöglich  gemacht 
wird.  Die  pflanzliche  Substanz  darf  nicht  unter 
Wasser  in  Humus,  bzw.  Humussäuren  umgewan- 
delt, sondern  sie  muß  an  der  Luft  gasförmig  ver- 
west sein,  so  daß  sich  die  Krusten  und  Abdrücke 
erhalten  konnten. 

Ich  stelle  mir  die  Entstehung  des  Kalktuffs 
daher  so  vor:  Von  dem  etwa  3  km  langen  Quell- 
horizonte von  Weimar  bis  Belvedere  floß  das 
Wasser  zunächst  in  schmalen  Rinnsalen  den  steilen 
tonigen  Hang  hinunter  und  bildete  dann  in  der  bis 
40  m  tiefer  gelegenen  Ilmaue  kleine  flache  Quell- 
teiche, in  denen  Grünalgen,  Charen  und  Wasser- 
moose wuchsen,  und  deren  Ränder  mit  Schilf, 
Wasserschwaden,  Minze,  Weiden  und  Erlen  umsäumt 


')  S.  Passarge,  Die  Kalkschlammablagerungen  in  den 
Seen  von  Lychen,  Uckermark.  Jahrb.  d.  Geol.  Landesanstalt 
1901,  Bd.  22,  S.  99-^-152.     I   Taf. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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waren.  In  nassen  Jahreszeiten  überrieselte  es  auch 
die  mit  Wald  und  Gebüsch  bestandene  Aue,  die 
in  trockenen  Jahreszeiten  für  den  Menschen  durch- 
aus bewohnbar  war.  Alle  Pflanzen,  die  von  dem 
Wasser  überrieselt  wurden,  entzogen  ihm  Kohlen- 
säure, so  daß  sich  auf  ihren  Blättern  und  Stengeln 
Kalk  niederschlug,  der  auch  die  im  Herbst  zu 
Boden  gefallenen  Blätter  und  Früchte  überkrustete, 
wodurch  langsam,  Schicht  auf  Schicht,  ein  Lager 
von  Pflanzenkalken  entstand.  Dadurch,  daß  die 
Tümpel  und  Teiche  verlandeten  und  sich  an  an- 
deren Stellen  wieder  neu  bildeten,  erklärt  sich 
das  gemeinsame,  d.  h.  eigentlich  neben-  oder  über- 
einander Vorkommen  von  Land-  und  Wasser- 
pflanzen, von  Land-  und  Was^erschnecken,  zu- 
sammen mit  Wirbeltieren,  Resten  des  Menschen, 
seiner  Werkzeuge  und  seiner  Feuerstätten. 

Nach  A.  Weiß  überwiegen  unter  den  Con- 
chylien  die  Wasserschnecken;  die  Gehäuse  der 
Landschnecken  sind  aber  nicht,  wie  Weiß  meint, 
als  Geniste  angeschwemmt ,  sondern  die  Tiere 
haben  auf  den  die  Quellteiche  umsäumenden 
Sumpfflanzen  gelebt,  zwischen  denen  auch  das 
grünfüßige  Rohrhuhn  (Gallinula  chloropus),  die 
Wildente  (Anas  boschas)  und  der  Lappentaucher 
(Colymbus  sp.)  nisteten;  auch  der  Biber  hat 
die  Teiclfe  gelegentlich  aufgesucht,  wenngleich 
sein  eigentlicher  Standort  wohl  die  Um  selbst 
gewesen  ist. 

Neben  Wasserschnecken,  die  für  Quellteiche 
und  kleine  Seen  charakteristisch  sind,  wie  die 
massenhaft  vorkommende  Belgrandia  marginata, 
die  vielen  Planorben,  Lymnäen,  Bithynien,  Val- 
vaten  und  Pisidien,  kommen  zahlreiche  Land- 
schnecken vor,  wie  Hyalinen,  Heliciden,  Clausilien, 
Succineen,  Pupen  u.  a.,  von  denen  Pupa  muscorum 
und  Buliminus  (Chondrula)  tridens  u.  a.  nur  an 
trockenen  Standorten  leben.  Das  alles  spricht 
ebensosehr  gegen  eine  einheitliche  Entstehung 
der  Tuffe  im  Wasser,  wie  die  Pflanzenwelt  und 
der  so  außerordentlich  wechselnde  Gesteins- 
charakter der  Schichten  selbst.  Weiß  konnte 
in  einzelnen  Brüchen  bis  zu  33  verschiedene  mit- 
einander wechselnde  Schichten  unterscheiden,  die 
eine  Mächtigkeit  von  i  cm  bis  über  4,5  m  be- 
saßen. 

Eingelagert  sind  im  grauen  Kalktuff  dünne 
schwarze  humose  Schichten  und  mehrere  bräun- 
liche Tonschichten,  von  denen  die  mächtigste 
(0,5 — I  m)  unter  dem  Namen  „Pariser"  bekannt 
ist.  Sie  wurde  nach  Weiß  von  dem  verstorbenen 
Finanzrat  Dr.  Herbst  in  Weimar  schon  vor  1860 
als  „poröser  Kalktuff"  bezeichnet,  woraus  die  Ar- 
beiter den  Namen  „Pariser"  gemacht  haben.  Diese 
Tonschicht  ist  stellenweise  so  kalkreich,  daß  der 
Kalk  in  Form  von  Kalkknauern  chemisch  wieder 
ausgeschieden  ist,  die  gelegentlich  so  zahlreich 
auftreten  können,  daß  sie  den  Ton  fast  verdrängen. 
Der  Pariser  ist  kein  durchgehender  Horizont;  er 
ist  im  Kämpfeschen  Steinbruch  in  Ehringsdorf 
gut  entwickelt,  keilt  aber  seitlich  aus,  und  ich 
bin    der    Ansicht,    daß    zeitweise    größere    flache 


Wasserbecken  vorhanden  waren,  denen  die  Quellen 
von  der  Höhe  so  lange  toniges  Material  von  ver- 
wittertem Muschelkalk  zuführten,  bis  die  flachen 
Wasserbecken  ausgefüllt  waren,  und  die  normale 
Kalktuffbildung  wieder  einsetzte.  Der  Pariser 
trennt  den  Kalktuff  in  zwei  ungefähr  gleich  mäch- 
tige Teile;  während  der  untere  Teil  ziemlich  frei 
von  fremden  Beimengungen  ist,  enthält  der  obere 
in  Ehringsdorf  häufig  große  Mengen  von  runden, 
ei-  bis  faustgroßen  Gerollen  von  Quarziten  und 
porphyrischen  Gesteinen,  die  durch  Regenwasser 
von  den  Höhen  heruntergespült  sind. 

Die  dünnen  humosen  Schichten ,  die  von 
manchen  Autoren  irrtümlich  für  Kulturschichten 
gehalten  wurden,  stellen  normale  Toif  oder 
Humusbildiingen  dar,  in  denen  neben  Valvata 
cristata,  die  in  stehenden  Gewässern  und  Sümpfen 
lebt,  vor  allem  Landschnecken  massenhaft  vor- 
kommen, und  zwar  Carychium  minimum,  Xero- 
phila  striata  und  Buliminus  tridens,  von  denen 
die  letzten  beiden  ausgesprochen  trockene  Orte 
bewohnen. 

Als  weitere  Voraussetzung  für  die  Kalktuff- 
bildung ist  mithin  anzunehmen,  daß  die  Quellen 
nicht  dauernd  in  gleicher  Stärke  flössen,  sondern 
daß  sie  in  den  warmen  Jahreszeiten  versiegten 
und  die  Quellteiche  austrockneten.  Dann  konnten 
die  Pflanzen  an  der  Luft  verwesen,  während  die 
Kalkkrusten  erhalten  blieben,  ohne  in  Schlamm 
umgewandelt  zu  werden ;  die  Charenstengel 
brachen  ab  und  ihre  Bruchstücke  bedeckten  den 
Boden  mit  einer  Schicht  von  Kalksand;  der 
Mensch  konnte  auf  den  ausgetrockneten  Teich- 
böden hausen  und  seine  Lagerfeuer  brennen,  bis 
in  der  feuchten  Jahreszeit  die  Quellen  die  Teiche 
wiederfüllten.  Hätten  die  Quellen  eine  größere 
Stärke  und  eine  Sommer  und  Winter  gleich- 
bleibende Wasserfülle  gehabt,  wie  die  auf  der- 
selben Verwerfungsspalte  westlich  Weimar  ent- 
springende Lottenquelle  oder  die  auf  einer  anderen 
nördlich  gelegenen  Verwerfungsspalte  entsprin- 
genden beiden  starken  Quellen,  die  als  Leutra 
und  Papierbach  der  Um  zufließen,  so  hätten  sich 
aus  den  Quellen  ebenfalls  Bäche  entwickelt,  und 
es  wäre  trotz  des  Kalkgehaltes  ebensowenig  zur 
Bildung  von  Kalktufflagern  gekommen,  wie  am 
heutigen  Lotten  ,  Leutra-  und  Papierbach.  Der 
Unterschied  in  den  Quellen  liegt  darin,  daß  diese 
als  aufsteigende  Verwerfungsquellen  aus  großer 
Tiefe  kommen,  während  die  „Kalktuffquellen"  ab- 
steigende Verwerfungsquellen  waren,  deren  Stärke 
von  der  Menge  der  jährlichen  Niederschlagsmengen 
abhängig  war. 

Heß  von  Wichdorf')  hat  1912  zuerst  auf 
die  Ähnlichkeit  der  Thüringer  Kalktuffe  mit  re- 
zenten Quell-  und  Gehängemooren  aufmerksam 
gemacht,  die  er  in  Ostpreußen  und  Pommern  be- 
obachtet hatte.     Diese  Moore  bestehen  „aus  einer 


')  Heß  von  VVichdorf:  Zur  weiteren  Kenntnis  der 
Quellmoore  in  Norddeulschland.  Jahrb.  der  G.  L.  A.  1912, 
Bd.  33,  II,  S.  319— 34I1   H   Abb. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Wechselfolge  von  Bänken  erdigen,  feinstengeligen 
Kalktuffs  und  Schichten  von  Humus  und  kalktuff- 
reichen  Riedbodens".  Im  Kalktuff,  wie  in  den 
Riedböden  fanden  sich  gelegentlich  starke  Baum- 
stämme und  Stubben  von  Kiefern  und  Birken 
bzw.  Erlen,  ferner  zahlreiche  Haselnußfrüchte. 
Die  Molluskenfauna  der  Quellmoore  setzte  sich 
aus  18  Arten  Landschnecken,  5  .'\rten  Süßwasser- 
Schnecken  und  2  Arten  Süßwassermuscheln  zu- 
sammen, von  denen  die  letzten  in  den  kleinen 
Moortümpeln  gelebt  haben.  Wichtig  ist  für  den 
Vergleich  unseres  Kalktuffs  mit  den  Mooren,  daß 
auch  in  letzteren  Wachstumszonen  bzw.  Trocken- 
stadien mit  einer  Baum-  und  Strauchflora  fest- 
gestellt werden  konnten,  im  übrigen  sind  aber 
doch  noch  erhebliche  Unterschiede  in  der  Ent- 
stehung beider  Bildungen  vorhanden. 

Die  Tuff-  oder  Knochensande  der  unteren 
Kalktuffschichten  sind  die  Hauptfundschichten  der 
Säugetiei^reste,  unter  denen  das  Merckische  Nas- 
horn, der  Altelefant,  Reh,  Hirsch,  Riesenhirsch, 
Pferd,  Bison,  Wildschwein,  Höhlenlöwe  und  Höhlen- 
hyäne zu  nennen  sind.     Von  der  allergrößten  Be- 


deutung aber  sind  die  Funde  vom  Menschen.  Der 
Backenzahn  eines  Erwachsenen ,  der  Milchzahn 
eines  9jährigen  Kindes  von  Taubach  und  einige 
Schädelknochen  von  Ehringsdorf  waren  schon 
früher  bekannt.  19 14  und  1916  sind  dazu 
die  beiden  Unterkiefer  und  Teile  eines  kindlichen 
Skelettes  aus  dem  Tuffsand  des  Kämpfeschen 
Steinbruches  gekommen  (vgl.  Naturw.  Wochenschr. 
1922,  S.  398).  Dadurch  gewinnen  die  vielen 
Feuersteinwerkzeuge  und  die  Feuerstätten  des 
Neandertalers  mit  Holzkohlen  und  angebrannten 
Knochen  eine  erhöhte  Bedeutung.  Das  Ilmtal 
war  zur  letzten  Zwischeneiszeit  die  besuchteste 
Siedlung  des  Diluvialmenschen  in  Nord-  und 
Mitteldeutschland.  Die  Kultur,  die  dort  geschaffen 
wurde,  in  der  Weiterentwicklung  der  Markklee- 
berger  Kultur  der  zweiten  Eiszeit  zu  den  schönen 
dreieckigen  Handspitzen,  Doppelspitzen  und  Scha- 
bern bedeutet  einen  Höhepunkt  der  geistigen 
Fähigkeiten  der  aussterbenden  Neandertalrasse, 
so  daß  wir  ihr  mit  Recht  als  „Weimarer  Stufe" 
eine  besondere  Stellung  in  der  Chronologie  des 
fossilen  Menschen  gegeben  haben. 


Einzelberichte. 


Die   Gnindzüge   der   Verbreituug   der  Vege- 
tation im  Europäischen  Rußland.  *) 

Der  Wechsel  der  Vegetation  im  Europäischen 
Rußland  ist  vielseitig  und  interessant.  Tundra, 
Wald,  Steppe  und  Halbwüste  lösen  einander  in 
durchaus  gesetzmäßiger  Weise  ab,  jedes  Vegeta- 
tionsgebiet entspricht  einer  bestimmten  klimati- 
schen Zone,  welche  ziemlich  genau  von  Westen 
nach  Osten  geht.  Diesen  Zonen  entsprechen  nicht 
nur  bestimmte  Zusammensetzungen  der  Vegetation, 
sondern  auch  bestimmte  Bodentypen,  z.  B.  den 
Wäldern  —  die  Bleicherden  (Podsol),  der  Steppe 
—  die  Schwarzerden,  der  Halbwüste  —  Salz- 
böden. In  keinem  Lande  ist  diese  strenge  Gesetz- 
mäßigkeit der  Zonen  so  deutlich,  wie  gerade  in 
Rußland ,  dessen  Ebenen  von  keinen  Gebirgen 
unterbrochen  werden,  dessen  Vegetation  noch 
ursprünglicher,  weniger  vom  Menschen  beeinflußt 
ist  als  im  Westen.  —  Einige  pflanzengeographi- 
schen und  bodenkundlichen  Fragen  sind  spezifisch 
russische  und  nur  in  Rußland  zu  lösen,  so  das 
Problem  der  Entstehung  der  waldlosen  Steppen, 
die  Frage  nach  der  Ursprünglichkeit  der  Wiesen- 
vegetation in  den  Flußtälern  usw. 

Von  Norden  nach  Süden  gehend  stößt  man 
in  Rußland  auf  folgende  Boden-  und  Vegetations- 
zonen: I.  die  waldlose  Tundra  in  schmaler  Zone 
am  nördlichen  Eismeer;  2.  das  Gebiet  der  Nadel- 
wälder,   ganz   Finnland  und   den  Nordosten  Ruß- 


')  Hauptsächlich  nach  W.  Aljochin,  Die  Grundzüge 
der  Verbreitung  der  Vegetation  im  Europäischen  Rußland. 
(Moskau  1921.) 


lands  einnehmend,  nach  Süden  begrenzt  etwa 
durch  die  Linie  Petersburg — Kostroma,  Kasan, 
Ufa;  3.  das  Gebiet  der  Mischwälder,  ein  breiter 
Keil,  dessen  größte  Breite  vom  Bottnischen  Meer- 
busen bis  Kiew  reicht,  dessen  Spitze  bei  Kasan 
liegt ;  4.  das  Gebiet  der  Steppe,  nach  Norden  be- 
grenzt etwa  von  der  Linie  Kiew,  Orel,  Kasan,  Ufa, 
im  Südwesten  vom  Schwarzen  und  Asowschen 
Meer,  weiterhin  durch  eine  nordöstlich  nach  Uralsk 
verlaufende  Linie;  5.  die  Halbwüste  —  der  süd- 
östliche Winkel  des  europäischen  Rußland  am 
Kaspischen  Meer. 

Die  Vegetation  der  "Tundra  und  der  Wald- 
gebiete hat  ein  verhältnismäßig  junges  Alter,  da 
während  der  Eiszeit  der  größere  Teil  des  Landes 
vom  Gletscher  bedeckt  war,  der  nur  den  äußer- 
sten Süden  und  Südosten  freiließ.  Nach  dem 
Zurückweichen  des  Eises  drang  die  Waldvegetaiion, 
hauptsächlich  Nadelhölzer,  aus  dem  eisfrei  geblie- 
benen Sibirien  wieder  ein ;  aus  Westeuropa  rück- 
ten die  Laubhölzer  und  Mischwälder  vor;  der 
Zusammenstoß  dieser  zwei  Ströme  erfolgte  in 
Mittelrußland,  etwa  dem  nördlichen  Lauf  der 
Wolgau  entlang  (Linie  Petersburg — Kasan).  Nur 
durch  diese  fortschreitende  Bewegung  läßt  sich 
der  eigenartige  Verlauf  vieler  Baumgrenzen  in 
Rußland  erklären,  die  bei  einer  Reihe  von  Nadel- 
hölzern (sibirische  Tanne,  Lärche  und  Zirbel) 
Westgrenzen  und  nach  Westen  vorgewölbt  sind, 
bei  vielen  Laubhölzern  (Buche,  Hainbuche,  Esche, 
Eiche)  mit  einer  Wölbung  nach  Osten  abgegrenzt 
werden.  Wahrscheinlich  sind  diese  Grenzen  keine 
klimatischen,  sondern  Verbreitungsgrenzen  und  die 
Bäume  durchaus  im  Vorschreiten  begriffen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Die  am  meisten  hervorstechenden  Züge  der 
Tundra  sind  ihre  Waidlosigkeit,  ihr  ewig  ge- 
frorener Boden,  welcher  auch  im  Sommer  l<aum 
auftaut  (Torf  nur  30  cm  tief,  Sand  150  cm  in  die 
Tiefe)  und  dessen  starke  Versumpfung.  Aller- 
dings wird  die  Torftundra  an  vielen  Stellen  durch 
die  lehmige  oder  steinige  Flechtentundra  abgelöst. 
Die  hervorstechendsten  Pflanzen  sind  mehrjährige 
Kräuter,  Halbsträucher  und  kleine  Sträucher 
(Zwergweiden,  Multbeere,  Rauschbeere,  Seggen, 
Wollgräser  usw.).  Oft  bilden  die  Pflanzen  flache 
Polster;  so  sind  sie  am  besten  vor  den  kalten, 
trockenen  Winden  geschützt.  Nach  Kihlman 
sind  auch  diese  austrocknenden  Winterwinde  die 
Ursache  des  Absterbens  der  Bäume  in  der  Tundra. 
Tanfiliew  schreibt  das  Zurückweichen  des 
Waldes  dem  fortschreitenden  Gefrieren  des  Bo- 
dens zu.  Er  meint,  daß  an  den  Nordrändern  der 
Wälder  die  torfbildenden  Moose  besonders  üppig 
wuchern;  der  sich  bildende  Torf  ist  ein  schlechter 
Wärmeleiter  und  verhindert  das  Auftauen  des 
darunter  liegenden  Bodens,  so  daß  die  Bäume  in 
dem  Eise  schließlich  zugrunde  gehen  müssen  und 
die  Waldgrenze  weiter  nach  Süden  zurückweicht. 

Für  den  nördlichen  Teil  der  russischen  Wald- 
gebiete ist  die  „Taiga"  charakteristisch,  diese 
endlosen  Wälder,  teilweise  nur  aus  Fichten  be- 
stehend, düster  und  einförmig,  teilweise  lichter 
mit  Kiefern  bestanden.  Wie  bei  uns  wachsen  in 
den  Fichtenwäldern  Seidelbast,  Sauerklee,  Preißel- 
beere,  Heidelbeere,  Siebenstern,  Fichtenspargel 
usw.,  in  den  Kieferwäldern  Wacholder,  Heidekraut, 
Katzenpfötchen,  Schafschwingel,  Renntiermoos,  an 
feuchteren  Stellen  Beerenhalbsträucher.  Stark  ist 
in  diesen  Wäldern  die  Neigung  zum  Versumpfen, 
eine  Folge  der  Verkittung  tiefer  liegender  Erd- 
schichten durch  humose  und  eisenhaltige  Sub- 
stanzen, welche  aus  den  höherliegenden,  bleich- 
werdenden Schichten  ausgewaschen  werden.  Auch 
siedeln  sich  stark  wasserhaltige  Weißmoose,  die 
Sphagnen  an ;  in  deren  rasch  nachwachsender 
Decke  bildet  sich  in  Rußland  eine  eigenartige 
Zwergform  der  Kiefer  (Pinus  silvestris  f.  pumila) 
wie  sie  sonst  nur  in  den  Mooren  der  Alpen  und 
Voralpen  von  der  Bergkiefer  bekannt  ist;  es  sind 
das  buschartige  Kuscheln  ohne  Hauptstamm,  stark 
verzweigt,  wo  nur  noch  die  Zweigenden  benadelt 
sind  und  aus  dem  Moos  herausstehen. 

In  den  südlich  sich  anschließenden  Misch- 
wäldern sind  besonders  die  „Sasseki"  hervorzu- 
heben, uralte  Eichenwälder,  besonders  schön  ent- 
wickelt in  den  Gouvernements  Tula  und  Kaluga; 
in  ihnen  haben  sich  einige  interessante  Pflanzen 
erhalten,  welche  nach  der  Meinung  einiger  russi- 
scher Botaniker  charakteristisch  für  die  Randwälder 
des  großen  Gletschers  waren,  so  z.  B.  mehrere 
Dentaria- Arten,  F"estuca  silvatica,  zwei  Corydalis- 
Arten,   Asperula  tinctoria  usw. 

Weiter  nach  Süden  kommt  das  weite  Gebiet 
der  Steppe,  welches  aber  durchaus  nicht  gleich- 
förmig ist  und  gut  in  drei  Typen  geschieden 
werden  kann. 


Der  nördliche  Typus  ist  die  Wiesensteppe, 
welche  die  ganze  Vegetationszeit  in  saftigstem 
Grün  prangt  und  sich  durch  viele  reizvolle 
blühende  Kräuter  auszeichnet.  Fast  jede  Woche 
bieten  diese  Steppen  wieder  einen  anderen  far- 
bigen Anblick;  charakteristisch  ist  für  sie  eine 
bunte  Mischung  von  Gräsern  und  Kräutern  (Adonis 
vernalis,  Anemone  silvestris,  Salvia  pratensis,  Avena 
pubescens  usw.).  Sie  umfassen  die  Gouvernements 
Kiew,  Poltawa,  Kursk  und  Teile  der  Gouverne- 
ments Woronesh,  Tambow,  Pensa    und    Simbirsk. 

An  die  Wiesensteppen  schließen  sich  im  Süden 
die  Pfriemengrassteppen  an,  welche  sich 
auf  die  Gouvernements  Cherson,  Ekaterinoslaw, 
Charkow,  Samara  und  Saratow  erstrecken.  Hier 
ist  der  Typus  der  Steppe  am  vollständigsten  aus- 
gedrückt. Ihr  überwiegender  Bestandteil  sind  die 
Gräser,  deren  hervorstechendsten  die  Pfriemen- 
gräser Stipa  pennata,  St.  capillata  und  Festuca 
ovina  ssp.  sulcata  sind.  Am  reizvollsten  ist  die 
Steppe  im  Frühjahr,  zur  Zeit  der  Blüte  von 
Zwiebelgewächsen  und  Adonis  vernalis;  dann  im 
Sommer,  wenn  die  ganze  Fläche  von  den  Federn 
des  Stipa  wogt;  im  Spätsommer  und  Herbst  wird 
sie  braun  und  unscheinbar,  blühende  Kräuter 
findet  man  nur  vereinzelt  (Astern,  Beifußarten). 
Bezeichnend  für  die  Steppe  ist  der  lockere,  un- 
dichte Stand  ihrer  Gräser  und  das  häufige  Auf- 
treten von  sogenannten  „rollenden  Kräutern", 
kugelförmig  verzweigten  Stauden,  welche  zur  Zeit 
der  Fruchtreife  abbrechen,  um  dann  vom  Winde 
getrieben  über  die  weiten  Ebenen  zu  hüpfen  und 
ihre  Samen    zu   zerstreuen    (z.  B.  Statice  latifolia). 

Weiter  südlich  gelangt  man  in  eine  Abart  der 
Steppe,  welche  schon  eher  den  Charakter  der 
Halbwüste  hat,  noch  spärlicher  mit  Pflanzen 
bestanden  ist  und  überall  den  kahlen  Boden  zeigt. 
Schon  in  ihrem  nördlichen  Teil  tritt  das  Pfriemen- 
gras stark  zurück,  es  herrschen  hier  der  gefurchte 
Schafschwingel  (Festuca  sulcata)  und  Chrysanthe- 
mumarten (C.  corymbosum,  C.  achilleifolium  usw.). 

Die  Schwarzerde  läuft  hier  aus  und  wird  von 
kastanienbraunen  Böden  abgelöst.  Der  äußerste 
Süden  am  Schwarzen  und  Kaspischen  Meer  hat 
stark  salzige  Böden,  welche  nur  von  vereinzelten 
und  kümmerlichen  Beifußstauden  (Artemisia  mari- 
tima, A.  pauciflora  usw.)  bestanden  sind  und  einen 
trostlosen  Anblick  bieten;  nur  im  Frühjahr  wird 
hier  das  Auge  durch  einen  weiß  gelben  Tulpen- 
flor erfreut. 

An  der  Nordgrenze  der  Steppe  schiebt  sich 
zwischen  Grasflur  und  Wald  eine  schmale  Zone 
der  sogenannten  „Waldsteppe",  wo  sich  beide 
in  buntem  Wechsel  ablösen  und  ganz  offensicht- 
lich im  Kampf  miteinander  liegen.  Die  Frage, 
warum  denn  weiter  südlich  der  Wald  der  Steppe 
weicht,  ist  noch  nicht  endgültig  gelöst.  Einige 
Forscher  meinen,  der  Wald  wäre  von  dem 
Menschen  ausgerottet  worden  (Taliew),  andere 
suchen  den  Grund  für  das  P'ehlen  des  Waldes  in 
der  Eigenart  des  kleinkörnigen  Steppenbodens, 
während     der    Waldboden     eine     haselnußartige 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


579 


Körnung  hat  (Kostytschew).  Korshinski j 
suchte  zu  beweisen,  daß  in  dem  Konkurrenzkampf 
der  zwei  Vegetationsformen  der  biologisch  stär- 
kere Wald  schließlich  die  Steppe  zurückdrängen 
müßte. 

Endlich  entspricht  es  vielen  Beobachtungen, 
daß  der  Wald  auf  stark  salzigem  Boden  nicht 
gedeihen  kann;  Dokutschajew,  Sibirzew 
und  Tanfiljew  schreiben  deshalb  dem  hohen 
Salzgehalt  der  südrussischen  Böden,  welche  erst 
spät  vom  IVleere  freigegeben  wurden,  die  Wald- 
losigkeit  der  Steppe  zu.  Patsch osskij  geht 
sogar  so  weit,  daß  er  annimmt,  die  Vegetation 
eines  jeden  Gebietes  müßte  alle  Stadien  von  der 
Halbwüste  über  die  Steppe  und  zum  Walde 
durchlaufen,  wenn  das  Meeressalz  durch  die 
Niederschläge  allmählich  aus  dem  Boden  entfernt 
wird  und  sich  eine  Humuskrume  bildet.  Er  sieht 
denn  auch  die  südrussischen  Steppen  nur  als  ein 
vorübergehendes  Stadium  an,  das  vom  Walde  ab- 
gelöst werden  muß.  Freilich  wird  das  kaum 
stattfinden,  denn  die  Steppe  ist  dem  Untergang 
durch  Feldbau  geweiht,  noch  ehe  sie  in  Wald 
übergehen  könnte.  Jedenfalls  besteht  in  Rußland 
für  den  Wald  die  Tendenz,  im  Norden  zurück- 
zuweichen und  im  Süden  vorzudringen,  es  ist 
also  eine  allgemeine  Verschiebung  des  Wald- 
gebietes nach  Süden  festzustellen. 

Noch  eine  Eigenheit  der  Vegetation  von  Ruß- 
land sei  erwähnt,  welche  für  weite  Ebenen  charak- 
teristisch ist.  In  jeder  Zone  findet  man  außer 
der  für  diese  typischen  Vegetation  auch  solche 
Vegetationsflecken,  welche  für  die  benachbarten 
Zonen  charakteristisch  sind  und  als  „intrazonale 
Vegetationen"  bezeichnet  werden.  So  finden  wir 
in  der  Pfriemengrassteppe  die  typische  Zusammen- 
setzung nur  auf  den  ausgedehnten  Wasserscheiden; 
in  den  flachen  Tälern  dagegen  sind  die  Nord- 
hänge mit  Pflanzen  bewachsen,  welche  eher  der 
Wiesensteppe  angehören,  die  Südhänge  mit  Ver- 
tretern der  Halbwüste.  Im  südlichen  Waldgebiet 
finden  sich  an  den  stärker  erwärmten  Südhängen 
Steppenpflanzen.  Somit  gibt  die  genaue  Erfor- 
schung einer  jeden  Zone  zugleich  auch  einen 
Begriff  von  der  Vegetation   der  ihr  benachbarten. 

Selma  Ruoff. 

Die  Strukturformel  des  Kupfersulfids. 

Selten  hat  man  bisher  für  Cuprisulfid  eine 
andere  Formel  als  Cu  =  S  in  Erwägung  gezogen. 
So  gut  wie  alle  Umsetzungen,  in  denen  der  Stoff 
eine  Rolle  spielte,  ließen  sich  mit  dieser  Formel 
befriedigend  darstellen.  Erst  die  feinere  Unter- 
suchung des  Sulfides  durch  W.  Gluud^)  legt 
die  Vermutung  nahe,  daß,  zum  mindesten  in  ge- 
wissen Fällen  auch  eine  andere  Strukturformel 
haltbar  ist.  Wird  nämlich  eine  1,5  proz.  Cupri- 
sulfatlösung,  der  io°/q  Ammoniak  zugesetzt  wurden, 
mit   Schwefelwasserstoff  gefällt,    so    hat    das  un- 


mittelbar ausgefallene  Kupfersulfid  andere 
Eigenschaften  als  das  einige  Zeit  gealterte.  Wird 
nämlich  unmittelbar  nach  der  Fällung  mit  Luft- 
sauerstoff oxydiert,  so  tritt  die  Bildung  elemen- 
taren Schwefels  ein.  Nach  einigen  Stunden 
Stehens  aber  (4 — 5  Std.)  führt  die  Oxydation 
nicht  mehr  zu  Schwefel,  sondern  sämtlicher  an 
Kupfer  gebundener  Schwefel  wird  in  Form  von 
Sulfat-  oder  Thiosulfat-Jon  entbunden  1 

Offenbar  hat  man  es  in  den  beiden  gekenn- 
zeichneten Fällen  mit  untereinander  verschiedenen 
Formen  des  Sulfides  zu  tun.  Nach  Diskussion 
einiger  unwahrscheinlicher  Deutungen  trifft  Gluud 
schließlich  eine  Entscheidung  auf  experimentellem 
Wege.  Beide  Sulfidformen  zeigen  abweichendes 
Verhalten  auch  gegen  Kaliumcyanid.  Das 
primär  entstehende  Sulfid  nämlich  liefert  keine 
Rhodanreakiion,  wohl  aber  in  starkem  Maße  das 
einige  Stunden  gealterte  Sulfid. 

Gluud  erteilt  dementsprechend  dem  ersten 
Kupfersulfid  die  übliche  Formel  Cu^S,  dem 
nachher  aus  ihm  hervorgehenden  Sulfid   aber  die 

Formel  ^    ">  S  =  S.     Beide  Formeln  decken  die 
Cu  -^ 

beschriebenen  Umsetzungen  allein  und  befrie- 
digend. Bei  der  Entstehung  von  Cyansäure 
HCNO  tritt  eine  Reduktion  am  Kupfer  ein.  Eine 
solche  Bildung  von  Cyansäure  findet  aber  (nach 
Treadwell)  bei  der  Umsetzung  von  Cu  =  S  mit 
Kaliumcyanid  statt.  Anders  bei  einem  Kupfer- 
sulfid der  Formel  (Cul^Sj.  Hier  ist  das  Kupfer 
bereits  erschöpfend  reduziert:  es  wird  also  glatte 
Umsetzung  mit  Kaliumcyanid  eintreten  nach  der 
Formel  Cu^S,  +  8  KCN  =  2  KgCuCCN)^  +  K^S^. 

Das  KoSo  seinerseits  wird  mit  überschüssigem 
Kaliumcyanid  alsbald  Kaliumsulfid  und  Kalium- 
rhodanid  bilden.  Dieser  letzte  Fall  ist  nun 
die  Regel.  So  käme  also  dem  gewöhnlichen 
Sulfid  die  Formel  (Cu)2S.,  zu,  CuS  aber  wäre  die 
Strukturformel  der  unbeständigen  Form  des 
Kupfersulfides. 

Berichterstatter  weist  darauf  hin,  daß  eine 
Untersuchung  daraufhin  erwünscht  wäre,  ob 
Unterschiede  beider  Formen  auch  morphologisch 
nachweisbar  sind  und  ob  nicht  die  leicht  sich 
bildenden  niederen  Sulfide  des  Kupfers,  über 
deren  Gleichgewichte  so  gut  wie  nichts  bekannt 
ist,  eine  Rolle  in  den  mitgeteilten  Verhältnissen 
spielen.  H.  Heller. 

Die  Raumformel  des  Wassermoleküls. 

Über  die  wahrscheinliche  sterische  Formel  des 
Wassers,  HjO,  spricht  sich  zusammenfassend  Jean 
Piccard  aus.^)  Gewisse  physikalische  Eigen- 
schaften des  Wassers,  wie  Dielektrizitätskonstante 
und  Refraktionsindex,  sind  nach  unseren  heutigen 
molekularphysikalischen  Vorstellungen  nur  erklär- 
bar, wenn  man  das  Schwerezentrum  der  positiven 
Ladungen  des  Wassermoleküls  nicht  mit  dem  der 


')  Berichte  d.  d.  Cheiu.   Gesellsch.   55,  S.   1760,   1922. 


')  Helvetica  Chimica  Acta  5,  S.  72,   1922. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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negativen  Ladungen  zusammenfallen  läßt.")  Die 
übliche  Formulierung  des  Wassermoleküls  H-O-H, 
wobei  man  den  Zusammenhang  zwischen  0  und 
beiden  Hatomen  durch  negative  Elektronen  her- 
gestellt sein  läßt,  kann  also  nicht  richtig  sein. 
Zwei  IVIöglichkeiten  einer  anderen  sterischen  For- 
mulierung stehen  nun  offen.  Man  kann  die  An- 
ordnung der  Atome  und  der  sie  verkettenden 
Elektronen  in  einer  Geraden  bestehen  lassen, 
denkt  sich  aber  den  Abstand  der  beiden  Wasser- 
stofifatome  vom  O  verschieden  groß:  H-0 — H. 
Für  eine  solche  Auffassung  fehlt  jedoch  jeder  zu- 
reichende Grund.  Oder  aber  man  verläßt  die 
Anordnung  in  einer  Geraden  und  läßt  eine  drei- 
eckige Konfiguration  zu:    H — O,       . 

H 
Durch  das  Studium  der  organischen  Sauerstoff- 
verbindungen wird  Piccard  zur  Annahme  der 
letzten  Formel  geführt.  Bekanntlich  nimmt  man 
für  den  Kohlenstoff  an,  daß  er  sich  inmitten  eines 
fiktiven  Tetraeders  befinde,  nach  dessen  vier  Ecken 
seine  vier  „Valenzen"  ausstrahlen,  d.  h.  sie  befinden 
sich  in  völlig  symmetrischer  Verteilung  um  den 
C  als  Zentrum.  Jede  Ablenkung  der  Valenzbeträge 
aus  diesem  Gleichgewichtsverhältnis  bedingt  ge- 
wisse Spannungen  im  Molekül,  da  ja  jede 
Valenz  in  den  stabilen  Zustand  des  isolierten 
Kohlenstoffatoms  zurückzukehren  bestrebt  ist. 
Daher  die  leichte  Lösbarkeit  sogenannter  „Doppel- 
bindungen". Baeyer  hat  dieser  von  ihm  auf- 
gestellten „Spannungstheorie"  viele  experimentelle 
Stützen  zu  geben  vermocht,  auf  hetero- 
zy kusche  Verbindungen  konnte  sie  bisher  je- 
doch nur  mit  Mühe  bzw.  nicht  ausgedehnt  werden. 
Denn  es  ist  Tatsache,  daß  Ringsysteme  aus  Kohlen- 
stoff- und  Sauerstoffatomen  stabil  sind,  wenn  nur 
die  Gesamtsumme  der  Atome  5  oder  6  be- 
trägt. Was  für  reine  Kohlenstoffringe  ein  schönes 
Beispiel  für  die  Baeyersche  Theorie  war,  nämlich 
der  Einklang  zwischen  dem  natürlichen  Winkel 
zweier  Kohlenstoffvalenzen  mit  dem  von  zwei 
solchen  Valenzen  im  5-  oder  6  ring  eingeschlossenen 
Winkel,  versagt  bei  den  Heterozyklen.  Denn 
nimmt  man  für  Wasser  die  eingangs  erwähnte 
lineare  Struktur  H-O  H  an,  so  ist  der  Winkel 
zwischen  den  Wasserstoffatomen  180".  Mithin 
müßte  die  Stabilität  der  5  oder  6  Ringe  aus  C  und  O 
abhängig  von  der  Zahl  der  Sau  erstoff  atome 
sein.  Die  Erfahrung  widerspricht  dem.  Bei- 
spielsweise geben  Oxysäuren  leicht  innere  An- 
hydride, wenn  zwei  ihrer  Hydroxyle  durch  4  oder 
5  Kohlenstoffatome  voneinander  getrennt  sind. 
Dann  entsteht  ein  Ring  aus  5  oder  6  Gliedern, 
von  denen  eines  ein  Sauerstoffatom  ist.  Die 
Ringe  der  Laktide  bestehen  aus  4  C  und  2  O, 
der  Ring  des  Paraldehyds  aus  3  C  und  3  O. 
Ringe  aus  2  C  und  4  O  sind  wohl  möglich,  aber 
aus  energetischen  Gründen  wahrscheinlich  instabil, 
zerfallen  doch  schon  Ozonide  mit  3  benachbarten 

')  Dcbye,  Physikal.  Zeitschr.  13,  S.  97,  1912.   —  Jona, 
ebenda  20,  S.  14,  1919. 


Sauerstoffatomen  sehr  leicht.  Man  ersieht  also, 
daß  auch  heterozyklische  Systeme  aus  5  und 
6  Gliedern  stabil  sind,  wenn  nur  die  Gesamt- 
summe der  Atome  beiden  Zahlen  entspricht. 
Dies  läßt  darauf  schließen,  daß  sich  C  und  O 
hinsichtlich  der  Richtung  ihrer  Valenzen  sehr 
ähneln  müssen.  Nimmt  man  die  gewinkelte 
Struktur  des  Wassermoleküls  an,  so  ist  der  von 
den  Wasserstoffatomen  eingeschlossene  Winkel 
120".  Der  von  den  Valenzen  des  tetraedrischen 
Kohlenstoffs  109"  28'.  Der  Unterschied  ist  also 
gering.  In  einem  Ring  aus  3  C  und  3  O  beträgt 
die  mittlere  Abweichung  2"  38',  im  Zyklohexan 
mit  einem  Ring  aus  6  Kohlenstoffen  ist  sie  5 " 
16'.  Der  Heterozyklus  aus  3  C  und  3  O  ist  also 
noch  stabiler  als  der  Homozyklus,  was  mit  der 
Erfahrung  übereinstimmt. 

Ist  nun  aber  wahrscheinlich,  daß  die  gegen- 
seitige Lage  der  Valenzen  im  Sauerstoff  in  den 
besprochenen  Fällen  nicht  linear,  sondern  angular 
ist,  so  ist  es  erlaubt,  diese  Vorstellung  auf  das 
Sauerstoffatom  zu  übertragen  und  die  gleiche 
Lage  im  Wasser  anzunehmen.  Von  der  mit- 
geteilten Möglichkeit  eines  Ausbaus  der  Baeyer- 
schen  Spannungstheorie  abgesehen,  bietet  sich 
also  nunmehr  eine  weitere  Handhabe  der  sterischen 
Formulierung  des  Wassermoleküls.  Und  auch 
andere  Erwägungen  führen  zu  diesem  Ziel.  Aus 
der  Existenz  und  den  Eigenschaften  der  Oxo- 
n  i  u  m  salze  scheint  hervorzugehen,  daß  der  Kohlen- 
stoff koordinativ  dreiwertig  ist.')  Drei 
symmetrisch  angeordnete  Valenzrichtungen  in  der 
Papierebene  schließen  aber  Winkel  von  120"  ein. 
Als  Beispiel  für  die  Wahrscheinlichkeit  einer 
solchen  Konfiguration  der  Oxoniumsalze,  als  die 
man  die  Hydrate  aufzufassen  hat,  diene  der  ge- 
löste Chlorwasserstoff,  die  Salzsäure,  die  zu 
formulieren  wäre: 


H 


H 


OH 


Gl. 


Die  Valenzen  des  Sauerstoffs  sind  mithin  nach 
den  Ecken  eines  gleichseitigen  Dreiecks  gerichtet. 
Diese  Position  der  Koordinationsvalenzen  nimmt 
Piccard  nun  als  „topographische  Eigenschaft" 
des  Sauerstoffs  überhaupt  an.  H,,0  muß  also 
H  -  O,        sein.       Seine    hexagonale    Kristallform 

H 
stimmt  damit  überein. 

Zu  ähnlichem  Ergebnis  gelangt  auf  anderem 
Wege  neuerdings  D.Vorländer.-)  Dieser  fand 
bei    seinen    ausgedehnten    Untersuchungen    über 


')  Über  den  Begriff  der  ,, Koordination"  vgl.  „Die  che- 
mische Valenz  in  heutiger  Auffassung"  v.  Verf.,  Naturw. 
Wochenschr.,  N.  F.  18,  S.  273,  1919.  —  Neuerdings  weist 
Hantzsch  nach,  daß  auch  der  vierwertige  Kohlenstoff  ko- 
ordinativ dreiwertig  ist  (Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellsch.  54, 
.S.  2627,  1921).  Sollte  sich  diese  Auffassung  allgemein  be- 
stätigen lassen,  so  wäre  damit  eine  neue  Parallele  zu  der 
Valeuzchemie  des  Sauerstoffs  geschaffen,  die  den  Ausführungen 
Piccards  eine  Stütze  gibt. 

'■')  Zeitschr.   f.  angew.   Chemie  35,  S.  249,  1922. 


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Naturwissenschaftlich  e  Wochenschrift. 


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den  „kristallinisch-flüssigen"  Zustand  die  allgemeine 
Beziehung,  daß  dieser  Zustand  zu  seinem  Zustande- 
kommen eines  möglichst  langgestreckten 
und  geradlinig  orientierten  JVloleküls  bedarf. 
So  sind  alle  para-substituierten  Abkömmlinge  des 
Diphenyls  stark  kristallin  -  flüssig : 


X 


X. 


Schaltet  man  aber  zwischen  die  beiden  Benzol- 
ringe ein  Sauerstoffatom  ein,  hat  man  also  Ab- 
kömmlinge vom  Diphenyläther 


X 


—  O 


■X, 


so  verschwindet  der  kristallin-flüssige  Zustand  als- 
bald! Hieraus  schließt  Vorländer,  daß  der 
zweiwertige  Sauerstoff  nicht  linear  gerichtete 
Valenzen  habe,  daß  diese  vielmehr  einen  Winkel 
miteinander  einschließen.  „Für  das  Wasser  ist 
eine  winkelförmige  Gestalt  die  wahrscheinlichste." 
Vorländer  schätzt  allerdings  den  Winkel  am 
Sauerstoff  etwas  kleiner  als  am  Kohlenstoff,  d.  h. 
<  109". 

Kann  man  angesichts  dieser  Erwägungen  an 
einer  angularen  Raumformel  des  Wassers  kaum 
noch  zweifeln,  so  erscheint  dem  unbefangenen 
Betrachter  die  unsymmetrische  Formel  H — O 

H 
doch  sicherlich  gezwungen,  unwahrscheinlich  und 
darum  unbefriedigend.  Sollte  die  auf  verschiedenen 
Wegen  erwiesene  starke  Assoziation  des  Was- 
sers darauf  zurückzuführen  sein,  daß  das  Wasser- 
molekül durch  Zusammentritt  zu  „D  i -Wasser" 
eine  Symmetrie  zu  schaffen  bestrebt  ist,  die  dem 
monomolekularen  Stoff  versagt  ist? 


H  H 


H  H 

Berichterstatter    glaubt    diese    seine    Ansicht    als 
nicht  unwahrscheinlich  bezeichnen  zu  dürfen. 

H.  Heller. 

Die  neue  Noriiialtemperatur :  -\-'20'^  C. 

In  seiner  letzten  Vollsitzung  hat  der  „Ausschuß 
für  Einheiten  und  Formelgrößen"  (AEF),  der  sich 
aus  Mitgliedern  der  bedeutendsten  physikalischen, 
technischen  und  chemischen  Gesellschaften  zusam- 
mensetzt, dafür  entschieden,  daß  bei  der  Berech- 
nung oder  Kennzeichnung  von  Stoffen  und  Stoff- 
systemen als  einheitlich  anzuwendende  Normal- 
temperatur -[-20"  C  zu  gelten  habe.  Auf  diese 
Temperatur  also  sind  auch  alle  Meßgefäße  und 
-Werkzeuge  zu  eichen;  bei  dieser  Temperatur  sollen 
künftig  Messungen,  wie  etwa  die  der  elektrischen 
Leitfähigkeit,  vorgenommen  werden,  sofern  die 
Natur  der  Sache  diese  Temperatur  nicht  per  se 
ausschließt.  Ausnahmen  von  dieser  Festsetzung 
sind:  die  Nulltemperatur  bei  der  Festlegung  der 
Einheiten  „Meter",  „Ohm"  und  „Atmosphäre"  und 
bei  Barometerangaben;    ferner    wird    die   Vohim- 


einheit  „Liter"  bei  4 "  beibehalten ,  wie  auch 
Dichtebestimmungen  auf  Wasser  von  dieser  Tem- 
peratur bezogen  werden  sollen. 

Mit  dieser  Festsetzung  ist  eine  Vereinbarung 
von  größter  Tragweite  getroffen,  mit  der  sich 
jeder  an  den  exakten  Naturwissenschaften  Be- 
teiligte vertraut  machen  sollte.  Denn  bei  ein- 
gehender Betrachtung  der  Umstände,  die  gerade 
20 "  als  Normaltemperatur  rechtfertigen ,  erweist 
sich,  daß  mit  dieser  Normung  eine  wahrhaft 
erfreuliche  Übereinkunft  getroffen  worden  ist. 

Die  Bestrebungen  zur  Schaffung  einer  einheit- 
lichen Bezugstemperatur  sind  nicht  erst  neuerer 
Zeit  zu  danken.  Seit  1907  schon  bemühte  sich 
der  oben  erwähnte  Ausschuß  um  diese  Aufgabe. 
Das  Ergebnis  der  Verhandlungen  ist  niedergelegt 
in  einer  Arbeit  von  K.  Strecker.^)  Auch 
Auerbach,  Scheel  u.  a.  haben  sich  dazu  in 
der  Literatur  geäußert.-)  Nachdem  1914  eine 
Einigung  erzielt  war,  verhinderte  der  Krieg  ihre 
praktische  Auswertung.  Daß  sie  nunmehr  bald 
und  allseitig  geschehe,  ist  eine  der  Forderungen 
des  Tages. 

Es  erübrigt  sich,  die  Normung  der  Temperatur 
im  allgemeinen  zu  begründen.  Vergegenwärtigt 
man  sich,  daß  kaum  eine  zahlenmäßige  Kenn- 
zeichnung unabhängig  von  der  bei  der  Messung 
vorhandenen  Temperatur  ist,  die  das  Ergebnis  in 
oft  bedeutendem  IVIaße  beeinflußt,  so  erkennt  man 
ohne  weiteres,  daß  es  eine  große  Energieersparnis 
ist,  wenn  man  durch  Benutzung  einer  Tempe- 
ratur jeglicher  Umrechnung  enthoben  wird.  Eine 
solche  Umrechnung  war  aber  bisher  in  der  Regel 
notwendig,  denn  gerade  in  Chemie  und  Physik 
waren  die  verschiedensten  Meßtemperaturen  in 
Gebrauch.  So  gilt  in  der  Alkoholometrie  als 
Normaltemperatur  15";  die  Polarisationsdrehung 
wässeriger  Lösung  wird  in  der  Regel  bei  20",  die 
Viskosität  bei  25  °  gemessen.  Elektrische  Leit- 
fähigkeiten werden  bei  18°  oder  bei  25*'  bestimmt. 
Von  den  galvanischen  Normalelementen  ist  das 
von  Clark  auf  15",  das  Cadmiumelement  auf  20" 
bezogen.  Hierzu  kommt  in  vielen  Fällen  eine 
weitere  „Normal"temperatur,  die  „Zimmertempe- 
ratur", worunter  man  meist  15 — 20"  versteht.  Es 
herrscht,  wie  gesagt,  in  der  Wahl  wissenschaft- 
licher und  technischer  Bezugstemperaturen  voll- 
endete Willkür,  so  daß  die  vom  AEF  getroffene 
Vereinbarung  einen  wesentlichen  Fortschritt  dar- 
stellt. 

Der  unbestimmte  Begriff  der  „Zimmertempe- 
ratur" ist  bei  der  Wahl  der  neuen  Norm  richtung- 
gebend gewesen.  In  der  Tat  werden  die  meisten 
praktischen  Messungen,  die  von  wissenschaftlicher 
Höchstgenauigkeit  absehen  können,  bei  der  gerade 
im  Versuchsraum  herrschenden  Temperatur  ange- 
stellt. Im  allgemeinen  ist  die  Laboratoriums- 
temperatur   etwa     18^',     weshalb    Kohlrausch 

')  AEK,  Verhandlungen  des  Ausschusses  f.  Maßeinheiten 
und  Formelgrößen  in  den  Jahren  1907 — 1914.  Herausgeg.  v. 
K.  Strecker.     Berlin   1914,  J.  Springer. 

'•')  Zeitschr.  f.  Elektrochemie  20,   S.   583,   1914. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gerade  diese  Temperatur  für  die  Bestimmungen 
von  Leitfähigkeiten  festsetzte.  Bestimmt  aber 
liegt  15"  unter  dem  Durchschnitt.  Merl< würdiger- 
weise werden  aber  gerade  die  meistbenutzten 
IVIeßgefaße,  Zylinder,  Büretten,  Pipetten,  Kolben 
usw.  gerade  auf  diese  Temperatur  geeicht.  Jeder- 
mann weiß  jedoch,  daß  Abkühlen  auf  eine  be- 
stimmte Temperatur  mehr  Umstände  verursacht 
als  Anwärmen.  Somit  ist  die  Annahme  der  neuen 
Normaltemperatur  im  Sinne  der  Praxis  gutzuheißen. 
Wirklich  waren  die  genormten  Glasgefäße  für 
chemische  Laboratorien,  deren  Sammlung  auf  der 
letzten  Ausstellung  für  chemisches  Apparatewesen 
in  Hamburg  (Juni  1922)  gezeigt  wurde,  durch- 
gängig auf  20"  geeicht.  IVIan  denke  auch  daran, 
daß  im  Winter  meist  eine  Zimmertemperatur  von 
etwa  20"  herrscht.  Diese  Temperatur  ist  darum 
auch  dann  die  gegebene  Norm. 

Viele  äußerliche  Umstände  sprechen  des  wei- 
teren für  die  allgemeine  Anwendbarkeit  der  neuen 
Normaltemperatur.  So  hat  die  Internationale 
elektrotechnische    Kommission    20"    als    Normal 


festgesetzt;  desgleichen  hat  der  Deutsche  Normen- 
ausschuß für  die  Industrie  diese  Temperatur  als 
Bezugsnorm  für  Meßwerkzeuge  und  Werkstücke 
angenommen. 

Selbstverständlich  handelt  es  sich  bei  der 
neuen  Temperatur  um  eine  aus  praktischen  Er- 
wägungen heraus  getroffene  willkürliche  Fest- 
setzung. Für  wissenschaftliche  Untersuchungen 
ist  die  Wahl  einer  anderen  Bezugstemperatur 
möglich  und  erlaubt.  Zum  mindesten  jedoch 
sollten  solche  Messungen  auch  bei  20"  vorge- 
nommen werden,  damit  der  in  anderem  Sinne 
damit  Arbeitende  der  Mühe  einer  Neubestimmung 
oder  Umrechnung  enthoben  ist.  Aber  auch  die 
Wissenschaft  mag  sich  bewußt  bleiben,  daß  bei- 
spielsweise o"  ebenfalls  völlig  willkürlich  gewählt 
worden  ist.  —  Ausgeschieden  von  der  Verpflich- 
tung zur  neuen  Bezugstemperatur  sind  des  weiteren 
naturgemäß  alle  die  Fälle,  deren  Charakter  die 
Wahl  von  gerade  20 "  überhaupt  ausschließt. 
Einige  solcher  bzw.  verwandter  Fälle  nennt  der 
Beschluß  des  AEF  selbst.  H.  Heller. 


Bücherbesprechungen. 


Titschack,    E.,    Beiträge    zu    einer    Mono- 
graphie der  Kleidermotte,  Tincola  bisel- 
liella.     Mit  4  Tafeln  und  91  Textabb.     Zeitschr. 
techn.  Biologie  Bd.  10,  Heft  1/2,    168  S.,  1922. 
Bis  vor  kurzem  verhielt  sich   die  deutsche  In- 
dustrie   der    angewandten  Biologie  gegenüber  ab- 
lehnend, im  Gegensatz  zum  Auslande,  das  dadurch 
nicht  nur  in  der  Industrie  selbst,  sondern  auch  in 
der  angewandten  Biologie  uns  vielfach  überflügelte. 
Der  Krieg  und  seine  Folgen  haben  auch  hier  för- 
dernd gewirkt,  und  immer  mehr   macht    sich  die 
Industrie  die  angewandte  Biologie  zu  nutze. 

Vorliegende  Arbeit  ist  entstanden  im  Auftrage 
der  „Farbwerke  vorm.  Friedr.  Bayer  &  Co.,  Lever- 
kusen bei  Köln  a.  Rh.".  Sie  gehört  zu  den  besten, 
die  die  junge  deutsche  angewandte  Entomologie 
hervorgebracht  hat  und  findet  in  bezug  auf  Er- 
fassung des  Problems,  auf  Gründlichkeit  und  Sorg- 
falt kaum  ihresgleichen.  Verf.  und  die  Farbwerke 
können  stolz  darauf  sein. 

Die  ökonomische  Bedeutung  der  Kleidermotten 
ist  wohl  allgemein  bekannt,  sicher  aber  überall 
sehr  unterschätzt.  Jeder  kennt  nur  seine  eigenen 
Erfahrungen,  bedenkt  aber  nicht,  wie  diese  sich 
bei  einem  70-Millionenvolk  mit  ausgedehnter  und 
hochentwickelter  Kleiderstoff-  und  Möbelindustrie 
vervielfachen.  Namentlich  bei  den  heutigen  Preisen 
betragen  die  jährlichen  Verluste  durch  die  Kleider- 
motten sicher  geradezu  fabelhafte  Summen. 

Von  den  etwa  10  an  Kleiderstoffen  gefundenen 
Mottenarten  ist  die  genannte  weitaus  die  wichtig- 
ste. Ursprünglich  dürfte  sie  im  Freien  an  ein- 
getrockneten Tierleichen  gelebt  haben.  Mit  der 
Aufspeicherung  von  Wolle  und  Wollstoffen  für 
Handel  und  Industrie  gelangle  sie  in  Gebäude  und 
fand  hier  die  denkbar  besten  Lebensbedingungen : 


Überfluß  an  Nahrung,  günstige  Temperatur,  Schutz 
vor  ungünstiger  Witterung  und  den  meisten  natür- 
lichen Feinden.  Ein  Glück  nur,  daß  sie  sich  ver- 
hältnismäßig langsam  entwickelt.  Unter  günstig- 
sten Bedingungen  —  passende  Nahrung,  ständig 
geheizte  Räume  —  können  sich  4  Generationen 
im  Jahre  entwickeln;  normalerweise  werden  es 
nur  I,  höchstens  2  sein.  Was  das  sagen  will, 
zeigen  die  Feststellungen  und  Berechnungen 
Titschacks  über  die  verbrauchte  Nahrung.  Im 
I.Falle  können  die  Nachkommen  eines  Weibchens 
im  Jahre  bis  46  kg  Wolle  zerstören,  im  letzteren 
genügt   I   g. 

Der  Verf  beschreibt  alle  Stadien  aufs  genaueste, 
gibt  die  Unterschiede  von  anderen  Motten  auf 
Wollstoffen  an  und,  wo  vorhanden,  die  der  ein- 
zelnen Altersstadien  der  verschiedenen  Entwick- 
lungsformen, Angaben,  die  auch  für  die  Praxis  sehr 
wichtig  sind,  insbesondere  für  die  Fragen  nach 
Herkunft  und  Zeitpunkt  des  Befalles.  Er  unter- 
sucht eingehend  das  biologische  und  physiologi- 
sche Verhalten  der  verschiedenen  Stadien.  Aus 
der  Überfülle  der  Ergebnisse  nur  wenige  Daten: 
Die  Weibchen  fliegen  nie  ohne  zwingenden  Grund, 
suchen  laufend  neue  Plätze  für  die  Ablage  ihrer 
je  100 — 150  Eier;  sie  bedürfen  keines  Hochzeits- 
fluges. Nach  etwa  7  Tagen  schlüpfen  die  Räup- 
chen  aus,  die  18  Tage  bis  10  Monate  fressen 
können.  Sie  finden  sich  nur  auf  toten  Tierstoffen, 
auf  bzw.  zwischen  denen  sie  lange,  mit  Stoffteil- 
chen  bedeckte  Gänge  anfertigen.  Baumwolle  wird 
nur  im  äußersten  Notfalle  gefressen ,  wohl  aber 
zur  Herstellung  der  Gänge  verwendet.  Zur  Ver- 
puppung fertigen  die  Raupen  einen  besonders 
dichten  und  sorgfällig  bedeckten  Köcher. 

Von  Gasen  tötet  Schwefelkohlenstoff  am  schnell- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


583 


sten  alle  Stadien,  ist  aber  zu  explosionsgefährlich. 
Xylol  und  Chloroform  töten  bei  mehrmaligem 
Benetzen  die  in  den  Stoffen  vorhandenen  Tiere. 
Dichlorbenzol  und  Naphthalin  schützen  reine  Stoffe 
vor  Befall,  töten  bereits  vorhandene  Stadien  aber 
nur  bei  reichlicher  Anwendung  und  völligem  Luft- 
abschluß. Kälte  und  Wärme  (45—50"  C)  sind 
gute  Schutzmittel.  Klopfen,  Lüften,  Besonnen 
verhindern  Befall,  wenn  oft  und  sorgfältig  ausge- 
führt. Fest  schließende  Verpackung  in  Papier 
desgleichen.  Die  Farbe  der  Stoffe  ist  für  den 
Befall  bedeutungslos;  gewisse  Farbstoffe  geben 
bedingten  Schutz.  Das  beste  und  sicherste  Gegen- 
mittel ist  aber  das  Tränken  der  Stoffe  mit  dem, 
von  den  Farbwerken  nach  den  Angaben  von  Dr. 
IVIeckbach  hergestellten  „Eulan",  das  farblos 
ist  und  die  Verarbeitung  der  Stoffe  in  keiner 
Weise  beeinträchtigt. 

Wenn  hiermit  das  Kleidermottenproblem  in 
der  Hauptsache  gelöst  ist,  so  bleiben  doch  noch 
viele  wissenschaftliche  Fragen  offen ,  deren  Be- 
arbeitung bei  dem  Verf.  zweifellos  in  besten  Hän- 
den ist,  und  deren  Auswirkungen  auf  die  Praxis 
von  vornherein  kaum  zu  übersehen  sind. 

Reh. 


Lehmann,  H.,  Die  Obstmade.  Cydia  {Carpo- 
capsa)  pomonella  L.  Heft  i :  Ihre  Bekämpfung 
auf  wissenschaftlicher  Grundlage.  Mit  26  Text- 
abbildungen. 8".  69  S.  Neustadt  a.  d.  H.  1922. 
Die  Raupe  des  Apfelwicklers  ist  zweifellos 
einer  der  größten  Schädlinge  unseres  Kernobst- 
baues. Schon  im  Frieden  dürfte  der  jährliche 
Verlust  durch  sie  in  Deutschland  auf  einige 
IMillionen  einzuschätzen  gewesen  sein,  selbst  wenn 
man  berücksichtigt,  daß  bei  nicht  zu  starkem  Be- 
falle ihre  Tätigkeit  ausdünnend,  d.  h.  bessernd 
auf  die  übrigbleibenden  F'rüchte  wirkt.  Aber  auch 
in  allen  anderen  Kernobst  bauenden  Erdteilen 
liegen  dieselben  Verhältnisse  vor,  daher  man  hier 
schon  seit  Jahrzehnten  den  Apfelwickler  aufs 
eingehendste  studiert.  Wie  immer  gingen  auch 
hier  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
mit  glänzendem  Beispiele  voran;  ihnen  folgten 
Kanada,  Südafrika,  Australien,  Argentinien,  die 
übrigen  europäischen  Staaten.  Nur  Deutschland 
blieb  auch  hier,  wie  überall  im  Pflanzenschutze, 
weit  zurück.  Um  so  freudiger  ist  zu  begrüßen, 
daß  endlich  der  Verf,  im  Auftrage  von  Prof. 
EscherichMünchen,an  der  Staatl.  Versuchsanstalt 
für  Wein-  und  Obstbau  in  Neustadt  a.  d.  H.,  wo 
dieser  Schädling  durch  das  Klima  ganz  besonders 
begünstigt  wird,  umfassende  Untersuchungen  und 
Versuche  über  ihn  anstellt,  deren  I.Teil  hier  vor- 
liegt. Im  großen  ganzen  konnte  er  allerdings 
nur  die  amerikanischen  Ergebnisse  bestätigen; 
bei  der  unglaublichen  Unkenntnis,  die  aber  in 
Deutschland  über  dieses  gemeine  Insekt  handelt, 
ist  auch  deren  Zusammenstellung  sehr  nützlich. 
Von  großer  Bedeutung  ist,  daß  er  die  vielfach 
voreilig    gebildete    Ansicht,    als   habe    der   Apfel- 


wickler, wie  in  wärmeren  Erdteilen,  auch  in 
Deutschland  normal  zwei  oder  mehr  Generationen, 
dahin  richtig  stellen  konnte,  daß  das  selbst  in  der 
warmen  Pfalz  nur  für  ^3  <^c''  Tiere  zutrifft.  Sehr 
eingehend  behandelt  er  die  Bekämpfungsmethoden. 
Er  stellt  für  solche  allgemeine  P'orderungen  auf, 
die  zwar  theoretisch  durchaus  berechtigt,  für  die 
Praxis  aber  doch  zu  eng  gefaßt  sind.  Seine 
Schlußfolgerung,  daß  eine  solche  „wirtschaftlich" 
sei,  trifft  dagegen  den  Nagel  auf  den  Kopf.  Das 
ist  aber  jede  Methode,  bei  der  die  Ergebnisse 
größer  sind,  als  ihre  Kosten  (Material -|- Zeit). 
Verf.  schließt  sich  dann  durchaus  der  bereits 
1898  von  dem  amerikanischen  Entomologen 
Slingerland  ausgearbeiteten  Methode  an:  die 
Bäume  sofort  nach  dem  Abwerfen  der  Blüten- 
blätter mit  einem  Arsenmittel  so  zu  spritzen,  daß 
die  jetzt  noch  offene  Kelchgrube,  durch  die  sich 
85  "/(,  der  jungen  Räupchen  einbohren,  mit  dem 
Gifte  gefüllt  wird.  Er  vergißt  aber  die  Betonung 
der  Hauptsache,  daß  dazu  von  oben  und  mit 
starkem  Drucke  in  die  Bäume  gespritzt  werden 
muß.  Und  wenn  er  ausschließlich  für  die  Kupfer- 
arsensalze eintritt,  so  setzt  er  sich  damit  in  Gegen- 
satz zu  den  Jahrzehnte  alten  Erfahrungen  in  den 
angelsächsischen  Ländern,  wo  sich  das  Bleiarsenat 
weit  besser  bewährt  hat.  Er  empfiehlt  nur  eine 
einzige  Spritzung,  während  in  jenen  Ländern  bis 
zu  7  mal  gespritzt  wird.  Eine  2 — 3(4)malige  dürfte 
auch  bei  uns  ratsam  sein,  besonders  in  Lagen 
oder  Jahren,  wo  Wärme  eine  zweite  Generation 
begünstigen.  Die  übrigen  in  Deutschland  üb- 
lichen Methoden  verwirft  Verf.  alle  mit  Ausnahme 
der  winterlichen  Reinigung  der  Bäume  von  loser 
Borke,  Moosen  und  Flechten.  Hierin  geht  er 
entschieden  zu  weit,  wie  sich  schon  daraus  er- 
gibt, daß  auch  die  Amerikaner  usw.  einen  Teil 
dieser  Methoden  als  ergänzende  sehr  empfehlen. 
Auch  eine  einfache  Rechnung  zeigt  deren  Berech- 
tigung. Verf.  konnte  durch  die  Arsenspritzungen 
den  Befall  auf  10",,  der  Früchte  zurückführen. 
Das  sind  bei  einem  Behang  von  10  Zentnern  am 
Baum  und  500  Früchten  auf  den  Zentner  also 
ebensoviele  befallene  Früchte,  bzw.  Raupen 
und  Falter.  Sei  die  Hälfte  davon  Weibchen, 
und  lege  jedes  lOO  Eier,  so  hätten  wir  im 
nächsten  Jahre  für  den  Baum  theoretisch 
wieder  25000  Raupen,  also  für  jede  Frucht 
5  Raupen.  Wenn  die  Wirklichkeit  sich  natür- 
lich auch  anders  verhält,  als  diese  Berechnung, 
so  zeigt  diese  immerhin,  daß  ergänzende  Be- 
kämpfungsmaßregeln durchaus  von  Nutzen  sind. 
Als  solche  ist  in  erster  Linie  das  häufige  Ab- 
schütteln oder  Abklopfen  der  Bäume  wichtig  mit 
sofortigem  Aufsammeln  der  gefallenen  Früchte. 
Vielleicht  stellt  Verf.  einmal  Versuche  an  über 
die  Menge  der  Raupen,  die  auf  diese  Weise  dem 
Garten  entzogen  werden.  Daß  das  Aufsammeln 
der  von  selbst  gefallenen  Früchte,  des  Fallobstes, 
keinen  Wert  hat,  darin  ist  ihm  entschieden  bei- 
zupflichten. Ebenso  ist  es  wertvoll,  die  Fenster 
der  Lagerräume  des  Obstes  im  Frühjahre  bis  nach 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Schluß  der  Kernobstblüte  geschlossen  zu  halten. 
I'^anggürtel  schließlich  werden  von  den  Angel- 
sachsen neuerdings  wieder  sehr  empfohlen.  Vor 
allem  aber  ist  zu  berücksichtigen,  daß  die  für  Halb- 
stämme ausgearbeitete  Slingerlandsche  Methode 
in  unseren  alten  Hochstammkulturen  gar  nicht 
auszuführen  ist.  —  Alle  diese  Aussetzungen  und 
Ergänzungen  sollen  den  Wert  der  Lehmannschen 
Schrift  keineswegs  herabsetzen.  Sie  ist  als  erster 
Versuch,  diesen  wichtigen  Schädling  gründlich  zu 
behandeln,  freudig  zu  begrüßen,  bringt  nicht  nur 
sehr  eingehende  kritische  Besprechung  der  deut- 
schen Literatur,  sondern  trägt  durch  die  planvoll 
eingeleiteten  Untersuchungen  und  Versuche  viel 
zur  Kenntnis  des  Verhaltens  des  Apfelwicklers 
in  der  Rheinpfalz  bei.  Reh. 


Marzell,  Heinrich,  Die  heimischePflanzen- 
welt  in  Volksbrauch  und  Volksglau- 
ben, kl.  8".  133  S.  3  Abb.  Quelle  &  Meyer 
(Wissenschaft  und  Bildung  177).  1922.  Laden- 
preis 42  M. 
Es  gibt  ein  Buch  von  Franz  Sohns  über 
unsere  Pflanzen,  ihre  Namenserklärung  und  ihre 
Stellung  in  der  Mythologie  und  im  Volksglauben. 
Es  ist  ganz  unzuverlässig  und  hat  doch  manche 
Auflage  erlebt,  weil  eben  ein  derartiges  Werk 
von  Pflanzenfreunden  sowohl  als  auch  von  Er- 
forschern der  Sitten  und  Meinungen  des  Volkes 
gesucht  wird.  Jetzt  hat  Marzell  uns  ein  solches 
Buch  geschrieben,  das  nicht  nur  viel  besser,  son- 
dern gut  ist.  Bei  Marzell  kann  man  sich  darauf 
verlassen,  daß  er  die  im  Volke  umlaufenden,  an 
mancherlei  Glauben  und  Tun  haftenden  Pflanzen- 
namen entweder  richtig  deutet  oder  als  zurzeit 
unverständlich  zurückstellt.  Nur  auf  Seite  1 1 5 
hat  er  die  mecklenburgisch-vorpommersche  Faul- 
esche fälschlich  als  Fraxinus  excelsior  gedeutet; 
sie  ist  die  Espe,  angeblich  zuweilen  auch  die 
Schwarzpappel;  Frax'inus  heißt  Zähesche.  Verf. 
bespricht  die  Beziehungen  der  Pflanzen  zu  den 
Festen,  zu  Geburt,  Liebe,  Hochzeit  und  Tod,  ihre 
Rolle  im  Kinderspiel,  im  bäuerlichen  Aberglauben, 
in  Medizin  und  Hexerei,  fügt  am  Schlüsse  eine 
Anzahl  Sagen  und  Legenden  an.  Unglaublich  viel 
ist  in  dem  kleinen  Heft  zusammengetragen,  alles 
ging  freilich  nicht  hinein.  Ref.  vermißt  auf  S.  23 
eine  Erwähnung  des  in  Hannover,  Schleswig- 
Holstein  und  Mecklenburg  herrschenden  Brauches, 
Pfingsten  die  Häuser,  Stuben,  Fuhrwerke,  selbst 
Lokomotiven,  mit  Birkenzweigen  zu  schmücken. 
Sehr    wertvoll    ist    es,    daß    überall    die  Literatur 


nachgewiesen  wird,  so  daß  das  Buch  nicht  nur 
nützlich  und  gut  zu  lesen,  sondern  auch  als  Weg- 
weiser bei  ernster  Forschung  zu  gebrauclien  ist. 
Für  den  Botaniker  ist  die  Kenntnis  alter  Volks- 
sitten von  Wert,  wenn  er  Heimat  und  Geschichte 
der  Arten  aufklären  will.  Hoffentlich  findet  das 
Buch  soviel  Absatz  (als  Quellennachweis  für  ver- 
gleichende Volkskunde  und  historisch  -  geographi- 
sche Botanik  ist  es  auch  für  das  Ausland  wert- 
voll), daß  der  Verlag  in  zweiter  Auflage  mehrere 
Bogen  zugeben  kann.  Das  Register  enthält  nur 
deutsche  Pflanzennamen ,  die  nächste  Auflage 
sollte  auch  die  lateinischen  aufnehmen,  die  man 
stellenweise  doch  vermißt.  Aus  dem  S.  92  zitier- 
ten Spruch  „Verbeen,  agrimonia,  modeiger  Char- 
freytags  graben  hilfft  dich  sehr"  ist  nur  Modelger 
ins  Register  aufgenommen.  Doch  das  sind  kleine 
Mängel,  alles  in  allem  ist  das  Buch  sehr  zu  emp- 
fehlen. Ernst  H.  L.  Krause. 


Literatur. 

Sammlung  Göschen.  Bd.  440:  Bö  hmig,  Prof.  Dr.  Ludw., 
Das  Tierreich.  VI.  Die  wirbellosen  Tiere.  II.  Band.  Berlin- 
Leipzig  '22,  Vereinigung  wissenschaftl.  Verleger.    • 

849:  Langenbeck,  Prof.  Dr.  R.,  Physische  Erdkunde. 
I.  Die  Erde  als  Ganzes  und  die  Erdoberfläche.  Berlin-Leip- 
zig '22. 

Kolkwitz,  R.,  Pflanzenforschung.  I.  Phanerogamen 
(Blütenpflanzen).     Jena  22,  G.  Fischer.     Brosch.  30  M. 

Kolkwitz,  R.,  Pflanzenphysiologie.  Versuche  und  Be- 
obachtungen an  hölieren  und  niederen  Pflanzen.  2.  Aufl. 
Jena  '22,   G.  Fischer.     Brosch.   130  M.,  geb.   180  M. 

Platc,  Dr.  Ludwig,  Allgemeine  Zoologie  und  Abstam- 
mungslehre. I.  Teil:  Einleitung,  Cytologie,  Histologie,  Pro- 
morphologie, Haut,  Skelette,  Lokomolionsorgane,  Nerven- 
system.    Jena  22',  G.   Fischer.     Brosch.  360  M.,  geb.  420  M. 

Suesscnguth,  Dr.  K.,  Untersuchungen  über  Variations- 
bewegungen von  Blättern.  Jena  '22,  G.  Fischer.  Brosch. 
36  M. 

Lubosch,  Dr.  Wilhelm,  Durchschnittsanatomie  und  In- 
dividualanalomie.     Jena  '22,  G.  Fischer.     Brosch.  24  M. 

Schaxel,  Julius,  Grundzüge  der  Theorienbiidung  in 
der  Biologie.  2.  Aufl.  Jena '22,  G.Fischer.  Brosch.  150M., 
geb.  210  M. 

Weckmann,  P.  F.,  Ornithologisch- photographische 
Naturstudien.     Bielefeld-Leipzig  '22,  Velhagen  &   Klasing. 

Willis,  J.  C,  Age  und  Area.  Cambridge  '22,  At  thc 
University  Press. 

Hermann,  Albert,  Naturwissenschaftlicher  Unterricht  als 
I'>ziehungs-  und  Bildungsmittel  an  höheren  Schulen.  Leipzig- 
Berlin  '22,  B.  G.  Teubner.     Geh.  60  M. 

Finstein,  A.,  Vier  Vorlesungen  über  Relativitätstheorie, 
gehalten  im  Mai  1921  an  der  Universität  Princeton.  Braun- 
schweig '22,  Iriedrig  Vieweg  i'^  Sohn  A.-G.     Geh.  60  M. 

Handbuch  der  Bienenkunde  in  Einzeldarstellungen. 
Zander,  Prof  Dr.  F.,  HI.  Der  Bau  der  Biene.  2.  Aufl. 
Stuttgart  '22,  Eugen  Ulmer. 

Schulz,  Roman,  Michaels  Führer  für  Pilzfreunde.  Aus- 
gabe E.      I.  Lieferung.     Zwickau  '22,  Förster  S  Borries. 


InllHlt:  Th.  Kopprinyi,  Theoretische  Erwägungen  über  die  Entstehung  der  Alterserscheinungen  und  des  Todes.  S.  569. 
Fr.  Wiegers,  Die  Entstehung  der  diluvialen  Kalktuflfe  des  Ilmtales  bei  Weimar.  S.  574.  —  Einzelbericbte:  Die 
Grundzüge  der  Verbreitung  der  Vegetation  im  Europäischen  Rußland.  S.  577.  W.  Gluud,  Die  Strukturformel  des 
Kupfersulfids.  S.  579.  J.  Piccard,  Die  Raumformel  des  Wassermolcküls.  S.  579.  K.  Strecker,  Die  neue  Normal- 
temperatur: -|-2o''  C.  S.  581.  —  Bücherbesprechungen:  E.  Titschak,  Beiträge  zu  einer  Monographie  der  Kleider- 
motte, Tineola  biselliella.  S.  582.  H.  Lehmann,  Die  Obstmade.  Cydia  (Carpocapsa)  pomonella  L.  S.  5S3.  H. 
Marzell,  Die  einheimische  Pflanzenwelt  im  Volksgebrauch  und  Volksglauben.  S.  584.  —  Literatur:  Liste.  S.   584 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'ichen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H,,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  2i.  Band; 
^r  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  22.  Oktober  1922. 


Nummer  43. 


[Nachdruck  verboten.] 


Velella   spirans. 

Von  Dr.  Lazar  Car-Zagreb. 
Mit   3  Abbildungen, 


Den  Bau  und  die  Lebensweise  der  Velella, 
eines  reizenden  glasartigen  azurblauen  Repräsen- 
tanten aus  der  Ordnung  oder  Subklasse  der  Sipho- 
nophoren  (Klasse  Hyodrozoa,  Stamm  Cnidaria, 
resp.  Coelenterata)  muß  ich  als  bekannt  voraus- 
setzen. Nur  so  viel.  Es  ist  das  ein  Siphonophor 
etwa  4  cm  lang,  der  zu  der  zweiten  Gruppe  der 
Siphonophoren  (im  Haeckelschen  Sinne) ,  zu  den 
Diskonanthen  gehört.  Diese  stellen  eine  Meduse 
mit  randständigen  Tentakeln  oder  Palponen  vor; 
aus  der  Mitte  der  Subumbrella  hängt  der  zentrale 
Magenstiel  (Hauptsiphon),  und  um  ihn  herum  viele 
sekundäre  Siphonen  oder  Gonozoiden.  An  den 
sekundären  Siphonen,  die  kleiner  sind  als  der 
Hauptmagen  (oder  Hauptsiphon),  die  aber  bei  der 
Velella  auch  mit  Mundöffnung  ausgestattet  sind, 
knospen  kleine  Medusen,  sog.  Chrysomitren ,  die 
erst  nach  der  Ablösung  weiterwachsen  und  ge- 
schlechtsreif werden,  damit  sie  die  Velella  nicht 
zu  stark  beschweren.  Speziell  bei  der  Velella  ist 
die  Umbrella  flach  scheibenförmig  von  rhomboider 
Form.  In  der  Richtung  der  kürzeren  Diagonale 
ist  ein  aufrechtgestellies  Segel  angebracht,  eine 
vertikal  gerichtete  Duplikatur  der  Haut  der  Exum- 
brella,  mit  einem  in  der  Mitte  grätenartigen  chiti- 
nösen  Skelett,  das  das  Segel  steif  hält.  Die  Ve- 
lella läßt  sich  ganz  passiv  von  dem  Winde  herum- 
treiben und  fängt  ihre  Nahrung  (Plankton)  wäh- 
rend der  Fahrt,  indem  sie,  durch  den  Wind  ge- 
trieben, stets  in  andere  Gebiete  ankommt.  Dieses 
Segeln  ist  aber  so  eigentümlich,  daß  es  wirklich 
der  Mühe  lohnt,  einmal  darauf  etwas  näher  ein- 
zugehen. Wie  dies  geschieht,  will  ich  eben  hier 
zeigen.  Vor  allem  muß  man  sich  die  Stellung 
des  Tieres  nach  der  beistehenden  Abb.  i   ansehen. 

Der  Wind  bläst  also  von  hinten.  Die  Größe 
seiner  Kraft  wäre  etwa  „a".  Da  diese  Kraft  schief 
an  der  Fläche  wirkt,  müssen  wir  sie  zerlegen ,  in 
eine  Komponente  die  parallel  mit  der  Fläche 
läuft  „b",  und  in  eine,  die  senkrecht  auf  sie  fällt 
„c".  Die  erste  Komponente  „b",  die  parallel  mit 
der  Fläche  läuft,  geht  fast  ganz  verloren,  und  so 
bleibt  nur  die  Komponente  „c",  die  aber  jetzt 
freilich  kleiner  ist  als  die  Resultante,  nämlich  die 
ursprüngliche  Kraft.  Versetzen  wir  jetzt  diese 
Komponente  auf  einen  anderen  Punkt,  etwa  in  die 
Mitte  „c"',  so  sehen  wir,  daß  sie  das  ganze  Tier 
nach  vorne  rechts  zieht.  Nun  aber  kommt  in 
Betracht  der  Widerstand  des  Wassers,  der  auf  die 
vorderen  Seiten  wirkt.  Diese  Kraft  des  Wider- 
standes wirkt  wieder  schief,  und  so  mössen  wir 
auch  hier  nur  die  senkrecht  wirkende  Komponente 


aufnehmen,  also  „d"  und  „e".  Nachdem  dieser 
Widerstand  unter  etwa  gleichen  Winkeln  an  die 
beiden  Seiten  stoßt,  so  würde  er  auch  an  beiden 
Seiten  gleich  stark  sein ;  doch  nachdem  die  rechte 
Seite  viel  länger  ist,  erübrigt  nur  die  Differenz 
zugunsten  der  Kraft,  die  von  der  rechten  Seite 
schräg  gegen  hinten  links  zieht,  also  ,,e'".  Und 
so  bekommen  wir  jetzt  die  beiden  Komponenten 
„c"'  und  „e"',  von  denen  die  Resultante  „R"  ist. 
Natürlich  ist  jetzt  die  Kraft  des  Windes  wieder 
um  etwas  verringert ,  aber  die  Richtung  ist  mit 
dem  des  Windes  beibehalten. 


Im  Falle,  daß  sich  die  Kraft  des  Windes  ver- 
stärken würde,  so  wäre  einfach  auch  die  Kompo- 
nente „c"'  größer,  aber  in  demselben  Verhältnisse 
auch  die  andere  Komponente  „e"',  also  auch  die 
Resultante  „R",  ohne  daß  sie  die  Richtung  ver- 
lassen würde  (Abb.  2).  Nehmen  wir  aber  an,  daß 
sich  die  Richtung  des  Windes  ändert;  er  komme 
plötzlich,  statt  von  hinten,  von  hinten  links,  also 
mehr  senkrecht  auf  das  Segel  als  früher.  Auch 
in  diesem  Falle  würde  die  Komponente  „c"' 
wachsen  (sogar  bei  derselben  Stärke  des  Windes), 
aber  ohne  daß  der  Widerstand  größer  würde; 
also  die  Resultante,  so  wie  auch  das  ganze  Tier 
würden  nach  rechts  schwenken,  so  lange  bis  nicht 
wieder  die  Richtung  des  Windes  erreicht  wäre. 
Wenn  hingegen  der  Wind  mehr  von  der  rechten 
Seite,  also  noch  schräger,  unter  einem  spitzeren 
Winkel  ankommen  würde,   so   müßte   die   Korn- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ponente  „c"'  kleiner  werden,  der  Widerstand 
des  Wassers  aber  im  Verhältnis  größer.  Die 
Resultante  und  das  ganze  Tier  müßte  nach 
links  schwenken,  wieder  so  lange,  bis  es  nicht  in 
die  Richtung  des  Windes  gelangen  würde.  Die 
Velella  ist  schon  so  gebaut,  daß  sie  der  Wind 
nur  vorwärts  treibt,  wenn  er  unter  einem  ganz 
bestimmten  Winkel  an  das  Segel  stößt;  in  jedem 
anderen  Falle  dreht  er  sie  so  lange  herum,  bis 
sie  nicht  in  diese  Richtung  fällt. 


Abb.  2. 

Wenn  aber  der  Wind  ganz  umschlägt,  wenn 
er  von  der  vorderen  Seite,  links  oder  rechts,  mehr 
oder  weniger  schräg,  oder  auch  gerade  von  vorne 
kommen  würde?  Das  Schififlein  braucht  sich  in 
diesem  Falle  gar  nicht  umzudrehen.  Nachdem  es 
vorne  und  hinten  ganz  gleich  gebaut  ist,  so  würde 
einfach  jetzt  das  Vordere  zum  Hinteren  und  um- 
gekehrt. 

Es  ist  also  gesichert,  daß  die  Velella  jeden 
Wind  ausnützt,  und  daß  sie  von  demselben  immer 
nach  vorne  getrieben  wird,  also  mit  dem  Winde 
segelt.  Die  deutschen  Seeleute  nennen  sie  zwar 
„Der  Segler  bei  dem  Winde",  das  bezieht  sich 
aber  nur  auf  die  Stellung  des  Segels,  welches  sich 
nicht  senkrecht  zum  Winde  stellt,  wie  es  der 
Schiffer  machen  würde,  wobei  der  Wind  freilich 
besser  ausgenützt  wäre,  sondern  das  Segel  wird 
gegen  den  Wind  immer  schräg  gestellt.  Und  es 
kann  schon  wegen  der  Konfiguration  der  Kon- 
turen der  Velella  gar  nicht  anders  sein.  Der 
plattförmige  Körper  ist  nämlich  nicht  wie  ein 
Schiff  spindelförmig,  sondern  vorne  und  hinten  in 
gleicher  Richtung  schräg  abgestutzt.  Es  ist  ein 
Rhomboid.  Freilich  nicht  ganz  streng  geometrisch 
mit  vollkommen  geraden  Seiten  und  scharfen 
Winkeln  (was  ja  in  unserem  Falle  gar  nicht  not- 
wendig ist),  aber  im  ganzen  doch  ein  Rhomboid. 
Und  gerade  damit  ist  alles  erreicht.  Nehmen  wir 
an  die  Velella  wäre  symmetrisch  gebaut,  vorne 
und  hinten  gleich  spitzig   oder    gleich  gerade  ab- 


gestutzt, der  Wind  würde  sie  in  diesem  Falle  als- 
bald in  seine  Richtung,  gleich  einer  Wetterfahne, 
bekommen,  und  dann  hört  auch  die  Wirkung  des 
Windes  völlig  auf.  Eben  erst  durch  die  schräge 
Abstutzung,  und  zwar  vorne  und  hinten  in  paral- 
leler Richtung,  und  zwar  so,  daß  das  vordere 
Ende  zwei  ungleich  lange  Seiten  dem  Widerstand 
des  Wassers  bei  Segeln  bietet,  also  durch  die  trape- 
zoidische  Form,  ist  das  ein-  für  allemal  völlig 
ausgeschlossen. 

Damit  ist  also  erreicht,  daß  die  Velella  mit 
jedem  Wind  immer  weiter  und  weiter  fährt,  ge- 
radezu segelt,  was  für  ihre  Ernährungsweise  von 
der  größten  Wichtigkeit  ist.  Sie  besitzt  keine 
langen  Fangfäden,  mittels  welcher  sie  ihre  Um- 
gebung weithin  abtasten  und  Beute  fangen  könnte. 
Der  zentrale  Magen  (Hauptsiphon)  ist  auch  kein 
langes  Saugrohr;  alle  ihre  übrigen  Anhänge  sind 
auch  kurz  an  der  unteren  Fläche  der  Scheibe 
(Subumbrella)  angebracht.  Sie  kann  daher  nur 
jener  Beute  habhaft  werden,  die  in  ihre  unmittel- 
bare Nähe  kommt.  Deswegen  muß  sie  selbst  die 
Beute  aufsuchen,  also  eine  große  Beweglichkeit 
besitzen.  Damit  sie  aber  ihre  Kräfte  nicht  zu 
viel  in  Anspruch  nimmt,  damit  sie  ihre  Energie 
spart,  überläßt  sie  sich  ganz  dem  Winde,  und 
läßt  sich  von  ihm  passiv  herumtreiben.  Mittels 
des  aulrechten,  dreieckigen,  sog.  lateinischen  Segels 
ist  ja  erreicht,  daß  sie  vom  Winde  getrieben  wird, 
und  durch  die  ganz  eigentümliche,  ja  fast  einzig 
im  ganzen  Tierreiche  dastehende  rhomboidische 
Form  der  Scheibe  ist  wieder  streng  nach  allen 
Regeln  der  Mechanik  dafür  gesorgt,  daß  sie  nicht 
wie  eine  Wetterfahne  in  die  Richtung  des  Windes 
gelangt,  wodurch  ja  natürlich  die  Kraft  desselben 
völlig  vernichtet  wäre.  Gewiß  also  eine  geniale 
„Erfindung".  — 

Damit  ist  aber  noch  nicht  alles  abgetan.  Am 
Körper  der  Velella  bemerken  wir  noch  einen 
biegsamen  häutigen  Saum,  der  den  Körper  rings 
herum  umsäumt,  und  welcher  nicht  durch  das 
chitinige  Skelett,  mit  seinen  konzentrischen  luft- 
erfüllten Ringen,  unterstützt  ist.  Dieser  Haut- 
saum, natürlich  auch  von  rhomboidischer  Form, 
wird  wohl  auch  nicht,  wie  überhaupt  nichts  in 
der  Natur,  umsonst  da  sein.  Schon  aus  der  Be- 
schaffenheit, Form  und  Lage  dieses  Hautsaums, 
der  auch  einfach  Kragen  (collare)  genannt  wird, 
geht  hervor,  daß  er  eine  Bremsevorrichtung  dar- 
stellt. Bei  sehr  starken  reißendem  Winde  würde 
die  Velella  mit  einer  rasenden  Geschwindigkeit 
dahinsausen,  so  daß  es  ihr  gar  nicht  möglich 
wäre  zu  fressen.  Und  solche  Witterung  kann  ja 
bekanntlich  auch  längere  Zeit  andauern.  Wenn 
sie  aber  diesen  Saum  an  ihren  beiden  hinteren 
Seiten  nach  unten  schlägt,  müssen  sie  ohne 
weiteres  eine  Hemmung  in  der  Geschwindig- 
keit des  Fluges,  oder  eigentlich  des  Segeins  be- 
wirken. Es  fragt  sich  nur  ob  nicht  dadurch 
eine  Abschwenkung  von  dem  eingeschlagenen 
Kurse  hervorgerufen  wird.  Der  Widerstand  des 
Wassers,   der,  wie  oben  angenommen  würde,  auf 


N.  F.  XXI.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  scharfen  Ränder  der  beiden  ungleich  langen 
vorderen  Seiten  eingewirkt  hat,  stößt  jetzt  noch 
stärker  an  die  inneren  Flächen  des  nach  unten 
geschlagenen  Saumes  der  beiden  hinteren  Seiten; 
sie  bieten  ja  jetzt  eine  größere  Fläche  dem  Wider- 
stände dar,  als  der  horizontal  ausgebreitete  Saum 
an  den  beiden  vorderen  Seiten  tun  konnte.  Wie 
wir  oben  gesehen  haben,  waren  die  beiden  durch 
den  Widerstand  erzeugten  Kräfte  der  vorderen 
Seiten  nicht  gleich  stark.  Die  eine  überwog  und 
zog  nach  links,  korrigierte  eben  die  Richtung  der 
Komponente  „c"'  und  erzeugte  erst  dadurch  die 
schließliche  Resultante  „R".  Die  längere  Seite, 
jetzt  können  wir  bei  dem  nach  unten  geschlagenen 
Saume  auch  wohl  mit  größerem  Rechte  von  den 
Flächen  reden,  ist  ja  aber  jetzt  an  der  linken 
Seite,  die  kürzere  auf  der  rechten.  Nun,  das 
würde  ja  noch  nicht  viel  ausmachen,  denn  der 
stärkere  Zug  ist  ja  auch  früher  nach  links  erfolgt. 
Da  aber  jetzt  die  Komponente  gewachsen  ist, 
müßte  die  ganze  Velella  mehr  nach  links 
schwenken  und  somit  die  Richtung  des  Kurses 
—   das  ist   die  Richtung   des  Windes,  den  sie  ja 


Abb.  3. 

nicht  verlassen  darf  —  aufgeben.  Die  Abb.  3 
veranschaulicht  uns  das  noch  besser.  Wir  sehen, 
daß  die  Komponente  „e"',  rebus  hie  stantibus, 
gewachsen  ist,  und  da  müßte  auch  freilich  die 
Resultante  von  „R"  nach  „R"'  ziehen.  Aber  die 
Angriffspunkte  der  Kraft  des  Widerstandes  waren 
ja  früher  an  der  vorderen  Hälfte  von  der  Längs- 
achse, an  beiden  vorderen  Seiten,  angebracht. 
Jetzt  befindet  sich  jedoch  die  hintere  rechte  Seite 
(Fläche)  ganz  und  die  linke  zum  größten  Teile 
in  der  hinteren  Hälfte  des  Tieres.  Wenn  man 
aber  an  einem  zweiarmigen  Hebel,  und  das  stellt 
der  Körper  der  Vetella  auch  vor,  das  hintere 
Ende  nach  links  schiebt,  so  muß  dadurch  — 
wenn  der  Stützpunkt  in  der  Mitte  liegt  —  das 
vordere  Ende  gerade  um  soviel  umgekehrt,  näm- 
lich in  diesem  Falle  nach  rechts  ablenken. 


Also  die  Genialität  geht  in  der  Tat  noch 
weiter,  und  die  Velella  verfügt,  wie  wir  sehen, 
in  ihrer  Art  des  Bremsens  noch  immer  über  Mittel, 
die  ihr  gestatten  sich  nicht  vom  Winde  in  seine 
Richtung  fangen  zu  lassen.  Die  Resultante  „R"' 
muß  also  wieder  in  die  vorgeschriebene  Richtung 
„R"  gelangen,  nur  ist  sie,  wie  es  schon  aus  der 
Figur  ersichtlich  ist,  wieder  kleiner  geworden. 

Die  Velella  kann  somit,  indem  sie  wie  eine 
Feder  leicht  ist,  schon  von  dem  schwächsten 
Winde  getrieben  werden,  und  andererseits  kann 
sie  sich  vor  dem  zu  schnellen  Fluge  durch  ihre 
ganz  spezifische  Art  von  Bremse  wehren.  Und 
was  das  wichtigste  ist,  sie  behält  stets  dieselbe 
Lage  ihres  Körpers  dem  Winde  gegenüber  bei; 
sie  ist  also  wahrlich  durch  die  permanente  Stel- 
lung ihres  Segels  ein  „Segler  bei  dem   Winde". 

Wir  haben  als  die  Vorrichtung  der  Retention, 
des  Bremsens,  den  Umschlag  der  Falten  der  hin- 
teren Hälfte  angenommen,  warum  auch  nicht  der 
vorderen  ?  Ich  glaube,  daß  die  Biegung  auch 
noch  der  vorderen  Seiten  resp.  Flächen  nicht 
viel  mehr  dazu  beitragen  könnten.  Denn,  wenn 
man  eine  Fläche  gegen  einen  Widerstand  oder 
überhaupt  gegen  eine  Kraft  wirken  läßt,  so  kann 
eine  andere  ebensolche  knapp  vor  ihr  oder  nach 
ihr  liegende,  mit  ihr  parallellaufende  Fläche  gar 
nichts  daran  ändern.  Der  Umschlag  des  hinteren 
Saumes  kann  aber  noch  die  Bedeutung  haben, 
daß  das  gefangene  Plankton  unter  der  Subum- 
brella  aufgehalten,  aufgestaut  wird,  damit  es  nicht 
bei  einem  zu  raschen  Fluge  zu  eiligst  unter  dem 
Körper  davon  läuft.  Fände  das  auf  der  vorderen 
Hälfte  statt,  so  könnte  die  Beute  gar  nicht  bis 
zum  Magenstiel  gelangen.  Daß  der  Saum  auch 
an  der  vorderen  Hälfte  des  Körpers  vorkommt, 
kann  uns  nicht  überraschen,  denn  die  Velella  ist 
eben  so  gebaut,  daß  ihr  Vorderteil  dem  hinteren 
ganz  gleich  ist  und  jederzeit  der  eine  die  Rolle 
des  anderen  übernehmen  kann. 

Nun  aber  wollen  wir  nur  noch  eine  kleine, 
eventuelle  Frage  im  vorhinein  beantworten.  Was 
würde  geschehen,  wenn  sich  nicht  beide  hinteren 
Falten  umschlagen  möchten  oder  nicht  gleich 
stark  wären?  In  diesem  Falle  ist  es  klar,  daß 
die  Velella  von  ihrem  Kurse  ablenken  könnte, 
also  steuern.  Das  tut  sie  aber  nicht.  Denn  die 
Stellung  ihres  Segels  dem  Winde  gegenüber  ist 
geradezu  ideal,  und  andererseits  verfügt  sie  nicht 
über  solche  Fernsinne,  mit  denen  sie  eruieren 
könnte,  ob  sich  eine  größere  Beute  auf  der  linken 
oder  rechten  Seite  ihres  Kurses  befindet.  Das 
letztere  ist  aber  auch  verhängnisvoll  genug  für 
sie.  Die  Velellen  werden,  wie  uns  die  Beobach- 
tung lehrt,  sehr  oft  gerade  in  Unmassen  auf  den 
Strand  geschleudert,  wobei  sie  natürlich  zugrunde 
gehen  müssen.  Sie  sind  eben  vollkommene  pela- 
gische  Tiere,  die  nur  an  die  Hochsee  angepaßt 
sind,  aber  an  diese  in  einer  ganz  besonderen, 
geradezu  genialer  Weise. 

Was  geben  uns  aber  solche  Beispiele  der 
scharfsinnigsten  Einrichtungen,  die  wir  nach  allem 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  43 


unseren  Denkvermögen  unbedingt  genial  nennen 
müssen,  in  der  unvernünftigen  Natur  zu  denken? 
Daß  sie  eben  nicht  vernunftlos  ist;  daß  das  zu- 
fällige richtungslose  Variieren,  daß  mit  einem 
Worte  der  bloße  Zufall  das  nie  zustande  bringen 
könnte.  Können  wir  aber  annehmen,  daß  die 
Velella  mit  einem  vorgefaßten  Entwürfe,  mit 
Zirkeln  und  Linealen,  mit  Kräfteparallelogrammen 
und  mit  dem  Behelfe  der  ganzen  Mechanik  zu 
Werke  gegangen  ist?  Auch  nicht.  Aber  ebenso 
wie  die  Naturgesetze,  so  scheint  auch  die  zwin- 
gende Logik  überall  in  der  Welt  zu  walten.  Auch 
wir  vernünftigen  Menschen  erreichen  nicht  immer 
unser  Ziel  durch  einen  unfehlbaren  Plan,  sondern 
die  Praxis  korrigiert  zu  oft  unsere  Fehler  und 
belehrt  uns  eines  Besseren.  Wenigstens  aber  ein 
gewisses  Denkvermögen,  das  uns  lehrt  was  besser 
und  was  schlechter,  was  für  uns  vorteilhafter  und 
was  nicht  ist,  müssen  wir  unbedingt  besitzen. 
Wenn  wir  aber  ein  solches  haben,  dann  können 
wir  oft  auch  ohne  glückliche  Einfälle,  ohne  In- 
vention  mit  diesem  Vermögen  allein  schon  sehr 
vieles  erreichen  und  weiter  fortschreiten.  Und 
wenigstens  dieses  geistige  Vermögen  müssen  wir 


auch  den  Tieren,  ja  auch  den  Pflanzen  unbedingt 
konzedieren.  Ich  sagte  ,, wenigstens",  denn  was 
wissen  wir  was  in  einem  Tiere  vorgeht.  Wir 
glauben  nur  das  zu  wissen,  was  unser  Bewußtsein 
uns  lehrt.  Es  kann  aber  noch  ein  anderes  Wissen 
in  uns  selbst  und  auch  außer  uns  geben.  Wenn 
uns  also  schon  nach  unserem  bewußten  Denken 
vorkommt,  daß  irgend  etwas  nicht  nur  nach  den 
Gesetzen  der  Natur  —  denn  außer  diesen  kann 
ja  nichts  in  der  Welt  vorkommen,  sie  sind  eben 
der  Reflex  der  Welt  —  sondern  auch  mit  erfin- 
derischen Gaben  außerordentlich  glücklich  und 
geistreich  zusammengestellt  ist,  daß  die  Gesetze 
in  einer  vernünftigen  Weise  kombiniert  und  aus- 
genützt sind,  also  wenn  wir  etwas  Rationelles, 
wirklich  Sinnreiches  wo  immer  finden,  wer  kann 
uns  dann  daran  hindern,  es  auch  als  solches  an- 
sehen ?  Vor  so  ein  Rätsel  einmal  gestellt,  heißt 
aber  dann  nicht  das  Geniale  leugnen,  sondern  im 
Gegenteil  den  Auktor,  das  Genie  aufsuchen.  Eine 
Frage,  richtig  gestellt,  ist  freilich  noch  nicht  zu- 
gleich eine  Beantwortung  derselben,  aber  der  erste 
Schritt  dazu  ist  damit  doch  immer  getan. 


Einzelberichte. 


Neue  Beiträge  zur  Theorie  uud  Praxis 
katalytisclier  Hydrierungen.   II. 

In  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XX,  S.  396 
(1921)  war  unter  dem  gleichen  Titel  eine  Arbeit 
von  R.  Willstätter  und  E.  Waldschmidt- 
Lei  tz^)  referiert  worden,  die  zu  zwei  wichtigen 
und  weittragenden  Folgerungen  geführt  hatte: 
Es  war  darin  die  für  die  Praxis  hochbedeutsame 
Entdeckung  mitgeteilt  worden,  daß  „katalytische 
Hydrierung  durch  Platin  und  Palladium  als  Mohr 
und  als  Oxyd  nur  bewirkt  wird ,  wenn  diese 
Sauerstoff  gebunden  enthalten".  Der  Vorgang 
der  Anlagerung  von  Wasserstoff  bedürfe  also  not- 
wendig seines  Antagonisten,  des  Sauerstoffs I  Es 
war  ferner  die  für  die  Theorie  des  Hydrierungs- 
vorgangs wichtige  Auffassung  formuliert  worden, 
daß  jene  Wirksamkeit  des  Sauerstoffs  auf  der 
intermediären    Bildung    eines    Peroxyds,    etwa 

/° 
der  Formel  Pt(    |  ,   beruhe,   das  mit  Wasserstoff 

^0 

in  ein  Peroxydhydrid  der  Formel       /Pt\    |    über- 

H^  \0 
geht.  „Danach  beruht  die  Wasserstoffübertragung 
auf  einem  Spiele  zwischen  zwei  Valenzstufen  des 
Platins."  Willstätter  fügt  allerdings  hinzu,  daß 
beim  Nickel  (das  in  der  Fetthärtung  weitaus 
wichtigste  Katalysatorenmaterial)  „die  den  Wasser- 
stoff übertragenden  Sauerstoffstufen  nicht  per- 
oxydisch  sind".  -') 

')  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.   113,   1921. 
*)  Ebenda  S.  120. 


Wie  zu  erwarten,  haben  diese  Mitteilungen 
Aufsehen  gemacht.  Eine  Reihe  von  Arbeiten  zu 
dem  Thema  haben  die  beiden  Hauptbefunde  einer 
eingehenden  kritischen  Prüfung  unterzogen.  Es 
soll  darüber  im  folgenden  berichtet  werden. 

Unter  den  Veröffentlichungen,  die  sich  auf  den 
rein  experimentellen  Inhalt  der  Willstätter  sehen 
Arbeit  beziehen,  nehmen  naturgemäß  die  Arbeiten 
der  Industriechemiker,  die  mit  Hydrierungen  in 
großem  Maßstabe  eng  vertraut  sind,  die  Haupt- 
stellung ein.  Ms  Erster  hat  C.  Kelber^)  die 
Richtigkeit  der  Beobachtungen  Willstätters 
bestritten.  Ihm  war  ein  besonderer  Einfluß  der 
Luft,  also  des  Sauerstoffs,  bei  Hydrierungen  nie 
aufgefallen.  Bei  einer  Nachprüfung  der  Will- 
stätt ersehen  Arbeit  wurde  bestätigend  gefunden, 
daß  eine  Erhöhung  der  Aktivität  des  Katalysators 
infolge  Sauerstoffbeladung  nicht  stattfindet.  Bei 
diesem  glatten  Widerspruch  muß  jedoch  auf  einige 
Unterschiede  in  der  IVIethode  beider  Autoren  auf- 
merksam gemacht  werden.  Willstätter  gewann 
sein  katalytisch  wirkendes  Nickel  aus  dem 
Oxalat,  das  durch  Glühen  in  das  Oxyd,  dieses 
durch  Reduktion  in  das  Metall  übergeführt  wurde. 
Kelber  geht  aus  vom  basischen  Nickel- 
karbonat. Der  hieraus  dargestellte  Katalysator 
soll  nach  seinen  Untersuchungen  dem  aus  Oxalat 
gewonnenen  überlegen  sein.  Kelber  hält  es 
für  nötig,  zu  derartigen  Vergleichsversuchen  „nor- 
mal wirksame"  Katalysatoren  zu  verwenden,  da- 
mit eine  etwaige  „Inaktivität"  nicht  etwa  der 
Minderwertigkeit     des     Katalysator  metalls     an 


')  Ebenda  S.  1701. 


N.  F.  XXI.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


589 


sich  zur  Last  falle.  (Hierzu  ist  zu  fragen,  welches 
Kriterium  für  „normale"  Wirksamkeit  denn  be- 
steht? Auch  das  von  W.  bereitete  Nickel  kata- 
lysiert ja,  wenn  die  Reduktion  bei  niederer  Tem- 
peratur vorgenommen  wurde.  Ref.)  Wenn 
K eiber  die  Hydrierung  in  einer  Schiittelente 
vornahm,  die  vorher  als  Gefäß  zur  Darstellung 
des  Nickels  gedient  hatte  (so  daß  Umfüllen,  also 
Lufteinwirkung  vermieden  wurde),  so  zeigte  sich, 
daß  bei  350 — 360°  hergestellter  Nickelkatalysator 
gut  aktiv  warl  Ein  Katalysator  jedoch,  der 
bei  tieferer  Temperatur  als  der  angegebenen  her- 
gestellt war,  war  wesentlich  geringer  aktiv. 
Dies  steht  in  vollem  Gegensatz  zu  Willstätters 
Befunden.  Sodann  wurde  der  bei  350 — 360**  her- 
gestellte Nickelkatalysator  mit  Sauerstoff  geschüt- 
telt. Er  nahm  beträchtliche  Mengen  davon  auf. 
Bei  der  nachfolgenden  Prüfung  auf  Hydrierfähig- 
keit erwies  sich  der  sauerstoffbeladene  Katalysator 
jedoch  völlig  inaktiv!  Auch  dies  steht  in 
ganz  auffallendem  Widerspruch  zu  Willstätters 
Befund  und  verneint  gerade  den  Kernpunkt  von 
dessen  Untersuchung,  wonach  der  Sauerstoff  zur 
Hydrierung  unerläßlich  sei.  Ein  zweiter  Unter- 
schied in  der  Arbeitsweise  der  beiden  Forscher 
kann  für  diesen  Widerspruch  nicht  verantwortlich 
gemacht  werden.  Er  besteht  darin,  das  WiU- 
stätter  die  Hydrierung  bei  60",  Kelber  aber 
bei  18 — 20"  vornimmt.  Denn  einmal  muß,  im 
Sinne  der  W.schen  Vorstellung  vom  Verlauf  der 
Hydrierung,  der  Einfluß  des  Sauerstoffs  immer 
der  gleiche  sein.  Hier  bewirkt  er  aber  einander 
entgegengesetzte  Wirkungen!  Und  auch 
die  erhöhte  Temperatur  bei  W.  ist  nicht  aus- 
schlaggebend, denn  wäre  sie  von  Einfluß,  so 
müßten  sich  bei  gewöhnlicher  Temperatur  wenig- 
stens Andeutungen  einer  dem  Sinne  nach  gleichen 
Wirkung  des  Sauerstoffs  zeigen :  werden  doch  die 
meisten  Fetthärtungen  und  anderen  Hydrierungen 
bei  Zimmertemperatur,  nicht  aber  erst  bei  60" 
wirksam  gemacht  und  praktisch  angewendet.  — 
Hier  steht  zunächst  Behauptung  gegen  Behauptung. 
Die  Befunde  Kelbers  finden  nun  aber  eine 
wertvolle  Bestätigung  durch  eine  soeben  erschie- 
nene Arbeit  von  W.  Normann,  dem  Bahnbrecher 
der  technischen  Hydrierungen.*)  Die  Arbeit  Nor- 
manns zeichnet  sich  vor  allem  aus  durch  sorg- 
fältigste Handhabung  der  Methodik,  deren  Haupt- 
inhalt der  absolute  Ausschluß  des  Sauerstoffs 
war.  Auch  gegen  Kelber  kann  noch  der  Ein- 
wand gemacht  werden,  daß  zwar  sein  Katalysator 
und  sein  Versuchsapparat  sauerstofffrei  waren, 
nicht  aber  möglicherweise  der  von  ihm  benutzte 
Wasserstoff.  Gerade  auch  hierauf  legte  Nor- 
mann Gewicht.  In  der  Tat  zeigte  sich  der 
Wasserstoff,  wie  er  in  der  Regel  zu  Hydrierungen 
benutzt  wird,  oft  genug  nicht  völlig  frei  von 
Sauerstoff.  Selbst  der  elektrolytisch  dargestellte 
Wasserstoff  enthält  nach  Normann  häufig  merk- 
liche Mengen  davon.     Die  Bezeichnung  „garantiert 

')  Ebenda  55,  S.  2193,  1922. 


rein"  ist  mithin  cum  grano  salis,  nicht  wissen- 
schaftlich exakt  zu  bewerten.  Als  Indikator  selbst 
für  Spuren  von  Sauerstoff  diente  eine  unter  Luft- 
abschluß hergestellte  alkalische  Pyrogallollösung. 
Auch  eine  durch  etwas  Hydrosulfit  eben  entfärbte 
Lösung  von  Indigokarmin  kann  als  Sauerstoff- 
indikator dienen.  Eine  Spur  davon  färbt  die 
Lösung  alsbald  blau.  —  Demnächst  stellte  Nor- 
mann unter  Berücksichtigung  der  vorerwähnten 
Umstände  absolut  sauerstofffreien  Wasserstoff  da- 
durch her,  daß  er  elektrolytisch  gewonnenen 
Wasserstoff  über  eine  erwärmte  Flocke  von  Palla- 
diumasbest leitete,  hierauf  durch  eine  der  ge- 
nannten Indikatorlösungen  schickte.  Aus  der 
Unveränderlichkeit  der  Lösungen  ergab  sich,  daß 
der  Norman nsche  Wasserstoff  bestimmt  rein 
war.  Von  einem  Vergleich  verschiedener  Kata- 
lysatoren oder  Arbeitsbedingungen  sah  Nor  mann 
mit  Fug  ab.  Es  handelt  sich  in  seiner  Arbeit 
lediglich  um  die  Hauptfrage,  ob  katalylische 
Hydrierungen  ohne  Sauerstoff  möglich  sind. 
Dennoch  wurde  selbstverständlich  auf  Sauerstoff- 
abwesenheit auch  in  den  Katalysatoren  Wert  ge- 
legt. Als  solche  wurden  verwendet  das  Chlorid 
und  das  Cyanid  des  Nickels.  Die  Hydrierung 
wurde  vorgenommen  an  raffiniertem,  mit  Dampf 
ausgeblasenem  Baurnwollsaatöl.  (Auf  Abwesenheit 
von  Luftspuren  im  Ol  wurde  wohl  geachtet?  Ref.) 
Das  Ergebnis  war  ganz  eindeutig  und  glatt  zu 
erzielen.  Es  spricht  gänzlich  gegen  Will- 
stätter.  Nickelcyanid  reduzierte  bei  etwa  200" 
ohne  Ermüdung  3  Stunden  hindurch  und  lieferte 
ein  talghartes  Fett.  Nickelchlorid  mit  einer 
Menge  von  0,3  "/„  Nickel  reduzierte  gleichfalls 
mehrere  Stunden  lang  und  lieferte  ein  festes  „hoch- 
talghartes"  Fett !  Endlich  wurde  auch  ein  Edel- 
metall zur  katalytischen  Hydrierung  verwendet: 
0,1  g  Palladiumchlorür,  in  Wasser  gelöst  und  auf 
Kieselgur  niedergeschlagen  reduzierten,  härteten 
also  Baurnwollsaatöl  genau  so  wie  Nickel  inner- 
halb 2  Stunden  zu  talghartem  Fett.  Nor  mann 
kommt  mithin  zu  dem  Ergebnis,  daß  Sauerstoff 
zur  Hydrierung  im  besonderen  der  Öle  nicht 
unerläßliche  Bedingung  sei.  „Die  von  Will- 
stätter  gemachten  Beobachtungen  erfordern 
wohl  eine  andere  Erklärung."  Diese  Ergebnisse 
decken  sich  auch  mit  der  industriellen  Erfahrung, 
daß  ein  Sauerstoffgehalt  von  nur  einigen  Zehntel- 
prozenten den  Hydrierungsvorgang  stört.  Für 
die  schon  von  Brochet')  gemachte  Beobachtung, 
daß  restlos  reduziertes,  also  gänzlich  sauerstoff- 
freies Nickel  inaktiv  sei,  gibt  Normann  eine 
einleuchtende,  weil  experimentell  beglaubigte  Er- 
klärung: selbst  bei  niedriger  Reduktionstemperatur 
sintert  das  reduzierte  Metall  zusammen,  büßt  also 
an  Oberfläche  ein.  Die  Oberfläche  aber,  darin 
stimmt  man  überein,  ist  von  wesentlichem  Ein- 
fluß auf  die  Wirksamkeit  des  Katalysators.  Ist 
dagegen  ein  Träger  für  das  reduzierte  Nickel  an- 
wesend, etwa  Kieselgur,    so  verhindert  dieser  das 


')  BuUetia  de  la  Soc.  Chim.   15,  S.  554,  1914. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Sintern,  wahrt  also  die  bedeutende  Oberfläche  und 
gestattet  restlose  Reduktion,  die  denn  ein  Metall 
von  normalem  Katalysatorenwert  liefert. 

Ein  dritter  Forscher,  der  sich  gegen  die  Be- 
obachtungen Willst ätters  kehrt,  ist  A.  Skita.*) 
Skita,  dessen  wertvolle  experimentelle  Arbeiten 
auf  dem  Gebiet  der  katalytischen  Hydrierungen 
ihn  zu  einem  gewichtigen  Gewährsmann  machen, 
führte  Parallel  versuche  dergestalt  aus,  daß  unter 
sonst  übereinstimmenden  Bedingungen  je  eine 
Hydrierung  in  gewöhnlicher  Weise,  ohne  beson- 
deren Ausschluß  von  Sauerstoff,  und  eine  solche 
mit  bestgereinigtem  Wasserstoff  unter  Sauerstoff- 
ausschaltung vorgenommen  wurde.  Reduziert 
wurden  Pulegon  und  as.-p-Xylidin  mit  Platin  und 
Palladium  als  Katalysatoren.  Beide  Stoffe  lieferten 
in  quantitativer  Ausbeute  die  erwarteten 
Reduktionsprodukte,  nämlich  Menthon  und  i- 
Amlno  2- 5.-dimethyl-cyclohexan  !  Damit  ist  be- 
wiesen I.  daß  Sauerstoff  auf  die  Geschwindigkeit 
so  wenig  wie  auf  den  qualitativen  Verlauf  der 
katalytischen  Hydrierung  irgendwelchen  Einfluß 
hat;  daß  2.  die  Bildung  eines  Superoxyds  als 
intermediärer  Katalysator  nicht  angenommen 
werden  muß,  denn  in  je  einem  der  Versuche  war 
auf  absolute  Abwesenheit  jeglichen  Sauerstoffs 
Wert  gelegt  worden.  Ja,  die  von  Skita  ausge- 
führten Hydrierungen  hätten  überhaupt  nicht  vor 
sich  gehen  können,  wenn  die  Bildung  einer  Super- 
oxyds, wie  Willstätter  annimmt,  die  Voraus- 
setzung für  die  Wirksamkeit  des  Platins  wäre. 
Denn  der  völlige  Ausschluß  von  Sauerstoff  in 
einigen  Versuchen  schließt  die  Bildung  eines  Oxy- 
des oder  gar  Peroxydes  aus.  Um  aber  sicher  zu 
gehen,  wurde  von  Skita  weiterhin  unmittelbar 
auf  die  Anwesenheit  eines  Superoxydes  geprüft. 
Ein  solches  macht,  auch  in  kleinsten  Mengen,  aus 
Jodiden  bekanntermaßen  Jod  frei.  Dieses  läßt 
sich  scharf  nachweisen  durch  die  Bläuung  von 
Stärke  und  seine  veilgefärbte  Schwefelkohlenstoff- 
lösung. Aber  eine  kolloidale  Platinlösung  in 
Alkohol,  der  etwas  Kaliumjodid  zugefügt  war  und 
die  mit  Wasserstoff  2  Stunden  lang  geschüttelt 
wurde,  zeigte  auch  nicht  die  Spur  freien  Jods  an. 
Es  war  also  ein  Peroxyd  sicherlich  nicht  ge- 
bildet worden.  Ferner  sollten  Hydrierungen  mit 
Platin  als  Katalysator  in  Gegenwart  von  Kalium- 
jodid überhaupt  völlig  negativ  verlaufen,  wenn 
die  Annahme  der  Peroxydbildung  zuträfe:  das 
gebildete  Superoxyd  müßte  sofort  Jod  frei  machen, 
würde  also  verbraucht,  der  Katalysator  wäre 
mithin  wirkungslos.  Wenn  Skita  jedoch  der 
eben  erwähnten  jodidhaltigen  Lösung  Phenol 
zusetzte  und  mit  Wasserstoff  weiterhin  schüttelte, 
so  wurde  in  2  Stunden  das  Phenol  quantitativ 
in  sein  Reduktionsprodukt  Cyclohexanol  überge- 
führt. Auch  dieser  Befund  ist  ganz  eindeutig 
gegen  die  theoretischen  Vorstellungen  Will- 
stätters.  Freilich  beziehen  sich  dessen  Mit- 
teilungen   auf    Hydrierungen    bei    Temperaturen, 


die  teilweise  weit  über  Zimmertemperatur  liegen. 
Es  zeigte  sich  axich  in  Skitas  Versuchen  ein 
Einfluß  der  Temperatur,  so  daß  hier  experimentell 
noch  nicht  völlig  klare  Verhältnisse  herrschen. 
Wohl  aber  darf  man  festhalten,  daß  für  die  An- 
nahme einer  Peroxydbildung  keine  experimen- 
telle Begründung  vorliegt. 

Diesen  Nachweis  führt  auch  K.  A.  Hofmann') 
in  Versuchen  über  die  Katalyse  von  Sauerstoff- 
Wasserstoffgemischen  durch  Platinmetalle.  Auch 
diese  belangvolle  und  inhaltsreiche  Arbeit  spricht 
sich  entschieden  gegen  Willstätter  aus.  Ihr 
hier  in  erster  Linie  angehender  Inhalt  ist  der 
Nachweis,  daß  weder  chemisch  noch  in  Potential- 
messungen ein  Anhalt  für  die  Annahme  eines 
Peroxydhydrids  gegeben  ist.  In  dem  Schenkel 
eines  U-Rohres  war  ein  mit  Platin  getränktes 
Tonrohr  befestigt,  das  von  17  proz.  Schwefelsäure 
umgeben  war.  Nach  mehrtägiger  Sauerstoffbela- 
dung konnte  die  Aktivierung  des  Sauerstoffs  durch 
Jodabscheidung  aus  Jodid  deutlich  und  sehr  glatt 
nachgewiesen  werden.  Nunmehr  wurde  Wasser- 
stoff zugeführt.  Alsbald  setzte  die  Katalyse  kräf- 
tig ein,  aber  nicht  die  Spur  von  Jodabscheidung 
wurde  noch  bemerkt.  Ganz  sicherlich  also  ist 
die  Knallgaskatalyse  nicht  mit  dem  Auftreten 
eines  Peroxydes,  das  sich  bei  reinem  Sauerstoff 
auf  Platin  leicht  bildet,  verknüpft.  Ein  zweiter 
Nachweis  hierfür  ist  der  folgende:  wurde  das  U- 
Rohr  mit  einer  i  proz.  Titansulfatlösung  in  17  proz. 
Schwefelsäure  gefüllt,  so  konnte  niemals  die  für 
Hydroperoxyd  so  sehr  kennzeichnende  Gelbfär- 
bung beobachtet  werden,  auch  wenn  Gemische 
von  Wasserstoff  und  Sauerstoff  mit  großer  Ge- 
schwindigkeit katalysiert  wurden.  Vielmehr  trat 
nach  längerer  Beladung  mit  Wasserstoff  die 
helle  Veilfarbe  des  Titan  (3)-sulfates  auf  (Wir 
erwähnen  diesen  Versuch,  weil  er  ein  schönes 
Demonstrationsstück  für  die  Reduktionswirkung 
des  an  Platin  aktivierten  Wasserstoffes  ist.)  — 
Die  auch  von  anderer  Seite  gemachte  Beobach- 
tung, daß  Sauerstoff  ermüdete  Platinkatalysatoren 
belebt,  erklärt  Hofmann  in  sinnreicher  Weise 
so,  daß  bei  der  Knallgaskatalyse  (nur  diese  hat 
er  untersucht.  Ref)  neben  den  ,, physikalischen" 
Adsorptionskräften  „die  chemische  Anziehung" 
eine  bedeutende  Rolle  spielt.  Denn  es  ließ  sich 
nachweisen,  daß  Vorausbeladung  des  Platinkon- 
taktes sowohl  mit  Wasserstoff  einerseits,  wie 
auch  mit  Sauerstoff  im  anderen  Falle  in  glei- 
cher Weise  die  Aufnahmefähigkeit  für  das  zur 
Wasserbildung  noch  fehlende  Element  erhöht! 
Also  kommt,  zum  mindesten  in  diesem  Falle, 
dem  Sauerstoff  nicht  eine  spezifische  Wirk- 
samkeit zu.  Und  so  dürfte  sich  seine  Rolle  in 
den  von  W.  beschriebenen  Fällen  darauf  be- 
schränken, daß  er  auf  den  mit  Wasserstoff  über- 
sättigten Katalysator  reinigend  in  dem  Sinne 
wirkt,  daß  die  katalysierende  Oberfläche  sich  mit 
dem  zur  chemischen  Umsetzung  nötigen  anderen 


')  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  üesellsch.  55,  S.   139,  1922. 


')  Ebenda  S.  573,  1922. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


591 


Partner  der  Katalyse,   d.  h.  den  zu  reduzierenden 
Stoff  beladen  kann. 

Zusammenfassend  können  wir  den  heutigen 
Stand  des  Problems  der  katalytischen  Hydrierung 
so  präzisieren:  die  Behauptung  von  Willst ätt er 
und  Waldschmidt-Leitz,  daß  katalytische 
Hydrierungen  „nur"  bei  Anwesenheit  von  Sauer- 
stoff vor  sich  gehen,  ist  unzutreffend.  Nicht 
nur  ist  der  Sauerstoff  per  se  unnötig,  sondern 
zuweilen  (so  in  der  Fetthärtung*))  sogar  schäd- 
lich. In  vielen  Fällen  kann  er  eine  zur  Erreichung 
des  Katalysationspotentials  nötige  „Reinigung" 
des  Katalysators  bewirken.  Hierauf  dürfte  es 
beruhen,  daß  neuerdings  K.  Heß-)  mit  erneuter 
Sauerstoffbeladung  nach  Ermüdung  des  Kataly- 
sators diesen  wiederbelebte,  was  ausdrücklich 
auf  Grund  der  W.schen  Aj-beit  vorgenommen 
wurde.  ^)  Die  weitere  hypothetische  Vorstellung 
Willstätters,  daß  ein  Platinsuperoxyd  die 
katalytisch  wirksame  Zwischenstufe  sei,  ist  gleich- 
falls experimentell  so  gut  wie  völlig  unwahr- 
scheinlich geworden.  Immerhin  wird  es  vieler 
Arbeiten  bedürfen  um  in  diese  Verhältnisse  ent- 
gültige Klarheit  zu  bringen.  H.  Heller. 

Neue  Misteluntersuchungen. 

Während  die  Blütenbiologie  unserer  einhei- 
mischen Mistel  {Vtscuiii  album  L.)  noch  immer 
nicht  völlig  aufgeklärt  ist,  scheinen  nun  wenigstens 
dank  der  sorgfälligen  Untersuchungen  von  E.  Hein- 
richer die  Bestäubungsverhältnisse  der  rotbeerigen 
Mistel  ( V.  cruciatuvi)  sicher  festgestellt  zu  sein.*) 


Von  einer  Frühjahrsbestäubung  durch  Insekten, 
wie  sie  nach  v.  Tubeuf  auch  bei  dieser  Mistel 
stattfinden  soll,  kann  nach  den  Beobachtungen 
von  E.  H.  keine  Rede  sein.  Vielmehr  weisen  die 
Blütenverhältnisse  ganz  deutlich  auf  Windbestäu- 
bung hin.  Die  Blüten  von  V.  criiciatmn  sind 
nämlich  im  allgemeinen  noch  kleiner  und  unan- 
sehnlicher als  die  unserer  einheimischen  Mistel. 
Auch  konnte  E.  H.  keine  Nektarausscheidung 
wahrnehmen.  Die  zähklebrige  Substanz,  welche 
das  Glänzen  der  Narbe  verursacht,  kann  nicht  als 
Nektar  angesehen  werden.  Außerdem  sind  die 
männlichen  Blüten  deutlich  gestielt  und  zeigen 
das  Bestreben,  sich  nach  abwärts  zu  neigen,  wo- 
durch die  Ausschüttung  der  kleinen,  staubförmigen 
Pollenkörner  erleichtert  wird.  Zudem  hat  E.  H. 
neuerdings  auch  bei  Erschütterung  der  Pflanze 
deutliches  Stäuben  der  männlichen  Blüten  beob- 
achten können.  Alle  diese  Einzelheiten  deuten 
unzweifelhaft  auf  Windbestäubung  hin,  demgegen- 
über die  stachlige  Oberfläche  der  Pollenkörner 
kaum  ins  Gewicht  fallen  dürfte.  Hoffentlich  er- 
halten wir  nun  auch  bald  Klarheit  über  die  Be- 
stäubungsverhältnisse unserer  einheimischen  Mistel. 
E.  Schalow,  Breslau. 


')  Vgl.  insbesondere  die  Arbeit  von  Normann. 

')  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Gesellsch.  54,   S.  3014,  1921. 

')  Der  Berichterstatter  bekam  auch  von  befreundeter  Seite 
mitgeteilt,  dafi  sich  Willstätters  Methode  experimentell  in 
vielen  Fällen  bewähre,  denen  man  bislang  ratlos  gegenüber- 
stand. 

*)  Vgl.  E.  Heinricher,  Über  die  Blüten  und  die  Be- 
stäubung bei  Viscum  cruciaium.  Ber.  d.  Deutsch.  Bot.  Gesell- 
schaft, Bd.  XL,  1922. 


Bficherbesprechungen. 


Dahl,   Friedrich,   Vergleichende  Psycho- 
logie oder  dieLehre  von  dem  Seelen- 
leben   des    Menschen    und    der    Tiere. 
104   Seiten.      Mit    25    Abbildungen    im    Text. 
Jena   1922,  G.  Fischer.     35  M. 
Bezüglich   des   Seelenlebens   besteht    im  Tier- 
reich eine  Stufenreihe,    welche   von  den  niederen 
Organismen  allmählich  zu    dem  Menschen  hinauf- 
führt.     In   diesem    Sinne    will    der  Verf.  die  Ent- 
stehung   und    Ausbildung    des    Bewußtseins    be- 
trachten.   Da  er  Zoologe  ist,  könnte  man  erwarten, 
daß    er   die  Entwicklung    der   psychischen  Fähig- 
keiten mit  der  stufenartigen  Ausbildung  des  Ner- 
vensystems in  Beziehung  setzte,  aber  er  will  rein 
psychologisch  vorgehen  und  versteht  unter  Psycho- 
logie nur  die  Wissenschaft  von  den  Bewußtseins- 
vorgängen.    Dieser  Standpunkt  hat  allerdings  für 
die  Tierpsychologie   insofern    etwas  Bedenkliches, 
als    man    über    das  Bewußtsein    und    die   Gefühle 
bei  den  Tieren  am  wenigsten  Sicheres  sagen  kann.') 
In    dem    ersten    Abschnitt    stellt  Dahl  solche 
Vorgänge  zusammen ,    bei  welchen    er  noch  kein 
Bewußtsein  annimmt,  und  bringt  hier  die  Tropis- 
men und  Taxien  der  Pflanzen  neben   die  Reflexe 


im  menschlichen  Körper.  Der  zweite  Abschnitt  soll 
„Bewußtseinsvorgänge  einfachster  Art"  behandeln 
und  betrifft  die  Lebensäußerungen  bei  Protozoen 
(Amöben  und  Infusorien),  bei  Cnidarien  (Hydra),  bei 
Echinodermen  (Seestern)  und  bei  Würmern.  Man 
kann  dem  Verf.  darin  zustimmen,  daß  das  Bewußt- 
sein in  dem  Tierreich  alimählich  entstanden  ist, 
aber  es  bleibt  doch  eine  Sache  subjektiver  Schät- 
zung, ob  man  mit  Dahl  bei  den  Ringelwürmern 
und  speziell  bei  der  Begattung  der  Regenwürmer 
das  erste  Anzeichen  des  Bewußtseins  finden  will. 
Eine  Tierpsychologie,  welche  die  Frage  nach 
dem  Bewußtsein   und    nach   den  Gefühlen  in  den 


')  Die  Tierpsychologie  Dahls  bildet  in  dieser  Hinsicht 
einen  Gegensatz  zu  der  von  mir  vertretenen  Ansicht,  daß  man 
die  Begriffe  der  Tierpsychologie  auf  objektiv  feststell- 
bare Merkmale  begründen  muß.  Ich  habe  darüber  schon 
im  Jahre  1907  eine  Diskussion  mit  Dahl  geführt  (Zoolog. 
Anzeiger  32.  Bd.,  1907,  S.  251 — 256)  und  meine  Auffassung 
in  meinen  tierpsychologischen  Büchern  eingehend  dargelegt 
(H.  E.  Ziegler,  Der  Begriff  des  Instinktes  einst  und  jetzt, 
3.  Aufl.,  Jena  1920  und  Tierpsychologie,  Göschenbäadchen, 
Berlin  1921).  Ich  sah  meine  Aufgabe  gerade  darin,  eine  von 
der  Frage  des  Bewußtseins  unabhängige  Tier- 
psychologie zu  begründen. 


592 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  43 


Vordergrund  stellt,  kann  eben  bei  den  niederen 
Tieren  nur  zu  etwas  willkürlichen  Analogie- 
schlüssen führen.  —  In  den  beiden  folgenden  Ab- 
schnitten betritt  der  Verf  sichereren  Boden  indem 
er  die  Sinnesorgane  und  die  Sinneswahrnehmung 
betrachtet.  Von  da  kommt  er  zu  den  Instinkten 
und  Kunsttrieben,  dann  zu  dem  Gedächtnis  und 
den  höheren  Geistesfähigkeiten.  Er  betrachtet 
die  Instinkte  ganz  richtig  als  ererbte  Fähigkeiten, 
aber  er  bringt  sie  mit  Gefühlen  in  Verbindung, 
wie  sie  beim  Menschen  meistens  mit  Gefühlen 
zusammenhängen.  Auch  hier  läßt  sich  wieder 
der  Einwand  machen,  daß  wir  über  die  Gefühle 
der  wirbellosen  Tiere  nur  Vermutungen  haben 
können.  Dahls  Auffassung  der  Tierseele  paßt 
am  besten  auf  die  die  höheren  Wirbeltiere,  bei 
welchen  Analogieschlüsse  vom  Menschen  aus  am 
meisten  Berechtigung  haben. 

Im  ganzen  sehe  ich  den  Wert  des  Buches 
nicht  gerade  in  den  theoretischen  Anschauungen 
des  Verf.,  sondern  in  den  zahlreichen  Beispielen, 
welche  das  Buch  lesenswert  und  anregend  machen. 
Da  hl  nimmt  vielfach  auf  die  Insekten  und  die 
Spinnen  Bezug  und  ist  auf  diesem  Gebiet  ein 
Kenner.  Dies  zeigt  sich  auch  in  dem  Abschnitt, 
welcher  die  Tierstaaten  behandelt.  —  Schließlich 
mag  noch  erwähnt  werden,  daß  der  letzte  Ab- 
schnitt des  Buches  die  Religion  betrifft  und  daß 
der  Verf  da  von  einer  „Weltpsyche"  spricht, 
welche  „alle  Materie  durchdringt  und  auch  in 
unserem  Gehirn  zur  Wirkung  kommt". 

H.  E.  Ziegler  (Stuttgart). 


Fuchs,  Dr.  Franz,   Grundriß    derFunken- 
telegraphie    in     gemeinverständlicher    Dar- 
stellung.   Zwölfte  neubearbeitete  Auflage.    94  S. 
160  Abb.     München  u.  Berlin   1922,    R.  Olden- 
bourg.     Geh.  40  M. 
Das    sehr    empfehlenswerte    Büchlein    ist    aus 
Demonstrationsvorträgen     während     des    Krieges 
hervorgegangen.      Zur  Einführung   sind  die  allge- 
meinen   Grundlehren    des    Gleich-    und  Wechsel- 
stroms unter  besonderer  Berücksichtigung    der  in 
der     Funkentelegraphie     angewandten     Apparate 
vorausgeschickt.      Nach    eingehender    Behandlung 
der    elektrischen    Wellen    sind     die     wichtigsten 
funkentelegraphischen    Systeme    in    ihren  Grund- 
zügen gekennzeichnet.    '  Neu  hinzugefügt   wurden 
in    der    zwölften    Auflage    Abschnitte    über    die 
Maschinensender    von    Nauen     und    Eilvese,    die 
Rahmenantenne,    den  Hochfrequenzverstärker  und 
die    Röhrensender    des   Reichsfunknetzes.     Beson- 
ders hervorzuheben  ist  die  große  Zahl  der  Abbil- 
dungen, von  denen  durchschnittlich    fast  zwei  auf 
jede  Seite  kommen,  sowie  ihre  praktische  Anord- 
nung. Fricke. 


Newcomb- Engelmanns  Populäre  Astrono- 
mie. 6.  Aufl.  Herausgegeben  von  H.  Luden- 
dorff  Mit  240  Abbildungen.  Leipzig  1921, 
W.  Engelmann. 
Dieses  ausgezeichnete  Buch  ist  auch  in  seiner 
neuen  Auflage  sorgfältig  durchgesehen  und  er- 
weitert worden.  Von  den  Herausgebern  der  vori- 
gen Auflage  sind  inzwischen  zwei  gestorben,  näm- 
lich Schwarzschild  und  Kampf  An  ihre 
Stelle  sind  Freundlich  und  Kohlschütter 
getreten.  Besonders  weitgehend  umgearbeitet  ist 
die  Stellarastronomie.  Erwähnenswert  ist  ferner, 
daß  im  ersten  Teil  Freun  dlich  einen  Abschnitt 
über  die  Entwicklung  der  Mechanik  von  Newton 
bis  zur  Gegenwart  eingeschoben  hat,  in  welchem 
auch  die  Relativitätstheorie  Einsteins  eine  kurze 
Darstellung  findet.  Das  Buch  hat  sich  so  sehr 
einen  Platz  in  der  guten  populären  Literatur  er- 
obert, daß  sich  eine  erneute  eingehende  Würdigung 
erübrigt.  Es  gehört  zu  jenen  Büchern,  die  der 
Fachmann  ebenso  gern  zur  Hand  nimmt  wie  der 
gebildete  Laie,  ein  Zeugnis  für  die  glückliche 
Vereinigung  von  Volkstümlichkeit  und  Wissen- 
schaftlichkeit. Zu  rühmen  ist  die  gute  Ausstattung 
des  Buches.  Miehe. 


Richtigstellung. 

In  meinem  Aufsatz  „Die  Eiszeit  in  Deutschland  und  der 
vorgeschichtliche  Mensch"  (Nr.  VJ  dieser  Zeitschrift)  bemerkte 
ich  bei  der  Literaturangabe,  daß  in  der  neuesten  Auflage  von 
VVah  nschaf  f  es  Oberflächengestaltung  des  norddeutschen 
Flachlandes  zahlreiche  Arbeiten  dem  Verf.  entgangen  sind. 
Hierzu  erfahre  ich,  dai3  bei  der  großen  Fülle  des 
Stoffes  der  Neubearbeiter  Herr  Prof.  Dr.Schucht 
erst  einige  Kapitel  umarbeiten  konnte  und  den 
größten  Teil  des  Buches  von  der  früheren  Auf- 
lage übernehmen  mußte.  Ich  freue  mich,  nach  noch- 
maliger Durchsicht  feststellen  zu  können,  daß  der  von  mir 
erhobene  Vorwurf  auf  die  von  Herrn  Prof.  Schucht  neu- 
bearbeiteten Teile  nicht  zutrifft. 

Im  Anschluß  hieran  teile  ich  mit,  daß  nach  mündlicher 
Mitteilung  von  Herrn  Prof.  Dr.  Solger  auch  der  chinesische 
Löß  in  drei  Stufen  zerfällt,  von  denen  die  unterste  rot,  die 
mittlere  rotbraun  und  die  jüngste  gelb  gefärbt  ist.  Das  ist 
ein  neuer  wichtiger  Hinweis  darauf,  daß  auch  hier  zeitliche 
Gegenstücke  zu  den  periglazialen  nordeuropäischen  Lössen 
vorliegen.  Der  Entstehung  nach  gehört  der  chinesische  Löß 
allerdings  zu  den  ,,Sleppenlössen",  die  sich  in  den  Steppen- 
noren der  Umrahmung  großer  Wüsten  bilden,  während  die 
„glazialen"  Lösse  Nordeuropas,  Nordamerikas  und  Argentiniens 
durch  Winde  aufgeweht  wurden,  die  als  ,, Eisföhne"  von  den 
diluvialen  Gletscherdecken  herabwehten.  Allerdings  scheinen 
auch  diese  Steppenlösse  heute  nicht  in  dem  Umfange  weiter- 
gebildet zu  werden,  wie  im  Eiszeitalter.  Hieraus  ergeben 
sich  wichtige  Folgerungen,  die  ich  bei  weiterer  Durcharbeitung 
dieser  Frage  eingehender  behandeln  werde. 

Dr.  K.  Olbricht-Breslau. 


IllllHlt:  Lazar  Car,  Velella  spirans.  (3  Abb.)  S.  585.  —  Einzelberichte:  Neue  Beiträge  zur  Theorie  und  Praxis  kata- 
lytischcr  Hydrierungen.  II.  S.  588.  E.  lleinricher,  Neue  Misteluntersuchungen.  S.  591.  —  Bücherbesprechungen: 
Fr.  Dahl,  Vergleichende  Psychologie  oder  die  Lehre  von  dem  Seelenleben  des  Menschen  und  der  Tiere.  S.  59^- 
Fr.  Fuchs,  Grundriß  der  Funkentelegraphie.  S.  592.  Newcomb  -  Engelmanns  populäre  Astronomie.  S.  592.  — 
Richtigstellung.  S.   592. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.  Pütz'ichen  Bucfadr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b,  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  29.  Oktober  1922. 


Nummer  44. 


Das  Verhältnis  der  Relativitätstheorie  Einsteins  zur  Kantschen 
Erkenntnistheorie. 


VoD  Hermauu  Kranichfeld. 


[Nachdruck  verboten.! 

Die  Einsteinsche  Relativitätstheorie  ist  eine 
physikalische  Theorie,  doch  erfahren  durch  sie 
die  physikalischen  Grundbegriffe  eine  so  weit- 
gehende Umgestaltung,  daß  sie  zweifellos  in  ihren 
Konsequenzen  auch  auf  das  Grenzgebiet  zwischen 
Naturwissenschaften  und  Philosophie,  das  die  Er- 
kenntnistheorie einnimmt,  hinübergreift.  Die  Frage 
erhebt  sich  daher,  ob  sie  überhaupt  noch  mit  der 
bisherigen  Erkenntnistheorie,  soweit  sie  auf  Kant 
zurückgeht,  in  Einklang  gebracht  werden  kann. 
Auch  für  den  Naturwissenschaftler,  der  nicht  auf 
dem  Standpunkt  der  Einsteinschen  Relativitäts- 
theorie steht,  hat  die  Frage  ein  Interesse.  Da  es 
sich  bei  ihr  zugleich  um  die  erkenntnistheoretische 
Stellung  der  ganzen  modernen  Physik  handelt, 
deren  Gedanken  Einstein  zum  Teil  nur  weiter- 
geführt hat. 

Zwei  auf  das  Problem  tiefer  eingehende 
Schriften  von  Hans  Reichenbach  und  Ernst 
Cassirer')  haben  seine  Lösung  von  entgegen- 
gesetzten Gesichtspunkten  aus  in  Angriff  genom- 
men. Sie  sind  daher  besonders  geeignet  zu  einer 
kritischen  Untersuchung  der  ganzen  Frage  anzu- 
regen. 

H.  Reichenbach  ist  Vertreter  der  theore- 
tischen Physik,  Ernst  Cassirer  Philosoph  und  • 
hervorragender  Neukantianer.  Beide  stimmen  in- 
sofern miteinander  überein,  als  sie  auf  dem  Stand- 
punkt der  Einsteinschen  Relativitätstheorie  stehen. 
H.  Reichenbach  war  auf  dem  letzten  Physiker- 
tag in  Jena  einer  ihrer  Hauptvertreter.  Dagegen 
scheinen  sie  hinsichtlich  der  Übereinstimmung 
der  Relativitätstheorie  mit  der  Kantschen  Er- 
kenntnistheorie zu  ganz  entgegengesetzten  Resul- 
taten zu  kommen.  Nach  Cassirer  ist  eine 
Übereinstimmung  vorhanden,  nach  Reich  en - 
bach  ist  das  nicht  der  Fall.  Für  ihn  gibt  es 
nur  zwei  Möglichkeiten :  „entweder  ist  die  Rela- 
tivitätstheorie falsch  oder  die  Kantsche  Erkenntnis- 
theorie bedarf  in  ihren  Einstein  widersprechenden 
Teilen  einer  Änderung"  (S.  4).  Für  Reiche  n - 
bach  gilt  die  zweite  Alternative. 

Cassirer  folgt  bei  seiner  Untersuchung  als 
Neukantianer  in  gewissem  Sinne  einer  gebundenen 
Marschroute.  Denn  wenn  eine  Übereinstimmung 
zwischen  der  Einsteinschen  Theorie,  die  er  als 
richtig  anerkennt,    und  Kant   nicht  vorhanden  ist, 


')  H.  Reichenbach,  Relativitätstheorie  und  Erkenntnis 
a  priori.     Berlin,  Julius  Springer,    1920.      HO  S. 

Ernst  Cassirer,  Zur  Einsteinschen  Relativitätstheorie. 
Erkenntnistheoretische  Betrachtungen.  Berlin,  Bruno  Cassirer, 
1921.      134  S. 


muß  er  seinen  philosophischen  Standpunkt  auf- 
geben. Es  wird  sich  daher  empfehlen  bei  unserer 
Prüfung  der  Frage  von  der  Schrift  Reichenbachs, 
welche  ihr  freier  gegenübersteht,  auszugehen. 

Es  handelt  sich  dabei  zunächst  nicht  um  die 
Aufgabe,  die  Richtigkeit  der  Einsteinschen  Rela- 
tivitätstheorie oder  die  der  Kantschen  Erkenntnis- 
theorie festzustellen,  sondern  nur  um  die  Frage, 
ob  die  beiden  Theorien  miteinander  in  Einklang 
stehen.  Das  Ergebnis  derselben  ist  eine  Klärung 
der  hier  in  Betracht  kommenden  Begriffe.  Sie 
ist  zweifellos  ein  Bedürfnis  auch  der  naturwissen- 
schaftlichen Kreise.  Mit  ihr  fällt  dann  aber  auch 
ein  Licht  auf  die  beiden  Theorien  selbst. 

Reichenbach  faßt,  wie  der  Titel  seiner 
Schrift  besagt,  vor  allem  die  Frage  des  a  priori 
ins  Auge,  d.  h.  die  F'rage,  ob  das  a  priori  Kants 
gegenüber  den  Tatsachen,  auf  welche  sich  die 
Einsteinsche  Relativitätstheorie  stützt,  und  gegen- 
über der  Deutung,  welche  sie  durch  diese  er- 
fahren, noch  aufrecht  erhalten  werden  kann. 

Kant  nahm  die  reinen  Anschauungsformen  von 
Raum  und  Zeit  und  die  reinen  Verstandesbegriffe 
oder  Kategorien  an,  die  nach  ihm  nicht  aus  der 
Erfahrung  stammen  können,  weil  sie  die  Voraus- 
setzung der  Erfahrung  sind  und  durch  sie  die 
Erfahrung  erst  zustande  kommt.  Sie  sollen,  weil 
sie  logisch  der  Erfahrung  vorangehen,  nicht  a  po- 
steriori, sondern  a  priori  sein. 

Reichenbach  läßt  das  a  priori  in  gewissem 
Sinne  gelten,  unterscheidet  jedoch  bei  dem  Kant- 
schen a  priori  zwei  verschiedene  Bedeutungen. 
Einmal  heiße  es  „soviel  wie  apodiktisch  gültig 
und  für  alle  Zeiten  gültig  und  zweitens  bedeute 
es  den  Gegenstandsbegriff  konstituierend"  (S.  46). 
Nur  in  der  zweiten  Bedeutung  will  Reichen- 
bach das  a  priori  Kants  gelten  lassen.  „Es 
war  die  große  Entdeckung  Kants,  daß  der  Gegen- 
stand der  Erkenntnis  nicht  schlechthin  gegeben, 
sondern  konstituiert  ist,  daß  er  begriffliche  Ele- 
mente enthält,  die  in  der  reinen  Wahrnehmung 
nicht  enthalten  sind"  (S.  47).  Reichenbach 
will  nichts  von  der  empiristischen  Philosophie 
wissen,  „die  glaubt  alle  wissenschaftlichen  Sätze 
in  einerlei  Weise  mit  der  Bemerkung:  alles  ist 
Erfahrung,  abtun  zu  können".  Sie  habe  den 
großen  Unterschied  nicht  gesehen,  der  zwischen 
physikalischen  Einzelgesetzen  und  allgemeinen  Zu- 
ordnungsprinzipien bestehe,  und  ahne  nicht,  daß 
die  letzteren  für  den  logischen  Aufbau  der  Er- 
kenntnis eine  ganz  andere  Stellung  haben  als  die 
ersteren.     Doch    sind    auch    diese    „aprioristischen 


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Prinzipien",  die  er  mit  dem  Kantschen  a  priori 
identifiziert,  nach  ihm  dem  Wandel  unterworfen. 
Und  gerade  die  Relativitätstheorie  habe  an  ihnen 
die  tiefgehendsten  Abänderungen  vollzogen. 

Letzteres  gilt  zweifellos  hinsichtlich  der  von 
Reichenbach  als  „aprioristisch"  bezeichneten 
Prinzipien. 

Die  Spezielle  Relativitätstheorie  lehrt  die 
Relativität  aller  Längen  und  Zeitmaße  in  den  ver- 
schiedenen Bezugssystemen.  Der  Physiker  hat 
nach  ihr  nicht  nur  das  zu  messende  Objekt  selbst, 
sondern  zugleich  die  besonderen  Bedingungen, 
unter  denen  die  Messung  erfolgt,  mit  ins  Auge 
zu  fassen.  Denn  je  nach  dem  Bezugssystem 
ändern  sich  die  Längen-  und  Zeitmaße,  indem 
der  bewegte  Körper  dem  ruhenden  gegenüber 
eine  Verkürzung  erfahrt.  Da  nun  alle  Be- 
wegung relativ  ist  und  man  bei  zwei  gegeneinander 
bewegten  Körpern  A  und  B  ebensowohl  A  als 
bewegt  und  B  als  ruhend,  wie  B  als  bewegt  und 
A  als  ruhend  ansehen  kann,  so  kann  man  auch 
„je  nachdem  man  das  Bezugssystem  mit  dem 
einen  oder  mit  dem  anderen  Körper  ruhen  läßt, 
sowohl  den  einen  wie  den  anderen  als  kürzer 
bezeichnen".  Reichenbach  gibt  damit  der 
Relativität  der  Längenbestimmung  im  Einstein- 
schen  System  den  schärfsten  Ausdruck.  Sie  ent- 
hält nach  ihm  keinen  Widerspruch,  wenn  man 
die  Länge  als  eine  nur  in  Bezug  auf  ein  be- 
stimmtes Koordinatensystem  definierte  Größe  an- 
sieht.    „Das,  was  wir  als  Länge  messen,  ist  nicht 

die  Relation  zwischen  den  Körpern, sondern 

gleichsam  nur  eine  Spiegelung  der  zugrunde- 
liegenden Eigenschaft  in  die  Darstellung  eines  ein- 
zigen Koordinatensystems."  Einen  unabhängigen 
Sinn  erhält  die  in  emem  Koordinaten  oder  Bezugs- 
system ausgeführte  Messung  wohl  insofern,  als 
man  ,, gleichzeitig  die  Transformationsformel  auf 
jedes  andere  System  angeben  kann".  Diese  Trans- 
formationsformel ist  die  Lorentzsche.  Mit  ihrer 
Hilfe  läßt  sich  ohne  weiteres  berechnen,  wie  die 
in  einem  Bezugssystem  gemessene  Länge  in  jedem 
anderen  Bezugssystem  ausfallen  muß.  Die  Längen- 
bestimmung bleibt  aber  natürlich  auch  in  diesem 
wieder  immer  nur  relativ. 

Da  in  der  Lorentzschen  Transformationsformel 
das  Zeitmaß  mit  dem  Längenmaß  funktionell  ver- 
bunden ist,  gilt  die  Relativität  der  Längenmaße 
auch  für  die  Zeitmaße. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  sich 
damit,  daß  im  Einsteinschen  System  die  Längen- 
und  Zeitmaße  aus  absoluten  Größen  zu  relativen 
Größen  werden,  eins  der  wichtigsten,  dem  lo- 
gischen Aufbau  der  Physik  dienenden  Erkenntnis- 
prinzipien ändert. 

Die  Annahme,  daß  die  Raum-  und  Zeitmaße 
absolute,  allgemeingültige  Maße  seien,  gehörte 
deswegen  zu  ihnen,  weil  alle  F"eststellungen  der 
Physik  auf  Messungen  beruhen.  Die  Methode  der 
Messung  ist  für  diese  so  wesentlich ,  daß  die  ge- 
gebenen Empfindungsinhalte,  bevor  sie  Gegen- 
stand physikalischer  Behandlung    werden  können, 


erst  in  ,, meßbare  Gedankensymbole"  verwandelt 
werden  müssen;  Tonqualitäten  werden  in  der 
Physik  als  Schwingungszahlen  von  Luftteilchen, 
Licht-  und  Farbentöne  als  bestimmte  Frequenzen 
transversaler  Ätherwellen  oder  elektromagnetischer 
Wellen  beurteilt  und  gemessen. 

Noch  bedeutender  ist  die  Abänderung  der  Er- 
kenntnisprinzipien,  welche  die  Allgemeine 
Relativitätstheorie  mit  sich  führt.  Um  von  den 
gemessenen  Längen  zu  der  bestimmten  Anord- 
nung im  Raum  zukommen,  muß  noch  ein  System 
von  Regeln  für  die  Verbindung  der  Längen  ge- 
geben sein.  Dazu  diente  in  der  klassischen  Physik 
die  euklidische  Geometrie.  Sie  ist  in  der  allge- 
meinen Relativitätstheorie  durch  die  nichteuklidi- 
sche zu  ersetzen.  Letztere  war  schon  lange  vor 
der  Einsteinschen  Relativitätstheorie  entdeckt  und 
besonders  durch  Riemann  als  ein  System  be- 
grifflicher Konstruktionen  in  einem  vierdimensio- 
nalen  räumlich-zeitlichen  Kontinuum  entwickelt 
worden,  das  die  gleichen  Denknotwendigkeiten 
in  Anspruch  nehmen  konnte,  wie  die  euklidische 
Geometrie;  doch  hatte  man  diesen  Konstruktionen 
nur  eine  abstrakte  Denkmöglichkeit  zugeschrieben, 
während  die  euklidische  Geometrie  die  einzige 
Grundlage  für  die  Wirklichkeitserkenntnis  sein 
sollte.  Die  allgemeine  Relativitätstheorie  forderte 
nun,  daß  gerade  diese  nichteuklidische  Geometrie 
zur  Beschreibung  der  Wirklichkeit,  also  für  die 
Physik  zu  verwenden  sei. 

Gilt  die  Einsteinsche  Relativitätstheorie,  so 
haben  sich  daher  mit  der  Umwandlung  der  ab- 
soluten Raum-  und  Zeitmaße  in  nur  relative 
Größen  und  mit  dem  Ersatz  der  euklidischen 
Geometrie  durch  die  nichteuklidische  in  der  Tat 
Erkenntnisprinzipien  der  Physik  geändert,  die  für 
ihren  bisherigen  logischen  Aufbau  von  größter 
Bedeutung  waren. 

Die  Einsteinsche  Theorie  ist  nun  auf  physika- 
lischem Wege  gewonnen.  Es  haben  sich  damit 
die  betreffenden  Erkenntnisprinzipien  als  von  der 
empirischen  Forschung  abhängig  erwiesen.  R. 
leitet  daraus  den  Satz  ab,  welcher  den  Haupt- 
gedanken seiner  Ausfuhrungen  enthält: 

„daß  die  aprioren  Prinzipien  der  Erkenntnis 
nur  auf  induktivem  Wege  bestimmbar  seien 
und  jederzeit  durch  Erfahrung  bestätigt  und 
widerlegt  werden  können." 
Es  bedeutet  dies  nach  ihm  einen  Bruch  mit 
der  kritischen  Philosophie  Kants. 

Der  Schluß  wäre  richtig,  wenn  Kant  und 
Reichenbach  unter  „aprioristischen  Prinzipien" 
das  gleiche  verständen.  Das  ist  jedoch  nicht  der 
Fall.  Die  diesbezüglichen  Ausführungen  Reichen- 
ba chs  beruhen  auf  einer  Quaternio  terminorum. 
Reichenbach  versteht  unter  aprioristischen 
Prinzipien  die  Erkenntnisprinzipien,  welche  dem 
„logischen  Aufbau"  der  besonderen  Wissenschaft, 
hier  der  Physik,  dienen.  Sie  nehmen  eine  ausge-  ■ 
zeichnete  Stellung  ein,  weil  sie  nicht  nur  einzelne 
Gesetze,  sondern  den  ganzen  Aufbau  der  Spezial- 
wissenschaft     betreffen.        Solche      übergeordnete 


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Erkenntnisprinzipien,  aus  denen  und  mit  deren 
Hilfe  man  die  Einzelgesetze  ableitet,  gibt  es 
zweifellos  und  ebenso  zweifellos  ist  es,  daß  sie 
einer  fortwährenden  Umgestaltung  unterworfen 
sind. 

Sie  sind  wandelbar,  weil  sie,  wenn  sie  auch 
nicht  als  solche  in  der  Natur  gegeben  sind,  doch 
nicht  ohne  stete  Rücksicht  auf  die  Erfahrung  auf- 
gestellt werden  und  darum  mit  dem  Fortschritt 
der  Wissenschaft  immer  wieder  Berichtigungen 
erfahren  müssen.  Doch  irrt  sich  Reichen- 
bach, wenn  er  annimmt,  daß  Kant  in 
dieser   Hinsicht   anders    geurteilt  habe. 

Die  stete  Wandlung  der  in  der  empirischen 
Naturwissenschaft  aufgefundenen  Erkenntnisprin- 
zipien, die  Reichenbach  im  Auge  hat,  wird 
von  Kant  nicht  nur  als  Tatsache  behauptet, 
sondern  prinzipiell  gefordert.  Nach  Kant 
ist  das  Ziel  der  empirischen  Wissenschaft  aller- 
dings ein  letztes  Prinzip  der  Erfahrung,  in  dem 
alle  Erfahrungstatsachen  aufgehen  sollen.  Wäre 
dies  Ziel  erreicht,  so  würden  alle  Erfahrungs- 
wissenschaften nur  eine  Wissenschaft  bilden,  es 
gäbe  ein  einheitliches,  unveränderliches  System 
aller  menschlichen  Erkenntnis.  Diesem  Ziele 
soll  die  Naturwissenschaft  ununterbrochen  zu- 
streben. „Sie  soll  bei  aller  Erweiterung  stets 
zugleich  die  Einheit  ihrer  Erkenntnisse  im  Auge 
behalten  und  fortwährend  bestrebt  sein,  alle  ihre 
Teile  zu  einem  Ganzen  der  Wissenschaft  zu 
vereinigen"  (K.  Fischer).  Doch  ist  dies  Ziel 
nach  Kant  prinzipiell  unerreichbar,  denn  es  ist 
nur  eine  Vernunftidee,  d.  h.  eine  Forderung  der 
Vernunft,  deren  Erfüllung  —  wie  die  aller  anderen 
Kantschen  Vernunfiideen  —  niemals  gegeben  ist, 
der  sich  vielmehr  die  Erfahrung  nur  nähern  kann. 
Bei  der  Aufstellung  der  Gesetze  und  ebenso  der 
Reichenbachschen  ,,aprioristischen"  Erkenntnis- 
prinzipien folgen  wir  der  Forderung  der  Vernunft, 
eine  Einheit  herzustellen.  Sie  sind  gedacht,  ehe 
sie  in  der  Erfahrung  gefunden  werden,  aber  wir 
stellen  sie  auf  im  Hinblick  auf  die  Erfahrung,  d.  h. 
im  Hinblick  auf  die  Möglichkeit,  die  gegebenen 
Beobachtungen  einem  einheitlichen  Prinzip  unter- 
zuordnen. Wir  haben  so  auch  nach  Kant  bei 
Aufstellung  der  betreffenden  Gesetze  und  Er- 
kenntnisprinzipien ein  formales  Prinzip:  die  For- 
derung der  Vernunft,  eine  Einheit  herzustellen  und 
ein  materielles  Prinzip :  die  gegebenen  Beobach- 
tungen, welche  der  Einheit  untergeordnet  werden 
sollen,  zu  unterscheiden.  In  dem  Augenblick,  wo 
die  Wissenschaft  Tatsachen  ermittelt,  welche  mit 
den  bis  dahin  geltenden  Erkenntnisprinzipien  in 
Widerspruch  stehen,  müssen  wir  gemäß  dem  for- 
malen Prinzip,  d.  h.  gemäß  der  Forderung  eine 
Einheit  herzustellen,  ein  neues  Erkenntnisprinzip 
aufsuchen. 

Wenn  daher  die  Relativitätstheorie  versucht, 
der  Forderung  der  Vernunft,  den  Widerspruch 
zwischen  dem  Fizeauschen  und  dem  Michelson- 
schen  Versuch  und  zwischen  der  klassischen 
Mechanik    und    der    Elektrodynamik    aufzuheben. 


dadurch  zu  entsprechen,  daß  sie  das  Erkenntnis- 
prinzip der  absoluten  Längen-  und  Zeitmaße  durch 
das  Erkenntnisprinzip  der  relativen  Längen-  und 
Zeitmaße  ersetzt,  so  ist  das  durchaus  kein  Bruch 
mit  der  Kantschen  Auffassung  der  empirischen 
Naturwissenschaft.  Ob  der  Ersatz  richtig  und 
angängig  ist,  ist  eine  Frage  für  sich;  aber  der 
Versuch  selbst  liegt  ganz  in  der  Richtung  der 
Kantschen  Gedanken. 

Von  den  sowohl  nach  Kant  wie  nach 
Reichenbach  sich  ändernden  methodologischen 
Erkenntnisprinzipien  der  empirischen  Naturwissen- 
schaft total  verschieden  ist  das  a  priori 
Kants.  Es  ist  von  den  Ergebnissen  der  empi- 
rischen Forschung  unabhängig,  weil  alle  Urteile 
der  letzteren  nach  Kant  erst  durch  dasselbe,  d.  h. 
durch  die  Kategorien  und  Grundsätze  des  reinen 
Verstandes  zustande  kommen.  Ohne  die  Geltung 
dieser  hätten  auch  die  Urteile  der  empirischen 
Forschung  keine  Geltung.  Die  Geltung  der 
Kategorien  und  der  Grundsätze  des  reinen  Ver- 
standes ist  darum  nach  Kant  die  Voraussetzung 
der  Geltung  der  Urteile  der  empirischen  Forschung; 
diese  ist  von  jener  abhängig,  nicht  umgekehrt. 
Man  kann  sich  die  Auffassung  Kants  an  dem 
Beispiel  des  Boileschen  Gasgesetzes,  das  Reichen- 
bach  als  ein  Erkenntnisprinzip  in  seinem  Sinne 
anführt,  deutlich  machen.  In  der  Formel  des- 
selben: p.V  =  R-T  wird  das  Abhängigkeitsver- 
hältnis, in  welchem  Gasdruck  (p),  Temperatur  (T), 
Gasvolum  (V)  und  die  Konstante  für  den  Aus- 
dehnungskoeffizienten (R)  zueinander  stehen,  wie- 
dergegeben. Das  Gasgesetz  gehört  der  empiri- 
schen Forschung  an;  es  kann  sich  daher  eventuell, 
wenn  eine  genauere  Feststellung  der  physikalischen 
Verhältnisse  erfolgen  sollte,  ändern.  Das  ist  die 
Behauptung  Reichen  bac  hs;  sie  entspricht  aber 
auch  vollständig  der  Auffassung  Kants.  Was 
aber  nach  Kant  in  diesem  Gesetz  unverändert 
seine  Geltung  behauptet,  sind  die  seiner  Aufstellung 
zugrunde  liegenden  Kategorien  und  Grundsätze 
des  reinen  Verstandes.  Bestände  z.  B.  der  sog. 
mathematische  Grundsatz  der  Quantität,  daß  alle 
Erscheinungen  extensive  Größen  sind,  nicht  mehr 
zu  recht,  dann  würde  ein  Messen  der  Temperatur, 
des  Gasvolumens  und  des  Gasdruckes,  sowie  eine 
Feststellung  der  Konstante  R  nicht  möglich  sein. 
Ebenso  muß  invariant  sein  der  Grundsatz  der 
Kontinuität  und  Stetigkeit;  ohne  ihn  wäre  eine  , 
Interpolation  zwischen  zwei  Messungen  ausge- 
schlossen. Gelte  ferner  der  Grundsatz  der  Kausa- 
lität, „daß  alles,  was  geschieht,  etwas  voraussetzt, 
worauf  es  nach  einer  Regel  folgt",  nicht  mehr, 
dann  ließen  sich  überhaupt  keine  Gesetze  auf- 
stellen. 

Mit  dieser  Widerlegung  des  Reichenbachschen 
Einwandes  ist  nun  freilich  noch  nicht  bewiesen, 
daß  sich  die  Relativitätstheorie  wirklich  mit  der 
Kantschen  Erkenntnistheorie  im  Einklang  befindet. 

Es  handelt  sich  schon  bei  der  Speziellen  Rela- 
tivitätstheorie nicht  nur  darum,  daß  durch  die- 
selbe   irgendwelche    methodologische    Erkenntnis- 


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Prinzipien  überhaupt  eine  Änderung  erfahren, 
sondern  daß  diese  Abänderungen  gerade  die  für 
das  Kantsche  System  so  wichtigen  Raum-  und 
Zeitbegriffe  betreffen.  Noch  tiefer  in  die  Kant- 
sche Vorstellungswelt  greifen  die  naturwissen- 
schaftlichen Begriffe  der  Allgemeinen  Relativitäts- 
theorie ein.  Sie  führen  zwar  nur  die  Vorstellungen 
weiter,  auf  denen  die  ganze  moderne  Physik  be- 
ruht. Diese  steht  aber  im  scharfen  Gegensatz 
zur  klassischen  Physik  und  Mechanik  Newtons, 
und  gerade  dessen  Hauptwerk  Philosophiae  natu- 
ralis principia  mathematica  bildete  für  Kant  „den 
festen  Codex  der  physikaüschen  Wahrheit".  Nach 
C  o  h  e  n  -  Marburg  wollte  Kant  nichts  anderes  sein 
als  der  philosophische  Systematiker  der  Newton- 
schen  Naturwissenschaft.  Ist  nun  diese  nicht  nur 
durch  die  Allgemeine  Relativitätstheorie,  sondern 
auch  —  darauf  beruht  das  allgemeine  Interesse, 
welches  das  uns  jetzt  beschäftigende  Problem  in 
Anspruch  nimmt  —  durch  die  ganze  Entwicklung 
der  modernen  Physik  ins  Wanken  gekommen, 
dann  drängt  sich  uns  eben  doch  die  Frage  auf, 
ob  nicht  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Funda- 
ment, in  welchem  das  philosophische  System 
Kants  verankert  war,  auch  die  Geltung  der  Kant- 
schen  Erkenntnistheorie  erschüttert  ist  und  even- 
tuell wesentlich  eingeschränkt  werden  muß. 

Das  ist  der  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  Cas- 
sirer  unser  Problem  behandelt. 

Die  Veränderung  der  ganzen  naturwissen- 
schaftlichen Auffassung  seit  Newton  ist  jeden- 
falls eine  tiefgehende  und  weitgreifende. 

Dem  Newtonschen  Natursystem  lagen  die  Be- 
griffe, des  Raumes,  der  Zeit,  der  Kraft  und  der 
Masse  zugrunde.  Newton  hatte  den  alten  Dua- 
lismus von  Raum  und  Masse,  den  schon  Demo- 
krit  aufgestellt  hatte,  beibehalten.  In  dem  Raum, 
der  für  Newton  eine  physikalische  Realität  war, 
befinden  sich  nach  ihm  die  Massen  wie  in  einem 
allgemeinen  Behältnis.  Die  Quantität  der  Massen 
und  die  Entfernungen,  in  welchen  die  einzelnen 
Massen  sich  voneinander  befinden,  gehen  als 
Hauptfaktoren  in  sein  Gravitationsgesetz  ein;  sie 
bilden  die  Grundbestimmungen,  aus  denen  sich 
nach  ihm  das  All  aufbaut.  Newton  machte 
garnicht  den  Versuch,  diesen  Dualismus  in  eine 
Einheit  zusammenzufassen.  Das  ist  jedoch  in  der 
neueren  Physik  geschehen.  In  dem  elektromagne- 
tischen  F'eldc  hat  sie  einen  Miitelbegriff  ge- 
schaffen, der  den  Begriff  der  „Materie"  und  des 
„leeren  Raumes"  ausfallen  läßt.  Die  Physik  des 
elektromagnetischen  P'eldes  „kennt  weder  den 
bloßen  unterschiedslosen  Raum  an  sich,  noch  eine 
Materie  an  sich,  die  nachträglich  in  diesen  fer- 
tigen Raum  eingeht,  sondern  legt  die  Anschauung 
einer  nach  einem  gewissen  Gesetz  bestimmten 
und  ihm  gemäß  qualifizierten  und  differenzierten 
Mannigfaltigkeit  zugrunde"  (Cassirer).  Das 
„F"eld"  bedarf  nach  der  Auffassung,  welche  z.  B. 
Mie  vertritt,  nicht  mehr  der  Materie  als  seines 
Trägers,  die  Materie  ist  vielmehr  nur  eine  be- 
sondere   Differenzierung    des    „Feldes".      Ebenso- 


wenig kann  von  einem  leeren  Räume  die  Rede 
sein,  da  das  „Feld"  den  ganzen  Raum  einnimmt. 

Ein  zweiter  Dualismus  bestand  bei  Newton 
zwischen  Materie  und  Kraft.  Es  sind  fern- 
wirkende Kräfte,  welche  nach  der  Gravitations- 
lehre Newtons  die  „trägen"  Massen  in  Bewegung 
versetzen.  Die  neuere  Physik  hatte  zunächst  den 
Begriff  der  Kraft  als  der  Ursache  der  Beschleu- 
nigung durch  den  Begriff  der  Energie  ersetzt. 
In  dem  Gesetz  der  Erhaltung  der  Energie  und 
der  Erhaltung  der  Masse  blieb  freilich  der  alte 
Dualismus  bestehen ;  doch  ergab  die  moderne 
Elektronentheorie  (Kaufmann),  daß  die  Masse 
eines  Elektrons  sich  mit  der  Geschwindigkeit 
desselben  rasch  vergrößert,  sobald  die  Geschwin- 
digkeit sich  der  Lichtgeschwindigkeit  nähert.  Die 
Masse,  d.  h.  die  Trägheit  ist  daher  nicht  unver- 
änderlich, sondern  wächst  mit  ihrer  Bewegung 
und  ihrer  elektrischen  Ladung;  es  wird  durch 
diese  der  Geschwindigkeitsänderung  ein  immer 
größerer  Widerstand  entgegengesetzt;  ein  solcher 
Widerstand  ist  aber  das  Maß  der  Masse.  Man 
kommt  beim  Weiterverfolgen  dieses  Gedankens 
zu  der  Auffassung,  daß  die  angeblich  „schwere" 
Masse  der  Elektronen  gleich  o  zu  setzen  ist. 
Das  Elektron  besitzt  keine  materielle,  sondern 
nur  elektromagnetische  Masse.  Und  da  das  ma- 
terielle Atom  nur  ein  System  von  Elektronen  ist, 
die  Materie  aber  aus  Atomen  besteht,  so  gelten 
für  die  Materie  nur  noch  die  Gleichungen  für  die 
elektromagnetische  Masse,  d.  h.  die  Gleichungen 
für  das  elektromagnetische  Feld.  An  Stelle  der 
Bewegung  der  Massen  gibt  es  dann  nur  noch  ein 
Fortschreiten  von  Abänderungen  im  elektromagne- 
tischen P"elde.  „Es  sind  nur  Verdichtungen  des 
Feldes,  was  wir  bisher  als  Materie  bezeichneten. 
Es  hat  darum  keinen  Sinn,  von  einer  Wanderung 
materieller  Teile  als  einem  Transport  von  Dingen 
zu  reden;  was  stattfindet,  ist  ein  fortschreitender 
Verdichtungsprozeß,  der  eher  der  Wanderung 
einer  Wasserwelle  verglichen  werden  kann."  Die 
Fernwirkungen  sind  damit  zugleich  durch  Nahe- 
wirkungen ersetzt.  Die  allgemeine  Relativitäts- 
lehre Einsteins  zieht  nur  die  letzte  Konsequenz 
aus  diesen  Vorstellungen.  Auch  für  sie  gibt  es 
keinen  Raum  an  sich  mehr  und  keine  raum- 
erfüllende Substanz,  mag  man  sie  als  Materie  oder 
als  Äther  bezeichnen ;  ebenso  keine  Kraft  an  sich. 
Sie  kennt  Raum,  Kraft  und  Materie  nicht  mehr 
als  gesonderte  physikalische  Gegenstände,  sondern 
nur  noch  die  Einheit  bestimmter  Funktionsverhält- 
nisse. 

Wie  die  Spezielle  Relativitätstheorie  das  Rätsel 
eines  Widerspruchs  in  den  Ergebnissen  der  exak- 
ten Forschung,  nämlich  des  Widerspruchs  zwischen 
den  Plzeauschen  und  den  Michelsonschen  Ver- 
suchen löst,  so  löst  die  Allgemeine  Relativitäts- 
theorie das  Rätsel  einer  seltsamen  Übereinstim- 
mung derselben,  nämlich  der  längst  bekannten, 
aber  in  neuester  Zeit  durch  Eötvös  noch  be- 
sonders mit  den  Mitteln  schärfster  physikalischer 
Messung    festgestellten   Äquivalenz    von    Trägheit 


N.  F.  XXI.  Nr   44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


597 


und  Schwere,  d.  h.  der  Gleichheit  des  Wider- 
standes, welchen  ein  Körper  seiner  Bewegung  in 
horizontaler  Richtung  entgegensetzt,  und  des 
Widerstandes,  welcher  erforderlich  ist,  um  das 
Eintreten  der  Fallbewegung  in  vertikaler  Rich- 
tung zu  verhindern.  Diese  Äquivalenz  war  be- 
kanntlich die  physikalische  Grundlage,  von  der 
aus  Einstein  die  Allgemeine  Relativitätstheorie 
aufstellte. 

Diese  ganze  Auffassung  der  Natur  ist  jeden- 
falls von  der  Newtons  und  Kants  wesentlich 
verschieden.  Wird  durch  sie  auch  das  a  priori 
Kants  geändert? 

Hinsichtlich  der  sog.  mathematischen  Katego- 
rien und  Grundsätze  ist  dies  nicht  der  Fall.  Daß 
in  allen  Erscheinungen  „die  Empfindung  und  das 
Reale,  welches  ihr  an  dem  Gegenstand  entspricht 
eine  intensive  Größe,  d.  i.  einen  Grad  haben 
muß",  gilt  nach  wie  vor.  Denn  wenn  gar  kein 
Eindruck  und  keine  ihm  entsprechende  Empfin- 
dung davon  da  ist,  kann  überhaupt  keine  Wahr- 
nehmung des  Gegenstandes  stattfinden.  Alle  Er- 
scheinungen müssen  ferner,  wie  wir  schon  gesehen 
haben,  extensive  Größen  sein,  sonst  gäbe  es 
keine  Physik;  denn  diese  besteht  im  Messen,  und 
Messen  ist  nur  bei  extensiven  Größen  möglich; 
sie  müssen  endlich  kontinuierliche  Größen  sein, 
sonst  könnte  das  Messen  nie  zu  Ende  geführt 
werden,  da  Interpolationen  zwischen  zwei  Messun- 
gen nur  unter  der  Voraussetzung  der  Stetigkeit 
der  Größen  zulässig  sind.  Die  drei  mathemati- 
schen Grundsätze  sind  daher  unverändert  in 
Geltung. 

Bei  den  Kategorien  und  Grundsätzen  der 
Relation  verhält  es  sich  anders.  Da  in  der  neueren 
Physik  die  drei  Newtonschen  Grundgesetze:  das 
Gesetz  der  Trägheit,  der  Proportionalität  von 
Kraft  und  Beschleunigung  und  der  Wechselwirkung 
nicht  mehr  anerkannt  werden  —  sie  kommen  in 
Wegfall,  wenn  es  keine  Einzeldinge,  keine  zwischen 
diesen  Einzeldingen  wirkenden  Kräfte  und  keine 
Fortbewegung  materieller  Teile  gibt  —  geht  die 
neuere  Physik  in  bezug  auf  die  Auffassung  der 
Grundbegriffe  Substanz,  Kausalität  und  Gemein- 
schaft, also  der  Grundbegriffe  der  Relation,  „über 
Kant  hinaus"  (Cassirer).  Nach  Kant  war  die 
Materie  die  Substanz.  Diese  Auffassung  ist  bei 
den  modernen  physikalischen  Anschauungen  nicht 
mehr  möglich.  Denn  Substanz  soll  das  sein,  „was 
im  Wechsel  der  Erscheinungen  beharrt,  dessen 
Quantum  in  der  Natur  weder  vermehrt  noch  ver- 
mindert wird".  Der  Grundsatz  der  Erhaltung  der 
Materie  gilt  aber  nicht  mehr;  sie  kann  in  Energie 
übergehen  und  durch  Aufnahme  von  Energie  ver- 
mehrt werden.  Bei  dem  Grundbegriff  der  Gemein- 
schaft bzw.  der  Wechselwirkung,  welche  uns  die 
Gemeinschaft  erkennen  läßt,  stand  Kant  die 
gegenseitige  Anziehung  der  Körper  und  ihrer 
Teile  vor  Augen.  Sie  allein  läßt  uns  nach  Kant 
das  Zugleichsein  zweier  Gegenstände  bzw.  der 
Teile  eines  Gegenstandes  und  damit  der  Gemein- 
schaft objektiv  erkennen.    Auch  diese  Vorstellung 


fällt  in  der  modernen  Physik.  Endlich  kann  der 
Kausalität  nicht  mehr  wie  bei 'Kant  die  Vor- 
stellung einer  der  wirkenden  Kraft  entsprechenden 
Bewegungsbeschleunigung  zugrunde  gelegt  werden. 
Dabei  muß  der  Kantsche  Grundsatz  der  Kausali- 
tät: „Alles  was  geschieht,  setzt  etwas  voraus,  wo- 
rauf es  nach  einer  Regel  folgt"  in  gewissem  Sinne 
bestehen  bleiben.  Denn  auch  die  moderne  Physik 
stellt  Gesetze  auf.  Nur  hat  man  das  „folgen"  nach 
Schottky  nicht  im  zeitlichen,  sondern  im  funk- 
tionellen Sinne  zu  nehmen  —  „wenn  ich  das  und 
das  festgestellt  habe,  so  passiert  das  und  das"  — 
und  die  Begriffe  „Ursache  und  Wirkung"  durch 
den  Begriff  der  Funktion  zu  ersetzen,  so  daß  die 
moderne  Physik  im  Grunde  genommen  auf  das 
schon  von  Mach  aufgestellte  Kausalitätsprinzip 
hinauskommt :  „das  Kausalgesetz  ist  hinreichend 
charakterisiert,  wenn  man  sagt,  es  setze  eine  Ab- 
hängigkeit der  Erscheinungen  voneinander  voraus". 

Die  Auffassung  der  Kategorien  der  Modalität, 
der  Grundbegriffe  der  Möglichkeit,  Notwendigkeit 
und  Wirklichkeit  hängt  wieder  wesentlich  vom 
philosophischen,  nicht  vom  physikalischen  Stand- 
punkt ab.  Auf  sie  geht  Cassirer  nicht  ein,  wie 
er  auch'  hinsichtlich  der  Kategorien  und  Grund- 
sätze der  Relation  nur  sagt,  daß  Kant  seine 
„Analogien  der  Erfahrung"  im  wesentlichen  nach 
den  drei  Newtonschen  Grundgesetzen  gestaltet 
habe,  und  daß  es  deswegen  unbestreitbar  sei,  daß 
in  der  modernen  Physik  ein  Schritt  über  Kant 
hinaus  getan  sei.  Was  für  Cassirer  im  Vorder- 
grund des  Interesses  steht,  ist  nicht  die  P'rage, 
ob  die  Kategorien  und  Grundsätze  des  reinen 
Verstandes  noch  gelten,  sondern  ob  die  Kantsche 
transzendentale  Ästhetik  ein  Fundament  sei 
breit  und  fest  genug,  um  nicht  nur  das  Gebäude 
der  klassischen  Mechanik,  sondern  auch  das  der 
modernen  Physik  zu  tragen ;  denn  die  Lehren  vom 
Raum  und  von  der  Zeit  sind  nach  Cassirer  das 
eigentliche  a  priori  der  Physik.  Die  zweite  Frage, 
die  ihn  beschäftigt,  ist  das  Problem,  ob  sich  bei 
der  modernen  Physik,  speziell  bei  der  Einstein- 
schen  Relativitätstheorie,  noch  die  Vernunftidee 
Kants  der  Einheit  der  Natur  festhalten  läßt. 
Inbetreff  der  zweiten  Frage  berühren  sich  seine 
Ausführungen  mit  denen  Reichenbachs,  nur 
sieht  er  in  den  Wandlungen  der  methodologischen 
Prinzipien  der  empirischen  P"orschung  nicht  einen 
Widerspruch  mit  der  Erkenntnislehre  Kants, 
sondern  den  von  Kant  geforderten  Fortschritt 
zur  einheitlichen  Auffassung  der  Natur. 

Es  handelt  sich  dabei  nicht  nur  um  die  Wider- 
sprüche zwischen  den  Ergebnissen  der  empirischen 
Forschung,  wie  sie  bei  den  Versuchen  von  Fi- 
zeau  und  Michel  so  n  und  in  den  Gleichungen 
der  klassischen  Mechanik  und  den  Maxwell  Hertz- 
schen  Grundgleichungen  der  Elektrodynamik  her- 
vortreten und  in  der  Speziellen  Relativiiätslehre 
durch  die  Lorentzschen  Transformationsformeln 
ihre  Lösung  gefunden  hatten.  Dem  Formal- 
prinzip der  empirischen  Forschung,  der  Forde- 
rung einer  einheitlichen  Naturauffassung,  entsprach 


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es  auch  nicht,  daß  die  allgemeinen  Naturgesetze 
wohl  in  gleicher  Weise  für  alle  gleichförmig 
bewegten  Bezugssysteme  gelten  sollten,  nicht  aber 
für  die  Bezugssysteme  mit  beschleunigter  Be- 
wegung. In  der  Allgemeinen  Relativitätstheorie 
wird  ihre  Geltung  auch  auf  letztere  ausgedehnt. 
Die  allgemeinen  physikalischen  Gesetze  erhalten 
in  ihr  eine  Form,  in  der  sie  ihre  Gültigkeit  auch 
für  die  Bezugssysteme  mit  beschleunigter  Bewe- 
gung bewahren.  Aber  während  nach  der  Spe- 
ziellen Relativitätstheorie  sich  die  Längen-  und 
Zeitmaße  nur  von  einem  Bezugssystem  zum 
anderen  ändern,  d.  h.  je  nachdem  der  Beobachter 
bewegt  oder  in  Ruhe  ist,  sind  sie  nach  der  All- 
gemeinen Relativitätslehre  von  dem  Gravitations- 
potential des  Ortes  des  beobachteten  Gegenstandes 
abhängig  und  ändern,  da  das  Gravitationspotential 
im  allgemeinen  an  den  verschiedenen  Orten  ver- 
schieden ist,  von  Ort  zu  Ort.  Damit  wird  auch 
die  letzte  absolute  Größe,  die  es  nach  der  Spe- 
ziellen Relativhätstheorie  noch  gab,  die  Licht- 
geschwindigkeit, relativiert.  Auch  sie  ist  ver- 
schieden und  nur  noch  gleich  an  Orten  mit  glei- 
chem Gravitationspotential. 

Die  Einheit  der  Naturauffassung,  die  dadurch 
gewonnen  wurde,  daß  die  allgemeinen  Natur- 
gesetze für  alle  Bezugssysteme,  sowohl  die  mit 
gleichförmiger  wie  die  mit  beschleunigter  Be- 
wegung gelten,  scheint  damit  wieder  aufgehoben 
zu  sein.  Die  Beobachter  kommen,  da  die  Raum- 
und  Zeitmaße  je  nach  ihrem  Standort  verschieden 
sind,  zu  ganz  verschiedenen  Resultaten  der  Mes- 
sung. Laue  sagt  darüber:  „Ort  und  Zeit  der 
beobachteten  Veränderung  an  einem  Himmels- 
körper kann  nur  auf  Grund  der  optischen  Ge- 
setze festgestellt  werden.  Daß  zwei  verschieden 
bewegte  Beobachter,  wenn  jeder  sich  selbst  als 
ruhend  betrachtet,  diese  Einordnung  auf  Grund 
derselben  Naturgesetze  (nach  der  Relativitätslehre) 
verschieden  vornehmen,  enthält  keine  logische 
Unmöglichkeit".*)  Die  Messungen,  die  je  nach 
dem  Standort  der  Beobachter  verschieden  aus- 
fallen, sind  daher  nicht  objektiv  oder  allgemein- 
gültig. Doch  sind  diese  verschiedenen  Resultate 
nicht  unabhängig  voneinander.  Sie  entsprechen 
sich  wechselseitig  und  sind  nach  bestimmten 
Regeln  einander  zugeordnet.  Nach  den  Lorentz- 
transformationsformeln  kann  man  berechnen,  wie 
die  Längen-  und  Zeitmaße,  die  in  einem  Bezugs- 
system mit  der  Geschwindigkeit  v  gemessen  sind, 
bei  einer  Messung  an  dem  Bezugssystem  mit  der 
Geschwindigkeit  v'  ausfallen  müssen.  Die  gegen- 
seitige Zuordnung  der  an  verschiedenen  Orten 
verschiedenen  Längen-  und  Zeitmaße  bleibt  auch 
in  der  Allgemeinen  Relativitätslehre  bestehen. 
Und  diese  gesetzlichen  Beziehungen,  die  in  dem 
von  Einstein  für  sie  aufgestellten  Systeme  von 
Gleichungen  zum  Ausdruck  gebracht  sind,  sind 
nach  Relativierung  aller  Raum-  und  Zeitmaße  die 
letzte  objektive  allgemeingültige  Erkenntnis. 

i)  Vgl.  oben  S.   595. 


Diese  Einheit  der  naturwissenschaftlichen  Auf- 
fassung oder  der  Natur,  wie  sie  Einstein  lehrt, 
unterscheidet  sich  wesentlich  von  der  Kants. 
Nach  Kant  hat  es  der  empirische  Naturforscher 
nur  mit  der  Erscheinungswelt  zu  tun  und  die 
Beziehungen  zwischen  den  Gegenständen  der- 
selben festzustellen,  indem  er  sie  in  meßbare  Ge- 
dankensymbole verwandelt,  ihre  Größen  nach  ab- 
soluten Längen-  und  Zeitmaßen  bestimmt  und 
diese  miteinander  vergleicht.  In  den  absoluten 
Längen-  und  Zeitmaßen  besitzt  er  gewissermaßen 
den  Generalnenner,  aufweichen  er  alle  Er- 
scheinungen bringen  kann.  In  der  Allgemeinen 
Relativitätstheorie  ist  der  Generalnenner  ein  an- 
derer geworden.  An  die  Stelle  der  absoluten 
Längen-  und  Zeitmaße,  die  es  für  sie  nicht  mehr 
gibt,  tritt  das  für  alle  relativen  Einzelmessungen 
geltende  Gesetz  der  gegenseitigen  Zuordnung. 
Wir  haben  hier  nicht  mehr  eine  Einheit  von 
Dingen,  sondern  von  Gesetzen  und  Relationen. 
Die  Gegenstände  tauchen  daher  in  dem  von 
Einstein  aufgestellten  System  von  Gleichungen, 
wie  bei  den  Maxwell-Hertzschen  Grundgleichungen, 
unter,  in  dem  die  Gleichungen  für  alle  Orte  in 
gleicher  Weise  Geltung  haben,  mögen  es  die  Orte 
der  Gegenstände  oder  Orte  zwischen  den  Gegen- 
ständen sein.  Die  Grenzen  der  Gegenstände  ver- 
schwinden in  den  Gleichungen.  Ebenso  aber 
auch  die  Unterschiede    zwischen  Raum    und  Zeit. 

Soll  das  Einsteinsche  System  von  Gleichungen 
die  Form  der  für  alle  Orte  und  Zeiten  in  gleicher 
Weise  geltenden  allgemeinsten  Gesetze  sein,  so 
müssen  die  Gleichungen  invariant  sein  gegen  die 
gemessenen  Zeit-  und  Raumgrößen,  von  denen 
jede  nach  Einstein  ja  nur  relative  Geltung  hat. 
Die  vier  Koordinaten  der  gemessenen  Zeit-  und 
Raumgrößen  treten  daher  in  den  Gleichungen  als 
die  variabeln  Größen  Xj,  x._,,  Xj,  x^  auf.  Da  die 
Gleichungen  gegen  sie  doch  invariant  sind,  ver- 
schwindet auch  der  Unterschied  zwischen  den 
drei  Raumkoordinaten  und  der  Zeitkoordinate. 
Die  Zeitkoordinate  ist  nicht  mehr  ausgezeichnet, 
wie  noch  in  den  Gleichungen  der  Minkowskischen 
Wehformel.  Es  kann  jede  der  vier  Koordinaten 
als  Zeilkoordinate  gelten.  Damit  ist  freilich  nicht 
gesagt,  daß  der  empirische  Naturforscher  etwa 
aufhörte,  „das  Kontinuum,  das  er  Raum  nennt, 
von  dem  Kontinuum,  das  er  Zeit  nennt",  scharf 
zu  unterscheiden.  Nur  für  die  Aufstellung  der 
allgemeinen  Gesetze  kann  und  muß  er  von  diesem 
Unterschied  absehen.  Es  darf  in  diese  allgemein- 
gültigen Gesetze  überhaupt  keine  festgelegte  Raum- 
oder Zeitbestimmung  hineinkommen,  da  diese 
stets  eine  nur  relative  Gültigkeit  haben  und  da- 
mit auch  dem  ganzen  Gesetz  den  Charakter  einer 
nur  relativen  Gültigkeit  verleihen  würden.  Das 
gilt  in  ganz  gleicher  Weise  für  die  Zeit-  und 
Raumbestimmungen.  Insofern  haben  sie  für  die 
allgemeinen  Gleichungen  die  gleiche  Bedeutung 
und  brauchen  nicht  unterschieden  zu  werden. 

Daß  die  Auffassung  des  Zeit-  und  Raumbe- 
griffs   bei  Kant    und  Einstein   verschieden  ist, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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liegt  nach  dem  Gesagten  auf  der  Hand.  Doch 
fragt  es  sich,  ob  die  Differenz  die  reinen  An- 
schauungsformen von  Raum  und  Zeit  selbst  oder 
nur  die  Anwendung  derselben  auf  die  Erschei- 
nungswelt, d.  h.  den  empirischen  Raum  und  die 
empirische  Zeit  betrifft.  Diese  sind  wie  die  ganze 
Erscheinungswelt  Gegenstand  der  empirischen 
Forschung.  Nur  im  ersten  Falle  würde  es  sich 
daher  um  eine  erkenntnistheoretische  Frage,  im 
zweiten  Falle  dagegen  um  eine  Frage  der  empi- 
rischen Forschung  handeln,  deren  Entscheidung 
nicht  der  Philosophie,  sondern  der  empirischen 
Induktion  bzw.  Verifikation  zufällt. 

Die  reinen  Anschauungsformen  von  Raum  und 
Zeit  bedeuten  für  Kant,  wie  Cassirer  mit 
großer  Klarheit  darlegt,  nur  ein  festes  Gesetz  des 
Geistes,  ein  Schema  der  Verknüpfung,  durch  wel- 
ches alles  sinnlich  Wahrgenommene  in  bestimmte 
Beziehungen  des  Nebeneinander  (Raum)  und 
Nacheinander  (Zeit)  gesetzt  wird.  Das  kann 
nach  Kant  nicht  dadurch  geschehen,  daß  man 
das  Verhältnis  der  Zeit-  und  Raumstelle  zu  einer 
absoluten  Zeit  und  einem  absoluten  Raum,  wie 
ihn  noch  Newton  als  für  sich  bestehende,  sich 
gleichbleibende  Realität  annahm,  feststellt.  Einen 
solchen  absoluten  Raum  und  eine  solche  absolute 
Zeit  gibt  es  nach  Kant  nicht.  Für  ihn  gibt  es 
Raum  und  Zeit  nicht  außer  den  Dingen,  sondern 
nur  in  den  Dingen,  indem  die  Erscheinungen  ein- 
ander ihre  Stellen  in  Raum  und  Zeit  selbst  be- 
stimmen. Die  Zeitordnung  beruht  nach  Kant 
bekanntlich  auf  dem  Kausalitätsgesetz.  Nur  da 
haben  wir  nach  ihm  ein  festgelegtes,  objektives 
Nacheinander,  wo  die  Erscheinungen  im  Verhält- 
nis von  Ursache  und  Wirkung  stehen.  In  ana- 
loger Weise  bestimmen  die  Erscheinungen  selbst 
sich  auch  ihr  Nebeneinander.  In  bezug  auf  diese 
untrennbare  Union  von  Raum,  Zeit  und  Dingen 
stimmen  Kant  und  Einstein  vollständig  über- 
ein. Gerade  die  Allgemeine  Relativitätslehre  bringt 
sie  zum  schärfsten  Ausdruck.  Die  Differenz  zwi- 
schen beiden  besteht  nicht  in  der  Annahme,  daß 
sich  die  Erscheinungen  ihre  gegenseitige  Stellung 
in  Raum  und  Zeit  selbst  bestimmen,  sondern  in 
dem  Resultat  dieser  Bestimmung.  Nach  Kant 
ergibt  sich  für  die  Mannigfaltigkeit  des  Sinnlich- 
Gegebenen  ein  homogener  Raum  und  eine  homo- 
gene Zeit.  Beide  existieren  nach  der  Relativitäts- 
theorie nicht.  Einstein  ist  aber  auf  rein  induk- 
tivem Wege  zu  der  Auffassung  gekommen,  daß, 
wenn  anders  eine  einheitliche  Naturauffassung 
zustande  kommen  soll,  die  Größe  des  Gravitaiions- 
potentials  die  Zeit-  und  Längenmaße  an  den  ver- 
schiedenen Orten  entsprechend  verändern  muß 
und  daß,  da  das  Gravitationspotential  im  allge- 
meinen von  Ort  zu  Ort  verschieden  ist,  die  Orte 
differenziert  sind  und  ein  homogener  Raum  und 
damit  auch  eine  homogene  Zeit  in  solchem  Falle 
nicht  existiert.  Die  Kantsche  Auffassung  der 
reinen  Anschauungsformen  von  Raum  und  Zeit, 
daß  nämlich  die  Erscheinungen  ihr  Nebeneinander 
im  Raum  und  ihr  Nacheinander  in  der  Zeit  gegen- 


seitig selbst  bestimmen,  wird  dadurch  nicht  be- 
rührt. Das  Wie?  kann  nur  Resultat  der  physi- 
kalischen Untersuchung  sein.  Nur  in  diesem 
weicht  Einstein  von  Kant  ab.  Ob  diese  Ab- 
weichung berechtigt  ist  oder  nicht,  muß  auf 
dem  Wege  der  Induktion  bzw.  Verifikation,  also 
nicht  durch  die  Philosophie,  sondern  die  empiri- 
sche Forschung,  entschieden  werden. 

Doch  wenn  die  Einsteinsche  Allgemeine  Rela- 
tivitätstheorie auf  dem  letzteren  Wege  wirklich 
verifiziert  werden  sollte,  dann  ist  jedenfalls  der 
empirische  Raum  und  die  empirische  Zeit,  also  die 
physikalische  Beschaffenheit  der  Erscheinungswelt 
hinsichtlich  der  Raum-  und  Zeitverhältnisse  anders 
aufzufassen  als  es  von  Kant  im  Sinne  seiner  Zeit 
geschah.  Die  unmittelbare  Folge  davon  ist  dann 
aber,  daß  die  euklidische  Geometrie,  die  nur  für 
den  homogenen  Raum  gilt,  auf  die  wirklichen 
Raumverhältnisse  im  allgemeinen  nicht  mehr  an- 
gewandt worden  kann. 

Hier  ist  nun  der  Punkt,  von  dem  aus  man 
schließlich  doch  zu  der  Erkenntnis  kommt ,  daß 
zwischen  der  Kantschen  Erkenntnistheorie  und 
der  Einsteinschen  Relativitätstheorie  ein  Gegen- 
satz besteht,  der  nicht  ausgeglichen  werden  kann. 
Reichenbach  hat  ihn  nicht  berührt  auch  Gas - 
sirer  geht  nicht  auf  ihn  ein,  da  es  sich  bei  ihm 
um  die  ursprüngliche  Erkenntnistheorie  Kants 
handelt,  welche  die  Neukantianer  nur  zum  Teil 
festgehalten  haben. 

Der  Gegensatz  entsteht  jedoch  nicht  schon 
durch  den  Übergang  von  der  euklidischen  zur 
nichteuklidischen  Geometrie. 

Cassirer  hebt  mit  Recht  hervor,  daß  die 
Behauptung,  schon  dieser  Übergang  sei  mit  der 
Kantschen  Erkenntnistheorie  unvereinbar,  nicht 
gerechtfertigt  ist.  Nach  Rei  chenbach  „ist  gar 
kein  Zweifel,  daß  Kants  transzendentale  Ästhetik 
von  der  unbedingten  Geltung  der  euklidischen 
Geometrie  ausgeht  und  —  daß  mit  der  Ungültig- 
keit dieser  Axiome  seine  Theorie  unvereinbar  ist". 
Man  kann  das  ohne  weiteres  zugeben;  aber  die 
andere  Behauptung  Reichenbachs,  daß  nach 
der  Allgemeinen  Relativitätstheorie  „nun  in  der 
Tat  die  Sätze  der  euklidischen  Geometrie  für  die 
Wirklichkeit  überhaupt  falsch"  seien,  muß  be- 
anstandet werden.  Wenn  die  physikalischen  Ver- 
hältnisse so  liegen,  wie  Einstein  annimmt,  daß 
sich  nach  der  Größe  des  Gravitationspotentiales 
eines  Ortes  an  demselben  die  Längen-  und  Zeit- 
maße ändern  —  nur  um  diese  handelt  es  sich 
bei  Einstein  —  so  reicht  allerdings  die  eukli- 
dische Geometrie  im  allgemeinen  nicht  aus,  die 
durch  diese  physikalischen  Verhältnisse  bedingte 
räumliche  Ordnung  der  Erscheinungen  wiederzu- 
geben, da  sie  einen  homogenen  Raum  voraussetzt, 
aber  sie  gilt  nach  wie  vor  im  Prinzip  unbedingt, 
d.  h.  mit  absoluter  Notwendigkeit  für  alle  homo- 
genen Räume  und  in  Wirklichkeit  für  alle  Räume 
bei  physikalischen  Verhältnissen,  unter  denen  das 
Gravitationspotential  unverändert  bleibt  und  die 
Bewegung   keine    Beschleunigung   zeigt.      Das   ist 


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immer  der  Fall,  wenn  wir  hinlänglich  kleine  Ge- 
biete im  Raum  betrachten.  Darum  bleibt  die 
euklidische  Geometrie,  wie  Cassirer  sagt,  „die 
eigentliche  Geometrie  unendlich  kleiner  Bezirke". 

Kant  setzt  jedoch  nicht  nur  die  absolute 
Geltung  der  geometrischen  Axiome  voraus,  son- 
dern auch  ihren  synthetischen  Charakter.  Sie 
sollen  nicht  nur  überhaupt  Urteile  a  priori,  son- 
dern synthetische  Urteile  a  priori  sein,  die 
nicht  wie  die  analytischen  Urteile  a  priori 
auf  dem  Wege  des  logischen  Schlusses  nur  das 
herausholen,  was  in  dem  Hauptsatz,  der  Propo- 
sitio  major,  schon  gegeben  ist,  sondern  unsere 
Erkenntnis  über  das  bereits  Gegebene  hinaus  er- 
weitern. Das  ist  bei  den  geometrischen  Axiomen 
nach  Kant  der  Fall,  weil  sie  aus  der  reinen  An- 
schauung abgeleitet  sind,  die  reine  Anschauung 
aber  ein  Spiegelbild  der  Wirklichkeit  hinsichtlich 
ihrer  räumlichen  und  zeitlichen  Ordnung  ist  oder 
vielmehr  nach  Kant  die  räumliche  und  zeitliche 
Ordnung  der  Wirklichkeit  durch  sie  erst  her- 
gestellt wird. 

Das  ist  es  nun,  was  mit  der  Auffassung,  die 
sich  vom  Einsteinschen  Standpunkt  aus  ergibt, 
unvereinbar  erscheint. 

Zunächst  sieht  man  die  Sätze  der  Geometrie 
überhaupt  nicht  mehr  als  synthetische,  sondern 
nur  noch  als  analytische  Urteile  an.  In  diesem 
Punkte  läßt  sich  die  Kantsche  Auffassung  noch 
rechtfertigen.  Hilbert  hat  zwar  die  geome- 
trischen Sätze  ausnahmslos  aus  seinen  sogenannten 
impliziten  Definitionen  abgeleitet.  Der  Weg,  den 
er  bei  seinen  Deduktionen  einschlägt,  ist  folgender. 
Er  stellt  von  den  Grundbegriffen  der  Geometrie 
scheinbar  willkürliche  Definitionen  auf.  Aus  den 
mit  diesen  kombinierten  Definitionen  gegebenen 
Urteilen  leitet  er  andere  Urteile  ab  und  so  kommt 
er  auf  dem  Wege  des  Schlusses  zu  den  geome- 
trischen Sätzen.  Es  sind  das  scheinbar  analytische 
Urteile,  da  sie  auf  dem  Wege  des  Schlusses  aus 
beliebigen  Definitionen  gewonnen  wurden.  Das 
Wunderbare  aber  ist,  daß  die  aus  solchen  belie- 
bigen Definitionen  abgeleiteten  Sätze  ein  so  groß- 
artiges, in  sich  geschlossenes  System  mathema- 
tischer Wahrheiten  bilden.  Die  Lösung  des 
Rätsels  liegt  darin,  daß  Hilbert  als  Definitionen 
der  Grundbegriffe  die  Axiome  wählte.  Wären 
ihm  nicht  durch  die  Axiome  die  richtigen  zu- 
sammenstimmenden Definitionen  schon  an  die 
Hand  gegeben  gewesen,  so  würde  er  es  wohl 
haben  unterwcgen  lassen  müssen,  solche  zu  finden. 
Aus  den  Axiomen  als  den  Elementen  der  reinen 
Anschauung  läßt  sich  dagegen,  auch  wenn  sie 
nur  als  Definitionen  verwandt  werden,  das  System 
der  reinen  Anschauung  aufbauen. 

Der  Unterschied  zwischen  Begriff  und  reiner 
Anschauung,  zwischen  analytischen  Urleilen  und 
mathematischen  Sätzen  läßt  sich,  wie  Kant  in 
seiner  Methodenlehre  hervorhebt,  nicht  ver- 
wischen.i)  Bei  dem  Begriff  erkennt  man  das 
Besondere  im  Allgemeinen,  bei  der  reinen  An- 
schauung   das    Allgemeine    im    Besonderen.     Aus 


dem  allgemeinen  Begriff  Hund  kann  ich  schließen, 
daß  eine  einzelne  Hunderasse  zu  den  Hunden  ge- 
hört, dagegen  kann  ich  aus  der  Anschauung  eines 
Individuums  der  einzelnen  besonderen  Rasse  den 
allgemeinen  Begriff  des  Hundes  nicht  ableiten. 
Anders  bei  der  reinen  Anschauung.  Aus  einem 
einzelnen  beliebigen  ebenen  Dreieck  leite  ich 
durch  Konstruktion  alle  die  Eigenschaften  ab,  die 
notwendig  allen  ebenen  Dreiecken  im  homogenen 
Raum  gemeinsam  sind.  Auch  Reichenbach 
weist  auf  die  Tatsache  hin,  daß  der  euklidische 
Raum  jene  eigentümliche  Evidenz  besitzt,  der  zu 
einer  Selbstverständlichkeit  seiner  sämtlichen 
Axiome  führt.  Es  ist  das  nach  ihm  ein  „noch 
vollkommen  unerklärtes  Phänomen".  Es  erklärt 
sich  aber  daraus,  daß  die  Axiome  Elemente  der 
reinen  Anschauung  sind.  Der  Begriff  der  reinen 
Anschauung  ist  natürlich  nicht  mit  dem  naiven 
Begriff  der  Anschaulichkeit  zu  verwechseln.  Nach 
Kant  gehören  alle  mathematischen  Sätze,  auch 
die  arithmetischen,  der  reinen  Anschauung  an. 
In  dieser  liegt  das  Prophetische  der  mathema- 
tischen Sätze,  das  auch  ohne  die  Befruchtung 
durch  Fortschritte  der  empirischen  l^orschung 
über  den  schon  gewonnenen  Standpunkt  hinaus- 
weist. Auch  die  nichteuklidische  Geometrie  ging 
aus  der  euklidischen  Geometrie  hervor,  indem 
man  diese  nur  als  besonderen  Fall  auffaßte,  ohne 
daß  die  physikalischen  Annahmen  der  Allgemeinen 
Relativitätstheorie  vorangegangen  wären  und  den 
Anstoß  dazu  gegeben  hätten. 

Wenn  man  daher  auch  fortfahren  kann,  die 
mathematischen  Sätze  als  synthetische,  aus  der 
reinen  Anschauung  abgeleitete  Sätze  zu  betrachten, 
so  muß  doch  das  Verhältnis  der  reinen  Anschau- 
ung zur  Erscheinungswelt,  wenn  die  Einsteinsche 
Allgemeine  Relativitätstheorie  gilt,  anders  sein  als 
Kant  annahm. 

Um  das  klar  zu  erkennen,  muß  man  den  Aus- 
gangspunkt seiner  ganzen  kritischen  Stellung  ins 
Auge  fassen. 

Kant  ging  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
von  den  synthetischen  Urteilen  a  priori  aus.  Ihre 
Existenz  nahm  er  als  erwiesen  an.  Was  ihn  be- 
schäftigte, war  daher  nicht  die  Frage,  ob  solche 
synthetischen  Urteile  existieren,  wohl  aber  die 
Frage,  wie  sie  überhaupt  möglich  seien.  Aus  der 
Erfahrung  können  sie  nicht  stammen,  denn  durch 
diese  kommt  man  immer  nur  zu  einer  kompara- 
tiven Allgemeinheit.  IVIan  muß  die  allgemeinen 
Erfahrungsurteile  stets  durch  den  Zusatz  ein- 
schränken :  soweit  die  bisherigen  Erfahrungen 
reichen.  Die  analytischen  allgemeinen  Urteile 
aber,  d.  h.  die  aus  einem  Obersatz  auf  logischem 
Wege  abgeleiteten  allgemeinen  Urteile  haben  wohl 
den  Charakter  absoluter  Allgemeinheit,  doch 
bringen  sie  nur  logische  Verhältnisse  zum  Aus- 
druck und  bezichen  sich  nicht  direkt  auf  die  Er- 
fahrungswelt.    Wie  können  wir   daher   überhaupt 


')  Vgl.  H.  Kranichfeld,  Ein  Lehrbuch  der  Philosophie 
für  Naturforscher.     Naturw.  Wochenschr.   1920,  S.  536. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


601 


von  einem  Vorgang  dieser  sagen:  das  muß  so 
sein  ?  Warum  muß  sich  die  Erfahrungswelt  nach 
unseren  Verstandesschlüssen  richten? 

Um  diese  Fragen  beantworten  zu  können, 
vollzog  Kant  die  „Kopernikanische  Wendung". 
„Bisher",  sagt  er  in  der  Einleitung  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft,  „nahm  man  an,  alle  unsere  Er- 
kenntnis müsse  sich  nach  den  Gegenständen  rich- 
ten, aber  alle  Versuche,  über  sie  a  priori  etwas 
durch  Begriffe  auszurichten,  wodurch  unsere  Er- 
kenntnisse erweitert  werden  [d.  h.  zu  synthetischen 
Urteilen  a  priori  zu  kommen]  gingen  unter  dieser 
Voraussetzung  zunichte.  Man  versuche  es  daher 
einmal,  ob  wir  nicht  besser  damit  fortkommen, 
daß  wir  annehmen,  die  Gegenstände  müssen  sich 
nach  unserem  Erkenntnis[vermögen]  richten".  Ge- 
geben sind  nach  Kant  nur  die  einzelnen  Ein- 
drücke. Wir  sind  es  erst,  die  diese  Eindrücke 
mittels  unserer  aprioren  reinen  Anschauungsformen 
von  Raum  und  Zeit  in  Erscheinungen  verwandeln 
und  diese  Erscheinungen  durch  die  reinen  Ver- 
standesbegriffe oder  Katogorien,  wie  z.  B.  den 
Begriff  der  Kausalität  verknüpfen  und  in  geord- 
neten Zusammenhang  bringen. 

Die  Kategorien  und  Grundsätze  des  reinen 
Verstandes  sind  daher  nicht  nur,  wie  wir  schon 
gesehen  haben,  die  unveränderlichen  Bedingungen 
unserer  Erkenntnis,  da  durch  sie  allein  unsere 
Urteile  zustande  kommen;  sie  sind  auch  nach 
Kant  mit  den  reinen  Anschauungsformen  des 
Raumes  und  der  Zeit  die  Bedingungen  des  Zu- 
standekommens der  Gegenstände  unserei  Er- 
kenntnis; denn  durch  sie  entstehen  erst  die  Gegen- 
stände der  Außenwelt,  unsere  Erfahrungsobjekte, 
sie  machen  dieselben.  Das  ist  der  springende 
Punkt  der  ganzen  Kantschen  Erkenntnistheorie. 
Er  hat  diesen  Gedanken  in  genialer  Weise  in 
seiner  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe 
durchgeführt. 

Bei  dieser  Entstehung  der  Gegenstände  der 
Erkenntnis  kann  die  Erkenntnis  in  einer  Über- 
einstimmung mit  dem  Gegenstande  bestehen. 
Denn  der  Gegenstand  ist  ja  selbst  nichts  als 
Vorstellung.  Aber  noch  ein  weiteres  folgt  aus 
der  Kopernikanischen  Wendung  Kants. 

Die  Natur,  die  wir  ,, machen",  ist  nämlich  nach 
Kant  nicht  etwa  nur  das  wissenschaftliche  Natur- 
system, das  wir  aufstellen,  sondern  die  ganze 
äußere  Erfahrungswelt,  deren  Ordnung  wir  nach- 
träglich wissenschaftlich  untersuchen  und  uns  da- 
mit zum  Bewußtsein  bringen.  Darin  besteht  ja 
der  kritische  Idealismus  Kants,  daß  wir  es  sind, 
die  erst  die  ungeordneten  Eindrücke,  die  wir 
empfangen,  durchweg  gestalten.  Die  geformte 
und  geordnete  Natur  finden  wir  nun  schon  vor, 
ehe  der  Erkenntnisprozeß  einsetzt.  Die  Gegen- 
stände sind,  ehe  wir  sie  mit  Bewußtsein  untersuchen 
und  ihre  gesetzlichen  Zusammenhänge  erforschen, 
bereits  von  uns  bestimmt  und  zwar  so  bestimmt, 
daß  wir  genötigt  sind,  sie  immer  auf  dieselbe 
gemeingültige  Weise  vorzustellen.  Ein  transzen- 
dentales, intellektuelles  Vermögen,  „die  produk- 


tive Einbildungskraft"  Kants  führt  diese 
Synthese  unbewußt  nach  den  Regeln  der  reinen 
Anschauungsformen  und  der  reinen  Verstandes- 
begriffe aus.  Alles  Erkennen  ist  so  nach  Kant 
nur  ein  bewußtes  Wiedererkennen  dessen,  was 
wir  selbst  unbewußt  geordnet  haben.  Es  ist 
daher  bei  Kant  nicht,  wie  Reichenbach  sagt, 
„ein  großer  Zufall  der  Natur",  wenn  die  Ver- 
.standesbegriffe  mit  ihr  übereinstimmen;  nach 
Kant  müssen  sie  es  tun,  da  die  Verstandes- 
begriffe notwendig  mit  sich  selbst  übereinstimmen. 
Bei  der  „Kopernikanischen  Wendung"  Kants 
kommt  man  um  die  Annahme  der  ,, produktiven 
Einbildungskraft"  nicht  herum.  Die  Weltordnung 
Einsteins  mit  ihren  von  Ort  zu  Ort  wechseln- 
den Raum-  und  Zeitmaßen  und  ihren  damit  zu- 
sammenhängenden komplizierten  nichteuklidischen 
metrischen  Bestimmungen  ist  eine  physikalische 
Ordnung  und  gehört  zu  der  Erfahrungswelt,  die 
wir  vermöge  unserer  reinen  Anschauungsformen 
von  Raum  und  Zeit  und  unserer  reinen  Ver- 
standesbegriffe aufzufassen  und  zu  erkennen  im- 
stande sind;  sie  muß  daher  auch  ein  Erzeugnis 
unserer  produktiven  Einbildungskraft  sein.  Wie 
hätten  sie  danach  nach  der  Kantschen  Erkenntnis- 
theorie, ehe  sie  Einstein  erkannte,  selbst  unbewußt 
geschaffen.  Das  ist  aber  eine  nichtvollziehbare 
Vorstellung.  Gilt  daher  die  Einsteinsche  Relativi- 
tätstheorie, so  können  wir  die  Übereinstimmung 
unserer  Erkenntnis  mit  dem  Naturverlauf;  die 
Tatsache,  daß  wir  sagen  können,  die  Naturerschei- 
nungen müssen  in  bestimmter  Weise  auftreten, 
nicht  mehr  durch  die  Kopernikanische  Wendung 
Kants  erklären,  die  Übereinstimmung  zwischen 
dem  Verlauf  der  Naturprozesse  in  der  astrono- 
mischen und  physikalischen  Welt  und  unseren 
aprioristischen  Setzungen  muß,  wenn  wir  letztere 
überhaupt  gelten  lassen,  dann  darauf  beruhen,  daß 
Natur  und  Geist  aufeinander  angelegt  sind,  daß, 
wie  die  Mathematiker  längst  behauptet  haben, 
eine  prästabilierte  Harmonie  zwischen  Mathematik 
und  Natur  besteht.  Cassirer  weist  darauf  hin, 
wie  diese  Auffassung  vor  allem  von  Leibniz 
vertreten  wurde.  Nach  ihm  bildet  jede  Monade 
eine  in  sich  geschlossene  Welt,  die  von  eigenen 
Gesetzen  beherrscht  ist,  aber  jede  dieser  indivi- 
duellen Welten  gehört  einem  gemeinsamen  Uni- 
versum an,  dessen  Einheit  dadurch  zustande 
kommt,  daß  die  verschiedenen  Welten  sich  in 
ihren  inneren  Beziehungen  und  der  allgemeinen 
Form  ihres  Aufbaues  einander  ,, funktional"  ent- 
sprochen. Dieses  Entsprechen  besteht  darin,  daß 
eine  beständige  und  geregelte  Beziehung  zwischen 
dem  besteht,  was  sich  von  dem  einen  und  dem 
anderen  aussagen  läßt.  So  drückt  die  algebraische 
Gleichung  y=ypx  eine  geometrische  Figur,  die 
Parabel;  eine  perspektivische  Projektion  das  ihr 
zugehörige  geometrische  Gebilde;  die  Zeichnung 
einer  Maschine  die  Maschine  aus.  Bei  diesem 
bloßen  Entsprechen  kann  die  Erkenntnis  dann 
nicht  mehr  wie  bei  Kant  die  Übereinstimmung 
mit   dem   Gegenstande   bedeuten.      Für   den    Be- 


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griff  der  Übereinstimmung  tritt  der  Begriff 
der  Zuordnung  ein.  Ihn  hat  Reichenbach 
in  sehr  eingehender  und  klarer  Weise  in  einem 
besonderen  Kapitel  seiner  Schrift  erörtert.  Am 
besten  verdeutlicht  ihn  die  Anwendung  der 
arithmetischen  Funktionen  auf  die  geometrischen 
Figuren  in  der  analytischen  Geometrie.  In  dem 
oben  angeführten  Beispiel  wird  eine  arith- 
metische Gleichung  der  Parabel  „zugeordnet". 
Die  arithmetische  Gleichung  y  =  ]'px  stellt  an 
sich  eine  Funktion  zwischen  Zahlen  dar.  Ist  der 
Parameter  p  =  4,  so  wird  bei  x=4  y  =  +  4; 
bei  X  ^  9  wird  y  =  +  6  usw.  Ordnet  man  aber 
diese  Zahlenverhältnisse  einem  rechtwinkligen 
Koordinatensystem  XY  zu,  so  erhält  man  für 
jedes  X  bestimmte  Raumpunkte,  die  Punkte  einer 
Parabel.  Das  Charakteristische  der  Erkenntnis  als 
Zuordnung  ist  daher,  daß  die  mathematische  For- 
mel, welche  für  die  Erkenntnis  der  Verhältnisse 
auf  dem  einen  Gebiete  gewonnen  ist,  auf  ent- 
sprechende Verhältnisse  auf  einem  anderen  Ge- 
biete übertragen  wird.  In  der  analytischen  Geo- 
metrie überträgt  man  die  auf  einem  mathemati- 
schen Gebiete  gewonnene  Formel  nur  auf  ein 
anderes  mathematisches  Gebiet.  In  der  Physik 
werden  die  mathematischen  Formeln  auf  das 
„Empirische",  d.  h.  auf  Gebiete  angewandt,  die 
einer  „prinzipiell  verschiedenen  Gattung"  ange- 
hören. „Die  theoretische  Beziehung,  welche  die 
Wissenschaft  nichts  desto  weniger  zwischen  ihnen 
herstellt,  kann  nur  darin  bestehen,  daß  sie,  indem 
sie  die  inhaltliche  Verschiedenheit  der  beiden 
Reihen  durchaus  zugibt  und  festhält,  zwischen 
ihnen  doch  eine  immer  genauere  und  vollkomme- 
nere Zuordnung  zu  stiften  versucht"  (Cassirer). 
Eine  solche  Zuordnung  würde  z.  B.  bei  Geltung 
der  Allgemeinen  Relativitätstheorie  damit  gegeben 
sein,  daß  dasselbe  System  von  Gleichungen,  wel- 
ches als  der  Ausdruck  der  metrischen  Eigen- 
schaften eines  nichteuklidischen  Raumes  aufgestellt 
war,  zugleich  für  das  Gravitationsfeld  gilt.  Daß 
das  Verhältnis  der  mathematischen  Gleichungen 
zu  den  physikalischen  Verhältnissen  das  der  Zu- 
ordnung, nicht  der  Übereinstimmung  ist,  ist  die 
jetzt  herrschende  Auffassung,  die  auch  Cassirer 
vertritt;  nach  der  ursprünglichen  Kantschen  Er- 
kenntnistheorie müßte  sie  abgelehnt  werden. 

Der  Streit  zwischen  dem  ursprünglichen  kriti- 
schen Idealismus  Kants  und  dem  kritischen 
Realismus  dürfte  durch  die  Relativitätstheorie  zu- 
gunsten des  letzteren  entschieden  sein  und  das 
wäre  ein  Verdient  derselben;  freilich  ist  über  ihre 
eigene  Geltung  die  Entscheidung  noch  nicht  ge- 
fallen. Sie  liegt  bei  den  Vertretern  der  theoreti- 
schen Physik  und  der  Astronomie.  Wenn  unser 
großer  Mathematiker  Hilbert  einmal  gesagt  hat: 
„Die  Physik  ist  für  die  Physiker  viel  zu  schwer", 
so  muß  jedenfalls  der  Nichtphysiker  hinsichtlich 
der  Relativiiätsiehre  mit  seinem  Urteil  zurückhalten. 
Aber  eine  vorläufige  eigene  Stellung  kann  er 
doch  zu  ihr  einnehmen,  solange  zwischen  ihren 
notwendigen  Konsequenzen  noch    ungelöste    logi- 


sche Widersprüche  vorhanden  sind.  Sie  vermag 
auch  der  Nicht-Mathematiker  und  Nicht  •  Physiker 
zu  beurteilen. 

Ich  möchte  zum  Schluß  nur  noch  auf  einen 
solchen  Widerspruch  hinweisen,  der  mir  um  so 
schwerer  zu  wiegen  scheint,  als  Einstein  selbst 
sich  zu  demselben  ausgesprochen  hat  —  es  han- 
delt sich  um  das  sog.  Uhrenparadoxon  —  ohne 
eine  befriedigende  Lösung  des  Rätsels  geben  zu 
können.  Einstein  hat  den  Versuch  in  der  F"orm 
eines  Dialogs  mit  einem  Freund,  den  er  in  den 
,, Naturwissenschaften"    veröffentlichte,')    gemacht. 

Nach  der  Speziellen  Relativitätstheorie  muß 
die  Uhr  von  A ,  der  nach  einer  längeren  Fahrt 
zu  seinem  Freund  B  zurückkehrt,  gegen  die  von 
B  nachgehen.  Nun  kann  man  sich  aber  nach  der 
Relativiiätsiehre  vorstellen,  daß  nicht  A  sondern 
B  in  der  Zwischenzeit  in  Bewegung  und  A  in 
Ruhe  war.  Deswegen  muß  auch  die  Uhr  von  B 
gegen  die  von  A  nachgehen.  Beides  zugleich 
anzunehmen  schließt  einen  unlösbaren  logischen 
Widerspruch  in  sich.  Einstein  versucht  ihn 
auszuschalten,  indem  er  annimmt,  daß  neben  der 
gleichförmigen  Bewegung  Strecken  mit  ungleich- 
förmiger Bewegung,  beim  Beginn  und  bei  der 
Umkehr  der  Fahrt,  auftreten.  Für  das  beschleu- 
nigte Koordinatensystem  bei  der  Rückkehr  läßt 
Einstein  im  Falle  der  Bewegung  des  B  ein 
Gravitationsfeld  in  Wirksamkeit  treten,  bei  dem 
der  bei  der  gleichförmigen  Bewegung  des  B  ver- 
zögerte Uhrengang  so  überkompensiert  wird,  daß 
die  Uhr  des  B  auch  im  Falle  der  Bewegung  des 
B  nachgeht.  Die  Uhr  des  B  muß  daher  bei  der 
Annahme  Einsteins  nachgehen,  mag  man  sich 
den  A  oder  den  B  als  bewegt  vorstellen. 

Dieser  Weg  einer  Eliminierung  der  Schwierig- 
keit, der  schon  an  sich  gesucht  erscheinen  muß, 
ist  aber  überhaupt  nicht  gangbar  bei  einem  Ge- 
dankenexperiment, bei  dem  die  Umkehr  des  A 
und  eine  zeitweilige  Beschleunigung  der  Bewegung 
ausgeschlossen  ist.  Für  ein  Gedankenexperiment 
existieren  keine  technischen  Schwierigkeiten.  Wir 
können  uns  also  ein  Luftschiff  vorstellen,  das  mit 
einer  gleichförmigen  Geschwindigkeit,  die  der 
Geschwindigkeit  der  Bewegung  der  Erde  bei  der 
Umdrehung  um  ihre  Achse  gleich  ist,  dem  Äquator 
entlang  nach  Westen  fährt.  Früh  erreicht  das 
Luftschiff  eine  Station  des  festen  Landes,  bei  der, 
ohne  daß  das  Luftschiff  anhält  oder  seine  Ge- 
schwindigkeit ändert,  durch  gegenseitige  Licht- 
blitze im  Moment  des  Passierens  einer  bestimmten 
Linie  Zeichen  gegeben  werden,  nach  welchen  man 
die  Uhren  auf  Luftschiff  und  Station  gleichstellen 
kann.  Am  anderen  Morgen  passiert  das  Luftschiff 
nach  Zurücklegen  der  Reise  um  die  Welt  die 
betreffende  Linie  zwischen  Luftschiff  und  Station 
wieder.  Die  Lichtblitze  wiederholen  sich.  Die 
Stellung  der  Uhren  kaim  nach  ihnen  für  den  Mo- 
ment des  Passierens  der  Linie  festgestellt  werden. 
Die  Uhr    auf  dem  Luftschiff  muß   gegen  die  Uhr 

')  Naturwissenschalten   1918,  S.  697  ft. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  festen  Station  nachgehen.  Natürlich  kann  man 
sich  in  diesem  Falle  aber  auch  die  Station  als 
bewegt,  das  Luftschiff  als  ruhend  vorstellen.  Die 
Station  hat  sich  ja  tatsächlich  mit  der  Erde  nach 
Osten  bewegt.  Also  muß  die  Uhr  auf  der  Station 
auch  gegen  die  Uhr  auf  dem  Luftschiff  nachgehen. 
Die  Lösung  des  Rätsels  des  Uhrenparadoxons 
durch  Einstein  gilt  für  dies  Gedankenexperiment 
nicht.  Wir  haben  es  hier  allerdings  nicht  mit 
einer  geradlinigen,  sondern  mit  einer  kreisförmigen 
Bewegung  zu  tun;  aber  andere  geradlinige  Be- 
wegungen als  diese  haben  wir  auf  der  Erde  über- 
haupt nicht.') 

Nur  kurz  kann  ich  auf  das  hochinteressante, 
letzte  Kapitel  der  Schrift  von  Cassirer  eingehen. 
Er  führt  hier  den  Gedanken  aus,  den  ich  bei  der 
Besprechung  der  Schlickschen  Erkenntnistheorie 
nur  angedeutet  habe,-)  daß  die  Betrachtungsweise 
des  Physikeis  notwendig  immer  eine  einseitige  ist, 
welche  die  Wirklichkeif  nicht  erschöpft.  Der 
Physiker  betrachtet  die  Erscheinungen  nur  unter 
dem  Gesichtspunkt  und  der  Voraussetzung  der 
Meßbarkeit.  Er  „sucht  das  Gefüge  des  Seins  und 
Geschehens  zuletzt  in  ein  reines  Gefüge,  in  eine 
Ordnung  der  Zahlen  aufzulösen".  Die  klassische 
Mechanik  schaltete  die  Differenzen  der  Empfin- 
dung aus,  indem  sie  den  Unter.-ichied  der  Empfin- 
dung auf  einen  Unterschied  der  Bewegung  zurück- 
führte. In  der  Bewegung  besteht  aber  immer 
noch  der  Dualismus  von  Raum  und  Zeit.  Die 
Relativitätstheorie  geht  in  ihrer  Weltformel  auch 
über  diesen  Unterschied  hinaus.  Die  Unterschiede 
der  zeitlichen  und  räumlichen  Auffassung,  die  in 
unserem  subjektiven  Bewußtsein  so  fest  verankert 
sind,  daß  ohne  sie  ein  Bewußtsein  überhaupt 
nicht  möglich  ist,  sind  in  dem  System  von 
Gleichungen,  das  nach  Einstein  die  allgemein- 
sten Weltgesetze  wiedergibt,  ebenso  ausgeschaltet, 
wie  in  die  physikalische  Begriffsbestimmung  des 
Lichtes  und  der  Farbe  nichts  von  der  subjektiven 
Gesichtsempfindung  eingeht.  „Vergangenheit  und 
Zukunft  unterscheiden  sich  in  der  Form,  die  der 
Weltbegriff   hier   einnimmt,    nicht    anders    als   die 

-f--  und Richtung  im  Raum,    die    wir    durch 

willkürliche   Festlegung    bestimmen    können.      In 


')  Ein  neues  Uhrenparadoxon  wurde  von  K.  Vogtherr 
aufgestellt.     Nalurw.  Wochenschr.   1922,  S.   497  ff. 

')  Naturw.  Wochenschr.   1920,  S.  537  u.  S.  530  f. 


der  Starrheit  der  mathematischen  Weltformel  ist 
von  dem  Strom  des  Geschehens  in  unserem  Be- 
wußtseinsleben nichts  übrig  geblieben.  Der  Be- 
griff des  physikalischen  Gegenstandes  fällt  jedoch 
mit  der  Wirklichkeit  keineswegs  zusammen.  Ge- 
rade die  Relativitätslehre  muß,  wenn  sie  sich  als 
richtig  erweisen  sollte,  die  Überzeugung  auf- 
drängen, daß  „die  Annahme  einer  Einfachheit 
und  Einerleiheit  der  Wirklichkeitsbegriffe"  auf 
einer  Täuschung  beruht.  „Der  theoretisch-wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  treten  andere  Formen  und 
Sinngebungen  von  selbständigem  Typus  und  selb- 
ständiger Gesetzlichkeit  wie  die  ethischen  und 
die  ästhetischen  Formen  gegenüber."  Keine 
dieser  Einzelformen  kann  den  Anspruch  erheben, 
die  Wirklichkeit  als  solche,  die  absolute  Realität 
in  sich  zu  fassen  und  zum  vollständigen  und 
adäquaten  Ausdruck  zu  bringen.  ,,In  dem  Augen- 
blick, indem  wir  das  Gebiet  der  Physik  über- 
schreiten, in  welchem  wir  nicht  die  Mittel ,  son- 
dern das  Ziel  der  Erkenntnis  selbst  verändern, 
nehmen  damit  auch  alle  Sonderbegriffe  eine  neue 
Fassung  und  Formung  an.  Jeder  dieser  Begriffe 
bedeutet  etwas  anderes,  je  nach  der  allgemeinen 
„Modalität"  des  Bewußtseins  und  der  Erkenntnis, 
innerhalb  deren  er  steht  und  von  der  aus  er  be- 
trachtet wird.  Der  Mythos  und  die  wissenschaft- 
liche Erkenntnis,  das  logische  und  das  ästhetische 
Bewußtsein  sind  Beispiele  derartig  verschiedener 
Modalitäten." 

Die  Ausführungen  im  Schlußkapitel  derCassirer- 
schen  Schrift  sind  außerordentlich  interessant. 
Auch  in  den  vorhergehenden  Kapiteln  behandelt 
er  die  Fragen  in  so  klarer  und  fesselnder  Weise, 
daß  der  Leser  seine  Schrift  nicht  aus  der  Hand 
legen  wird,  ohne  dem  Verfasser  für  genuß-  und 
gewinnreiche  Stunden  dankbar  zu  sein.  Die 
Reichenbachsche  Schrift  setzt  beim  Leser  eine 
gewisse  Kenntnis  der  Relativitätslehre  voraus, 
doch  kann  auch  sie  noch  unter  die  allgemein- 
verständlichen Darstellungen  der  Relativitätslehre 
gerechnet  werden.  Auf  die  neuen  wertvollen 
Gesichtspunkte,  die  sie  nach  verschiedenen  Seiten 
eröffnet,  besonders  auch  auf  die  interessante  Aus- 
einandersetzung über  das  Zuordnungsprinzip, 
konnte  leider  bei  der  Besprechung  nicht  näher 
eingegangen  werden,  da  es  sich  bei  dieser  nur  um 
das  Verhältnis  der  Kantschen  Erkenntnistheorie 
zur  Einsteinschen  Relativitätstheorie  handelte. 


Die  Wandlungen  der  Auhel'tung  bei  verschiedeneu  Gruppen  der  Meerestiere. 

Von   Prof.  N.  N.  Takowleff,  Petersburg. 


[Nachdruck  verboten.] 


Tiere,  die  eine  beständige  festsitzende  Lebens- 
weise an  ein  und  derselben  Stelle  führen,  werden 
ausschließlich  im  Wasser  vorgefunden.  Dies  er- 
klärt   sich    erstens   dadurch ,    daß    im  Wasser   die 


tens  ist  das  Wassermedium  insofern  günstig,  als 
in  ihm  mehr  Nahrung  als  im  gleichen  Volumen 
Luft  enthalten  ist.  Endlich  ist  bei  etwa  in  der 
Luft    lebenden    festsitzenden    Tieren    eine    Kreuz- 


Beute  schwimmt  und  dem  Organismus  durch  die  befruchtung,  die  für  das  Leben  der  Art  so  günstig 
Strömung  oder  einen  von  den  Tieren  selbst  her-  ist,  unmöglich  gemacht  oder  doch  äußerst  er- 
vorgerufenen Wasserstrudel  zugeführt  wird;  zwei-      schwert.     Bei  den  im  Wasser  festsitzenden  Tieren 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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wird  eine  solche  Befruchtung  dadurch  bewirkt, 
daß  die  Geschlechtszellen  ins  Wasser  ausgeschieden 
werden,  wo  sie  sich  so  lange  bewegen  können, 
bis  sie  auf  die  Genitalzellen  des  anderen  Ge- 
schlechts stoßen.  Die  sedentäre  Lebensweise 
stellt  keine  hohen  Anforderungen  an  die  Organi- 
sation und  ermöglicht  einen  geringen  Stoffwechsel 
im  Organismus,  da  dieser  keine  aktive  Orts- 
bewegung besitzt.  Somit  weist  die  festsitzende 
Lebensweise  große  Vorteile  auf,  weswegen  sie 
auch  nicht  selten  angetroffen  wird.  Die  sedentäre 
Lebensweise,  sogar  das  Festanwachsen  an  das 
Substrat  wird  bei  allen  Stämmen  des  Tierreichs, 
angefangen  bei  den  niedersten  und  bis  zu  den 
Wirbeltieren  hinauf,  angetroffen  und  kommt,  wenn 
auch  nicht  bei  den  Wirbeltieren  selbst,  so  doch 
bei  den  ihnen  verwandten  und  zu  dem  gleichen 
Typus  der  Clwrdata  gehörenden  Tunicaten  vor. 
Die  festsitzende  Lebensweise  trifft  man  nicht  nur 
an  der  Küstenlinie  des  Meeres,  wo  die  Befestigung 
einen  Schutz  gegen  die  starke  Brandung  des 
Wassers  bietet,  sondern  auch  bei  den  Tiefsee- 
tieren an.  Dieses  wird  begreiflich,  wenn  man  in 
Erwägung  zieht,  daß  ein  Leichenregen  —  wie 
man  sich  ausdrücken  könnte  —  an  tiefen  Stellen 
von  der  Oberfläche  auf  den  Grund  fällt,  wo  die 
Tiefseetiere  entweder  im  Schlamme  wühlen,  ihre 
Nahrung  auf  diese  Weise  aufsuchend,  oder  das 
fallende  Nahrungsmaterial  auffangen,  zu  welchem 
Zwecke  die  festsitzende  Lebensweise  sehr  passend 
ist.  Wegen  der  Aufgabe  der  aktiven  Ortsbewe- 
gung nähern  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
die  festsitzenden  Tiere  den  Pflanzen.  Diese 
Lebensweise  führt  die  Atrophie  der  Organe  des 
animalen  Lebens  —  der  Sinnes-  und  Fortbewe- 
gungsorgane —  nach  sich.  Die  Lokomotions- 
organe  verkümmern,  wenn  sie  nicht  durch  An- 
passung an  die  neuen  Verhältnisse  die  Ausübung 
anderer,    nützlicher  Funktionen   auf   sich  nehmen. 

So  bilden  sich  die  Fußstummel  und  Borsten 
der  Ringelwürmer  in  der  Gruppe  der  Tiibicolae 
infolge  des  Überganges  zur  festsitzenden  Lebens- 
weise zurück.  Es  wird  der  Fuß  reduziert  bei 
den  Muscheln,  bei  Ostraea,  GrypJiaca,  Spoiidylus, 
Cliatna.  Gleichfalls  bei  den  bohrenden  Desmo- 
doiitcii  {Teredo,  Aspergillnm,  Pholas). 

Bei  Schnecken  (bei  denen  man  nicht  so  häufig 
eine  festsitzende  Lebensweise  antrifft)  bleibt  bei 
der  sedentären  Lebensweise  der  Fuß  erhalten 
und  dient  als  Haftorgan  {Patclla,  Chiton,  Ilaliofis); 
bei  den  festsitzenden  jedoch  dient  er,  oder  viel- 
mehr der  an  dem  F"uße  befestigte  Deckel  zum 
Schließen  der  Schalenmündung.  Bei  den  fest- 
sitzenden Krebsen,  Rankenfüßlern  {Cnisiacca,  Cir- 
ripcdia),  erlangen  die  Gliedmaßen  die  F"orm  der 
Rankenfüße,  welche  für  eine  F"ortbewcgung  der 
Tiere  untauglich  sind;  sie  dienen  ausschließlich 
zur  Herbeiführung  der  Nahrung  und  zur  Atmung. 

Wie  bereits  erwähnt,  beobachten  wir  bei  fest- 
sitzenden Tieren  eine  Reduktion  nicht  nur  der 
Bewegungs-,  sondern  auch  der  Sinnesorgane,  was 
augenscheinlich   damit    im  Zusammenhange  steht, 


daß  diese  dem  sedentären  Tiere  beim  Aufsuchen 
der  Nahrung  oder  zum  Meiden  des  Feindes  nicht 
dienen  können.  Im  Gegensatz  zu  den  freilebenden 
Tieren  vermögen  die  festsitzenden  ihre  Beute 
nicht  zu  verfolgen  und  können  auch  nicht  vor 
ihrem  Feinde  flüchten.  Deshalb  reduzieren  bei- 
spielsweise die  Tastorgane,  die  Fühler  oder  An- 
tennen; bei  Rankenfüßlern  sind  die  vorderen  ver- 
kümmert, die  hinteren  fehlen  ganz.  Es  fehlen  die 
Augen  bei  denselben  Rankenfüßlern,  bei  fest- 
sitzenden Stachelhäutern  (Crinoiden).  Die  Seh- 
organe sind  bei  denjenigen  festsitzenden  Tieren 
von  Bedeutung,  die  sich  in  ihrer  Schale  verstecken, 
sich  kontrahieren,  den  Kopf  mit  den  Tentakeln 
in  den  Körper  einziehen,  die  Öffnung,  die  in  ihre 
Schale  führt,  schließen.  In  diesen  Fällen  ent- 
wickeln sich  die  Sehorgane  an  ungewöhnlichen 
Stellen:  bei  Röhrenwürmern  an  den  Kiemen, 
welche  ausgestülpt  werden  können,  oder  bei  den 
Muscheln  an  dem  Mantelrande. 

Infolge  ihres  Unvermögens,  ihre  Beute  selbst 
zu  verfolgen,  sind  die  festsitzenden  Tiere  größten- 
teils auf  den  Plankton,  auf  die  mikroskopischen 
Organismen,  welche  vom  Wasserstrom  ange- 
schwemmt werden  und  mehr  oder  weniger 
mechanisch  in  die  Mundhöhle  gelangen,  ange- 
wiesen. Bei  solchen  Ernährungsverhältnissen  ist 
es  natürlich,  daß  die  Kauwerkzeuge  verkümmern 
und  sogar  atrophieren,  wie  z.  B.  bei  den  Ranken- 
füßlern, Crinoiden  und  sogar  bei  den  freilebenden 
Muscheln,  welche  infolge  ihrer  schwachen  Loko- 
motionsfähigkeit  und  Ernährung  durch  den 
Plankton  sich  stark  von  den  übrigen  Mollusken 
unterscheiden  und  sich  wegen  des  Fehlens  der 
Kauwerkzeuge  und  öfter  auch  der  Augen  den 
festsitzenden  Tieren  nähern. 

Wenn  einerseits  die  animalen  Funktionen  der 
festsitzenden  Tiere  stark  reduziert  sind,  was  vom 
physiologischen  Standpunkte  als  ein  Zeichen  des 
Regresses  betrachtet  wird,  und  somit  die  sedentären 
Tiere  im  Vergleich  mit  den  freilebenden  auf  einer 
niedrigeren  Entwicklungsstufe  stehen,  so  ist  doch 
andererseits  die  ganze  Organisation  der  fest- 
sitzenden Tiere  an  das  Auffangen  und  Festhalten 
der  Nahrungspartikel  möglichst  erfolgreich  an- 
gepaßt. Zu  diesem  Zwecke  entwickeln  sich  be- 
sondere Vorrichtungen  :  bei  festsitzenden  Würmern 
und  Cölenteraten  mit  Wimpern  besetzte  Tentakel, 
vermittels  welcher  sie  einen  Wasserstrudel  hervor- 
rufen, der  ihnen  die  Nahrung  zum  Munde  führt; 
bei  den  festsitzenden  Stachelhäutern  {Pcknalozoa) 
und  Brachiopoden  .'\rme;  bei  den  Moostierchen 
(Vibraculen  und  Avicularien),  bei  den  Muscheln: 
Wimpern  an  den  Kiemen  und  an  den  Mund- 
tentakeln; Rankenfüße  bei  den  Rankenfüßlern; 
dieses  sind  solche  Vorrichtungen. 

Bei  den  meisten  Korallen  und  Actinien  ist 
der  Mund  nicht  rund  sondern  zweiseitig-symme- 
trisch, spaltenförmig,  und  die  Schlundröhre  ist 
nicht  zylindrisch ,  sondern  etwas  flachgedrückt. 
An  der  Berührungsstelle  der  beiden  platten  Seiten- 
wände des  Schlundes  bilden  sich  Rinnen,  welche 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sich  längs  der  Röhre  hinziehen.  Wenn  sich  nun 
die  Mundöfifnung  zusammenzieht,  bleiben  die  über 
den  Rinnen  gelegenen  Mundwinkel  dennoch  offen, 
und  die  Rinnen  verwandeln  sich  in  geschlossene 
Röhren,  die  eine  Vermittelung  zwischen  der 
Leibeshöhle  und  dem  Außenmedium  herstellen. 
Die  eine  Rinne  ist  mit  Wimperhärchen  versehen 
und  ist  überhaupt  besser  entwickelt  als  die  andere. 
In  ihr  wird  vermittels  der  Wimpern  ein  Wasser- 
strom von  außen  nach  innen  erzeugt,  während 
in  der  anderen  Rinne  oder  in  dem  übrigen 
Schlundteile  die  Stromrichtung  eine  entgegen- 
gesetzte ist.  Bei  einigen  Actinien  {Siphonadininc) 
sind  die  Mundwinkel  in  über  das  Mundfeld  hinaus- 
ragende Siphone  ausgezogen ,  während  die  der 
Achse  der  Actinie  zugewandten  Teile  zerschnitten 
sind.  Bei  den  paläozoischen  Korallen  Ritgosa 
scheinen  die  Zeitrinnen  an  der  Oberfläche  des 
Nebenmundfeldes  des  Polypen  im  Zusammenhange 
mit  den  sogenannten  fossulae  gebildet  zu  sein. 

Eine  sehr  interessante  Körperform  ist  den 
Bryozoen  der  Steinkohlenzeit  —  Archimcdcs  — 
eigen,  bei  denen  der  plattenförmige  Körper  der 
Kolonie  in  senkrechter  Richtung  ausgezogen  und 
spiralförmig  eingerollt  ist,  analog  der  archime- 
dischen Schraube  in  der  Mechanik  oder  der 
Schraube  einer  Fleischmaschine.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  daß  vermittels  dieser  Vorrich- 
tung das  Wasser  kontinuierlich  längs  dem  ganzen 
Körper  von  unten  bis  nach  oben  hingetrieben 
wird,  so  daß  der  Vorrat  von  Nährstoffen  voll- 
kommen ausgenutzt  wird. 

Mit  Ausnahme  der  letzten  Zeilen  über  die 
fossilen  Formen  entnehme  ich  das  Obendargelegte 
der  vorzüglichen  Arbeit  von  A.Lang  „Über  den 
Einfluß  der  festsitzenden  Lebensweise  auf  die 
Tiere".  Jena  1888.  Obgleich  diese  Arbeit  vor 
ziemlich  langer  Zeit  erschienen  ist,  ist  sie  nicht 
veraltet  und  steht  einzig  und  allein  in  diesem  Ge- 
biete der  Wissenschaft.  Im  weiteren  werde  ich 
näher  auf  die  Frage  eingehen,  unter  welchen  Be- 
dingungen die  festen  und  beweglichen  Befestigungs- 
arten entstanden  sind,  und  welche  von  ihnen,  vom 
phylogenetischen  Standpunkte  aus  betrachtet,  die 
ältere  ist.  Eigentümlicherweise  ist  letztere  Frage 
bis  heute  noch  nicht  berührt  worden,  was  mich 
auch  dazu  bewegte,  mich  mit  derselben  zu  be- 
schäftigen. 

Die  Befestigungsarten,  die  in  den  meisten 
Fällen  so  große  Verschiedenheiten  aufweisen,  sind 
zweierlei  Art:  eine  bewegliche  (elastische),  ver- 
mittels eines  Stieles  oder  wurzeiförmiger  Aus- 
wüchse und  eine  feste,  vermittels  Ausscheidung 
von  Kalksubstanz,  Zementierung  und  unmittel- 
baren Anwachsens  der  Schale.  Die  bewegliche 
Anhefiung  vermittels  des  sog.  Füßchens  treffen 
wir  bei  den  Brachiopoden ;  vermittels  des,  dem 
Füßchen  analogen  Stieles:  bei  den  Krebsen  Cirri- 
pedia,  Pedimculata  {Lcpadidae  usw.);  bei  den 
Crinoiden  vermittels  eines  andersgearteten  Stieles; 
vermittels  eines  Bündels  von  Hornfäden  {Byssiis) 
bei  den  Muscheln.      Die    feste    unbewegliche  An- 


heftung trifft  man  bei  denselben  Gruppen  an ; 
bei  den  Brachiopoden,  bei  den  Krebsen  Cirri- 
pcdia  Opercidata  [Balanidac  usw.),  den  Muscheln, 
selten  bei  den  Crinoiden. 

Die  bewegliche  Befestigung  weist  in  einiger 
Hinsicht  Vorteile  vor  der  unbeweglichen  auf. 

Die  festsitzenden  Tiere  trifft  man  in  Scharen 
an  ein  und  demselben  Orte  an;  dieses  ist  für  sie 
sogar  charakteristisch  und  dabei  können  die  Tiere, 
dank  ihrer  Nachgiebigkeit  das  Substrat  besser 
ausnutzen,  indem  sich  eine  größere  Anzahl  von 
Individuen  ansiedelt. 

Ferner  kann,  wie  Lang  erwähnt,  die  beweg- 
liche Befestigung  bei  stark  bewegter  See  bevor- 
zugt werden ,  da  sie  eine  schaukelnde  Bewegung 
auf  den  Wellen  ermöglicht,  was  eine  Abschwächung 
der  mechanischen  Wirkung  der  Wellen  nach  sich 
zieht.  Andererseits  ist  vielleicht  die  Anheftung 
vermittels  Zementierung  insofern  günstiger,  als  in 
diesem  Falle  das  Tier  besser  vor  dem  Feinde 
geschützt  ist. 

Meiner  Ansicht  nach  findet  Längs  oben- 
erwähnte Annahme  von  dem  Vorzug  der  beweg- 
lichen Befestigung  in  der  Verbreitung  der  fest- 
sitzenden Tiere  in  den  verschiedenen  Meerestiefen 
ihre  Bestätigung.  Wir  gelangen  sodann  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  bewegliche  Befestigung  in  ge- 
ringeren Tiefen  als  die  unbewegliche  anzutreffen 
ist.  So  sind  die  mit  einem  Byssus  versehenen 
Muschelgattungen:  My/iliis,  Alüdiola,  Puma.  Me- 
leagriiin  in  der  nächstgelegenen  Zone  zu  finden, 
während  die  durch  Zementierung  befestigten 
Gattungen,  wie  Osfraca,A)iomia,Spondyliis,  Chamo, 
Myodiama  in  weiter  vom  Uler  entternten  Zonen 
vorkommen. 

Genau  ebenso  leben  die,  zu  den  Ecardiiics  ge- 
hörenden Disdiia  aus  der  Gruppe  der  Brachiopoden, 
die  mit  einem  Fußchen  versehen  sind,  in  geringeren 
Tiefen  als  die  zementierten  Craiiia,  die  sowohl  in 
mäßigen,  als  auch  in  bedeutenden  Tiefen  vor- 
kommen. Unter  den  übrigen  Brachiopoden, 
Tcsticardines,  besitzen  die,  an  besonders  flachen 
Stellen  lebenden  Tercbratuliiin  und  Waldhcimia 
einen  P'uß,  während  man  die  vermittels  Zemen- 
tierung befestigten  Theddium,  wiederum  in  großer 
Tiefe  antrifft.  Etwas  anders  verhält  es  sich  mit 
den  Rankenfüßlern ;  der  Balanits,  bei  welchem 
die  Schale  an  das  Substrat  anwächst,  kommt  in 
der  Uferzone  vor,  jedoch  ist  er  durch  sein  dauer- 
haftes kuppelartiges  Gehäuse,  dessen  breite  Basis 
anwächst,  an  die  starke  Brandung  gut  angepaßt. 
Der  Bala)!us  ist  an  das  Leben  an  felsigen  Ufern 
angepaßt,  wo  die  Brandung  eine  besonders  heftige 
ist.  Überhaupt  wohnen  die  Baliviidae  so  hoch 
an  den  Felsen,  daß  Chlalmiis  z.  B.  nur  2  von  24 
Stunden  vom  Wasser  bedeckt  wird.  Dabei  ist  es 
für  das  Tier  von  Wichtigkeit,  gänzlich  in  der 
Schale  eingeschlossen  zu  sein,  was  es  vor  dem 
Vertrocknen  schützt.  Von  den  4  Gattungen  der 
Balaniden  leben  2  in  der  Küstenzone  und  die 
übrigen    2    in    der    nächsten,    während    die,    ver- 


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mittels  eines  Stieles  befestigten  Lepadiden  in  der 
Küstenzone  nicht  vorkommen. 

Was  die  phylogenetische  Kontinuität  im  Sinne 
der  Befestigungsart  betrifft,  so  sind  die  Tiere  mit 
beweglicher  Befestigung  denjenigen  mit  der  un- 
beweglichen vorangegangen. 

Bei  den  Muscheln  repräsentieren  hauptsächlich 
Hetcromyaria  die  bewegliche  Befestigung  und  die 
starre  die  Monomyaria,  wobei  diese  die  Nach- 
kommen jener  sind.  Wahrscheinlich  steht  die 
Verbreitung  der  Hetcromyaria  vorzugsweise  in 
dem  Paläozoikum  damit  im  Zusammenhange. 
Was  die  vermittels  Zementierung  befestigte  Mono- 
myaria, wie  Ostrca,  Spoiidylus  u.  a.  betrifft,  so 
erscheinen  sie  zum  Ende  der  paläozoischen  Ära, 
ohne  hier  eine  so  große  Verbreitung  erlangt  zu 
haben  wie  später.  Bei  den  Myochamidae  erscheint 
die  starre  Befestigung  bloü  in  den  tertiären 
Schichten,  bei  den  Unioniden  [^ktlieria)  erst  in 
der  Jetztzeit.  Was  die  schloßiragenden  Brachio- 
poden  [Tcsficardines]  anbetrifft,  so  hat  ihre  unbe- 
wegliche Befestigung  auch  verhältnismäßig  un- 
längst Verbreitung  gefunden.  Bei  den  silurischen 
StropJwmcnaacn  stellt  die  Befestigung  durch  Ze- 
mentierung eine  Seltenheit  vor,  in  De\/on  trifft 
man  sie  öfter  an,  jedoch  am  häufigsten  findet 
man  sie  bei  den  Vertretern  aus  der  Steinkohlen- 
und  Permformation  (Schuchert)  und  zwar  bei 
der  spezialisierten  Gruppe  der  Prodiictidac,  zu  der 
Richthofcnia  gehört,  die  den  äußersten  Grad  der 
Speziahsierung  vorstellt.  Unter  den  schloßlosen 
Brachiopoden  (Ecardiiics)  könnte  die  Befestigung 
vermittels  Zementierung  als  frühentstanden  er- 
scheinen {Craniidac  der  Silurformation),  jedoch 
wäre  diese  Annahme  irrig,  da  die  Entwicklung 
der  schloßlosen  wahrscheinlich  zum  größten  Teil 
in  der  präkambrischen  Zeit  stattgefunden  hat. 

Bei  den  Rankenfüßlern  sind  die  mit  einem 
Stiel  versehenen  Pediincidata  in  geologischer 
Hinsicht  älter  (paläozoische  Ära),  als  die  stiel- 
losen  Opcrciilata  (mesozoische  Ära). 

Bei  den  Crinoiden,  bei  denen  man  selten  eine 
unbewegliche  Befestigung  antrifft,  tritt  dieselbe 
erst  im  Jura  auf  [Ilolopidar). 

Da  die  unbewegliche  Befestigung  im  ganzen 
die  bewegliche  ablöst,  sp  liegt  es  nahe,  die  Frage 
aufzuwerfen,  inwiefern  die  bewegliche  Anheftung 
eine  gelungene  Anpassung  vorstellt. 

Nach  Schuchert  ist  die  Befestigung  ver- 
mittels eines  Fußes  bei  den  Brachiopoden  eine 
schlechte  Anpassung:  das  Füßchen  ist  von  der 
Schale  umgeben,  die  den  Wuchs  des  Fußes  hemmt, 
und  deshalb  ist  es  der  Degeneration  preisgegeben. 
Es  ist  bemerkenswert,  daß  die  Befestigung  ver- 
mittels der  Zementierung  sich  bei  den  Siroplw- 
menaccae  und  den  Spiriferaccac  entwickelt,  bei 
denen  die  Öffnung  für  das  Füßchen  nicht  auf  dem 
Scheitel  der  Schale  liegt,  und  sich  bei  denen,  die 
diese  Öffnung  auf  dem  Scheitel  oder  in  seiner 
Nähe  führen,  nicht  entwickelt,  —  Rliyiiclwncllacca 
und  Tercbratidacea.    Liegt  der  Grund  dafür  nicht 


darin,  daß  letztere  Lage  bequemer,  weniger  störend 
für  das  Füßchen  ist? 

Ich  nehme  an ,  daß  auf  dieselbe  Weise  auch 
der  Byssus  der  Muscheln  der  Degeneration  ver- 
fallen ist. 

Die  Entwicklung  der  Hetcromyaria  aus  den 
Homoinyaria  und  der  Alonomyaria  aus  den  Hetcro- 
myaria steht  bekanntlich  mit  dem  Vorhandensein 
des  Byssus  bei  Homomyaria  und  Hetcromyaria 
in  Verbindung.  Der  Byssus  der  Homomyaria, 
welcher  die  Entwicklung  des  vorderen  Muskels 
hinderte,  war  auch  der  Grund  seiner  Reduktion 
und  der  Entstehung  der  Hetcromyaria.  Später 
führte  derselbe  Vorgang  zur  Atrophie  des  vorde- 
ren Muskels  und  zur  Entstehung  der  Monoviyaria. 

Durch  die  Verschiebung  des  einzigen  Muskels 
zum  Zentrum  hin  (diese  Lage  ist  für  die  Punktion 
eines  Muskels  die  günstigste)  und  durch  die  wahr- 
scheinlich damit  im  Zusammenhange  stehenden 
Errungenschaften  einer  kreisförmigen  Schale,  wurde 
für  die  Monomyaria  die  Möglichkeit  der  Anhef- 
tung mit  den  verschiedenen  Stellen  der  Schale 
und  öfter  mit  derem  Zentrum  eröffnet.  Dieses 
ist  möglich  im  Falle  der  Zementierung  und  un- 
möglich bei  der  Befestigung  vermittels  Byssus, 
so  daß  man  annehmen  kann,  daß  der  letztere 
der  Degeneration  anheimgefallen  war.  Es  darf 
jedoch  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  die  unge- 
schmeidige Befestigung  bei  Homomyaria,  Oiama, 
Myochama ,  Cliamostrea ,  Dimya ,  AetJicria ,  den 
Rudisten  vorkommt,  so  daß  die  Befestigung  durch 
Zementation  möglicherweise  in  einigen  Phallen  un- 
abhängig davon  entstand,  ob  die  nächsten  Ahnen 
sich  vermittels  eines  Byssus  befestigten  oder  nicht; 
wenn  sie  sich  aber  auf  diese  Weise  anhefteten,  so 
blieb  ihnen  natürlich  nur  die  eine  Möglichkeit  noch  : 
es  vermittels  der  Zementierung  zu  tun.  Nebenbei 
gesagt,  können  die ,  vermittels  des  Byssus  be- 
festigten Formen,  keine  solche  Vertiefung  der  be- 
festigten Klappe,  wie  die  zementierten  Rudisten 
oder  sogar  die  Austern,  Spoiidylus,  CJiama,  Clia- 
mostrea, AetJieria  erreichen.  Beim  Vorhandensein 
eines  geraden  Schloßrandes  an  der  sich  vertiefen- 
den Klappe,  erhält  man,  ähnlich  den  Brachiopoden, 
eine  Area;  bei  seinem  Ausbleiben  wird  die  Schale 
kegelförmig  [Craiiia,  Rudisten).  Der  Byssus  ist  in 
erster  Linie  primitiveren  und  ihrer  Herkunft  nach 
älteren  Muscheln  eigen  —  Taxodoiita  und  Plagio- 
doiita ;  bei  den  höheren,  Ileterodoiita  (Herkomm- 
jinge  der  Plagiodoiita)  fehlt  er.  Die  Anwesenheit 
des  Byssus  bei  den  niederen  Muscheln  ist  in  An- 
gesicht dessen,  daß  die  Byssusdrüse  als  ein  Ana- 
logon  der  schleimausscheidenden  sog.  Fußdrüse 
(Sohlendrüse)  der  Schnecken  betrachtet  wird,  be- 
greiflich. Augenscheinlich  haben  sowohl  diese 
als  auch  jene  Drüsen  gemeinsamen  Ursprung. 
Wenn  die  bewegliche  Befestigung  der  Brachio- 
poden und  Muscheln  der  Degeneration  obliegt, 
so  kann  augenscheinlich  allein  die  Befestigung 
vermittels  Zementierung  sie  ablösen,  jedoch  ge- 
schieht   es    nicht     immer.       Bei     den     Muscheln 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kommt  es  nur  in  Gegenden  mit  heißem  Klima 
und  in  der  anUegenden  gemäßigten  Zone  vor, 
nicht  aber  in  der  kalten  Zone.  Das  ist  mit 
dem  großen  Kalkgehalt  des  Wassers  der  war- 
men Meere  zu  erklären.  Eine  der  Zementie- 
rung entsprechende  Rolle  spielt  augenscheinlich 
der  Zustand  der  bohrenden  Muscheln.  Diese  ge- 
hören zu  den  Desmodonta,  denen  die  Befestigung 
vermittels  der  Zementierung  unmöglich  war  wegen 
der  Zerbrechlichkeit  ihrer  Schale  —  eine  Eigen- 
schaft, die  sich  schon  bei  den  paläozoischen  F"or- 


men  bemerkbar  macht.  Bei  der  geringen  Dicke 
der  Klappen  wäre  in  der  Zone  starker  Wellen 
die  Befesügung  durch  Zementierung  totbringend. 
Die  Befestigung  am  Verharrungsort  in  ausgebohr- 
ten Hohlräumen  hat  auch  augenscheinlich  die  Be- 
festigung vermittels  des  Byssus  abgelöst,  und 
zwar  verhältnismäßig  spät,  denn  die  bohrenden 
Muscheln  sind  mit  Bestimmtheit  erst  im  Meso- 
zoikum bekannt;  denn  die  Funde  aus  der  Siein- 
kohlenperiode  (PJwladidae,  Teredinidae)  sind  noch 
sehr  zweifelhaft. 


Bücherbesprechungen. 


Tschirch,    A.,    Erlebtes    und    Erstrebtes. 

Lebenserinnerungen.     VI  u.  254  S.     Bonn  1921, 

Friedr.  Cohen. 
Ein  bekannter  Naturforscher  erzählt  aus  der 
ersten  Hälfte  seines  reichen  Lebens.  Alexander 
Tschirch,  der  in  seinen  dicken,  aber  stets  eigen- 
artigen Büchern  sich  als  ein  Gelehrtencharakter 
erwiesen  hat,  tritt  uns  hier  auch  von  seiner 
menschlichen  Seite  als  ausgeprägte  Persönlichkeit 
entgegen,  schon  rein  körperlich :  „Ich  habe  seinen 
(des  Großvaters)  breiten,  runden  Schädel  (die 
Freude  aller  Bildhauer,  Maler  und  Kunstphoto- 
graphen)". Etwas  weitläufig,  aber  anschaulich 
schildert  der  Verf.  seine  Jugendzeit  in  der  Heimat- 
stadt Guben,  wo  der  Vater  Pastor  war,  und  seine 
Lehrzeit  in  der  Apotheke  von  Loschwitz  bei 
Dresden.  Während  der  Gehilfenjahre  führte  ihn 
seine  Wanderlust  nach  Oberlahnstein,  Freiburg  i.  B. 
und  Bern.  Seit  1878  studierte  Tschirch  in 
Berlin  Chemie  und  Botanik,  promovierte  mit  einer  im 
Seh  wenden  er  sehen  Institut  entstandenen  phy- 
siologisch-anatomischen Arbeit,  wurde  Assistent 
bei  Pringsheim  und  Franck  und  habilitierte 
sich  auf  Anregung  Eichlers  für  Botanik.  Jetzt 
unternahm  er  es,  seine  schon  früher  betriebenen 
Bestrebungen  zu  verwirklichen:  den  Unterricht  in 
der  Pharmakognosie  zu  reformieren.  Die  schlech- 
ten Vorlesungen  Garckes  in  diesem  Fache 
hatten  solche  Pläne  in  ihm  erweckt;  der  gute  alte 
Herr  verübelte  ihm  seine  Konkurrenzvorlesung, 
die  ein  Charakter  wie  Tschirch  natürlich  nicht 
ohne  Vorwissen  Garckes  hielt,  nicht,  sondern 
unterstützte  ihn.  Besonders  pflegte  Tschirch 
ein  botanisch  mikroskopisches  Praktikum  mit  spe- 
zieller Berücksichtigung  der  Drogen  und  Nahrungs- 
mittel, das  erste  dieser  Art  in  Deutschland.  Da 
ihm  in  Preußen  nicht  die  nötige  Unterstützung 
seiner  Reformideen  zuteil  wurde  — •  leider  wird 
ja  auf  die  Lehrbefähigung  und  Lehrwilligkeit  der 
Universitätsdozenten  auch  heute  noch  wenig  Ge- 
wicht gelegt  —  nahm  er  1890  einen  Ruf  auf  den 
Lehrstuhl  der  Pharmazie  nach  Bern  an ,  wo  er 
noch  in  reger  Tätigkeit  wirkt.  Mit  der  Übersied- 
lung nach  der  Schweiz  schließt  das  Buch.  Hoffent- 
lich beschert  uns  Tschirch  auch  noch  die  Dar- 
stellung seines    zweiten  Lebensabschnitts,    der    er 


wohl    mit    Recht    den    Titel    „Erreichtes"    geben 
könnte. 

Die  Darstellung  der  inneren  geistigen  Ent- 
wicklung des  Verf.  hätte  man  etwas  eingehender 
und  tiefer  gewünscht.  Die  Schilderungen  der 
Persönlichkeiten  aber  sind,  auch  wo  sie  nur  aus, 
wenigen  Strichen  bestehen,  wahre  Porträts,  z.  B. 
die  von  Paul  Magnus  (S.  146).  Manche  inter- 
essante Mitteilung  betrifTt  die  Entwicklung  der 
naturwissenschaftlichen  Institute  und  des  Unter- 
richtsbetriebes. 15  Tafeln  zeigen  uns  Stätten  und 
Menschen,  die  in  des  Verf.  Leben  eine  Rolle  ge- 
spielt haben,  doch  auch  allgemeiner  Teilnahme 
sicher  sind.  Hubert  Winkler,  Breslau. 


Lehmann,  H. ,  Die  Baumweißlingskala- 
mität und  die  Organisation  zu  ihrer 
Bekämpfung.  Nach  Erfahrungen  in  der 
Rheinpfalz  bearbeitet.  Flugschr.  Deutsch.  Ges. 
angew.  Entom.  Nr.  10.  8".  31  S.,  11  Fig. 
Berlin  1922,  P.  Parey. 
Der  Baumweißling,  Aporia  cratacgi  L.,  früher 
in  Deutschland  wohl  allgemein  und  häufig,  tritt 
seit  langer  Zeit  nur  lokal  und  vorübergehend 
stärker  auf.  Die  Epidemie  schwillt  gewöhnlich 
rasch  an,  um  nach  wenigen  Jahren  wieder  ebenso 
zu  verschwinden.  Ein  solches  Anschwellen  fand 
in  der  Rheinpfalz  seit  dem  Jahre  1917  statt.  Im 
Jahre  1920  hatte  sich  die  Kalamität  „einer  unge- 
heueren Flutwelle  gleich"  über  die  ganze  Vorder- 
pfalz und  die  tiefer  gelegenen  Teile  der  Nord- 
und  Westpfalz  ausgebreitet,  so  daß  für  1921  die 
dortigen,  überaus  reichen  Obstbaugebiete  mit 
einer  Katastrophe  bedroht  schienen.  Bereits  im 
Jahre  1918  hatten  Bekämpfungsmaßnahmen  ein- 
gesetzt, Absammeln  der  Winternester,  Spritzen 
mit  Arsengiften,  Sammeln  der  Puppen,  Zerquet- 
schen der  Raupen,  Abklopfen  derselben  und  Ver- 
hinderung des  Wiederautbaumens  durch  Leim- 
ringe. Da  aber  alle  diese  Maßnahmen  nicht  all- 
seitig durchgeführt  wurden,  hatten  sie  keinen  be- 
sonderen Erfolg.  Im  Winter  1920/21  wurde  dann 
auf  Betreiben  Prof.  Stellwaags  der  Kampf 
organisiert,  mit  Begehungen,  Versammlungen  mit 
Vorträgen,  Zeitungsartikeln,  Flugblättern  usw.,  vor 


6o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  44 


allem  aber  durch  polizeilichen  Zwang  zum  Ab- 
raupen bis  zu  bestimmtem  Tage,  widrigenfalls 
das  zwangsweise  geschah.  In  erster  Linie  wurden 
die  Winternester  entfernt  und  vergraben,  die 
kleinen  dürren  Blattbüschel,  in  denen  die  jungen 
Raupen  überwintern.  Arsenspritzungen  erwiesen 
sich  als  unwirksam,  da  zu  ihrer  Zeit  die  Bäume 
zu  stark  sprossen  und  so  den  Raupen  immer 
neues  Grün  darbieten.  In  einer  Gemeinde  wur- 
den auch  die  Puppen  abgesammelt,  957  Pfund, 
etwa  I  Mill.  Stück.  Die  Kosten  der  ganzen  Be- 
kämpfung betrugen  22—25  Mill.  Mark.  Der  Er- 
folg   war    aber   auch    vollständig;    im   Jahre   1922 


standen  alle  Bäume  in  kräftigster  Belaubung.  — 
Zum  Schlüsse  weist  Verf.  auf  die  Wichtigkeit  der 
Zusammenarbeit  von  Wissenschaft  und  Praxis 
hin,  was  Ref.  dick  unterstreichen  möchte  ange- 
sichts der  neuerdings  einsetzenden  Bestrebungen 
in  Deutschland,  die  wissenschaftliche  angewandte 
Entomologie  von  der  Praxis,  dem  „Pflanzenschutze" 
zu  trennen,  Bestrebungen,  die  Ref.  geradezu  als 
unheilvoll  bezeichnen  möchte.  Jede  angewandte 
Wissenschaft  kann  nur  in  dauernder  Verbindung 
mit  der  Praxis  gefördert  werden  und  sägt  sich 
den  Ast  ab,  auf  dem  sie  sitzt,  wenn  sie  sich  von 
dieser  loslösen  will.  Reh. 


Anregungen  und  Antworten. 


Die  südamerikanischen  Equiden  keine  Stütze  für  A.  Wege- 
ners  Hypothese.  Der  Aufsatz  von  W.  R.  Eckliardt  (diese 
Zeitschrift  Seite  326)  über  Wegeners  Hypothese  der  Kontinent- 
verschiebung und  die  Tiergeographie  hat  mich  erneut  veran- 
laßt, die  driinde  für  das  Aussterben  der  südamerikanischen 
Pferde  zu  prüfen,  und  zwar  am  fossilen  Material  selbst.  Wir 
sind  heute  wohl  in  der  Lage,  paläontologisch  die  inneren 
Ursachen  für  das  Erlöschen  diluvialer  Säugetierarten  anzugeben, 
denn  es  ist  klar,  daß  diese  Ursachen  in  der  Organisation  der 
Tiere  begründet  sein  müssen,  und  daß  die  äußeren  Einflüsse 
nur  den  letzten  Anstoß  zum  Untergang  geben.  Eme  von  außen 
wirkende  regionale  Ursache,  welche  die  im  Diluvium  von 
Panama  bis  Patagonien  in  allen  Höhen  verbreiteten  Pferde 
zum  Aussterben  gebracht  hat,  kennen  wir  nicht,  es  sei  denn, 
daß  wir  zu  Annahmen  greifen  wie  Wegener.  Von  den  drei 
hauptsächlichsten  südamerikanischen  Pferdestammen  können 
wir  mit  Sicherheit  sagen,  daß  zwei  davon,  nämlich  die  Hippi- 
dien  und  die  Onohippidien,  erloschen  sind.  Ihr  .Artentod  ist 
leicht  zu  verstehen,  denn  sie  sind  in  ihrer  Organisation  teils 
primitiv  teils  hoch  spezialisiert,  also  in  Sackgassen  der  Ent- 
wicklung verrannt,  durch  die  sie  bei  Klima-  und  Vegetations- 
verschlechlerung,  wie  sie  die  Eiszeit  hervorrief,  dem  Untergang 
entgegengingen.  Obwohl  einhufig,  waren  Hippidium  und 
Onohippidium  doch  plumpe  und  schwerfällige  Tiere  mit  kur- 
zen und  stämmigen  Beinen  ;  der  große  Kopf  besaß  einen  kur- 
zen Rüssel  und  niedrigkroniges  Gebiß.  Sie  waren  viel  mehr 
an  das  Leben  im  leuchten  Iropenwald  angepaßt  als  an  den 
Aufenthalt  in  der  Steppe.  Hippidium  ging  im  Verlauf  des 
Eiszeilallers  auf  den  vegetationsarmen  Ebenen  Argentiniens 
früher  zugrunde  als  das  kleinere  Onohippidium,  das,  bis  Pala- 
gonien gedrängt,  dort  mit  Haut,  Huf  und  Haar  in  der  Eber- 
hardlhöhle  am  Meerbusen  von  Ultima  Esperanza  gefunden  ist, 
also  noch  mit  dem  Menschen  zusammen  bis  nahe  an  die 
Gegenwart  heran  vorkam.  Ganz  anders  steht  es  mit  dem 
driiten  Stamm  der  echten  Pferde!  Die  bestbekannten  Arten, 
z.  B.  F.quus  Andium  lassen  in  ihrer  ganzen  Organisation  kein 
einziges  Merkmal  erkennen,  das  auf  ein  baldiges  Erlöschen 
hindeutete.  Die  verschiedenen  Arten  sind  der  Ebene  wie 
dem  Gebirge  vorzüglich  angepaßt.  Sie  stimmen  im  Gebiß  so 
nahe  mit  den  europäischen  diluvialen  VVildpferden  überein, 
daß  nur  der  Kenner  imstande  ist,  kleine  morphologische 
Unterschiede  herauszufinden.  So  steht  das  genannte  diluviale 
Andenpferd,  ein  stämmig  gebautes  Gebirgspferd,  unserm  Tau- 
bacher Wildpferd  (Equus  taubachensis  des  letzten  Interglazials) 
in  der  Bezahnung  und  Unterkieferform  sehr  nahe.  Das  letzte 
ist  nur  als  Waldweidenpferd  der  Ebene  größer  und  schwerer. 
So   wenig  nun  in  Mitteleuropa  die  Gattung  Equus  während   des 


Diluviums  erloschen  ist,  ebenso  wenig  ist  dies  für  die  süd- 
amerikanischen Pferde  anzunehmen.  Zwar  sind  uns  die  dilu- 
vialen Pampasarten  nicht  so  genau  bekannt  wie  das  Andenpferd ; 
aber  sie  stimmen  im  Gebiß  und  Schädel  so  mit  ihm  überein,  daß 
wir  von  diesen  argentinischen  Arten  ,  die  dort  noch  in  histo- 
rischer Zeit  lebenden  Pferde  herleiten  dürfen.  Es  ist  ledig, 
lieh  Nachbetung,  wenn  gesagt  wird,  daß  es  kein  präkolumbi- 
sches  Pferd  in  Südamerika  gegeben  habe;  Die  paläontulogi- 
schen  Funde  sprechen  durchaus  dafür,  daß  die  Gattung  Equus 
in  Südamerika  im  Diluvium  la  Platas  nicht  erloschen  ist,  son- 
dern dort  vor  Ankunft  der  Conquisladores  noch  vorhanden 
war.  Daß  das  argentinische  ,, Wildpferd"  sich  mit  dem  euro- 
päischen Hauspferd  fruchtbar  kreuzt,  ist  nur  ein  Beweis  dafür, 
daß  sie  beide  auf  eine  gemeinsame  Wurzel,  nämlich  ein  plio- 
zänes  nordamenkanisches  Wildpferd,  zurückgehen. 

Wie  die  Pferde,  so  bieten  auch  die  anderen  Familien 
der  südamerikanischen  Diluvialfauna  ein  schönes  Beispiel  für 
die  Gesetzmäßigkeit,  daß  alle  zugleich  primitiven  und 
abwegig  spezialisierten  Gattungen  bei  Auslösung  äuße- 
rer, die  Lebenslage  verschlechternder  Ursachen  (hier  das  Eis- 
zeilalter) ausgemerzt  werden,  während  die  primitiven  oder 
spezialisierten  Typen,  wenn  schon  zurückgedrängt,  sich  halten 
können.  Dies  läßt  sich  ausnahmslos  für  Elephas,  Mastodon, 
Macrauchenia,  Toxodon,  die  Riesenfaultiere,  Glyptodontiden 
und  Säbelkatzen  erweisen.  Tapir,  Hydrochoerus,  Dicoiyles 
u.  a.  sind  unter  den  eiszeiilichen  Einflüss>n  merklich  kleiner 
geworden,  Pferde,  Lamas,  Hirsche,  Dasypodiden,  die  meisten 
Nager,  Beuteliiere  und  Camivoren  haben  ddgegen  ohne  merk- 
liche Änderungen  bis  heute  ausgedauert. 

VV.  O.   Dietrich. 


Literatur. 

Baumann,  J.,  Gärungslose  Früchteverwertung.  Stutt- 
gart '22,   Eugen  Ulmer. 

The  Distribution  of  Bird  Life  in  the  Urubamba  Valley 
of  Peru.  Chapman,  Frank  M.,  Smithsonian  Institution  Uni- 
ted States  National  Museum  Bulletin  II7.  Report  on  the 
Birds  CoUected  by  the  Yale  Universily,  National  Geographie 
Societys  Expeditions.  Washington  '21,  Government  Printing 
Office. 

Blake,  S.  F.,  Smithsonian  Institution  Uniied  States  Na- 
tional Museum.  Contributions  from  the  United  States  National 
Herbarium  Vol.  20,  Part  10.  Revisions  of  the  Genera  Acan- 
thospermum,  Floucrnsis,  Oyedaea  and  Tithonia.  Washington 
'21,  Government  Printing   Office. 


lulialt:  H.  Kranich  feld,  Das  Verhältnis  der  Relativitätstheorie  Einsteins  zur  Kantschen  Erkenntnistheorie.  S.  593. 
N.  N.  Yakowleff,  Die  Wandlungen  der  Anheftung  bei  verschiedenen  Gruppen  der  Meerestiere.  S.  603  —  Bücher- 
besprechungen: A.  Tschirch,  Erlebtes  und  Erstrebtes.  S.  607.  H.  Lehmann,  Die  Baumweißlingskalamilät  und 
die  Organisation  zu  ihrer  Bekämpfung.  S.  607.  —  Anregungen  und  Antworten :  Die  südamerikanischen  Equiden  keine 
Stütze  für  A.   Wegeners   Hypothese.   S.   608.   —  Lit«r»tur:   Liste.  S.  608 


nuskripte  und   Zuschriften 


den  an   Prof.   Dr.   H.   Mi  ehe,  Berlin  N  4,   Invalidenstraße  42,   erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H„  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


der  g: 


Neue  Folge  21.  Band; 

Reihe  ^7.  Hand. 


Sonntag,  den  5.  November  1922. 


Nummer  45. 


Nährpflanzen  und  Heilpflanzen  in  der  Geschichte. 

[Nachdruck  verbofn.]  ^<'°    GeOrS    StlckeF,    Würzburg. 

Soweit  wir    in  die  Vergangenheit    der  Völi<er      ununterbrochen    geübt    bHeb 


zurückbUcken,  werden  vom  Menschen  unter  seinen 
Nährmitteln  und  Heilmitteln  die  Gaben  der 
Pflanzenwelt  besonders  hochgeschätzt.  Vielleicht 
gab  es  Zeiten  und  Orte,  wo  unsere  frühesten 
Vorfahren  ausschließlich  oder  vorwiegend  auf 
Kosten  der  Tierwelt  lebten,  weil  die  Pflanzenwelt 
ihrer  Wälder  und  Steppen  wenig  Anlockendes  bot. 
Aber  wir  dürfen  uns  kaum  vorstellen,  daß  dieses 
jemals  die  Regel  gewesen  sei  bei  jenem  zwei- 
händigen Geschlecht,  das,  Fnit  Gebiß,  Magen, 
Darm  für  pflanzliche  Kost  mindestens  ebenso 
ausgerüstet  oder  angepaßt  wie  für  tierische,  sich 
in  der  letzten  Zeit  des  Tertiärs  weiter  entwickelte, 
in  der  Zeit,  als  das  heulige  Grönland  Koniferen- 
wälder mit  Sequoia  und  Taxodium  und  zugleich 
Platanen,  Magnolien,  Sassafraslorbeeren,  Pappeln, 
Eichen,  Walnußbäume  trug.  Ebensowenig  wird 
sich  der  werdende  Mensch  der  quaternären  Epoche 
auf  Tierjagd  und  Fischjagd  beschränkt  haben  an 
den  nordischen  Spitzbergen  und  in  der  weiten 
Ebene  des  nordischen  Festlandes,  als  dort  neben 
den  Nadelwäldern  mit  Rottanne,  Weißianne,  Kiefer, 
Taxusbaum,  Lebensbaum,  Wachholder  auch  weite 
Wälder  und  Haine  mit  Eichen,  Platanen,  Berg- 
ahorn, Linde,  Walnuß,  Hainbuche,  Pappel,  Weiß- 
birke, Kreuzdorn,  Haselstaude  standen;  wo  Sümpfe 
mit  Sumpfzypresse,  Stechpalme,  Schilfrohr,  Wasser- 
säge, Wasserrose  sich  ausdehnten;  wo  Ulmen, 
Eschen,  Erlen,  Weiden  den  Bächen  und  Flüssen 
folgten;  wo  Kräuter,  Pilze,  Körner,  Beeren,  Schalen- 
früchte, Steinobst,  Kernobst,  Wurzeln,  Knollen 
ebenso  zum  Genuß  einluden  wie  jagdbare  Kriech- 
tiere, Insekten,  Vögel,  vierfüßiges  Wild  und  Fische. 
Das  mußte  freilich  anders  werden,  als  mit  den 
eintretenden  vieltausendjährigen  Vergletscherungen 
und  Überschwemmungen  die  große  Baumwelt 
starb  und  über  den  untergegangenen  Wäldern 
endlose  Tundren  und  Haiden  sich  ausdehnten, 
karge  Weideplätze  des  Renntieres,  des  Moschus- 
ochsen, des  Lemmings,  des  Vielfraßes,  des  Schnee 
huhns.  Auch  mögen  die  Zeiten  der  Steppenfauna, 
welche  den  Rückzügen  der  Eiswüste  geduldig 
folgte,  um  unter  ihrem  Wiederkehren  verküm- 
mernd zu  weichen,  mehr  zur  Jagd  geladen  haben 
als  zur  Pflanzenkost,  solange  als  sie  neben  Steppen- 
ziesel, Bobak,  Pfeifhase,  Wühlratte,  Iltis,  Hermelin, 
Schakal ,  Wolf  auch  noch  die  Herden  des  Ele- 
fanten, des  Nashorn,  des  Mammut,  des  Büffels, 
des  Auerochsen,  des  Riesenhirsches,  des  Elen,  des 
Wildpferdes,  der  Trappe  und  andere  Hühnervölker 
nährten;  so  lange  als  der  diluviale  Mensch,  be- 
drängt von  Bär  und  Löwe  und  Wolf  und  Hyäne, 


der  Abwehr  wie 
in  der  Verfolgung  der  Tierwelt.  Sicher  ist,  daß 
wir  bisher  aus  der  Zeit  des  Höhleniebens  im  Di- 
luvium jedes  unmittelbare  Andenken  daran,  daß 
der  Mensch  damals  Blätter,  Früchte,  Wurzeln  ver- 
zehrt habe,  vermissen;  wir  müßten  denn  eine 
auffällige  Abschleifung  des  Gebisses,  die  sich  beim 
Menschen  der  Altsteinzeit  durchgängig  findet,  als 
Wirkung  harter  pflanzlicher  Kost  deuten  dürfen. 
Das  ist  nicht  ohne  weiteres  erlaubt;  auch  das 
Abnagen  und  Zermahlen  von  Knochen,  Muschel- 
tieren, Käfern  schleift  die  Zähne  ab;  dazu  kommt, 
daß  das  älteste  uns  bekannte  Leiden  des  Vorzeit- 
menschen, die  Höhlengicht,  wie  sie  als  Glieder- 
sucht Gelenke  und  Knochen  angreift,  auch  dem 
Zahnwuchs  und  der  Zahnerhaltung  feindlich  ist. 
Übrigens  teilt  der  diluviale  Mensch  die  Verderbnis 
seines  Gebisses  mit  einigen  pflanzenfressenden 
Riesengefährten,  insbesondere  mit  dem  Merck- 
schen  Nashorn  und  mit  dem  Mammut;  bei  diesen 
finden  wir  schlechtes  Zahnwerk  in  einer  Form, 
die  weniger  einer  fortschreitenden  natürlichen  Ab- 
nutzung entspricht  als  einer  schwachen  Anlage 
und  Ausbildung  der  Zähne. 

Sogar  noch  im  jüngeren  Paläolithikum,  wo  ein 
herdfeuerpflegendes  und  kunstliebendes  Menschen- 
geschlecht die  Wände  seiner  Wohnhöhlen,  seine 
Waffen  und  andere  Gebrauchsgegenstände  mit 
naturwahren  Zeichnungen  und  Malereien  und 
Schnitzbildern  verziert,  fehlen  sichere  Beweise 
für  eine  Schätzung  der  Pflanzenwelt  als  mensch- 
licher Kost.  Die  Aurignacrasse  wie  die  Cro- 
Magnonrasse  hinterläßt  Bildnisse  ihrer  selbst,  ihrer 
Zelte,  Kleider,  Schmucksachen,  ihrer  Jagdiiere, 
Nashorn,  Ziege,  Wildkatze,  Nilpferd,  Hirsch,  Mam- 
mut, Bison,  Renntier,  Fische;  aber  Pflanzenbilder 
zeichnet  der  Mensch  erst  am  Ausgange  des  Dilu- 
viums neben  Ranken  und  Zierlinien.  Daß  er 
sich  mit  wildwachsenden  Kräutern  und  Flüchten 
und  Wurzeln  genährt  habe,  ist  eine  vielmals  aus- 
gesprochene Vermutung,  aber  doch  mehr  ein 
Rückschluß  vom  Leben  der  alluvialen  Sieinzeit- 
menschen  und  vom  Leben  der  heutigen  wilden 
Völker  und  Affengeschlechtern  als  Gewißheit. 

Auch  unter  den  ältesten  Küchenabfallhaufen 
der  muschelverzehrenden  Küstenbewohner  im 
Norden  lassen  sich  regelmäßige  Pflanzenbestand- 
teile als  Nutzreste  nicht  nachweisen. 

Das  ändert  sich  deutlich  mit  den  Anfängen 
der  frühneolithischen  Zeit  des  Alluviums,  wo  der 
Mensch  nicht  mehr  ausschließlich  als  Jäger  und 
Frischer  erscheint,  sondern  mehr  und  mehr  als 
Hirte  auftritt  und  endlich  als  Ackerbauer  und  als 


6io 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  45 


Städttgründer.  Jetzt  ist  ein  großer  Teil  der  Tier- 
welt, die  dem  Menschen  der  Vorzeit  das  Leben 
fristete,  verschwunden.  Mammut  und  Höhlenbär 
sind  ausgestorben;  Löwe  und  Hyäne  sind  in 
wärmere  Zonen  ausgewandert;  Rennlier,  Gemse, 
Steinbock,  Murmeltier  haben  sich  mit  den  Glet- 
schcrfeldern  in  den  hohen  Norden  oder  an  die 
Schneegipfel  der  Alpen  zurückgezogen.  Immerhin 
ist  Gelegenheit  genug  zur  Jagdbeute  geblieben; 
im  Walde  der  Edelhirsch,  das  Elchtier,  das  Reh, 
das  Wildschwein,  Vögel  aller  Art;  auf  der  Steppe 
Pferd  und  Rind  und  Geflügel,  soweit  die  Ebenen 
des  alten  FesUandes  reichten.  Die  Raubtiere,  die 
dem  Menschen  die  Jagd  verderben  und  streitig 
machen,  Bär,  Wolf,  I'uchs,  Luchs  sind  scheuer 
und  nicht  mehr  so  furchtbar  wie  die  Tischgenossen 
der  Urzeit.  Ein  Teil  der  Tiere,  die  mit  dem 
Menschen  das  neue  gemäßigte  Klima  teilen,  ist 
der  Zähmung  und  Züchtung  zugänglich;  der 
Hund  wird  dem  Menschen  Gefährte  und  Jagd- 
gehilfe; Rind,  Ziege,  Schaf  werden  milch-,  fleisch-, 
kleidunggebende  Haustiere  und  Herdentiere. 

So  stand  es  vor  rund  fünftausend  Jahren  für 
das  weiße  Menschengeschlecht  im  Herzen  Asiens, 
das  sich  gelbe  Menschenhorden  und  Rinder, 
Pferde  und  Schafe  zu  Haus-  und  Hürdetieren  er- 
zogen hatte  und,  vom  treuen  Hund  begleitet, 
seine  weiten  Weidegebiete  schützte.  Aus  un- 
bekannten aber  dem  steppenkundigen  Loimologen 
nicht  schwer  enträtselbaren  Ursachen  mußten 
jene  weiße  Menschen,  die  sich  Arier,  die  Gebie- 
tenden nannten,  wiederholt  nach  allen  Himmels- 
gegenden flüchtig  werden,  um  neue  Weideplätze 
und  Wohnsitze  zu  suchen.  So  geschah  es  im 
dritten  und  zweiten  Jahrtausend  vor  Christus  bei 
den  germanischen  Zweigen  der  Urarier;  nach 
Norden  verdrängt  und  immer  aufs  neue  von  der 
Kargheit  des  Bodens,  von  der  Unwirtlichkeit  des 
Himmelsstriches,  von  bodenspaltender  Dürre  mit 
Versiegen  alles  Pflanzenwuchses,  von  den  Piagen 
der  tierischen  Umwelt  und  von  menschenmorden- 
den und  viehmordenden  Seuchen  zum  Aufbruch 
gezwungen,  kamen  sie  nach  unübersehbaren  Wan- 
derungen und  unsäglichen  Muhsalen  endlich  zu 
den  Gestaden  Nordeuropas  und  besiedelten  von 
hier  aus  auch  die  weiten  Urwaldungen  zwischen 
Weichsel  und  Donau  und  Rhein. 

Der  Ursprung  und  die  Schicksale  der  germa- 
nischen Stämme  in  jener  Vorzeit  sind  in  Körper- 
form und  Sprache,  in  Sagen  und  Gebräuchen 
und  Sitten  befestigt;  nebenher  lassen  uns  einzelne 
von  ihnen  mitgetragene  Pflanzen  Herkunft  und 
Wanderzug  ahnen;  so  die  Z u ck er  w u  r  zel  (sium 
sisarum  L.),  die  in  der  Mongolei  einheimisch  mit 
den  Germanen  ihren  Weg  zum  Rheine  gefunden 
hat.  Die  Verehrung  der  Eichen  m  ist  el  (viscum 
quercinum  L.)  und  die  heiligen  Gebräuche,  die 
von  den  Druiden  beim  Pflücken  dieser  Pflanze 
und  bei  der  Bereitung  des  Guthyl  daraus  geübt 
wurden,  gehen  auf  die  Bereitung  des  uralten 
arischen  Göttertrankes  Haoma  zurück;  ebenso 
das  Anzapfen  der  Birke  (betula  alba  L.)    und  des 


Bergahorns  (acer  pseudoplatanus  L.)  zur  Be- 
reitung des  Birkenweins  und  des  Ahornweins; 
vor  allem  auch  die  Gährung  des  Meihs  aus  ver- 
schiedenen Früchten  und  Fruchtsäften  unter  Zu- 
satz von  Wasser  und  Honig. 

Bei  der  Einwanderung  aus  den  russischen 
Steppen  in  die  neue,  durch  Urwälder  und  Sümpfe 
unwirtliche  Heimat  wurden  die  Germanen  ge- 
zwungen, die  bisherige  Grundlage  ihres  Lebens 
zum  Teil  aufzugeben,  die  Viehzucht  einzuschränken 
und  durch  Erträgnisse  der  Jagd  zu  ergänzen;  bei 
karger  Jagdbeute  und  raschem  Viehsierben  auch 
wohl  in  der  Pflanzenwelt  allein  Nahrung  zu  suchen. 
Im  Laubwalde  fand  der  streifende  Jäger  Him- 
beeren, Brombeeren,  Haselnüsse,  Schlehen,  Kirschen, 
Apfel,  Birnen,  Eicheln,  Bucheckern.  Auf  der 
Weide  verriet  die  Gräserwelt  dem  aufmerksamen 
Hirten  eine  ähnliche  Neigung  zu  fast  unbegrenzter 
Herdenbildung,  wie  er  sie  von  den  F"amilien  des 
Rindes  und  anderer  Zweihufer  kannte  und  nutzte; 
der  Viehzüchter  lernte  so  nicht  nur,  die  wohl- 
schmeckenden und  nahrhaften  Samen  der  Gräser 
als  gelegentliche  Beikost  zu  verwenden;  er  lernte 
auch  Fruchtmieten  und  Fruchtspeicher  anzulegen 
und  Gerste  und  Weizen  zu  säen  und  ernten. 

In  der  jüngeren  Steinzeit  sind  sechszeilige 
Gerste  (hordeum  hexastichum  L ),  Emmer  (tri- 
ticum  dicoccum  Schrank),  Einkorn  (triticum 
monococcum  L),  Weizen  (triticum  elegansj  an- 
gebaute Gräser;  außer  ihnen  werden  Pastinak 
(pastinaca  saliva  L.),  Zuckerwurzel  (sium  sisa- 
rum L.),  Mohrrübe  (daucus  carota  L.),  Linse 
(ervum  lens  L.),  Lein  (linum  usitatissimum  L.) 
angepflanzt.  Hierzu  kommen  später,  in  der 
Bronzeeisenzeit,  Roggen  (secale  cereale  L.), 
Spelt  (triticum  spelta  L.),  Hafer  (avena  sativa), 
Saubohne  (vicia  faba  L.),  Ackererbse  (pisum 
arvense  L.). 

In  den  Pfahlbauten  der  Schweiz  können  wir 
Schritt  für  Schritt  verfolgen,  wie  der  schweifende 
Hirt  und  Jäger  zum  seßhaften  Stallzüchter  und 
Fischer  wird,  wie  er  Hund,  Rind,  Ziege,  Schaf, 
Schwein  zu  Haustieren  macht;  wie  er  Weizen, 
Gerste,  Hirse  in  verschiedenen  Arten  pflegen,  ihr 
Korn  bewahren,  zu  Brei  bereiten,  zu  Brot  ver- 
backen lernt. 

Im  Germanien  der  Römerzeit  ist  der  seßhaft 
gewordene  Arier  immer  noch  ein  Liebhaber  der 
Jagd;  aber  er  läßt  sein  Leben  nicht  mehr  von 
den  Erträgnissen  der  Jagd  allein  abhängig  sein. 
Indessen,  durch  Boden  und  Wetter  an  F"rost  und 
Hunger  gewöhnt,  ist  er  mit  wenigem  zufrieden 
und  treibt  die  Ackerwirtschaft  nicht  weiter  als 
zum  Leben  unbedingt  erforderlich  ist.  Der  freie 
Mann  läßt  sich  ohne  äußeren  Zwang  nicht  darauf 
ein,  das  Land  zu  bebauen  und  des  Jahres  Ertrag 
abzuwarten.  Wenn  er  nicht  in  den  Krieg  zieht 
oder  auf  der  Jagd  ist,  so  bringt  er  den  ganzen 
Tag  am  Herdfeuer  zu  in  süßem  Nichtstun  bei 
Essen,  Trinken  und  Schlafen.  Getreide  fordert 
er  vom  Boden;  aber  Weiber,  Greise  und  Schwäch- 
linge   besorgen    Feld    und    Hof    und    Haus    und 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6ii 


bergen  für  den  Winter  die  Feldfrucht  im  Boden 
oder  in  unterirdischen  Höhlen.  Wildes  Obst, 
frisches  Wildbret  und  saure  Milch  bleiben  die 
Lieblingskost  des  Germanen;  ein  Gebräu  aus 
Gerste  oder  Weizen  gibt  den  unentbehrlichen 
Trunk.  So  war  es,  als  Cäsar  über  die  Alpen 
drang,  um  Germanien  zu  besiedeln,  und  als  Ta- 
citus  die  Eigentümlichkeiten,  die  Tugenden  und 
Fehler  der  deutschen  Stämme  aufschrieb. 

In  guten  Zeiten  ehrte  der  Germane  das  heilige 
Dach  der  Fiche,  die  gesunde  Beikost  der  Obst- 
bäume, die  methspendende  Kornfrucht.  In  Zeiten 
der  Not,  in  Viehseuchen,  im  Mißwuchs  der  Felder, 
in  eigenen  Krankheiten  wird  ihm  die  ganze 
Pfl.mzenwelt  ehrwürdig  und  heilig.  Dann  er- 
schließen zahllose  Früchte,  Kräuter,  Wurzeln  gute 
Gaben.  Die  Geschichte  solcher  Zeiten  des  Man- 
gels und  der  Not  lesen  wir  in  den  ältesten  Namen 
unserer  einheimischen  bodenständigen  Pflanzen. 
Wer  mit  Höfler  diese  Namen  auszulegen  ver- 
steht, der  vermag  zu  sehen,  wie  die  große  Lehrerin 
der  Menschheit,  das  Bedürfnis,  unseren  Stamm- 
vätern die  Nährmittel  und  die  Heilkräfte  in  der 
sie  umgebenden  Pflanzenwelt  gezeigt  hat.  Im 
täglichen  Kampf  um  die  Notdurft  des  nackten 
Lebens  versuchten  die  Darbenden  und  Leidenden 
alles,  was  das  erste  menschliche  Bedürfnis,  den 
Hunger,  unschädlich  stillen,  was  Schwäche  be- 
seitigen, Schmerzen  mildern  konnte.  Was  wir 
heute  verachten,  mußten  sie  hochschätzen. 

Die  Pfahlbauten  bei  Bobbenhausen  in  der 
Schweiz  zeigen,  daß  ihre  Bewohner  aus  den 
Samenkörnern  vom  guten  Heinrich  (cheno- 
podium  bonus  Henricus)  ihr  tägliches  Brot  buken; 
in  den  östlichen  Ländern  Europas  wird  heute,  wie 
so  oft  in  vergangenen  Zeiten ,  wieder  einmal 
Hungerbrot  daraus  gebacken;  und  alles,  was  in 
späteren  Zeiten  in  Deutschland  als  Not-  und 
Hungerbrot  galt,  diente  den  Urgermanen  vieler- 
orts durch  lange  Zeiten  zum  Hauptgericht:  Eichel- 
brot, Büchelbrot,  Schlehenbrot,  Kleebrot. 

Von  den  ältesten  Nutzpflanzen  haben  sich  die, 
welche  reich  an  Mehlstoff  oder  Zucker  oder  Fett 
sind,  am  zähesten  unter  den  Volksheilmitteln  der 
Schwindsucht  erhalten:  so  die  Früchte  des  Speise- 
bau m  es,  der  Buche;  des  Gedeihbaumes, 
der  Eiche;  Adebars  Brot  oder  Gott  esgn ad  e, 
die  Knollen  des  Storchschnabels.  ■ — ■  Vielen  ande- 
ren Pflanzen  schrieb  und  schreibt  das  Volk  die 
Kraft  zu,  die  Fruchtbarkeit  vermehren  und  das 
Gebären  zu  erleichtern,  dem  Frauenblatt 
(achillea  moschata),  dem  Sonnenwendgürtel 
oder  Schooßwurz  (artemisia  absinthium).  dem 
Keusch  lamm,  der  Männertreu.  — Zahlreiche 
Pflanzen  erwiesen  sich  als  Vernichter  von  Unge- 
ziefer und  als  Abwehrer  von  Krankheitsgeistern : 
die  Pflanze  Orval,  d.  h.  Erdfall  oder  Milzbrand; 
das  Biswurmkraut;  das  Wanzenkraut  oder 
Wurmkraut  oder  Herrgottshöltzl;  die 
Lausblume,  Seidelbast;  der  Hexenbesen, 
Birkenmistel ;  das  Schelmenkraut,  Kreuzwurz ; 
das  Schwindholz,  Esche.  —  Als  Wundkräuter 


dienten  die  Blätter  des  Wundbaumes,  der 
Esche;  die  Blutwurz  oder  Bukwurz;  die  Eiter- 
wurz.  —  Stärkend  wiikten  der  Barfuß  und  die 
Machtwurz.  —  Eine  große  Giuppe  umfaßt 
Gräser  und  Kräuter  mit  schmerzstillender  Wir- 
kung: Pflanzenteile,  die  kühlend  wirken  wie  der 
Wegetritt  oder  wie  der  gute  Heinrich; 
betäubend  wie  die  Schlafbeere,  wie  das 
Schlafkraut  (Bilsenkraut),  wie  die  Nickel- 
ruh (Schlafmohn),  wie  der  Nachtschaden; 
beruhigend  wie  die  G  r  i  m  m  b  eer  e,  tröstend  wie 
die  blaue  Blume  des  Wegewaris  Nimmerweh. 
Wer  so  das  Volk  der  Vorzeit  Nahrung  und 
Hilfe  bei  der  Pflanzenwelt  suchen  und  finden 
sieht,  der  versteht  seinen  Rat:  Pflanze  Linden 
um  dein  Haus,  dann  können  die  Hexen 
nicht  ankommen;  der  ehrt  seine  fromme 
Mahnung:  Vor  dem  Holler  sollst  du  den 
Hui  abnehmen  oder  niederknien! 

In  den  römischen  Siedlungen  an  Donau  und 
Rhein  scheinen  die  genannten  Heilkräuter  nicht 
viel  gegolten  zu  haben.  Der  weltbeherrschende 
Römer  hatte  es  längst  verlernt,  mit  Cato  dem 
Censor  im  einheimischen  Krauskohl  (raphanis 
Theophrasti,  crambe  Plinii,  brassica  crispa),  das 
trefflichste  Nahrungsmittel  und  wirk^amste  Heil- 
mittel zu  schätzen,  dessen  kraftgebende  Wirkung 
sogar  durch  den  Harn  vermittelt  werde;  sie  ver- 
achteten den  Rat:  Sammle  deinen  Harn,  wenn 
du  Kohl  gegessen  hast;  die  kleinen  Knäblein,  die 
du  damit  wäschest,  werden  niemals  Schwächlinge 
sein.  —  Sie  hörten  auf  Cato  nicht  mehr;  darum 
entarteten  sie.  Wirkliche  Arzneien  mußten  für 
den  Römer  der  Kaiserzeit  aus  Ägypten,  aus  Ara- 
bien, aus  Indien  kommen.  Der  hochgebildete 
und  sicherlebende  Städter  hat  keine  Veranlassung, 
die  gewöhnliche  Pflanze  am  Wege  mit  Ehrfurcht 
zu  betrachten  und  ihr  zu  vertrauen.  Ihm  gilt  der 
einfältige  Unterricht  des  Volksgeistes  nichts,  am 
wenigsten  wenn  er  von  Rohlingen,  wie  den  Ger- 
manen, kommt.  Ihm  ist  maßgebend  die  hohe 
Schule  des  Imhotep,  des  Theophrastos, 
des  Dioscorides,  des  Galen  os. 

Dem  domestierten  und  zivilisierten  Germanen 
in  römischen  Diensten  an  Donau  und  Rhein 
wurde  die  heilige  Thräne  der  Isis  (hiera- 
botane  Diosc. ;  verbena  officinalis  L.)  ein  begehrens- 
wertes Heilmittel;  aber  daß  sein  eigenes  E isen - 
hart  (verbena  officinalis  L.),  das  an  allen  Wegen 
stand,  noch  die  von  den  Druiden  gerühmte  Kraft, 
hieb-,  Schuß-  und  fieberfest  zu  machen,  habe, 
konnte  er  nicht  glauben.  Die  römische  p  1  a  n  t  a  g  o 
oder  septemnervia  lernte  er  gemäß  der  Emp- 
fehlung des  Griechen  Themison  als  Allheil- 
mittel schätzen;  den  eigenen  Wegerich  (plan- 
tago)  sah  er  nicht  mehr  an.  Da  der  Leibarzt  des 
Kaisers  Augustus,  Antonius  Musa,  die  Vet- 
tonica  der  spanischen  Alpen  in  einem  Gedicht 
gepriesen  hatte  und  es  die  höchste  Schmeichelei 
für  einen  Römer  geworden  war,  zu  hören:  Du 
bist  mit  Tugenden  mehr  begabt  als  die  betonica, 


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so  wurde  das  Zehr  kraut  (betonica)  der  deutschen 
Waldwiesen  überflüssig. 

Indessen  verdankte  der  Germane  dem  Römer 
große  und  gründliche  Vorbilder  in  der  Pflege  des 
heimischen  Bodens;  Anleitungen  zum  Ackerbau, 
zur  Obstbaumpflege,  zur  Wiesenbewässerung,  zur 
Anlegung  von  Gemüsegärten,  zur  Anpflanzung  des 
gallischen  Weinstockes  zeigten  ihm,  wie  reich, 
wie  unerschöpflich  die  harte  Mutter  Erde  ist  für 
den,  der  sie  in  treuem  Dienst  lieben  lernt  und 
sie  wiederlieben  lehrt. 

Es  kamen  die  Unruhen,  die  Stürme,  die  Ver- 
heerungen der  Völkerwanderung,  mit  ihnen  die 
Vernichtung  der  Wechselbeziehungen  zwischen 
Beden  und  Volk.  Der  Germane,  herd-  und 
herdenlos  geworden,  mußte  aufs  neue  den  Zu- 
fällen der  Jagd  und  des  Raubkrieges  vertrauen, 
mußte  bei  der  Pflanzenwelt,  die  er  zu  beherrschen 
gelernt  hatte,  wieder  betteln  gehen.  Er  mußte  zufrie- 
den sein,  wenn  das,  was  Wald  und  Anger,  Sumpf  und 
Fluß  abgaben,  ihm  und  nicht  feindlichen  Drängern 
zufiel. 

Endlich  ließ  das  halbt^usendjährige  Drängen 
und  Kämpfen,  Verbluten  und  Sterben  der  germa- 
nischen Völker  nach ;  der  Rest  der  deutschen 
Stämme  sah  wieder  die  Möglichkeit,  feste  Wohn- 
sitze auf  eigenem  Grunde  zu  behaupten  und  Herd 
und  Hof,  Stall  und  Feld  einzurichten.  Statt  ge- 
walttätiger Eroberer  kamen  jetzt  milde  Kultur- 
träger ins  Land,  die  Söhne  des  heiligen  Bene- 
diktus.  Sie  kamen  von  den  britischen  Inseln, 
wohin  sie  vordem  auf  Befehl  des  großen  Papstes 
Gregor  den  Angeln  und  Sachsen  Nächstenliebe 
und  Gottesverehrung  gebracht  hatten.  Sie  sahen 
ihre  nächste  Aufgabe  darin,  Pflanzschulen  der 
germanischen  Jugend  zu  gründen  und  mit  ihrer 
Hilfe  das  verwüstete  und  verwilderte  Land  aufs 
neue  urbar  zu  machen.  Es  entstand  die  Mehrerau 
am  Bodensee  unter  Columban  und  Gallus; 
die  Kultur  des  Friesenlandes  unter  Wil  librord; 
die  Kultur  der  Franken  unter  Emm'eran  und 
Kilian;  es  entstanden  die  Stifte  und  Schulen  zu 
Fulda,  Mainz,  St.  Gallen,  W'eißenburg,  Reichenau, 
Corvey,  Prüm  unter  Winfried,  dem  Apostel 
der  Deutschen,  der  den  Mönchsnamen  Boni- 
facius  trägt,  und  unter  seinen  frommen  Nach- 
folgern Burkard,  Willibald,  Wunibald, 
Walpurgis.  Wo  diese  Boten  der  Gotteskind- 
Schaft  und  Hüter  menschenwürdiger  Sitte  hin- 
kamen, da  versprach  die  deutsche  Erde  aufs  neue 
für  alle,  die  sich  ihr  anvertrauen  wollten,  reich- 
lichen Unterhalt.  Anfänglich  gab  es  noch  schwere 
Notzeiten,  wo  Wurzeln  und  Kräuter  und  wilde 
Früchte  das  nackte  Leben  retten,  langwierige 
Schmerzen  lindern ,  tödliche  Krankheiten  und 
Seuchen  abwehren  mußten.  So  hilfreiche  Kräfte 
sollten  unvergessen  bleiben.  Darum  wurden  sie 
jetzt  nach  dem  Christengott  selber  und  nach 
seinen  Heiligen  benannt. 

Manche  schlichte  Pflanze  kam  damals  zu  hohen 
Ehren.  So  die  F"eigwurz,  der  Warzen  bahnen - 
fuß  (ranunculus  ficaria  L.);    beim  Volk  stand  ihr 


Kraut  seit  uralter  Zeit  bei  den  bösen  Anschwel- 
lungen, Geschwüren  und  Lähmungen  der  Hunger- 
krankheit, die  später  den  Namen  Scharbock 
bekommen  hat,  in  Ansehen;  ihre  Wurzelknöllchen, 
die  in  karger  F'rühlingszeit  gelegentlich  ein  Regen  aus 
dem  Boden  wusch  und  die  dann  als  Weizenregen 
willkommen  waren,  bekamen  den  Namen  Him- 
melsgerste; die  ganze  Pflanze  wurde  nun 
Gotsgenad,  gratia  Dei  genannt.  Später  ist 
sie  zum  kleinen  Schöllkraut  (chelidonia  minor 
officinarum,  Matthiolus-j-  1577)  erniedrigt  wor- 
den, während  ein  anderes  Kraut  mit  wundheilen- 
der Kraft,  der  stinkende  Storchschnabel  (geranium 
robertianum  L.),  der  ebenfalls  kleines  Schöllkraut 
(Chelidonia  minor  Sanctae  Hildegardisf  11 79) 
hieß,  den  Ehrennamen  Sankt  Rupertskraut, 
nach  dem  Stifter  des  Zisterzienserordens  Robertus 
(■\-  1108),  erhielt  und  behalten  hat.  —  Auch  zwei 
Farnkräuter,  die  Natternzunge  (ophioglossum 
vulgatum  L.)  und  die  Mondraute  (botrychium 
seu  osmunda  lunaria  L)  wurden  ausgezeichnet: 
Die  Natternzunge  mit  ihrer  Heilkraft  für 
Wunden,  Geschwüre  und  Entzündungen  erhält 
den  Klosternamen  lancea  Christi;  in  beiden 
Benennungen  wirkt  der  uralte  Glauben  der  Indo- 
germanen  nach,  daß,  was  Wunden  schlägt,  auch 
Wunden  heilt;  die  Mondraute,  ebenfalls  hilf- 
reich bei  Wunden  und  Geschwüren  und  auch  bei 
Bruchschäden  der  Kinder,  bekommt  den  Namen 
herbaSanctae  Walpurgis,  nach  der  Äbtissin 
Walpurg  in  Heidenheim  (7  779),  der  Schutzfrau 
wider  allen  bösen  Zauber.  —  In  allgemeiner 
Schwäche,  besonders  auch  bei  Schwächezuständen 
der  Brust  und  des  Gedärms,  war  die  Brust- 
wurz  von  alters  her  geschätzt;  damals  erhielt 
sie  den  Namen  Engelwurz  (angelica  silvestris 
und  angelica  archangelica  L.)  und  sogar,  wegen 
der  Heilsamkeit  ihres  Auszuges  in  Klosterweinen 
radix  Sancti  Spiritus.  —  Flüsse  der  Brust 
und  des  Bauches,  Hustenleiden  und  Ruhr,  heilte 
das  Kreuzkraut  (senecio  jacobaea  L);  in  Erinne- 
rung an  den  Apostel  Jacobus  den  Älteren  erhielt 
es  den  Namen  Jakobskreuzkraut,  herba 
Sancti  Jacob i.  —  Ein  wirksames  Volksmittel 
in  langwierigen  Bauchstockungen  und  Wasser- 
suchten ist  durch  seine  abführende  Wirkung  der 
Wilde  Aurin;  er  bekam  den  Namen  Gnaden- 
kraut oder  Gott esgnade,  gratiola  (gratiola 
officinalis  L.).  —  In  hartnäckigen  Drüsenbeulen, 
Eiterungen,  Brustleiden  hatte  sich  der  Roßhuf 
oder  Eselsfuß,  Huflattig  (tussilago  farfara  L.)  be- 
währt; er  wird  nunmehr  herba  Sancti  Qui- 
rini  genannt,  in  Erinnerung  an  den  römischen 
Tribun  Quirinus,  der  zum  Christentum  übertrat, 
als  der  Papst  Alexander  seine  Tochter  vom  Übel 
der  Skrofeln,  mal  de  Saint  Quirin,  geheilt 
hatte.  —  In  der  schweren  Gliedersucht  mit  Reißen, 
Zittern,  Lähmungen  und  in  der  hinzutretenden 
Qual  des  Blasensteines  hitte  von  jeher  die 
Frühlingsschlüsselblume  ( primula  veris  L.) 
als  herba  arthritidis  guten  Ruf;  in  der  Kloster- 
apotheke   wird   sie    zum    Himmelsschlüssel, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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herba  Sancti  Pauli.  —  Gegen  die  Fußgicht 
hatte  sich  der  Giersch  oder  Geißfuß  (aego- 
podium  podagraria  L.)  stets  heilsam  erwiesen ;  er 
wurde  in  Erinnerung  an  den  wohltätigen  Abt 
Gerhard  vonBrogne(7  959)  herba  Sancti 
Gerardi  genannt.  —  Wunden,  Wechselfieber 
und  sein  Gefolge,  Leberleiden,  Bauchwassersucht, 
heilte  der  VVasserhanf  oder  Wasserdosten, 
auch  braunes  Leberkraut  genannt  (eupatorium 
cannabinum  L.),  sogar  der  verwundete  Hirsch 
suchte  ihn  auf  und  stillte  damit  das  Blut;  die 
Ärzte  Italiens  nannten  ihn  nach  dem  Fürsten  der 
Ärzte  eupatorium  Avicennae;  als  herba  Sanc- 
tae  Kunigundae  wurde  er  dem  Andenken  der 
Kaiserin  Kunigunde  (f  1040),  der  Bamberg  auch 
die  Anzucht  des  Süßholzes  (glycyrrhiza  glabra  L.) 
zu  verdanken  hat,  geweiht.  —  Wider  Krämpfe 
und  Fallsucht  genoß  das  petenstro,  das  gelbe 
Labkraut  (galium  verum  L.),  Vertrauen ;  es  wurde 
als  Unserer  lieben  Frau  Bettstroh,  Stra- 
tum lecti  beatae  Mariae,  in  den  Schutz  der  Him- 
melskönigin gestellt.  —  Flin  wirksames  iVlittel 
wider  Würmer  und  das  davon  erregte  Krampf  leiden 
der  Kinder  und  die  Drehkrankheit  der  Lämmer 
war  der  Wurzelstock  des  Wurmfarren  (polypodium 
filixmas);  die  zubereitete  Wurzel,  feugera,  fougere, 
bekam  den  Namen  Johannishand,  manus 
Sancti  Johannes,  in  Erinnerung  an  Johannes 
den  Täufer,  dem  das  Haupt  vom  Rumpfe  sprang. 
—  Wider  den  Freisam,  Milchschorf  der  Säuglinge, 
und  die  ihn  begleitenden  Krämpfe  war  das  drei- 
farbige Ackerveilchen  (viola  canina  L.)  gebräuch- 
lich als  Freisamkraut;  es  gewann  als  Drei- 
faltigkeitskraut neues  Vertrauen. 

Zäher  als  diese  Namen,  die,  wenngleich  unter 
Anrufung  guter  Geister,  immerhin  einem  magi- 
schen Mißbrauch  altbewährter  natürlicher  Heil- 
mittel Vorschub  leisteten,  sind  Namen  und  Ver- 
ehrungen aus  heidnischer  Vorzeit  geblieben,  die 
wider  böse  unsichtbare  Feinde  gerichtet  waren : 
das  Berufs  kraut  (erigeron  acris  L.),  auch  blaues 
Flöhkraut  oder  Altmannskraut  genannt,  wider  das 
Beschreien  der  Kinder ;  das  Hexenkraut  (circaea 
lutetiana  L.);  das  Druden  kraut,  Teufelsklaue 
(lycopodium  clavatum  L.)  mit  seinem  Hexen- 
mehl, Bärlappsamen;  der  Gauch  h  eil  (anagallis 
arvensis  L.),  womit  Hundswut  und  Krebs  und 
alle  bösen  Geister  gezähmt  werden;  das  Wisunt, 
Quendel  (thymus  serpyllum  L.);  der  Teufels- 
abbiß (scabiosa  succisa  L.),  ein  Schutz  wider 
Bezauberung  des  Viehes;  das  Johannisblut 
(fuga  daemonum,  hypericum  perforatum  L.),  ein 
Allheilmittel,  das,  in  der  Nacht  der  Sommersonnen- 
wende, Johannisnacht,  gesammelt,  noch  zur  Zeit 
des  Paracelsus  das  wichtigste  Bannmittel  wider 
alle  bösen  Geister,  wider  Gespenster,  Einbildungen, 
Tobsucht,  Aberwitz,  Würmer  ist;  das  Johannis- 
kraut (herba  Sancti  Johannis,  verbena  officinalis 
L.),  die  älteste,  den  Ägyptern,  den  Griechen,  den 
Druiden    heilige  Wundpflanze   und   Zauberpflanze. 

Den  christlichen  Mönchen  des  Abendlandes 
lag   in    keiner  Weise   daran,   eine  magische  Heil- 


kunst zu  finden  und  zu  pflegen.  Sie  suchten 
natürliche  Heilmittel  und  ihre  natürlichen  Kräfte. 
Führer  dabei  waren  ihnen  die  Schriften  der  Alten. 
Was  von  einheimischen  Pflanzen  in  Germanien 
von  jeher  und  noch  zur  Zeit  der  Geburt  des 
Herrn  wuchs,  zu  welchem  Gebrauch  eine  jeg- 
liche diente  und  welche  besonderen  Tugenden 
sie  als  Heilmittel  hatte,  das  überlieferte  ihnen 
ausführlich  die  Naturgeschichte  des  Plinius. 
Sie  brauchten  nur  um  sich  zu  blicken,  um  wahr- 
zunehmen, daß  Jahrhunderte  von  Völkerschicksalen 
kurze  Augenblicke  in  der  Welt  Gottes  sind.  Noch 
stand,  wie  es  Plinius  vor  siebenhundert  Jahren 
verzeichnete,  aus  den  Tagen  der  Schöpfung  in 
dichten  Urwäldern  die  tausendjährige,  die  fast 
unsterbliche  Eiche,  quercus  robur,  unter  deren 
breitem  Schutzdach  die  Gebete  an  AUfadur  den 
Unsichtbaren  und  an  seinen  Stellvertreter  Odin 
gerichtet  wurden  und  die  heiligen  Opfer  ge- 
schahen; deren  gewaltiger  Einbaum  dreißig 
Männer  über  die  Gewässer  tragen  konnte;  deren 
Frucht  als  gesunde  Kost  für  den  Menschen  und 
als  starke  Mast  für  das  Schwein  der  Herbst  in 
unendlicher  Fülle  herabschüttelte.  Noch  wuchs 
auf  der  Eiche  das  Allheilmittel  der  Druiden,  die 
Eichenmistel,  viscum  quercus,  die  beim 
Scheine  des  sechstägigen  Mondes  von  weiß- 
gekleideten Priestern  mit  goldener  Sichel  ge- 
schnitten nach  der  Opferung  eines  weißen  Stier- 
paares unter  Anrufung  des  Gottes  zum  Guthyl 
wird,  dessen  Saft  alles  Lebendige  fruchtbar  macht 
und  jedes  Gift  bändigt.  Noch  drängte  sich  in 
den  Torfsümpfen  die  heilige  Erle,  ellenum  (al- 
nus  glutinosa  L.)  mit  heilsamem  Blatt  und 
Rinde;  auf  den  Heiden  die  gesellige  Birke, 
betulla,  als  gefürchtete  Rutenspenderin,  aber  auch 
Geberin  von  Korbgeflecht,  Harz  und  heilsamem 
Frühjahrswein;  auf  Triften  und  Hügeln  stand  der 
weitschattende  zuckersaftliefernde  Feldahorn, 
platanus,  und  Bergahorn,  acer;  auf  den  Bergen 
ragten  Lärche,  larix  (pinus  larix  L.)  und  Edel- 
tanne, abies,  hundertundzwanzig  Fuß  hoch  und 
höher  empor.  Im  Unterholz  der  Waldränder  und 
Lichtungen  wuchsen  neben  dem  giftigen  Gold- 
regen, laburnus,  den  die  Bienen  meiden,  der 
Pimpernußstrauch,  staphylodendron  (staphy- 
lea  pinnata  L)  mit  eßbaren  Samen,  Schlehe, 
Spina  (prunus  spinosa),  Sauerkirsche  und 
Vogelkirsche,  cerasus  (prunus  cerasus,  prunus 
avium  L.)  mit  herben,  sauren  und  süßen  Früchten; 
an  Bergeshalden  stand  die  Weinrebe,  vites  vini, 
aus  Gallien  eingeführt. 

Von  Kräutern  wurde  der  flachsgebende  Lein, 
linum,  gepflegt;  die  nährende  Saubohne,  faba 
(vicia  faba  L.);  der  Ol  rettig,  raphanus  (rapha- 
nus  sativus  L.);  die  Zuckerwurzel,  siser  (sium 
sisarum  L.),  die  der  Kaiser  Tiberius  alljährlich 
als  Zins  einforderte;  der  Spargel,  asparago,  as- 
paragus  gallicus  (Asparagus  officinalis  et  silvestris 
L.);  die  wurmtreibende  Mohrrübe,  daucus 
(daucus  carota  L.);  die  keltische  Narde,  sa- 
liunca  (Valeriana  celtica  L.),   und  der  Feldküm- 


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mel,  casia  (thymus  serpyllum  L.)  mit  magen- 
stärkenden Krähen.  Noch  wuchs  der  Wasser- 
ampfer, britannica  frumex  aquatica  L.),  mit 
mundfäuleheilendem,  nervenstärkendem  und 
schlangengiftwidrigem  Saft  und  mit  den  Blüten, 
deren  Genuß  vor  Thonars  Keilen  schützt;  das 
Hexenkraut  oder  Donnerkraut,  gallicum 
nardum  (Valeriana  officinalis);  die  Bergflocken- 
blume,  centaurea  (centaurea  montana  L.),  mit 
bittersüßem,  wundenheilendem  Wurzelsaft;  das 
Bein  heil,  der  Wasser  faden,  conferva  (con- 
ferva  fluviatilis  L.),  radix  symphyti  seu  consolida 
major  officinarum,  Apulejus,  mit  knochenbruch- 
bindender  Wurzel;  das  unschätzbare  Erdgal, 
Fieberkraut,  Tausendgüldenkraut,  cen- 
taurion  lepton  (erythraea  centaurium  L.).  Von 
brotgebenden  Gräsern  wurden  wieder  wie  vordem 
ausgesät  der  Roggen,  siligo  (secale  cereale  L.), 
der  Weizen,  triticum  (triticum  aestivum  et  hi- 
bernum  L),  die  Gerste,  hordeum  (hordeum  vul- 
gare L.),  die  Hirse,  panicum  (panicum  miliaceum 
L.).  Sorgfältig  sammelte  man  das  pfeilgebende 
Rohrschilf,  calamus  (arundo  phragmiies  L.), 
den  Färber waid,  glastum  (isatis  tinctoria  L.), 
womit  ehemals  der  britannische  Krieger  sich  blau 
färbte,  und  der  später,  wie  auch  die  blaue 
Heidelbeere,  vacinia  (vaccinium  myrtillus  L), 
zur  Färbung  der  Sklavenkleider  diente;  ferner  das 
Seifenkraut,  planta  saponis  (saponaria  offi- 
cinalis L.),  als  Haarbeize  den  Germanen  und  den 
Römerinnen  dienend;  die  IVIoosbeere,  samol 
der  Druiden  (vaccinium  oxycoccus  L),  bei  leerem 
Magen  mit  linker  Hand  und  abgewendetem  Ge- 
sicht gepflückt  und  in  die  Tränkrinnen  geworfen, 
ein  kostbares  Heilmittel  in  den  Krankheiten  der 
Rinder  und  der  Schweine. 

Zu  diesen  Nutzpflanzen  und  Heilpflanzen  Ger- 
maniens,  die  schon  vor  der  ersten  Römerzeit  bei 
den  deutschen  Stämmen  geschätzt  wurden,  hatten 
die  Mönche  seit  Col  um  ban  und  Gall  us  manche 
andere  in  ihren  Heilschatz  aufgenommen;  fast  für 
jeden  Körperteil  und  Schaden  hatten  sie  ein  be- 
sonderes Kraut;  den  Augentrost,  ocularia 
(euphrasia  officinalis  L.),  den  Zahntrost,  den- 
taria  (euphrasia  odontites  L.).  das  Lungen  kraut, 
pulmonaria  (pulmonaria  officinalis  L.),  das  Harn- 
kraut,  urinaria  (ononis  spinosa  L.),  das  Bruch- 
kraut,  herniaria,  herba  millegrania  seu  cancri 
(herniaria  glabra  L.),  das  Gicht  kraut,  rheuma- 
tica  (geranium  pratense  L.),  das  Ruhrkraut, 
sanguisorba  (poterium  sanguisorba  L.),  die  Wund- 
heilktäuter,  sanicula  (sanicula  europaea  L.),  Heil 
aller  Schäden,  und  ulceraria  (ballota  nigra  L.) 
und  centummorbia  (lysimachia  nummularia  L); 
das  Schindkraut    (chelidonium  majus  L.)    usw. 

Nicht  wenige  Heilkräuter  wurden  von  den 
Mönchen  aus  Italien  und  anderen  Ländern  in  die 
Klostergärten  eingeführt  und  dort  gepflegt;  wir 
werden  nachher  einige  zu  nennen  haben.  — 

AlsKarlderGroße,  der  Friedenschaffende, 
die  staatliche  Einigung,  Christianisierung  und  Ge- 
sittung aller  deutschen  Stämme  als  seine  Lebens- 


aufgabe erkannte,  fand  er  in  den  Vorarbeiten  der 
Benediktiner  eine  feste  Grundlage;  mit  Bedacht 
nahm  er  ihren  Rat  und  Hilfe  weiterhin  in  An- 
spruch. Seine  Hauptsorgen  waren  die  Sicherung 
der  Grenzen,  der  Wegebau,  der  Handelsverkehr, 
die  Pflege  des  Ackerbaues,  der  Herdenzucht,  des 
Handwerkes,  die  Schulung  der  Jugend  in  Wissen 
und  Kunst.  Für  sich  selber  bestellte  er  als  Lehrer 
den  Angelsachsen  Alkuin,  den  Leiter  der  Bene- 
diktinerschule zu  York  in  England.  Rasch  er- 
blühten unter  dessen  Hilfe  und  unter  Mitwirkung 
der  bereits  vorhandenen  Abteien  und  Klöster  des 
Reiches  alte  und  neue  Mittelpunkte  treuen  Tage- 
werkes und  geistigen  Lebens. 

Eine  der  merkwürdigsten  und  wichtigsten 
Schöpfungen  des  Kaisers  ist  seine  Landgüter- 
ordnung, das  capitularc  de  villis  vel  cur- 
tis  imperii,  das  unter  Beihilfe  des  Benediktiner- 
abtes Ansegis  von  St.  Wandrille  zustande  kam 
und  im  Jahre  8oo  oder  früher  erlassen  wurde. 
Es  enthält  die  Regelung  des  ländlichen  Betriebes 
auf  den  Krongütern  nach  bewährten  Vorbildern 
aus  römischer  Zeit  und  angelsächsischer  Übung; 
die  Dreifelderwirtschaft,  der  Weinbau,  die  Obst- 
pflege, die  Zucht  von  Hausvieh  und  Herdenvieh, 
Pferden,  Rindern,  Schafen,  Schweinen,  Ziegen, 
Bienen,  Fischen  sind  bis  ins  einzelne  vorgezeichnet 
als  Bestandteile  vorbildlicher  Musterwirtschaften. 
Dieses  Reichsgesetz  zählt  im  letzten,  dem  70.  Ab- 
schnitt des  einzelnen  alle  Pflanzen  auf,  welche  in 
den  königlichen  Gärten  vorhanden  sein  mußten. 
Die  Zahl  der  Nutzkräuter  war  73  Arten,  die  der 
Fruchtbäume  14  .Arten  mit  verschiedenen  Abarten. 
Ihre  Aufzählung  lautet  in  deutscher  Übertragung: 
Lilie,  Rose,  Bockhornklee,  Frauen- 
minze (costus,  balsamita  vulgaris  Gesneri,  tana- 
cetum  balsamita  L.),  gebräuchlicher  Sal- 
bei, gemeine  Raute,  Eberreisbeifuß, 
Gartengurke,  Melonengurke,  Kürbis, 
Vietsbohne,  Kreuzkümmel,  Rosmarin, 
Feldkümmel,  italiänische  Kichererbse, 
Meerzwiebel,  deutscher  Schwertel  (Sieg- 
wurz, AUermannsharnisch),  Drachenwurz, 
Anisbiberneil,  Springgurke  (coloquentis), 
Sunnenwirbela  (solsequium,  cichoreum  intybus 
L),  Bärenwurzel  (ameus,  ammi  copticum), 
Zuckermerk  (silum),  G  a  r  t  e  n  1  a  t  t  i  c  h , 
Schwarzkümmel  (Gith  Plinii),  Raukenkohl 
(eruca  alba  L.),  Brunnenkresse,  Ampfer 
(oder  Klette?  parduna),  Poleiminze,  Ross- 
eppich (oli-^atum,  smyrnium  olusatrum,  Myrrhen- 
kraut), Peter silge,  Eppich,  Liebstöckel, 
Sadebaum,  Dill,  Fenchel,  Endivien- 
salat,  Diptam,  weißer  Senf,  Bohnen- 
kraut (satureia),  Gartenkresse,  Krause- 
minze, Waldminze,  Rainfarrn  (?  tanazita), 
Katzenminze,  Fieberkraut  (febrefugia, 
Kleintausendgüldenkraut,  erythraea  centaurium  L.), 
Schlafmohn,  Mangold,  Haselwurz  (vulgi- 
gina,  asarum  europaeum  L.),  Eibisch,  Rosen- 
eibisch (Malve),  M  öh  re  (carruca),  Pastinake, 
Gartenmelde    (adripia,    atriplex    hortense    L.), 


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Erdspinat,  Kohlrübe,  Grünkohl,  Perl- 
zwiebel (uniones),  Schnittlauch  (briila,  bli- 
tum  capitatum  L.),  Lauchzwiebel,  Garten- 
rettich, Schalotte,  Küchenzwiebel, 
Knoblauch,  Färberröte  (Krapp,  warentia, 
rubia  tinctorum  L.),  Weberdistel  (cardo), 
Saubohne, Mohrenerbse  (pisum  maurisicum), 
Coriander,  Kle tterkörbel,  kreuzblätte- 
rige Wolfsmilch  (Springwurz,  lacteris,  euphor- 
bium  lathyris  L.),  Muskatellersalbei  (sclareia). 
Der  Gärtner  aber  habe  auf  seinem  Haus  den 
Jupitersbart  (Donnerkraut,  jovis  barba,  Haus- 
wurz, sempervivum  tectorum  L.). 

Von  Obstbäumen  sind  zu  halten  in  verschie- 
denen Arten  und  Abarten  Zwetschenbäume, 
Speierlinge,  Mispelbäume,  Birnbäume, 
Kastanienbäume,  Pfirsichbäume,  Quit- 
tenbäume, Haselnußstauden,  Mandel- 
bäume, Maulbeerbäume,  Lorbeerbäume, 
Kiefern  (pinus),  Feigenbäu  me,  Wal  nuß- 
bäume,  Kirschenbäume.  Von  Äpfeln  ins- 
besondere Gozmaringer,  Geroldinger, 
Crevedeller,  Spirauken,  süße  und  sauere, 
frühreife  und  winterharte. 

Zwei  Inventare  kaiserlicher  Gärten  von  den 
Hofgütern  Asnapium  und  Treola  enthalten  über- 
einstimmende Bestände. 

Das  ist  eine  selbständige  Flora,  die  im  Ver- 
gleich mit  anderen  ausländischen  Floren  damaliger 
Zeit,  insbesondere  mit  der  römischen,  der  griechi- 
schen, der  kleinasiatischen,  der  ägyptischen,  der 
spanischen,  sich  nur  so  weit  berührt,  als  sie  einige 
wenige  Zier-  und  Arzneipflanzen  als  italische  Ein- 
fuhr enthält. 

Eine  Ausführung  des  Capitulare  de  villis  oder 
vielleicht  auch  ein  älteres  Vorbild  dafür  sehen 
wir  in  der  vor  uns  liegenden  Zeichnung  eines 
für  das  Kloster  in  Sankt  Gallen  geplanten  Neu- 
baues aus  dem  Jahre  820.  Dieses  Kloster,  im 
Jahre  630  von  Gallus  Scotus,  dem  schotti- 
schen Apostel  der  Germanen,  gegründet,  hat 
unter  anderen  Dokumenten  jener  Zeit  auch  den 
genannten  Bauriß  aut bewahrt,  den  Ferdinand 
Keller  veröffentlicht  hat.  Der  Bauplan  enthält 
neben  den  weiteren  Gebäulichkeiten  die  Anlage 
eines  Ärztehauses  mit  Krankensaal,  Schröpfstube, 
Kräuterkammer,  Kräutergarten,  Küchengarten  und 
Obstgarten ;  der  letztgenannte  ist  auf  dem  Gottes- 
acker angesiedelt;  das  alles  ein  Achtel  des  Grund- 
risses einnehmend. 

Für  den  Heilkräutergarten  (herbularius)  sind 
auf  sechzehn  Beeten  die  folgenden  Heilpflanzen 
vorgesehen:  lilium,  rosas,  fasiolo  (Vieths- 
bohne),  sataregia  (Bohnenkraut),  costo 
(Frauenminze),  fenagraeca,  rosmarino, 
menta,  salvia,  ruta,  gladiola,  pulegium, 
feniculum,  lubestico  (Liebstöckel),  cumino, 
sisimbria  (Wegsenf,  erysimum  officinale  L.). 

Für  den  Küchengarten  (hortus)  sind  achtzehn 
Beete  bestellt  mit  den  folgenden  Gewächsen : 
cepos  (Zwiebel),  porros  (Lauch),  apium  (Ep- 
pich), coliandrum  (Koriander),  a n e t u m  (Dill), 


papaver  (Feldmohn),  radices  (Rettich),  ma- 
gones  (Gartenmohn),  betas  (Mangold),  alias 
(Knoblauch),  ascolonias  (Schalotte),  petro- 
silium  (Petersilie),  cerefolium  (Kerbel),  lac- 
tuca  (Salat),  sataregia  (Bohnenkraut),  pasti- 
nochus  (Mohrrübe),  caulus  (Kohl),  gitto 
(Schwarzkümmel). 

Auf  dem  Friedhof  (ager  Dei)  sollten  wachsen 
diese  fünfzehn  Bäume:  malari  u  s  (Apfel),  pera- 
rius  (Rirne),  prunarius  (Pflaume),  pinus 
(eßbare  Kiefer),  sorbarius  (Speierling),  mis- 
polarius  (Mispel),  laurus  (Lorbeer),  caste- 
narius  (Edelkastanie),  ficus  (Feige),  guduni- 
arius  (Quitte),  persicus  (Pfirsich),  avelle- 
narius  (Haselnuß),  amendelarius  (Mandel- 
baum), murariu  s  (Maulbeere),  nugarius  (Nuß- 
baum). — 

In  das  Kloster  Sankt  Gallen  trat  im  Jahre  834 
der  achtundzwanzigjährige  Walafrid  Strabus 
ein.  Er  war  erzogen  worden  durch  Hrabanus 
Mau r US,  Alkuins  berühmten  Schüler,  in  dem 
Benediktinerkloster  zu  Fulda,  das  im  Jahre  744 
der  heilige  Bonifat  i  US  gegründet  hatte;  Wala- 
frid ist  später,  im  Jahre  842,  Abt  des  von  Pir- 
min  (724)  gegründeten  Klosters  auf  der  Insel 
Reichenau  am  Zeller  See  geworden,  wo  unter 
anderen  Büchern  aus  jener  Zeit  auch  ein  Bücher- 
verzeichnis, worin  Karls  Capitulare,  Galens 
Werke,  die  Naturgeschichte  des  Plinius  usw. 
angeführt  werden,  erhalten  geblieben  ist.  Wala- 
frids  Name  tritt  in  der  Geschichte  deutscher 
Heilkunde  und  Pflanzenkunde  durch  eine  kleine 
Dichtung  hervor,  die  er  im  Jahre  828  beendet 
hat:  hortulus  ad  Grimaldum  Abbatem. 
In  diesem  Gedicht  werden  nach  den  Vorbildern 
der  Georgica  und  Bucolica  des  Vergilius  (f  19 
a.  Chr.  n),  der  Res  rustica  des  Moderatus  Co- 
lumella  (um  50  p.  Chr.),  der  Medicinae  prae- 
cepta  salußerrina  des  Seren  us  Sammonicus 
(zu  Beginn  des  3.  Jahrhunderts),  der  Medicamenta 
desMarcellusEmpiricus  (nach  400),  des  Her- 
barius  des  Lucius  Apulejus  (um  420)  die 
Kräfte  von  23  Heilpflanzen  besungen.  Davon 
sind  18  unter  denen,  welche  im  Capitulare  de 
villis  Caroü  magni  gefordert  werden;  außerdem 
5  andere:  Wermut  (absinthium,  artemisia  absin- 
thicum  L.),  Traubenkraut  (ambrosia  seu  atha- 
nasia,  tanacetum  vulgare  L.),  Andorn  (marrubium, 
ballota  nigra?),  Betonie  (betonica,  betunia  offi- 
cinalis),  Odermennig  (agrimonia,  agrimonia 
eupatorium  L.).  Diese  fünf  Pflanzen  finden  sich 
schon  in  der  Naturgeschichte  des  Plinius.  Nur 
dreizehn  von  den  im  Plan  der  Gärten  Sankt 
Gallens  vorbemerkten  Heilkräutern  hat  Wala- 
frid besungen;  die  anderen  einundzwanzig  un- 
besungenen  stehen  aber  im  Capitulare,  und  ebenso 
die  zehn  Kräuter,  die  Walafrid  besungen  hat, 
die  hingegen  Sankt  Gallen  nicht  verzeichnet. 

Demnach  könnte  man  annehmen,  daß  Wala- 
frid einen  Teil  seiner  Pflanzen  aus  literarischen 
Quellen,  insbesondere  nach  dem  Plinius,  ge- 
wählt  habe;    ungleich   dem  Plinius   selber,   der 


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die  weitaus  meisten  der  von  ihm  beschriebenen 
Pflanzen  lebend  im  botanischen  Garten  seines 
Lehrers  Antonius  Castor  zu  Rom  kennen 
lernte.  Doch  die  Abhängigkeit  Walafrids  von 
Plinius  ist  nicht  wahrscheinlich;  er  konnte  seine 
Pflanzen  wenn  nicht  im  Klostergarten  so  überall 
in  Anger  und  Feld  und  Wald  finden  und  ihren 
Gebrauch  beim  Volke  sehen. 

Die  Anregung  der  kaiserlichen  Landgüter- 
ordnung zog  im  Lauf  der  Jahrhunderte  immer 
weitere  Kreise;  die  Klostergüter  wetteiferten  mit 
den  Krongütern,  und  die  Landgutbesitzer  ver- 
suchten beiden  zu  folgen.  In  Küchengärten  und 
Kräutergärten  hätte  man  schließlich  gerne  alle 
Nährpflanzen  und  Arzneipflanzen  beisammen  ge- 
habt, inländische  wie  ausländische.  Aber  die 
Unzahl  ließ  sich  kaum  mehr  beherrschen.  Die 
heilige  Hildegard,  Äbtissin  der  Benediktine- 
rinnen auf  dem  Rupertsberge  bei  Bingen  am 
Rhein  (1098 — 11 80),  gibt  im  zweiten  und  dritten 
Buche  ihrer  Physica  (Argentorati  1533)  eine 
selbständige  Aufstellung  von  zweihundertundfünfzig 
und  mehr  deutschen  und  in  Deutschland  einhei- 
misch gewordenen  Gräsern,  Kräutern  und  Früchten 
mit  ihren  Nährwerten  und  Heilkräften  an;  noch 
eine  Reihe  anderer  in  ihrem  Arzneibuch  Causae 
et  curae,  die  meisten  in  lateinischer  Benennung, 
manche  aber  auch  mit  ihren  damaligen  deutschen 
Volksnamen  oder  sonst  in  abgeschliffenen  Ver- 
deutschungen. Hier  eine  kleine  Liste  solcher 
volkstümlichen  Bezeichnungen:  vichbona  (lupi- 
nus  alba  L.);  venich  (panicum,  Fennichhirse); 
brunnecrasso  (sisymbrium  nasturtium  L.); 
bachminza  (mentha  aquatica  L);  punga  (vero- 
nica  beccabunga  L.);  weg  gras  (polygonum  avi- 
culare  L.,  Vogelknöterich);  würz  (rheum  rapon- 
ticum  L.);  lunchwurtz  (pulmonaria  officinalis 
L.);  hagel  wurtz  (asarum  europaeum  L.);  weich 
(holcus  lanatus  L.);  heiternezzelun  (urtica); 
libestichel  (levisticum);  nahtscaden  (Sola- 
num); stur  (conium  maculatum  L.);  christiana 
(helleborus  niger  L.,  Christblume);  hymels- 
schlüzela  (primula  veris  L.);  pefercrut  (satu- 
reja);  biboz  (artemisia,  Beifuß);  bertram  (pyre- 
thrum);  citterwurz  (zedoaria);  ascheloch 
(ascalonia);  kranichsnabil  (geranium  pratense 
L.);  storkensnabil  (erodium)  usw.  usw. 

Während  die  medi/cinisch  bedeutenden  Schriften 
der  heiligen  Hildegard  rasch  der  Vergessenheit 
anheimfielen  und  vorübergehend  verloren  gingen, 
gewann  in  jener  Zeit  ein  lateinisches  Gedicht, 
I'loridus  Macer  de  viribus  herbarum,  raschen 
Ruf  und  kam  in  mehrhundertjährigen  Gebrauch. 
Sein  Verfasser  ist  unbekannt  geblieben;  man  hat 
darüber  gestritten,  ob  er  ein  Cisterzienserabt  Odo 
von  Morimont  in  Burgund  (f  1161)  oder  ein  Laie 
OJo  von  Meudon  an  der  Loire  gewesen  sei.  Der 
F"loridus,  in  67  anerkannten  und  22  angezwei- 
felten Hauptstücken  überliefert,  beschreibt  in  mehr 
als  2700  Versen  die  Heilkräfte  von  85  Kräutern 
und  Gewürzen,  zum  größten  Teil  einheimische 
Gewächse.     Da  die  Abfassungszeit  des  F 1  o  r  i  d  u  s 


—  sie  wird  auf  das  Jahr  1 170  angegeben  —  nicht 
genau  bekannt  ist,  so  bleibt  die  Frage,  ob  und 
wieweit  das  Buch  von  Hildegards  Schriften 
beeinflußt  ist,  ofifen;  der  Inhalt  der  selbständigen, 
auf  unmittelbarer  Naturansicht  beruhenden  Phy- 
sica einerseits  und  der  von  alten  literarischen 
Quellen,  Plinius  Secundus,  Dioscori- 
des  Pedanios,  Gargilius  Martialis, 
Oreibasios  und  Isidorus  Hispalensis 
(f  636),  stark  gespeisten  Floridus  andererseits 
stimmt  stellenweise  auffallend  überein.  Den 
Walafrid  Strabo  scheint  Floridus  nicht  ge- 
kannt zu  haben.  Floridus  hat  eher  eine  nach- 
teilige Wirkung  auf  Botanik  und  Heilmittellehre 
als  eine  günstige  geübt.  Er  führte  von  der  An- 
schauung, Pflege,  Untersuchung  und  Erprobung 
der  lebendigen  Pflanzen  in  Feld,  Wald,  Garten, 
Küche,  Krankenstube  ab  und  legte  den  Grund 
zu  einem  beschränkten  historisch  -  literarischen 
Gedächtniswissen  in  kurzen  Merkversen ;  nur  der 
Apotheker  mochte  dabei  gewinnen;  er  konnte  in 
der  Drogenvertauschung  die  größte  Willkür  üben, 
wenn  er  den  Gewinn  über  die  Kunst  schätzte. 

Den  ersten  großen  Versuch  im  Mittelalter,  an- 
stelle einer  oberflächlichen  Kräuternamenkenntnis 
eine  wissenschaftliche  Pflanzenkunde  zu  setzen, 
machte  der  Dominikaner  Albert  Graf  von 
Bo  11  Stadt  aus  Schwaben  (1193 — 1280),  den 
seine  Zeitgenossen  den  doctor  universalis 
nannten,  die  Nachwelt  Albertus  Magnus 
nennt.  Als  Professor  in  Köln  schrieb  er  sieben 
Bücher  de  vegetabilibus  et  plantis,  vor- 
bereitet durch  eine  genaue  Kenntnis  des  Welt- 
lehrers Aristoteles,  unermüdlich  in  selbsttätiger 
F"orschung.  Sein  Werk  wird  erst  heute  in  seiner 
ganzen  Bedeutung  geschätzt;  auf  seine  Zeitge- 
nossen hat  es  so  wenig  Einfluß  geübt  wie  die 
damals  verlorenen  Schriften  des  griechischen  Zeit- 
alters, des  Aristoteles  (384 — 332  a.  Chr.  n.), 
des  Theophrastos  (370 — 285),  des  Diosco- 
rides  (i.  Jahrh.  p.  Chr.).  Damals  hätte  man 
vielleicht  das  eine  Verdienst  Albeits  anerkannt, 
nämlich,  daß  die  Zahl  der  von  ihm  beschriebenen 
Pflanzen  die  Liste  des  Capitulare  Caroli  impera- 
toris  verdreifacht  hat;  aber  für  die  Absicht  Al- 
be rts,  wie  Aristoteles  das  Pflanzenreich  zu 
ordnen,  die  Zusammensetzung,  Lebensweise,  Er- 
nährung der  einzelnen  Pflanzen  zu  erkennen  und 
damit  den  Ursachen  ihrer  Wirkungen  auf  den 
Menschen  näher  zu  kommen,  hatte  man,  in  Deutsch- 
land wenigstens,  zu  jener  Zeit  kein  Verständnis. 
Vergleicht  man  seine  Pflanzenreihe  mit  der  deut- 
schen F"lora,  wie  wir  sie  im  neunten,  sechsten, 
ersten  Jahrhundert  fanden,  so  sieht  man,  daß  im 
großen  und  ganzen  die  Pflanzenwelt  ziemlich  un- 
verändert ihren  Bestand  gewahrt  und  sich  wohl 
nur  scheinbar  vervielfältigt  hat,  insoweit  als  das 
menschliche  Bedürfnis  nach  und  nach  mehrere 
Gewächse  in  seinen  Gesichtskreis  und  Gebrauch 
zog.  Auch  ist  wohl  nichts  von  Pflanzen  in  ab- 
sehbarer ZeitAmtergegangen ;  wenn  bei  Albertus 
Magnus  ungefähr  zwanzig  Pflanzen    des  Capitu- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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lare  vermißt  werden,  so  beruht  das  darauf,  daß 
es  ebensowenig  Albert  dem  Großen  wie 
Karl    dem    Großen    auf  Vollzähligkeit  ankam. 

Immerhin  wurde  eine  Kenntnis  sämtlicher 
Gewächse  Deutschlands,  unabhängig  von  ihrem 
Nutzen  oder  Schaden,  allmählich  zum  Bedürfnis. 
Das  empfanden  tief  ein  paar  Männer  zu  Beginn 
des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Mit  ihnen  beginnt 
die  wissenschaftliche  Pflanzenkunde  der  neuen  Zeit. 

Otto  Brunfels  (1488—1554)  aus  Mainz, 
zuerst  Schullehrer,  später  Arzt  in  Bern ,  sah  klar 
die  zunehmende  Verwirrung  in  der  Benennung 
und  damit  auch  im  Gebrauch  der  Heilpflanzen 
und  erkannte  die  große  Gefahr,  welche  daraus 
für  die  Heilkunst  erwuchs.  Zur  sicheren  Sonde- 
rung der  Pflanzen  genügte  es  fürder  nicht  mehr, 
einige  wenige  mit  volkstümlicher  oder  wissen- 
schaftlicher Bedeutung  herauszugreifen  und  zu  be- 
schreiben; es  mußten  so  viele  wie  möglich,  end- 
lich alle,  genau  gekannt  und  unterschieden  wer- 
den. Hierfür  erschien  die  beste  Beschreibung 
nicht  ausreichend,  woferne  sie  nicht  durch  eine 
gute  Abbildung  unterstützt  würde.  Brunfels 
legte  als  Grund  zu  einer  solchen  zunehmenden 
Kenntnis  und  Sonderung  eine  Sammlung  treff- 
licher Umrißzeichnungen  von  vaterländischen 
Kräutern  an  und  ließ  sie  in  Holz  schneiden;  so 
weit  es  anging  in  Naturgröße.  Sein  Novum 
herbarium  und  seine  herbarum  vivae  eico- 
nes,  die  in  den  Jahren  1530— 1536  in  Straßburg 
herausgegeben  wurden,  bedeuteten  für  die  Botanik 
das,  was  zehn  Jahre  später  für  die  Anatomie  die 
humani  corporis  fabrica  des  Andreas 
Vesal  wurde,  den  Versuch  unbedingter  Natur- 
treue in  der  Auffassung,  Festhaltung  und  Wider- 
gabe  der  sinnlichen  Gegenstände.  Mit  Brunfels 
gleichgesinnt  strebte  der  Tübinger  Professor  der 
Medizin  Leonhard  Fuchs  (1501  — 1565)  aus 
Wembdingen  in  Schwaben,  „Natur  in  Natur  zu 
studieren".  Seine  historia  stirpium  und 
paradoxeis  brechen  mit  dem  alten  Arabismus 
in  der  Schulbotanik,  so  wie  das  feierliche  Pro- 
gramm seines  Lands-  und  Zeitgenossen,  des  Arztes 
Theophrast US  Bombast  von  Hohenheim 
am  5.  Juni  1527  mit  der  Schulgelahrtheit  in  der 
Medizin  brach.  Als  dritter  schloß  sich  an  Brun- 
fels und  Fuchs  der  Schullehrer  und  spätere 
Arzt  Hieronymus  Bock  (1498 — 1554)  in  Zwei- 
brücken an  mit  seinem  New  Kreuterbuch, 
das  mit  Bildern  bereichert  im  Jahre  1 551  in  Straß- 
burg zum  zweiten  Male  erschien.  Was  Brun- 
fels, Fuchs,  Bock  geleistet,  wollte  vollendend 
abschließen  der  Züricher  Arzt  und  Gelehrte  Con- 
rad Gesner  (1516— 1565)  in  einer  durch  1500 
Tafeln  erläuterten  Pflanzenlehre.  Ein  paar  Vor- 
arbeiten dazu  gab  er  selber  heraus;  die  nachge- 
lassenen Schriften  erschienen  nach  langen  Irrsalen 
und  bedeutend  verstümmelt  erst  in  den  Jahren 
1751 — 1771,  als  Gesneri  opera  botanica 
per  duo  secula  desiderata,  durch  Casimir 
Christoph    Schmidel    in    Nürnberg   zum    Druck 


Seit  Brunfels  geht  die  wissenschaftliche  Bo- 
tanik in  Deutschland  und  dann  auch  in  den 
anderen  Ländern  einen  stetig  aufsteigenden  Gang. 
Daß  neben  den  Pflanzenabbildungen  seit  der 
Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  planmäßige 
Sammlungen  gepreßter  und  getrockneter  Pflanzen, 
im  „herbariu  m  vivum",  angelegt  wurden,  war 
keine  geringe  Hilfe  für  den  Verkehr  und  die  gegen- 
seitige Verständigung  der  Gelehrten  und  Forscher. 
Mit  der  fortschreitenden  Kenntnis  der  einheimi- 
schen Hora  wuchs  dann  das  Interesse  für  die 
ausländische  Pflanzenwelt,  auch  unabhängig  von 
ihrer  Bedeutung  für  den  menschlichen  Nutzen. 

Der  gesteigerte  Verkehr  mit  Ost  und  West, 
die  Entdeckung  neuer  Erdteile,  das  Gerede  von 
neuen  unerhörten  Krankheiten  und  wunderwürdi- 
gen Heilpflanzen  der  neuen  Welt  vermehrte  den 
Pflanzenreichtum  und  die  Pflanzenkunde  im  Reiche 
Karls  des  Fünften  und  besonders  in  Deutschland 
von  Jahr  zu  Jahr.  Die  Pflanzenliebhaber  führte 
der  Wunsch,  jene  ausländischen  Pflanzen  genau 
kennen  zu  lernen  und  bei  sich  wachsen  zu  sehen, 
zur  rasch  wachsenden  Erweiterung  ihrer  Kloster- 
gärten, Pastorengärten,  Arztgärten,  Apotheker- 
gärten. Schließlich  brachte  das  Gerücht  mexika- 
nischer Gärtenpracht  die  alten  Sagen  von  den 
Lustgärten  der  Könige  Adonis  und  Alkinoos,  von 
den  hängenden  Gärten  des  Syros  und  der  Semi- 
ramis,  von  den  F'ruchtgärten  der  Hesperiden  in 
Erinnerung;  solche  Herrlichkeiten  wiederherzu- 
stellen schien  nicht  unmöglich.  In  Ferrara  hatte 
der  Herzog  Alfonso  di  Este  um  das  Jahr  1 500 
einen  Ziergarten  angelegt,  der  weit  von  sich  reden 
machte;  der  Arzt  Musa  Brassavola  legte  im  Jahre 
1533  den  botanischen  Zuchtgarten  zu  Padua  an; 
es  folgten  weitere  öffentliche  Gärten  in  Pisa  (1544), 
Florenz,  Neapel,  Bologna  (1568).  Den  ersten 
öffentlichen  Pflanzengarten  in  Deutschland  finden 
wir  zu  Königsberg  (1551);  besonders  gelobt  wurde 
der  des  Arztes  Joachim  Camerarius  zu  Nürnberg 
(um  1570).  Ley den  (1577),  Leipzig  (1580),  Breslau 
(1587),  Heidelberg  (1597)  schließen  sich  an;  dann 
enistehen  die  berühmten  Gärten  zu  Montpellier 
(•597).  Paris  (1633),  Kopenhagen  (16401,  Warschau, 
Upsala,  Chelsea  (1657)  usw.  usw. 

Diese  botanischen  Gärten  waren  je  nach  der 
Neigung  und  Absicht  des  Gründers  von  Anfang 
an  mehr  Zier-  und  Prunkgärten  oder  mehr  Nutz- 
gärten, insbesondere  Arzneigärten ;  unter  der  Pflege 
und  Aufsicht  gelehrter  Ärzte  wurden  sie  nach  und 
nach,  besonders  im  Anschluß  an  die  Universitäten, 
wissenschaftliche  Pflanzschulen,  zumal  am  Ende 
des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Später  verwan- 
delten sie  sich  mehr  und  mehr  in  öffentliche 
Schaugärten,  die  bald  keiner  Hauptstadt  und 
keiner  Residenz  mehr  fehlen  durften.  Endlich 
sind  sie  die  Lungen  und  Lustorte  aller  euro- 
päischen Städte  geworden;  gelegentlich  werden 
darin  neue  auswärtige  Ankömmlinge  der  An- 
ziehung und  des  Staunens  halber  angebracht. 
Nebenher  entwickelten  sich  auch  Bauerngärten, 
anfänglich  zu  eigenem  Nutz  und  Zier;   allmählich 


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zum  Teil  als  Handelsgärtnereien.  Der  eigentliche 
Bauerngarten  folgt  bis  in  unsere  Tage  der  Vor- 
schrift des  Capitulare  vom  Jahre  8oo. 

Neben  absichtlichen  Anpflanzungen  entstehen 
im  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhundert  bei 
uns  auch  manche  zufällige  Ansiedlungen  von 
Nutz-  und  Ziergewächsen,  ohne  die  wir  uns  unser 
I^and  heute  kaum  denken  können.  So  kam  im 
Jahre  1436  aus  der  Tatarei  über  Rußland  nach 
iVIecklenburg  der  Buchweizen  (polygonum  fago- 
pyrum  L.),  um  dort  und  weiterhin  in  Europa 
eine  neue  Honigquelle  der  Bienen,  ein  wichtiges 
Grünfutter  des  Stallviehes  und  ein  gutes  Brotkorn 
für  den  Menschen  zu  geben.  Im  Jahre  1520 
wurde  aus  Mexiko  der  Mais  (zea  mais  L.)  nach 
Spanien  und  bald  auch  zu  uns  gebracht,  um  eine 
der  wichtigsten  Getreidepflanzen  für  Volk  und  Vieh 
in  Europa  zu  werden.  Um  dieselbe  Zeit  wurde  in 
unseren  Gärten  das  wohlriechende  Veilchen 
(viola  odorata  L.)  aus  Savoyen  angesiedelt ;  ferner 
die  farbenfrohe  Totenblume  (tagetes  patula 
und  t.  erecta  L.)  aus  Tunis,  die  vordem  als 
flores  africani  nur  getrocknet  in  unsere  Apo- 
theken gekommen  war;  neue  Arten  dieser  Pflanze 
schickte  Mexiko  im  Jahre  154I;  ferner  wurde  der 
Samen  des  schon  früher  aus  Mittelasien  zufällig 
hereingebrachten  Stechapfels  (datura  stramo- 
nium  L)  jetzt  aus  Peru  geschickt  und  als  Zier- 
pflanze in  den  Gärten  gepflegt.  Un>^ere  Roß- 
kastanie (aesculus  hippocastanum  L.)  beginnt 
erst  mit  dem  Jahre  1588  in  Deutschland  ein- 
heimisch zu  werden;  sie  wurde  damals  aus  Mittel- 
asien über  Konstantinopel  nach  Wien  gebracht, 
um  sich  rasch  als  augenerfreuender,  schatten- 
gebender, Viehfutter  und  Stärkemehl  liefernder 
Gast  unentbehrlich  zu  machen.  Ebenfalls  aus 
der  Türkei  waren  im  Jahre  1560  der  persische 
Lilak  oder  spanische  Flieder  (syringa  vul- 
garis L),  die  in  Sibirien  einheimische  Jerusalem- 
blume oder  brennende  Liebe  (lychnis  chal- 
cedonica  L.),  die  levantinische  Gichtrose  oder 
Pfingstrose  (paeonia  officinalis  L.),  der  syrische 
Eibisch  oder  Türken  rose  (hibiscus  syriacus 
L).  die  Gartentulpe  (tulipa  gesneriana  L.), 
die  Kaiserkrone  (fritillaria  imperialis  L.),  zum 
Teil  nach  Wien,  zum  Teil  nach  Augsburg  ein- 
geführt worden,  um  sich,  in  unsere  damals  noch 
bescheidenen  Gärten  einzuleben  und  diese  rasch 
an  orientalische  Pracht  zu  gewöhnen.  Die  Tulpe, 
die,  siebzig  Jahre  nach  ihrer  Ansiedlung  in  Augs- 
burg schon  über  ganz  Europa  verbreitet,  sich  in 
siebzig  Spielarten  gefiel,  zählte  nach  einem  wei- 
teren Jahrzehnt  gegen  tausend  Spielarten;  in  den 
Jahren  1634-40  erregte  sie  in  Holland  eine  der 
merkwürdigsten  psychischen  Seuchen,  welche  die 
europäische  Menschheit  heimgesucht  hat;  zur 
selben  Zeit  als  ein  anderer  Wahnsinn  unter  dem 
Vorwamlc  des  christlichen  Glaubens  Deutschland 
mit  dreißigjährigem  Krieg  zerfleischte  und  ver- 
wüstete. 

Ebenfalls  im  Jahre  1560  kam  die  erste  Pflanze 
eines  Krautes   nach  Europa,  dessen  Herrschaft  in 


unabsehbarer  Weise  fortdauert,  der  Tabak  (nico- 
tiana  tabacum  L.).  Von  den  Entdeckern  Amerikas 
auf  Sankt  Domingo  bei  den  Wilden  als  mücken- 
abwehrender Rauchgeber  vorgefunden,  wurde  das 
Tabakkraut  damals  aus  Florida  durch  einen  flan- 
drischen Kaufmann  nach  Lissabon  dem  Gesandten 
des  Franzosenkönigs  Frargois  IL,  Jean  Nicot,  ge- 
schenkt, um  den  „Nasenkrebs"  eines  Pagen  zu 
heilen;  es  wurde  durch  Katharina  von  Medici  als 
Wunderkraut  weiter  empfohlen;  nun  machte  sich 
das  Königinnenkraut  rasch  die  europäischen 
Völker  dienstbar,  trotz  der  ungeheuren  englischen 
Zölle  des  Jahres  1604,  trotz  dem  päpstlichen 
Bann  vom  Jahre  1624,  trotz  der  Androhung  des 
Nasenabichneidens  in  Rußland  im  Jahre  1640, 
trotz  der  erbitterten  Feindschaft,  welche  die  ganze 
zivilisierte  Menschheit  in  Nichtraucher  und  Raucher 
geschieden  hält. 

Die  Geschichte  der  ehrwürdigen  Kartoffel 
(Solanum  tuberosum  L.),  die  ihre  Heimat  in  den 
kalten  Höhen  der  chilenischen  und  peruanischen 
Anden  hat  und  die  für  einen  großen  Teil  der 
europäischen  Völker  fast  die  einzige  und  dabei 
immer  liebe  Nahrung  geworden  ist,  beginnt  in 
Deutschland  mit  ihrer  Anpflanzung  als  auslän- 
disches Ziergewächs  in  den  botanischen  Gärten 
von  Wien  und  Frankfurt  im  Jahte  1588.  Als 
Nährpflanze  fand  die  Kartoffel  erst  weit  später, 
1717  in  Sachsen,  1728  in  Schottland,  1758  in 
Preußen  weite  Anerkennung;  seitdem  hat  sie  bis 
zum  heutigen  Tage  die  Wiederkehr  der  furcht- 
baren Hungersnöte,  unter  denen  die  mittelalter- 
lichen Völker  infolge  von  Mißwuchs  der  Getreide- 
saaten und  von  Kriegsdrangsalen  so  oft  und  so 
hartnäckig  gelitten  haben,  fast  ganz  verhütet. 
Außer  der  Kartoffel  sind  die  aus  Mexiko  und 
Peru  im  Jahre  1569  zu  uns  gebrachte  Sonnen- 
blume (helianthus  annuus  L.),  die  um  das  Jahr 
1600  aus  Spanien  nach  Deutschland  eingeführte 
Schwarzwurzel  (scorzonera  hispanica  L.)  und 
die  im  Jahre  1614  von  Padua  aus  weitergegebene 
virginische  Nachtkerze  oder  Gartenrapun- 
zel (oenothera  biennis  L.)  kleine  aber  keineswegs 
verächtliche  Gaben. 

Neben  diesen  und  anderen  willkommenen  Zu- 
wüchsen unserer  Flora  sind  manche  zudringliche 
Unkräuter  mit  zäher  Ansiedlungs-  und  Ausbrei- 
tungskraft zu  uns  gelangt.  Als  Adventivflora 
machen  sie  dem  Florakundigen  viele  Arbeit  und 
Freude;  als  Wanderpflan  zen  und  Ruderal- 
pflanzen  bieten  sie  dem  Arzte  Analogien  zu 
den  Menschenwanderungen,  Tierwanderungen, 
Seuchenwanderungen  und  sind  ihm  dadurch 
höchst  merkwürdig  und  lehrreich.  Das  erste 
dieser  Wanderkräuter,  das  genannt  zu  werden 
pflegt,  ist  das  kanadische  Berufs  kraut 
(erigeron  canadensis  L.)  mit  dem  Datum  1655; 
ein  weiteres  ist  die  syrische  Schnabelschote 
(anastatica  syriaca,  euclidium  syriacum  L.),  die 
im  Jahre  1683  vor  den  Mauern  Wiens  von 
der  Türkenbelagerung  zurückgeblieben  ist;  die 
Ausbreitung    der    mexikanischen    Pflanze    paica 


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jallo  durch  die  napoleonischen  Feldzüge  über 
ganz  Deutschland  als  Franzosenkraut  oder 
Gängelkraut  (galinsoga  parviflora  Cavanilles; 
galinsogea  Willdenow)  ist  ein  drittes  großes  Bei- 
spiel, dem  viele  weitere  könnten  angereiht  wer- 
den; ein  Teil  von  diesen  Wanderpflanzen  gedul- 
dige Ansiedler,  ein  Teil  flüchtige  Erscheinungen; 
einige  wilde  Schädlinge,  andere  sich  anpassende 
Tischgenossen,  einzelne  zukünftige  Wohltäter  des 
Landwirtes  und  des  Volkes.  —  Natürlich  hat  die 
Geschichte  dieser  Wanderpflanzen,  die  man  mit 
dem  Berufskraut  beginnen  läßt,  ihre  Vorge- 
schichte. Die  ist,  wenn  wir  von  Victor  Hehns 
wertvollen  linguistischen  Untersuchungen  und 
Ergebnissen  absehen  wollen,  noch  wenig  erforscht; 
es  sei  an  folgendes  erinnert:  Das  Wandkraut, 
(parietaria  officinalis  L.),  unserer  Brennessel  ver- 
wandt, ist  von  den  Römern  in  ihren  Donaukastellen 
beim  heutigen  Wien  hinterlassen  worden;  von  dort 
ging  es  über  ganz  Deutschland;  der  Kalmus 
(acorus  calamus  L.)  kam  mit  den  Tataren  im 
Miitelalter  zu  uns;  den  Stechapfel  (datura 
stramonium  L.)  brachten  die  Zigeuner  als  Toll- 
kraut  bei  ihrem  ersten  Besuch,  im  Jahre  1417, 
nach  Deutschland,  wo  er,  hier  und  da,  als  Un- 
kraut anwuchs,  bis  er  aufs  neue  aus  iVIexiko  als 
Zierpflanze  eingeführt  wurde. 

Der  Name  Unkraut  ist  ein  unfreundliches 
Wort;  wollen  wir  ihn  beschränken  auf  die  Pflan- 
zen, die  einen  von  uns  bearbeiteten  Boden  sich 
aneignen,  verdammen,  versperren,  versumpfen, 
und  die  unsere  Pflanzungen  und  Saaten  entwerten, 
erdrosseln,  vergiften,  so  hat  er  seine  Berechtigung. 
Die  Bekämpfung  der  Unkräuter  im  weiteren 
Sinne,  als  wildwachsender,  sich  ohne  Menschen- 
pflege und  Menschenzucht  ihres  Daseins  erfreuen- 
der Gewächse,  ist  unbescheiden  und  töricht.  Man 
kann  nie  wissen,  was  aus  einem  sog.  Unkraut 
wird.  Nicht  sinnlos  ist  uns  der  Rat  gegeben,  erst 
am  Tage  der  Ernte  das  Unkraut  von  der  Saat 
zu  trennen.  Es  gibt  Kräuter,  die  früher  einmal 
Unkräuter  waren  und  heute  zu  den  wichtigsten 
Nährpflanzen  und  Heilpflanzen  gehören ;  es  gibt 
Unkräuter,  die  in  Hungerzeiten  Brot  gaben,  wie 
der  gute  Heinrich  und  die  Himmelsgerste, 
oder,  wenn  Wolle  und  Flachs  ausgingen,  Kleidung 
gaben,  wie  die  Nesse  1  pflan  ze,  der  Ginster, 
die  Wiesen  wolle.  Es  gibt  sogar  böse  Gift- 
pflanzen ,  aus  denen  ein  kluger  Mann  gesunde 
Volk;nahriing  zubereiten  vermag,  wie  der  tapiocca- 
trächtige  Cassavastrauch  Südamerikas;  furchtbare 
Giftpflanzen,  mit  deren  Hilfe  der  Mensch  sich 
Nahrung  verschafft,  indem  er  seinen  Jagdpfeil  da- 
mit bewehrt,  oder  aus  denen  der  Arzt  große 
Heilmittel  gewinnt.  Doch  von  Giftpflanzen  woll- 
ten wir  hier  nicht  sprechen;  nur  die  verfehmten 
Unkräuter  loben.  Als  Unkraut  wird  heute  vieles 
bezeichnet,  was  den  Vernünfilern  zu  weiter  nichts 
nutz  erscheint,  als  dazu,  Auge  und  Nase  müssiger 
Leute  zu  ergötzen.  Unter  diesem  Vorwand  fangen 
sie  hier  und  da  an,  botanische  Gärten  zu  be- 
schränken   oder   auszurotten  —  auch    wo  Ödland 


und  Wüste  genug  herumliegt  — ,  indem  sie  daraus 
Kartofifeläcker ,  Rübengärten,  Tabakpflanzungen 
machen.  „Nutzgärten  anstatt  Prunkgärten  und 
Lustgärten!"  ist  ihr  Ruf. 

Sollen  wir  noch  einmal  die  Geschichte  der 
Kartoffel  erzählen,  die  im  Jahre  1588  nur  in  Zier- 
gärten stand  und  heute  als  eines  der  unentbehr- 
lichsten Lebensmittel  der  Menschheit  in  Europa 
und  Amerika  die  Breitengrenzen  und  Höhengrenzen 
aller  Getreidekultur  überragt?  Oder  sollen  wir 
die  Geschichte  von  der  Runkelrübe,  der  Konti- 
nentalsperre und  dem  Rübenzucker  erzählen? 
Aber  die  ist  etwas  weitläufig.  Sie  könnte  auch 
zweimal  und  dreimal  erzählt  werden  und  würde 
doch  die  Ohren  derer  nicht  erreichen,  die  dazu 
geboren  erscheinen,  nichts  hervorzubringen,  so  viel 
wie  möglich  zu  verzehren  und  alles  übrige  zu 
verwüsten.  Wir  wollen  sie  nicht  Unkraut  nennen. 
Sie  haben  ihren  unsterblichen  Recht.sbrief :  nos 
numerus  sumus  et  fruges  consumere  nati,  sponsi 
Penelopae  nebulonesl  Auch  für  sie  hat  die  Erde 
Raum.  Die  Nützlichkeitsphilosophie  ist  nicht  die 
Lehre  der  Weltordnung.  Im  einzelnen  i-parsam, 
genau,  geizig,  das  Individuum,  Kristall,  Pflanze, 
Tier,  Mensch,  Weltkörper,  nach  allen  Seiten  be- 
schränkend und  auf  seinen  engsten  Umkreis  an- 
weisend, strömt  die  Natur  im  ganzen  verschwen- 
derisch eine  unbegrenzte  Fülle  der  verschiedensten, 
widerspruchsvollsten  und  unverträglichsten  Wesen 
aus,  ihnen  allen  Dasein  und  Wirken  gönnend,  so 
lange  sie  nicht  ihren  Kreis  überschreiten  und  der 
Weltordnung  Vorschriften  machen  wollen.  Den 
Nörgler  straft  sie  mit  Humor  und  Ironie  durch 
sein  Gegenbild.  Nach  dem  Utilitarier  Jeremy 
Bentham  mit  dem  Panopticonzuchihaus  ließ  sie 
den  Botaniker  George  Bentham  auf  die  Welt 
kommen  und  President  of  the  Linnean  society  of 
London  werden.  Sie  hatte  nichts  dawider,  daß 
Jeremy  Ben  tham  und  Au  gus  te  Comte  und 
John  Stuart  Mill  mit  Herz  und  Hand  gelob- 
ten, über  die  größte  Anzahl  der  Menschen  das 
größte  Glück  zu  verbreiten;  aber  vorher  sorgte  sie 
dafür,  daß  Friedrich  der  Einzige  in  seinem 
Lande  die  Felder  und  die  Fruchtbäume  bestellte  und, 
weil  es  nottat,  den  Kartoffelbau  zwangsweise  aus- 
breitete. Sie  sieht  gelassen  zu,  wenn  Volksredner 
Leichensteine  türmen,  nachdem  sie  Brot  und  Glück 
versprochen  haben ;  aber  sie  erweckt  auch  Männer 
wie  Karl  Achard,  Justus  Liebig,  Louis 
Pasteur,  Anton  de  Bary,  Hermann  Hell- 
riegel, die  unverdrossen  arbeiten,  um  den  hilf- 
losen Völkern  neue  Nahrungsquellen  zu  eröffnen 
und  sogar  aus  Moder  und  Steinen  Brot  erwecken. 
Sie  gönnt  den  hungrigen  und  gequälten  Leibern 
Nährpflanzen  und  Heilpflanzen;  aber  sie  gönnt  auch, 
daß  das  Pflanzenreich  die  Herzen  erfreue  und  erhebe 
und  die  Geister  veredele;  uns  allen  freundlich 
lächelnd,  ob  wir  mühsam  das  Feld  bestellen  und 
mühsam  die  Ernte  speichern  oder  dankbar  hoffend 
beten:  unser  tägliches  Brot  gib  uns  heute;  ob 
wir  gesellig  durch  Huren  und  Wälder  und  Gärten 
wandern   oder  an  einsamer  Alpenzacke  die  letzte 


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Steinflechte  suchen;  ob  wir  für  das  sterbende 
Kind  die  blaue  Wunderblume  in  eine  Scherbe 
pflanzen  oder  mit  Unsterblichen,  Theophrastos, 
Linne,  Rousseau,  Goethe,  Humboldt, 
Darwin,  Fechner,  eine  Sonntagsstunde  in  der 
ewig  sich  verjüngenden  Pflanzenwelt  feiern. 


Beuutüte  Werke. 

Alberli  Magni  Ralisbonensis  episcopi  Opera,  ed.  Bor- 
gnet.    Parisiis   1891. 

Bauhinus,  Johannes,  Prodromus  theatri  botanici.  Ba- 
sileae   167 1. 

,  De  plantis    a  Divis  Sanctisque  nomen  habeutibus. 

Basileae  1591. 

V.  Berg,  Edmund  Freiherr,  Geschichte  der  deutschen 
Wälder  bis  zum  Schlüsse  des  Mittelalters.     Dresden   1871. 

Billerbeck,  Julius,  Flora  classica.     Leipzig   1824. 

Bock,  Hieronymus  (Tragus),  New  Kreuterbuch.  Straß- 
burg 1539.  —  Vivae  atque  ad  vivum  expressae  omnium  her- 
barum  Icones.  Argentorati  1853.  —  Tragi,  Hieronymi,  De 
stirpium  maxime  earum  quae  in  Germania  nostra  nascuntur 
nomenclaturis  libri  tres ;  interprete  David  Kyber.  -Argentorati 
1552. 

Brunfels,  Otho,  Herbarum  vivae  eicones.  Argentorati 
1530.  —  Novi  herbarii  tomus  II,   I531.  —   tomus  III,   I536. 

Caesaris  Bellum  Gallicum.     Leipzig   1847. 

Catonis,  Varronis,  ColumeUae,  Palladii  quae 
extant.  Scriptores  rei  rusticae  veteres  lalini,  cura  J.  M.  Genner. 
Lipsiae    1735. 

Cordus,  Valerius,  Annotationes  in  Pedanii  Dioscoridis 
Anazarbei  de  materia  medica  libros  V.     Argentorati   1561. 

Corpus  glossariorum  latinoruni  Hermeneumata 
pseudodosilheana,  vol.  lU  et  V;  edid.  G.  Goetz.  Lipsiae 
1892. 

DeCandolle,  Alfonse,  Geographie  botanique  raisonnee. 
Paris  1855. 

Dioscuridis  Anazarbei,  Pedanii,  De  materia  medica 
libri  quinque;  ed.  C.  Sprengel.  Lipsiae  1829.  —  ed.  Car. 
Gottlob  Kuhn.  Lipsiae  1829.  —  ed.  Max  Wellmann.  Berolini 
1907—1914. 

v.  Fischer-Benzon,  .Altdeutsche  Gartenflora;  Unter- 
suchungen über  die  Nutz-  und  Zierpflanzen  des  deutschen 
Mittelalters.     Kiel   1894. 

Fuchsins,  Leonardus ,  Paradoxorum  medicinae  libri 
tres.     Basileae   1535. 

Gesneri,  Conradi,  Opera  botanica.  IM.  C.  Chr.  Schmi- 
del.     Nürnberg  1751  — 1771. 

—  — ,  Epistolarum  medicinalium  libri  quatuor;  ed.  C. 
Wolf.     Tiguri   1577,   1584. 

Grisebach,  August,  Gesammelle  Abhandlungen.  Leip- 
zig  1880. 

Guerard,  Explicalion  du  cupitulaire  de  Villis.  Meraoires 
de  rinstiiut  Imperial  de   France,  tome  21.     Paris   1857. 

HaUeri,  Albeiti,  Bibliothcca  botanica.  Tiguri  1771, 
•772. 

Heer,  Oswald,  Die  tertiäre  Flora  der  Schweiz.  Wintcr- 
thur  1855—1859. 


Heer,   Oswald,  Die   Urwelt  der  Schweiz.     Zürich   1865. 

-^  — ,  Die  Pflanzen  der  Pfahlbauten.     Zürich   1865. 

Hehn,  Victor,  Kulturpflanzen  und  Haustiere  in  ihrem 
Übergang  aus  Asien  nach  Griechenland  und  Italien;  8.  Aufl. 
Berlin    19 II, 

Hildebrand,  Friedrich,  Die  Verbreitungsmittel  der 
Pflanzen.     Leipzig   1873. 

S  Hildegardis  Causae  et  curae;  ed.  P.  Kaiser. 
Lipsiae  1903. 

—  — ,  Subtilitatum  diversarum  naturarum  creatutarum 
libri  IX.     In  J.  P.  Migne  Patrologia,  tom.   197.     Parisiis   1882. 

Hirt,  Hermann,  Die  Indogerroanen.     Straßburg   1905. 

Höflcr,  Max,  Volksmedizinische  Botanik  der  Germanen. 
In  Quellen  und  F'orschungen  zur  deutschen  Volkskunde,  her- 
ausgegeben von  E.  K.  Blümml.     Wien   1908. 

Hoernes,  Moritz,  Urgeschichte  der  Menschheit,  Kultur 
der  Urzeit;  2.   Aufl.   von  Behn.     Berlin   1921. 

Hoops,  Johannes,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im 
germanischen  .\ltertum.     Straßburg   1905 

V.  Inama-Slernegg,  Karl  Theodor,  Deutsche  Wirth- 
schaftsgeschichte.     Leipzig   1879  — 1901. 

Karoli  Magni  Capitulare  de  villis  et  curtis  imperiali- 
bus  (800  vel  ante).  Capitularia  regumj  Francorum;  Monu- 
menta  Germaniae  historica,  legum  Sectio  II.  Hannoverae 
1883. 

Kaiser  Karls  des  Großen  Laudgüterordnung,  her- 
ausgegeben von   Karl  Gareis.     Berlin   1895. 

Keller,  Ferdinand,  Bauriß  des  Klosters  St.  Gallen  aus 
dem   Jahre  820.     Zürich    1844. 

Kern  er,  Anton,  Die  Flora  der  Bauerngärten  in  Deutsch- 
land. Verhandlungen  des  zoologisch- botanischen  Vereins  in 
Wien;   5.  Band.      1855. 

—  — ,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Pflanzenwanderungen. 
Österreichische  botanische  Zeitschrift.     Wien   1879. 

Leunis,  Johannes,  Synopsis  der  Pflanzenkunde;  3.  Aufl. 
Hannover    1S85. 

Mabillon,  Joannis,  Annales  Ordinis  S.  Benedicti. 
Parisiis   1703  — 1739. 

Macer  Floridus,  De  viribus  herbarum  una  cumWala- 
fridi  Strabonis,  Othonis  Cremonensis  et  Joannis 
Folcz  carminibus;   ed.  Ludovicus  Choulant.    Lipsiae   1832. 

Matthioli,  Petri  Andreae,  Commcntaria  in  sex  libros 
Dioscoridis.     Opera  ed.  Casp.  Bauhinus.     Francofurti   1598. 

Meyer,  Ernst  Heinr.  Friedr.,  Geschichte  der  Botanik. 
Königsberg   1854 — 57- 

Plinii  Secundi  Naturalis  hisloriae  libri  XXXVII. 
Lipsiae   1892. 

Pritzel,  G.  A,,  Thesaurus  literaturae  botanicae.  Lipsiae 
1850. 

Keuß,  F.  A.,  Walafridi  Strabi  hortulus.  Wirceburgi 
1834. 

Kolland,  Eugi;ne,  Flure  populaire  uu  histoire  naturelle 
des  plantes.     Paris   1903. 

Sprengel,  Curt,  Geschichte  der  Botanik.  Altenburg 
1817,   1818. 

Taciti  Germania.     Leipzig   1831. 

Theophrasti  Eresii  quae  supersunl  opera.  Lipsiae 
1818— 1821. 

Zimmermann,  Friedrich,  Die  .Advfntiv-  und  Kuderal- 
flora  von  Mannheim.     Mannheim   1907. 


Bücherbesprechungen. 


Schworetzky,  Gustav,  Weltäther  und  Welt- 
all. 96  S.  Stuttgart  1922,  J.  F.  Steinkopf. 
Geh.   10  M. 

Berg,  Anton,  Ätherst römungs-  und  Ather- 
strahlungshypothese  zur  Erklärung  vor- 
nehmlich kosmischer  Erscheinungen  auf  dem* 
Gebiete  der  Strahlimg  und  des  Magnetismus 
aus  Gegenwart  und  Urzeit  unter  Ausschaltung 
und  mit  Überholung  moderner,  ätherfeindlicher 


Hypothesen.     2.  Band.    190  S.     München   1922, 
Verlag  Natur  und  Kultur.     Geh.  36  M. 

Rüther,  Dr.  R.,  Systematik  und  Synthese 
der  Elemente.  Ein  Beitrag  zur  Frage  des 
Weltäthers.    8  S.    Paderborn  1920,  R.  Heydeck. 

Maag,  Ernst,  und  Reihling,  Dr.  Karl,  Vom 
Relativen  zum  Absoluten.  I.  Teil:  Das 
Äth  errätsei    und    seine    Lösung.     44  S 


N.  F.  XXI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


621 


Stuttgart  1921,  E.  Schweizerbartsche  Verlags- 
buchhandlung (Erwin  Nägele). 
Diese  vier  Schriften  sind  ein  erfreuliches 
Zeichen  dafür,  daß  das  Interesse  am  Weltäther 
wieder  im  Wachsen  begriffen  ist  und  daß  man 
die  vielen  einer  allzu  grauen  Theorie  entstammen- 
den Bedenken  allmählich  in  immer  weiteren 
Kreisen  als  unzutreffend  empfindet.  Die  beiden 
erstgenannten  Schriften  sind  sehr  spekulativ  ge 
halten  und  werden  vorläufig  wohl  nicht  in  allen 
Teilen  auf  die  Zustimmung  der  kritischen  Fach- 
welt rechnen  können.  Seh  wo  retzky  lehnt  die 
Annahme  eines  festen,  unbeweglichen  Äthers  — 
wohl  mit  Recht  —  ab.  An  Stelle  der  negativen 
und  positiven  Elektronen  führt  er  Äthermoleküle 
ein,  die  sich  aus  negativen  und  positiven  Atomen 
zusammensetzen.  Diese  Moleküle  verdichten  sich 
dann  weiter  zu  den  wägbaren  Substanzen  und 
der  Vetf.  glaubt  diese  Vorgänge  besonders  bei 
den  rätselhaften  Vorgängen  zu  erkennen,  die  sich 
in  den  Kometen  abspielen.  —  Die  Schrift  von 
Berg  stellt  eine  Fortführung  früherer  Arbeiten 
dar  und  enthält  zunächst  einen  sehr  interessanten 
geschichtlichen  Überblick  über  die  Entwicklung 
der  Äiherlehre.  Mit  Recht  hebt  Berg  hervor, 
daß  man  den  Äther  nur  als  ein  widerstehendes 
Mittel  in  die  Astronomie  einführen  dürfe  und  ver- 
wirft die  angeblichen  astronomischen  Beweise 
gegen  den  Ätherwiderstand.  Berg  nimmt  ver- 
schiedene Strömungen  des  Äthers  in  der  Um- 
gebung der  Erde  an,  und  sucht  sie  an  Hand  der 
luftelektrischen  Erscheinungen,  der  Polarlichter 
u.  dgl.  genauer  zu  ergründen.  Diesen  Äther- 
strömungen, die  in  verschiedenen  geologischen 
Zeiten  verschieden  stark  aufgetreten  sein  sollen, 
legt  er  nach  den  Ergebnissen  der  „Elektrokultur" 
eine  große  Bedeutung  für  das  Wachstum  der  Or- 
ganismen bei  und  erklärt  den  riesenhaften  Wuchs 
vorweltlicher  Tiere  aus  einem  als  ,,Elektronatur" 
bezeichneten  Ätherzufluß.  Weiterhin  gelangt  er 
dann  zu  sehr  kühnen  Hypothesen  über  eine  Ver- 
änderung der  Rotationsdauer  und  Umlaufsdauer 
der  Erde,  die  infolge  einer  Durchschreitung  von 
kosmischen  Nebelmassen  zur  Eiszeit  eingetreten 
sein  soll,  welchen  Vorgang  er  als  eine  „Neustern- 
katastrophe" der  Erde  bezeichnet.  Als  Stütze  für 
diese  Annahme  wird  besonders  das  hohe  Alter 
der  biblischen  Urväter  angeführt.  —  Die  kleine 
Schrift  von  Rüther  enthält  Berechnungen  über 
Atomgewichte  und  u.  a.  auch  eine  Formel  für 
das  Atomgewicht  des  Äthers;  die  Grundlagen 
für  die  Berechnungen  sind  jedoch  viel  zu  knapp 
angedeutet,  als  daß  sie  ein  klares  Bild  von  den 
Gedankengängen  des  Verf  geben  könnten.  — 
Die  Schrift  von  Maag  und  Reihling  endlich 
knüpft  an  die  modernen  wissenschaftlichen  Streit- 
fragen an,  die  bei  dem  Kampf  zwischen  dem  sub- 
stantiellen Äther  und  der  Relativitätstheorie  im 
Vordergrunde  des  Interesses  stehen.  Wie  sehr 
durch  das  anspruchsvolle  Vordrängen  der  letzteren 
die  einfachen  und  natürlichen  Ideen  über  den 
Äther  verschüttet  worden  sind ,    erkennt  man  da- 


ran, daß  die  Verff.  den  Äther  systematisch  neu 
entdecken  mußten  und  eingestehen,  daß  sie  erst 
während  der  Fertigstellung  der  Arbeit  die  gleich- 
artigen Bestrebungen  von  Gehrcke,  Lenard, 
Nernst,  Wiechert,  Wiener  und  Zehnder 
kennen  gelernt  haben.  Die  Grunderkenntnis 
lautet:  ,,Die  Welt  der  ponderablen  Materie  steht 
im  allgemeinen  im  Energiegleichgewicht  mit  dem 
Äther,  aus  dem  sie  entstanden  ist,  und  zwischen 
beiden  besteht  ein  dauernder  Energieaustausch, 
auf  dem  alles  physikalische  Geschehen  beiuht." 
Der  Äther  wird  dabei  als  ein  Gas  nach  der  kine- 
tischen Gastheorie  aufgefaßt.  Das  Buch  enthält 
sehr  interessante  Eiklärungen,  wenn  ich  auch 
glaube,  daß  sich  manche  der  angeblichen 
I.Schwierigkeiten"  der  Ätherphysik  wohl  noch 
leichter  beseitigen  lassen,  als  die  Verff.  ahnen. 
So  ist  es  diesen  anscheinend  unbekannt,  daß  eine 
Unmöglichkeit  von  Transversalwellen  nach  Art 
des  Lichtes  in  Flüssigkeiten  und  Gasen  gar  nicht 
besteht.  In  allen  normalen  Flüssigkeiten  und 
Gasen  sind  Transversalwellen  möglich;  ich  ver- 
weise nur  auf  Cl  Schäfer,  Theoretische  Physik, 
Leipzig  1914,  I.  Bd.,  S.  893  —  894.  Beobachter 
wie  die  Gebrüder  Weber  hielten  sogar  die 
Schallschwingungen  in  Luft  zu  einem  Teil  für 
transversaler  Natur,  worauf  ich  in  den  VerhandJ. 
der  Deutsch,  phys.  Ges.  VIII.  Jahrg.  1906,  Nr.  12, 
S.  249 — 251  hingewiesen  habe.  Nur  in  „reibungs- 
losen" Flüssigkeiten,  die  es  aber  lediglich  in  der 
Mathematik  und  nicht  in  der  Physik  gibt,  sind 
Transversalwellen  undenkbar.  Das  Märchen  von 
der  Unmöglichkeit  der  Transversalwellen  in 
Flüssigkeiten,  das  auch  Einstein  in  seinem 
Leydener  Vortrag  über  den  Äther  wieder  aufge- 
wärmt hat,  läßt  sich  jedoch  anscheinend  nicht 
ausrotten.  Auch  die  Behauptung  Einsteins, 
wonach  zwischen  den  Ergebnissen  der  Versuche 
von  Fizeau  und  Michelson  und  der  Aberra- 
tion unüberbrückbare  Widersprüche  bestehen 
sollen,  kann  längst  als  widerlegt  gelten,  vgl.  die 
Diskussion  zwischen  Gehrcke  und  Einstein, 
Verh.  der  D.  Phys.  Ges.  1919,  sowie  Phys.  Zeit- 
schrift 1921,  S.  Ö38.  Die  Kenntnis  dieses  Sach- 
verhalts würde  den  Veiff.  ihre  Arbeit  wesentlich 
erleichtert  haben.  Jedenfalls  zeigt  die  Schrift,  die 
noch  durch  zwei  weitere  Teile  ergänzt  werden 
soll,  daß  eine  Erörterung  des  Äherproblems  auf 
der  Grundlage  des  gesunden  Menschenverstandes 
nirgends  zu  unüberwindlichen  Schwierigkeiten 
führt.  Fricke. 


Fischer,  Franz,    und    Schrader,    Hans,    Ent- 
stehung   und    chemische  Struktur  der 
Kohle.      Zweite,    durch    neue    Ergebnisse    er- 
gänzte   Auflage.      Essen     1922,     W.    Girardet. 
24  M. 
Die  Humuskohlen    sind  der  Torf  der  Vorzeit. 
Der  Torf   ist    aus    Landpflanzen    entstanden    und 
der    Körper    der  Landpflanzen    besteht  wesentlich 
aus  Zellulose.     Es  war  also    naheliegend ,    zu    be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


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haupten,  die  Humuskohlen  seien  aus  der  Zellulose 
hervorgegangen.  Dieser  üblichen  Ansicht  steht 
die  Hypothese  Franz  F"ischers  gegenüber. 
Fischer  ist  nämlich  auf  Grund  chemischer  Über- 
legungen und  Beobachtungen  zu  der  Meinung 
gelangt,  nicht  die  Zellulose,  sondern  die  gewissen 
Zellwänden  des  Pflanzenkörpers  eingelagerte  ver- 
holzende Substanz,  das  „Lignin"  sei  das  Aus- 
gangsprodukt der  Kohle.  Die  ursprünglich  vor- 
herrschende Zellulose  müsse  der  zerstörenden 
Tätigkeit  von  Bakterien  anheimgefallen  sein.  So 
befremdend  diese  Ansicht  zunäch>t  auch  erscheinen 
mag,  sie  wird  um  sehr  vieles  verständlicher,  wenn 
man  Fischers  Beweisführung  hört.  Das  Kohlcn- 
hydrat  Zellulose  hat  eine  rein  aliphatische  oder 
eine  furanähnliche  Konstitution.  Für  das  Lignin 
dagegen  möchten  Fischer  und  Schrader  an- 
nehmen, daß  ihm  eine  aromatische  Struktur  zu- 
grunde liegt.  Es  soll  also  u.  a.  den  Benzolring 
enthalten.  Die  Benzolstruktur  ist  aber  auch  die 
Grundlage  der  die  Humuskohlen  zusammensetzen- 
den Kohlenwasserstoffe.  Nimmt  man  nun  an, 
daß  die  chemischen  Verbindungen  der  Kohle  in 
irgendeiner  Beziehung  zu  den  Verbindungen  stehen, 
aus  denen  die  Ursprungssubstanz  der  Kohle  auf 
gebaut  war,  so  wird  man  gern  die  Humuskohlen 
vom  Lignin  ableiten.  Mündlich  hat  Franz 
Fischer  mir  gegenüber  betont,  daß  ersieh  vom 
Standpunkte  des  Chemikers  aus  nicht  vorstellen 
könne,  wie  sich  durch  den  Inkohlungsprozeß  ein 
Produkt  vom  Aufbau  der  Zellulose  in  ein  solches 
von  der  Struktur  der  Humuskohle  verwandeln 
könne.  Immerhin  ist  zu  überlegen,  daß  in  der 
lebenden  Pflinze  ein  ähnlicher  Prozeß  stattfindet. 
Weiter  sei  daran  erinnert,  daß  unzählige  Bildun- 
gen, die  uns  die  Erdrinde  bietet,  im  Laboratorium 
nicht  nachgeahmt  werden  können,  weil  uns  für 
unsere  Experimente  nicht  die  hinreichende  Zeit 
zur  Verfügung  steht. 

Seit  Franz  F"ischer  seine  Hypothese  von 
der  Ligninabstammung  der  Humuskohlen  aufge- 
stellt hat,  sind  viele  Stimmen  laut  geworden,  die 
sich  mit  dieser  Anschauung  nicht  einverstanden 
erklären  wollten.  Meist  waren  es  Chemiker,  die 
sich  meldeten.  Franz  Fischer  hat  alle  diese 
Einwände  ruhig  angehört,  gewissenhaft  überprüft, 
und  wir  erfahren  nun  aus  der  zweiten  Auflage 
seiner  Schrift,  daß  er  seinen  Standpunkt  nicht  ge- 
ändert hat.  Die  Einwände  von  chemischer  Seite 
wollen  aber  noch  nicht  verstummen. 

Die  Fisch  ersehe  Theorie  betrifft  nun  aber 
einen  Gegenstand,  der  auch  den  Geologen  in 
hohem  Maße  interessieren  muß,  und  es  ist  dem 
Geologen  um  so  weniger  möglich,  die  Theorie 
stillschweigend  hinzunehmen,  als  durch  sie  auch 
auf  geologischem  Gebiet  mannigfache  Unklarheiten 
entstanden  sind.  Diese  mußten  beseitigt  werden. 
Hierbei  hat  sich  herausgestellt,  daß  man  die 
F'isch  ersehe  Frage  auch  mit  Hilfe  rein  geolo- 
gisch paläontologischcr  Mittel  klären  kann.  Ich 
habe  diese  Klärung  in  einer  in  Nr.  20  dieses 
Jahrgangs  der  Zeitschrift  „Braunkohle"    erschiene 


nen  Arbeit  versucht  und  bin  dabei  zu  dem  Er- 
gebnis gelangt,  daß  auch  die  Zellulose  sehr  weit- 
gehend als  Ausgangsprodukt  der  Humuskohle  in 
Frage   kommt. 

Daß  auch  die  Zellulose  recht  beträchtliche 
Mengen  von  Humu^kohle  zu  bilden  vermag,  kann 
zunächst  durch  die  Untersuchung  solcher  Fälle 
bewiesen  werden,  in  denen  man  genau  feststellen 
kann,  aus  was  für  Pflanzen  gewisse  kleinere 
Mengen  von  Kohle  entstanden  sind.  Allbekannt 
sind  die  inkohlten  Pflanzenreste  der  Steinkohlen- 
formation, die  sich  zwischen  Tonschieferplatten, 
wie  zwischen  den  Blättern  eines  Herbariums  aus- 
gebreitet finden.  Sie  bestehen  häufig  aus  be- 
trächtlichen Mengen  von  Kohlensubstanz,  und  hier 
läßt  die  anatomische  Untersuchung  oft  ganz  ein- 
wandfrei den  Schluß  zu,  daß  diese  Kohle  fast  nur 
aus  Zellulose  entstanden  sein  kann.  Weiter  ist 
es  dem  Geologen  bekannt,  daß  man  in  der  Braun- 
kohle noch  viele  merkwürdig  gut  erhaltene  Holz- 
reste findet.  Wie  kommt  das?  Es  gibt  nur  eine 
Erklärung:  Gelangt  ein  verholzter  Pflanzenteil 
wirklich  einmal  rechtzeitig  in  den  Torf  hinein, 
was  ja  —  wie  uns  die  heutigen  Moore  zeigen  — 
nur  in  geringem  Maße  vorkommt,  dann  bedingt 
die  die  Zellulose  imprägnierende  verholzende 
Substanz  (das  Lignin)  die  Konservierung  der 
Zellulose.  In  der  Tat  lassen  sich  durch  mikro- 
skopische Methoden  aus  den  Hölzern  der  Braun- 
kohlen noch  tadellos  erhaltene  aus  Zellulose  be- 
stehende Tracheiden  herstellen.  Die  Braunkohle 
ist  also  für  uns  ein  besonders  geeignetes  Unler- 
suchungsobjekt.  Wir  werden  von  ihr  sagen,  was 
in  sie  an  verholzter  Pflanzensubstanz  hineingeraten 
ist,  zeigt  sich  uns  noch  heute  als  ein  Holz,  das  nach 
wie  vor  Zellulose  enthält;  nur  die  nicht  oder  nur 
wenig  verholzt  gewesene  Zellulose  ist  bereits  zu 
typischer  Braunkohle  geworden.  Wo  ist  aber  das 
übrige  Holz  des  Braunkuhlenwaldes  geblieben?  Es 
ist,  ganz  wie  das  meiste  Holz  unserer  heutigen  Torf- 
moore schon  vor  der  Einbettung  über  Tage  der 
Verwesung  anheimgefallen,  die  ja  im  Gegensatz 
zur  Vertorfung  praktisch  keine  Spuren  hinterläßt. 

Weitere  gegen  die  Fisch  ersehe  Hypothese 
sprechende  geologische  Tatsachen  suche  man  in 
der  vorhin  genannten  Arbeit. 

Zum  Schluß  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß 
Fischer  S.  lo  ausdrücklich  betont,  es  bestehe 
noch  Uneinigkeit  in  der  Frage,  ob  die  Kohlen 
aus  Meeres  oder  Landpflanzen  entstanden  seien. 
Es  sei  deshalb  mitgeteilt,  daß  die  Bewohner  der 
Steinkohlenmoore  fast  ausschließlich  Sumpf-  und 
Landpflanzen  waren,  und  daß  die  Einwände,  die 
Johannes  Walther  hiergegen  macht,  als  nicht 
stichhaltig  abgelehnt  worden  sind.  So  hat  sich 
erst  kürzlich  Gothan  in  zwei  Vorträgen  in  der 
Deutsch.  Geol.  Gesellschaft  und  in  der  Berliner 
Paläontologen  Vereinigung  energisch  dagegen  aus- 
gesprochen und  ich  selbst  habe  u.a.  1920')  eine 
Widerlegung  veröffentlicht.  R.  Potonie. 

')  K.  Potonie,  Der  mikrochem  Nachw,,  Jahrb.  d.  Preuß. 
Geol.  LandesaDst.,  1920,  Bd.  XLI,  Teil  1,  Heft  i,  S.  178  ff. 


N.  F.  XXI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


623 


Kolkwitz,  R. ,  Pflanzenphysiologie.  Ver- 
suche und  Beobachtungen  an  höheren  und 
niederen  Pflanzen  einschließlich  Bakteriologie 
und  Hydrobiologie  mit  Planktonkunde.  Zweite, 
umgearbeitete  Auflage.  IMit  12  zum  Teil  far- 
bigen Tafeln  und  153  Abbildungen  im  Text. 
Jena  1922,  Varlag  von  Gustav  Fischer. 
—  — ,  Pflanzenforschung,  i.  Phanerogamen 
(Blütenpflanzen).  Mit  i  farbigen  Tafel  und  37 
Abbildungen  im  Text.  Jena  1922,  Verlag  von 
Gustav  Fischer. 
Wir  sind  gewohnt,  das  Gebiet  der  Pflanzen- 
physiologie einzuteilen  in  Stoffwechselphysiologie 
und  Reizphysiologie  oder  die  Entwicklungsphysio- 
logie noch  als  besondere  Disziplin  herauszuschälen. 
Das  ist  jedoch  lediglich  Sache  der  Zweckmäßig- 
keit; worauf  es  aber  in  allen  Fällen  bei  einem 
Lehrbuch  oder  Praktikum  der  Pflanzenphysiologie 
ankommt,  ist  die  mehr  oder  weniger  ausführliche 
Darstellung  des  Gesamtgebietes,  je  nach 
den  Bedürfnissen  des  Leserkreises,  für  den  das 
Buch  bestimmt  ist.  In  der  Kolk witzschen 
,, Pflanzenphysiologie"  finden  wir  diese  Forderung 
nicht  verwirklicht,  und  wenn  der  Verf  im  Vor- 
wort sagt,  „daß  das  Buch  als  Vereinigung  einer 
theoretischen  und  einer  praktischen  Physiologie 
gellen  kann",  so  muß  man  dem  widersprechen, 
ganz  abgesehen  davon,  daß  wir  unter  ,, praktischer" 
Pflanzenphysiologie  in  der  Regel  die  Anwendung 
der  Pflanzenphysiologie  auf  die  Praxis,  also  auf 
Landwirtschaft,  Gärtnerei  usw.  verstehen.  Der 
Verf.  will  offenbar  sein  Buch  als  ein  Mittelding 
zwischen  Lehrbuch  und  Praktikum  aufgefaßt 
wissen,  was  es  aber  nur  bedingt  ist.  Denn  abge- 
gesehen  davon,  daß  keineswegs  das  Gesamtgebiet 
der  Pflanzenphysiologie  behandelt  wird,  verbietet 
auch  die  vom  Verf.  gewählte  Einteilung  des 
Stoffes  nach  botanisch  -  systematischen  Gesichts- 
punkten eine  den  Bedürfnissen  des  Studierenden 
der  Pflanzenphysiologie  entsprechende  methodische 
Verarbeitung  des  Gebietes.  In  einem  Lehrbuch 
der  Pflanzenphysiologie,  an  denen  ja  übrigens  kein 
Mangel  ist,  suchen  wir  nach  einer  Diskussion  der 
Lebensvorgänge  der  Pflanze  und  wollen  die  theo- 
retischen Erörterungen  durch  Versuchsbeispiele 
illustriert  sehen.  Das  Objekt  ist  dann  mehr  oder 
weniger  Nebensache  und  nur  dann  von  Bedeutung, 
wenn  sich  z.  B.  eine  phanerogame  Pflanze  und 
ein  Pilz  der  Schwerkraft,  der  Einwirkung  chemi- 
scher Agentien  gegenüber  usw.  verschieden  ver- 
hält. Das  Ziel  aller  Wissenschaft  ist  doch  wohl, 
allgemeine  Gesetze  zu  finden  oder  wenigstens  das 
Gemeinsame  aus  den  individuellen  Vorgängen  zu 
abstrahieren,  soweit  es  möglich  ist.  Dieses  Stre- 
ben ist  aus  der  Lektüre  des  Kolk  wit  zschen 
Buches  nicht  zu  erkennen  und  lag  auch  wohl  nicht 
in  der  Absicht  des  Verf.  Fast  überall,  wo  wir 
nach  Vertiefung  des  Verständnisses  für  die  Lebens- 
vorgänge, wo  wir  eine  Stellungnahme  zu  Theorien 
und  wissenschaftlichen  Streiifrngen  suchen,  wird 
auf  die  Werke  anderer  Forscher  verwiesen  oder 
es    wird    das  Problematische    einfach    übergangen. 


Daraus  folgt,  daß  der  Haupfteil  des  Buches 
„Pflanzenphysiologie"  als  verlehlt  zu  betrachten 
ist.  Und  das  auch  noch  aus  einem  anderen 
Grunde:  die  Kryptogamen  umfassen  den  Haupt- 
teil des  Buches,  und  es  werden  da  in  der  Haupt- 
sache ökologische  oder  biologische  Erscheinungen 
besprochen ,  die  aber  nur  teilweise  nach  physio- 
logischen Gesichtspunkten  analysiert  werden. 

Betrachten  wir  das  Kolkwitzsche  Buch 
ganz  vorurteilslos  und  ohne  Rücksicht  auf  den 
irreführenden  Haupttitel,  so  stellt  sich  die  Arbeit 
der  als  eine  Sammlung  von  physiologischem  und 
ökologischem  Versuchs-  und  Beobachtungsmaterial; 
es  entspricht  also  der  Inhalt  des  Buches  etwa 
dem  gewählten  Untertitel  und  muß  demgemäß 
beurteilt  werden.  Im  Vordergrund  steht  also  das 
Objekt,  die  einzelnen  Pflanzen,  mit  denen  gut  zu 
experimentieren  ist  oder  an  denen  interessante 
Erscheinungen  zu  beobachten  sind.  Da  das  Buch 
aus  langjährigen  praktischen  Unterrichtserfahrungen 
hervorgegangen  ist  und  da  der  Verf  das  größte 
Gewicht  auf  das  Gelingen  der  Versuche  legt,  so 
findet  der  Lehrer,  für  den  das  Buch  wohl  in  erster 
Linie  bestimmt  ist,  viele  Anregungen,  und  auch 
sicher  viele  Freude  an  dem  Gebotenen.  Es  wird 
ihm  beim  Unterricht  ein  ausgezeichnetes  Hilfs- 
mittel sein  und  da  ein  reichhaltiges  Literaturver- 
zeichnis vorhanden  ist,  so  wird  es  ihm  ein  leichtes 
sein,  sich  eingehender  mit  der  Materie  zu  be- 
schäftigen und  seinen  Schülern  soviel  Theoretisches 
zu  übermitteln,  wie  es  seinen  Bedürfnissen  oder 
den  Lehrplänen  entspricht.  Von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  sind  auch  die  biologischen  Hmweise 
bei  den  Kryptogamen  von  großem  Wert;  setzen 
sie  doch  den  Lehrer  in  den  Stand,  seine  Schul- 
exkursionen vielseitig  und  interessant  zu  gestalten. 

Die  Behandlung  der  Hydrobiologie  und  Plank- 
tonkunde, die  in  dem  Buch  einen  breiten  Raum 
einnimmt,  wird  auch  manchem  Botaniker  und 
allen  denen,  die  amtlich  oder  nichtamtlich  mit 
dem  Wasser  und  allem,  was  dazu  gehört,  zu  tun 
haben,  willkommen  sein,  da  etwas  ähnliches  in 
der  Literatur  fehlt.  —  Die  vorliegende  zweite 
Auflage  des  Buches  hat,  vorwiegend  in  seinem 
ersten  Teile,  den  Phanerogamen ,  einige  Erweite- 
rungen erfahren,  besonders  in  Hinsicht  auf  die 
Reizphysiologie  und  die  Vererbungslehre,  so  daß 
nunmehr  im  ersten  Teil  der  Stoff  in  folgenden 
Kapiteln  besprochen  wird:  Notwendige  Elemente 
und  Nährsalze;  das  Chlorophyll  und  seine  F"unk- 
tionen;  Diffusion,  Osmose  und  Turgor;  Zucker, 
Stärke,  Reservezellulose,  fettes  Öl;  Eiweiß;  Wasser 
und  Luft;  Atmung;  Bewegung,  Wachstum  und 
Reiz;  Fortpflanzung  und  Vererbung.  —  Au(  Ein- 
zelheiten kann  hier  aus  Raumgründen  niiht  ein- 
gegangen werden ;  dem  Ref.  sei  nur  gestattet,  dem 
Wunsche  Ausdruck  zu  verleihen,  daß  der  Verf. 
bei  einer  dritten  Auflage  dem  ersten  Abschnitte 
eine  etwas  abgerundetere,  alle  Teile  der  Pflanzen- 
physiologie gleichmäßiger  umfassendere  Form 
gibt,  was  trotz  der  aphoristischen  Behandlung  des 
Gegenstandes  um  so  leichter  geschehen  kann,  da 


624 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXi.  Nr.  45 


der  Verf.  als  Ergänzung  seines  Buches  gleichzeitig 
Einzelhefte  erscheinen  läßt,  die  er  unter  dem 
Titel  „Pflanzenforschung"  herausgibt.  Auf  diese 
Weise  braucht  der  Umfang  des  „Stammwerkes" 
nicht  vergrößert  zu  werden.  Was  das  vorliegende 
erste  Heft  der  „Pflanzenforschung"  betrifft,  das 
die  Phanerogamen  in  derselben  Manier  wie  in 
der  „Pflanzenphysiologie"  behandelt,  so  ist  der 
Inhalt  „im  wesentlichen  eine  Wiedergabe  von 
Originalversuchen  aus  der  Pflanzenphysiologie" 
mit  kleinen  Ergänzungen ,  wie  der  Verf  selbst 
sagt.  Es  wird  nicht  begründet,  warum  eigentlich 
dieses  Heft,  das  den  ersten  Teil  der  „Pflanzen- 
physiologie" entbehrlich  macht,  erschienen  ist; 
nach  Ansicht  des  Ref.  hätte  bei  der  großen 
Papierknappheit  und  -teuerung  eigentlich  schon 
das  erste  Heft  lediglich  Neues  enthalten  dürfen, 
wie  es  für  spätere  Hefte  beabsichtigt  ist.  Das 
Ziel  des  Verf,  in  den  Heften  „wertvolle  und  er- 
probte Versuche,  Methoden  und  Beobachtungen 
so  zu  schildern,  daß  sie  allgemein  belehrend 
und  anregend  wirken",  ist  natürlich  nur  zu  be- 
grüßen. Wächter. 


Kolbe,     L. ,     Flüssige     Luft,     Sauerstoff, 
Stickstoff,  Wasserstoff.     Deutsche  Über- 
setzung   und    Erweiterung    des  Buches    „air   li- 
quide, oxygene,  azote"  von  G.  Claude,  Paris. 
430  Seiten,  207  Abb.,  6  Tafeln.     Leipzig   1920, 
J.  A.  Barth. 
Das    vorliegende    Buch    ist    eine    freie    Über- 
tragung des  französischen  Werkes  von  G.  Claude 
über   flüssige  Luft,   die    von   L.  Kolbe    durch  Ein- 
schaltung einer  Reihe  von  Kapiteln    eine  wesent- 


liche Erweiterung  und  Anpassung  an  den  heu- 
tigen Stand  der  Technik  erfahren  hat.  Dabei  ist 
die  außerordentlich  anschauliche  und  lebendige 
Darstellungsweise  des  Originals  durchaus  bei- 
behalten worden,  so  daß  der  Leser  in  angenehmer 
Weise  mit  einem  guten  Beispiel  französischer 
Schreibweise  bekannt  wird. 

Das  Buch  stellt  sich  das  Ziel,  Theorie  und 
Praxis  gleichmäßig  zu  berücksichtigen.  Der  erste, 
theoretische  Teil  wird  auch  weiteren  Kreisen 
leicht  verständlich  sein.  Er  ist  nicht  auf  breiter 
thermodynamischer  Basis  aufgebaut,  sondern  knüpft 
immer  an  das  Experiment  und  an  die  historische 
Entwicklung  an,  die  gerade  auf  diesem  Gebiete 
reich  an  spannenden  Momenten  gewesen  ist.  In 
vorteilhafter  Weise  wird  von  instruktiven  Figuren 
und  Diagrammen    reichlicher  Gebrauch    gemacht. 

Die  weiteren  Abschnitte  behandeln  die  indu- 
strielle Verflüssigung,  die  Aufbewahrung  und  die 
Eigenschaften  der  flüssigen  Luft  sowie  die  Schei- 
dung der  Luft  in  ihre  Bestandteile;  Tabellen,  eine 
Übersicht  über  die  Patente  sowie  eine  sehr  aus- 
führliche Literaturzusammenstellung  beschließen 
das  Buch.  Die  neu  hinzugetretenen  Kapitel  um- 
fassen insbesondere  die  Edelgase  und  ihre  Ge- 
winnung durch  Rektifikation  aus  der  Luft,  die 
Gewinnung  von  Wasserstoff  und  Stickstoff  aus 
Gemischen,  sowie  praktische  und  wirtschaftliche- 
Fragen. 

Auch  der  technische  Teil  zeichnet  sich  durch 
flüssige  Darstellungsweise  aus,  die  durch  reich- 
liche und  gute  Abbildungen  unterstützt  wird. 
Sehr  anschaulich  werden  auch  eine  Reihe  schöner 
Handversuche  beschrieben  und  illustriert. 

E.  Regener,  Stuttgart. 


Anregungen  und  Antworten. 


Arbeitsgemeinschaft  für  anthropo-ökologische  Forschung. 
An  der  Wiener  Universität  wurde  kürzlich  eine  Arbeitsgemein- 
schaft für  anthropo-ökologische  Forschung  gegründet.  Ihr 
Ziel  ist  die  genauere  Erforschung  der  Abhängigkeit  sowohl 
des  Einzelindividuums  im  Bau,  physischer  wie  psychischer 
Hinsicht,  als  auch  sozialer  Verbände  und  Kulturen  von  Art 
und  Charakter  der  Lebensbedingungen,  des  Entstehungs-  und 
Standortes.  Die  Anregung  zur  Grüadung  ging  von  Herrn 
Dr.  Jul.  Spinner  und  Herrn  Dr.  Ferd.  Scheminzky 
aus,  von  denen  der  letztere  die  Organisation  der  naturwissen- 
schaftlich biologischen  Gruppe,  der  erstere  jene  der  psycho- 
logisch und  soziologisch-kulturwissenschaftlichen  übernommen 
hat.  Kine  Anzahl  namhafter  Forscher  hat  bereits  ihre  Mit- 
arbeit zugesagt.  Über  die  Forschungsergebnisse  soll  in  ein- 
zelnen Veröffentlichungen,  sowie  durch  Herausgabe  eines 
Sammelwerkes  berichtet  werden.  Die  Gründung  eines  -Insti- 
tutes für  anthropo-ökologische  Forschung  in  Wien  ist  in  Aus- 
sicht genommen. 


Die  Arbeitsgemeinschaft  richtet  an  alle  auf  gleichem  Ge- 
biete arbeitenden  wissenschaftlichen  Verbände  und  Forscher 
die  Bitte  ihr  luhalt  und  Umfang  bereits  in  Angriff  genomme- 
ner einschlägiger  Arbeiten  behufs  Vermeidung  überflüssiger 
Diippclbcarbeitung  kurz  bekannt  zu  geben  und  ihr  allfällige 
Publikationen  zur  Verfügung  zu  stellen.  Zuschritten  und  An- 
fragen sind  erbeten:  An  die  Arbcitsg'-meinschaft  für  anthropo- 
ökologische  Forschung,   Wien  I,  Universität. 


Literatur. 

Gotlschalk,  Dr.  A. ,  Begriff  des  Stoffwechsels  in  der 
Biologie.      Berlin   '21,   Gebr.   Bornträger.      12   M. 

Reinke,  Prof.  Dr.  Joh.,  Grundlagen  einer  Eiodynamik. 
Berlin   '22,   Gebr.   Bornträger.      120  M. 

Hundt,  R.,  Erdgeschichtliche  Bilder  aus  dem  mittleren 
F.lstertal.      Gera   '22,   Reußische   Druckerei   und    Verlagsanstalt. 


lllbitlt:  G.  Sticker,  Nährpflanzen  und  Heilpflanzen  in  der  Geschichte.  S.  609  —  Bücherbesprechungen:  G.  Schwo- 
retzky,  Weltäther  und  Weltall.  A.  Berg,  .Xtherströmungs-  und  Äthcrstrahlungshypothese.  R.Rüther,  Systematik 
und  Synthese  der  Elemente.  E.  Maag  und  K.  Reihling,  Vom  Relativen  zum  Aiisoluten.  S.  620.  Fr.  Fischer 
und  II.  Schrader,  Entstehung  und  chemische  Struktur  der  Kohle.  -S.  621.  R.  Kolkwitz,  Pflanzenphysiologie. 
Dcrs..  l'llanzcnforschung.  S.  623.  L.  K  o  1  b  c ,  Flüssige  Luft,  Sauerstoff,  Stickstiifl',  Wasserstoff.  S.  624.  —  Anregungen 
und  Antworten:  Arbeitsgemeinschaft  für  anthropo-ökologische   Forschung.  S.  624    —  Literatur:   Liste.  S.  624. 

Manuskripte   und  Zuschriften  werden   an    Prof.   Dr.   H.   Miehe,   Berlin  N   4,   Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag   von   Gustav   Fischer  in  Jena. 

Druck   der   G.   Pätz'schen   Buchdr.    Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  12.  November  1922. 


Nummer  46. 


Mathematik  und  Wirklichkeit. 


Von  A. 


[Nachdruck  verboten,] 

Wirklich  sind  für  uns  nur  die  Empfindungen 
unserer  Zufallsinne.  Die  außerhalb  des  Ich  pro- 
jizierten Empfindungen,  das  unnahbare  Unbekannte, 
das  die  Empfindungen  auslöst  oder  sich  als  Emp- 
findung offenbart,  nennen  wir  unsere  Wirklichkeit, 
Welt,  Natur.  —  Wir  können  sie  mit  Hilfe  der 
Sprache  und  Mathematik  nur  beschreiben  aber 
nicht  erkennen,  ihr  Prüfstein  sind  einzig  unsere 
Empfindungen. 

Gleich  organisierte  Menschen  haben  die  gleiche 
Wirklichkeit:  Einen  von  den  Zufallsinnen  empfun- 
denen Ausschnitt  aus  einer  qualitativ  und  quanti- 
tativ unvorstellbaren.  Wie  dem  einzelnen  die 
Wirklichkeit  bewußt  wird,  d.  h.  wie  er  die  Sinnes- 
empfindungen mit  der  Sprache  und  der  Mathe- 
matik verarbeitet,  hängt  von  seiner  Intelligenz 
und  Bildung  ab. 

Das  Bedürfnis  nach  gegenseitiger  Mitteilung 
der  Empfindungen  führte  zur  Erfindung  der 
Sprache,  die  notwendig  Gehörsprache  werden 
mußte.  Aus  Empfindungslauten  wurden  zufällige 
Empfindungsworte,  die  Adjektive  unserer  Gram- 
matik. Nach  Fr.  Mauthner')  war  das  Adjektiv 
bei  der  Erfindung  der  Sprache  der  erste,  bei  ihrer 
Formulierung  der  letzte  Redeteil.  Mauthner 
unterscheidet  drei  Welten:  Die  adjektivische 
Welt,  die  allein  uns  zugängliche  Welt  unserer 
Empfindungen  (auch  die  Welt  des  Tieres),  die 
substantivische  Welt  des  Seins,  des  Raumes, 
des  Mythos  und  der  Mystik  und  die  verbale 
Welt  des  Geschehens,  der  Zeit.  Streng  ge- 
nommen gehört  die  verbale  Welt  als  partizipiale 
auch  zur  adjektivischen  und  somit  blieben  nur 
zwei  verschiedene  Welten,  in  denen  wir  uns  zu- 
recht finden  müssen.  Die  ursprüngliche  Welt 
der  empfindbaren  Eigenschaften,  unsere 
Wirklichkeit,  die  schon  vor  der  Sprache  emp- 
funden wurde,  und  die  erst  in  der  Sprache  durch 
Abstraktion  gewonnene  Welt  der  nicht  emp- 
findbaren Begriffe.-) 

Der  Unscharfe  unserer  Sinne  und  der  Abstrak- 
tion verdanken  wir  die  erfolgreichste  Erfindung 
in  der  Sprache:  Die  Zahl,  bzw.  die  besondere 
von  nichts  abstrahierte  Zahlenwelt.  Bis  vor 
zwei  oder  drei  Jahrtausenden  genügte  die  Sprache 
mit  einfachen  Zahlen  zur  Mitteilung  der  an- 
geschauten Wirklichkeit.  Die  Erweiterung  des 
Gesichtskreises,  schärfere  Beobachtungen  zwangen 


Radovanovitch. 

zu  Vergleichen  und  zu  Messungen,  und  da  versagte 
die  Sprache.  Gekürzte  konventionelle  Ausdrucks- 
formen wurden  notwendig.  Es  entstand  die  Ma- 
thematik, die  mit  dem  geometrischen  Bild  und 
der  analytischen  Formel  Ökonomie  in  die  Ver- 
ständigung brachte.  Die  Mathematik  ist  prä- 
zisierte konzentrierte  Sprache,  die  in  der  Zahl 
latent  enthalten  war  und  noch  ist.  Mit  der  Er- 
findung der  Zahl  war  sie  auch  gegeben.  Die 
mathematischen  Operationen  —  ein  zwangläufiges 
Aneinanderreihen  von  Zahlen  (Zahlen  haben  nur 
einen  Stellungs-  aber  keinen  Richtungswert)  und 
Zeichen  —  mußten  nur  stufenweise  hervorgeholt 
und  die  notwendigen  Zeichen  hinzuerfunden 
werden.  Die  Zwangläufigkeit  oder  die  mathe- 
malische Notwendigkeit  gilt  in  beiden  Richtungen 
zwischen  Prämisse  und  Resultat:  Die  mathe- 
matischen Operationen  sind  umkehr- 
bar.') Die  Bedeutung  des  Behandelten  wird  dabei 
weder  beeinflußt  noch  geändert.  Schopenhauer 
hat  die  Umkehrbarkeit  so  angedeutet:  „Da  sie  — 
die  Anschauung,  welche  der  Mathematik  zugrunde 
liegt  —  a  priori  ist,  mithin  unabhängig  von  der 
Erfahrung,  die  immer  nur  teilweise  und  sukzessiv 
gegeben  wird ;  liegt  ihr  alles  gleich  nahe,  und 
man  kann  beliebig  vom  Grunde  oder  von  der 
Folge  ausgehen."  „Mathematik  und  Logik  lehren 
uns  aber  eigentlich  nur,  was  wir  schon  vorher 
wußten."  Das  besagt,  daß  die  Mathematik  selbst 
nicht  mehr  hervorbringen  kann,  als  schon  in  die 
Prämissen  hineingelegt  wurde.  Schlüsse  und  Be- 
weise der  Sprache  und  der  Mathematik  sind 
Mausefallenbeweise:  Man  zieht  die  Maus  hervor, 
die  man  vorher  in  die  Falle  hineingetan  hat. 

Das  Neue  wird  geschaffen  durch  neue  Taten, 
neue  Beobachtungen,  neue  Einfälle,  Apergus.  Der 
Prüfstein  der  Einfälle  auf  ihre  Wirklichkeit  sind 
nur  die  Sinnesempfindungen.  Das  Neue  wird 
erst  wirklich,  wenn  es  empfunden  wird. 

Sprache  und  Mathematik  sind  ungleiche  Mittel 
zur  Beschreibung  der  Wirklichkeit.  Die  Unbe- 
ständigkeit und  Unbestimmtheit  der  Sprache 
machen  sie  unfähig,  die  Wirklichkeit  genauer  zu 
fassen.^)  Die  eindeutige,  zwangläufig  operierende 
Mathematik  kann  dagegen  die  Wirklichkeit  schärfer 
einstellen,  aber  ihr  Werkzeug,  die  starre  unwirk- 
liche Zahl  gestattet  ihr  keinen  innigen  Kontakt 
mit  der  Wirklichkeit. 


')  Wörterbuch  der  Philosophie,  2  Bde.,  1910 — 14 
(G.  Müller).  Der  kundige  Leser  wird  in  folgendem  den 
Einfluß  Mauthners  nicht  verkennen. 

")  Mit  diesem  kam  Unbeständigkeit,  Unbestimmtheit  und 
Unaufrichtigkeit  in  die  Sprache. 


')  Zuerst  ausgesprochen  von  Mauthner  im  sehr  lesens- 
werten Büchlein  „Spinoza"   1921   (C.  Reissner). 

'')  Aber  diese  Mängel  eignen  sie  gerade  so  vortrefflich 
für  die  Poesie,  den  Mythos  und  die  Mystik,  d.  h.  für  eine 
verschleierte  bis  gefälschte   Darstellung  der  Wirklichkeit, 


626 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


Sprache  und  Mathematik  sind  nicht  wirklich. 
Beim  gesprochenen  Wort  Mars  ist  wirklich  die  Be- 
wegung der  Sprechwerkzeuge  und  die  Erschütte- 
rung der  Luft,  beim  geschriebenen  der  Tintenstrich, 
beim  gemalten  Mars  die  Farbe  und  beim  gemeisel- 
ten  der  geformte  Stein.  Dasselbe  gilt  auch  von  der 
gesprochenen,  geschriebenen,  zeichnerisch  oder 
körperlich  dargestellten  Formel.  Nicht  das  Dar- 
gestellte ist  wirklich,  sondern  nur  die  Mittel  der 
Darstellung.  Das  Dargestellte,  ein  konventionelles 
Mittel  der  Verständigung,  kann,  muß  aber  nicht 
der  Wirklichkeit  entsprechen  bzw.  sie  beschreiben 
oder  abbilden.  Ein  Gemälde  kann  eine  wirkliche 
Landschaft  darstellen,  eine  gemalte  Landschaft 
muß  nicht  wirklich  sein.  Ein  geometrisches  Bild 
kann  einen  wirklichen  Zustand  oder  Vorgang  ver- 
anschaulichen, seine  Wirklichkeit  jedoch  nicht  be- 
weisen. Ein  analog  unserem  berechnetes  und 
gezeichnetes  Planetensystem  beweist  allein  noch 
nicht  die  planetarische  Struktur  der  Atome.  Die 
Möglichkeit  der  Vorstellung,  Veranschau- 
lich u  n  g  und  Berechnung  ist  kein  sicheres 
Kennzeichen  der  Wirklichkeit.  Sprach- 
liche, bzw.  mathematische  Notwendigkeit  bedingt 
noch  keine  wirkliche. 

Der  eigentliche  Entdecker  des  Neptun  war 
schon  Bouvard.  Er  sprach  die  Vermutung  aus, 
daß  die  Ursache  der  Störungen  der  Uranusbahn 
ein  transuranischer  Planet  sein  müsse.  Leverrier 
berechnete  die  Bahnelemente  des  bereits  ange- 
sagten Störenfrieds  (die  gesuchte  Maus  war  schon 
in  der  F"alle),  aber  erst  als  ihn  Galle  im  Fern- 
rohr sah,  wurde  der  neue  Planet  für  uns  wirklich. 
Wäre  Neptun  ein  schwarzer  Körper,  dann  würde  er 
heute  noch  nicht  wirklich  sein,  und  wir  dürften 
nur  an  eine  störende  Kraft  glauben.  —  Dieses 
Schulbeispiel  zeigt  treffend,  wie  erst  unsere  Emp- 
findungen die  Wirklichkeit  bestätigen,  ferner,  wo 
die  Hilfe  der  Mathematik  in  der  Naturforschung 
einsetzt.  —  Bei  veränderlichen  Sternen  vom  Al- 
goltypus  führten  Beobachtungen  zur  vorstellbaren 
und  durch  die  Rechnung  bestätigten  Annahme, 
daß  sich  zwei  nahezu  gleich  große  Körper,  ein 
heller  und  ein  dunkler,  um  den  gemeinsamen 
Schwerpunkt  bewegen;  die  Erde  fliegt  ungefälir 
in  der  Bahnebene  der  Körper  und  der  dunkle 
verdeckt  zeitweise  den  hellen.  Dennoch  ist  das 
Sternpaar  nicht  unbedingt  wirklich.  Wirklich 
sind  nur  die  Empfindungen  der  veränderlichen 
Lichtstärke  und  der  Verschiebung  gewisser  Spek- 
trallinien. Das  weitere  sind  aus  der  Annahme 
mathematisch  notwendige,  aber  sinnlich  nicht 
wahrnehmbare  Folgerungen.  Periodische  Erup- 
tionen leuchtender  Massen  auf  einem  bereits 
dunklen  Weltkörper,  die  in  der  Richtung  gegen 
die  Erde  geschleudert  werden  und  wieder  zurück- 
fallen, könnten  gleiche  Beobachtungen  hervorrufen. 

Sagen  mathematische  Berechnungen  Zustände 
oder  Ereignisse  voraus,  die  von  Empfindungen 
bestätigt  werden,  so  beweist  das  nur,  daß  die 
Prämissen  dem  wirklichen  Geschehen  gut  an- 
gepaßt waren  (es  wurde  die  richtige  Maus  in  die 


Falle  gesteckt),  nicht  aber,  daß  das  wirkliche, 
nicht  zahlenmäßig  und  doch  restlos  verlaufende 
Geschehen  einem  „Gesetz",  d.  h.  einer  Formel 
folgt.  Diese  bleibt  auch  bei  Berücksichtigung 
von  immer  mehr  Reihengliedern  nur  eine  An- 
näherung an  die  Wirklichkeit.  Sprache  und 
Mathematik  sind  Menschenwerk,  und  die 
Wirklichkeit  kümmert  sich  nicht  um  sie.  Es  ist 
eine  Überhebung  zu  behaupten,  menschliche  Ma- 
thematik gelte  ,,ewig"  und  auch  dort,  wo  keine 
Menschen  sind.  Die  große  Übereinstimmung  der 
mathematischen  und  wirklichen  Notwendigkeit  in 
der  Mechanik  hat  zur  Überschätzung  der  Mathe- 
matik —  nicht  nur  in  Laienkreisen  —  geführt, 
wozu  noch  ihre  glänzende  formale  Ausbildung 
viel  beigetragen  hat.  Die  Mathematik  ist  keine 
eigentliche  Wissenschaft,  sie  vermittelt  kein  Wissen 
wie  die  Forschung,  sie  ist  nur  das  zuverlässigste 
Werkzeug  der  Wissenschaften,  bzw.  erst  die  An- 
wendung mathematischer  Methoden  macht  das 
Forschen  zur  exakten  Wissenschaft.  Ungefähr 
wie  ein  Präzisionsmeßinstrument  nur  mit  einem 
Präzisionswerkzeug  gemacht  werden  kann.  Meß- 
instrument und  Werkzeug  sind  aber  nicht  gleich- 
artig.') 

Der  Begriff  „Raum"  konnte  erst  nach  der  Er- 
findung der  Abstraktion  und  der  Begriff  „Zeit" 
erst  nach  der  Erfindung  der  Zahl  gebildet  werden. 
Raum  und  Zeit  sind  Sprachprodukte  —  sogar 
ziemlich  späte  — ,  sind  nicht  wirklich  und  werden 
es  auch  nicht  durch  mathematische  Behandlung. 
Die  Zeit  als  angenommene  vierte  Koordinate 
und  die  daraus  gezogenen  mathematisch  notwen- 
digen Folgerungen  haben  nur  formale  Be- 
deutung. Für  die  Wirklichkeit  beweisen  sie  nichts. 
Während  die  Zeit  als  Verhältniszahl  -)  bei  der 
Beschreibung  der  Wirklichkeit  eine  wichtige  Rolle 
spielt,  kommt  dabei  der  Raum  gar  nicht  in  Be- 
tracht, sondern  nur  wirkliche  Körper  und  ihre 
Eigenschaften.  Von  den  vier  traditionellen  Grund- 
pfeilern der  Welt :  Raum  —  Zeit,  Materie  —  Ener- 
gie sind  für  uns  nur  die  zwei  letzten  wirklich. 
Raum  und  Zeit  überlassen  wir  der  Metaphysik, 
und  was  die  beiden  beim  Besprechen  der 
Wirklichkeit  bedeuten ,  interessiert  uns  nicht. 
Energie  ist  Ausdruck  der  bewegten  Materie,  und 
somit  bleibt  schließlich  als  unsere  Wirklichkeit 
nur  bewegte,  geformte  und  beeigen- 
schaftete  Materie  übrig,  aus  der  wir  auch 
die  konventionellen  Maßstäbe  für  ihre  Beschrei- 
bung wählen. 

Unsere  Wirklichkeit  reicht  soweit  wie  unsere 
Sinne.  Daß  sie  an  der  Grenze  des  Sehsinnes  auf- 
hören sollte,  ist  für  uns  unvorstellbar.  Die  Un- 
vorstellbarkeit ließ  uns  das  Wort  „unendlich"  er- 
finden, das  bedeutet:  Wenn  wir  nach  allen  Rich- 

')  Man  wähnt  die  alten  Götter  überwunden  zu  haben  und 
merkt  nicht,  wie  gläubig  man  sich  vor  einem  neuen,  dem 
Gott  der  Differentialgleichungen  beugt.  Und  dieser  hat  den 
mechanistischen  Monismus  erschaffen. 

*)  Siehe  Naturw.  Wochenschr.  192 1,  Nr.  47:  „Was  ist 
die  /.eitf" 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


627 


tungen  vordringen,  empfinden  wir  überall  eine 
Wirklichkeit.  Wir  nennen  also  unsere  Welt  un- 
endlich. Die  Relativitätstheorie  kommt,  von  ge- 
wissen Voraussetzungen  ausgehend,  zur  Endlich- 
keit der  Welt.  Die  Frage,  welche  der  beiden 
Welten  wirklich  ist,  hat  keinen  Sinn  und  Wert, 
da  sie  von  den  allein  maßgebenden  Sinnesempfin- 
dungen nicht  beantwortet  werden  kann. 

Die  Ergebnisse  der  speziellen  Relativitätstheorie 
gelten  mit  mathematischer  Notwendigkeit  als  ge- 
sichert. Werden  sie  auch  durch  Beobachtungen 
schon  einwandfrei  bestätigt  und  damit  unserer 
Wirklichkeit  eingereiht  ?  Dieselbe  Frage  darf  auch 
bei  der  ebenfalls  mit  mathematischer  Notwendig- 
keit aus  den  Maxwellschen  Gleichungen  gefol- 
gerten „Nahwirkung"  gestellt  werden.  —  Es 
scheint,  daß  diese  Fragen  noch  nicht  bejaht 
werden  können. 

Die  Relativitätstheorie  setzt  zwei  gegeneinander 
bewegte  Beobachter  voraus.  Die  Beobachtungen 
beider  gelten  in  unserer  Wirklichkeit  nur  dann, 
wenn  beide  wirklich  sind  und  wenn  sie  ihre 
Standorte  vertauschen  können  ohne  Änderung 
ihrer  Empfindungsfähigkeit.  (Auf  der  Erde  ist 
ein  Beobachteraustausch  nur  innerhalb  einer 
dünnen  Kugelschale  möglich.)  Werden  diese 
Voraussetzungen  nicht  erfüllt,  dann  können  wir 
die  Beobachtungen  beider  Beobachter  nicht  als 
gleichwertig  anerkennen.  Auf  dem  Monde,  oder 
weiter  im  Weltall,  auf  einem  nahezu  mit  Licht- 
geschwindigkeit bewegtem  Fahrzeug,  können  wir 
uns  zur  Not  einen  wie  wir  organisierten  Beob- 
achter vorstellen  und  auch  annehmen,  daß  er 
dort  leben  könne,  aber  seine  Wirklichkeit  in  einer 
uns  unbekannten  Umgebung  ist  nicht  mehr  vor- 
stellbar. Wie  eine  Erdenuhr  auf  dem  Monde  usw. 
geht,  wissen  wir  nicht,  und  von  einer  photogra- 
phischen Platte  können  wir  nicht  behaupten,  daß 
sie  auf  dem  Monde  usw.  chemisch  ebenso  reagiert 
wie  auf  der  Erde. 

Unsere  Welt  ist  euklidisch  dreidimensional. 
Die  euklidischen  Axiome  werden  durch  unsere 
Sinnesempfindungen  direkt  und  indirekt  bestätigt; 
sie  entsprechen  der  wirklichen  Notwendigkeit. 
Die  nichteuklidische  Geometrie  beweist  mit  mathe- 
matischer Notwendigkeit,  daß  der  Raum  nicht 
euklidisch  ist,  daß  mehrere  gleichwertige  ge- 
krümmte Räume  möglich  sind.')  Mathematische 
und  wirkliche  Notwendigkeit  widersprechen  sich. 
Allerdings  wird  zugegeben,  daß  noch  innerhalb 
unserer  Welt  der  euklidische  Raum  mit  den  nicht- 
euklidischen nahezu  vollkommen  übereinstimmt. 
Uns  fehlt  aber  ein  Infinitesimalsinn,  mit  dem  wir 
die  Raumkrümmung  innerhalb  unserer  Welt  emp- 
finden könnten,  und  der  uns  auch  die  nach  der 
Relativitätstheorie  notwendigen,  der  Größe  und 
Richtung  nach  stetig  wechselnden,  Änderungen 
der  Körperdimensionen  bestätigen  könnte. 

')  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  der  Teufel  durch  den 
elliptischen  Raum  des  entführten  Professors  nicht  gefoppt 
wird,  und  daß  dieser  nimmer  zur  Erde  wiederkehrt.  Kurd 
Laßwitz;   „Wie  der  Teufel  den  Professor  entführte." 


Der  Analogieschluß  von  der  zweidimensionalen 
unbegrenzten  und  dennoch  endlichen  Kugel- 
fläche  auf  einen  dreidimensionalen,  unbegrenzten 
endlichen  gekrümmten  Raum  ist  nicht 
zwingend.  Es  kann  nur  eine  Wirklichkeit 
sein,  und  wir  haben  die  Wahl  zwischen  der  emp- 
fundenen und  der  mathematisch  postuUerten. 

Die  Wirklichkeit  verfügt  über  ungeahnte  in- 
einander greifende  Möglichkeiten;  die  Mathematik 
kennt  nur  eine  durch  die  starre  Zahl  festgelegte. 
Deshalb  kann  sich  mathematische  Notwendigkeit 
mit  der  wirklichen,  die  starre  Zahlenwelt 
mit  der  elastischen  adjektivischen  Welt 
nicht  decken.') 

Zwei  Dolmetscher  bieten  sich  an,  uns  die 
Wirklichkeit  zu  übersetzen.  Der  erste  kommt 
mit  einem  Wörterbuch,  das  ungenau  und  stets 
veraltet  ist.  Die  zünftige  Philosophie  bedient  sich 
noch  seiner  mit  Vorliebe  und  glaubt  von  ihm  Er- 
kenntnis der  Wirklichkeit  zu  erlangen.  Der  zweite 
hat  eine  immer  logisch  ergänzte  Formelsammlung, 
ist  gewissenhafter,  aber  einseitig;  er  kann  der 
Wirklichkeit  nur  mit  Zahlen  nahekommen.  Was 
er  bietet:  „Das  Resultat  besagt  nie  mehr  als 
Wieviel;  nie  Was"  (Seh  openau  er). 

Abseits  steht  der  Künstler.  Er  verzichtet  auf 
Genauigkeit,  er  will  mit  Worten,  Farben,  Formen 
und  Tönen  nur  mitteilen,  wie  er  die  Wirklichkeit 
erlebt.  Zauber  echter  Kunst  läßt  den  Empfänger 
die  Schöpfung  des  Künstlers  als  eigenes  Erlebnis 
empfinden. 

Aber  wem  soll  eigentlich  die  Sprache  (Wissen- 
schaft und  Kunst  inbegriffen)  die  Wirklichkeit  ver- 
dolmetschen? Was  ist  unser  Ich,  unser  Bewußt- 
sein, Denken,  Gedächtnis,  Vernunft,  Geist,  Seele 
usw.?  Ist  das  alles  nicht  unsere  Sprache?  Dol- 
metscher und  Ich  sind  eins,  sind  eben 
nichts  anderes  als  Sprache  und  letzten  Endes 
nur  —  Illusion,  der  Wagen  des  Königs  Milinda 
aus  der  Buddha-Legende.  Mit  der  Sprache 
haben  wir  die  größte  Illusion  —  uns 
selbst,  das  Ich  erfunden.  Deshalb  können 
wir  der  Zirkelgleichung  Ich  ^  Empfindung  =  Wirk- 
lichkeit =  Sprache  =;  Ich,  dem  eigentlichen  Monis- 
mus, nicht  entrinnen,  deshalb  ist  das  Unbekannte 
draußen  für  uns  unzugänglich  und  Welterkennt- 
nis    durch    Sprache    und  Mathematik   unmöglich. 

Der  eine  setzt  sich  darüber  hinweg;  resigniert 
lächelnd  greift  er  zum  Ignorabimus. 

Der  zweite  hofft  trotzdem  jenseits  der  Sinnes- 
empfindungen die  eigentliche  Welt  und  ihren 
Sinn  zu  finden.  Ihm  gehört  die  substanti- 
vische Welt,  die  seiner  Phantasie  freies  Spiel 
gewährt. 

Der  dritte  nimmt  die  adj  ekti  vische  Welt 
wie  sie  ist,  anerkennt  ihre  Grenzen  und  beschreibt 
sie  auf  Grund  neuer  Beobachtungen  und  neuer 
Einfälle  immer  wieder  von  neuem.  Und  sein 
verläßlichster    Gehilfe   dabei    ist    die    Mathematik. 

')  Wäre  es  so,  dann  hätten  schon  die  Pythagoräer  Recht 
gehabt  als  sie  behaupteten:  Die  Zahl  ist  das  Wesen  der 
Dinge. 


028 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


Einzelberichte. 


Die  Wahrheit   über  Beringers  Lithographia 
Wirceburgensis. 

Die  tragikomische  Geschichte,  wie  „versteinerte" 
Abbilder  von  abenteuerlichen  Tier-  und  Pflanzen- 
formen, ja  von  Sonne,  Mond  und  Sternen  sowie 
gar  hebräischen  Buchstaben  den  ernstgemeinten 
Stoff  zu  einem  gelehrten  Werke,  der  Beringerschen 
„Lithographia  Wirceburgensis"  (1726), 
abgaben,  wurde  in  der  „Naturw.  Wochenschr." 
bereits  zweimal  durch  Prof.  Andre e  behandelt 
(1917,  S.  719  ff.  und  1920,  S.  295  f.).  Sie  wird 
neuerdings  geradezu  als  Angelpunkt  in  der  Ent- 
wicklung der  geologischpaläontologischen  Wissen- 
schaft hingestellt.  Namentlich  ist  es  Othenio 
Abel,  der  in  seinen  Schriften  (besonders  19 14 
„Paläontologie  und  PaläozooJogie"  in  „Kultur  der 
Gegenwart"  III,  4  IV,  S.  313 ff;  1920  „Lehrbuch 
der  Paläozoologie"  S.  32)  das  Mißgeschick  Be- 
ringers zur  entscheidenden  paläontologischen 
Ideenwende  stempelt:  mit  dem  Zusammenbruch 
der  Würzburger  „Figurensteine"  sei  jahrtausende- 
alten Fabelvorstellungen  der  Todesstoß  versetzt 
und  endlich  eine  richtigere  Auffassung  der  Ver- 
steinerungen eingeleitet  1  Selbstverständliche  Vor- 
aussetzung hierbei  ist,  daß  Beringer  seine  Funde 
wirklich  für  echte  Versteinerungen  hielt  und  sie 
nach  alter  Art  als  Naturspiele  o.  ä.  zu  erklären 
suchte.  Beides  ist  nun  aber  keineswegs  so  selbst- 
verständlich. Überhaupt  stellt  sich  bei  genauerer 
Untersuchung  die  Geschichte  ziemlich  anders 
dar,  als  sie  seit  mehr  denn  anderthalb 
Jahrhunderten  berichtet  wird.  An  Hand 
aller  auffindbaren  Quellen,  insbesondere 
nach  einem  bisher  unbeachtet  geblie- 
benen zeitgenössischen  Briefe*)  des 
mitbeteiligten  Geschichtschreibers  v.  Eckhart 
(veröffentlicht  1780  im  Nürnberger  „Historisch- 
diplomat. Magazin  für  das  Vaterland"  I,  159 ff.) 
und  nach  Andeutungen  in  der  Lith.  Wirc. 
selbst,  gelang  es,  die  lange  verkannte  Wahrheit 
über  den  Beringerfall  festzustellen.  Meine  aus- 
führliche Arbeit  darüber  findet  sich  im  diesjährigen 
Oktoberheft  der  Monatschrift  „Stimmen  der 
Zeit"  (Herder,  Freiburg),  worauf  für  alle  Einzel- 
heiten und  Quellenangaben  verwiesen  werden  muß. 

Als  Verlasser  der  Lith.  Wirc.  ist  zunächst 
unzweifelhaft  Beringer  erwiesen,  mehr  noch  als 

')  Dieser  Brief  hatte  schon  1749  den  Herausgeber  (Chr. 
Ludw.  Scheid  t)  der  heihnizischen  Fro^oo^nea  (Vorrede  S.  IX, 
Anm.)  von  dem  längst  vermuteten  Betrug  in  der  Beringer- 
sache  überzeugt.  Hierauf  machte  mich  gütigst  Herr  Geh.- Rat 
Prof.  Klockmann  (Aachen)  aufmerksam,  den  schon  A  nd  ree 
1920  als  Gewährsmann  nei:nen  konnte.  Beide  weisen  auch 
auf  den  Antiquarialskatalog  von  Dultz  &  Co.  in  München  hin, 
den  ich  nicht  als  selbständige  Quelle  aufführte.  Seit  1911 
(Katal.  FerUirata)  ist  die  /Jt/t.  Wirc.  zum  Verkauf  angezeigt, 
zuerst  mit  einer  dem  Ebertschen  Allg.  Bibliograph.  Lexikon 
entnommenen  Beifügung,  die  im  Katalog  14  (1913)  und  e^-enso 
31  (1018)  wie  40(1921)  nach  Leydigs  Ho?af  zoologirae  ab- 
geändert wurde.  Der  Preis  stieg  seit  1911  von  35  über  48 
auf  80  und  300  M.  und  ist  jetzt  nur  auf  Anfrage  zu  erfahren ! 


And  ree  dies  in  seiner  zweiten  Mitteilung  (192O) 
berichtigend  zuzugestehen  schien.  Zwar  ließ 
Beringer  der  Zeitsitte  gemäß  die  Arbeit  unter 
seinem  Präsidium  in  einer  Inauguraldissertation 
von  seinem  Schüler  Gg.  Ludw.  Hueber  vor- 
legen, wodurch  dieser  wenigstens  als  Mitverfasser 
erscheinen  konnte.  Doch  schon  im  ersten  Satze 
seiner  einleitenden  Widmung  schreibt  Hueber 
selbst  die  Dissertation  ausdrücklich  seinem  Präses 
zu,  dessen  Urheberschaft  auch  sonst  aus  allem 
aufs  klarste  hervorgeht  und  von  Anfang  an  als 
selbstverständlich  bezeugt  ist.  Nicht  einmal  zu 
den  Druckkosten  mußte  Hueber  beisteuern  (vgl. 
Lith.  Wirc.  S.  95  Mitte),  der  auch  gewiß  an 
der  Fälschung  der  Steine  ganz  unbeteiligt  war. 
Ein  ergebener  Schüler  Beringers,  wurde  er  1737 
dessen  langjähriger  Nachfolger. 

Die  Fälscher  waren  nicht  etwa  übermütige 
Würzburger  Studenten,  wie  das  seit  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  oft  behauptet  ist.  Unschuldig 
sind  auch  „die  Jesuiten"  oder  „der  Jesuit 
Rodrick",  der  bis  auf  unsere  Tage  vielfach  als 
der  Hauptübeltäter  hingestellt  wird,  entweder 
allein  oder  in  Gemeinschaft  mit  dem  bekannten 
Geschichtschreiber  Gg.  v.  Eck  hart.  Die  eigent- 
lichen Fälscher  waren  vielmehr  drei  junge  Stein- 
arbeiter, Söhne  einer  armen  Witwe  von  Eibelstadt. 
Durch  Gewinnsucht  verlockt,  verfertigten  sie  aus 
gewöhnlichem  Hauptmuschelkalk,  wohl  mit  Hilfe 
eines  bis  zu  den  hebräischen  Anfangsgründen  ge- 
diehenen Studentleins,  in  den  sechs  Monaten  von 
Juni  bis  November  1725  über  zweitausend  „Fi- 
gurensteine", die  sie  Beringer  geschickt  in  die 
Hände  spielten,  sei  es,  daß  sie  die  auf  einer 
Bergeshalde  bei  Eibelstadt  vergrabenen  Steine 
ihn  selbst  finden  ließen  oder  sie  als  dort  ge- 
funden ihm  nach  Würzburg  ins  Haus  brachten. 
Der  an  sich  grobe  Betrug  gelang  so  vollkommen, 
daß  auch  anfängliche  Zweifler  durch  Teilnahme 
an  der  Grabung  sich  überzeugen  oder  doch  be- 
schwichtigen ließen.  Selbst  der  berühmte  Ge- 
schichtsforscher Gg.  V.  Eckhart,  seit  1724  in 
Würzburg,  wußte  sich  eine  Zeitlang  die  Sache 
nicht  anders  zu  erklären,  als  daß  hier  verscharrte 
Zaubersteine  oder  Talismane  der  alten  Germanen 
vorlägen!  Erst  mit  der  Dazwischenkunft  eines 
früheren  Jesuitenscholastikers,  des  Rheinländers 
Ignaz  Roderique,  der  als  Schützling  und 
Freund  Eckharts  im  Dezember  1725  zur  Über- 
nahme der  neuen  Laien professur  für  Geographie 
und  Algebra  nach  Würzburg  kam,  wurde  das 
Geheimnis  gelichtet.  Es  gelang  nämlich  dem 
Freundespaar,  einen  mitbeteiligten  oder  doch  ein- 
geweihten Burschen  von  Eibelstadt  zum  Geständ- 
nis zu  bringen.  Als  Probe  aufs  Exempel  ver- 
fertigte Roderique  selbst  einige  kunstvolle 
Figurensteine  und  schickte  den  Burschen  damit 
zu  Beringer.  Siehe  da,  dieser  nahm  sie  wirk- 
lich hochbeglückt  als  echt  entgegen ,  belohnte 
den  Überbringer  reichlich  und  ermunterte  ihn  zu 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


629 


weiteren  ähnlichen  Funden.  Ja  er  lud  sogar  den 
Fürstbischof  zur  Besichtigung  der  neuen  Fund- 
stelle ein.  Für  diese  Gelegenheit  mußte  Rode- 
rique  nochmals  mit  selbstgefertigten  Bildsteinen 
aushelfen,  die  denn  auch  glücklich  gefunden  und 
gläubig  bewundert  wurden.  Da  aber  hielt  Eck- 
hart  die  Stunde  für  gekommen,  öffentlich  den 
ganzen  Betrug  zu  enthüllen.  Inzwischen  hatte 
Beringer  gerade  sein  Werk  über  die  seltsamen 
Steine,  eben  die  Lithographia  Wircebur- 
gensis,  vollendet  und  ließ  es  in  feierlicher  In- 
auguraldissertation im  Mai  1726  vorlegen.  Er 
hielt  hier  unentwegt  an  der  Echtheit  wenigstens 
der  früher  gefundenen  und  auf  21  Kupfertafeln 
abgebildeten  Figurensteine  fest.  Seine  Vertei- 
digungsgründe dafür  erscheinen  denn  auch  zum 
Teil  so  einleuchtend,  daß  man  seine  Täuschung 
wenigstens  verstehen  lernt.  Selbst  ein  so  hoch- 
stehender Zeit-  und  Fachgenosse  wie  Joh.  Jak. 
Baier,  der  Verf.  der  OryctographiaNorica 
und  Präsident  der  Leopoldinisch-Karolinischen 
Akademie  der  Naturforscher,  teilte  so  ziemlich 
Beringers  Ansicht.  Dieser  scheint  sie  denn  auch 
bis  an  sein  Lebensende  allem  Zweifel,  Wider- 
spruch und  Hohne  zum  Trotz  festgehalten  zu 
haben.  Nirgends  finden  wir  etwas  von  einem 
demütigen  Eingeständnis  oder  Widerruf  seines 
Irrtums,  nirgends  auch  die  Nachricht  vom  Funde 
seines  Namenssteines,  der  ihm  endlich  die  Augen 
geöffnet  habe!  Fabel  ist  auch  die  IVleldung,  Be- 
ringer sei  bald  aus  Kummer  über  den  Betrug 
gestorben;  lebte  er  doch  noch  14  Jahre  danach 
als  angesehener  Professor  bis  in  sein  70.  Lebensjahr! 

Auch  die  fast  überall  behauptete  VViederein- 
ziehung  seines  Werkes  ist  geschichtlich  unerweis- 
bar.  Tatsache  scheint  nur  zu  sein,  daß  Beringer, 
über  die  bald  einsetzenden  Angriffe  verärgert, 
eine  unliebsame  Weiterverbreitung  seiner  Schrift 
möglichst  zu  verhindern  suchte.  Die  so  verblei- 
benden Restbestände  gelangten  dann  später  in 
fremde  Hände,  durch  die  sie,  wohl  ohne  betrüge- 
rische Absicht,  unverändert,  nur  mit  vereinfachtem 
Titel,  als  sog.  2.  Auflage  1767  nochmals  heraus- 
gegeben wurden.  Entgegen  der  allgemeinen 
bibliographischen  Annahme  scheint  diese  zweite 
Auflage  bedeutend  seltener  zu  sein  als  die  ziem- 
lich weitverbreitete  Erstausgabe. 

Eine  Hauptberichtigung  bezieht  sich  auf  die 
innere  Seite  der  Lithographia  Wircebur- 
gensis,  auf  die  eigentliche  Ansicht  Beringers. 
Kaum  einer  scheint  sich  bisher  bemüht  zu  haben, 
daraufhin  das  freilich  oft  schwere  Latein  der 
Schrift  durchzulesen.  Es  galt  einfach  als  selbst- 
verständlich, daß  der  Verf.  seine  Figurensteine 
als  echte  Versteinerungen  betrachtet  und  als 
seltsame  Naturspiele  erklärt  habe.  In  Wirk- 
lichkeit weist  Beringer  aber  für  seine  Funde 
all  die  alten  Meinungen  von  Naturspielen,  Samen- 
dünsten usw.  mit  großer  Literaturkenntnis  zurück 
und  unterscheidet  (bes.  8.  Kap.)  scharf  zwischen 
gewöhnlichen  Versteinerungen ,  die  er  aus  der 
Sündflut    oder    doch    dem    Meere    herleitet,    und 


seinen  ganz  anders  gearteten  „idiomorphen"  Fi- 
gurensteinen I  Nur  diese,  keine  „echten  Versteine- 
rungen aus  dem  Muschelkalk",  bildet  er  in  der 
Lith.  Wirc,  ab.  Und  seine  Erklärung,  ob  natür- 
licher oder  künstlicher  Ursprung  der  einzigartigen 
Figurensteine?  Er  überläßt  sie  vernünftigerweise 
dem  Urteil  der  Gelehrten  und  weiterer  Forschung! 
Das  einzige,  was  er  hartnäckig  bekämpft,  ist  die 
Annahme  einer  künstlichen  Herstellung  und  Unter- 
schiebung in  jüngster  Zeit.  Gegen  einen 
früheren  künstlichen  Ursprung,  nämlich  gegen 
die  Deutung,  daß  es  etwa  vergrabene  alte  heid- 
nische und  jüdische  Zaubersteine  oder  Zierstücke 
mittelalterlicher  Grotten  und  Burgen  seien,  hat 
er  nichts  Wesentliches  einzuwenden,  ja  er  hält 
diese  Erklärung  sogar  für  näherliegend  (cogitatu 
pronius,  S.  73).  Allerdings  will  er  auch  eine 
natürliche  Entstehung  nicht  von  vornherein 
als  unmöglich  ablehnen,  indem  er  glaubt,  seine 
Funde  vielleicht  als  irgendwie  von  der  Natur 
geformte  Abbilder,nicht  als  Reste,  der  dargestellten 
Lebewesen  und  Gegenstände  ansehen  zu  können! 
Das  ist  der  Zoll,  den  Beringer  überkommenen 
Wahnvorstellungen  als  Kind  seiner  Zeit  zahlte. 
Selbst  führende  Geister  waren  damals  nicht  frei 
davon,  ohne  deshalb  den  Fluch  der  Lächerlichkeit 
zu  verdienen.  Für  eine  richtige  Einschätzung 
geologisch  -  paläontologischer  Befunde  fehlte  es 
eben  noch  besonders  an  zwei  grundlegenden 
Voraussetzungen:  keine  Phantasie  ahnte  damals 
die  mannigfachen  gewaltigen  Festlandsverschie- 
bungen und  Meeresüberflutungen,  die  hauptsäch- 
lich unsere  geologischen  Schichten  schufen,  und 
kein  Menschengeist  überblickte  noch  die  gesamte, 
namentlich  marine  Organismenwelt,  um  in  den 
versteinerten  Gebilden  ausgestorbene  Formen  er- 
kennen und  so  rückschreitend  eine  erdgeschicht- 
liche Zeitenfolge  festlegen  zu  können.  Dies  er- 
klärt genugsam  so  manche  frühere  Absonderlich- 
keit in  Geologie  und  Paläontologie,  die  gewiß 
nicht  in  „biblischer  Überlieferung"  begründet  liegt. 
In  diesen  Rahmen  eingefügt,  erscheint  auch  Be- 
ringer  und  seine  Lith.  Wirc.  menschlich  ver- 
ständlich und  entschuldbar.  Nicht  Spott,  nicht 
mitleidiges  Lächeln  ist  es,  was  ihm  gebührt,  son- 
dern eher  Abbitte  angetanen  Unrechts  und  An- 
erkennung eines  lauteren  Gelehrtenstrebens,  das 
auch  im  Irrtum  uns  Wahrheit  erschloß. 

Aug.  Padtberg  S.  J.,  München. 


Gegen  die  „Pnbertätsdrüse". 

Unter  den  zahlreichen  Veröffentlichungen,  die 
sich  gegen  die  St  ei  nachsehe  Pubertätsdrüsen- 
lehre richten,  ragt  vor  allem  die  Arbeit  von  H. 
Tiedje  über  „die  Unterbindung  am  Hoden  und 
die  Pubertätsdrüsenlehre"  *)  hervor,  die  sich  durch, 
auf  exakten  Untersuchungen  beruhende,  klare 
Angaben  und  vorsichtige   Schlußfolgerungen    aus- 

')  Veröffentlichungen  aus  der  Kriegs-  und  Konstitutions- 
pathologie.    2.  Bd.,  Heft  4,  1922,  Gustav  Fischer. 


6?,o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


zeichnet.  Tiedje  ist  auch  nicht  in  den  Fehler 
verfallen,  mit  der  „Pubertätsdrüsenlehre"  die  Ver- 
jüngungstheorie von  vornherein  zu  verwerfen,  wie 
dies  meist  von  den  Gegnern  Stein  achs  ge- 
schieht. Wohl  darf  man  mit  den  oft  gar  zu  ein- 
seitigen Folgerungen  Steinachs  nicht  einver- 
standen sein,  doch  ist  kein  Grund  vorhanden,  alle 
Ergebnisse  Steinachs  deshalb  für  wertlos  zu 
erklären.  Gerade  die  Versuche  von  Tiedje 
zeigen  in  histologischer  Beziehung  eine  deutliche 
Übereinstimmung  mit  denen  Steinachs. 
Tiedje  kommt  jedoch  zu  einer  ganz  anderen 
Auffassung,  die  schließlich  „eine  besondere  , Puber- 
tätsdrüse' im  Sinne  Steinachs  ablehnen    muß". 

Tiedje  wählte  zur  Prüfung  der  „Pubertäts- 
drüsenlehre" die  Unterbindung  am  Hoden. 
Er  operierte  29  Meerschweinchen,  17  geschlechts- 
reife  und  12  jugendliche.  Hier  seien  die  Ver- 
suchsreihen angegeben : 

I.  Einseitige    Unterbindung    des    Vas    deferens 
bzw.  zwischen  Hoden   und  Nebenhoden  mit 
gleichzeitiger  anderseitiger  Kastration. 
II.  Isolierte  einseitige  Unterbindung. 
III.  Beiderseitige  gleichzeitige  Unterbindung. 

Nach  einseitiger  Vas  deferens  •  Unterbindung 
konnte  Tiedje  beobachten,  daß  sich  die  jugend- 
lichen Hoden  normal  weiter  entwickelten,  wäh- 
rend die  geschlechtsreifen  zunächst  degenerierten, 
um  später  wieder  vollständig  zu  regenerieren. 
Die  isolierte  einseitige  Unterbindung  rief  eine 
völlige  Inaktivitätsatrophie  des  unterbundenen 
Hodens  hervor,  während  der  andere  Hoden  kom- 
pensatorisch hypertrophierte.  Beiderseitige  gleich- 
zeitige Unterbindung  führte  zu  ähnlichen  Ergeb- 
nissen wie  die  unter  I.  angeführten  Versuche. 
Tiedje  glaubt  nun,  daß  die  Steigerung  der 
sexuellen  Funktion  nach  der  Unterbindung  nicht 
auf  die  Hypertrophie  der  Zwischenzellen,  wie 
Steinach  meint,  sondern  auf  die  „vermehrte 
Resorption  der  Eiweißsubstanzen  de- 
generierter generativer  Zellen"  zurück- 
zuführen sei.  Die  Zwischenzellen  spielen  nach 
seiner  Auffassung  nur  eine  nutritive  Rolle. 
Tiedje  stellt  also  die  inkretorische  Bedeutung 
der  Zwischenzellen  in  Abrede;  er  lehnt  deshalb 
auch  alle  therapeutischen  Theorien  auf  inter- 
stitieller Grundlage  ab.  Doch  verwirft  er  keines- 
wegs die  inkretorische  Bedeutung  der  Keimdrüsen 
im  allgemeinen.  So  lehnt  er  den  interstitiellen 
Hermaphroditismus  ab  und  hält  „den  Versuch, 
die  Diagnose  der  Homosexualität  aus  dem  Ver- 
halten der  Zwischenzellen  zu  stellen"  mit  Stieve 
für  unmöglich.  Eine  Beziehung  der  inkretorischen 
Funktionen  der  Keimdrüsen  zur  Homosexualität 
hält  Tiedje  dagegen  nicht  für  ausgeschlossen. 
In  ähnlicher  Weise  behandelt  er  die  Verjüngungs- 
frage, wie  eingangs  schon  hervorgehoben   wurde. 

Die  Arbeit  Tiedjes  trägt  entschieden  dazu 
bei,  die  Zwischenzellcnfrage  zu  klären.  Die  Tat- 
sache, daß  von  einer  isolierten  Pubertätsdrüse 
keine  Rede  sein  kann,  wird  durch  sie  erneut  be- 
stätigt.    In  vieler  Hinsicht  zeigt   auch    diese  Ver- 


öffentlichung, daß  manche  Folgerungen  Stei- 
nachs und  seiner  Anhänger  zu  einseitig  sind. 
Deshalb  ist  eine  solche  Revision  der  St  ei  nach- 
sehen Theorie,  wie  sie  Tiedje  vorgenommen 
hat,  sehr  zu  begrüßen.  Gustav  Zeuner. 

Aussterben  der  Naturvölker. 

Einen  beachtenswerten  Beitrag  zur  Klärung 
des  Problems  des  Aussterbens  der  Naturvölker 
hat  kürzlich  die  Universitätsdruckerei  zu  Cambridge 
veröffentlicht,  nämlich  eine  Sammlung  von  Auf- 
sätzen über  die  Entvölkerung  Melanesiens.  M  Vor 
dem  Eindringen  der  Europäer  herrschte  wahr- 
scheinlich kein  Bevölkerungsrückgang,  aber  die 
Volkszahl  wurde  durch  Kämpfe,  Kindermord, 
große  Kindersterblichkeit,  Vernachlässigung  alter 
und  invalider  Leute,  Ausmerzung  jener,  die  gegen 
die  Sittengesetze  verstießen  und  andere  Einflüsse 
verhältnismäßig  klein  gehalten.  Mit  der  Ankunft 
der  Europäer  trat  keine  Besserung,  sondern  eine 
Verschlimmerung  des  Zustandes  ein.  Es  wurden 
bis  dahin  unbekannte  Krankheiten  verbreitet  und 
namentlich  Lungenleiden  haben  viel  zur  Bevölke- 
rungsverminderung beigetragen  Nach  Berührung 
mit  Europäern,  die  ,, Schnupfen"  (colds)  mit  sich 
bringen,  sagt  der  Missionar  Durrad  in  einem 
der  Aufsätze,  treten  bei  den  Eingeborenen  vielfach 
schwere  Bronchitis  und  Pneumonie  auf,  die  zahl- 
reiche Sterbefälle  zur  Folge  haben.  Andere  euro- 
päische Krankheiten  scheinen  nicht  weit  verbreitet 
zu  sein.  Die  Einführung  fremder  Lebensgewohn- 
heiten bringt  ebenfalls  Nachteile.  „Von  allen 
üblen  Gewohnheiten,  die  durch  die  Zivilisation 
gebracht  wurden,  ist  das  Tragen  von  Kleidern 
wahrscheinlich  die  schlimmste",  schreibt  der  ge- 
nannte Missionar  und  in  mehreren  anderen  Aul- 
sätzen kommt  dieselbe  Auffassung  zur  Geltung. 
Europäische  Kleidung  ist  nicht  nur  des  Klimas 
wegen  ungeeignet,  sondern  es  kommt  noch  dazu, 
daß  die  Eingeborenen  die  Kleider  nie  wechseln 
und  sie  auch  nicht  zu  reinigen  verstehen,  so  daß 
die  sonst  im  allgemeinen  reinlichen  Menschen 
infolge  des  Kleidertragens  mit  Schmutz  bedeckt 
und  mit  Hautkrankheiten  behaftet  sind.  Dr. 
Speiser,  der  über  die  Zustände  auf  den  Neuen 
Hebriden  schreibt,  mißt  auch  dem  Übergang  von 
der  früher  üblichen  Pflanzenkost  zu  vorwiegender 
Reis-  und  Fleischnahrung,  ebenso  wie  dem  Alko- 
hol, eine  üble  Wirkung  auf  die  Gesundheit  der 
Eingeborenen  bei.  Nachteilig  ist  ferner  der  Über- 
gang zu  solider  gebauten  \A^ohnhäusern ,  welche 
die  Lüftung  erschweren.  Viel  Schuld  an  dem 
Bevölkerungsrückgang  haben  zweifellos  die  Arbeiter- 
anwerbungen. Ein  großer  Teil  der  Angeworbenen 
kehrt  überhaupt  nicht  zurück  und  die  Zurück- 
kehrenden bilden  einen  P"remdkörper  unter  den 
daheimgebliebenen  Stammesgenossen;  sie  tragen 
bei,    die  Auflösung  der   bestehenden   sozialen  Or- 


')  Essays  on  the  Depopulation  of  Melanesia.     Edited  by 
W.  H.  R.  Rivers.     Cambridge  1922,  University  Press. 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


631 


ganisation  und  die  Beseitigung  der  überlieferten 
Lebensgewohnheiien  zu  beschleunigen.  Da»  in 
der  Regel  keine  neuen  geistigen  und  sozialen 
Lebensinhalte  an  die  Stelle  der  alten  treten,  wird 
das  Dasein  der  primitiven  Menschen  inhaltsleer, 
womit  wieder  der  ohnehin  herrschende  Fatalis- 
mus gesteigert  und  die  geringe  Willenskraft  noch 
mehr  herabgesetzt  wird.  Die  Zerstörung  der  alt- 
hergebrachten gesellschaftlichen  Einrichtungen  und 
der  Religion  der  Melanesier ,  die  europäischen 
Verwaltungsbeamten  und  Missionaren  gewöhnlich 
unverständhch  sind,  hat  vielleicht  mehr  zum 
Untergang  dieser  Menschen  beigetragen,  als  irgend- 
eine andere  Ursache,  weil  infolge  davon  das  Inter- 
esse am  Leben  und  der  Wille  zum  Dasein  schwan- 
den. Dr  Rivers  warnt  in  seinem  Beitrag  über 
den  „psychologischen  Faktor"  eindringlich  davor, 
die  Bedeutung  der  seelischen  Einflüsse  des  Kultur- 
wandels zu  unterschätzen.  Er  schreibt  u.a.:  „Auf 
den  ersten  Blick  mag  die  Annahme  übertrieben 
erscheinen,  daß  ein  Faktor,  wie  der  Verlust  des 
Interesses  am  Leben,  jemals  zum  Aussterben  eines 
Volkes  führen  könnte,  aber  meine  Beobachtungen 
brachten  mich  zu  der  Folgerung,  daß  dieser  Ein- 
fluß so  groß  ist,  daß  er  kaum  überschätzt  wer- 
den kann.  .  .  .  Man  hört  oft  davon  sprechen ,  wie 
leicht  die  Eingeborenen  sterben.  Immer  wieder 
wird  erzählt,  daß  ein  Eingeborener,  der  gesund 
und  wohlauf  zu  sein  schien,  nach  einem  Tag  oder 
zwei  Tagen  augenscheinlich  leichter  Erkrankung 
seinen  Geist  aufgab,  ohne  daß  Anzeichen  wahr- 
nehmbar geworden  wären,  die  bei  uns  gewöhn- 
lich das  Nahen  des  Todes  anzeigen.  Ein  kranker 
Eingeborener  verliert  den  Mut  sofort.  Er  hat 
keinen  Wunsch  zu  leben  und  bekundet  vielleicht, 
daß  er  nun  sterben  werde,  ohne  daß  der  Be- 
obachter einen  Anlaß  dazu  merken  kann.  Die 
Sache  wird  leichter  verständlich,  wenn  man  er- 
wägt, mit  welcher  Leichtigkeit  die  Leute  durch 
Zauberei  oder  infolge  Verstoßes  gegen  religiöse 
oder  gesellschaftliche  Verbote  (Tabus)  sterben. 
Es  ist  erdrückendes  Beweismaterial  dafür  vorhan- 
den, daß  Menschen  wie  die  Melanesier  infolge  des 
Glaubens,  das  Opfer  feindlichen  Zaubers  zu  sein 
oder  bewußt  oder  unbewußt  gegen  ein  religiöses 
Verbot  verstoßen  zu  haben,  erkranken  und  im 
Verlauf  weniger  Stunden  oder  Tage  sterben. 
Wenn  Leute,  die  Interesse  am  Leben  haben  und 
nicht  zu  sterben  wünschen,  in  kurzer  Zeit  bloß 
infolge  eines  Glaubens  getötet  werden  können, 
wie  viel  leichter  ist  es  dann,  zu  begreifen,  daß 
sie  das  Opfer  eines  krankhaften  Einflusses  werden 
können,  der  auf  den  Körper  wie  auch  auf  den 
Geist  wirkt.  Die  weitgehende  Beeinflußbarkeit 
des  Körpers  durch  den  Geist  bei  Melanesiern  und 
anderen  tiefstehenden  Völkern  führt  dazu,  den 
Verlust  des  Lebensinteresses  als  vornehmlichste 
Ursache  ihres  Aussterbens  aufzufassen." 

Eine    starke  Lebenskraft    haben  die  Bewohner 
jener    melanesischen    Inseln    bewahrt,     die     noch 


nicht  von  Europäern  betreten  wurden ,  oder  wo 
dem  Eindringen  derselben  bisher  erfolgreich  wider- 
standen wurde,  aber  auch  die  Bewohner  der  In- 
seln, die  das  Christentum  nicht  nur  äußerlich  an- 
genommen haben,  was  darauf  zurückgelührt  wird, 
daß  der  neue  Glaube  den  Menschen  auch  neue 
Lebensinhalte  gebracht  hat. 

Von  Dr.  Rivers  aufgezeichnete  Stammbäume 
bringen  klar  zum  Ausdruck,  daß  neben  der  ver- 
mehrten Sterblichkeit  eine  verringerte  Geburten- 
häufigkeit an  dem  Aussterben  der  Melanesier 
schuld  trägt.  Auf  der  Eddystone-Insel,  wo  die 
ganze  Bevölkerung  in  Dr.  Rivers  Untersuchung 
einbezogen  werden  konnte,  betrug  die  relative 
Zahl  der  kinderlosen  Ehen  in  der  ersten  Gene- 
ration 19,4  "/o,  in  der  zweiten  46,1  "/„  und  in  der 
dritten  52,7  %.  Die  Ehen  mit  3  oder  mehr  Kin- 
dern betrugen  in  der  ersten  Generation  37,1  "/o 
der  Gesamtzahl,  in  der  zweiten  22,2  "j,,  und  in 
der  dritten  5,5  "/„ ,  wobei  in  der  zweiten  Gene- 
ration die  Kinderzahl  in  2,7  "/q  und  in  der  dritten 
in  9,1  "ii  der  Ehen  noch  zweifelhaft  ist.  Wäh- 
rend von  den  Kindern  der  ersten  Generation  nur 
6,4  'Vo  der  Knaben  und  4,5  "/^  der  Mädchen  jung 
starben,  waren  die  entsprechenden  Zahlen  für  die 
dritte  Generation  31,1  und  14,8  "/,,.  Ganz  ähn- 
liche Verhältnisse  wurden  auf  Vella  Lavella  auf- 
gedeckt. Auf  beiden  Inseln  bestehen  keine  der 
Einflüsse,  denen  das  Aussterben  der  Naturvölker 
gewöhnlich  zugeschrieben  wird.  Aber  „niemand 
könnte  lang  auf  Eddystone  sein,  ohne  zu  merken, 
wie  sehr  dem  Volk  das  Lebensinteresse  mangelt 
und  wie  jedes  Streben  geschwunden  ist.  Dieser 
Interessemangel  ist  größtenteils  auf  die  Unter- 
drückung der  Kopfjägerei  seitens  der  britischen 
Regierung  zurückzuführen.  Dieser  Brauch  bildete 
den  Mittelpunkt  einer  sozialen  und  religiösen  Ein- 
richtung, die  das  ganze  Leben  des  Volkes  be- 
herrschte", nämlich  des  Ahnenkults.  Auch  mit 
der  wirtschaftlichen  Tätigkeit  stand  die  Kopf- 
jägerei in  mancherlei  Beziehung,  sie  diente  als 
Anregung  zum  Schiffbau,  wie  auch  zum  Garten- 
bau und  der  Schweinezucht;  so  wie  sie  beseitigt 
war,  waren  auch  die  Antriebe  zu  diesen  Tätig- 
keiten geschwunden.  Die  Unlust  am  Leben  ver- 
anlaßt diese  Inselbewohner  zu  freiwilliger  Kinder- 
losigkeit, oft  auch  zur  Ehelosigkeit.  Rivers 
macht  Vorschläge,  die  bezwecken,  die  traditio- 
nellen Einrichtungen  und  Bräuche  der  Natur- 
völker, die  mit  unseren  Auffassungen  von  Mensch- 
lichkeit oder  Sittlichkeit  nicht  vereinbar  sind,  so 
zu  modifizieren,  daß  das  Anstößige  ausgemerzt 
wird,  ohne  damit  die  religiösen  und  sozialen 
Grundlagen  des  Lebens  der  Völker  selbst  zu  zer- 
stören. Ob  solche  Abänderungen  praktisch  mög- 
lich sind,  ist  aber  doch  sehr  fraglich.  Die  übrigen 
Aufsätze  des  Buches  enthalten  gleichfalls  man- 
cherlei Anregungen  betr.  die  Verhütung  des  Aus- 
sterbens von  Naturvölkern.  H.  Fehlinger. 


63i 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XXI.  Nr.  46 


Bücherbesprechungen. 


Hauser,  G.,  Die  Damaster-Coptolabrus- 
Gruppe  der  Gattung  Carabus.  Sonder- 
abdruck aus  „Zoologische  Jahrbücher".  Abt. 
f.  Systematik.  45.  Band.  1921.  Mit  lO  Tafeln 
in  Lichtdruck  u.  i  lithogr.  Tafel.  394  Seiten. 
140  M. 

Die  Arbeit  von  Haus  er  behandelt  wohl  eine 
der  schönsten  Gruppen  der  Laufkäfergattung 
Carabus,  denn  die  ansehnlichen  im  ostasiatischen 
Gebiete  beheimateten  Käfer  der  Coptolabrusgruppe 
zeichnen  sich  zum  großen  Teil  durch  wahrhaft 
blendende  Färbungen  und  prächtigen  Metallglanz 
aus.  Der  Verf.,  der  als  einer  der  besten  Kenner 
dieser  Abteilung  gelten  kann,  hat,  gestüzt  auf 
seine  langjährigen  Erfahrungen,  eine  monographi- 
sche Übersicht  über  die  hierhin  gehörenden  For- 
men gegeben  und  geht  in  dem  einleitenden  Teil 
auch  auf  verschiedene  Fragen  ein,  die  von  allge- 
meinerem Interesse  sind.  So  werden  in  bezug  auf  die 
hier  in  Rede  stehenden  Käferarten  die  Verschie- 
denheiten in  Form  und  Färbung,  Rückschlags- 
erscheinungen, die  Einwirkung  klimatischer  Be-, 
dingungen,  Nahrung  und  Vorkommen  der  be- 
treffenden Tiere,  die  Stellung  der  einzelnen  Arten 
zueinander  und  ähnliches  erörtert,  ebenso  wie  die 
Fassung  des  Artbegriffs,  die  Abgrenzung  der 
Varietäten  und  Aberrationen  behandelt  sind.  Das 
Alter  der  zur  Coptolabrusgruppe  gehörenden  For- 
men Ist  dem  Verfasser  zufolge  als  ein  ziemlich 
hohes  anzusehen,  er  glaubt  aus  bestimmten 
Gründen  annehmen  zu  können,  daß  ihre  Ent- 
stehung noch  vor  dem  Tertiär  stattgefunden 
haben  muß  und  wahrscheinlich  In  die  Trias- 
periode verlegt  werden  kann.  Der  umfangreiche 
spezielle  Teil  mit  seinen  sorgfältig  ausgearbeiteten 
analytischen  Tabellen  und  Kennzeichnungen  der 
einzelnen  Arten  Ist  vorwiegend  für  den  F"achento- 
mologen  von  Wichtigkeit.  R.  Heymons. 


Wissler,  Clark,  The  American  Indian.     An 
Introduction    to    the  Anthropology   of  the  New 
World.     XXI  u.   474  Seiten.     New  York   1922, 
Oxford  University  Press,  American  Branch. 
Die  Spezialliteratur  üter  die  Indianer  Amerikas 
ist   zwar   ungemein    reichhaltig,   aber    WIsslers 
Buch  ist    die    einzige  umfassende  Darstellung  des 
Gesamtgebietes  der  Ethnologie,  Urgeschichte  und 
Somatologie  der  einheimischen  Bevölkerung  beider 
Amerika.      Am    gründlichsten    erforscht    sind    die 
Indianer   der    Vereinigten    Staaten    und    Canadas, 
weshalb    sie    auch    In  weiterem  Umfange  berück- 
sichtigt werden  als  jene  Lateinamerikas.    Die  Ab- 


schnitte I  bis  13  betreuen  die  indianische  Eigen- 
kulten, die  in  scharfem  Gegensatz  zu  jener  der 
alten  Welt  steht.  Es  sei  nur  bemerkt,  daß  der 
indianischen  Wirtschaft  Pflug  und  Zugtiere  fremd 
sind,  die  Bodenbewirtschaftung  hatte  ausschließ- 
lich die  Form  des  Hackbaues.  Die  von  Asien 
einwandernden  Vorfahren  der  Indianer  brachten 
aus  Ihrer  Heimat  wohl  Elemente  primitiver  Kultur 
mit,  doch  die  Hochkulturen  der  Azteken  und 
Inka  sind  auf  amerikanischem  Boden  selbst  er- 
wachsen. Weitere  Abschnitte  behandeln  die  ur- 
geschlchtllche  Einteilung  der  indianischen  Kulturen, 
die  Zeitfolge  der  Kulturen  und  die  sprachliche 
Gliederung.  Der  Somatologie  ist  Kapitel  18  ge- 
widmet (S.  324 — 356),  in  dem  auch  die  Herkunft 
der  Indianer  und  ihre  Beziehungen  zu  den  Men- 
schen der  alten  Welt  In  scharfsinniger  Weise  er- 
örtert werden.  Dann  folgen  noch  Abschnitte  über 
die  Theorien  der  Kulturentwicklung  und  die  Be- 
sonderheiten der  indianischen  Kultur,  von  denen 
so  manches  Stück  zur  Bereicherung  unseres  eige- 
nen Kuhurbesitzes  gedient  hat.  Nicht  berück- 
sichtigt blieb  die  Kriegführung,  weil  über  sie  das 
lesende  Publikum  am  besten  unterrichtet  ist  und 
auch  weil  bereits  einige  ausführliche  Schriften 
über  diesen  Gegenstand  vorliegen  (Bau deller, 
Frie derlei).  Sehr  zum  Vorteil  gereicht  dem 
Buche  Übersichtlichkeit  sowie  klare  allgemein- 
verständliche Schreibweise.  H.  Fehlinger. 


Scherzer,    Hans,     Erd-     und     pflanzenge- 
schichtliche     Wanderungen      durchs 
Frankenland.      2.  Teil:    Die  Juralandschaft. 
I.  Bd.    Mit  zahlreichen  Profilen,  Naturaufnahmen 
und  einer  geologischen  Tabelle.     191   S.    Nürn- 
berg  1922,   Lorenz  Spindler. 
Dem  auf  S.  1 59  dieser  Zeitschrift  angezeigten 
Teil    des   Scherzerschen   Buches    Ist   jetzt    der 
I.  Band    des  2.  Teiles  gefolgt.     Er  behandelt  die 
„Fränkische  Alb"    und  zwar  von  den  Neumarkter 
Bergen    bis    zum    Staffelberg.     Auch    dieser  Band 
ist  wertvoll  wegen    der   zahlreichen    geologischen 
Profilaufnahmen,  der  Fossilien-  und  Pfianzenllsten. 
Da    die    Schriften    von    Gümbel,    Schlosser, 
Reuter    u.  a.,    die   sich    in   neuerer  Zeit  mit  der 
Geologie   des  Frankenjura    beschäftigt  haben,  nur 
schwer  zugänglich  sind,  ist  es  ein  großes  Verdienst 
des  Buches,  wenn  es  die  Ergebnisse  dieser  Forscher 
in  allgemein  verständlicher  Form  einem  größeren 
Leserkreis    zugänglich    macht.      Übrigens    enthält 
der   Band    wieder    eine  Anzahl    eigener   Beobach- 
tungen des  Verf.  besonders  auf  botanischem  Ge- 
biet. Marzell. 


Inhalt:  A.  Radovanovitch,  Mathematik  und  Wirklichkeit.  S.  625.  —  Einzelberichte;  A.  Padtberg,  Die  Wahrheit 
über  Behringers  Lithographia  Wirceburgensis.  S.  62S.  H.  Tiedje,  Gegen  die  „Pubertätsdrüse".  S.  029.  Rivers, 
.Aussterben  der  Naturvölker.  S.  630.  —  BUcberbesprecbungen:  G.  Haus  er,  Die  Damaster-Coptolabrus-Gruppe  der 
Gattung  Carabus.  S.  632.  Cl.  Wissler,  The  American  Indian.  S.  632.  H.  Scherzer,  Erd-  und  pflanzengeschicht- 
liehe   Wanderungen  durch   Frankenland.    S.  632. 

Manuskripte  und   Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  PStz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  2i.  Band: 
ganzen  Reihe  37.   band. 


Sonntag,  den  19.  November  1922. 


Nummer  47. 


Die  Vitülhj^pothese  Arthur  Meyers. '} 

Von   Dr.  Fritz  JUrgeo   Meyer,  Braunschweig. 


[Nachdruck  verboten.) 

Die  Frage  nach  der  Zusammensetzung  der 
lebenden  Substanz  hat  schon  die  Naturforscher 
des  Altertums  beschäftigt.  Hippokrates  z.B., 
der  berühmteste  Arzt  des  Altertums  —  er  wurde 
460  V.  Chr.  auf  der  Insel  Kos  geboren  und  starb 
377  zu  Larissa  in  Thessalien  — ,  stellte  sich  vor, 
daß  der  menschliche  Körper  aus  einem  Gemisch 
bestehe,  das  aus  Blut,  Schleim  und  Galle  in  be- 
stimmtem Verhältnis  zusammengesetzt  sei.  Die 
Alchymisten  des  Mittelalters  glaubten 
sogar,  dem  Geheimnis  der  lebenden  Substanz 
schon  so  weit  auf  der  Spur  zu  sein,  daß  sie  jeden 
Tag  hofften,  der  Homunculus,  das  ideale  Ziel 
ihrer  Forschungen,  könne  fertig  aus  einer  ihrer 
Retorten  hervorsteigen  und  ihnen  verkünden,  daß 
sie  selbst  gotlähnliche  Schöpfer  seien.  Dürfen 
wir  auf  diese  Leute  mit  Spott  zurückblicken? 
Keineswegs  I  Es  war  das  Bestreben  aus  der  da- 
maligen Zeit  geboren,  und  niemand  ahnte  die 
Schwierigkeiten  der  gestellten  Probleme,  jeder 
ging  mit  Feuereifer  und  heiligem  Ernst  an  d  i  e 
Arbeit,  die  uns  jetzt  lächerlich  erscheinen  mag. 
Und  haben  wir  uns  denn  überhaupt  von  der 
naiven  Auffassung  der  Alchymisten  schon  so  lange 
frei  gemacht?  Es  ist  doch  wohl  kein  wesent- 
licher Unterschied,  ob  ein  Alchymist  den  Homun- 
culus entstehen  lassen  will  oder  ein  Naturforscher 
des  19.  Jahrhunderts  lebende  Substanz  schaffen 
will.  Aber  eins  ist  allen  vorzuhalten :  sie  wußten 
nicht,  was  die  lebende  Substanz  ist,  wie  sie  sich 
zusammensetzt,  und  doch  sollte  sie  bei  ihren  Ver- 
suchen entstehen. 

Der  erste  Fortschritt,  der  aus  diesem  „alchy- 
mistischen  Stadium"  herausführte,  war  die  Ent- 
deckung Schleidens,  daß  sich  innerhalb  der 
Zellwandungen  außer  der  Zellflüssigkeit  noch 
„P  f  1  a  n  z  e  n  s  c  h  1  e  i  m"  oder  nach  der  Bezeichnung 
Mohls  „Protoplasma"  befinde.  Daß  dieses 
Protoplasma  der  wesentliche  Bestandteil  einer 
lebenden  Zelle  ist,  entdeckte  jedoch  erst  IVIax 
Schultze  in  den  60er  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts im  Anschluß  an  seine  Untersuchungen 
der  Rhizopoden. 

Und  auf  diesen  Grundlagen  baute  sich  dann 
die  weitere  Erforschung  der  lebenden  Substanzen 
auf.  Man  wußte  jetzt,  wo  die  chemische  Analyse 
einsetzen  mußte,  und  ging  eifrig  ans  Werk.  Je- 
doch ein  trübes  Mißgeschick  verfolgt  den  Che- 
miker, wenn  er  das  Plasma  untersuchen  will. 
Den  bitteren  Spott  des  Mephistopheles  muß  er 
sich  gefallen  lassen: 


Mit   14  Abbildungen. 

,,Wer  will  was  Lebendig's  erkennen  und  beschreiben, 

Sucht  erst  den   Geist  heraus   zu  treiben, 

Dann   hat  er  die   Teile  in  seiner  Hand, 

Fehlt  leider  nur  das  geistige   Band. 

Eiicheiresin  naturae  nennt's  die   Chemie, 

Spottet  ihrer  selbst  und   weiß  nicht  wie." 

Aber  daran  läßt  sich  einstweilen  leider  nichts 
ändern;  wir  müssen  mit  dem  zufrieden  sein,  was 
uns  die  chemische  Analyse  und  die  mikrochemi- 
schen Reaktionen  ermöglichen.  Und  was  ist  das? 
Zwei  Zitate  aus  neuesten  Lehrbüchern  mögen 
uns  Auskunft  geben.  Das  Bonner  Lehrbuch 
der  Botanik  enthält  in  der  Auflage  von  1917 
die  Angabe:  „Die  Teile  des  Protoplasten  sind 
nicht  ein  einheitlicher  chemischer  Körper,  sondern 
bestehen  aus  einem  Gemische  einer  großen  Zahl 
chemischer  Verbindungen.  .  .  .  Die  wichtigsten 
Bestandteile  in  diesem  Gemische  sind  die  Eiweiß- 
körper. . .  .  Und  zwar  ist  in  dem  lebenden  Plasma 
eine  ganze  Reihe  von  Eiweißkörpern  aufgefunden 
worden.  .  .  .  Außerdem  enthält  das  Protoplasma 
wohl  stets  Spaltungsprodukte  der  Eiweiße,  vor 
allem  Amide;  außerdem  Enzyme,  Kohlehydrate 
und  in  feiner  Emulsion  Lipoide,  wie  Fette,  Lezi- 
thine  und  Phytosterine;  ferner  unter  Umständen 
Alkaloide,  Glykoside.  Daß  auch  Mineralstoffe  im 
Protoplasma  jiicht  völlig  fehlen,  geht  daraus  her- 
vor, daß  es  Asche  hinterläßt."  Es  wird  hier  aus- 
drücklich gesagt:  „in  dem  lebenden  Plasma",  in 
der  Tat  handelt  es  sich  aber  nur  um  getötetes 
Plasma.  Ein  zweites  Zitat  möchte  ich  aus  der 
zoologischen  Literatur  anfügen,  aus  dem  erst  1919 
erschienenen  „Grundriß  der  Zoologie"  von 
Steche:  „Zwar  kennen  wir  auch  jetzt  noch  nicht 
den  Aufbau  der  lebenden  Substanz,  wir  sind  aber 
in  der  Lage,  darüber  einige  wichtige  Aussagen 
zu  machen.  Die  erste  lautet  dahin,  daß  das  Ma- 
terial, an  dem  sich  die  Lebensprozesse  abspielen, 
sich  aus  den  gleichen  chemischen  Elementen 
aufbaut,  wie  die  uns  umgebende,  sog.  unbelebte, 
anorganische  Natur.  Ein  Unterschied  liegt  nur 
in  der  Komplikation  der  Zusammensetzung  der 
Verbindungen  in  den  Organismen.  Die  zweite, 
noch  wichtigere  Feststellung  ist  die,  daß  die  Vor- 


')  Nach  einem  1921  in  der  botanisch- zoologischen  Ab- 
teilung des  Vereins  für  Naturwissenschaft  in  Braunschweig 
von  mir  gehaltenen  Vortrage  gestatte  ich  mir,  die  nachfolgende 
Darstellung  der  Vitülhypothese  meines  leider  jüngst  inmitten 
seiner  wissenschaftlichen  Tätigkeit  verstorbenen,  hochverehrten 
Lehrers  weiteren  Kreisen  darzubieten.  Die  Hypothese  war 
bisher  nur  in  A.  Meyers  „Morphol.  u.  physiol.  Analyse  der 
Zelle"  (Fischer,  Jena  1920)  veröffentlicht.  Die  hier  beigefüg- 
ten Abbildungen  entstammen  diesem  Werke, 


634 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


gänge  im  lebenden  Organismus,  soweit  sie  bisher 
analysiert  sind,  den  gleichen  physikalischen  und 
chemischen  Gesetzen  gehorchen,  wie  die  anorga- 
nische Welt.  Im  besonderen  gelten  auch  hier  die 
Gesetze  von  der  Konstanz  der  Materie  und  der 
Energie,  die  Gesetze  der  Thermodynamik  usw. 
Man  kann  also  auf  den  Gebieten,  welche  physi- 
kalischer und  chemischer  Untersuchung  zugänglich 
sind,  keinen  qualitativen,  sondern  nur  einen  quanti- 
tativen Unterschied  der  organischen  von  der  an- 
organischen Welt  feststellen."  An  anderer  Stelle 
sagt  Steche  dann  noch:  „Zusammenfassend 
können  wir  also  das  Protoplasma  definieren  als 
eine  Substanz  von  sehr  komplizierter  Zusammen- 
setzung aus  labilen  organischen  Verbindungen  in 
kolloider  Lösung." 

Überblicken  wir  solche  Auseinandersetzungen, 
so  sehen  wir,  daß  also  die  Annahme  vom  leben- 
den Eiweiß  gewissermaßen  zum  Dogma')  ge- 
worden ist;  jeder  glaubt  es,  und  keiner  hat  es 
bewiesen,  keiner  wohl  überhaupt  daran  gedacht, 
daß  der  Satz  noch  eines  Beweises  bedürfe. 

Da  trat  im  Winter  1914/15  Arthur  Meyer 
in  einer  Sitzung  der  Marburger  Geseilschaft  zur 
Förderung  der  gesamten  Naturwissenschaften  mit 
der  Hypothese  auf:  „Die  in  den  Zellen  vorkom- 
menden Eiweißkörper  sind  stets  ergastische  Stoffe." 
Als  ergastisch  bezeichnet  Arthur  Meyer  die- 
jenigen Stoffe  utid  Gebilde  in  einer  Zelle,  welche 
nicht  zur  Substanz  eines  Organs  der  Zelle,  also 
des  Zytoplasmas,  des  Zellkerns  oder  der  Chloro- 
plasten  gehören,  sondern  von  der  Zelle  erarbeitet 
sind  und  neu  entstehen  können;  sie  sind  entweder 
Einschlüsse  oder  Ausscheidungen  des  Protoplasten, 
und  eine  Konsequenz  dieser  Tatsachen  ist,  daß 
sie  im  Gegensatz  zu  dem  Protoplasten  tot  sind. 
Die  obige  These  sagt  also  aus :  AlleEiweiß- 
körpersindtotl  , 

JVlit  dieser  Behauptung,  die  so  vollkommen 
dem  allgemein  stillschweigend  Anerkannten  wider- 
sprach, stieß  Arthur  Meyer  selbstverständlich 
vielerseits  auf  harten  Widerstand;  jedoch 
konnte  er  immerhin  zeigen,  daß  seine  zwar  auch 
nicht, sicher  bewiesene  Hypothese  viel  besser 
gestützt  ist  als  die  Hypothese,  daß  sich  die 
Moleküle  der  Eiweißkörper  am  Aufbau  der  leben- 
den Substanz  selbst  beteiligen,  wofür  überhaupt 
nicht  die  geringsten  Beweise  vorliegen. 

Aber  woran  läßt  sich  denn  erkennen,  ob  ein 
Stoff  ergastisch  ist  oder  zum  lebenden  Proto- 
plasten gehört?  Arthur  Meyer  stellt  dafür 
folgende  Kriterien  auf: 

I.  ist  der  Beweis  für  die  ergastische  Natur 
eines  Stoffes  erbracht,   wenn   er  in  einem  Organ 

')  Daß  ich  mit  diesem  Ausdruck  keineswegs  zuviel  gesagt 
habe,  beweist  ein  Satz  in  einem  erst  vor  einigen  Wochen  er- 
schienenen Buche  von  Prof.  K.  W.  F  r  ö  h  1  i  c  h  (Bonn) :  ,, Grund- 
züge der  Physiologie".  Der  Verf.  schreibt:  ,,Es  ist  ein  Satz 
von  grundle<.'ender  Bedeutung,  dafi  die  lebende  Substanz  aus 
den  gleichen  chemischen  Elementen  aufgebaut  ist  wie  die  leb- 
lose Natur...."  Und  später:  „....die  wichtigsten  Baustoffe 
der  lebenden  Substanz,  nämlich  die  Eiweiflkörper, Kohle- 
hydrate und  Fette.  .  .  ." 


einer  Zelle,    in    dem    er    zuvor  völlig  gefehlt  hat, 
neu  auftritt, 

2.  wenn  er  in  einem  oder  mehreren  nachein- 
ander angewandten  Reagentien,  welche  erfahrungs- 
gemäß Organsubstanz  nicht  zu  lösen  vermögen, 
völlig  löslich  ist  (Osmiumsäurelösung,  Äther, 
Alkohol  usw.), 

3.  wenn  er  nachweislich  nur  aus  chemi- 
schen Substanzen  besteht,  wobei  es  freilich 
leicht  unsicher  bleibt,  ob  wir  die  Analyse  völlig 
durchführen  können,  und 

4.  wenn  sich  zeigen  läßt,  daß  er  kristalli- 
siert, denn  Kristalle  sind  stets  nur  aus  Mole- 
külen chemischer  Substanzen  aufgebaut. 

Die  so  charakterisierten  ergastischen  Stoffe 
können  in  den  Organen,  in  denen  sie  enthalten 
sind,  gelöst  sein  (ergastische  Organstoffe) 
oder  sie  treten  in  Gestalt  von  besonderen  er- 
gastischen Gebilden  auf;  solche  Gebilde 
können  innerhalb  der  Zelle  geteilt  werden,  sich 
bewegen  und  sich  chemisch  und  iarberisch  ver- 
ändern. 

Und  nun  können  wir  an  die  Frage  herangehen, 
ob  tatsächlich  alles  Eiweiß  ergastisch  ist.  Zu- 
nächst sei  darauf  hingewiesen,  daß  nach  Angaben 
von  Sachs  über  Parenchymzellen  (1862)  und  von 
Sosnowski  über  Paramäcium  (1900)  Ei  weiß - 
körper  in  der  lebenden  Substanz  unter 
Umständen  fehlen  können,  Angaben,  wel- 
che Arthur  Meyer  übrigens  nur  mit  Vorbehalt 
zitiert.  Zuverlässiger  spricht  gegen  das  Dogma 
vom  lebenden  Eiweiß  die  Tatsache,  daß  von 
Wasser  durchtränkte  Sporen  von  Bacillus  sub- 
tilis  bei  80"  75  Stunden,  bei  loo"  3  Stunden 
und  bei  iio"  über  eine  halbe  Stunde  leben 
können;  das  wäre  ja  doch  nicht  möglich,  wenn 
Eiweiß  am  Aufbau  der  lebenden  Substanz  be- 
teiligt wäre,  da  dann  die  Tötung  des  Plasmas  in 
ähnlicher  Weise  von  der  Temperatur  abhängig 
sein  müßte  wie  die  Koagulation  der  Eiweiß- 
körper.') Dies  sei  vorausgeschickt,  um  zu  zeigen, 
daß  der  Versuch,  die  ergastische  Natur  aller  Ei- 
weißkörper nachzuweisen,  nichts  Absurdes  ist. 

Eiweißkörper  können  in  den  pflanzlichen  und 
tierischen  Zellen  in  verschiedener  Form  vorkommen, 
zunächst  als  Kristalle.  Diese  sind  nach  den 
zitierten  Kriterien  selbstverständlich  ergastisch. 
Außerdem  ist  aber  auch  die  Kristallisation 
von  einigen  andeien  Eiweißkörpern  gelungen,  so 
von  verschiedenen  Albuminen  und  Globulinen, 
sowie  Hämoglobinen. 

Um  die  'ergastische  Natur  der  in  den  Zellen 
auftretenden  Eiweißkristalle  noch  besonders  zu 
bestätigen,  hat  Arthur  Meyer  die  Sprosse 
von  Phyllocactus  phyllanthoides  genau 
untersucht,  ferner  die  Fruchtknotenepider- 
mis  vonCampanula  trachelium.  Es  zeigte 
sich,  daß  die  Eiweißkristalle   des  Protoplasten   in 

')  Anra.  d.  Red.  Ob  die  in  Wasser  suspendierten  Sporen 
des  HeubaziUus  wirklich  „von  Wasser  durchtränkt"  sind,  ist 
fraglich,  weshalb  dies  Argument  keine  volle  Beweiskraft  be- 
anspruchen kann. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


63s 


der  gleichen  Weise  wie  andere  Eiweißkristalle 
wachsen  und  von  den  Zellen  auch  restlos  wieder 
gelöst  werden  können.  Es  handelt  sich  somit 
also  tatsächlich  um  ergastische  Gebilde,  und  zwar 
Gebrauchsgebilde,  die  bei  Überfluß  an  Nährstoffen 
abgelagert  werden,  bei  eintretendem  Nährstoff- 
mangel jedoch  wieder  gelöst  und  zum  Wachstum 


^s::^^ 


teilchen,  „welches  mit  unbewaffnetem  Auge  nicht, 
wohl  aber  mit  dem  Mikroskope  erkannt  werden 
kann,  also  größer  als  0,09  Mikromillimeter  ist". 
Die  Allinante  sind  „nichtkristallinische,  weiche 
ergastische  Eiweißante  des  Zytoplasmas,  welche 
aus  Eiweißkörpern  bestimmter  chemischer  Reak- 
tion, aus  Allin,  bestehen".     Die  Allinante  sind  in 


Abb.    I.      Von    Gürber    herge- 
stellte große  Kristalle  des  Serum- 
albumins.     100  fach  vergr. 


Abb.   2  u.  3.      Epidermiszellen    des    Kladodiums    von   Fhyllo- 

caclus  phyllanthoides  mit  einem   Eiweißkristall  (g)  und  einem 

Nadelbüschel  aus  Eiweißkristallen. 


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Abb.  4.     Zellkerne  aus  der  Fruchtknotenepidermis    von  Cam-       Abb.  5.     Allinante    und    Leukoplasten    aus    den    Parenchym- 
panula    Irachelium    mit    Eiweißkristallen;    a— e  lebend,    f  mit       Zeilen  der  Zwiebelscbuppen  von  Allium  cepa.      Gefärbt    nach 
Pepsin    hehnndplt       000  farh    verer.  Mewcs.      2000  fach   vergr. 


Abb.  6.     Allinante    und  ein  Chloroplast   von  Mesembryanthe- 
mum  linguiforme,  lebend.     2 100 fach  vergr. 

und  zur  Arbeit  der  Zelle  verbraucht  werden 
können.  (Derartige  Eiweißkristalle  kommen  in 
allen  Organen  der  Zellen  vor,  im  Zytoplasma,  im 
Kern  und  in  den  Chloroplasten.) 

Die  zweite  wichtige  Gruppe  von  Eiweißkörpern 
in  lebenden  Zellen  sind  die  „Allinante".  Unter 
einem  „Ant"  versteht  A  r  t  h  u  r  Meyer  ein  Massen- 


-^' 


:iia 


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Abb.   7.      Teil    einer    Assimilationszellc    des  Protonemas    von 

Polytrirhum     commune    mit     Kern    (mit    großem    Nukleolus), 

Stärkekornhaitigen  Chloroplasten    und    stäbchenförmigen    und 

rundlichen  AUinanten,  mit  Jod-Osmiumsäure  behandelt. 

2000 fach   vergr. 

der  Regel  sehr  kleine  Gebilde;  die  größten  bisher 
beobachteten  sind  stäbchenförmige  Ante  von  i6jtt 


636 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Länge.  Wie  sich  z.  B.  an  den  durch  schwache 
Plasmaströmungen  verursachten  Krümmungen  der 
stabförmigen  Allinante  von  Allium  cepa  erkennen 
läßt,  sind  sie  weiche,  plastische  Massen. 
Daß  sie  tatsächlich  ergastischer  Natur 
sind,  erhellt  aus  den  Untersuchungen  Scherrers 
an  dem  Lebermoose  Anthoceros.  Dort  sind 
nämlich  die  Allinante  in  der  Scheitelzelle  des 
Thallus  nicht  vorhanden,  jedoch  treten  sie  dort, 
wo  die  Grenzen  der  Scheitelzellen  sich  verwischen, 
neu  auf.  Ebenso  sind  die  Sporenmutterzellen  von 
Anthoceros  frei  von  Allinanten. 

Für  die  Annahme,  daß  die  Allinante  Reserve- 
stoffe sind,  sprechen  eine  Reihe  von  Tatsachen. 
Zunächst  treten  sie  besonders  an  solchen  Stellen 
in  den  pflanzlichen  Geweben  auf,  wo  man  die 
Ansammlung  von  Reservestoffen  erwarten  kann ; 
ferner  ist  ihr  Vorkommen  im  Pflanzenreich  dort 
festgestellt,  wogewisse  andere  Reservestoffe  fehlen; 
z.  B.  Allin  und  Volutin  schließen  sich  gegenseitig 
aus,  auch  pyrenoidführende  Algen  sind  frei  von 
Allinanten.  Wenn  dagegen  eine  Abnahme  des 
Allins  in  verdunkelten  Blättern  nicht  erzielt 
werden  konnte,  so  liegt  das  wohl  daran,  daß  Ei; 
weiß  in  hungernden  Blättern  überhaupt  lange 
Zeit  unberührt  bleibt.  Bei  Polygonatum  latifolium 
ließ  sich  im  Gegensatz  zu  dieser  Tatsache  im 
Ende  des  austreibenden  Rhizoms  eine  deutliche 
Abnahme  des  Allins  feststellen. 

In  der  älteren  Literatur  sind  die  Allinante  all- 
gemein alsChondriosomen  undMitochon- 
drien  bezeichnet.  Es  ist  diesen  Chondriosomen 
auch  die  Fähigkeit  zugeschrieben,  sich  durch  Tei- 
lung zu  vermehren  und  sich  in  andere  Gebilde, 
insbesondere  in  Chromalophoren  umzugestalten. 
Beides  entspricht  jedoch  nicht  den  Tatsachen  und 
ist  in  Wirklichkeit  auch  von  niemandem  beob- 
achtet. Vielmehr  sind  die  Miiochondrien  und 
Chondriosomen  stets  Allinante  oder  kleine  Va- 
kuolen oder  kleine  Chromatophoren  gewesen. 
Und  so  erklärt  sich  auch  eine  Reihe  verschiedenster 
Angaben,  wie  z  B.  die,  daß  iVlitochondrien  Stärke 
bilden  und  ergrünen  können,  andererseits,  daß  in 
ihnen  Anthozyan  entstehen  könne. 

Die  Mitochondrien  der  tierischen 
Zellen  sind  von  Arthur  Meyer  zwar  nicht 
selbst  untersucht,  aber  auf  Grund  der  kritischen 
Durchsicht  der  diesbezüglichen  Literatur  schließt 
er:  „Die  Eigenschaften  der  von  Benda,  Meves 
und  Duesbcrg  zu  den  Chondriosomen  gestellten 
Gebilde  der  tierischen  Zelle  stehen  nicht  im  Wider- 
spruch mit  der  Annahme,  daß  Allinante  und 
Chondriosomen  analoge  Gebilde  seien."  Das 
heißt  also:  Auch  die  tierischen  Chondriosomen 
sind  orgastisch. 

Die  orgastische  Natur  Aleuronkörner,  die 
ja  auch  beträchtliche  Massen  von  Eiweißkörpern 
repräsentieren,  ist  zur  Genüge  dadurch  bewiesen, 
daß  die  Aleuronkörner  aus  Zellsafitropfen  ent- 
stehen und  bei  der  Samenkeimung  wieder  auf- 
gelö.st  werden. 

Der  nächste  Eiweißkörper,  dem  in  dem  Arthur 


Meyerschen  Buche  eine  besondere  Behandlung  zu- 
teil geworden  ist,  ist  das  Volutin,  das  vor  allem 
im  Zytoplasma,  aber  auch  in  den  Chromatophoren 
gewisser  Pflanzengruppen  vorkommt.  Es  findet 
sich  bei  wahrscheinlich  allen  Pilzklassen,  bei  Cyano- 
phyceen,  Euglenen,  Diatomeen  und  manchenChloro- 
phyceen,  Phaeophyceen  und  Rhodophyceen.  Auch 
im  Tierreich  ist  es  gefunden,  beispielsweise  bei 
Protozoen  und  einigen  Säugetieren. 


Abb.  8.  Vier  im  Zytoplasma  des  Endosperms  liegende 
Aleuronkörner  von  Ricinus  communis,  nach  Hehandlung  mit 
absolutem  Alkohol,  Wasser,  Osmiumsäure,  Methylviolett.  Die 
Aleuronkörner  sind  durchsichtig  geworden,  die  Öltröpfchen 
des  Zyioplasmas  sind   herausgelöst. 

Daß  die  Volutinante  orgastische  Gebilde 
sind,  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  sie  in 
zuvor  freien  Zellen  neu  entstehen  können, 
während  gewisser  Entwicklungsvorgänge  (wie  der 
Sporenbildung)  aber  wieder  gelöst  werden. 

Schließlich  die  letzten  wichtigen  Eiweißante 
der  Zeilen  sind  die  Nukleolen  der  Zellkerne 
(Abb.  7  u.  9).  Nukleolen  kommen  wohl  in  allen 
Pflanzenspezies  vor,   auch    in    allen  Zellarten,    ab- 


Abb.  9.     Kerne  mit  großen  Nukleolen  aus  dem  jungen  Zentral- 
zylinder der   Wurzel  von  Galtonia  candicans. 

gesehen  von  den  männlichen  Geschlechtszellen, 
wofern  solche  überhaupt  in  der  betreffenden  Spe- 
zies differenziert  sind.  Da  die  Nukleolen  Reserve- 
stoffe sind,  so  ist  dies  nicht  verwunderlich :  denn 
allgemein  werden  in  den  Eizellen  soviel  Reserve- 
stofife  aufgespeichert,    daß    die   männlichen  Zellen 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


637 


reservestofffrei  bleiben  können.  Die  Nukleolen 
treten  in  den  einzelnen  Kernen  in  verschiedener 
Anzahl  auf,  gewöhnlich  sind  es  I — 3,  zuweilen 
auch  mehr,  so  bei  Lilium  Martagon  bis  30 ;  ihre 
Größe  schwankt  von  der  unteren  Grenze  der 
Sichtbarkeit  bis  zu  5  //.  Daß  sie  mehr  oder 
weniger  zähflüssig  sind,  geht  daraus  hervor, 
daß  -sie  sich  beim  Durchwandern  der  Sterigmen 
der  Basidiomyzeten  stark  deformieren. 

Daß  die  Nukleolen  rein  ergaslische  Ge- 
bilde sind,  wird  jetzt  wohl  allgemein  angenom- 
men; schon  1891  hat  Korscheit  diese  Auf- 
fassung einmal  ausgesprochen ,  und  die  neueren 
Untersuchungen  von  ArthurMeyerundKiehn 
haben  die  Richtigkeit  der  Annahme  bestätigt. 
In  der  Tat  sind  die  Nukleolen  rein  ergastische 
Gebilde,  die  im  Zellkern  völlig  neu  gebildet  und 
vollständig  gelöst  werden  können.  Sie  bestehen 
aus  Eiweißstoffen,  welchen  unter  den  makro- 
chemisch bekannten  Eiweißstoffen  die  Nukleo- 
proteide  mikrochemisch  am  meisten  gleichen. 
Es  ist  wahrscheinlich ,  daß  die  Eiweißstoffe  der 
verschiedenen  Nukleolen  einer  chemischen  Gruppe 
angehören,  wenn  sie  auch  wohl  unter  sich  so  ver- 
schieden sein  können  wie  die  Globoide  der  ver- 
schiedenen Samen.  Einstweilen  müssen  sie  als 
Kernkörpereiweiße  bezeichnet  werden. 

Die  Versuche,  welche  bestätigten,  daß  die 
Nukleolen  ergastisch  sind  und  zwar  Reservestoffe, 
waren  teils  Hungerversuche,  teils  handelte  es  sich 
um  die  Untersuchung  der  verschiedenen  Organe 
und  Gewebe  während  der  normalen  Entwicklung. 
Bemerkenswert  ist,  daß  an  Kiehns  Versuchs- 
pflanze Galtonia  große  Nukleolen  dort  auftreten, 
wo  keine  oder  nur  kleine  Eiweißkristalie  vor- 
kommen, und  umgekehrt.  Die  frühzeitige  Auf- 
lösung der  Nukleolen  und  Eiweißkristalle  bei  der 
Kernteilung  i>t  vielleicht  —  abgesehen  davon,  daß 
die  Stoffe  wohl  zum  Teil  bei  der  Kernteilung 
verbraucht  werden  —  vorteilhaft,  weil  beide  Ge- 
bilde wohl  bei  der  Ausbildung  und  Bewegung 
der  Kernteilungsfigur  stören.  Im  übrigen  scheint 
es,  als  ob  das  Kernkörpereiweiß  vorzüglich  auch 
beim  Wachstum  des  ganzen  Proioplasten  ver- 
wendet wird. 

Gegen  diese  Auffassungen  sagen  die  für  die 
tierischen  Zellen  bekannten  Tatsachen  nichts 
aus,  im  Gegenteil,  einige  können  sogar  als  be- 
sondere Stützen  herangezogen  werden.  So  sind 
analog  den  an  Pflanzen  ausgeführten  auch  an 
Tieren  Hungerversuche  angestellt;  und  in  beson- 
deren Zellarten  sind  besonders  große  Nukleolen 
gefunden,  die  offenbar  als  Reservestoffe  zu  be- 
trachten sind,  z.  B.  Eizellen. 

Hiermit  wäre  nunmehr  die  Reihe  orgastischen 
Eiweißante  erschöpft;  es  findet  sich  jedoch  außer- 
dem in  dem  Protoplasten  noch  eine  beträchtliche 
Menge  von  Eiweißstoffen  in  amikrosko- 
pisch feiner  Verteilung.  Diese  Stoffe  könn- 
ten ja  nun  am  Aufbau  der  lebenden  Substanz 
beteiligt  sein!  Wir  wollen  sehen,  wie  sich  Arthur 
Meyer  zu  dieser  Frage  stellt. 


„Es  läßt  sich  nun  in  der  Tat  zeigen,  daß  die 
zur  Gewohnheit  gewordene  Anschauung,  die 
Eiweißkörper  dienten  für  den  Aufbau  der  ver- 
erbbaren Struktur  der  Zelle,  irgendwelche  Beweise 
nicht  vorliegen,  und  daß  es  sogar  viel  wahrschein- 
licher ist,  daß  die  Eiweißkörper  keine  Bausteine 
der  lebenden  Substanz  sind,  sondern  ausschließlich 
ergastische  Stoffe.  Die  kritische  Durchsicht  der 
rnakrochemischen  Untersuchungen  über  die  Zusam- 
mensetzung der  Organe  des  Protoplasten  . . .  zeigt 
uns,  daß  die  Arbeiten  keinen  Beweis  für  die  Be- 
teiligung der  Eiweißkörper  am  Aufbau  der  leben- 
digen Substanz  enthalten.  Ferner  zeigt  die  kriti- 
sche Durchsicht  der  chemischen  Arbeiten,  daß 
die  von  den  Chemikern  aus  pflanzlichen  und  tieri- 
schen Zellen  gewonnenen  Eiweißkörper  sicher  zum 
allergrößten  Teil  von  ergastischen  Gebilden  der 
Zellen  stammen,  und  daß  es  in  ganz  wenigen 
Fällen  zweifelhaft  bleibt,  ob  es  so  ist  oder  nicht." 

Besondere  Schwierigkeiten  macht  die  Erledi- 
gung dieser  Frage  bei  den  Nukleoproteiden. 
Die  Meinung,  daß  die  Nukleinsäure  zu  den  wich- 
tigsten Bausteinen  der  Substanz  des  lebenden 
Zellkernes  gehört,  ist  verbreitet.  Kos  sei  z.  B. 
schreibt,  daß  die  Nukleinsäure  nur  in  dem  Zell- 
kern vorkomme  und  ihn  besonders  charakterisiere. 
Diese  Angaben  sind  jedoch  nicht  richtig.  Nuklein- 
säure scheint  sich  auch  im  Zytoplasma  und  in 
ergastischen  Gebilden  zu  finden.  So  z.  B.  scheint 
das  im  Plasma  vorkommende,  in  den  Zellkernen 
dagegen  fehlende  Volutin  eine  Nukleinsäureverbin- 
dung  zu  sein.  Andererseits  hält  Arthur  Meyer 
es  für  ausgeschlossen,  daß  eine  einzelne  chemische 
Verbindung,  die  so  massenhaft  vorkommt  wie  die 
Nukleinsäure,  die  so  überaus  kompliziert  gebaute 
Zelimaschine  aufzubauen  imstande  sei.  Daß  die 
Nukleoproieide  ergastische  Substanzen  sind,  dafür 
spricht  auch  das,  was  wir  von  der  Verteilung 
der  wichtigsten  Reservestoffe  in  den  Organen  der 
Zelle    wissen:    Im    Zytoplasma   sind    stets   Kohle- 


Abb.    10.     Kern  aus  dem  Ei  einer  Patella-Spezies  mit  Nukleolen. 

hydrate,  meist  auch  F"ette  enthalten,  in  den  Chro- 
matophoren  Kohlehydrate  und  Eiweiß.  Den  Ker- 
nen fehlen  dagegen  Fette  und  Kohlehydrate,  nur 
Eiweißkristalle  kommen  hier  und  da  als  ergastische 
Gebilde  vor.  Da  ist  doch  nun  nichts  wahrschein- 
licher, als  daß  die  Nukleoproteide  die  ergastischen 


638 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.   47 


Substanzen  sind,  welche  eine  ähnliche  Rolle  in 
den  Kernen  spielen,  wie  die  Fette  und  Kohle- 
hydrate in  den  übrigen  Organen  der  Zelle.  Ferner 
sind  die  Nukleinsäureverbindungen  in  wachsenden 
Organen  in  größeren  IVIengen  vorhanden.  Es  ist 
nun  aber  nicht  nötig,  daß  die  Nukleinverbindungen 
erheblich  angegriffen  werden,  wenn  ein  Organis- 
mus hungert.  Man  kann  zwar  aus  dem  schnellen 
Verschwinden  einer  Substanz  im  Hungerzustande 
schließen,  daß  sie  ein  Reservestoff  ist,  aber  nicht 
aus  dem  langsamen  Verbrauch ,  daß  sie  kein  Re- 
servestoff ist;  denn  sie  könnte  ja  etwa  für  den 
Betrieb  der  nicht  wachsenden  Zelle  unwichtig  sein 
und  nur  für  den  Aufbau  neuer  Organe  des  Proto- 
plasten gebraucht  werden.  Wichtig  ist  schließ- 
lich auch  noch,  daß  Fälle  bekannt  sind,  in  denen 
den  Chromosomen  des  Zellkernes  Nuklein?äure 
fehlt.  Insgesamt  dürfen  wir  also  wohl  annehmen, 
daß  für  die  Ansicht,  die  Nukleinsäureverbindungen 
seien  am  Aufbau  der  lebenden  Substanz  beteiligt, 
nicht  der  geringste  Beweis  vorliegt,  daß  aber  die 
Wahrscheinlichkeit  sehr  groß  ist,  daß  die  Nuklein- 
säureverbindungen ergastische  Substanzen  sind. 

Überblicken  wir  das  Gesagte  nochmals,  so 
dürfen  wir  nunmehr  wohl  mit  einigem  Rechte 
sagen,  daß  alle  Eiweißkörper  ergastisch 
sind.  Arthur  iVIeyer  nennt  daher  die  im 
Plasma  gelösten  Verbindungen  ergastische  Organ- 
stoffe. 

Es  könnten  hiergegen  zwar  noch  immer  Ein- 
wendungen gemacht  werden.  Jedoch  ich  erinnere 
zunächst  an  die  schon  erwähnte  Widerstands - 
fähigkeit  der  lebenden  Substanz  in 
Bakteriensporen  gegen  hohe  Temperaturen. 

Es  könnte  auch  die  Tatsache,  daß  bei  sero- 
logischen Untersuchungen  die  Gleichheit, 
Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  der  in  den  Spe- 
zies enthaltenen  Eiweißkörper  den  Grad  der  mor- 
phologischen Verwandtschaft  der  Spezies  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  wiederspiegelt,  als  Gegen- 
beweis herangezogen  werden.  Jedoch  haben  auch 
die  sicher  ergastischen  Stoffe  der  ergastischen  Ge- 
bilde (wie  der  Aleuronkörner)  ganz  den  gleichen 
verwandtschaftsdiagnostischen  Wert. 

Merkwürdig  ist  auch,  daß  die  Pflanze  die 
Moleküle  des  Sameneiweißes  bei  der 
Keimung  der  Samen  stets  sehr  weitgehend 
zerspaltet,  viel  weitgehender,  als  es  zum  Zweck 
der  Wanderung  nötig  ist.  Vielleicht  geschieht 
dies  wegen  des  damit  verbundenen  Energie- 
gewinnes. 

Schließlich  ließe  sich  gegen  die  Arthur  Meyer- 
sche  Hypothese  noch  einwenden,  daß  in  aus- 
gehungerten Geweben  auch  nach  dem  Tode 
noch  Eiweiß  vorkommt.  Da  aber  durch  den  At- 
mungsprozeß zuerst  die  Kohlehydrate  verzehrt 
werden  und  erst  zuletzt  die  Eiweißkörper,  so  ist 
es  selbstverständlich,  daß  einzelne  Zellen  der  Ge- 
webe aus  Mangel  an  Reserven  zugrunde  gehen 
und  den  Tod  der  Gewebe  bedingen,  ehe  alles 
Eiweiß  der  Gewebe  aufgezehrt  ist. 

Um    ein   genaueres   Bild   von   diesen  Verhält- 


nissen zu  geben,  sei  es  mir  gestattet,  einige 
zahlenmäßige  Angaben  über  die  Größe  des  Kerns, 
der  Chromatophoren  und  des  Zytoplasmas  in  den 
Palisadenzellen  von  Tropaeolum  malus 
die  ich  seinerzeit  für  Arthur  Meyer  untersucht 
habe,  anzufügen : 

Es  beträgt  das  Volumen  (in  einer  Zelle) 

dunkelgr.  Blatt  gelbes  Blatt  Abnahme 

der  reinen   Kernsubstanz       53,3   «^             32,3   »^  38  "/„ 
der  Gesamtchloroplasten- 

substanz                       493       11^            191       /r>  61    "/o 

des  Zytoplasmas                   244      //^             90      /i'^  63  "/„ 

der  Nukleolen                           2,0   »^                2,1    ir'  o  % 


Abb.   II.     Kern  (a)  und  Chloroplasten  (b)  aus  den  Palisaden- 
zellen des  dunkelgrünen  Blattes  von  Tropaeolum  malus,  nach 
Benda-Fixage  und  Heidenhain-Färbung.     2600 fach  vergr. 


m:- 


■7^ 


A^^ 


Abb.   12.     Kerne  (a)  und  Chloroplasten  (b)    wie    in  Abb.   u, 
aber  aus  gelbem  Blatt. 


Also  beträchtliche  Mengen  von  Eiweiß  sind  aus 
den  Zellen  abgewandert  oder  verbraucht,  die 
Nukleolen ,  deren  Abbau  offenbar  besonders 
schwer  für  die  Zelle  ist,  sind  jedoch  noch  un- 
berührt geblieben. 

Die  ergastische  Natur  der  übrigen  orga- 
nischen Verbindungen  im  pflanzlichen  und 
tierischen  Organismus,  also  die  der  Kohlehydrate, 
Fette,  der  Sekrete,  des  Kalziumoxalats  usw.  ist 
schon  längst  allgemein  anerkannt;  auf  die  Be- 
handlung dieser  Stoffe  in  dem  Arthur  Meyerschen 
Werke  möchte  ich  daher  nicht  mehr  näher  ein-' 
gehen.  F'ür  unsere  heutigen  Zwecke,  als  Grund- 
lage für  die  Viiülhypothese,  genügt  das  Gesagte 
vollkommen. 

Arthur  Meyer  ist  also  zu  dem  Schlüsse  ge- 
kommen, daß  alle  organischen  Verbin- 
dungen, die  sich  in  den  lebenden  Zellen  finden, 
ergastisch  und  somit  tot  sind.  Das  zwingt 
ihn  nun  zu  der  Annahme,  daß  außer  den  Mole- 
külen noch  andere  Gebilde  vorhanden  sein  müssen. 
Soweit  es   für  das  Verständnis  seiner  Hypothese 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


639 


nötig  ist,  wollen  wir  hier  seinen  Überlegungen 
folgen : 

Der  Protoplast  muß  eine  höchst  kompliziert 
gebaute  Maschine  sein.  Dafür  spricht  die  ungemein 
mannigfaltige  Reaktionsfähigkeit  gegen  äußere 
Agentien  und  die  ungeheuer  mannigfaltigen  und 
feinen  Auslösungsvorgänge,  ferner  die  Tatsache, 
daß  sich  aus  jeder  Eizelle  der  IVlillionen  von  Or- 
ganismenspezies stets  wieder  ein  Individuum  der 
gleichen  Spezies  entwickelt.  Und  der  solche 
Mannigfaltigkeiten  bedingende  Bau  des  Protoplasten 
ist  so  fest  gefügt,  daß  der  Protoplast  seine  Ar- 
beitsfähigkeit in  gleicher  Weise  durch  Millionen 
von  Jahren  beibehält. 

Da  der  Protoplast  aus  physiologisch  homo- 
genen Flüssigkeiten  besteht,  von  denen  man 
Stücke  ohne  Schädigung  der  Maschine  abtrennen 
kann  —  ich  erinnere  nur  an  die  bekannten  Ver- 
suche mit  dem  Trompetentierchen  Stentor  — ,  so 
kann  die  Maschinenstruktur  nicht  ein  zusammen- 
hängendes  System    sein,    das    den    ganzen    Proto- 


sten Bakterienzelle  wiegt  2,7-  lO'''''  mg,  davon  sind 
mindestens  ^/^  ergastisch,  also  für  die  Vitüle  blei- 
ben höchsten  6,75 -10^'*,  und  nehmen  wir  nur 
10  Vitüle  im  Protoplasten  an,  so  würde  also  ein 
Vitül  höchstens  6,75-10""'^  wiegen.  Damit  ist 
zum  mindesten  die  Größenordnung  großer  Eiweiß- 
moleküle erreicht  (ein  Molekül  des  Hundehämo- 
globins würde  1,4- lO~''  mg  wiegen).  Bei  Zu- 
grundelegung des  Zellkerns  von  Pseudomonas 
olivae  (0,04  .«  Durchmesser)  würden  wir  noch 
kleinere  Zahlen  erhalten. 

Trotz  der  geringen  Größe  müssen  die  Vitüle 
aber  ungemein  kompliziert  gebaut  sein,  wenn 
sie  die  Mannigfaltigkeit  der  Lebenserscheinungen 
ermöglichen  sollen.  Zu  einem  derart  komplizierten 
Bau  kann  aber  die  verhältnismäßig  geringe  Zahl 
von  Molekülen  oder  Atomen,  welche  in  einem 
Vitül  enthalten  sein  könnten,  nicht  ausreichen. 
Und  somit  müssen  wir  annehmen,  daß  die  Vitüle 
aus  anderen  Elementarbestandteilen  aufgebaut  sind. 

Arthur  Meyer  denkt  sich  ein  Vitül,  ähnlich 


Abb.    13.     Regeneration  bei    einem    in  3   Stücke,  a,  b,  c,   zer- 
schnittenen Stentor. 


plasten  einnimmt,  sondern  es  muß  die  Maschinen- 
struktur, durch  welche  die  Leistung  des  Proto- 
plasten zustandekommt,  in  jedem  der  groben 
Maschinenteile,  im  Zytoplasma,  Zellkern,  eventuell 
auch  in  den  Trophoplasten  mehrfach  vorhanden 
sein.  Die  Gebilde,  welche  die  vererb- 
bare Maschinenstruktur  besitzen  und  in 
einem  einkernigen  Protoplasten  mehrfach  vor- 
handen   sind,    nennt  Arthur  Meyer  ,, Vitüle"; 

In  allen  Organen  sind  also  neben  den  Mole- 
külen der  ergasiischen  Substanzen  noch  Vitüle 
vorhanden,  und  zwar,  da  die  Organe  verschiedenes 
leisten,  in  jedem  Organe  besondere  Vitüle:  Zyto- 
plasma vi  tül  e,  Kernvitüle,  Tropho- 
plastenvitüle.  Die  Vitüle  werden  je  nach 
ihrer  Lage  im  Plasma,  wenn  auch  nur  äußerst 
wenig  verschieden  sein,  da  Änderungen  in  der 
Beschaffenheit  ihrer  Umgebung  geringen  Einfluß 
haben  müssen. 

Diese  Vitüle  müssen  nun  ungemein  kleine 
Gebilde  sein.     Die  Trockensubstanz  einer  klein- 


Abb.  14.  Schema  der  amikroskopischen  Struktur  des  Zyto- 
plasmas  nach  Arthur  Meyer.  V  Vitüle,  M  Moleküle  des 
Wassers,  f  des  Fettes,  k  der  Kohlehydrate,  Ch  des  Choleste- 
rins, 1  des  Lezithins,  e  der  dispersen  Teilchen  der  kolloiden 
Proteinstotfe  und  anderer  Lyosole,  m  verschiedenster  Stoffe. 
(Die  Größenvethältnisse  der  Kreise  sind  bedeutungslos,  ebenso 
die  Kreisform  selbst;  die  Zeichen  in  den  Vitülen  sollen  be- 
deuten, daß  die  Vitüle,  je  nach  ihrer  Lage  im  Zytoplasma 
etwas,    wenn  auch  äußerst  wenig,  verschieden    sein    werden.) 


wie  ein  Atom  als  ein  System  von  in  Bewegung 
begriffenen  Elektronen  aufgefaßt  wird,  als  ein  sehr 
kompliziertes  bewegtes  System  von  kleinsten 
Realitäten,  die  er  Mionen  nennt.  Während  die 
Masse  eines  Elektrons  etwa  2000  mal  kleiner  als 
die  eines  Wasserstofifatoms  ist,  müßte  seiner  Mei- 
nung nach  ein  Mion  wohl  mehr  als  20GOmal 
weniger  Masse  besitzen  als  ein  Elektron,  wenn  die 
Mionen  zum  Aufbau  eines  so  komplizierten  Systems 
brauchbar  sein  sollen,  wie  es  ein  Vitül  sein  muß. 


640 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Die  Mionen  sind  auch  vielleicht  die 
Ursache  von  Energieformen,  welche  die 
Physik  noch  nicht  untersucht  hat,  Energieformen, 
welche  die  Eigenartigkeit  der  Lebenserscheinungen 
mit  hervorrufen. 

Solche  Energieformen  sind  auch  von  anderen 
Forschern  schon  früher  angenommen :  So  spricht 
Ostwald  von  Nerve nenergie,  die  er  aus 
chemischer  Energie  entstanden  denkt,  IVIares 
von  physiologischer  Energie,  andere  von 
biotischer,  psychischer  und  Lebens- 
energie. 

Da  eine  Zelle  ins  Ungeheuere  wachsen  kann, 
so  ist  es  selbstverständlich,  daß  ihr  immerzu 
Mionen  zufließen  müssen.  Diese  IVIionen 
können  nur  durch  Zertrümmerung  von  Atomen 
gewonnen  werden,  zu  der  dem  Protoplasten  Ener- 
gie, welche  durch  Atmungsprozesse  frei  wird,  zur 
Verfügung  steht. 

Welche  Moleküle  und  Atome  zur  Zertrümme- 
rung benutzt  werden,  kann  man  fragen.  Vielleicht 
können  alle  Atome  der  zum  Leben  des  Proto- 
plasten absolut  notwendigen  Elemente  benutzt 
werden,  und  vielleicht  hängt  damit  die  auffallende 
Tatsache,  daß  diese  alle  ein  niedriges  Atomge- 
wicht besitzen,  zusammen. 

H— I         C— 12         Mg  — 24  K— 39 

N — 14  P  —  31  Fe — 56 

O— 16  S  — 32 

Da  man  annehmen  muß,  daß  die  Mionen 
nur  innerhalb  der  lebenden  Zelle  exi- 
stenzfähig sind  und  beim  Absterben  des  Proto- 
plasten in  den  Zustand  der  in  der  toten  Natur 
beständigen  raumerfüllenden  kleinsten  Realitäten 
übergehen,  so  werden  sich  also  aus  den  Bruch- 
stücken der  Vitüle  chemische  Substanzen  bilden, 
die  wir  hernach  bei  der  chemischen  Untersuchung 
des  getöteten  Protoplasten  finden  werden.  Solche 
aus  Bestandteilen  der  Vitüle  entstandenen  che- 
mischen Substanzen  nennt  Arthur  Meyer 
„vitülogene  Stoffe". 

Bei  dem  Prozeß  der  Entstehung  von  vitülo- 
genen  Stoffen  aus  Vitülen  muß  nun  Energie  frei 
werden,  wahrscheinlich  in  Form  von  Wärme. 
Versuche,    eine    Wärmetönung    des    Todes    fest- 


zustellen, haben  bisher  fz.  B.  mit  Vogelblut- 
körperchen) zwar  noch  keinen  positiven  Erfolg 
gezeitigt,  vielleicht  könnte  es  aber  gelingen  mit 
Zellen,  die  an  ergastischen  Stoffen  arm  sind,  z.  B. 
Seeigelsperma. 

Als  zusammenfassenden  Überblick  möchte 
ich  nun  zum  Schluß  noch  das  folgende  Schema 
geben : 

Protoplast 

lebende  Substanz  ergastische  Organstoffe 


Vitül 


Mion 


Molekül 

I 
Atom 

I 
Elektron 


Atome  der  vitülogenen  Substanzen 

Erwähnt  sei  noch,  daß  Arthur  Meyer 
wünscht,  daß  die  Vitüle  nun  in  der  gleichen  Weise 
untersucht  und  für  sie  analog  den  chemischen 
Formeln  Strukturformeln  aufgestellt  würden ,  aus 
denen  die  Eigenschaften  der  Vitüle  zu  erkennen 
seien.  Das  stößt  naturgemäß  auf  ungeheuere 
Schwierigkeiten,  da  ja  dazu  die  Physiologie  und 
sogar  die  Psychologie  herangezogen  werden  müßte, 
andererseits  der  lebende  Protoplast,  in  dem  allein 
doch  die  Mionen  und  somit  die  Vitüle  existenz- 
fähig sind,  der  Untersuchung  zu  schwer  zugäng- 
lich ist. 

Überblicken  wir  schließlich  die  Vitülhypothese 
noch  einmal  von  einem  anderen  Gesichtspunkte, 
so  können  wir  feststellen,  daß  sie  sich  von  allen 
bis  jetzt  aufgestellten  Hypothesen,  in  denen  kleinste 
Teilchen  zur  Erklärung  der  Lebenserscheinungen 
benutzt  wurden,  ganz  wesentlich  dadurch  unter- 
scheidet, daß  sie  eine  Forderung  der  mikro- 
skopischen Anatomie  ist,  daß  sie  nicht 
nur  Einzelerscheinungen  erklären  will 
und  ganz  auf  dem  Boden  des  physikali- 
schen Hypothesengebäudes  bleibt. 


Joseph  Petzoldt. 

rN»chdr"clc  verboten. 1  Von   Prof.   A.    Angersbacll,   Weilburg. 

Der  bekannteste  Vertreter  einer  ganz  in  der  Nachdem  P.,  der  Sohn  eines  Altenburger  Kauf- 
Erfahrung  wurzelnden,  streng  biologisch  und  mannes,  das  Gymnasium  seiner  Vaterstadt  besucht 
psychologisch  gerichteten  Weltanschauung,  der  hatte,  widmete  er  sich  auf  den  Hochschulen  zu 
gewandle  Verfechter  des  relativistischen  Stand-  Jena,  München.  Genf,  Leipzig  und  Göttingen  mathe- 
punktes,  schließt  am  22.  November  sein  60.  L' bens-  malischen,  naturwissenschaftlichen  und  philoso- 
jahr  ab.  Den  Lesern  der  Naturw.  Wocheiischr.,  phi^chcn  Studien,  promovierte  1S90  und  fand  I^9^ 
derjenigen  Zeitschrift,  die  mit  größter  Wärme  lür  am  Gymnasium  zu  Spandau  eine  Anstellung  als 
die  positivistische  Lehre  eingetreten  ist,  wird  ein  Oberlehrer.  Ah  dieser  Anstalt  wirkte  er,  bis  auf 
Ubi  rblick  über  das  Lebenswerk  des  Philosophen  die  während  des  Wellkrieges  in  Belgien  verbrachten 
nicht  unwillkommen  sein.  Jahre,  dauernd  —  seil   190t)  als  Professor — ;   1904 


N.  F.  XXI.  Nr. 


^1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


641 


übernahm  er  auch  noch  eine  philosophische  Do- 
zentur —  seit  1920  Professur  —  an  der  Tech- 
nischen Hochschule  zu  Charlottenburg. 

Als  Student  faßte  P.  den  physikalisch  einwand- 
freien Gedanken,  daß  die  in  einem  möglichst  ge- 
schlossenen Systeme  sich  A)spielenden  Vorgänge 
auf  Verwirklichung  von  Dauerformen  hinzielen. 
Den  gleichen  Gedanken  fand  er  in  dem  Fech- 
n ersehen  „Prinzip  der  Tendenz  zur  Stabilität" 
wieder,  das  in  der  aus  dem  Jahre  1873  stammenden 
Schrift  „Einige  Ideen  zur  Schöpfungs-  und  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Organismen"  formuliert 
ist.  Fechner  glaubte  in  der  Dauerfähigkeit  das 
objektive  IVIerkmal  des  „Zwecks"  gefunden  zu 
haben  und  suchte  damit  die  Darwinsche  Lehre, 
in  der  das  durch  den  Kampf  ums  Dasein  Aus- 
gelesene auch  als  das  Zweckmäßige  erscheint,  zu 
vertiefen. 

18S6  nun  zeigte  P.  in  seiner  ersten  philoso- 
phischen Veröffentlichung,  „Zu  R.  Avenarius' 
Prinzip  des  kleinsten  Krafimaßes  und  zum  Begriff 
der  Philosophie",  daß  R.  Avenarius  in  seiner 
Schrift  ,, Philosophie  als  Denken  der  Welt  gemäß 
dem  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes;  Prolegomena 
einer  Kritik  der  reinen  Ei  fahrung"  (1876)  das 
Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes  zu  unvermittelt 
eingeführt  habe  und  es  besser  im  Fechnerschen 
Satze  verankert  hätte.  Ferner  betonte  er,  daß 
das  Wesentliche  des  philosophischen  Denkens 
nicht  allein  in  der  Richtung  auf  die  Gesamtheit 
des  Seienden  zu  erblicken  sei,  wie  Avenarius 
meint,  sondern  in  der  Verbindung  dieser  Richtung 
mit  dem  Streben,  möglichst  vorurteilslos  an  das 
Gege  ene  heranzutreten  und  dieses  in  seiner  Einzel- 
erscheinung immer  mit  dem  Blick  auf  das  Ganze 
zu  erfassen. 

P.  erwarb  sich  durch  seine  Abhandlung  die 
innige  Freundschaft  Avenarius'.  Noch  ehe  er 
sich  aber  mit  dessen  1888  und  1890  erschienenen 
„Kritik  der  reinen  Erfahrung"  eingehend  be- 
schäftigt hatte,  veröffentlichte  er  seine  Doktor- 
arbeit „Maxima,  Mmima  und  Ökonomie"  (1890). 
Mancherlei  Sätze  der  Physik,  insbesondere  die 
Grundsätze  der  Mechanik,  machen  den  Eindruck, 
als  bevorzuge  die  Natur  ausgezeichnete  Größen, 
Maxima  oder  Minima,  als  offenbare  sie  eine  weise 
Ordnung.  F.  zeigt,  daß  jene  Sätze  nichts  anderes 
ausdrücken  als  die  eindeutige  Bestimmtheit 
des  Naturgeschehens.  Nun  gibt  es  aber 
auch  Vorgänge,  bei  denen  wir  ein  wirkliches 
Sparen  von  Kräften  beobachten.  Dieselben  sind 
nur  als  durch  längere  oder  kürzere  Entwicklung 
vermittelte  zu  begreifen.  Darwins  Lehre  war 
der  erste  umfassende  Versuch,  die  Entwicklung 
der  Lebewesen  verständlich  zu  machen.  Fechner 
suchte  sie  durch  sein  genanntes  Prinzip,  zu  dem 
auch  einige  von  Zöllner  aufgestellte  allgemeine 
Sätze  in  lehrreicher  Beziehung  stehen,  sowie  durch 
die  Prinzipe  der  „bezugsweisen  Differenzierung" 
und  der  ,  abnehmenden  Veränderung"  zu  vertiefen. 
Nach  einer  eingehenden  Untersuchung  dieser 
Ökonomiesätze   geht  P.    zur  Festlegung    des  Ent- 


wicklungsbegriffes über.  Als  Entwicklungsfaktoren 
unterscheidet  er  die  durch  das  augenblickliche 
Gefüge  des  Organismus  bedingten  Tendenzen 
und  die  zwischen  den  Tendenzen  sich  abspielenden 
Konkurrenzen,  die  bei  Entwicklungsabschluß 
zu  einem  stationären  Zustand  fuhren.  Als 
Entwicklung  selbst  ist  der  Weg  zu  verstehen, 
den  die  Resultante  vom  Beginne  des  Wettbewerbes 
bis  zum  Eintritt  des  Dauerzustandes  nimmt.  Der 
psychophysische  Parallelismus  gestattet  das  Stabi- 
litätsprinzip auch  auf  das  geistige  Gebiet  zu  über- 
trafen. Und  hier  ist  dasselbe  entschieden  vorteil- 
hafter als  etwa  der  von  Mach  geprägte  Begriff 
der  Denkökonomie  oder  der  von  R.  Avena- 
rius herangezogene  Begriff  des  kleinsten 
Kraft  maße  s.  Auch  für  die  Grundlegung  von 
Ethik  und  Ästhetik  erweist  es  sich  al«  das  um- 
fassendere. Nicht  Maxima,  Mmima  und  Ökonomie, 
sondern  Eindeutigkeit  und  Dauer fähigkeit 
heben  die  Seiten  der  Wirklichkeit  hervor. 

Mach  wurde  durch  diese  Arbeit  so  angezogen, 
daß  er  sich  in  verschiedenen  Werken  eingehender 
mit  ihr  beschäftigte  und  dem  jungen  Philosophen 
ebenfalls  seine  dauernde  Freundschaft  gewährte. 
Staudingers  prächtiges  Werk  ,,Die  Gesetze 
der  Freiheit"  (1887)  gab  P.  Anlaß  zu  der  umfang- 
reichen Arbeit  ,  Einiges  zur  Grundlegung  der 
Sittenlehre"  (1893/94).  Hatte  Staudinger  seine 
Ethik  auf  den  Begriff  des  „Widerspruchs" 
aufgebaut  und  in  dem  durchgängigen  wider- 
spruchsfreien Zusammenhange  aller  Zwecke  inner- 
halb der  menschlichen  Gemeinschaft  das  höchste 
Gut  erblickt,  so  baute  P.  seine  Sittenlehre  durch- 
aus auf  objektiver  Grundlage  auf  und  zwar 
auf  drei  von  der  Wissenschaft  anerkannten  all- 
gemeinen Sätzen,  dem  Satze  vom  psychophysischen 
Parallelismus,  dem  Enetgieprinzipe  und  dem  Fech- 
nerschen Stabilitätssatze.  Hatte  Avenarius  in 
seiner  „Kritik  der  reinen  Erfahrung"  auf  Grund 
seiner  Vitalreihenlehre,  die  ganz  in  den  Rahmen 
des  Stabilitätsbegriffes  fällt,  das  Entwicklungsziel 
der  Menschheit  formal  nach  der  physischen 
Seite  zu  bestimmen  gesucht,  so  wagt  P.  es  nun 
auch,  den  psychischen  Dauerzustand  zu  be- 
schreiben, insbesondere  den  sittlichen  Ideal- 
zustand, den  uns  verpflichtenden  Zustand,  den 
Staudingerschen  Zustand  der  Widerspruchslosig- 
keit  aller  Zwecke. 

1895  veröffentlichte  P.  die  bedeutungsvolle  Ab- 
handlung ,,Das  Gesetz  der  Eindeutigkeit".  Wer 
in  der  vollständigen  Beschreibung  der  Tatsachen 
die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft  sieht,  muß 
vieldeutige  und  unklare  Begriffe  wie  die  der  Ur- 
sache und  der  Wirkung  ablehnen.  Wundts 
Versuch,  die  letzteren  für  die  Physik  zu  retten, 
ist  mißlungen.  Die  vorbildliche  Form  der  Be- 
schreibung ist  die  physikalische  Gleichung.  In 
ihr  treten  die  betjrifflichen  Bestimmungselemente 
als  voneinander  abhängig  auf;  und  zwar  ist  die 
Abhängigkeit  eine  rein  logische,  streng  gegen- 
seitige, simultane.  Wenn  trotzdem  die  physika- 
lische Gleichung  auch  die  stetige  Aufeinanderfolge 


642 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


innerhalb  eines  Vorgangs  zum  Ausdruck  bringt, 
so  liegt  das  daran,  daß  sie  durch  Änderung  irgend- 
eines ihrer  Parameter,  insbesondere  des  Zeitpara- 
melers,  die  Form  nicht  einbüßt.  Eine  rein  logische 
Abhängigkeit  zeigt  sich  auch  noch  in  einer  zweiten 
Beziehungsgruppe,  in  der  zwischen  Gehirn-  und 
Seelenzuständen.  Darf  man  aber  der  Natur  eine 
durchgängige  Bestimmtheit  zuschreiben? 
Mach  zweifelt  daran.  Aber  die  Erhaltung  des 
Einzelmenschen  und  der  menschlichen  Gesamtheit 
sowie  das  Bestehen  der  Wissenschaften  sind  ohne 
jene  allgemeine  Bestimmtheit  undenkbar.  Wir 
müssen  die  Eindeutigkeit  des  Geschehens  for- 
dern. Das  Gesetz  der  eindeutigen  Bestimmtheit 
beleuchtet  aufs  schärfste  die  Tatsache,  daß  Be- 
wegungen als  ausgezeichnete  Fälle  erscheinen,  es 
klärt  den  Sinn  des  Hertzschen  Grundgesetzes  der 
Mechanik  auf,  nicht  minder  den  des  Trägheits- 
satzes, es  ist  unentbehrlich  für  die  Begründung 
des  Energiegesetzes  und  ist  die  Wurzel  des  psycho- 
physischen  Parallelismus;  ja  selbst  die  logischen 
Sätze  der  Identität  und  des  Widerspruchs  setzt 
er  in  ein  helleres  Licht. 

R.  Avenarius  hatte _  sich  in  seiner  „Kritik 
der  reinen  Erfahrung"  die  Aufgabe  gestellt,  die 
Idee  der  reinen  Erfahrung  und  die  Berech- 
tigung der  in  ihr  gelegenen  Forderung  sowie  die 
Aussichten  auf  deren  Verwirklichung  zu  prüfen. 
Aber  seine  Untersuchung  sprengte  diesen  Rahmen 
und  weitete  sich  aus  zu  einem  Versuch,  die  Grund- 
lagen einer  Theorie  des  menschlichen  Erkennens 
und  Handelns,  ja  die  einer  Wissenschafislehre  über- 
haupt zu  bereiten.  Dabei  beherrschte  ihn  die 
Einsicht,  daß  ,, etwas  wissenschaftlich  begreifen" 
nicht  nur  darin  besteht,  es  „auf  Bekanntes  zurück- 
zuführen", sondern  es  auch  ,,als  eindeutig  be- 
stimmt zu  denken".  Das  der  Eigengesetzlichkeit 
entbehrende  psychische  Geschehen  muß  daher 
gewissermaßen  als  ,,m  ath  ematische  Funktion 
nervenphysiologischer  Vorgänge"  aufgefaßt  werden. 
So  wagt  es  denn  Avenarius  im  1.  Bande  seines 
Hauptwerkes  eine  Naturgeschichte  des  Hirnlebens 
zu  geben.  Als  dessen  Grundvorgang  entdeckt  er 
die  unabhängige  Vital  reihe.  Der  2.  Band 
ist  dann  dem  parallel  verlaufenden  psychischen 
Geschehen  gewidmet,  dem  die  abhängige 
Vitalreihe  zugrunde  liegt. 

Im  „Menschlichen  Wehbegriff"  (1891)  führt 
Avenarius  die  Spaltung  der  natürlichen  Einheit 
der  empirischen  Welt  in  „Innen-  und  Außenwelt", 
„Objekt  und  Subjekt"  auf  „In  troj  e  kt  ion"  zu- 
rück. Die  eine  Tatsache,  die  Tatsache  der  Wahr- 
nehmung von  Sachen,  wird  dabei  in  zwei  ge- 
spalten, in  Sache  und  Wahrnehmung;  jene  wird 
der  Außen-,  diese  der  Innenwelt  zugerechnet,  zu 
beiden  aber  werden  absolute  Träger  hinzugedichtet. 
Eine  solche  Verfälschung  der  Wirklichkeit  kann 
nur  durch  Ausschaltung  der  Introjektlon  rück- 
gängig gemacht  werden.  Die  endgültige  Aus- 
schaltung aber  führt  den  unveränderlichen  Welt- 
hegriff herbei. 

Die  Form    der  Avenariusschen  Werke  konnte 


den  Leser  nicht  anziehen.  Die  Systematisierung 
war  dem  Philosophen  wichtiger  als  eine  die  Unter- 
richtsregeln befolgende  Einführung.  Eine  ganz 
neue,  umfangreiche  Fachsprache  erschwerte  das 
Eindringen.  Ein  lapidarer,  das  Wesentliche  und 
Unwesentliche  gleichtnäßig  umfassender  Stil  ließ 
das  Bedeutungsvolle  nur  schwer  erkennen.  Die 
Beweisführung  war  nicht  selten  umständlich. 
Carstanjen  hatte  eine  lesbare  Wiedergabe  der 
Kritik  der  reinen  Erfahrung  versucht,  war  aber 
über  einen  Auszug  kaum  hinausgekommen. 
M.  Klein  hatte  in  freier,  allgemeinverständlicher 
Form  eine  Reihe  schöner,  auch  jetzt  noch  lesens- 
werter Aufsätze  über  die  neue  Lehre  in  der 
Natur w.  Wochenschr.*)  gebracht,  hatte  aber  seine 
Tätigkeit  zu  früh  eingestellt. 

In  seiner  ,, Einführung  in  die  Philosophie  der 
reinen  Erfahrung"  (1899  und  1904)  nun  gab  P. 
der  Lehre  Avenarius'  nicht  nur  die  ansprechende 
Form,  sondern  unterzog  sie  auch  einer  gründ- 
lichen Beurteilung,  um  sie  zu  läutern  und  weiter 
auszubilden.  Der  erste,  von  der  Bestimmtheit 
der  Seele  handelnde  Abschnitt  des  ersten  Bandes 
weist  wieder  nach,  daß  das  eigener  Bestimmungs- 
elemente entbehrende  geistige  Geschehen  ohne 
den  psvchophysischen  Parallelismus  unverständlich 
ist.  Der  zweite  Abschnitt  ist  der  Kritik  und 
dem  Ausbau  der  Avenariusschen  Einteilung  der 
psychischen  Grundformen  und  deren  Abhängig- 
keit von  den  nervösen  Grundprozessen,  den  un- 
abhängigen Vitalreihen,  gewidmet.  Hier  gelangt 
P.  vielfach  zu  erheblich  abweichenden  Auffassungen, 
deren  Aufzählung  wir  uns  versagen  müssen.-)  Er- 
wähnt sei  nur,  daß  er  durch  seine  Begriffe  der 
physischen  und  psychischen  „Bestände"  weit 
tiefer  in  das  Wesen  des  „Begriffs"  und  der  „Be- 
griffsentwicklung" eindringt.  Dabei  entdeckt  er, 
daß  Enge  und  Einheit  des  Bewußtseins  die 
gleiche  Wurzel  haben,  daß  sie  nichts  anderes  aus- 
drücken als  die  bis  an  die  Grenzen  des  Möglichen 
gesteigerte  Fähigkeit  des  Hirns,  im  Falle  einer 
Bedrohung  alle  Kräfte  in  den  Dienst  der  Erhal- 
tung zu  stellen.  F'erner  nenne  ich  die  lehrreichen 
Untersuchungen  über  das  Verhältnis  zwischen 
Sprache  und  Denken,  über  das  „Wiedererkennen"  , 
usw.  Der  zweite  Band  mit  dem  Untertitel  ,,Auf 
dem  Wege  zum  Dauernden"  handelt  zunächst 
vom  Auslaufen  der  Entwicklungsvorgänge  in 
Dauerzustände.  Die  Regelmäßigkeiten  des  Geistes- 
lebens sind  nur  als  Entwicklungsergebnisse  ver- 
ständlich. Der  Mensch  selbst  ist  in  lebhafter 
Entwicklung  begriffen.  Daß  er  bei  gesügender 
Konstanz  des  irdischen  Systems  einer  Dauerform 
entgegengeht,  ist  eine  Forderung  des  Stabilitäts- 
satzes, der  selbst  wieder  in  zwei  Grundtatsachen 
wurzelt:  in  der  Eindeutigkeit  des  Naturgeschehens 

')  Bd.  IX,  S.  1  —  6;  Bd.  .\,  S.  453-462;  Bd.  XI,  S.377 
bis  382;  S.  389—394;  S.  425 — 430;  siehe  auch  Bd.  IX, 
S.  301 — 309! 

2)  Naturw.  Wochenschr.  N.  K.,  Bd.  IV:  Angersbach, 
Das  Verhältnis  zwischen  Psychischem  und  Physischem  nach 
Avenarius  und   Pet^oldl. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


643 


und  in  der  „von  selbst"  sich  vollziehenden  Ab- 
nahme aller  physikalischen  Differenzen.  Da  sich 
der  Dauerzustand  nach  der  formalen  Seite  hin 
erschließen  läßt,  so  sind  damit  die  Grundlagen 
für  Ethik,  Ästhetik  und  Erkenntnislehre  gegeben. 
Meisterhaft  und  überaus  spannend  ist  die  Dar- 
stellung der  Dauerbestände  der  Seele.  Besonders 
interessiert  die  Beantwortung  der  Frage  nach  der 
zu  erwartenden  Weltanschauun  g.  Diese  darf 
als  allgemeine  und  dauernde  keine  Teile  oder 
Seiten  enthalten,  die  mit  gleichem  Rechte  durch 
andere  ersetzbar  sind.  Die  Erfahrung  ist  die  allei- 
nige Erkenntnisquelle.  Das  Gegebene,  bzw.  die 
Elemente  des  Vorgefundenen,  sind  die  irgendwie 
charakterisierten  Empfindungen,  aber  nicht 
die  Empfindungen  im  Sinne  eines  rein  Subjektiven, 
rein  Psychischen,  sondern  im  Sinne  des  naiven 
Realismus  ohne  dessen  animistische  Beimengung. 
Einer  Substanz  als  Trägers  der  Eigenschaften  be- 
darf es  daher  nicht.  Da  jeder  Begriff  ohne  einen 
Gegenbegriff  sinnlos  ist,  ist  ein  Psychisches  ohne 
ein  Physisches  undenkbar;  beide  sind  nicht  als 
seiende  oder  absolute  Gegensätze,  sondern 
lediglich  als  logische  oder  relative  aufzu- 
fassen. Bemerkt  sei,  daß  P.  den  hier  angedeu- 
deten  Grundfehler  des  Idealismus  und  Materialis- 
mus noch  in  der  Schrift  „Solipsismus  auf  prak- 
tischem Gebiet"  (1901)  einwandfrei  nachgewiesen 
hat.  Eine  haltbare  Weltanschauung  kann  nur 
relativistischer  Art  sein.  Glaubte  Avenarius 
noch  das  Weltproblem  durch  einen  positiven  Be- 
griff lösen  zu  können,  so  lehnt  P.  diese  Auf- 
fassung ab,  die  Ge-amtheit  des  Gegebenen  ist 
aus  Mangel  an  einem  Gegenbegriff  jeder  Kenn- 
zeichnung unfähig.  Damit  wäre  denn  das  Welt- 
problem in  derselben  Weise  aus  der  Philosophie 
ausgeschaltet  wie  die  Quadratur  des  Kreises  aus 
der  Geometrie  oder  das  Perpetuum  mobile  aus 
der  Mechanik. 

1906  hielt  P.  lehrreiche  Vorlesungen  bei  den 
Hochschulkursen  in  Salzburg.  Im  selben  Jahre 
veröffentlichte  er  ,,Das  Weitproblem  vom  posi- 
tivistischen Standpunkte  aus",  ein  Werk,  das 
später  als  14.  Band  der  Sammlung  ,, Wissenschaft 
und  Hypothese"  zwei  Neuauflagen  (1912  u.  192 1) 
erlebt  hat.  Diese  einzigartige  Schrift  sucht  die 
Geschichte  der  Philosophie  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  Entwicklung  und  Rückbildung  des 
Substanzbegriffes  aufzufassen.  Mit  größter 
Spannung  verfolgen  wir  die  Wege,  die  von  der 
vorwissenschaftlichen  Weltanschauung  zur  wissen- 
schaitlichen  führen.  Aber  diese  wird  durch  die 
Substanzvorstellung  in  mannigfaltiger  Weise  ge- 
trübt und  befreit  sich  erst  auf  höchst  verschlun- 
genen Wegen  von  ihr.  Mach,  Avenarius  und 
Schuppe  sind  die  drei  Philosophen,  die  den 
Substanzbegriff  endgültig  ausschalten,  dem  Goeihe- 
schen  Ausspruche  „Ort  für  Ort  sind  wir  im  Innern" 
eine  feste  Grundlage  und  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie einen  natürlichen  Abschluß  geben. 

Im  vollen  Einklang  mit  der  Lehre  des  rela- 
tivistischen   Positivismus    steht   die    Entwicklung 


der  Mathematik  und  Physik.  Jener  ist  es  ge- 
lungen, „ihre  Beweise  rein  begrifflich  zu  gestalten, 
sie  von  räumlicher  Anschauung  und  Konstruktion 
vollständig  unabhängig  zu  machen",  den  Bezieh- 
ungen das  Übergewicht  über  die  sinnlichen 
Elemente  zu  geben.  Und  wenn  Einstein 
sein  physikalisches  Relativitätsprinzip 
aufgestellt  hat,  so  hat  er  damit  eine  Forderung 
zu  erfüllen  gesucht,  die  Mach  seit  1866  wieder- 
holt ausgesprochen  hat.  Auch  P.  war  stets  für 
diese  P'orderung  eingetreten.  In  der  lehrreichen 
Abhandlung  „Die  Gebiete  der  absoluten  und  rela- 
tiven Bewegung"  (1908)  betont  er,  daß  man  den 
Begriff  der  absoluten  Bewegung  lediglich  als  De- 
finition gelten  lassen  dürfe  in  der  Hoffnung,  er 
möge  der  Physik  auch  wirklich  Dienste  leisten; 
ferner  liefert  er  den  Nachweis,  daß  L.  Langes 
Versuch,  ein  Koordinatensystem  aufzufinden,  in 
bezug  auf  welches  ein  lediglich  seiner  Trägheit 
unterworfener  Massenpunkt  sich  geradlinig  und 
gleichförmig  bewegt,  mißglückt  sei. 

Daß  P.  einer  der  ersten  Führer  im  harten 
Kampfe  um  die  neue  physikalische  Relativitäts- 
lehre ist,  dürfte  allbekannt  sein.  Von  den  auf 
diesen  Gegenstand  sich  beziehenden  Schriften  er- 
wähne ich  außer  der  3.  Auflage  des  „Weltproblems" 
nur  die  19 14  in  der  Zeitschr.  f.  posit.  Philos.  er- 
schienene Abhandlung  ,.Die  Relativitätstheorie  in 
der  Physik"  und  die  prächtige  Arbeit  „Die  Stel- 
lung der  Relativitätstheorie  in  der  geistigen  Ent- 
wicklung der  Menschheit"  (Sibyllenverlag,  192 1). 
Wer  irgend  in  die  neue  Lehre  eindringen  will, 
muß  sich  unbedingt  mit  diesen  Schriften  befassen. 
Der  Kampf  ums  Relativitätsprinzip  ist  im  Grunde 
ein  Kampf  zwischen  der  relativistischen  und  ab- 
solutistischen Weltanschauung,  insbesondere  zwi- 
schen jener  und  der  mechanistischen  Auffassung. 
P.  ist  weit  entfernt  davon,  in  Einsteins  Lehre 
die  restlose  Erfüllung  der  Machschen  Forderung 
zu  sehen;  in  lehrreicher  Weise  zeigt  er,  wie  Ein- 
stein und  Minkowski  noch  keineswegs  sich 
zum  strengen  relativistischen  Standpunkte  empor- 
gearbeitet haben. 

Von  sonstigen  beachtenswerten  Schriften  er- 
wähne ich  noch:  „Die  vitalistische  Reaktion  auf 
die  Unzulänglichkeit  der  mechanischen  Natur- 
ansicht" (1909),  „Naturwissenschaft"  im  Hand- 
wörterbuch für  Naturwissenschaften  (1912),  die 
„biologischen  Grundlagen  der  Psychologie"  (1914) 
und  „die  biologischen  Grundlagen  des  Strafrechts" 
(1920). 

Auch  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtswesens 
blieb  P.  nicht  untätig.  Sehr  bekannt  geworden 
sind  seine  Bestrebungen,  hervorragend  befähigten 
Schülern  die  zweckmäßigste  Ausbildung  zu  ver- 
schaffen; für  die  philosophische  Propädeutik  suchte 
er  eine  neue  Grundlage  zu  gewinnen. 

Als  hervorragender  Organisator  erwies  er  sich 
dadurch,  daß  er  die  Freunde  seiner  Sache  zu 
sammeln  verstand  und  im  Jahre  1902  die  „posi- 
tivistische Gesellschaft"  gründete  und  erfolgreich 
leitete.     Eine  wertvolle  Stütze   fand   er   dabei   an 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


H.  Potonie,  dem  191 3  verstorbenen  Heraus- 
geber der  Naturw.  Wochenschr.,  der  selbständig 
im  Jahre  1891  ähnliche  Gedanken  wie  Mach 
und  Avenarius  ausgesprochen  und  seine  Zeit- 
schrift begeisterungsvoll  der  empiriokritischen 
Lehre  zur  Verfügung  gestellt  hatte.')  Leider  be- 
reitete der  Ausbruch  des  Weltkrieges  nicht  nur 
der  von  der  Gesellschaft  herausgegebenen  Zeit- 
schrift ein  jähes  Ende,  sondern  bedrohte  auch 
das  Fortbestehen  der  Gesellschaft  selbst.  Da  ge- 
lang es  P.  1921,  seine  Anhängerschaft  der  großen 
„Kantgesellschaft"  als  Sonderabteilung  einzu- 
gliedern. 

P.  erfreut  sich  einer  wunderbaren  körperlichen 
und  geiNtigen  Frische  und  Leistungsfähigkeit.  Un- 
ermüdlich wirkt  er  in  Rede  und  Schrift.  Weder 
Enttäuschungen  noch  das  furchtbare  Schicksal, 
daß  seine  beiden  ein/igen  Söhne,  die,  aus  glück- 
lichster Ehe  mit  Frida  Kresse,  der  hochgebil- 
deten    Tochter     eines     Altenburger     Kaufmanns 


stammend,  als  tapfere  Kämpfer  und  Führer  den 
Tod  fürs  Vaterland  erlitten,  konnten  ihn  dauernd 
zermürben.  So  dürfen  wir  denn  noch  manche 
reife  Frucht  aus  seiner  Hand  erwarten.  Nicht 
ohne  Befriedigung  sieht  er  seine  Lehren  sich, 
wenn  auch  langsam  so  doch  sicher,  ausbreiten, 
dazu  in  einer  Zeit,  die  reich  an  mystischen  Re- 
gungen ist.  Seine  größeren  Werke  erleben  Neu- 
auflagen und  werden  sogar  in  fremde  Sprachen 
übersetzt !  iVIöge  er  auch  noch  erleben,  daß  die 
gewaltige  Entwicklungsstörung  innerhalb  unseres 
Volkes,  ja  innerhalb  des  menschheitlichen  Ge- 
samtverbandes, nur  eine  Episode  sei.  eine  Vital- 
differenz, an  die  sich  ein  lebhafteres  Fortschreiten 
zu  neuen  und  gefestigteren  Dauerzuständen  an- 
schließt 1 


')  Angersbach,  „Zum  Begriff  der  Entwicklung".  G. 
Fischer,    1912. 

Angersbach,  ,,Die  naturw.  und  insbes.  die  naturph. 
Tätigkeit  H.  Potonies".     Zeitschr.  f.  pos.  Phil.,  2.  Jahrg. 


Einzelberichte. 

jv       ^       ,„       j.  also    mit    der  Turbulenzenergie,    d.  i.    der    ,.kine- 

lier  »egeinilg.  )  tischen  Energie  der  vertikalen  und  seitlichen  Wind- 

Die  Darstellung,    eine    Zusammenfassung  Schwankungen"    und    hängt'   davon    ab,     ob    die 

des  vielfach  nicht  genügend  beachteten  Stoßwirkung    dieser   inneren    Elemente 

Lebenswerkes     des    Verfassers     gibt    auf  eines     nie    gleichförmigen    Windes    auf 


Grund  neuer  Beobachtungen  eine  sehr  klare  An- 
schauung vom  gesamten  Problem.  Der  begriff- 
lichen Festlegung  des  Segelflugs  folgt  zunächst 
eine  Erörterung  der  früheren  Erklärungsversuche. 


den    Flügel    quantitativ    ein    Äquivalent 
der  Flügelschlagwirkung  bedeutet. 

Die  genaue  Untersuchung  der  Turbulenz  (Strom- 
und  Kraftlinien,   vgl.  hydrodynamische  Methoden) 


Weder  die  im  Vogel  vermuteten  Ursachen  auch  im  quantitativen  Verhallen,  ferner  die  Unter- 
aerostatischer  Art,  ferner  „Segel"-  und  Drachen-  suchung  des  Verhaltens  von  Turbulenz  zum  F"lug- 
wirkung,  schnellste  Vibrationen  der  Flugflächen,  wind  bestätigen  diese  Möglichkeit,  unter  der  Vor- 
noch  die  von  O.  Lilie  nthal  betonte  Wölbung  aussetzung  eines  automatisch  regulierbaren  (Ein- 
bedingen ihn,  noch  reichen  außerhalb  des  Vogels  Stellwinkel  der  F'lügelspitze  u.  a.)  Mechanismus 
gesuchte    Faktoren,    wie    von    Ahlborn    selbst  im  Vogelflügel. 


früher  als  ausreichende  Erklärung  angesehene 
gleichförmige  horizontale  Winde  oder  arbeits- 
fähige Wmdkräfie  anderer  Art  (aufsteigende 
Winde  dynamischer  oder  thermischer  Art  u.  a.) 
oder  gewisse  Faktoren  der  ungleichförmig  be 
wegten  Luft  (wie  stetige  Zunahme  der  Wind- 
geschwindigkeit nach  oben,  pulsatorische  Verände- 
rungen der  Windströme  [vgl.  Olshausen,  Mouil- 
lard,  Rayleigh  Langley,  Lanchester], 
Böen    und  Flauten    und    deren    bewußte    bzw.  in- 


„Der  segelnde  Vogel  wird  daher 
durch  Turbulenzkräfte  des  Windes  in 
derselben  Weise  schwebend  erhalten 
und  beschleunigt  wie  durch  aktive 
P'lügelschläge.  Das  Geheimnis  des 
Segelfluges  ist  damit  enthüllt." 

Ein  sehr  vertiefter  Einblick  in  den  Bau  des 
Vogelflügels  läßt  die  Wirksamkeit  der  Flügel- 
schläge bzw.  der  natürlichen  Windstöße  noch 
schärfer   erfassen    und   verstehen,  warum   die    üb- 


stinktive  Ausnutzung  seitens  der  Vögel),  trotz  der  liehen   Drachenflugzeuge   und    Rhön-Flugapparate 

in  ihnen  enthaltenen  mehr  oder  weniger  günstigen  keine  Segelwirkung   erzielen,  sondern  die  für  den 

Momente    zur  Erklärung  des  Segelflugs,  insbeson-  Segelflug    als    hauptsächliche    Kraftquelle    in    Be- 

dere  der  Umwandlung  des  Auftriebs  in  nutzbaren  tracht  kommende  Turbulenz  als  Hindernis  —  und 

Vortrieb,  aus.  zwar  mit  Auftrieb  und  Hemmungswiderstand,  aber 

Vielmehr  hängt  das  Wesen  des  Segelflugs  ohne  Vortrieb  —  empfinden.  Einzelheiten  be- 
innig zusammen  mit  der  inneren  Struktur  der  züglich  Form  und  Bau  der  verschiedenen  Segel- 
Windströmung,  mit  dem  Wesen  und  den  Ur-  flieger  (Tragflügel,  Triebflügel),  ihre  geographische 
Sachen  dynamischer  und  thermischer  Turbulenz,  Verbreitung,  lokales  Vorkommen  und  dortige  Ge- 
mit  der  Wirbelbildung  in  turbulenten  Strömungen,  wohnheiten  weisen  auf  den  engsten  Zusammen- 
hang    mit  dem  jeweiligen  Turbulenzverhalten  der 

')  Fr.  Ahlborn,  licihefi  5  Zeitschr.  f.  Fl.-Z.u.  Mot.  192 1.  Winde    hin,   wie   zahlreiche   Beispiele,   neuerdings 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


645 


auch  an  mazedonischen  Raubvögeln  Ahlborn 
gezeigt  haben;  sie  charakterisieren  den  in  Kurven- 
flugbahn seine  höchste  Vollendung  erreichenden 
Segelflug  als  Spiel. 

Regelmäßige  Schwankungen  der  Flugbahn, 
Steuerung,  Bremsung,  Landung  und  Fallschirm- 
flug, die  Unterscheidung  von  zweierlei  Flächen- 
veränderung (Segelschaltung  von  Gleitschaltung) 
vervollständigen  den  Einblick  in  die  mannigfachen 
Kombinationsmöglichkeiten  bei  jeweiligem  Flug- 
verhalten, der  mittels  einer  Übersicht  über  die 
Flugarten  der  Vögel  eine  Zusammenfassung  ge- 
stattet. Die  Erörterung  der  Möglichkeit,  unsere 
üblichen  Drachenflieger,  die  noch  auf  der 
primitiven  Stufe  des  Archaeopteryx,  des  Ur- 
vogels ohne  Handschwingen,  stehen,  durch  Aus- 
rüstung mit  selbsttätigen  Triebflügeln  segel- 
tüchtig  zu  machen,  läßt  Zweifel  an  der 
Erreichbarkeit  dieses  Zieles  nicht  zu; 
der  lange  Weg  bis  dahin  hat  eine  enge  Fühlung- 
nahme der  Techniker  mit  den  Biologen  zur  Vor- 
aussetzung. Fr.  Voß. 


Die  Stimulienins:  (Hebung:)  der  Zellfuuktloiien 

und  ihre  theoretische  und  landwirtschaftliche 

Bedeutung. ') 

Ausgehend  von  theoretischen  Erwägungen  habe 
ich  vor  8  Jahren  den  Schluß  gezogen,  -)  daß  die 
Agentien  der  künstlichen  Befruchtung,  der  künst- 
lichen Parthenogenese,  nicht  nur  auf  die  reifen, 
unbefruchteten  weiblichen  Geschlechtszellen,  die 
Eier,  entwicklungsfördernd  wirken,  sondern  daß 
sie  dieselbe  entwicklungsfördernde  Wirkung  auf 
alle  Körperzellen,  tierische  wie  pflanzliche,  aus- 
dehnen; mit  anderen  Worten  die  Agentien  der 
künstlichen    Parthenogenese,     welche     chemischer 


')  Vortrag,  gehalten  bei  der  Hundertjahrfeier  der  Gesell- 
schaft Deutscher  Naturforscher  und   Ärzte. 

^)  I.  Depression  der  Protozoenzelle  und  der  Geschlechts- 
zellen der  Mctazoen.  —  Archiv  f.  Protistenkunde.  Festband 
R.   Herlwig    1907. 

2.  Experimentelle  Zellstudien  I.  —  Über  die  Teilung  der 
Zelle.      Archiv   f.  Zellforschung   Bd.   I,    1908. 

3.  Experimentelle  Zellstudien  II.  —  Über  die  Zellgröße, 
ihre  Fixierung  und  Vererbung.  Archiv  f.  Zellforschung  Bd.  III, 
1909. 

4.  Experimentelle  Zellstudien  III.  —  Über  einige  Ur- 
sachen der  physiologischen  Depression  der  Zelle.  Archiv  f. 
Zellforschung  Bd.  IV,   1909. 

5.  Experimentelle  Zellstudien  IV.  —  Geschlechtsvorgänge, 
Partherogenese  und  Zellenverjüngung.  Archiv  f.  Zellforschung 
Bd.  XIV,    1915. 

6.  Über  den  Einfluß  chemischer  Reagentien  auf  den 
Funktionszustand  der  Zelle.  Silz.-Ber.  d.  Ges.  f.  Morph,  u. 
Physiol.  in  München   1909. 

7.  Über  stimulierende  Einwirkungen  auf  Zell-  und  Ge- 
weberegeneration.    Deutsche  Mediz.  Wochenschrift   1915. 

8.  Künstliche  Parthenogenese  und  Zellstimulantien.  Biol. 
Zentralbl.   1916. 

9.  Über  die  Behandlung  atonischer  Wunden  mit  Äther. 
Der  Militärarzt.     Wien    1916. 

10.  Über  die  Stimulierung  der  Zellfunktionen.  Biolog. 
Zentralbl.   1922. 

11.  Stimulierung  der  geschwächten  Zellfunktionen.  Rek- 
toratsrede  1920.     Ausgabe  der  Univ.  Sofia. 


oder  physikalischer  Natur  sein  können,  müssen 
allgemeine  Zellstimulantien  sein. 

Um  diese  Schlußfolgerung  zu  begründen,  habe 
ich  in  einer  Reihe  von  Publikationen  meine  Unter- 
suchungen über  die  stimulierende  Wirkung  der 
chemischen  Agentien  der  künstlichen  Partheno- 
genese auch  auf  schwer  heilende  Wunden  und 
auf  in  Winterruhe  sich  befindende  Pflanzen  dar- 
gelegt. Es  zeigte  sich,  daß,  wenn  reine  Wunden 
mit  Magnesiumsalzen  (MgCl,,  MgClj  +  NaCl  usw.) 
behandelt  werden,  dieselben  schneller  heilen  und 
sich  schließen,  als  nach  Behandlung  mit  den  ge- 
wöhnlichen, bisher  gebrauchten  Wundheilmitteln. 

Auch  auf  pflanzliche  Zellen  erweisen  sich  die 
Magnesiumsalze  als  sehr  wirksam.  Wenn  die 
Knospen  von  in  Winterruhe  sich  befindenden 
Pflanzen  mit  Magnesium-  oder  Mangansalzen  in 
verschiedener  Konzentration  und  verschiedener 
Zusammensetzung  injiziert  werden,  so  entwickeln 
sich  Blüten  und  Blaltknospen  in  2  —  3  Wochen 
fast  vollständig,  während  die  Kontrollen,  unter 
gleichen  Bedingungen,  unentwickelt  bleiben. 

Dieselben  günstigen  Resultate  habe  ich  auch 
bei  einzelligen  Organismen,  bei  Infusorien,  erzielt. 
Durch,  kurze  Einwirkung  von  Magnesiumsalzen 
auf  das  weitverbreitete  Infusor  Paramaecium  ist 
es  mir  gelungen,  die  Lebensfunktionen  dieses  ein- 
zelligen Tieres  und  folglich  auch  seine  Vermeh- 
rungsgeschwindigkeit so  sehr  zu  heben,  daß  z.  B. 
in  der  Zeit  von  7  Tagen,  wo  die  von  zwei  Tieren 
ausgegangene  Kontrolle  nur  242  Tiere  zählte,  die 
ebenfalls  mit  zwei  Geschwistertieren  der  Kontrolle 
begonnene,  aber  mit  Magnesiumsalzen  stimulierte 
Kultur  nach  7  Tagen  schon  2027  Tiere  aufwies. 
Eine  andere  unter  denselben  Bedingungen  be- 
gonnene, aber  schwächer  stimulierte  Kultur  zählte 
nach  derselben  Zeit  864  Tiere.  Beachtenswert 
ist  dabei,  daß  die  Tiere  der  stimulierten  Kultur 
durchwegs  um  ca.  '4  größer  als  die  normalen 
Kontrolltiere  waren. 

Alle  diese  Versuche  beweisen,  wie  stark  die 
stimulierende  Wirkung  der  Magnesium-  und  Man- 
gansalze auf  die  lebende  Substanz  ist. 

Schon  im  Jahre  191 5  habe  ich  weiterhin  be- 
tont, daß  diese,  die  Lebensfunktionen  so  stark 
hebende  Wirkung  der  Magnesium-  und  Mangan- 
salze nicht  nur  eine  große  theoretische,  sondern 
auch  eine  wichtige  praktische  Bedeutung  ge- 
winnen könnte,  wenn  sie  auf  in  Funkiionsruhe 
sich  befindende  pflanzliche  Zellen,  an  erster  Stelle 
auf  Pflanzensamen,  angewandt  würde. 

Nach  vielen  Versuchen  ist  es  mir  nun  nach 
zwei  Jahren  gelungen,  durch  Einwirkung  auf 
Pflanzensamen  mit  Magnesium-  und  Mangansalzen 
[MgClj,  Mn(N03)2.  (MnSOJ  in  Konzentrationen 
von  10  '7oo  t)^s  32  "/m,  entweder  allein  oder  in  ver- 
schiedenen Kombinationen  angewandt:  MgCl»  -|- 
MgSO,,  MgCU  -I-  MniNOglj,  MgCl,  -f  MnCU, 
MgS04  -f-  iVlnS04]  diese  so  stark  zu  stimulieren, 
daß  sich  Pflanzen  entwickelten,  welche  durch- 
schnittlich um  '/a  t>'S  V2  größer  und  schwerer  als 
die  normalen  waren,  und  was  noch  wichtiger  ist: 


646 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


auch  der  Ertrag  derselben  (Weizen,  Hirse,  Mais) 
war  durchschnittlich  um  ca.  40  "/„  bis  50  "/q  ,  ja 
in  besonders  günstigen  Fällen  [durch  Stimulierung 
mit  iVlgSO^  +  MnSO,  oder  mit  MCI,  +  Mn(N03)2] 
bis  zu   100  %,  zu  heben. 

Nach  vielen  Versuchen  konnte  die  optimale 
Behandlungszeit  von  vielen  Kulturpflanzen  —  so- 
wohl Korn-  wie  Faserpflanzen  —  bestimmt  wer- 
den, die  je  nach  der  Stärke  der  Samenhüllen 
zwischen  einer  Stunde  (Senfsamen),  drei  Stunden 
(Mais,  Weizen,  Roggen),  acht  Stunden  (Gerste), 
zehn  bis  zwölf  Stunden  (Hafer  usw.)  schwankt 
und  überall  dieselbe  Steigerung  der  Wachstums- 
intensität hervorruft. 

Durch  Kombination  der  oben  erwähnten  chemi- 
schen Lösungen  mit  einer  nachträglichen  kurzen 
Behandlung  mit  Ätherdämpfen  ist  es  mir  neuer- 
dings gelungen,  die  Stimulation  der  Samen  noch 
um  ein  beträchtliches  zu  steigern.  Eine  beachtens- 
werte stimulierende  Wirkung  auf  die  Samenent- 
wicklung zeigen  auch  die  Ätherdämpfe  allein. 
Diese  Wirkung  des  Äthers  steht  im  Einklang  mit 
seinen  bekannten  Eigenschaften  als  Pflanzen 
frühtreibendes  Mittel. 

Ich  bin  der  Überzeugung,  daß  durch  die  An- 
wendung der  hier  erwähnten  stimulierenden  Mittel 
eine  Steigerung  der  landwirtschaftlichen  Produk- 
tion in  allen  Zweigen  erfolgen  wird,  um  so  mehr 
als  die  Anwendung  leicht  und  der  Preis  der  an- 
gegebenen chemischen  Mittel  gering  ist. 

Methodi  PopofT,  Sofia. 

Verdunstung  und  Niederschlag  auf  dem  Meer. 

Die  absolute  Größe  des  jährlichen  Wasser- 
haushaltes der  Erde  ist  wesentlich  abhängig  von 
der  möglichst  genauen  Feststellung  der  Verdun- 
stungsmenge über  dem  Ozean.  Es  ist  daher  leb- 
haft zu  begrüßen,  daß  Wüst')  aufs  neue  ver- 
sucht, diese  Menge  zu  schätzen.  Sie  beträgt  nach 
ihm  304200  cbkm,  da  er  aber  selbst  zugibt,  daß 
dieser  Zahl  eine  Fehlergrenze  von  ±  10  "/^  an- 
haftet, so  halte  ich  eine  Genauigkeit  bis  auf  hun- 
derte von  cbkm  für  unsinnig  und  überflüssig  und 
möchte  sie  auf  rund  300  000  cbkm  reduzieren, 
entsprechend  84  cm  Verdunstungshöhe.  Sie  ist 
erheblich  geringer  als  die  Brücknersche  Angabe 
(105)  und  erst  recht  als  diejenige  von  Lütgens 
(146).  Wüst  ist  der  Ansicht,  daß  Brückner 
in  der  Erkenntnis  der  Tatsache,  daß  die  üblichen 
kleinen  Verdunstungsmesser  erheblich  zu  hohe 
Werte  liefern,  noch  nicht  weit  genug  gegangen 
ist  und  daß  aus  Messungen,  welche  der  Amerikaner 
Bigelow  an  verschieden  großen  Gefäßen  ange- 
stellt hat,  ein  Reduktionsfaktor  0,82  für  die 
Brücknersche  Zahl  zu  erfolgen  habe,  woraus 
eine  mittlere  Verdunstung  des  Weltmeeres  zu 
86  cm  folgt,  also  beinahe  die  gleiche  ZaW,  die 
Wüst  gefunden  hatte.  Die'  sehr  viel  höhere 
Zahl,  die  Lütgens  bringt,  erklärt  Wüst  damit, 

')  Zeilschr.  Ges.  f.  Erdk.  zu  Berlin   1922,  Nr.  1/2. 


daß  jener  unterlassen  habe,  eine  Umrechnung  der 
Messung  von  Bordhöhe  auf  Meereshöhe  vorzu- 
nehmen; tut  man  dies,  so  weichen  nach  Beobach- 
tungen in  der  Ostsee  die  Zahlen  nicht  mehr 
wesentlich  ab.  Die  Niederschlagssummen  über 
dem  Festland  und  ihr  Überschuß  über  die  Ver- 
dunstung, mit  denen  Wüst  operiert,  fußen  noch 
immer  auf  den  von  Fritzsche  1906  berechneten 
Zahlen,  doch  glaubt  Wüst  auf  Grund  seiner  Er- 
gebnisse über  die  ozeanische  Verdunstung,  daß, 
wenn  man  die  von  Fritzsche  für  die  Zonen  von 
60"  N  bis  40"  S  errechneten  Werte  der  Landverdun- 
stung polwärts  ergänzt,  als  Gesamtverdunstung  des 
Festlandes  75000  cbkm  pro  Jahr,  als  rund  7  "j^ 
weniger  herauskommt  als  nach  der  Rechnung  von 
Fritzsche.  Hält  man  an  der  früher  berechneten 
Niederschlagsmenge  auf  dem  Festland,  nämlich 
II 2000  cbkm  fest,  so  stellt  sich  der  Abfluß  des 
Festlandes  auf  37000  cbkm.  Zieht  man  diese 
Zahl  von  der  Ozeanverdunstung  ab,  so  ergibt  sich 
als  Niederschlagsmenge  auf  dem  Ozean  267000 
cbkm.  Auf  tausende  cbkm  reduziert  würden  wir 
nach  Wüst  für  den  Wasserhaushalt  der  Erde, 
immer  vorausgesetzt,  daß  der  Kreislauf  des 
Wassers  ein  vollständiger  ist,  folgende  Bilanz  er- 
halten: 


Niederschlag 

Verdunstung 

Weltmeer 

267 

304 

Festland 

112 

75 

Erde 

379 

379 

Bisher  nahm  man  für  den  jährlichen  Überschuß 
von  N  über  V  auf  dem  Festland  32  000  cbkm  an. 
Wüst  erhöht  diese  Zahl  bereits  auf  37000.  Ich 
glaube  aber,  daß  man  sie  noch  weit  mehr  erhöhen 
muß  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.  Einmal 
fließt  nicht  nur  oberflächlich  Wasser  vom  Festland 
nach  dem  Ozean  ab,  sondern  es  geht  auch  durch 
Verdunstung  ein  weiterer  Teil  durch  die  Atmo- 
sphäre in  den  Ozean  zurück  und  endlich  fließt 
ein  nicht  unbeträchtlicher  Teil  durch  das  Grund- 
wasser in  das  Weltmeer.  Von  diesen  drei  Posten 
können  wir  den  zuerst  genannten  nur  dann  einiger- 
maßen sicher  abschätzen,  wenn  wir  von  allen 
Hauptflüssen  der  Erde  den  durchschnittlichen  Ab- 
fluß kannten,  was  aber  bisher  keineswegs 
der  Fall  ist.  Wir  wissen  ihn  nur  von  einer 
Reihe  der  wichtigsten  unter  ihnen  und  auch  von 
diesen  nur  auf  Grund  z.  T.  zeitlich  sehr  be- 
schränkter Messungen.  Bei  den  anderen  beiden 
Posten  sind  wir  bisher  leider  lediglich  auf  Ver- 
mutungen angewiesen.  Immerhin  werden  wir 
aber  doch  noch  in  die  Lage  kommen,  über  die 
Wassermenge,  welche  durch  die  Atmosphäre  vom 
Festland  aus  dem  Ozean  wieder  zugute  kommt, 
genaueres  auszusagen,  sobald  wir  über  die  Häufig- 
keit ablandiger  und  anlandiger  Winde  auf  den 
Hauptküstengebieten  der  Erde  etwas  näheres 
wissen.  Der  unterirdische  Abfluß  nach  dem 
Ozean  zu  wurde  früher  vielfach  gänzlich  über- 
sehen, so  z.  B.  noch  von  Murray  und  Fritzsche 
erst       durch       neuere      Untersuchungsergebnisse 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


647 


(Friedrich  in  Lübeck)  hat  man  begonnen,  ihm 
ernstliche  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  So  be- 
deutende Gewährsmänner  auf  ganz  verschiedenen 
Gebieten,  wie  der  Geologe  Keil  hack  und  der 
bekannte  Professor  der  Kulturtechnik  an  der 
Landwirtschaftlichen  Hochschule  zu  Beriin,  E. 
Krüger,  betonen  den  bedeutenden  Anteil  des 
Grundwassers  an  dem  Abfluß  der  Flüsse.  So 
schreibt  Krüger  in  seinem  „Kulturtechnischen 
Wasserbau",  Berlin  1921,  S.  51:  „Unter  dem  Fluß- 
bett, oder  seitwärts  davon  im  Flußtal,  bildet  sich 
diesem  gleichlaufend  noch  ein  Grundwasserstrom 
aus,  so  daß  zwei  Ströme  mit  sehr  verschiedener 
Geschwindigkeit  über-  oder  nebeneinander  zum 
IVleere  fließen.  Auf  diese  Weise  gelangt 
ein  großer  Teil  der  im  Sammelgebiet 
gefallenen  Niederschläge  als  Grund- 
wasser zumlVIeere,  ohne  in  einem  Fluß- 
lauf das  Tageslicht  wieder  erblickt  zu 
haben."  Über  die  Menge  des  Grundwassers,  das 
direkt    in    den  Ozean    zutritt,    sind    wir    natürlich 


bisher  lediglich  auf  Vermutungen  angewiesen 
doch  kann  man  aus  den  angegebenen  Gründen 
als  sicher  annehmen,  daß  das  sog.  „Betriebs- 
kapital" im  Wasserhaushalt  der  Erde  erheblich 
höher  ist,  als  man  bisher  vermutete  und  daß  da- 
her die  Verdunstung  auf  dem  Weltmeere  größer, 
auf  dem  Festland  geringer  sein  muß,  als  nach 
den  Aufstellungen  von  Wüst.  Um  wieviel  ent- 
zieht sich  bisher  unserer  Kenntnis.  Immer  wieder 
muß  scharf  betont  werden,  daß  alle  von  den 
verschiedenen  Autoren  angeführten  Zahlenangaben 
sich  immer  noch  zu  sehr  auf  Schätzung,  zu  wenig 
auf  zuverlässigen  direkten  Beobachtungen  beruhen, 
daß  sie  daher  bisher  mehr  ein  theoretisches  als 
ein  praktisches  Interesse  beanspruchen  können. 
Das  wird  erst  dann  der  Fall  sem,  wenn  einmal 
die  Zahl  der  Messungen  sowohl  des  Niederschlags 
wie  der  Verdunstung  eine  erheblich  größere  ge- 
worden ist  und  wenn  andererseits  die  Methoden 
die  Verdunstung  zu  messen,  eine  wirklich  exakte 
genannt  zu  werden  verdient.  Halbfaß. 


BOcherbesprechungen. 


Kaiser,  Alfred  (Arbon),  Die  Sinai  wüste.  106  S., 
mit  1  Karte  und  i2Textfig.  Selbstverlag  1922 
und  Mitteil.  derThurgauer  Naturforsch.- Ges.  1922. 
Der  bekannte  Kenner  des  Sinai  gibt  in  dieser 
interessanten  Schrift  eine  Zusammenstellung  un- 
serer Kenntnisse  dieser  Halbinsel,  die  2  Erdteile 
miteinander  verbindet  und  auf  der  sich  so  manche 
bedeutungsvolle  Ereignisse  abgespielt  haben.  Er 
behandelt  nacheinander:  Geschichte,  Landschaft, 
Forschungsreisen,  Geologie,  Bergbau,  Klima,  Be- 
völkerung, Tier-  und  Pflanzenleben  des  Meeres, 
Wüstenflora  und  Tierwelt.  Der  Verf.  ist  mit  dem 
Sinai  vertraut  wie  wohl  kein  anderer  Gelehrter. 
Während  die  meisten  Naturforscher  auf  ihr  nur 
wenige  Monate  weilten,  hat  Kaiser  drei  Reisen 
dorthin  unternommen,  i8b6  für  7  Monate,  1887 
im  Frühjahr  und  dann  mit  2jähriger  Unter- 
brechung von  1890 — 1898,  während  welcher  Zeit 
er  in  Tor  eine  kleine  wissenschaftliche  Station 
eingerichtet  hatte,  von  der  aus  er  Streifzüge  nach 
allen  Richtungen  unternahm.  Als  ich  selbst  zu 
Korallenstudien  1901  in  Tor  weilte,  konnte  ich 
mich  wiederholt  davon  überzeugen,  in  welch 
angenehmer  Erinnerung  die  Beduinen  den  Verf. 
noch  hatten.  Aus  dem  konzentrierten  Inhalt  der 
Schrift,  die  für  alle  späteren  Besucher  der  Halb- 
insel ein  unentbehrlicher  Führer  sein  wird,  können 
hier  nur  einige  Punkte  hervorgehoben  werden,  die 
den  Ref.  besonders  interessiert  haben.  Die  ka- 
nonendonnerartigen Geräusche,  die  Kaiser  zu- 
weilen am  Tage  im  Hochsommer  in  den  Gebirgs- 
tälern gehört  hat,  würde  ich  vermutungsweise 
auf  Abstürze  zurückführen,  die  durch  die  starke 
Gesteinserwärmung  veranlaßt  werden.  Von  Säuge- 
tieren sind  nur  ca.  30  Arten  beobachtet  worden, 
darunter  Panther,  die  gestreifte  Hyäne,  der  Wolf, 


der  Hyrax  syriacus,  die  Ibex  sinaiiica  (Steinbock), 
die  Gazelle  {Antilope  dor'cas)  und  mehrere  Füchse. 
Löwen  kommen  nicht  mehr  vor.  Von  den  ca. 
190  Vogelarten  finden  sich  126  auch  im  euro- 
päischen Gebiet,  76  sind  Brutvögel  und  nur  3 
sind  für  die  Halbinsel  spezifisch.  Ein  Busch- 
schlüpfer Drymoeca  inqiiicfa  Rupp.,  Carpoßaens 
synntcus  Licht,  und  Cacabis  chukar  Bp.  (Siein- 
huhn).  Interessant  ist,  daß  die  Raben  {Corvus 
umbrünts)  vor  Hunger  zuweilen  zu  Raubvögeln 
werden  und  den  weidenden  Kamelen  große 
Fleischslücke  aus  dem  Rucken  reißen.  Gift- 
schlangen sind  sehr  häufig.  Die  Hornviper  springt 
meterweit  nach  dem  Angreifer  und  beißt  ihn  ins 
Gesicht  oder  in  die  Hände  oder  Füße.  Die 
Waraneidechse  {Varaitiis  griseiis)  ist  ebenfalls 
wegen  ihrer  Angriffslust  gelurchtet.  Die  Wander- 
heuschrecke überfällt  den  Sinai  fast  alle  Jahre 
und  zerstört  nicht  nur  die  Vegetation  ganzer 
Landstriche,  sondern  sogar  die  Takelage  der  ver- 
ankerten Segelschiffe  und  die  mit  Kohlen  ge- 
füllten Säcke.  Da  Kaiser  für  das  nächste  Jahr 
eine  vierte  Reise  plant,  wünschen  wir  ihm  auch 
bei  dieser  Gelegenheit  vollen  Erfolg!  Quailles 
quetir,  nischalla  Allah!  L.  Plate,  Jena. 


Klut,  H.,   Untersuchung   des  Wassers   an 
Ort  und  Stelle.     Vierte  neu  bearbeitete  Auf- 
lage.    Mit    34   Textabbildungen.     Berlin    1922, 
Julius  Springer. 
Jedem,    der   sich    schnell    und    gründlich   über 
die     praktischsten     Methoden     der    Wasserunter- 
suchung orientieren  will,  kann  man  das  bekannte 
Klutsche  Buch  auf  das  angelegentlichste  empfehlen. 
—    Obwohl   in  erster  Linie  die  Untersuchung  an 


648 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  47 


Ort  und  Stelle  berücksichtigt  wird,  so  geniigen 
die  Ausführungen  des  Verfassers  wohl  in  den 
allermeisten  Fällen  auch  weiteren  Anforderungen 
derjenigen  Praktiker,  die  ihre  Untersuchung  im 
Laboratorium  fortsetzen  wollen,  also  Apothekern, 
Kreisärzten,  Bezirkstierärzten  usw.  —  Großes  Ge- 
wicht legt  der  Verf.  auf  außerordentlich  reich- 
haltige Literaturangaben,  ein  Vorzug  des  Buches 
für  alle  diejenigen,  die  sich  eingehender  mit  der 
Materie  zu  beschäftigen  wünschen.  —  Die  Stel- 
lung des  Verf.  als  Mitglied  der  preußischen  Landes- 
anstalt für  Wasserhygiene,  in  der  Bakteriologen, 
Botaniker,  Zoologen,  Chemiker  und  Techniker  in 
ständiger  Fühlung  miteinander  stehen,  setzte  ihn 
in  die  Lage,  die  Beurteilung  des  Wassers  nicht 
einseitig  vom  chemischen  Standpunkt  aus  zu  be- 
handeln; ferner  war  es  ihm  möglich,  die  vielen 
in  dem  Buche  erwähnten  praktischen  und  hand- 
lichen Apparate  in  der  Anstalt  jahrelang  auszu- 
proben,  bevor  sie  im  Handel  erschienen  und  den 
Praktikern  empfohlen  wurden;  ein  Umstand,  auf 
den  hinzuweisen  mir  notwendig  erscheint  ange- 
sichts   der   gegenwärtigen    Teuerungsverhältnisse. 

Wächter. 


Das  Wertvollste  an  dem  ganzen  Buche  dürfte  die 
gute  Auswahl  der  Gedichte,  die  über  heimische 
Pflanzen  handeln,  sein.  Marzell. 


Reling,  H.,  und  Brohmer,  B.,  Unsere  Pflan- 
zen in  Sage,  Geschichte  und  Dichtung. 
3  Teile.  5.  Auflage.  106+  128 -|-  120  Seiten. 
Dresden  1922,  L.  Ehlermann. 
Diese  vorliegende  5.  Auflage  des  bekannten 
Werkes  erscheint  jetzt  in  3  Teilen  und  ist  auch 
sonst  in  mannigfacher  Beziehung  verändert.  Wenn 
in  dieser  Auflage  die  biologischen  Tatsachen  mehr 
als  in  den  früheren  berücksichtigt  sind,  so  ist  das 
zwar  recht  erfreulich,  dient  aber  dem  Zweck  des 
Buches,  wie  ihn  der  Titel  verheißt,  so -gut  wie 
gar  nicht.  Wer  sich  über  die  Geschichte  unserer 
Pflanzen  und  über  die  Volksbotanik  (folkloristische 
Botanik)  unterrichten  will,  der  findet  meist  nur 
die  alten,  abgedroschenen,  meist  falschen  Erklä- 
rungen und  Deutungen.  Um  nur  ein  Beispiel  zu 
nennen:  Es  ist  völlig  unerwiesen,  daß  die  Schlüssel- 
blume (Primula)  von  den  alten  Druiden  unter 
allerlei  geheimnisvollen  Bräuchen  gepflückt  worden 
ist  usw.  Plinius  (Hist.  nat.  XXIV,  104)  sagt 
dies  vielmehr  von  einer  Pflanze  ,,samolus",  die 
aber  sicher  nicht  eine  Primula  ist  und  übrigens 
auch  nicht  die  Samolus  Valerandi  L.  Die  Quellen 
sind  leider  nur  ganz  ungenügend  angegeben.  Im 
allgemeinen  zeigt  das  Werk  ungefähr  die  gleichen 
Mängel,  wie  sie  Ref  bei  dem  denselben  Gegen- 
stand behandelnden  Buch  von  Sohns  beanstanden 
mußte  (Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  20  [1921].  360). 


Burckhardt- Erhard,  Geschichte  der  Zoo- 
log i  e.  Sammlung  Göschen,  Vereinigung  wissen- 
schaftlicher Verleger.  In  2  kleinen  Bänden. 
9  M.  der  Band. 
Erhard  hat  die  Burckhardtsche  Ge- 
schichte der  Zoologie  in  2.  Auflage  bearbeitet 
und  ergänzt.  In  sehr  ansprechender  Schreibweise 
wird  ein  bei  aller  Kürze  umfassender  Überblick 
über  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Tier- 
forschung gegeben.  Der  über  zwei  Göschen- 
bändchen  verteilte  Stoff  ist  in  Urgeschichte,  an- 
tike, mittelalterliche  und  neuzeitliche  Zoologie 
gegliedert.  Aus  der  Erkenntnis  heraus,  daß  jeder 
wissenschaftliche  Fortschritt  an  einzelne  Persön- 
lichkeiten gebunden  ist,  wird  das  Lebenswerk 
bedeutender  Forscher  eingehend  gewürdigt.  Das 
Werk  ist  aber  nicht  nur  eine  Zusammenstellung 
von  Biographien,  sondern  gleichzeitig  eine  Ge- 
schichte der  tierwissenschaftlichen  Probleme,  an 
deren  Lösung  die  deutsche  Forschung  ruhmreich 
mitgearbeitet  hat.  „In  den  glücklichsten 
Jahren  deutscher  Geschichte,  seit  dem 
Jahre  1870,  hat  die  deutsche  Zoologie 
die  Fackel  allen  übrigen  Ländern  vor- 
ausgetragen. Schon  droht  die  amerikanische 
Zoologie  sie  zu  überflügeln.  Möge  nie  der  -Geist- 
des  Gerbers  K 1  e  o  n ,  der  den  allmählichen  Nieder- 
gang der  griechischen  Biologie  einleitete,  auch 
über  unsere  deutsche  Wissenschaft  kommen  und 
sie  zum  Veröden  bringen."  Das  Werk  kann  warm 
empfohlen  werden.  H.  v.  Lengerken. 


Literatur. 

Hunt  er,  Waler  S.,  Behavior  Monographs  Vol.  4,  Nr.  4, 
1922 ,  Serial  Number  20.  Visual  Perceplion  of  the  Chick. 
Baltimore,   Williams  iS:    Wilkins   Company. 

Morgan,  Th.  H.,  Die  stofflichen  Grundlagen  der  Ver- 
erbung. Deutsche  Ausgabe  von  H.  Nachtsheim.  Mit  llSAbb. 
Berlin  '21,  Gebr.   Bornträger.     69  M. 

Sirks,  M.  J.,  Handboek  der  Algemeene  Erfelijkheidsleer. 
Met  5  gekleurde  Platen  en  127  Af beeldingen.  s'Gravenhage 
'22,  M.  Nijhoff.     15   fl. 

Rinne,  Prof.  Dr.  F.,  Das  feinbauliche  Wesen  der  Ma- 
terie nach  dem  Vorbilde  der  Kristalle.  2.  u.  3.  Aufl.  Berlin 
'22,   Gebr.   Bornlr.ager.      I17   M. 

Handbuch  der  Pflanzenanatomie,  herausgegeben  von  K. 
Linsbauer.  Allgemeiner  Teil:  Cytologie  Hand  I  (Bg.  I  — 12). 
Zelle  und  Cytoplasma  von  H.  Lundegärdh.  Mit  193  Text- 
figuren. Hd.  II.  Allgemeine  Pflanzenkaryologie  von  G.  Tischler. 
Berlin   '21,   Gebr.   Bornträger.      225   M. 


InbHlt:  Kr.  J.  Meyer,  Die  Vitülhypothese  Arthur  Meyers.  (14  Abb.)  S.  633,  A.  An  g  er  sb  ach ,  Joseph  Petzoldt.  S.  640. 
—  Einzelberlcbte:  Fr.  Ahlborn,  Der  Segclflug.  S.  644.  M.  Pop  off,  Die  Stimulierung  (Hebung)  der  Zellfunklionen 
und  ihre  theoretische  und  landwirtschaftliche  Bedeutung.  S.  645.  Wüst,  Verdunstung  und  Niederschlag  auf  dem  Meer. 
S.  646.  —  BUcberbesprecbungen:  A.  Kaiser,  Die  Sinaiwüste.  S.  647.  H.  Klut,  Untersuchung  des  Wassers  an  Ort 
und  Stelle.  S.  647.  II  Reling  und  B.  Brohmer,  Unsere  Pflanzen  und  Sage,  Geschichte  und  Dichtung.  S.  648. 
Burckhardt-Erhard,  Geschichte  der  Zoologie.  S.  648.  —  Literatur:  Liste.  S.  648. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miebe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Fätz'icben  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  Band. 


Sonntag,  den  26.  November  1922. 


Nummer  48. 


Wandernde  Fledermäuse. 


[Nachdruck  verboten,] 


Von  Hans  Stadler. 


Daß  Vögel  ziehen  und  dabei  oft  riesenhafte 
Strecken  durcheilen,  ist  jedermann  geläufig.  Nicht 
immer  legen  sie  ihren  Weg  fliegend  zurück;  das 
Tüpfelsumpfhuhn  läuft  auch  auf  der  Herbst- 
wanderung stunden-  und  tagelang.  Distelfalter, 
Weißlinge,  Wasserjungfern,  Heuschrecken,  Ameisen 
wandern  zuweilen  in  ungeheuren  Scharen.  Auch 
manche  Säugetiere  erfaßt  der  Zugtrieb :  Die  Hasen 
der  Rhön  ziehen  sich  im  Herbst  von  den  rauhen 
Höhen  des  Gebirges  in  die  milderen  Flußtäler 
des  Mains  und  der  Werra ;  Renntier  und  Sibirischer 
Lemming  wandern  im  Zusammenhang  mit  dem 
nordischen  Winter;  im  Kapland  zogen  ehedem 
Millionen  von  Springböcken,  der  Dürre  des  tropi- 
schen Sommers  ausweichend,  in  wasserreichere, 
oft  sehr  weit  entfernte  Gebiete.  Es  ist  daher 
nicht  erstaunlich,  daß  auch  Fledermäuse,  diese 
flugbegabten  nächtlichen  Säugetiere,  wandern. 
Was  wir  allerdings  von  ihren  Wanderzügen  wissen, 
ist  mehr  als  lückenhaft,  und  die  Berichte  darüber 
sind  so  sparsam,  daß  es  sich  verlohnt,  die  bis- 
herigen Mitteilungen  hierüber  zusammenzustellen 
und  eine  neue  eigene  Beobachtung  mitzuteilen. 

Von  kurzen  Wanderungen  berichten  G  e i  s e n  - 
heyner,  Blasius  und  Brehm.  Geisen- 
heyner^)  spricht  (S.  15)  von  der  eigentümlichen 
Gewohnheit  der  Teichfledermaus  (Myotis  dasy- 
cneme),  „gegen  Winter  die  von  ihr  im  Sommer 
bewohnten  wasserreichen  Ebenen  des  oberen 
Rheins  zu  verlassen  und  ins  Gebirge  zu  wandern", 
so  daß  „sie  zur  Zeit  ihrer  Winterruhe  ebenso  im 
Hunsrück  gefunden  werden  könnte  .  .  .  wie  .  .  . 
im  Taunus  und  in  noch  weiter  nördlich  liegen- 
den Gebirgen.  .  ."  Blasius")  (S.  75)  schreibt 
von  der  zweifarbigen  Fledermaus  (Vesperugo  dis- 
color  =  Vespertilio  murinus):  „Gloger  gibt 
Gründe  dafür  an,  anzunehmen,  daß  sie  in  Schle- 
sien im  Frühjahr  aus  der  Ebene  allmählich  in  die 
höheren  Gebirge  hinaufziehe."  Derselbe  Be- 
obachter spricht  auch  von  größeren  Reisen 
gewisser  Fledermäuse.  So  S.  70:  „Es  scheint, 
daß  [die  Bergfledermäuse]  in  der  Art  wie  die 
Zugvögel  mit  ihrem  Sommer-  und  Winteraufent- 
halt wechseln:  im  Herbst  aus  den  Gebirgen  in 
die  Ebenen,  aus  nördlichen  Gegenden  in  mildere 
wandern,  und  im  Frühjahr  oder  Sommer,  sobald 
die  geeigneten  Bedingungen  eingetreten  sind,  da- 
hin zurückkehren",  und  S.  72/73  erläutert   er  das 


')  Geisenheyner,  Ludwig,  Wirbeltierfauna  von  Kreuz- 
nach. II.  Teil :  Säugetiere.  Wissenschaftliche  Beilage  Gym- 
nasium Kreuznach   1891. 

*)  Blasius,  Naturgeschichte  der  Säugetiere  Deutschlands 
1857. 


an  dem  Beispiel  von  Vesperugo  (Eptesicus)  Nils- 
soni,  der  Umber-  oder  Nordischen  Fledermaus. 
„Nach  dem,  was  ich  über  diese  Art  im  Norden 
von  Rußland,  wo  sie  die  einzige  dort  vorkom- 
mende Fledermaus  ist,  erfahren  habe,  scheint  sie, 
gleich  den  Zugvögeln,  mit  ihrem  Aufenthalt  für 
verschiedene  Jahreszeiten  auf  große  Entfernungen 
hin  zu  wechseln.  Daran,  daß  sie  von  der  Breite 
der  Ostseeprovinzen  bis  in  die  Nähe  des  Weißen 
Meeres  ziemlich  überall  verbreitet  ist,  scheint 
nicht  zu  zweifeln.  Doch  sieht  man  sie  im  Früh- 
jahr und  zu  Anfang  des  Sommers  nirgends  in  den 
nördlichen  Gegenden  ihres  Verbreitungsbezirks. 
Darin  stimmen  die  Aussagen  der  Nordrussen  und 
meine  eigenen  Beobachtungen  vollkommen  über- 
ein. Ich  habe  im  Norden  von  Rußland  manche 
Nacht  im  Freien  zugebracht  und  nie  eine  Fleder- 
maus gesehen,  obwohl  mir  aus  denselben  Gegen- 
den im  Spätsommer  gefangene  Tiere  zugeschickt 
wurden.  Erst  im  August,  mit  dem  Eintritt  der 
längeren,  dunkleren  Nächte,  wird  sie  in  den  nörd- 
lichen Breiten  sichtbar.  Es  scheint,  als  ob  die 
taghellen  kurzen  Juni-  und  Julinächte  einen  frühe- 
ren Aufenthalt  im  Norden  nicht  zuließen,  dagegen 
diese  Tiere  teilweise  in  der  2.  Hälfte  des  Som- 
mers, nachdem  die  Jungen  hinreichend  erwachsen 
sind,  wandernd  an  die  nördlichen  Grenzen  ihrer 
Verbreitung  hinaufziehen.  Daß  dabei  Land- 
strecken von  lo  Breitengraden  durchzogen  wer- 
den, scheint  klar  zu  sein.  Außer  dem  Renntier, 
das  fast  dieselben  nordischen  Gegenden  bewohnt, 
ist  kein  Säugetier  bekannt,  das  regelmäßig  jähr- 
lich so  große  Strecken  durchwandert."  Leunis- 
Ludwig^)  (Synopsis)  S.  215  schöpft  offenbar  aus 
Blasius,  wenn  er  bemerkt:  „Vesperugo  Nils- 
sonii  wechselt  ähnlich  den  Zugvögeln  ihren 
Aufenthalt....  V.  discolor:  Auch  sie  scheint 
ähnlich  wie  V.  Nilssonii  zu  wandern."  In  B  r  e  h  m  s  ^) 
Tierleben  S.  382  heißt  es:  „Es  ist  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  weit  mehr  unserer  Flattertiere,  als 
wir  annehmen,  wandern,  obschon  in  beschränk- 
terer Weise  als  die  Vögel.  Daß  einige  Fleder- 
mäuse bei  uns  manchmal  von  der  Höhe  zur 
Tiefe  und  umgekehrt  ziehen,  ja  daß  sie  gegen 
den  Winter  hin  nach  südlicher  gelegenen  Gegen- 
den pilgern,  war  längst  bekannt.  Mitunter  näm- 
lich findet  man  im  Sommer  Fledermäuse  in  einer 
Gegend,  wo  sie  zu  anderen  Jahreszeiten  nicht 
vorkommen.      So    verschwindet    laut    Koch    die 


')  Leunis-Ludwig,  Synopsis  der  Tierkunde  I.  3.  Aufl. 
■*)  Brehm s  Tierleben  4.  Aufl.,  Bd.  10. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Umberfledermaus  .  .  .  aus  einem  großen  Teile  des 
nördlichen  Rußland,  wandert  bis  Schlesien,  Mäh- 
ren, Oberfranken,  ja  selbst  bis  in  die  Alpen  und 
überwintert  hier.  Ebenso  sieht  man  die  Teich- 
fledermaus .  .  .  während  des  Sommers  immer  in 
den  norddeutschen  Ebenen  über  Flüsse  und  Seen 
hin-  und  herfliegen,  begegnet  ihr  aber  um  diese 
Zeit  nur  ausnahmsweise  in  den  Gebirgen  Mittel- 
deutschlands, wogegen  im  Winter  Felsenhöhlen 
dieser  und  anderer  Gebirge  gerade  von  ihr  sehr 
häufig  zum  Überwintern  benutzt  werden.  In  den 
Wäldern  Hessens  hält  es  äußerst  schwer,  im 
Winter  eine  Vesperugo  noctula  Schreb.  aufzu- 
treiben, obgleich  ßaumhöhlen  genug  da  sind,  die 
zu  ihrem  Aufenthalt  geeignet  erscheinen;  im  Som- 
mer dagegen  sieht  man  diese  Fledermaus  häufig 
genug  über  den  Waldungen  umherschwärmen, 
und  im  Taunus  und  im  Lahntal  überwintert  sie 
regelmäßig,  ohne  daß  im  Sommer  eine  größere 
Anzahl  von  ihnen  vorhanden  sein  dürfte  als  dort, 
wo  sie  nicht  überwintert.  Wenn  die  Beobach- 
tungen über  das  Wandern  der  Fledermäuse  nicht 
so  schwierig  wären  und  öfters  darauf  geachtet 
würde,  dürfte  eine  größere  Anzahl  von  geeigneten 
Beispielen  vorliegen  als  jetzt  noch  der  Fall  ist." 
Leydig*)  berichtet  S.  213,  Anmerkung:  „Die 
südliche  Fledermaus  Dysopes  Cestonii  (jetzt: 
Nyctinomus  taeniotis  Rafinesque),  seinerzeit  von 
Savi  beschrieben,  wurde  vor  einigen  Dezennien 
in  Basel  gefangen  (G.  Schneider,  1870).  Doch 
ist  es  bei  dem  einzigen  Fall  geblieben."  Dieser 
Fall  beweist,  daß  Fledermäuse  zuweilen  die  Alpen 
überfliegen,  ähnlich  gewissen  Nachtfaltern  (Toten- 
kopf, Oleander-  und  Livornoschwärmer)  und  einer 
Feldheuschrecke  des  Südens,  Acridium  aegypticum. 
Gegen  die  Behauptung  ausgedehnter 
Wanderzüge  der  Fledermaus  erhebt  Jäckel**) 
Einwendungen  (S.  44):  „Blasius  vermutete,  daß 
diese  Art  den  Zugvögeln  gleich  mit  ihrem  Aufent- 
halt in  den  verschiedenen  Jahreszeiten  wechselt, 
also  ein  Zugtier,  wie  das  Renntier,  sei  und  jähr- 
lich große  Strecken  bis  zu  10  Breitengraden  durch- 
wandere. Mit  Gewißheit  behauptet  das  Blasius 
nicht,  aber  nach  einer  Reihe  von  Sätzen  mit: 
Es  scheint  nicht  zu  zweifeln,  daß  usw. ,  es  scheint 
als  ob  usw.,  es  scheint  klar  zu  sein  usw.,  kommt 
er  zu  dem  Schluß,  daß  V.  Nilssonii  zu  ziehen 
scheine.  Anderen  Forschern,  namentlich  Kole- 
nati,  der  unsere  Fledermaus  in  Mähren  und 
Schlesien  gefunden,  genügten  diese  Vermutungen 
und  wurde  ihr  sofort  die  Eigenschaft  des  Wander- 
tieres in  großartigem  Maßstabe  zugesprochen  und 
behauptet,  sie  ziehe  in  Mähren  nur  durch  und  in 
Schlesien  sei  sie  Wintergast.  Inzwischen  wurde 
das  Tier  von  Blasius  in  den  Alpen  gefunden 
und  von  Karl  Koch  im  April  1863  ...  bei 
Dillenburg  geschossen.  .  .  .  Am  8.  August  1852 
wurde  in  Memmingen  ein  Exemplar  gefangen  .  .  . 

'')  Leydig,  Horae  zoologicae   1880. 

')  Jäckel,  A.  J.,  Die  Säugetiere  der  drei  fränkischen 
Kreise  Baierns.  9.  Bericht  der  naturf.  Gesellschaft  zu  Bam- 
berg  1870. 


bei  Wassertrüdingen  .  .  .  und  im  Herbst  1860  ein 
junges  Männchen  von-Regensburg  ...  So  ist  denn 
die  sog.  nordische  Fledermaus  in  Bayern  im  Früh- 
ling, Sommer  und  Herbst,  und  da  man,  wo  es 
sich  um  Fledermäuse  handelt,  auch  noch  den 
April  zu  den  Wintermonaten  rechnen  darf,  auch 
im  Winter  beobachtet  worden,  weshalb  mir  die 
Annahme,  daß  sie  im  Sommer  weit  gegen  Nor- 
den vorkomme,  den  Winter  in  wärmeren  Gegen- 
den zubringe  und  in  Süddeutschland  nur  auf  der 
Durchreise  angetrofifen  werde,  als  unhaltbar  er- 
scheint." Auch  Brehm'')  schließt  sich  (S.  462/63) 
diesen  Zweifeln  an:  „Wenn  Umberfledermäuse 
überwinternd  in  Schlesien,  im  April  in  Mähren, 
Nassau  und  in  Baiern  (Mittelfranken),  im  Mai  in 
Mähren  und  Baiern  (Regensburg),  im  Sommer  in 
der  Schweiz,  am  7.  August  in  Oberungarn  und 
am  8.  August  in  Schwaben  beobachtet  wurden, 
wo  sie  doch  nach  Blasius  schon  in  Nord- 
deutschland sein  sollten,  so  begreift  man  nicht, 
wie  sie  noch  in  demselben  Monat  an  das  Ziel 
ihrer  Reise  gelangen  können.  Das  hierzu  erfor- 
derliche Flugvermögen  scheint  mir  kein  Flatter- 
tier zu  besitzen,  zumal  es  auf  der  Reise  den  Tag 
über  ruhen  und  schlafen  und  in  den  9 — 10  Stun- 
den langen  Augustnächten  auf  jeder  Raststation 
2 — 3  Stunden  auf  Insektenjagd  verwenden  müßte, 
und  Gewitter,  starker  Regen,  widriger  Wind  ihnen 
in  mancher  Nacht  die  Fortsetzung  der  Reise  un- 
möglich machen  würde.  Daß  sie  aus  den  Ostsee- 
provinzen und  Ländern  gleichen  Breitengrades 
im  August  nach  dem  Norden  Rußlands  bis  zum 
Weißen  Meere  zieht ,  demnach  wirklich  wandert, 
soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden." 

Ich  kann  nun  eine  neue  Beobachtung  mitteilen 
über  Fledermauszug,  eine  Beobachtung,  die  ein 
sehr  zuverlässiger  fränkischer  Feldornithologe, 
Herr  Otto  Hepp  in  Neuendorf  am  Main,  seinerzeit 
gemacht  hat.  „Von  Jugend  auf",  so  berichtet 
Hepp,  „habe  ich  auf  Vögel  geachtet,  angeregt 
von  Vater  und  Großvater,  die  auch  schon  „Vogels- 
narren" waren  wie  ich  und  jetzt  wieder  mein 
13  jähriger  Sohn.  So  sah  ich  schon  als  Kind 
Krähen  und  Wildgänse,  Lerchen  und  Schwalben 
ziehen.  Ums  Jahr  1890,  etwa  Ende  September, 
an  einem  schönen  Herbsttag  mittags,  flog  ein 
Schwärm  von  einigen  Hundert  Mehlschwalben 
langsam  gerade  über  mir  weg  von  Ost  nach  West, 
vielleicht  60 — 70  m  hoch.  Aus  diesem  Schwärm 
kamen  mehrmals  scheinbar  einzelne  Schwalben 
heraus,  begleiteten  die  geschlossene  Schar  ein 
Weilchen  und  tauchten  wieder  in  die  Masse  der 
anderen  ein.  An  dem  Hackenschlagen  und  mit 
meinen  sehr  scharfen  Augen  erkannte  ich  sofort 
zu  meinem  Erstaunen,  daß  diese  sich  absondernden 
und  zum  Schwärm  wieder  zurückkehrenden  Tiere 
Fledermäuse  waren,  die  wohl  Mücken  in  der 
Luft  fingen.  Nun  erkannte  ich  Fledermäuse  auch 
mitten  in  der  Schwalbengeseilschaft:  sie  waren 
leicht  zu  unterscheiden,  weil  sie  etwas  stärker 
(größer)  waren  als  die  Vögel.  Es  waren  ihrer 
viele   in   dem  Schwärm.     Ich   stelle   mir   vor,  so 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


651 


gewagt  es  vielleicht  auch  erscheinen  mag,  daß 
auf  solchem  gemeinsamen  Zug  die  Schwalben  bei 
Tag  den  Weg  weisen,  die  Fledermäuse  nachts." 
An  dieser  Beobachtung  erscheint  dreierlei  neu 
und  auffallend.  Erstens :  ein  nächtliches  Tier  wie 
die  Fledermaus  fliegt  bei  Tage,  wo  sie  doch  nach 
allgemeiner  iVIeinung  ruhen  müßte.  Zweitens:  ein 
allerdings  flugbegabter  Säuger  zieht  mit  Angehö- 
rigen einer  ganz  anderen  Wirbeltiergruppe,  mit 
Vögeln,  Mehlschwalben.  Drittens:  zeigt  die  Be- 
obachtung Fledermäuse  auf  dem  herbstlichen 
Fernzug  nach  Westen,  und  schließlich:  sie  fliegen 
zusammen  mit  Schwalben;  in  deren  Gesellschaft 
müssen  sie  sehr  schnell  fliegen  und  sehr  aus- 
dauernd, denn  die  Schwalben  legen  auf  dem  Zug 
vermutlich  ohne  Unterbrechung  oft  Hunderte  von 
Meilen  zurück.  —  So  allein,  wie  es  auf  den  ersten 
Blick  scheinen  könnte,  steht  die  Beobachtung  je- 
doch nicht.  Ich  selbst  habe  Fledermäuse  im 
Herbst  wie  im  ersten  Frühjahr  nicht  nur  an  Nach- 
mittagen, also  nahe  dem  Einbruch  der  Dämme- 
rung, stundenlang  auf  Kerbtiere  jagen  sehen,  son- 
dern auch  in  den  Vormittagsstunden.  Und 
Fr.  W.  Eckard t,')  der  bekannte  vogelkundige 
Meteorologe,  schreibt:  „Zu  Anfang  Juli  192 1 
waren  im  südlichen  Thüringen  die  Nächte  sehr 
kühl.  Zusammen  mit  den  Schwalben  suchten 
daher  im  warmen  Sonnenschein  in  den  Vormittags- 
und Mittagsstunden  Fledermäuse  über  der  Werra 
und  dem  Kanal  ihre  Nahrung.  Dabei  konnte  ich 
beobachten,  wie  die  Fledermäuse  größere  flie- 
gende Insekten,  etwa  vom  Umfang  unserer  Stuben- 
fliege, bereits  aus  3 — 4  m  Entfernung  wahrnahmen." 
Und  Jäckel")  sagt  auf  S.  42:  „Bei  Neuhaus  sah 
ich  [Vesperugo  noctula]  am  27.  September  und 
21.  Oktober  1856  und  am  20.  April  1857  schon 
nachmittags  zwischen  3  und  4  Uhr,  am  letzt- 
genannten Tag  bei  herrlichem  Wetter  und  Sonnen- 
schein auch  gegen  Abend  über  den  dortigen 
Weihern  in  großer  Anzahl  fliegen."  Ähnlich 
Blasius'-)  S.  21:  „Die  größte  Gewandtheit  und 
Schnelligkeit  im  Flug  hat  entschieden  Vesperugo 
noctula:  Man  sieht  sie  zuweilen  schon  vor  Sonnen- 
untergang turmhoch  und  in  raschen  kühnen  Wen- 
dungen mit  den  Schwalben  umherfliegen;  und 
diese  Art  hat  den  verhältnismäßig  schlanksten 
und  längsten  Flügel,  über  3  mal  so  lang  als  breit." 
Diese  drei  zuverlässigen  Beobachter  berichten  also 
übereinstimmend,  daß  Fledermäuse  am  hellen  Tag, 
auch  vormittags,  stundenlang  fliegen,  und  melden 
sogar  Fledermäuse  in  ebenfalls  stundenlanger  Ge- 
sellschaft von  Schwalben,  so  daß  eine  Art  Lebens- 
gemeinschaft beider  einander  sonst  so  fernstehender 
Tierarten  nicht  zu  bestreiten  ist,  und  wenn  beide 
die  Nahrungssuche  für  viele  Stunden  an  den 
gleichen  Orten  zusammenführt,  so  ist  nur  ein 
Schritt  zu  der  Möglichkeit,  daß  auch  ein  gemein- 
sames Reiseziel  sie  vereinigt.  Und  Eckardts 
Mitteilung,  daß  seine  F'ledermäuse  Insekten  auf 
3 — 4  m  wahrnehmen,   stimmt  vortrefflich    zu  der 

')  Eckardt,  F.  W.,  Ornith.  Monatsschrift  1922. 


Beobachtung  in  unserem  Fall,  daß  die  Fleder- 
mäuse das  geschlossene  Geschwader  verließen  und 
seitlich  ausschwärmten,  weil  sie  des  Wegs  kom- 
mende Mücken  rechtzeitig  erblickten!  —  Ohne 
weiteres  drängt  sich  sodann  der  Vergleich  auf 
mit  den  Verhältnissen  in  der  Vogelwelt.  Wie 
hier  ein  nächtliches  Tier  bei  Tag  wandert, 
so  ziehen  alljährlich  Millionen  von  Tagvögeln 
ins  Winterquartier  und  nach  den  Brutplätzen 
nachts,  selbst  in  den  finstersten  Neumond- 
nächten —  Schwalben,  Lerchen,  Pieper  und  Bach- 
stelzen, Unkenvögel,  Goldhähnchen,  Raubvögel, 
Tauben  I  Auf  dem  Wanderzug  halten  Vögel 
ganz  verschiedener  Arten  zusammen  —  nicht  nur 
Saatkrähen  und  Dohlen,  Stock-  und  Krickenten, 
Steppen-  und  Sandflughühner:  auch  Stare  und 
Krammetsvögel,  Stare  und  Krähen,  Stare  und 
Kiebitze;  Meisen,  Baumläufer,  Kleiber  und  Spechte I 
Bleibt  noch  die  Frage,  ob  Fledermäuse  die  Kraft 
aufbringen  können,  mit  so  schnell  fliegenden  Vögeln 
wie  Schwalben  stundenlang  Schritt  zu  halten? 
Hierzu  läßt  sich  sagen :  Tiere,  die  nachts  auf  Jagd 
nach  anfliegenden  Kerfen  viele  Stunden  hindurch 
eine  Bogenlampe  rastlos  umstreifen  in  hastigem 
Flug  —  warum  sollten  die  nicht  die  Flügelkraft 
besitzen,  auf  der  Wanderung  stundenlang  schnell 
dahinzueilen  ?  Die  Vogelwelt  liefert  uns  da  wieder 
vortreffliche  Seitenbeispiele  und  noch  weit  über- 
raschendere Tatsachen.  Es  ist  selbstverständlich, 
daß  Sänger,  Finken,  Schnepfen,  Regenpfeifer, 
Möven,  die  im  Brutgebiet  immerfort  unterwegs 
sind  und  im  Lauf  eines  Tages  insgesamt  lOO  km 
verfliegen,  auf  dem  Zug  diese  Strecken  in  einer 
Richtung  zurücklegen.  Aber  noch  mehr.  Arten, 
die  nur  schlecht  und  im  Brutgebiet  wie  im  Winter- 
standort nur  wenig  fliegen :  Teichhühner  und 
Blässen,  die  Sumpfhühnchen;  Arten-,  denen  nur 
kleine  schwache  Flügel  eigen  sind:  Steißfüße  und 
Seetaucher;  Arten,  die  zur  Brutzeit  monatelang 
überhaupt  nicht  fliegen :  der  Wachtelkönig,  die 
Wachtel  —  ihnen  allen  wächst  mit  dem  Zugtrieb 
die  Flügelkraft  ins  Unfaßliche,  so  daß  sie,  die 
schlecht  und  selten  fliegenden  Geschöpfe,  auf  ein- 
mal die  Fähigkeit  bekommen,  looo  Meilen  nachts 
in  wenigen  Tagen  fliegend  zu  bewältigen.  So  von 
Grund  aus  gestaltet  die  Natur  den  Instinkt  von  Tieren 
um,  wenn  die  Erhaltung  der  Art  in  Frage  steht. 
Was  in  der  Vogelwelt  den  Flugstümpern  gelingt, 
sollte  so  glänzenden  Fliegern  wie  Fledermäusen 
unmöglich  sein  ? 

Eine  wirkliche  Mehrung  unseres  Wissens  durch 
unsere  Beobachtung  ist,  daß  in  unseren  Breiten 
Fledermäuse  zum  erstenmal  auf  dem  Fernzug 
unmittelbar  gesehen  worden  sind,  daß  sie  sich, 
wie  Vögel,  zu  einer  größeren  Gesellschaft  ver- 
einigt (und  sich  dann  abermals  einem  Schwalben- 
schwarm  angeschlossen)  hatten;  und  daß  sie  nach 
Westen  zogen  —  also  die  Zugrichtung  ein- 
hielten, die  jahraus  jahrein  zahllose  Vogelscharen 
auf  der  Herbstwanderung  einschlagen.  Vielleicht 
ist  es  auch  kein  Zufall,  daß  sie  ein  Plußtal,  den  Main 
entlang,   also    auf  einer  Zugstraße   flogen.     Diese 


6s2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  48 


Feststellung:  ein  Trupp  Fiedermäuse  in  weit  ent- 
legene westliche  Winterstandorte  reisend  —  ist 
für  Europa  jedenfalls  neu.  Sonst  ist  sie  jedoch 
keineswegs  die  einzige  oder  erste  ihrer  Art. 
Denn  Brehm*)  S.  382  schreibt:  „In  heißen 
Ländern,  wo  die  Fledermäuse  in  so  großer  Menge 
auftreten,  fällt  ihr  Wandern  mehr  auf.  Viele 
ziehen  sich  zur  Zeit  der  Dürre  in  das  Gebirge, 
andere  suchen  ferne  Gegenden  mit  der  von  ihnen 
vorher  bewohnten  zu  vertauschen,  kehren  aber 
nach  einiger  Zeit  wieder  dahin  zurück;  einige 
scheinen  in  den  kälteren  Jahreszeiten  dem  Äqua- 
tor näher  zu  rücken,  und  wieder  andere  ziehen 
in  den  wärmeren  Monaten  nach  kühleren  Gegen- 
den oder  höher  nach  dem  Gehirge.  In  manchen 
Fällen  scheint  der  Grund  des  Ortswechsels  in 
den  klimatischen  Verhältnissen  zu  liegen;  in  den 
meisten  Fällen  aber  ziehen  unsere  Tiere  den  In- 
sekten nach.    Für  nordamerikanische  Fledermäuse 


hat  Hart  Merriam  regelmäßige  Wanderun- 
gen nachgewiesen,  und  zwar  sind  es  nach  seinen 
Forschungen  in  erster  Linie  die  Baumhöhlen- 
bewohner, die  wandern;  denn  in  ihren  Verstecken 
sinkt  die  Temperatur  mit  der  äußeren  Luft,  wäh- 
rend sie  sich  in  tieferen  unterirdischen  Höhlen 
eher  in  gewissen  mäßigen  Grenzen  hält.  Diese 
Winterwanderungen  nordamerikani- 
scher Fledermäuse  dehnen  sich  bis  auf 
die  Bermudainseln  aus,  und  die  Tiere  er- 
scheinen bei  dieser  Gelegenheit  regelmäßig  an 
gewissen  einsamen  Leuchttürmen.  Für  flugbe- 
gabte Warmblüter  gibt  es  eben  außer  dem  Winter- 
schlaf noch  eine  zweite  Möglichkeit,  über  Kälte 
und  Nahrungsmangel  hinwegzukommen:  die 
Wanderung,  und  es  ist  nicht  mehr  wie  natürlich, 
daß  auch  dieses  Mittel  von  Fledermäusen  ange- 
wandt wird.  So  liefern  sie  annähernd  eine  Paral- 
lele zu  den  Zugvögeln." 


Über  Lichtablenkung  nahe  der  Sonue  und  Perihelbewegung. 

Nachtrag  zu  dem  Aufsatz  in  Heft  23. 

VoD   S.  T.  Kobbe,  Coblenz. 
rboien.]  Mit    I    Abbildung. 


In  Heft  23  dieser  Zeitschrift  hatte  ich  ver- 
sucht, eine  einfache  Herleitung  für  die  Ablen- 
kung des  Fixsternlichtes  im  Schwere- 
feld der  Sonne  zu  geben.  Ausgehend  von 
der  Newtonschen  Mechanik  ging  ich  zur  spe- 
ziellen Relativitätstheorie  über  und  zwar  mit  Hilfe 
der  Beschleunigungsgleichungen.  Da  hiergegen 
sich  manches  einwenden  läßt,  liegt  es  mir  daran, 
zu  zeigen,  daß  auch  allein  mittels  der  Zeitänderung, 
wie  sie  die  spezielle  Relativitätstheorie  fordert, 
das  gleiche  Ergebnis  erzielt  wird.  Nach  der 
Newtonschen  Mechanik  ist  —  wie  dort  ab- 
geleitet —  die  Bahn  des  Lichtstrahls  von  einem 
Fixstern  dicht  am  Sonnenrande  vorbei  nach  der 
Erde  eine  flache  Hyperbel,  deren  Gleichung  lautet: 
(l)  r(i-|-6cos(/0  =  r„(i-f  f) 

Hierin  bedeuten: 

r,Jp  =  Polarkoordinaten.    Nullpunkt :  Sonnenmitte. 
e  =  472  000  =  Exzentrizität, 
r,  :=  695  400  km  =  Halbmesser  der  Sonne. 

A(,  =  —  ;  wo :  Q  =  arcrad.  in  Sek.,  so  ist 


Ist 


2  Aß  die  gesuchte  Ablenkung  in  Bogensekun- 
den  dicht  am  Sonnenrande.  Wir  fanden: 
(2)  Ablenkung  =  2  A,,  =  0,87" 

Beim  Übergang  zur  Relativitätstheorie 
schlagen  wir  nun  einen  anderen  Weg  ein.  In 
den  Lorentz-Transformalionen: 


f 


=  t 


wird  für  die  Bewegung  eines  Massen punktes: 
x'  =  0;  also:  x  =  vt;  und  daher: 


(3)   t 


■='1/-?^ 


-5;  oder 


Gesetzt:  t' 


(4)q 


=.(,-y, 


=  t  —  q ;  so  wird : 
;  oder:  t-fq  =  t(2- 


Hier  stellt  q  die  Verlängerung  der  Zeit  t  im  Sinne 
der  Relativitätstheorie  dar.  Für  ein  Bogenelement 
der  krummlinigen  Bahn  eines  Massenpunktes  gilt 
daher: 


(5.) 


d(t  +  q)  =  dt    2 


-]' 


Nach  dem  2.  Keplerschen  Gesetz   ist  für  Zentral- 
bewegungen: 


=  Constant. 


Hier  bedeutet  r  einerseits  die  Entfernung :  Sonnen- 
mitte— Fixstern,  andererseits  die  Entfernung: 
Sonnenmilte — Erde.  Da  gegen  die  Entfernung 
nach  dem  Fixstern  der  Halbmesser  der  Sonne 
verschwindet,  so  wird  auf  dieser  Seite: 

2    '     e     ■ 
Gegen  die  Entfernung  (r  =  e)  Sonne — Erde   darf 
der  Sonnenhalbmesser    r^    unmittelbar    nicht    ver- 
nachlässigt werden,  hier  wird: 

v,  =  ^'^-':"+A«; 

^  2  e     '      (> 

aber  der  Summand  r„  :  e  bleibt  un geändert,  ob 
wir  nach  Newton,  oder  nach  der  Relativitäts- 
theorie rechnen.  Nur  auf  die  Änderung  p  von  A„ 
kommt  es  an.  Somit  ist  beiderseits  der  Sonne  r 
als  konstant  anzusehen.     Dann  folgt  nach  (6) : 

^^'         dt  d(t  +  q)    ' 

Nach  (5)  und  (7)  haben  wir: 


Winkel  in  Sekunden. 


N.  F.  XXI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6S3 


(8)  d(Ao-f  p)  =  dAo    2—  L/i rj;  und  durch 

Integration : 

(9)  A„  -|-  p  =  Ao  (2  —  U  i—  ^,| ;  Const  =  O. 

Handelt  es  sich  um  einen  Lichtstrahl,  so  ist 
zu  setzen  : 

V  =  c ;     und  es  wird : 

(10)  Ao  +  p  =  2A„. 

Das  besagt:  Ist  auf  Grund  der  Newtonschen 
Mechanik  die  (2)  Lichtablenkung  =  2  Ag  =  0,87" 
berechnet,  so  ergibt  die  Relativitätstheorie 
die 

(11)  Ablenkung:  2(Ao +p)  =  4A0  =  1,74" 
Dies  ist  das  gleiche  Ergebnis,  wie  es  auch  auf 

Grund    der    Allgemeinen    Relativitätstheorie     be- 
rechnet worden  ist. 

nach  aem  Fixstern 


^Erde 
Liclitablenkung  nahe  der  Sonne. 


Zur  Berechnung  der  Perihelbe wegung 
elliptischer  Bahnen  haben  wir  die  Gleichungen : 
a(i  —  £^)  dr a(i  —  £^)s-s\mp 


(12) 


l+£cosi/»'         (iip         (i +£•  cos  )/'/-' 
wo:     2a  =  große    Achse    der    Bahneliipse,    und 
es  ist: 

,     ,  r^dip       2  7ra-]/i  — «•■' 

(13)  -zrr'~ h =  Const. 

dt  1 

T  =  ganze  Umlaufszeit,  also : 

d  (// 2  7C(I  -j-«  ■  cost/')- 

dl"  ~        T(i—e'^}'l'       ' 
/d(//\^_47r^(i+£.cosi/^)^ 
Idt/  ~         T^(i—ey 
Weiter  wird: 

^,^r=dj/^4-dr-_r2d(//2       ,dr\3    Idm- 
"^    ~"   "     dt^         ~    dt^    +  \d^/   ■  \dt  I 


(14) 


4 7g^a''(i+£.cos  (/>)•-'  47r2a2 


■s^) 


«'-sin-i// 


■  cos  ip 


T-(i-t-)  '  T-(i  — t-)' 
In  (13)  ist  r  die  Entfernung  des  Planeten  von 
der  Sonne,  die  an  einem  bestimmten  Bahnpunkt 
gleich  sein  muß,  ob  man  sie  nach  der  Newton- 
schen Mechanik,  oder  nach  der  Relativitätstheorie 
berechnen  würde.  Daher  ist  in  (13)  r  als  kon- 
stant anzusehen,  und  nur  auf  die  Änderung  p  von 
(//  kommt  es  an.     Somit  gilt,  vgl.  (7): 

(•5)         -7=  .^7:;;  ""d  nach  (55): 


(16) 


dt         d(t  +  q) 
d(i//-)-p)  =  di/'(2 


Da  V  gegen  c  immer  sehr  klein  ist,  so  dürfen 
wir  ohne  merklichen  Fehler  die  höheren  Potenzen 
von  v-:c-  vernachlässigen  und  schreiben: 

(17)         d(^  +  p)  =  d.//(i  +  ^,j 

Hierin  ist  der  Wert  für  v'  aus  (14)  einzusetzen: 

,.  ,   ,     ,       ,,/     ,  27r-a-(i+i")       4n''a'-e-cosip\ 


(18) 


Die  Integration  ergibt 

_27i'a^(i  -{-e^ 


272(1. 


xp. 


4  7r"^a"e-sin  j// 


■£'^)  -    '    c^T-^(i 
Const.  :=  o. 
Für  einen  ganzen  Umlauf  wird  i/i  =  2 
also: 

47r3pa'-(i +«■■')  . 
p  =  — .2YY1  aV   '"  Bogensekunden 


(19) 

Ist 
ellipse : 

(>2)  ■  —        , 

I  -|-  £  •  cos  »/' 

SO  heißt  sie  zurzeit  t  >  o : 

/     ^  aCl— £2) 

(20)  '-  ' 


zurzeit    t  =  O    die    Gleichung    der    Bahn- 

a(i  — £-) 


I  +£-C0S(»/^4"P)' 

worin  p  nach  (18)  zu  berechnen  ist. 

Da  nun  weder  Größe  (aj  noch  Form  (t)  der 
Bahn  sich  geändert  haben,  so  sind  die  Gleichun- 
gen (12)  und  (20)  nur  dann  widerspruchsfrei,  wenn 
in  der  Zeit  t  die  ganze  Ellipse  gegen  die  Null- 
richtung ((/j=:o),  die  zurzeit  t  =  0  durch  das 
Perihel  ging,  eine  Drehung  p  um  die  Sonnenmitte 
ausgeführt  hat.  Das  Perihel  ist  um  den  Winkel  p 
unter  den  Fixsternen  vorgerückt.  Ist  T  die  Um- 
laufzeit,  an  den  Fixsternen  gemessen,  soistT-j-q 
die  Zeit,  während  welcher  der  Planet  von  Perihel 
zu  Perihel  wandert. 

Formel  (19)  liefert  die  Perihelbewegung  für 
einen  Umlauf  T  und  entspricht  in  ihrem  zahlen- 
mäßigen Betrage  einer  Formel,  die  Herr  Prof.  Dr. 
Sommerfeld  ebenfalls  auf  Grund  der  speziellen 
Relativitätstheorie  aber  auf  anderem  Wege  her- 
geleitet und  für  die  von  ihm  entdeckten  Ellipsen- 


654 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  48 


bahnen  der  Elektronen  um  den  Atomkern  benutzt 
hat.  Im  Vergleich  mit  dem  Ergebnis  der  Allge- 
meinen   Relativitätstheorie    gibt    Gleichung    (19) 


wesentlich  kleinere  Werte  —  wenigstens  für  Pla- 
netenbahnen, deren  Exzentrizität  klein  ist  — ,  so 
z.  B.  für  den  Planeten  Merkur:  7,45"  in  lOO  Jahren. 


Neuere  Forschungen  zum  ükouoiniepriuzip. 

Die  neuere  Naturphilosophie  ist  im  Gegensatz 
zu  der  in  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  herr- 
schenden spekulativ  gerichteten  dadurch  charak- 
terisiert, daß  sie  in  engstem  Zusammenhange  mit 
der  einzelwissenschaftlichen  Forschung  steht.  Be- 
zeichnend hierfür  ist  die  Tatsache,  daß  natur- 
philosophische Probleme  jetzt  ebenso  oft  von  Ver- 
tretern der  Einzelwissenschaften  wie  von  Philo- 
sophen in  Angriff  genommen  werden.  Einer  der 
ersten  Bahnbrecher  dieser  neuen  Naturphilosophie 
war  Ernst  Mach.  Unter  den  mannigfachen  An- 
regungen, die  er  gegeben  hat,  ist  besonders  sein 
„Prinzip  der  Ökonomie  des  Denkens"  bekannt  ge- 
worden und  seitdem  für  die  Theorie,  insbesondere 
der  exakten  Naturwissenschaften,  zu  entscheidender 
Bedeutung  gelangt.  Mach  bezeichnet  „die  öko- 
nomische Darstellung  des  Tatsächlichen  als  die 
wesentliche  Aufgabe  der  Wissenschaft".  ^)  Frei- 
lich bleibt  bei  dieser  Formulierung  noch  manches 
zu  fragen  übrig.  Was  heißt  es,  Tatsachen  öko- 
nomisch darstellen?  Wie  steht  diese  Aufgabe  zu 
den  anderen  Aufgaben  der  Wissenschaft?  usw. 
So  ist  es  denn  kein  Wunder,  daß,  so  sehr  das 
Ökonomiegesetz  auch  bei  den  verschiedensten 
Denkern  eine  Rolle  spielt,  darunter  durchaus  nicht 
immer  dasselbe  verstanden  wird.  Zum  Beispiel 
lehnt  H.  Cornelius  die  biologistische  Theorie, 
die  das  Prinzip  bei  R.  Avenarius  findet,  aus- 
drücklich ab. 

Im  folgenden  soll  nun  hingewiesen  werden 
auf  einen  neuerdings  gemachten  Versuch,  durch 
tiefergehende  Analyse  den  wirklich  fruchtbaren 
Kern  des  Prinzips  klarzustellen. 

Der  Münchener  Mathematiker  H.  Dingler 
hat  soeben  eine  Schrift  erscheinen  lassen  „Rela- 
tivitätstheorie und  Ökonomieprinzip"  (Hirzel,  Leip- 
zig 1922,  77  S.),  die  in  wesentlich  erweiterter 
Form  diejenigen  Probleme  behandelt,  über  die 
Dingler  auf  der  Jenaer  Tagung  der  deutschen 
physikalischen  Gesellschaft  1921  unter  dem  Titel 
„Die  Rolle  der  Konvention  in  der  Physik"  -)  vor- 
getragen hat. 

Daß  Konventionen  in  der  Physik  eine  große 
Rolle  spielen,  so  führt  der  Verf.  aus,  ist  eine  be- 
kannte Tatsache.  Aber  erst  Poincare  legt  den 
Konventionen  eine  für  die  Theorie  der  physi- 
kalischen Wissenschaft  geradezu  ausschlaggebende 
Bedeutung  bei.     In  „Wissenschaft  und  Hypothese" 


s.  40, 


')  Mach,    Analyse    der    Empfindungen.      6.  Aufl.   1911, 


Abgedruckt  in   Physik.  Zcitschr.  23,  47,   1922. 


Einzelberichte. 

(deutsch  von  v.  Lindemann  1904)  legt  er  dar, 
daß  sogar  die  Frage  nach  der  geometrischen 
Natur  unseres  Raumes  dahin  zu  beantworten  sei, 
daß  es  sich  hier  lediglich  um  eine  konventionelle 
Abmachung  handle.  Die  euklidische  Geometrie 
ist  ebensogut  durchführbar  wie  eine  nichteukli- 
dische. Die  nun  sofort  auftauchende  Frage, 
welche  von  den  verschiedenen  möglichen  Geo- 
metrien der  Physiker  denn  wählen  wird,  beant- 
wortet Poincare  dadurch,  daß  er  sagt:  die 
euklidische,  denn  diese  ist  die  einfachste.  Daß 
sie  die  einfachste  ist,  kann  mir  freilich  nur  die 
Erfahrung  zeigen,  denn  a  priori  kann  ich  nur  sagen, 
daß  die  euklidische  Geometrie  als  mathematische 
Theorie  möglich  ist;  ob  sie  aber  für  die  Dar- 
stellung der  physikalischen  Tatsachen  sich  ge- 
eignet erweisen  wird,  das  muß  mir  erst  die  Er- 
fahrung lehren.  Es  hat  sich  nun  eben  gezeigt, 
daß  sie  am  vorteilhaftesten,  am  bequemsten  ist, 
und  darum  wird  sie  gewählt. 

Mit  diesem  letzten  Teile  der  Poincare  sehen 
Auffassung  setzt  sich  Dingler  kritisch  ausein- 
ander. Gewiß  verlangt  das  Prinzip  der  Ökonomie, 
wenn  wir  zwischen  verschiedenen  „logischen  Hohl- 
formen", Mathematiken,  Physiken,  Mechaniken  die 
Wahl  haben,  welche  wir  in  der  Wirklichkeit  zur 
Durchführung  bringen  wollen,  daß  wir  die  ein- 
fachste wählen.  Aber  eben  das  so  formulierte 
Ökonomieprinzip  kann  noch  etwas  sehr  Verschie- 
denes bedeuten,  nämlich:  „I.  Diese  Hohlform, 
dieses  Schema  wird  bestimmt  durch  die  Forde- 
rung, auf  einfachste  Weise  die  vorhandenen  (Tat- 
sachen' darzustellen.  II.  Dieses  Schema  wird  be- 
stimmt durch  die  Forderung,  daß  seine  eigenen 
Grundlagen  nach  logischen  Regeln  und  nach  rein 
praktischen,  von  jeder  generellen  Erfahrung  un- 
abhängigen Gesichtspunkten  die  einfachst  denk- 
baren sind." 

Bezeichnen  wir  die  Ansicht  I  als  die  der 
außenbestimmten  Einfachstheit,  die  Ansicht  II 
als  die  der  „innenbestimmten  Einfachstheit", 
so  gilt  es,  zwischen  beiden  zu  entscheiden. 

Dingler  sucht  nun  im  Gegensatz  zu  Poin- 
care die  Ansicht  II  als  die  richtige  zu  erweisen. 
Der  Gedankengang  ist  folgender:  Das  Problem 
der  Geometrie  unseres  Raumes  fällt  zusammen 
mit  dem  Problem  des  sogenannten  starren 
Körpers.  Es  handelt  sich  also  um  die  P^rage: 
Kann  ich  den  starren  Körper  durch  das  Experi- 
ment feststellen,  oder  kann  die  Erfahrung  mir 
wenigstens  lehren,  wie  ich  den  starren  Körper 
zweckmäßigerweise  definiere?  Ehe  man  die  Ant- 
wort auf  diese  allgemeine  P'rage  gibt,  kann  man 
zunächst    einmal    rein    tatsachenmäßig   feststellen. 


N.  F.  XXI.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6SS 


wie  die  Herstellung  des  starren  Körpers  in  den 
Fabriken  für  Präzisionsinstrumente  geschieht.  Es 
zeigt  sich  nun,  daß  diese  Herstellung  unter  Ex- 
haustion  der  euklidischen  Geometrie  vorgenommen 
wird,  d.  h.  von  zwei  Körpern  wird  derjenige  als 
der  starrere  angesehen ,  der  den  Gesetzen  der 
euklidischen  Geometrie  in  höherem  Maße  genügt. 
Es  dient  hier  also,  wenn  auch  meist  unbewußt, 
das  Erfülltsein  der  euklidischen  Geometrie  als  De- 
finition des  starren  Körpers.  Nun  freilich  bleibt 
noch  die  allgemeinere  und  schwierigere  Frage : 
Muß  das  so  sein? 

Man  konnte  vielleicht  versucht  sein,  diese 
F"rage  zu  verneinen  und  zu  behaupten,  der  natür- 
liche Weg  sei,  einfach  empirisch  den  starren 
Körper  festzustellen.  Nun  ist  aber  zu  beachten, 
daß  der  Terminus  „starrer  Körper"  nur  eine  sym- 
bolische Ausdrucksweise  ist,  denn  der  starre 
Körper  kann  beliebig  weich  sein;  worauf  es  an- 
kommt, ist  nur,  daß  er  keine  Gestaltsver- 
änderung, d.  h.  keine  geometrische  Verände- 
rung erfährt.  Das  ist  aber  gleichbedeutend  damit, 
daß  er  bei  jedesmaliger  Nachprüfung  den  Gesetzen 
einer  bestimmten  Geometrie  genügt,  nämlich  der- 
jenigen, die  zu  seiner  Definition  dient.  Diese 
logische  Definition  des  starren  Körpers  ist  dann 
der  Bestimmung  der  Geometrie  des  Raumes 
gleichwertig.  Der  Plan,  den  starren  Körper  em- 
pirisch festzustellen,  muß  also  so  lange  scheitern, 
als  ich  nicht  eine  Definition  des  starren  Körpers 
habe.  Diese  aber  empirisch  zu  finden,  ist  unmög- 
lich, denn  ich  könnte  sie  höchstens  aus  der  geo- 
metrischen Natur  des  Raumes  entnehmen  wollen, 
was  aber  wieder  den  starren  Körper  voraussetzen 
würde.  So  bleibt  uns  also  nichts  anderes  übrig, 
als  von  uns  aus  eine  bestimmte  Geometrie  als 
Kriterium  des  starren  Körpers  festzusetzen.  Leitet 
uns  nun  bei  dieser  Wahl  das  Ükonomieprinzip, 
so  werden  wir  zu  der  einfachsten  und  damit  zur 
euklidischen  Geometrie  greifen.  Dann  erst  haben 
wir  die  Möglichkeil,  den  starren  Körper  wirklich 
herzustellen,  denn  daß  ein  unserer  Definition 
genügender  starrer  Körper  in  der  Wirklichkeit 
vorhanden  ist,  ist  freilich  möglich,  braucht  aber 
nicht  so  zu  sein. 

Die  Einführung  der  euklidischen  Geometrie 
erfolgte,  wie  wir  sahen,  unter  Anwendung  des 
Okonomieprinzips,  und  zwar  in  seiner  zweiten 
Form  als  Forderung  nach  innenbestimmter  Ein- 
fachstheit. Tatsächlich  ist  nämlich  die  Forderung 
außenbestimmter  Einfachstheit  für  die  Wahl  der 
Geometrie  gar  nicht  erfüllbar,  denn  diese  P'orde- 
rung  setzt  folgendes  voraus:  Eine  gewisse  Menge 
von  Tatsachenmaterial  liegt  uns  bereits  vor.  Das 
Schema  ist  dann  so  zu  wählen ,  daß  diese  Tat- 
sachen darin  in  einfachster  und  vollständigster 
Weise  zusammengefaßt  werden.  Solche  von  jedem 
Schema,  jeder  Messungsbasis  unabhängige  Tat- 
sachen gibt  es  nun  selbstverständlich  auch;  hier- 
her gehören  nämlich  die  einfachen  phänomeno- 
logischen Tatbestände,  etwa  die  Wahrnehmung, 
daß  die  Quecksilbersäule  in    einem  Thermometer 


bei  Erwärmung  steigt.  Aber,  für  die  Physik  wenig- 
stens bedarf  es  nicht  nur  solcher  phänomenologi- 
scher Feststellungen,  sondern  es  bedarf  quanti- 
tativ durchgeführter  Messungen!  Diese 
aber  erfordern  bereits  den  starren  Körper,  denn 
alle  Meßinstrumente  sind  ja  nur  spezielle  Formen 
des  starren  Körpers,  und  insofern  steckt  in  allen 
begrifflich  formulierten  und  quantita- 
tiv festgestellten  Tatbeständen  der  starre 
Körper  bereits  darin  I  Habe  ich  nun  aber  einmal 
bei  diesen  Messungen  denjenigen  starren  Körper 
gebraucht,  der  durch  das  Erfülltsein  der  euklidi- 
schen Geometrie  definiert  ist,  dann  kann  ich  nicht 
hinterher  irgendwelche  Resultate,  die  etwa  nicht 
gleich  erklärbar  sind,  durch  Einführung  einer  nicht- 
euklidischen Geometrie  und  damit  eines  ganz 
anderen  starren  Körpers  erklären  wollen.  An 
dieser  Stelle  führen  die  Dingl ersehen  Über- 
legungen  zur   Ablehnung   der   Relativitätstheorie. 

Die  bisherigen  Darlegungen  umfassen  den 
ersten  Teil  der  vorliegenden  Schrift;  ein  zweiter 
Teil  geht  auf  naheliegende  Einwände  ein. 

Man  wird  etwa  sagen,  das  angegebene  Ver- 
fahren der  Exhaustion  sei  doch  früher  nicht  be- 
kannt gewesen;  trotzdem  aber  habe  man  schon 
immer  starre  Körper  hergestellt,  und  zwar  sogar 
mit  ständig  steigender  Genauigkeit.  Gewiß  ist 
das  so;  man  hat  vielleicht  ursprünglich  Stein  oder 
Stahl,  der  dem  Tastsinne  besonders  hart  erschien, 
ausgewählt  und  daraus  Lineale,  Ebenen  und  Zir- 
kel angefertigt.  Mit  diesen  Instrumenten  wurden 
dann  Zeichnungen  ausgeführt,  und  es  stellte  sich 
heraus,  daß  diese  die  Gesetze  der  euklidischen 
Geometrie  meist  erfüllten;  nicht  immer,  aber  die 
Ausnahmen  wurden  eben  auf  fehlerhafte  Instru- 
mente zurückgeführt,  etwa  darauf,  daß  die  zur 
Anfertigung  verwandte  Sorte  Stahl  ungeeignet 
sei;  man  merzte  solche  Instrumente  wieder  aus, 
traf  also  zwischen  den  hergestellten  wieder  eine 
Wahl,  die,  wenn  auch  unbewußt,  gleichbedeutend 
war  mit  einer  Exhaustion  der  euklidischen  Geo- 
metrie. 

Ging  dieser  eben  besprochene  Einwand  von 
der  Voraussetzung  aus,  daß  doch  irgendwie  der 
starre  Körper  in  der  Natur  in  ganz  bestimmter 
Weise  vorgegeben  sei,  so  wird  andererseits  auch 
gelegentlich  behauptet,  die  Wahl  des  starren 
Körpers  sei  eine  ganz  beliebige,  es  sei  mög- 
lich, auch  ein  beliebiges  Stück  Gummi  als  starren 
Körper  zu  definieren,  nur  würden  dann  ganz  an- 
dere geometrische  und  physikalische  Gesetze 
herauskommen.  Dies  kann  entweder  so  gemeint 
sein,  daß  ein  bestimmter  Stoff  als  Material  für 
den  starren  Körper  angegeben  wird  oder  aber 
so,  daß  ein  ganz  bestimmtes  Körperindividuum 
ein  für  allemal  als  starrer  Körper  bezeichnet  wird. 
Die  erste  Art  der  Bestimmung  würde  nun  nicht 
anwendbar  sein,  ohne  diesen  StofT  in  bestimmter 
Weise  zu  definieren,  wobei  man  sich  aber  bereits 
der  Messung  und  damit  des  starren  Körpers  be- 
dienen müßte.  Die  zweite  Art  der  Bestimmung 
wäre  aber  auch  nicht  durchführbar,  denn  ein  sol- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ches  Körperindividuum,  das  heute  der  Sinnes- 
wahrnehmung etwa  starr  erscheint,  kann,  wenn 
es  im  Laufe  der  Zeit  unter  andere  Bedingungen 
kommt,  sich  deutlich  verändern;  dann  bliebe  aber 
nichts  anderes  übrig,  als  eine  neue  Wahl  zu 
treffen,  die  wieder  der  gleichen  Unsicherheit  aus- 
gesetzt ist.  Die  Ansicht,  daß  im  Urmeter  von 
Sevres  bei  Paris  etwa  der  Prototyp  des  starren 
Körpers  vorliege,  ist  irrig,  denn  dieses  Urmeter 
ist  vielmehr  selbst  das  Resultat  feinster  und  kom- 
pliziertester IVIessungen  und  wird  durch  ständigen 
Vergleich  mit  noch  feineren  starren  Körpern 
möglichst  starr  erhalten. 

Schwerwiegender  als  diese  beiden  Einwände 
ist  der  folgende:  Ein  Mathematiker  wird  etwa 
sagen,  die  Axiome  der  euklidischen  Geometrie 
sagen  nur  etwas  aus  über  Beziehungen  zwischen 
Grundgebilden;  diese  Grundgebilde  selbst  können 
dabei  noch  ganz  verschiedener  Natur  sein.  So 
gelten  die  euklidischen  Sätze  über  Ebene  und 
Gerade  nicht  nur  für  Gebilde,  die  dem,  was  man 
anschaulich  Ebene  und  Gerade  nennt,  ähnlich 
sind,  sondern  auch  zum  Beispiel  für  das  parabo- 
lische Kugelgebüsch,  wo  dann  die  Kugeln  den 
Ebenen,  die  Schnittkreise  den  Geraden  entsprechen 
(bei  ausgeschnittenem  Büschelmittelpunkt).  Die 
euklidischen  Axiome  vermögen  also  die  geome- 
trischen Elementargebilde  keineswegs  eindeutig 
zu  definieren,  also  ist  auch  mit  der  gegebenen 
Definition  des  starren  Körpers  dieser  noch  nicht 
eindeutig  festgelegt.  Um  das  zu  erreichen, 
müssen  vielmehr  bestimmte  geometrische  Daten, 
etwa,  wie  J.  Steiner  für  die  Geometrie  der 
Ebene  angegeben  hat,  ein  fester  Kreis  mit  IVIittel- 
punkt  und  ein  Lineal  empirisch  vorgegeben  sein. 
Dadurch  wird  aber  der  starre  Körper  bereits  vor- 
ausgesetzt. 

Diese  Schwierigkeit  (als  mathematisches  Problem 
besonders  eindringlich  von  Wellstein  und 
Weber  im  2.  Bande  ihrer  Enzyklopädie  der 
Elementar-Mathematik  hervorgehoben)  löst  sich 
aber  auf  folgende  Weise.  Das  für  die  euklidische 
Geometrie  übliche  Axiomensystem  bedarf  aller- 
dings einer  Ergänzung,  wenn  man  zu  bestimmten 
realen  geometrischen  Gebilden,  wie  zu  dem  starren 
Körper,  kommen  will.  Diese  Ergänzung  besteht 
nun  einfach  darin,  daß '  man  verlangt,  die  Ebene 
soll  eine  Fläche  sein,  deren  beide  Seiten,  abge- 
sehen von  ihrer  Lage,  nicht  unterscheidbar  sind. 
Fügt  man  hinzu,  daß  die  Gerade  als  Schnittlinie 
zweier  solcher  Ebenen  aufzufassen  ist,  so  ist  tat- 
sächlich nur  eine  einzige  Realisierung 
möglich  und  die  angeführte  Schwierigkeit  be- 
hoben. Zur  Herstellung  des  starren  Körpers  ge- 
nügt also  nicht  die  gewöhnliche  relative  eukli- 
dische Geometrie,  d.  h.  diejenige,  die  die  Grund- 
gebilde nur  untereinander  in  Beziehung  setzt, 
sondern  es  bedarf  dazu  der  reflexiven  Geometrie, 
d.  h.  derjenigen,  die  diese  Grundgebilde  auch  z  u 
uns  in  Beziehung  setzt. 

So  zeigt  also  die  Auseinandersetzung  mit 
diesen  Einwänden  einerseits,  daß  eine  empirische 


Auffindung  des  starren  Körpers  nicht  möglich  ist, 
andererseits,  daß  die  Definition  des  starren  Kör- 
pers durch  die  euklidische  Geometrie  anwendbar 
ist.  Das  ist  aber  gleichbedeutend  damit,  daß  bei 
der  Wahl  der  Geometrie  das  Ökonomieprinzip 
nur  als  Forderung  der  innenbestimmten  Einfachst- 
heit in  Frage  kommt,  als  solche  aber  auch  wirk- 
lich erfüllbar  ist. 

In  einem  dritten  Teile  werden  die  gegebenen 
Darlegungen  noch  vertieft  durch  kritische  Aus- 
einandersetzungen mit  verschiedenen  anderen 
Forschern  auf  dem  Gebiete  der  Grundlagen  der 
exakten  Wissenschaften,  so  mit  Einstein, 
Schlick,  Reichenbach,  Born  undCarnap. 

Darauf  soll  hier  nicht  näher  eingegangen 
werden. 

Fragen  wir  indessen  noch,  wie  die  Dingler - 
sehe  Interpretation  des  Ükonomiegesetzes  zu  der 
Auffassung  anderer  Forscher  steht,  die  sich  neuer- 
dings mit  diesem  Prinzip  auseinandergesetzt  haben. 

M.  Schlick^)  betont  vor  allem,  daß  das 
Okonomieprinzip  eine  logische  Forderung  sei, 
nicht  eine  psychologische.  Damit  ist  folgendes 
gemeint:  Es  kommt  nicht  darauf  an,  daß  man  in 
der  Wissenschaft  die  Tatsachen  in  einer  möglichst 
faßlichen  und  leicht  verständlichen  Weise  formu- 
liert, sondern  vielmehr  darauf,  mit  einem  Mini- 
mum von  Begriffen  auszukommen.  Daß  diese 
beiden  Forderungen  durchaus  nicht  Hand  in  Hand 
gehen,  ist  leicht  ersichtlich.  Es  ist  zum  Beispiel 
sehr  bequem  und,  was  den  Aufwand  an  psy- 
chischer Energie  angeht,  ökonomischer,  wenn 
man  jede  Tatsache,  die  aufgefunden  wird,  mit 
einem  neuen  Namen  bezeichnet,  aber  gerade 
dieses  würde  dem  wahren  Geiste  des  Ökonomie- 
gesetzes widersprechen.  Es  gilt  vielmehr,  die 
Tatsachen  untereinander  in  Beziehung  zu  setzen, 
aufeinander  zurückzuführen  und  so  mit  einem 
Minimum  von  Begriffen  auszukommen.  Es  ist 
bezeichnend,  so  meint  Schlick,  daß  diejenige 
Wissenschaft,  in  der  das  am  meisten  gelungen 
ist,  die  Mathematik,  sich  bei  den  meisten  Menschen 
keiner  großen  Beliebtheit  erfreut  und  durchaus 
nicht  als  besonders  leicht  zugänglich  und  bequem 
faßlich  angesehen  wird. 

Wir  sahen  nun  freilich,  daß  mit  der  Fest- 
stellung, daß  das  ()konomieprinzip  als  logische 
Forderung  zu  verstehen  sei,  noch  nicht  alle 
Fragen  erledigt  sind.  Aber  auf  die  beiden 
Möglichkeiten,  es  als  Forderung  nach  außen- 
oder  innenbestimmter  Einfachstheit  durchzu- 
führen, findet  sich  bei  Schlick  kein  Hinweis; 
seine  weiteren  Darlegungen  zeigen  vielmehr,  daß 
er  nur  an  die  erstgenannte  Möglichkeit  denkt. 
Die  Eindringlichkeit  aber,  mit  der  er  hier  vor 
der  irrtümlichen  psychologistischen  Auffassung  des 
Ökonomiegesetzes  warnt,  ist  um  so  weniger  über- 
flüssig, als  selbst  gelegentliche  Formulierungen 
bei  IVIach    ein  solches  Mißverständnis  nahelegen, 


')  M.Schlick,  Allgemeine  Erkcnntnislehre,  Berlin  1918. 
S.  81  fl. 


N.  F.  XXI.  Nr,  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


657 


so,  wenn  es  einmal  bei  ihm  heißt:  „Die  Wissen- 
schaft kann  daher  selbst  als  eine  Minimumaufgabe 
angesehen  werden,  welche  darin  besteht,  mög- 
lichst vollständig  die  Tatsachen  mit  dem  ge- 
ringsten Gedankenaufwand  darzustellen."  ^) 

Vor  einem  anderen  Mißverständnis  des  Öko- 
nomieprinzips  warnt  W.  Koehler. -)  Einer  ver- 
breiteten Ansicht  entsprechend,  muß,  so  führt  er 
aus,  „die  allgemeine  Durchführung  einer  sonst 
so  bewährten  Theorie  der  Anerkennung  wider- 
strebender Tatsachen  und  der  Ausbildung  ent- 
sprechender neuer  Gedanken  vorgezogen  werden, 
und  zwar  der  wissenschaftlichen  Sparsamkeit  zu- 
liebe". Diese  Forderung,  mit  einem  Minimum 
von  Gesichtspunkten  auszukommen,  kann  nun,  so 
führt  Koehler  weiter  aus,  mit  Recht  nur  erhoben 
werden,  wenn  es  sich  um  eine  weit  fortgeschrit- 
tene Wissenschaft  handelt,  deren  systematische 
Darstellung  dem  Abschlüsse  nahe  ist.  Bei  einer 
jungen  Wissenschaft  aber  (es  handelt  sich  im  vor- 
liegenden Zusammenhange  um  die  Theorien- 
bildung in  der  Tierpsychologie)  wäre  es  verfehlt, 
wenn  man  „arme  Anfänge  zu  endgültigen  Prin- 
zipien proklamiert,  und  den  Tatsachen  schuldig 
bleibt,  was  man  in  der  Theorie  spart". 

Treffen  diese  Bemerkungen  nicht  auch  die 
D  i  n  g  1  e  r  sehe  Anwendung  des  Ökonomieprinzips  ? 
Freilich,  mit  seiner  Unterscheidung  der  außen- 
und  innenbestimmten  Einfachheit  haben  sie  nichts 
zu  tun,  aber  im  übrigen  erscheint  die  Sachlage 
doch  folgendermaßen :  Eine  so  alte  Wissenschaft 
die  Physik  auch  ist  und  so  viele  sichere  Erkennt- 
nisse sie  schon  gewonnen  hat,  so  haben  doch 
neuere  experimentelle  Feststellungen  sich  den 
herrschenden  Theorien  durchaus  nicht  fügen 
wollen.  Eine  neu  aufgestellte  Theorie,  nämlich 
die  Relativitätstheorie,  vermag  den  Tatsachen  ge- 
recht zu  werden.  Nun  aber  lehnt  Dingler  diese 
Theorie  ab,  sucht  statt  dessen  die  alte  Newton- 
sche  Mechanik,  den  euklidischen  starren  Körper 
zu  retten  und  zwar  unter  Berufung  auf  das  Öko- 
nomieprinzip. Heißt  das  nicht,  eben  jenen  fal- 
schen Gebrauch  vom  Ökonomiegesetz  machen, 
den  Koehler  mit  Recht  verurteilt?  Man  könnte 
vielleicht  geneigt  sein,  diese  Frage  zu  bejahen, 
und  doch  hieße  es,  die  Grundgedanken  der  oben 
besprochenen  Schrift  fundamental  mißverstehen, 
wenn  man  so  schließen  wollte  I 

Durch  die  D  i  n  g  1  e  r  sehen  Überlegungen  näm - 
lieh  wird  der  Physiker  in  seiner  Forschung  in 
keiner  Weise  beeinträchtigt,  jedenfalls  nicht,  so- 
weit er  lediglich  experimentiert.  Für  die  Theorien- 
bildung aber  gilt  es,  folgendes  zu  beachten:  Es 
gibt  zwei  grundverschiedene  Arten  von  Theorien; 
die  einen  haben  lediglich  die  Aufgabe,  einen  vor- 
gefundenen Tatbestand  zu  erklären;  sie  werden 
also  auch  in  erster  Linie  durch  diesen  Tatbestand 
bestimmt    sein;    sie    können    überdies    zu    neuen 

')  Mach,  Mechanik.  5.  Aufl.,  1904,  S.  530.  Sperrung 
bei  Mach. 

')  W.  Koehler,  Intelligenzprüfungen  an  Menschenaffen. 
2.  Aufl.     Berlin   1921.     S.  134  f. 


konkreten  Fragestellungen  Veranlassung  geben, 
d.  h.  sie  sind  an  der  Erfahrung  nachprüfbar.  Die 
zweite  Art  von  Theorien,  die  sog.  „Universal- 
hypothesen",  wie  sie  Dingler  an  anderer 
Stelle  genannt  hat,  umfassen  aber  letzte  allge- 
meinste Voraussetzungen,  die  die  betreffende 
Wissenschaft  und  damit  auch  die  Tatbestände, 
soweit  es  sich  um  quantitativ  bestimmte  Meß- 
resultate handelt,  erst  möglich  machen!  So 
sicher  es  nun  ist,  daß  diese  Theorien  zweiter  Art 
prinzipiell  beliebig  und  natürlich  einer  Prüfung 
durch  die  Erfahrung  auch  nicht  zugänglich  sind, 
so  ist  doch  andererseits  klar,  daß,  wenn  man  ein- 
mal in  einer  Wissenschaft  sich  für  eine  bestimmte 
Universalhypothese  entschieden  hat,  auch  die  im 
Laufe  der  Forschung  durch  die  Tatsachen  gefor- 
derten Theorien  sich  zu  dieser  Grundvoraussetzung 
nicht  in  Widerspruch  setzen  dürfen.  Dieses  ist 
eine  und  die  einzige  Einschränkung,  welcher  die 
Theorienbildung  bei  der  wissenschaftlichen  For- 
schung a  priori  unterliegt.  Der  Physiker  läßt 
sich  hierin  mit  einem  Schachspieler  vergleichen. 
Den  vorgefundenen  Tatbeständen  des  Physikers 
entspricht  die  Konstellation  der  Figuren,  die  der 
Spieler  nach  dem  Zuge  des  Gegners  antrifft;  wie 
der  Physiker  nun  eine  Theorie  aufstellen  muß,  die 
den  Tatsachen  möglichst  gut  angepaßt  ist ,  so 
wird  der  Spieler  einen  Zug  tun,  der  den  Um- 
ständen möglichst  gerecht  wird;  aber  wie  der 
Spieler  hier  eingeschränkt  ist  durch  die  ursprüng- 
lich beliebig,  aber  dann  mindestens  für  die  ganze 
Dauer  des  Spieles  ein  für  allemal  festgesetzten 
Spielregeln,  so  der  Physiker  durch  die  Grund- 
voraussetzungen seiner  Wissenschaft,  die  vor  aller 
Tatsachenforschung  gemacht  sind  und  auch  mit 
keiner  Tatsache  in  Widerspruch    geraten  können. 

Beachten  wir  nun,  daß  die  Definition  des 
starren  Körpers  eine  solche  allgemeinste  Voraus- 
setzung ist,  welche  die  Physik  erst  möglich  macht, 
und  daß  Dingler  das  Ökonomieprinzip  lediglich 
auf  diese  Universalhypothese  in  Anwendung  bringt, 
dann  erkennen  wir,  daß  ein  Widerspruch  zu 
Koehlers  Forderung  nicht  vorliegt,  denn  diese 
besagt,  daß  die  im  Laufe  der  wissenschaftlichen 
Forschung  notwendig  werdenden  Theorien  wirk- 
lich den  Tatsachen  gerecht  werden.  Solche  Theo- 
rien sind  aber  etwas  prinzipiell  anderes  als  Uni- 
versalhypothesen. 

Man  könnte  schließlich  noch  einwenden,  daß 
in  den  Dingler  sehen  Überlegungen  vom  Öko- 
nomiegesetze die  Rede  sei,  ohne  daß  aber  die 
Frage,  warum  dieses  denn  in  der  Wissenschaft 
überhaupt  eine  solch  große  Rolle  spielen  müsse, 
ausreichend  erörtert  würde.  Für  diese  und  son- 
stige weitergehende  Forderungen  muß  aber  auf 
die  an  anderer  Stelle  ')  gegebenen  ausführlichen 
Darlegungen  Dinglers  verwiesen  werden. 

Walter  Scholz,  Berlin. 


')  Insbes.  H.  Ding  1er,  Grundlagen  der  Physik.    Berlin 
und  Leipzig  1919.     2.  Aufl.  in  Vorbereitung. 

—  — ,  Physik  und  Hypothese.     Berlin  und  Leipzig  1921. 


658 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  48 


Kontinuität   des  Keimplasmas   oder  Wieder- 
herstellung der  Keimzelle?') 

Wenn  die  Biologie  sich  von  der  materialistischen 
Richtung  der  vergangenen  Periode  noch  nicht  los- 
zulösen vermocht  hat,  so  lag  es  daran,  daß  es  an 
einem  Begriff  gefehlt  hat,  der  belebte  und  un- 
belebte Körper  in  sich  zusammenfaßt  und  auf 
gemeinsamer  Grundlage  mit  einander  vergleichen 
läßt,  jder  daher  ein  sicheres  Fundament  für  die 
Darstellung  der  Lebenserscheinungen  gewährt. 
Wie  liegen  die  Dinge  heute?  Auf  der  einen 
Seite  gilt  noch  der  Begriff  der  lebenden  Materie, 
auf  der  anderen  der  der  Entelechie.  Und  doch 
ist  ein  solcher  Begriff  bereits  längst  geprägt  und 
auch  angewendet  worden,  ohne  daß  indessen 
seine  Bedeutung  für  die  theoretische  Biologie  er- 
kannt worden  wäre.  Dies  ist  der  Begriff  des 
materiellen  Systems.  In  der  Fassung,  die 
er  1894  durch  den  Physiker  Heinrich  Hertz 
erhalten  hat,  ist  er,  wie  Cohen-Kysper  schon 
früher  dargelegt  hat,  geeignet,  jene  Forderungen 
zu  befriedigen. 

Was  bedeutet  es,  wenn  ein  Lebewesen  als  ein 
bestimmtes  materielles  System  bezeichnet  wird? 
Zunächst  nichts  weiter  als  daß  es  in  gleicher 
Weise  wie  ein  Atom  oder  etwa  wie  eine  Maschine 
•  aus  einer  Summe  von  elementaren  Einheiten  zu- 
sammengesetzt gedacht  werden  kann,  deren  Re- 
aktionen durch  ihre  gegenseitige  Bedingungen 
(Zusammenhänge)  bestimmt  werden.  Aber  dann 
ist  bereits  ein  bestimmtes  Programm  für  die  Be- 
handlung der  Lebensprobleme  aufgestellt:  Die 
Folgerungen,  die  sich  aus  dem  Begriff  des  mate- 
riellen Systems  ableiten  lassen,  sind  auch  für  das 
belebte  System  bindend,  die  allgemeinen  Gesetze, 
die  in  den  Reaktionen  eines  jeden  materiellen 
Systems  zum  Ausdruck  kommen,  sind  auch  für 
die  Erklärung  der  Lebensreaktionen  anzuwenden 
und  es  sind  keine  anderen  Gesetze  allgemeiner 
Art  für  ihre  Erklärung  zulässig. 

Dies  kommt  zunächst  für  eine  Frage  in  Be- 
tracht, die  für  die  Biologie  von  grundlegender 
Bedeutung  ist.  Die  Auffassung,  die  sich  neuer- 
dings immer  mehr  Bahn  bricht,  daß  ein  Lebe- 
wesen als  ein  einheitliches  Ganzes  zu  betrachten 
sei,  kann  mit  aller  Bestimmtheit  entschieden 
werden:  Jedes  materielle  System  ist  un- 
teilbar in  Hinsicht  auf  die  Reaktionen, 
die  an  seine  Zusammensetzung  gebun- 
den sind.  Ein  Molekül  Chlornatrium  ist  un- 
teilbar in  Hinsicht  auf  seine  spezifischen  Reaktionen, 
eine  Uhr  in  Hinsicht  auf  ihre  Funktion,  eine 
Eisenstange  als  1  lebel  betrachtet. 

Um  es  aber  zu  verstehen,  daß  ein  Lebewesen 
gleich  einem  einzelnen  Molekül  ein  unteilbares 
System  darstellt,  dient  der  Begriff  der  Integra- 
tion. In  der  Fassung,  die  ihm  Cohen -Kyspe  r 
gegeben    hat,    bedeutet     dieser    Begriff    die    Zu- 


')  Autoreferat  eines  auf  der  Hundertjahrfeier  der  Gesell- 
schaft deutscher  Naturforscher  uud  Ärzte  gehaltenen  Vortrags. 


sammensetzung  eines  materiellen  Systems  der  Art, 
daß  eine  Einheit  immer  zum  Teil  einer  Einheit 
höherer  Ordnung  wird.  Auch  hier  dient  daher 
der  Begriff  des  materiellen  Systems  als  Maß  der 
Erscheinungen:  Die  Integration  des  belebten 
Systems  setzt  sich  da  fort,  wo  die  des  unbelebten 
Systems  aufhört  und  steigert  sich  weit  über  diese 
hinaus.  Aus  dieser  relativen  Höhe  der  Integration, 
die  sich  gleichsam  in  geomettischer  Progression 
vom  Elektron  bis  zum  Plasma  und  von  da  über 
die  Kern  Plasmaeinheit  zum  vielzelligen  Organis- 
mus steigert,  ergibt  sich  eine  weitere  bedeutsame 
Folgerung.  Jedes  materielle  System,  an  das  eine 
bestimmte  Reaktion  gebunden  ist,  ist  das  kleinste 
System,  das  diese  Reaktion  vollzieht.  Die  be- 
lebten Systeme  sind  daher,  eben  infolge  ihrer 
überragenden  Integration,  so  wie  sie  uns  er- 
scheinen, bereits  die  kleinsten  Systeme,  an  die 
die  Reaktionen  des  Lebens  gebunden  sind.  Sie 
können  daher  unmittelbar,  so  wie  sie  uns  er- 
scheinen, den  Gesetzen  der  Mechanik  zugeordnet 
werden.  Die  mechanistische  Darstellung  fällt  mit 
der  phänomenologischen  zusammen. 

Auch  die  Entwicklung  stellt  demnach  eine 
einheitliche,  elementare  Reaktion  dar.  Die  mole- 
kulartheoretische Behandlung  ist  zu  verlassen,  der 
Begriff  der  Erbsubstanz  und  die  Annahme  einer 
kontinuierlichen  Übertragung  abzulehnen.  An 
Stelle  der  materialistischen  Auffassung 
gründet  sich  die  Erklärung  auf  den  dyna- 
mischen Vorgang,  wie  er  sich  darbietet.  Das 
Ei,  das  sich  zum  Huhn  entwickelt,  ver- 
schwindet als  das  System,  das  die  Ent- 
wicklung einleitet  und  stellt  sich  erst 
am  Ende  der  Entwicklung  wieder  ein. 
Dies  ist  die  Sprache  der  Tatsachen,  und  ihre 
analytische  Behandlung  läßt  sofort  das  dynamische 
Bild  erkennen. 

Wie  ist  es  zu  verstehen,  daß  —  schematisch 
dargestellt  —  die  Entwicklung  durch  ein  gleiches 
System  beschlossen  wird,  wie  es  sie  eingeleitet  hat  ? 
Es  muß  im  Verlauf  dieser  Reaktion  ein  rück- 
läufiger Vorgang  einsetzen.  An  irgendeinem 
Punkt  der  Phasenbahn  müssen  die  Bedingungen 
wiederhergestellt  werden,  an  die  die  Entstehung 
der  Keimzelle  gebunden  ist.  Auch  hier  genügt 
die  erscheinungsmäßige  Darstellung.  Der  rück- 
läufige Teil  der  Reaktion  vollzieht  sich  gleich  zu 
Beginn  der  Entwicklung.  Die  Eifurchung  be- 
deutet einen  Vorgang  rückläufiger  Diffe- 
renzierung und  zwar  in  zweifachem  Sinne. 
Erstens,  eine  spätere  Phase  der  Entwicklung 
wandelt  sich  zu  einer  früheren  um;  und  zweitens, 
das  Ei  zerlegt  sich  in  Einheiten  von  fortschreitend 
geringerer  Differenzierung,  d.  h.  von  immer  ge- 
ringerem Gehalt  an  differenten  Teilen.  Dies  ist 
nicht  nur  in  dem  Sinne  zu  verstehen,  daß  die 
Masse  des  Eies  aufgeteilt  wird,  es  findet  auch 
eine  Aufteilung  von  determinierenden  Faktoren 
statt,  wie  dies  schon  Rabl  für  die  Bildungsstoffe 
des  Eiplasmas,  Prowazek  für  die  Funktions- 
fermente   des   K^rns   angenommen    hat    und    wie 


N.  F.  XXI.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


659 


es  aus  der  einfachen  Tatsache  der  Differenzierung 
hervorgeht. 

Danach  läßt  sich  die  Grundlinie  des  dyna- 
mischen Ablaufs  zeichnen.  Das  reife  Ei,  ein  Er- 
gebnis der  Entwicklung,  wandelt  sich  zu  einer 
Phase  um,  in  der  die  unmittelbaren  Be- 
dingungen zur  Wiederherstellung  des  gesamten 
Organismus  und  damit  auch  der  Keimzelle  von 
neuem  gegeben  sind.  „Der  Teil  kehrt  auf 
eine  Phase  zurück,  aus  der  das  Ganze 
von  neuem  entsteht." 

Die  Ontogenese  ist  damit  als  mechanischer 
Vorgang  auf  einen  einfachen  Ausdruck  gebracht 
und  läßt  sich  nun  den  Prinzipien  der  IVIechanik 
zuordnen.  Hierzu  dient  vor  allem  ein  Prinzip, 
das  in  verschiedener  Form  eint  Reihe  von  For- 
schern unabhängig  voneinander  aufgestellt  haben, 
um  die  Besonderheit  des  Lebens  und  der  Ent- 
wicklung zu  erklären,  das  Ausgleichsprinzip.  Das 
reife  Ei,  das  sich  in  einem  stabilen  Zustand  be- 
findet, wird  durch  irgendeinen  äußeren  Einfluß 
aus  dem  Ausgleich  gebracht.  Die  Wiederherstel- 
lung des  Ausgleiches  findet  auf  dem  zulässig 
kürzesten  Wege  statt.  Dieser  Weg  führt  zunächst 
zu  einer  Phase  zurück,  aus  der  das  Ei  als  Teil 
des  übergeordneten  Ganzen  hervorgegangen  war 
und  die  die  unmittelbaren  Bedingungen  zur 
Wiederherstellung  des  Ganzen  von  neuem  enthält. 

Nicht  Kontinuität,  sondern  Wiederher- 
stellung ist  demnach  der  Grundgedanke  dieses 
Bildes.  Mit  der  Wiederherstellung  des  gesamten  Or- 
ganismus wird  auch  die  Keimzelle  wiederhergestellt. 
Sie  kehrt  in  den  gesetzmäßigen  Zustand  zurück,  in 
dem  sie  in  die  Entwicklung  eingetreten  war.  Es 
wird  die  typische  Konstitution  des  Geschlechtes 
wiederhergestellt,  die  Chromosomen  werden  auf 
die  gesetzmäßige  haploide  Zahl  zurückgeführt  und 
es  werden  die  Determinanten  von  neuem  erzeugt, 
die  die  Differenzierung  des  neuen  Individuums 
leiten. 

Die  Entfaltung  der  neuen  Keimzelle  stellt  da- 
her in  gleicher  Weise,  wie  die  Entfaltung  eines 
jeden  anderen  Teiles  eine  spezifische  Ent- 
wicklungsfunktion dar,  die  in  gleicher  Weise 
an  spezifische  Bedingungen,  eben  die  Determi- 
nanten, gebunden  ist.  Diese  können,  wie  für 
jede  andere  Entwicklungsfunktion  entweder  un- 
mittelbar vom  Ei  auf  die  embryonale  Zelle  über- 
tragen werden  —  blastogene  Determinan- 
ten —  oder  sie  werden  im  Stoffwechsel  der  Or- 
gane und  Organanlagen  erzeugt  —  organogene 
Determinanten  —  oder  schließlich,  sie  können 
in  physikalischen  und  chemischen  äußeren  Ein- 
flüssen bestehen  wie  vor  allem  bei  der  Pflanze. 
Bei  dieser,  bei  der  eine  spezifische  Keimbahn 
überhaupt  nicht  nachzuweisen  ist,  ist  die  Wieder- 
herstellung der  Keimzelle  ausschließlich  an  organo- 
gene oder  Determinanten  des  Mediums  gebunden. 
Es  beruht  dies  auf  den  allgemeinen  Entwicklungs- 
bedingungen der  Pflanze.  Die  Pflanze  ist,  wie 
auch  vielfach  das  niedere  Tier  auf  eine  Entwick- 
lung   eingestellt,    die    nach    der    Austeilung    der 


blastogenen  Determinanten  mit  einer  über- 
schüssigen Erzeugung  undeterminierter  ent- 
wicklungsfähiger Zellen  einhergeht,  deren  Schick- 
sal erst  durch  die  spätere  Konstellation  der  inneren 
und  äußeren  Bedingungen  bestimmt  wird. 

Ein  grundsätzlicher  Unterschied  zwischen  den 
verschiedenen  Arten  von  Determinanten  ist  in- 
dessen nicht  anzuerkennen.  Eine  Determinante 
bedeutet  (nicht  ganz  in  Übereinstimmung  mit 
Roux)  immer  nur  eine  Bedingung,  an  die  eine 
spezifische  Reaktion  gebunden  ist,  d.  h.  eine  Re- 
aktion, die  sich  von  anderen  Reaktionen  des 
gleichen  Systems  oder  durch  die  sich  ein  System 
von  anderen  Systemen  unterscheidet.  In  der  Re- 
aktion auf  den  spezifischen  Einfluß,  in  den  all- 
gemeinen Bedingungen  des  entwicklungsfähigen 
Systems  ist  das  engere  Problem  der  Entwicklung 
zu  erblicken. 

Auch  für  die  historische  Entwicklung  der  Lebe- 
wesen ergeben  sich  nun  neue  Ausblicke.  In  der 
steten  Wiederholung  der  Ontogenese  kommen 
immer  wieder  die  Kräfte  zur  Entfaltung,  die  die 
Systeme  ihrem  Ausgleich  zuführen.  Da  sich  nun 
diese  Reaktion  durch  ungeheure  Zeiträume  in 
immer  den  gleichen  dynamischen  Grundlinien 
wiederholt  hat,  so  müssen  jene  Kräfte  auch  auf 
die  Umgestaltung  der  Organismen  von  Einfluß 
gewesen  sein.  Zur  Erklärung  dieser  Kräftewirkung 
dient  ein  neues,  von  Cohen-Kysper  aufgestelltes 
Prinzip,  das  der  Einstellung:  Ein  jedes  mate- 
rielle System,  das  innerhalb  seiner  Ausgleichsbreite 
durch  die  Reaktion  auf  einen  äußeren  Einfluß 
eine  Veränderung  seiner  Konstruktion  erfährt, 
strebt  derjenigen  Konstruktion  zu,  auf  Grund 
deren  diese  Reaktion  mit  dem  geringsten  Zwang 
vor  sich  geht. 

Nach  diesem  Satz,  der  in  den  Erscheinungen 
der  Übung  und  Bahnung  unmittelbar  zum  Aus- 
druck kommt,  haben  beispielsweise  die  allgemeinen 
Fähigkeiten  der  Reizbarkeit  und  Bewegung,  die 
dem  Protoplasma  eigen  sind,  zur  Entstehung  von 
Muskeln  und  Nerven  geführt.  Waren  die  Potenzen 
zur  Erzeugung  dieser  Organe  einmal  entstanden, 
dann  mußten  sie,  wieder  nach  den  einfachen 
Prinzipien  der  Mechanik  überall  da  zur  Ver- 
wendung kommen,  wo  sie  dazu  dienten,  die  Kon- 
struktion der  Systeme  ihrem  Ausgleich  zuzuführen 
(Einstellung  in  weiterem  Sinne).  So  wurden  die 
belebten  Systeme  allein  aus  der  Ursache  ihrer 
inneren  Kräfte,  die  in  immer  wiederholter  onto- 
tischer  Entwicklung  sich  auswirkten,  zu  immer 
weiterer  Vervollkommnung  gebracht,  wie  es  schon 
Nägeli  vorschwebte,  in  dem  Sinne,  als  wir  auch 
eine  Maschine  als  vollkommen  bezeichnen,  wenn 
ihre  Bewegung  mit  einem  Minimum  von  Zwang 
vor  sich  geht  und  wenn  sie  um  sämtliche  Mög- 
lichkeiten bereichert  ist.  Cohen-Kysper. 

Studien  über  denPhototropismus  der  Pflanzen. 

In  einer  umfangreichen  Arbeit  berichtet 
H.   V.   Guttenberg     über   Versuche,     die     das 


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Problem  des  Phototropismus  von  der  verschie- 
densten Seite  beleuchten.  Seine  Versuche  er- 
streckten sich  auf  die  Keimscheide  (Koleoptile) 
des  Hafers  und  sollten  zunächst  die  Frage  ent- 
scheiden, welchen  Einfluß  die  Größe  der  beleuch- 
teten Fläche  auf  den  Eintritt  der  phototropischen 
Krümmung  ausübt.  Es  war  ja  von  vornherein  an 
zwei  Möglichkeiten  zu  denken:  entweder  genügt 
schon  die  Belichtung  eines  kleinen  Flächenele- 
ments, um  den  vollen  Effekt  auszulösen,  oder 
aber  der  Erfolg  nimmt  mit  der  Größe  der  be- 
leuchteten Fläche  zu.  Die  Experimente  lieferten 
eine  Entscheidung  für  den  zweiten  Fall.  Die 
Methodik  war  folgende:  Avenakoleoptilen  wurden 
einseitig  beleuchtet  und  zwar  in  einer  Serienfolge 
total,  in  einer  Parallelserie  aber  derart,  daß  die 
eine  Längshälfte  durch  eine  vorgesetzte  Blende 
beschattet  war;  die  Größe  der  beleuchteten  Fläche 
war  also  nur  halb  so  groß.  Es  ergab  sich  nun 
eine  ganz  einfache  Beziehung:  Die  halbseitig  be- 
lichteten Pflänzchen  wiesen  eine  doppelt  so 
hohe  Reizschwelle  auf.  Infolgedessen  wenden 
sich  antagonistisch  beleuchtete,  im  optischen 
Interferenzpunkt  aufgestellte  Keimlinge,  bei  denen 
das  Licht  auf  der  einen  Seite  hellseitig  abgeblen- 
det ist,  der  freien  Fläche  zu.  Diese  Reaktion 
bleibt  aber  aus,  wenn  die  Beleuchtungsdauer  auf 
der  halbbeschatteten  Seite  verdoppelt  wird.  Da- 
raus folgt,  daß  die  pholotropische  Erregung  der 
Größe  der  beleuchteten  Fläche  proportional  ist. 
Diese  Konstatierung  bildet  eine  leicht  verständ- 
liche Erweiterung  des  bekannten  Reizmengen- 
gesetzes. In  einem  zweiten  Abschnitt  wendet 
sich  V.  Guttenberg  der  sehr  aktuellen  Frage 
zu,  ob  die  phototropischen  Reaktionen  durch  die 
Strahlenrichtung  oder  durch  das  im  Inneren  der 
Pflanze  hervorgerufene  Lichtintensitätsgefälle  be- 
dingt sind.  Im  ersteren  Falle  würde  die  Licht- 
richtung perzipiert,  und  das  Pflanzenorgan  krümmt 
sich  solange,  bis  es  eine  ganz  bestimmte  Orientie- 
rung zu  den  Lichtstrahlen  einnimmt,  nach  der 
zweiten  Auffassung  dagegen  wird  die  Reizreaktion 
dadurch  ausgelöst,  daß  auf  den  opponierten 
F"lanken  verschiedene  Lichtintensität  herrscht,  und 
das  Organ  krümmt  sich  nun  solange,  bis  wieder 
gleichmäßige  Lichtverteilung  eintritt.  Hierdurch 
wird  rein  sekundär  die  Einstellung  in  die  Strahlen- 
richtung bedingt.  Diese  Alternative  ist  in  den 
letzten  Jahren  sehr  lebhaft  umstritten  worden. 
Die  meisten  Forscher  haben  sich  für  die  Inten- 
sitätstheorie entschieden,  dagegen  wird  die  alte 
Strahlenrichtungsiheorie  noch  von  Lundegardh 
vertreten,  v.  Guttenberg  bespricht  die  Litera- 
tur sehr  eingehend  und  gelangt  zu  dem  Schluß, 
daß  in  den  meisten  Experimenten  noch  das  letzte 
zwingende  Glied  fehlt,  wobei  sich  die  Wagschale 
freilich  fast  stets  nach  der  Seite  der  Intensitäts- 
theorie neigt;  ganz  besonders  gilt  das  für  be- 
stimmte Versuche  von  Buder,  die  nur  unter 
sehr  gewaltsamen  Hilfsannahmen  im  Sinne  der 
Richtungstheorie  umgedeutet  werden  könnten. 
V.    Guttenberg    stellte    nun     eine    Reihe    von 


eigenen  Experimenten  an,  die  durchaus  für  die 
Richtungstheorie  sprechen.  Haferkeimlinge  wur- 
den auf  dem  optischen  Indifferenzpunkt  von  zwei 
opponierten  Lichtbüscheln  aufgestellt,  und  jeder- 
seits  wurden  die  Flanken  hälftig  verdunkelt,  so 
daß  die  eine  Hälfte  der  Koleoptile  beschattet 
war,  die  andere  dagegen  von  zwei  gegensinnigen 
Strahlenbündeln  getroffen  wurde;  nach  der  Rich- 
tungstheorie sollte  man  Indifferenz  erwarten;  in 
Wirklichkeit  krümmten  sich  die  Keimlinge  von 
der  beschatteten  Seite  weg,  also  senkrecht  zur 
Lichtrichtung;  nach  der  Intensitätstheorie  läßt 
sich  das  leicht  erklären.  Auf  der  einen  Hälfte 
herrscht  Helligkeit,  auf  der  anderen  Dunkelheit; 
es  erscheint  eine  Reaktion,  die  gleichmäßige  Licht- 
verteilung anstrebt.  Lundegardh  hat  diesen 
schon  früher  ausgeführten  und  von  ihm  selbst 
bestätigten  Versuchen  gegenüber  eingewandt,  daß 
auf  Grund  des  kreisförmigen  Querschnitts  der 
Haferkoleoptile  die  Strahlen  beiderseits  eine  Bre- 
chung erfahren  und  zwar  derart,  daß  auf  der  be- 
lichteten Hälfte  ein  nach  innen  konvergierendes 
Strahlenbündel  entsteht;  die  Reaktion  erfolgt  — 
der  Richtungstheorie  entsprechend  —  in  der  Re- 
sultantenrichtung, v.  Guttenberg  hat  diesen 
Einwand  in  dreifacher  Weise  entkräftet.  Zunächst 
zeigte  er,  daß  das  Reaktionsbild  nicht  verändert 
wird,  wenn  man  die  Keimlinge  untertaucht.  Da 
Wasser  nahezu  denselben  Brechungskoeffizienten 
besitzt  wie  Zellsaft,  so  wird  auf  diese  Weise  die 
Strahlenbrechung  ausgeschaltet.  Ferner  stellte  er 
dieselben  Versuche  mit  Sprossen  von  Coleus  an, 
die  einen  quadratischen  Stengelquerschnitt  auf- 
weisen, und  zwar  wurde  die  gegensinnige  Be- 
lichtung so  bewerkstelligt,  daß  die  Strahlen  senk- 
recht zu  2  Längsseiten  auftrafen;  auch  hier  kann 
keine  Linsenwirkung  eintreten.  Schließlich  be- 
lichtete V.  Guttenberg  Coleussprosse  mit  zwei 
Strahlenbündeln  schräg  von  hinten,  also  von  der 
abgeblendeten  Schattenseite  aus.  Die  Strahlen 
bildeten  in  einem  Versuch  einen  Winkel  von  130", 
in  einem  zweiten  einen  solchen  von  170".  Inten- 
sitätsgefälle und  Sirahlenrichtung  verlaufen  nun 
in  umgekehrtem  Sinne,  die  Reaktion  erfolgt  von 
der  Lichtquelle  weg  nach  der  belichteten  Hälfte 
zu.  Lundegardh  hat  denselben  Versuch  mit 
Hafer  angestellt,  und  ein  Teil  seiner  Experimente 
verlief  im  entgegengesetzten  Sinn.  Da  aber  eine 
exakte  Strahleneinstellung  bei  der  zarten,  konisch 
auslaufenden  Haferspitze  viel  schwieriger  ist  als 
bei  den  derben  Coleussprossen,  so  kommt  den 
Ergebnissen  v.  Guttenbergs  eine  größere  Be- 
weiskraft zu.  Zum  Schlüsse  wird  über  Versuche 
berichtet,  in  denen  der  Reizwert  schrägen  Lichtes 
untersucht  wurde.  Ein  besonders  dazu  kon- 
struierter Apparat  bot  die  Möglichkeit,  Keimlinge 
gleichzeitig  mit  2  Strahlenbündeln  unter  beliebiger 
Winkelrichtung  zu  belichten.  In  einer  ersten 
Versuchsfolge  erhielt  die  eine  Flanke  horizon- 
tales, die  andere  schräges  Licht.  Auf  Grund 
physikalischer  Überlegungen  sollte  man  erwarten, 
daß  die  Krümmung  stets  dem  horizontalen  Lichte 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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folgt,  da  bekanntlich  die  Lichtintensität  mit  dem 
Kosinus  des  Einfallswinkels  abnimmt.  Diese  Be- 
dingung ist  aber  nur  in  dem  Interwall  von  15" 
bis  65 "  (von  der  Koleoptilspitze  an  gerechnet, 
Horizontailicht  also  =  90 ")  und  dann  wieder  von 
95 "  an  aufwärts  erfüllt.  „Bei  der  Kombination 
90 "  und  70 "  tritt  Kompensation  ein,  die  Kom- 
bination 90"  und  75 ",  sowie  90"  und  85"  er- 
geben ein  schwaches  Überwiegen  des  schrägen 
Lichtes,  zwischen  90 "  und  80 "  krümmen  sich 
75"/,,  der  Pflanzen  zu  80"."  80"  dominiert  aber 
über  90 ",  70 "  ist  gleichwertig  90 ",  d.  h.  der 
maximale  Effekt  wird  bei  80"  erzielt.  Dieses  an 
sich  merkwürdige  Verhalten  findet  darin  seine 
Erklärung,  daß  für  die  Perzeption  des  Lichtreizes 
in  erster  Linie  die  konisch  auslaufende  Koleoptil- 
spitze in  F"rage  kommt.  „Diese  zeigt  eine  durch- 
schnittliche Neigung  von  10",  wird  also  stets  von 
einem  um  10 "  erhöhten  Winkel  vom  Lichte  ge- 
troffen." Damit  löst  sich  der  Widerspruch  ohne 
weiteres.  Ganz  im  Einklang  damit  stehen  die 
Experimente,  bei  denen  die  Koleoptile  beiderseits 
mit  schrägem  Licht  gereizt  wurde  und  zwar  der- 
art, daß  das  Strahlenbündel  auf  der  einen  Seite 
schräg  von  unten,  auf  der  anderen  unter  dem- 
selben Winkel  schräg  von  oben  kam ;  die  Keim- 
linge wendeten  sich  stets  dem  oberen  Lichte  zu; 
wirken  verschiedene  Winkel  von  unten  und  oben, 
dann  gibt  stets  der  den  Ausschlag,  der  dem  Nei- 
gungswinkel von  80 "  näher  liegt.  Daß  tatsäch- 
lich die  Form  der  Koleoptile  für  das  geschilderte 
Verhalten  verantwortlich  zu  machen  ist,  geht 
daraus  hervor,  daß  das  Reaktionsbild  sofort  ver- 
ändert wird,  wenn  man  die  Koleoptilspitze  mit 
einem  Stanniolkäppchen  verdunkelt  und  das  Licht 
bloß  auf  die  Koleoptilbasis  wirken  läßt.  Nun 
wird  durch  horizontale  Belichtung  tatsächlich 
allenthalben  der  maximale  Effekt  erzielt.  Diese 
Tatsachen  zeigen,  daß  das  „Sinusgesetz",  das 
Fitting  zum  erstenmal  für  den  Geotropismus 
nachgewiesen  hat,  auch  für  den  Phototropismus 
gilt:  der  Reizerfolg  ist  proportional  dem  Sinus 
des  Ablenkungswinkels.  Nun  kann  man  aber 
dieses  Sinusgesetz  auch  in  anderer  Art  beweisen. 
Man  arbeitet  bloß  mit  einem  Strahlenbündel, 
variiert  die  Einfallsrichtung  und  bestimmt  die 
Präsentationszeit  für  jede  Winkellage.  Gilt  das 
Sinusgesetz,  dann  muß  die  Präsentationszeit  pro- 
portional dem  Sinus  des  Einfallswinkels  (wieder 
von  der  Spitze  der  Pflanze  aus  gerechnet)  ab- 
nehmen. Dieser  Weg,  der  beim  Geotropismus 
zu  einer  sehr  schönen  Bestätigung  geführt  hat, 
ist  für  den  Geotropismus  zum  erstenmal  von 
Noack  beschritten  worden.  Noack  kam  aber 
zu  einem  negativen  Resultat,  weil  er  den  Ein- 
fluß der  konischen  Spitze  nicht  berücksichtigte; 
seine  Daten  sind  richtig,  müssen  aber  auf 
80"  umgerechnet  werden  und  führen  dann 
zu  demselben  Ergebnis,  das  aus  v.  Gutten- 
bergs  Präsentationszeitbestimmungen  eindeutig 
hervorgeht,  daß  nämlich  zwischen  dem  Sinus 
des  Einfallswinkel    und  der  Präsentationszeit    um- 


gekehrte Proportionalität  herrscht,  daß  also  das 
Produkt:  Sinus  des  Einfallwinkels  X  Präsen- 
tationszeit konstant  ist.  Bezeichnet  man  den  Ein- 
fallswinkel mit  «,  die  Präsentationszeit  mit  T  und 
führt  noch  die  Lichtintensität  J  ein,  dann  gelangt 
man  zu  der  Formulierung  sin  a^  X  T,  X  J  = 
sin «oT.,  >,  J  =  c.  Für  c  fand  v.  Guttenberg 
einen  Wert  von  ca.  13  Meterkerzensekunden,  der 
tatsächlich  eine  sehr  große  Konstanz  aufwies. 
Dieses  Sinusgesetz  ist  nun  nichts  anderes  als  ein 
Spezialfall  des  bekannten  Reizmengengesetzes,  ^) 
dessen  Geltungsbereich  also  wieder  um  ein  Stück 
bereichert  ist.  Stark. 

Die  deu  80"  11,  Br.  erreichenden   oder  über- 
schreitenden Oefiißpflanzen. 

Der  nördliche  Teil  von  Grönland  nebst  den 
benachbarten  Inseln  EUesmere-  und  Peary  Land, 
der  gesamte  Franz- Josephs  Archipel  und  ein  Teil 
von  Spitzbergen  reichen  noch  über  den  80  "  n.  Br. 
hinaus.  Unsere  Kenntnisse  von  der  Pflanzenwelt 
dieser  hocharktischen  Gebiete  hat  M.  Rikli  in 
der  Vierteljahrsschrift  der  Naturforschenden  Ge- 
sellschaft in  Zürich,  Jahrgang  62,  zusammengestellt. 

Es  sind  nach  Rikli  noch  1 12  Blütenpflanzen, 
die  in  jenen  hohen  Breiten  vorkommen.  Bis  zum 
letzten  Stück  festen  Landes  sind  auch  Blüten- 
pflanzen anzutreffen.  Eine  Nordgrenze  der  Vege- 
tation scheint  es  mithin  überhaupt  nicht  zu  geben. 
Das  ist  recht  auffällig,  wenn  man  bedenkt,  daß 
auf  dem  antarktischen  Kontinent  keine  einzige 
höhere  Pflanze  vorkommt.  Ebenso  bleiben  in 
den  Hochgebirgen  die  Blütenpflanzen  mehrere 
hundert  Meter  unter  den  höchsten  Erhebungen 
zurück.  Die  oberste  Grenze  der  Blütenpflanzen 
{Saiissurea  tridactyla  Hook)  liegt  bei  5800  m  in 
Westtibet,  also  noch  3000  m  unter  der  Höhe  des 
Mt.  Everest.  Die  bisher  nördlichsten  Pflanzen- 
funde stammen  von  der  Lockwood-Insel  nördlich 
Grönland.  Hier  unter  83*'  24'  n.  Br.  wurden 
noch  Ccrastiiim  alpinuiii,  Dryas  integrifolia,  Pa- 
paver  radicatuvi,  Saxi/raga  ofposififolia  gesam- 
melt und  vom  Hydefjord  (83"  15'  n.  Br.)  wurden 
durch  A.  Lundager  Glyceria  aiigitsfaia,  Poa 
abbrcviata,  Pofeiitilla  piilcJiella,  Salix  ardica  und 
Stellaria  longipes  mitgebracht. 

Wer  auch  noch  die  übrigen  letzten  Pioniere 
höheren  Pflanzenlebens  kennen  lernen  will,  mag 
die  von  Rikli  aufgestellte  reichhaltige  Pflanzen- 
liste einsehen.  Hier  sollen  nur  die  wichtigsten 
Gattungen  genannt  werden,  welche  die  meisten 
der  hocharktischen  Pflanzen  stellen.  Es  sind: 
Saxifraga  (11  Arten),  Carcx  (9),  Poa,  Alsine, 
Draba,  Rammculus,  Poteiiiilla  (je  4),  Equiseiiim, 
Glyceria,  Lusula,  Mclamirimn,  Pcdicularis  und 
Taraxacum  (je  3). 

Auch  auf  die  allgemeine  Verbreitung  der  hoch- 
arktischen  Pflanzen    kann    hier    nicht   ausführlich 


')    sin  «  X  J    'St    '''S    jeder    Winkellage    entsprechende 
Lichtintensität,  sin  a  X  J  X  ^  '''^  ä°S-  MR^'^i^eng^"- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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eingegangen  werden.  Erwähnung  mögen  nur  die 
sogenannten  „durchgehenden"  Arten  finden ,  die 
auch  in  niederen  Lagen  Mitteleuropas  auftreten, 
allerdings  zumeist  in  veränderter  Gestalt,  wie  z.  B. 
Cardamine  pratensis,  Cystvptens  fragilis,  Des- 
champsia  caespitosa,  Equisetiim  arvcnse,  Eriopho- 
nun  angtisfi/olia  u.  a.  Manche  Arten  hat  die 
Hocharktis  mit  den  eurasiatischen  Hochgebirgen, 
besonders  mit  den  Alpen  gemeinsam.  Doch  trifft 
es  nicht  zu,  daß  die  am  weitesten  nach  Norden 
vordringenden  Arten  nun  auch  in  den  Hoch- 
gebirgen die  größten  Höhen  erreichen.  Ein  der- 
artiger Parallelismus  ist  nicht  nachweisbar.  Die 
Ursache  dafür  liegt  entweder  in  den  klimatischen 
Verschiedenheiten  beider  Gebiete  oder  auch  in 
unvollständigen  Wanderungen. 

Besonderes  Interesse  verdienen  die  leider  noch 
spärlichen  Angaben  über  die  ökologischen  Ver- 
hältnisse der  hocharktischen  Pflanzen.  Besonders 
groß  ist  die  Zahl  der  Sumpfpflanzen  mit  52  Arten 
(=  46,5  7o)i  die  an  recht  verschiedenen  Stellen 
vorkommen.  Unter  den  3  einjährigen  Pflanzen 
befindet  sich  auch  Androsace  septentrionalc,  der 
bei  uns  bekanntlich  warme  und  lichte  Örtlich- 
keiten bevorzugt.  Ein  gutes  Beispiel  für  das  An- 
passungsvermögen   der    Pflanzen !      Holzpflanzen, 


meist    niedrige    Spaliersträucher,    werden    6    auf- 
gezählt. 

Die  meisten  hocharktischen  Arten  nehmen 
unter  dem  Einfluß  der  abnormen  Lebensbedin- 
gungen eine  ganz  veränderte  Tracht  an:  der 
Wuchs  wird  spalier-,  rasen-  oder  polsterförmig, 
die  Blatiflächen  werden  kleiner,  die  Blüten  ver- 
kümmern und  die  vegetative  Vermehrung,  z.  B. 
durch  Ableger,  Bulbillen  gewinnt  an  Bedeutung. 
Nur  wenige  Arten  {Arjiica  alpina,  Eriopliornvi 
Sclicuchzcri,  Alopccnrus  alpinus  u.  a.)  widerstehen 
den  äußeren  Emflüssen  und  dringen  unverändert 
bis  zu  den  höchsten  Breiten  vor. 

Über  die  Pflanzenvereine  des  hohen  Nordens 
ist  auch  noch  nicht  allzuviel  bekannt.  Die  vor- 
herrschende Formation  dürfte  die  Fjeldformation 
in  einer  trockenen  und  nassen  Fazies  sein.  Auch 
die  Grasmoore  (Sumpfmark)  sind  verbreitet.  Lyco- 
podiuui  Sclago,  Saxijraga  riviilaris,  Ramiiiciilus 
pygmaeus  u.  a.  schließen  sich  gelegentlich  zu 
Pflanzengenossenschaften  zusammen,  die  an  die 
Schneetälchenflora  der  Hochgebirge  erinnern.  Die 
arktische  Zwergstrauchheide  und  die  Mattenforma- 
tion kommt  nur  in  dürftigen  Resten  vor,  ebenso 
auch  die  Strandflora.  E.  Schalow,  Breslau. 


Bücherbesprechungen. 


Atlas  africanus.  Belege  zur  Kulturmorphologie 
der  afrikanischen  Kulturen.  Herausgegeben  im 
Auftrage  des  Forschungsinstituts  für  Kultur- 
morphologie von  Leo  Frobenius  und 
Ritter  von  Wilm.  Lieferung  i.  u.  2.  Mün- 
chen 192 1  ff.,  Ch.  Beck. 
Das  von  Leo  Frobenius  begründete  For- 
schungsinstitut für  Kulturmorphologie  zu  München 
hat  sich  das  schöne  Ziel  gesetzt,  durch  systema- 
tische Materialsammlurgen  und  dann  durch  die 
Verarbeitung  derselben  zu  Verbreitungskarten  die 
Untersuchungen  über  Kulturkreise  und  Kultur- 
gruppen zu  fördern,  und  damit  dem  Geheimnis 
der  Kultur,  ihrer  Lagerung  und  Entwicklung  über- 
haupt auf  den  Grund  zu  kommen.  Da  das  Ma- 
terial des  Instituts  vorderhand  im  wesentlichen 
auf  Afrika  beschränkt  ist,  ist  zunächst  einmal  die 
Arbeit  in  diesem  Erdteil  in  Angriff  genommen, 
und  aus  diesen  Arbeiten  heraus  erwuchs  dann 
der  jetzt  im  Erscheinen  begriffene  Atlas  africanus. 
Dieser  Atlas  ist  in  der  Weise  angelegt,  daß  in 
ihm  nach  den  drei  Gesichtspunkten:  Kultur  und 
Volk,  Urkulturen  und  historische  Kulturen,  und 
kulturelle  Wesenheiten  zahlreiche  Kartenbilder  mit 
kurzem  erläuterndem  Text  vereinigt  werden,  die 
dann,  wenn  das  Werk  einmal  abgeschlossen  ist, 
ein  zusammenfassendes  Bild  über  die  Morphologie 
der  afrikanischen  Kulturen  bieten  sollen.  Die 
beiden  ersten  Hefte  geben  zunächst  einmal  eine 
Einführung  von  Leo  F"robenius,  der  in  großen 
Zügen  das  Ziel  des  Werkes  darstellt,  dann  einzelne 


Verbreitungskarten  über  Stoffe  der  Tracht,  Bett 
und  Haus,  Blick  und  Blut,  Gebläsebildungen,  die 
Bewegung  der  hamitischen  Kultur,  über  Gewan- 
dung, der  König  als  Gott,  Schmied  und  Gesell- 
schaft, Speicher  zur  Nahrung,  die  süderythräische 
Kultur,  die  syrtische  Kultur.  Jede  einzelne  dieser 
Verbreitungskarten  umfaßt  ihrerseits  wieder  2 — 10 
Einzelkärtchen,  in  denen  wichtige  Einzelerschei- 
nungen kartographisch  festgelegt  sind,  woraus  sich 
dann  wieder  ein  Gesamtbild  über  den  in  Frage 
kommenden  Gegenstand  ergibt.  Jeder  dieser 
Karten  ist  ein  kurzer  begleitender  Text  beige- 
geben, der  in  alle  wesentlichen  Punkte  einführt. 
Bedauerlich  bleibt  dabei  einzig  und  allein,  daß  die 
Unterlagen  zu  den  einzelnen  Karten  nicht  mit 
veröffentlicht  werden,  so  daß  vorderhand  eine 
Nachprüfung  der  einzelnen  Karten  nicht  möglich 
ist.  Wohl  soll  diesem  Übelstande  bald  durch 
Veröffentlichung  dieser  Unterlagen  im  Zusammen- 
hange mit  anderen  ausführlichen  Arbeilen  in  den 
Abhandlungen  des  Instituts  abgeholfen  werden. 
Aber  wird  dadurch  das  Material  nicht  wiederum 
unnütz  auseinander  gerissen?  Auf  jeden  Fall 
zeigt  schon  die  Zusammenstellung  der  bisher  be- 
handelten Gegenstände,  wie  umfangreich  und 
vielseitig  das  Werk  angelegt  ist.  So  wird  es 
denn  nach  seiner  Fertigstellung  unweigerlich  eine 
der  wertvollsten  Studiensammlungen  für  jeden 
Ethnologen  bilden  —  und  ebenso  unweigerlich 
aber  auch  zu  vielen  gleichgerichteten  Unter- 
suchungen, nicht  nur  über  das  in  dem  Atlas  ver- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


663 


arbeitete  Material,  sondern  auch  verwandter  Art 
anregen.  An  und  für  sich  haben  ja  Anthropologie, 
Ethnologie  und  Prähistorie  schon  seit  langem  sich 
an  derartige  kartographische  Darstellungen  als 
wertwoUes  Hilfsmittel  der  Forschung  gewöhnt. 
Mehr  oder  weniger  neu  ist  jedoch  der  Gedanke, 
nicht  nur  ein  oder  mehrere  derartiger  Karten 
sprechen  zu  lassen,  sondern  eine  ganze  Serie. 
Auf  prähistorischem  Gebiet  war  dieser  Gedanke 
bereits  etwas  früher  von  K  o  s  s  i  n  n  a  und  W  i  1  k  e 
in  einigen  Arbeiten  befolgt  worden  (vgl.  zuletzt 
die  Arbeit  von  Wilke,  „Die  Herkunft  der  Kelten, 
Germanen  und  Illyrer",  Manus  9,  1917,  S.  i  ff.) 
und  schließlich  haben  doch  ja  auch  die  Arbeiten 
der  prähistorischen  Typenkartenkommission  das- 
selbe Ziel  im  Auge  gehabt.  Trotzdem  hatte  es 
auf  diesem  Gebiet  noch  niemand  unternommen, 
einmal  derartig  großzügig  mit  Karten  zu  arbeiten, 
wie  es  in  dem  vorliegenden  Werke  von  dem 
Münchener  Forschungsinstitut  aus  geschieht  — 
einfach  und  allein  deshalb,  weil  einem  Privatmann 
immer  weit  eher  Grenzen  gesetzt  sind,  als  einem 
Institut,  das  ja  auch  einen  Stab  von  Mitarbeitern 
zur  Seite  hat.  Es  ist  aber  vollständig  klar,  daß 
durch  ein  derartiges  Arbeiten  mit  zahlreichen, 
hunderten  von  Karten  auch  die  Ergebnisse  ganz 
anders  heraustreten,  als  bei  einem  Arbeiten  mit 
nur  wenigen  Karten.  Wir  können  deshalb  an  das 
Erscheinen  des  Atlas  africanus  nur  zwei  Wünsche 
anschließen:  einmal  den,  daß  es  dem  Münchener 
Institut  trotz  der  gegenwärtigen  schweren  Zeit 
vergönnt  sein  möge,  nicht  nur  diesen  Atlas  zu 
vollenden,  sondern  dereinst  auch  einen  Atlas  euro- 
paeus  und  einen  Atlas  asiaticus  in  der  gleichen 
Weise  danebenzustellen  —  andererseits  aber  auch 
den,  daß  für  unsere  deutsche  Prähistorie  dereinst 
ein  gleiches  Unternehmen  erstehen  möge,  zu  dem 
jetzt  schon  so  vielerlei  Anfänge  vorliegen,  jedoch 
nur  noch  das  Institut  fehlt,  daß  diese  Anfange 
zusammenfaßt,  die  Weiterarbeit  organisiert  und 
zu  einem  gleichen  Musterbau  ausführt,  wie  ihn 
der  Atlas  africanus  für  die  ethnologische  Forschung 
bereits  darstellt. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Kleinschmidt,  O.,    Die  Singvögel  der  Hei- 
mat.    3.  Aufl.     Ein  Bilderatlas  mit   120  Seiten 
8"    und    86    farbigen  Tafeln    nebst  einigen  Ab- 
bildungen nach  Photos  und  Zeichnungen.  3.  Aufl. 
Quelle  &  Meyer  1921.     In  Halbl.  geb.  50  M. 
Rasches  Durchblättern    dieses   Werkes   würde 
seine    Vorzüge    übersehen   lassen.      Diese    liegen 
großenteils    in    der    Gediegenheit    und  Exaktheit, 
mit    der    einer   unserer    tüchtigsten    Ornithologen 
in    den    kurzen    erläuternden    Texten  und  in  dem 
kurzen  Vorwort  und  Rückblick  spricht.    Er  spricht 
vornehmlich  zu  Anfängern  und  traf  innerhalb  des 
Rahmens,    der   nur   die    „Singvögel",  d.  h.  die 
kleineren  unter  den  Passeriformes  umfaßt,  sehr  gut 
die  Wahl,  was  er  ausführlich  bieten,   und  was  er 
nur  kurz  erwähnen  müsse.   So  ist  die  ausführliche 


Hervorhebung  der  lange  übersehenen  Weidenmeise 
mit  vorzüglichem  Bild  neben  dem  der  Sumpf- 
oder Nonnenmeise  und  manches  ähnliche  Vor- 
gehen des  Verf.  sehr  dankenswert,  nicht  minder 
die  kurzen  Hinweise  auf  Unterarten.  Diese 
Art  der  Anlage,  peinlich  genaue  Beobachtung, 
Tierliebe  und  ein  unangekränkelter  Optimismus 
in  Anbetracht  der  heutigen  Schicksale  der  Sing- 
vögel machen  das  Buch  dem  Benutzer  wert.  Statt 
des  Seglers  zwar  sähen  wir  doch  lieber  den 
Wendehals  abgebildet  und  jenen  nur  kurz  be- 
schrieben. Damit  wäre  dem  Anfänger  mehr  ge- 
dient. Hier  und  da  sind  bei  aller  Kürze  auch 
geschichtliche  Betrachtungen  versucht.  So  wird 
uns  gesagt  (S.  46):  „Wie  bei  Nebel-  und  Raben- 
krähe sind  bei  Nachtigall  und  Sprosser  zwei  einst 
weit  durch  verschiedene  Wanderwege  und  durch 
die  Eiszeitgletscher  getrennte  Formen  desselben 
Vogels  einander  durch  späte  Ausdehnung  ihrer 
Brutgebiete  näher  gerückt."  Dagegen  hält  der 
Verf.  nichts  von  der  „kindischen"  Anschauung, 
daß  die  Unterarten  oder  Formen  beginnende  neue 
Arten  wären.  Da  geht  er  in  der  Kritik  wohl 
etwas  zu  weit,  doch  daß  Kritik  überhaupt  gegen- 
über den  Schlagworten  am  Platze  ist,  so  auch 
hier,  läßt  man  sich  von  dem  scharfen  Beobachter 
gern  vorhalten.  Die  Angaben  über  die  Wande- 
rung des  Girlitzes  nimmt  er  nicht  vorbehaltlos  an. 
Auch  die  Abbildungen,  meist  ganzseitige  Typen- 
bilder, verdienen  großes  Lob,  da  sie,  wie  einst 
beim  alten  Naumann,  vom  Verf.  selbst  her- 
rühren und  somit  er  für  jeden  Pinselstrich  die 
Verantwortung  übernimmt.  Nicht  wenige  sind 
ganz  ausgezeichnet  aufgefaßt  und  stehen  auf  der 
Höhe  des  Unübertrefflichen.  Leider  hat  über 
viele  das  Reproduktionsverfahren  einen  etwas 
stumpfen  Schleier  gebreitet;  das  wäre  wohl  auch 
bei  dem  hier  verwendeten  Rasterverfahren  in  Zu- 
kunft vermeidbar,  noch  besser  ist  Steindruck.  Im 
vorliegenden  Falle  aber  bemerkte  ich  mit  F"reude, 
daß  abends  bei  gelblichem  Lampenlicht  die  Far- 
ben meist  voll  und  rein  hervortreten  und  somit 
viele  Bilder  lebendiger  werden.  Auch  die  zwei 
Eiertafeln,  die  einzigen,  die  immerhin  manches 
in  der  Färbung  Verfehlte  und  in  der  Form  (z.  B. 
Pirol)  Verzeichnete  enthalten,  werden  dadurch 
wenigstens  besser.  Übrigens  bringt  das  Buch  ein 
richtiges  Rotkehlchenbild  mit  der  Herzform  des 
Rot,  was  man  anderwärts,  wie  im  neuen  Nau- 
mann und  im  B  r  e  h  m ,  vermißt. 

V.  Franz,  Jena. 


Freudenberg,      Wilhelm,      Geologie      von 

Mexiko.      232    S.      Berlin    1922,    Borntraeger. 

Geh.  (bei  Erscheinen)  81   M. 

Gleich  zahlreichen  Werken  deutscher  Literatur 

entspringt  die  Studie  dem  Drange  des  Verf.,  sich 

selbst  Überblick   über  einen  Stoß   zu  verschaffen, 

mit  dem  er  Fühlung   gewonnen  hat.     Einjährige 

Tätigkeit     am     geologischen     Staatsinstitut     von 

Mexiko    hat   hier   den  Anlaß   gegeben,   das   über 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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den  Aufbau  des  Landes  Bekannte  systematisch 
zusammenzustellen.  Eigene  Beobachtungen  wur- 
den natürlich  mit  hineinverarbeitet. 

Die  Stoffgliederung  ergibt  sich  fast  von  selbst: 
Einer  geographischen  Übersicht  folgt  eine  regio- 
nalgeologische Beschreibung  der  einzelnen  Pro- 
vinzen, alsdann  eine  historisch  •  geologische  Dar- 
stellung der  vertretenen  Formationen,  zum  Schluß 
ein  Eingehen  auf  den  wichtigen  vulkanischen 
Faktor  des  Baues  und  der  Entstehung  des 
Landes,  sowie  das  Vorkommen  bedeutsamer 
Lagerstätten,  unter  denen  das  Petroleum  ja  Welt- 
ruf besitzt.  Natürlich  kann  im  letzteren  Falle  so 
eingehend,  wie  es  der  Stoff  an  sich  ermöglichte, 
die  Behandlung  nicht  sein,  um  nicht  den  Gesamt- 
rahmen zu  sprengen.  Statistisches  IVIaterial  ins- 
besondere   ist    nur  bescheiden  verwendet  worden. 

Die  einschlägige  Literatur  ist  in  umfangreichem 
Maße  herangezogen  worden.  Man  ist  also  an 
Hand  des  Buches  in  der  Lage,  sich  schnell  über 
bestimmte  Fragen  zu  unterrichten.  Kartenskizzen 
erleichtern  das  Zurechtfinden.  Ganz  hervorragend 
schön  ist  das  Titelbild  vom  Popocatepetl  in  N- 
Ansicht.  Edw.  Hennig. 


Molisch,  Hans,  Pflanzenphysiologie  als 
Theorie  der  Gärtnerei.  Vierte,  neubear- 
beitele  Auflage.  Mit  150  Abb.  im  Text.  Jena 
1921,  G.  Fischer. 

Der  Wunsch  Kerners,  daß  Theoretiker  und 
Praktiker  sich  zu  gemeinsamer  Arbeit  vereinigen 
möchten,  und  mit  dem  Molisch  sein  Buch  be- 
schließt, ist  auf  manchen  Gebieten  der  ange- 
wandten Botanik  bereits  erfüllt.  Daß  auch  die 
gärtnerische  Botanik  allmählich  diesen  Weg  geht, 
lehrt  der  große  Erfolg  des  vorliegenden  Buches. 
Die  Gärtner  scheinen  doch  mit  der  Zeit  einzu- 
sehen, daß  die  Wissenschaft  nicht  nur  ein  dekora- 
tives Beiwerk  ihres  Gewerbes  ist,  sondern  daß 
sie  in  der  Tat  auch  die  gärtnerische  Praxis  zu 
unterstützen  und  zu  fördern  vermag.  —  Nachdem 
die  vorigen  Auflagen  an  dieser  Stelle  gewürdigt 
worden  sind,  ist  ein  näheres  Eingehen  auf  den 
Inhalt  des  Buches,  das  in  den  weitesten  Kreisen 
ja  schon  bekannt  ist,  nicht  mehr  nötig.  —  Daß 
der  Verf  wiederum  die  neuesten  Forschungs- 
ergebnisse berücksichtigt,  soweit  es  angebracht 
erschien,  ist  selbstverständlich.  Außer  Botanikern 
und  Gärtnern  kann  die  Molischsche  Pflanzenphy- 
siologie jedem  Gebildeten,  der  irgendwie  gärtne- 
rische oder  landwirtschaftliche  Praxis  ausübt,  aufs 
wärmste    empfohlen  werden,  wenn  er  seinen  Ge- 


sichtskreis  erweitern    und   seine   Kenntnisse   ver- 
tiefen will.  Wächter. 


Till,  Alfred,  Petrographisches  Praktikum 
(Anleitung    zur     makroskopischen    Gesteinsbe- 
stimmung,    mit    zahlreichen    Übungsaufgaben). 
2.  Aufl.     Wien  1920,  Seidel  u.  Sohn. 
Das  Werkchen    wendet    sich    an    Angehörige 
der  Nachbarwissenschaften,    um   ihnen   das  AUer- 
wesentlichste    an    petrographischen    Begriffen    zu 
vermitteln  und  bestrebt  sich  vor  allem  Anleitung 
zu  Übungen  am  Material  zu  sein,  beschränkt  sich 
aber  bewußt   auf  makroskopische  Hilfsmethoden. 
Ob  es  bei  so   bescheidener  Zielsteckung  geboten 
ist,    in   die  Nomenklatur    so    weit    hineinzuführen, 
wie  hier  geschieht,  mag  dahingestellt  sein.    Zwei- 
feln   kann    man    wohl    gar,    ob    sich    persönliche 
Anleitung    überhaupt    durch    gedrucktes  Wort  er- 
setzen  läßt.     Da   eine   Neuauflage   möglich   war, 
muß    doch    wohl    ein  Bedürfnis    dadurch    gestillt 
werden. 

Indem  Sedimente  mitbehandelt  werden,  er- 
scheint eine  erste  Gliederung  nach  Härte,  Dichte 
usw.  als  recht  wenig  glücklich,  da  Verschieden- 
artigstes in  solchen  Rubriken  nebeneinander  er- 
scheint und  eher  zu  verwirren  droht.  Zum  Glück 
ist  die  Druckanordnung  recht  geschickt  und  ver- 
hilft zum  Zurechtfinden.  Auch  die  Tabellen 
können  gute  Dienste  leisten.  Einfachste  Aufgaben 
sollen  der  aktiven  Mitarbeit  des  Schülers  zugute 
kommen.  Edw.  Hennig. 


Langenbeck,  B. ,  Physische  Erdkunde. 
L  Die  Erde  als  Ganzes  und  die  Erdoberfläche. 
Slg.  Göschen  Nr.  849.  iio  S.,  26  Abb.  Ver- 
einigung wissenschaftl.  Verl.,  Berlin-Leipzig  1922. 
12  M. 

Als  erste  von  4  Lieferungen  behandelt  das 
Bändchen  Morphologie  und  gesamt  -  tellurisches 
Wesen  in  sehr  ansprechender  und  bei  aller  Kürze 
den  Kern  der  Dinge  und  Probleme  herausschä- 
lender Darstellung.  Die  Grenze  zwischen  Wissen 
und  Hypothese  wird  nach  Möglichkeit  beachtet. 
Besonders  wird  vielfach  die  Darstellung  des  Erd- 
innern,  der  Wärme-,  Dichte-  und  Schwere -Ver- 
hältnisse, wie  der  Bedeutung  der  Rotation  für  die 
Gestaltung  der  Oberfläche  begrüßt  werden,  weil 
auf  diesen  Gebieten  zurzeit  ein  emsiges  Ringen 
um  Einsicht  am  Werke  ist. 

Das  nächste  Heft  soll  Luft-  und  Wasserhülle 
zum  Gegenstande  haben.  Edw.  Hennig. 


lulinit:  11.  Stadler,  Wandernde  Fledermäuse.  S.  649.  S.  v.  Kobbe,  Über  Lichtablenkung  nahe  der  Sonne  und  Perihel- 
bewegung.  (X  Abb.)  S.  652.  —  Einzelberichte:  H.  Dingler,  Neuere  Korschungen  zum  Ökonomieprinzip.  S.  654. 
Cohen-Kysper,  Kontinuität  des  Keimplasmas  oder  Wiederherstellung  der  Keimzelle?  S.  658.  H.  v.  Guttenberg, 
Studien  über  den  Phototropismus  der  l'llanzen.  S.  659.  M.  RiUli,  Die  den  80°  n.  Br.  erreichenden  oder  überschreiten- 
den Gefäßpllanzen.  S.  661.  —  Bücherbesprechungen:  L.  l'robenius  und  Ritter  von  Wilm,  Atlas  africanus. 
S.  662.  O.  Kleinschmidl,  Die  Singvögel  der  Heimat.  S.  663.  W.  Freudenberg,  Geologie  von  Mexiko.  S.  663. 
H.  Molisch,  l'flanzenphysiologie  als  Theorie  der  Gärtnerei.  S.  664.  A.  Till,  Petrographisches  Praktikum.  S.  664. 
B.  Langenbeck,    Physische  Erdkunde.  S.  664. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  PStz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.   Band. 


Sonntag,  den  3.  Dezember  1922. 


Nummer  49. 


Die  Lager  aus  tierischen  und  pflanzlichen  Resten  im  Diluvium 
des  Elbstromcebietes. 


[Nachdruck  verboten. 1  Von  Edu 

Die  oberste  Bodendecke  der  norddeutschen 
Ebene,  das  Diluvium,  besteht  aus  losen  Gesteins- 
trümmern, und  selbst  der  Geschiebelehm  besitzt 
nur  an  seltenen  Stellen  einen  steinharten  Zusam- 
menhang. Trotzdem  unterscheidet  er  sich  deut- 
lich von  den  Sanden  und  Tonen ,  weil  er  eine 
Schuttmasse  bildet,  d.h.  aus  einem  Gemenge 
von  großen,  kleinen  und  kleinsten  Gesteinstrüm- 
mern besteht,  während  die  Sande  und  Tone  jeder 
einzelnen  Bank  eine  übereinstimmende  Korngröße 
aufweisen.  Seiner  ganzen  Beschaffenheit  nach  ist 
er  somit  kein  echtes  Schichtgestein.  Dazu  kommt, 
daß  er  gegenüber  den  Sanden  und  Tonen  merk- 
lich zurücktritt;  und  wenn  er  auch  an  einigen 
Örtlichkeiten  eine  auffallende  Mächtigkeit  erreicht, 
so  fehlt  er  doch  an  anderen  Stellen  vollständig. 
Weil  also  die  Schichtgesleine  in  vielen  Strichen 
der  norddeutschen  Ebene  bedeutend  überwiegen, 
ergibt  sich,  daß  bei  der  Entstehung  des  Diluviums 
große  Mengen  von  strömendem  Wasser  aufgetreten 
sind,  die  beim  Abschmelzen  der  Eisdecke  frei  ge- 
worden waren. 

Der  Geschiebelehm  besitzt  in  dem  ganzen 
Gebiet  eine  überraschende  Übereinstimmung  in 
seinem  Gefüge,  und  wenn  daher  die  Schicht- 
gesteine beim  Zerfall  des  nordischen  Schutteises 
aus  ihm  allein  entstanden  wären,  so  müßten  auch 
sie  wieder  dieselbe  Gleichförmigkeit  aufweisen. 
Dies  ist  aber  durchaus  nicht  der  Fall ,  es  finden 
sich  vielmehr  Bänke  eingelagert,  deren  Gesteins- 
trümmer aus  dem  vordiluvialen  Untergrund  stam- 
men und  die  daher  mit  Recht  als  „wurzellose 
Schollen"  bezeichnet  worden  sind.  Das  Auftreten 
dieser  fremden  Schichten  ist  also  ein  Beleg  dafür, 
daß  die  diluviale  Eisdecke  auch  ganz  reines  Wasser 
geliefert  haben  muß,  welches  die  Gesteinstrümmer 
des  Untergrundes  in  Bewegung  setzte  und  wieder 
fallen  ließ.  Diese  Tatsache  führte  mich  zu  dem 
Schluß,  die  diluviale  Eisdecke  habe  aus  zweierlei 
Bänken  bestanden,  nämlich  sowohl  aus  solchen 
von  nordischem  Schutteis,  als  auch  aus 
solchen  von  reinem  Heimeis.  Während  jenes 
von  den  skandinavischen  Gebirgen  heräbgerückt 
war,  hatte  sich  dieses  an  Ort  und  Stelle  aus  dem 
angehäuften  Schnee  gebildet.  Vielleicht  war  das 
letztere  sogar  mächtiger  und  lieferte  daher  auch 
beim  Auftauen  den  Hauptbeitrag  für  die  Ab- 
schmelzwässer. 

Die  Belege  für  das  Auftreten  von  Firneisbän- 
ken und  Schutteisbänken  in  der  norddeutschen 
Ebene  habe  ich  in  zwei  Aufsätzen  ^)  dieser  Zeit- 
schrift beigebracht,  und  ich  habe  diese  kurze  Ein- 


ard Zache. 

leitung  auch  nur  deshalb  vorangestellt,  weil  in 
dem  folgenden  Aufsatz  die  Arbeit  des  strömen- 
den Wassers  ganz  besonders  deutlich  hervor- 
treten wird,  indem  nämlich  die  Sonderung  der 
tierischen  und  pflanzlichen  Reste  an  vielen  Lager- 
stätten vollkommen  durchgeführt  ist.  In  den  bei- 
den Aufsätzen  hatte  ich  schon  den  Schluß  ge- 
zogen, daß  auch  die  organischen  Einlagerungen 
zu  den  wurzellosen  Schollen  des  Diluviums  ge- 
rechnet werden  müssen,  weil  sie  sich  ebenso  regel- 
mäßig in  den  Verband  der  Schichten  einfügen, 
wie  es  die  Lager  aus  fremden  Gesteinstrümmern 
und  die  chemischen  Niederschläge  tun. 

Die  Lagerstätten  mit  tierischen  und  pflanz- 
lichen Resten  sind  im  norddeutschen  Diluvium 
weit  verbreitet  und  vielleicht  häufiger  als  die 
chemischen  Niederschläge  sowie  die  wurzellosen 
Schollen;  Wahnschaffe  ^)  widmet  ihnen  in 
seinem  Buche  einen  Raum  von  36  Seiten.  Aus 
dieser  F"ülle  will  ich  hier  nur  folgende  F'und- 
punkte  auswählen:  Klinge  zwischen  Cottbus  und 
Forst,  die  Umgegend  Berlins  (Berlin  selbst, 
Neukölln,  Kohlhasenbrück,  Alt-Geltow,  Motzen, 
Grunewald,  Müggelheim,  Klein-Eichholz,  Glindow, 
Phöben),  Nennhausen,  Rathenow,  die  Um- 
gegend von  Beizig  und  Niemegk,  Hundis- 
burg,  Ülzen,  Westerweyhe,  Wiechel  bei 
Unterlüß,  Nieder-  und  O berohe  bei  Soltau, 
Honerdingen,  Deutsch  Ewern  südlich 
von  Lüneburg,  Godenstedt  bei  Zewen,  der 
Kuhgrund  bei  Lauenburg,  Tesperhude, 
Glinde,  Ütersen,  Schulau,  Ohlsdorf 
(diese  letzteren  fünf  bei  Hamburg)  und  endlich 
die  Insel  Sylt.  Die  Auswahl  ist  daher  so  ge- 
troffen worden,  daß  die  Örtlichkeiten  im  Flußnetz 
der  heutigen  Elbe  liegen,  und  es  folgt  dann  aus 
der  Übersicht  weiter,  daß  die  Fundpunkte  sich 
in  der  Richtung  des  Gefälles  häufen,  wobei  man 
allerdings  in  Betracht  ziehen  muß,  daß  die  Um- 
gebung Berlins  besonders  reich  an  ihnen  sein 
wird,  weil  hier  seit  alter  Zeit  der  Bedarf  an  Sand 
und  Ton    eine    größere  Anzahl    von  Aufschlüssen 


')  E,  Zache,  Die  diluviale  Eisdecke  und  die  letzte 
Krustenbewegung  in  Norddeutschland.  Naturw.  Wochenschr. 
N.  F.  18.  Bd.,  der  ganzen  Reihe  34.  Bd.,  Nr.  12,  S.  161, 
1919. 

E.  Zache,  Die  chemischen  Niederschläge  des  norddeut- 
schen Diluviums.  Ebenda  20.  Bd.  bzw.  36.  Bd.,  Nr.  32, 
S,  457,    1921. 

^)  F.  Wahnschaffe,  Die  Oberflächengeslaltung  des 
norddeutschen  Flachlandes.  3.  Aufl.  Stuttgart  1909.  S.  292 
bis  32S. 


666 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


hervorgerufen  hat  als  weiter  ab  von  dieser  wich- 
tigen Verbrauchsstelle. 

Die  Lagerbestände  sind  an  den  einzelnen 
Fundpunkten  sehr  verschieden,  und  man  kann 
zunächst  zwei  Gegensätze  feststellen:  einmal  fin- 
den sich  Örtlichkeiten,  die  nur  pflanzliche  Trüm- 
mer aufweisen,  und  dann  andere,  die  nur  tierische 
Reste  führen.  Endlich  treten  auch  solche  auf  mit 
einer  IVIischung  von  beiden.  Von  den  pflanz- 
lichen Lagerstätten  kann  man  sagen,  daß  sie 
an  der  untersten  Elbe  und  auf  Sylt  ganz  rein 
auftreten.  Das  schönste  Beispiel  dieser  Art  ist 
das  Torflager  des  Damenbades  bei  Westerland 
auf  Sylt,')  das  früher  eifrig  ausgebeutet  wurde, 
und  unter  der  Stadt  Westerland  ist  in  einer  Boh- 
rung das  Torflager  mit  lo  m  nicht  durchsunken 
worden,  so  daß  es  auch  das  mächtigste  von  allen 
ist.  An  anderen  Stellen  sind  die  pflanzlichen 
Trümmer  mit  Erde  dicht  gemengt,  und  in 
Klinge  und  Körbiskrug  liegt  der  Pflanzen- 
mull zwischen  parallelen  dünnen  Ton-  bzw.  Sand- 
bänken. Während  die  Pflanzentrümmer,  wenig- 
stenz  an  einigen  Lagerstätten,  echte  Flöze  aus 
Schwemmtorf  bilden,  stecken  die  tierischen 
Reste  immer  locker  in  den  Erdmassen  und 
treten  niemals  in  dichten  Bänken  auf. 

Dieser  große  Unterschied  in  dem  Bau  der 
beiden  Lagerstätten  muß  zurückgeführt  werden 
auf  die  Art  und  Weise,  wie  die  organischen 
Reste  verschoben  wurden.  Die  Pflanzentrümmer 
schwimmen  auf  dem  Wasser,  während  die 
Reste  der  Tiere,  die  Knochen,  die  Zähne  und 
die  Gehäuse  der  Schnecken,  auf  der  Sohle  des 
Stromes  entlang  gerollt  werden.  Die  Pflanzen- 
reste können  daher  erst  zur  Ruhe  kommen,  wenn 
das  Wasser  zu  fließen  aufhört,  während  die  tie- 
rischen Trümmer  dort  liegen  bleiben,  wo  die 
Stoßkraft  des  Wassers  versagt.  Wenn  daher  eine 
lO  m  mächtige  Schicht  aus  Pflanzentrümmern 
sich  vorfindet,  so  gehört  dazu  ein  großes  Hinler- 
land, das  den  Bestand  des  heutigen  Lagers  lie- 
ferte. Wo  dagegen  das  Pflanzenlager  unbedeutend, 
ist,  fehlt  ein  solches.  Sylt  auf  der  einen  Seite 
und  Klinge  bzw.  Körbiskrug  auf  der  anderen  Seite 
sind  die  dazu  gehörigen  Beispiele.  Aus  der  An- 
häufung der  Pflanzentrümmer  im  unteren  Ab- 
schnitt des  Elbgeländes  folgt  daher,  daß  schon 
in  der  Abschmelzzeit  der  diluvialen  Eisdecke  ge- 
nau wie  heute  wieder  ein  großer  Wasserstrom 
hier  sein  Ende  erreichte,  der  ein  breites  Geäst 
von  Nebenflüssen  sammelte.  In  den  beiden  an- 
geführten Aufsätzen  ist  von  mir  nachgewiesen 
worden,  daß  dieser  Strom  mit  seinen  Zuflüssen 
ein  Untercisstrom  war,  der  von  dem  darüber 
ausgespannten  Eisgewölbe  mit  Schmelzwasser 
versorgt  wurde. 

Die  Anhäufung  der  pflanzlichen  Trümmer  hat 
sich    offenbar    an    jeder    einzelnen  Lagerstätte    in 


einer  besonderen  Weise  abgespielt.  Wo  z.  B.  die 
Schwemmtorfschicht  sehr  rein  und  daneben  noch 
sehr  mächtig  ist,  hat  der  Wassersirom  nichts 
weiter  mitgebracht  als  die  Pflanzentrümmer.  Wo 
dagegen,  wie  in  Klinge  und  Körbiskrug,  Pflanzen- 
und  Erdschichten  in  mehrfacher  Wiederholung 
abwechseln,  sind  die  beiden  zusammengehörigen 
Niederschläge  zur  selben  Zeit,  d.  h.  mit  einem 
Schub,  eingetroffen,  und  die  pflanzlichen  und 
mineralischen  Trümmer  haben  sich  erst  beim 
Niederfallen  gesondert,  weil  die  spezifisch  schwe- 
reren zuerst  zu  Boden  fielen.  Deshalb  darf  man 
bei  diesem  regelmäßigen  Schichtenwechsel  viel- 
leicht an  einen  durch  den  Witterungswandel  der 
Jahreszeiten  bedingten  Anlaß  denken,  der  sich 
beim  Abschmelzen  des  Inlandeises  eingestellt  hatte. 
Damit  aber  die  Pflanzentrümmer  sich  glatt  auf 
der  Sohle  einer  iVIulde  niederschlagen  konnten, 
mußte  das  Wasser  in  den  Boden  einsickern  und 
sich  dort  als  Grundwasser  einen  Weg  suchen. 
Dazu  war  der  Untergrund  im  Unterlauf  der  Elbe 
besonders  geeignet,  weil  z.  B.  unter  der  Stadt 
Hamburg  das  Diluvium  i8o  und  mehr  Meter 
mächtig  ist.  An  manchen  Lagerstätten  hat  sich 
Moorerde  angehäuft;  hier  muß  man  wohl  an 
einen  Schlammstrom  denken,  bei  dem  es  also  an 
Wasser  fehlte,  um  eine  Sonderung  der  Gemeng- 
teile zu  bewirken. 

In  den  aufgeführten  Örtlichkeiten  handelt  es 
sich  um  echte  Torfe,  die  aus  den  Geweberesten 
der  höheren  Pflanzen,  vermischt  mit  Früchten, 
Samen  und  Blütenstaub,  zusammengesetzt  sind. 
Nicht  wunderbar  ist  es  daher,  daß  sich  auch  die 
Kieselskelette  der  Süßwasserdiatomeen  in 
besonderen  Lagern  angehäuft  haben  und  z.  B.  bei 
Wiechel  20  m  Mächtigkeit  erreichen.  Dabei  ist 
es  auffällig,  daß  diese  Lager  sich  nur  an  meh- 
reren Örllichkeiten  der  Lüneburger  Heide  zwischen 
Ülzen  und  Soltau,  d.  h.  schon  oberhalb  Hamburgs, 
finden.  Auch  diese  Tatsache  deutet  daher  auf 
eine  Sonderung  der  Stromirübe  durch  die  Unter- 
eisströme hin. 

Ihre  sichtende  Tätigkeit  tritt  aber  noch  deut- 
licher bei  den  tierischen  Lagerbeständen  her- 
vor, weil  hier  auch  an  vielen  Orten  eine  Über- 
einstimmung der  organischen  Reste  mit  der 
Korngröße  der  einschüeßenden  Bodenschicht  fest- 
zustellen ist.  Die  Andeutung  einer  solchen  geht 
z.B.  aus  der  Schilderung  Hennigs')  hervor;  hier 
heißt  es:  In  der  Nähe  des  Jagdschlosses  Grunewald, 
in  einer  Kiesgrube,  wo  Sande,  Grande  und  ganz 
grobe  Gerolle  häufig  und  plötzlich  wechseln,  fanden 
sich  die  Gehäuse  der  Paludinen  in  allen  Schichten, 
wurden  jedoch  nach  oben  hin,  wo  die  Korngröße 
bedeutend  nachläßt,  häufiger  angetroffen.  Aber 
selbst  in  den  ganz  groben  Gerollen  lagen  gut- 
erhallene  Schalen.  Hennig  berichtet  weiter: 
„Der  Weg  längs  der  Ostseite  des  Grunewaldsees 


')  W.  Wolff,  Geologische  Beobachtungen  auf  Sylt  nach  ')  E.  Hennig,  Ein  neuer  Fundpunkt  von  Paludina  dilu- 

der  Dezemberflut   1909.     Monatsber.  d.  deutsch,  geolog.  Ges.        viana.      Monalsber.    d.    deutsch,    geolog.   Ges.    Nr.   12,   1908, 
'910,  S.  40.  S.  342. 


N.  F.  XXL^'Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


667 


ist  mit  diesem  Kies  beschottert  worden,  und  hier 
lagen  noch  zahlreiche  Paludinen.  Dies  ist  ein 
Zeichen  für  die  Widerstandsfähigkeit  der  Gehäuse, 
d.  h.  der  gute  Erhaltungszustand  spricht  nicht 
gegen  sekundäre  Lagerung."  Auf  eine  streng 
durchgeführte  Sichtung  deutet  das  Profil  von  Alt- 
Geltow  unweit  Werders  a.  H.  hin,  wo  nur  die 
kleinen  Gehäuse  der  Valvaten  und  Bithynien  un- 
regelmäßig zerstreut  in  einem  pulverförmigen 
Niederschlag  eingebettet  sind.  Und  von  den 
Zähnen  der  großen  Säugetiere  aus  den  alten  Rix- 
dorfer  Sandgruben  wird  berichtet,  daß  sie  sich  in 
einer  2  m  mächtigen  Kiesschicht  dicht  über  der 
Sohle  gefunden  haben. 

Wo  die  Sonderung  der  organischen  Reste 
nebst  den  begleitenden  Bodenschichten  streng 
durchgeführt  ist,  war  offenbar  ein  langer  Unter- 
eisstrom im  Betrieb  gewesen,  der  keine  Zuflüsse 
aus  der  Nachbarschaft  aufgenommen  hatte,  die 
gröbere  Trümmer  in  seinen  Lauf  führten,  als  er 
imstande  war  weiter  zu  bewegen.  Solche  Fälle 
sind  indessen  auch  sehr  häufig,  denn  in  Klinge 
hatte  man  zwei  fast  vollständige  Skelette  gefunden, 
und  zwar  stammt  das  eine  von  einem  Mammut 
und  das  andere  von  einem  Rind.  Dieser  Um- 
stand lehrt,  daß  der  Weg  zwischen  der  heutigen 
Fundstelle  der  großen  Knochen  und  dem  Lager- 
platz unter  dem  Eise  nur  ein  sehr  kurzer  gewesen 
sein  kann.  Auch  das  Vorkommen  der  Paludinen 
des  Grunewaldes  bestätigt,  daß  die  Stoßkraft  der 
Untereisströme  sehr  veränderlich  sein  konnte. 

Die  bisher  angeführten  Lagerstätten  sind  in 
Aufschlüssen  bloßgelegt  worden,  und  daneben 
gibt  es  noch  eine  große  Zahl,  die  durch  Tief- 
bohrungen festgestellt  wurden.  Die  letzteren 
sind  um  so  wertvoller,  weil  sie  Auskunft  geben 
über  die  wechselnde  Höhe,  in  welcher  die  orga- 
nischen Einschlüsse  in  der  diluvialen  Decke  auf- 
treten. Die  tiefste  Schicht  unseres  Gebietes  ist 
die  Paludinenbank,  die  nach  den  Gehäusen 
dieser  Schnecke  genannt  wurde,  obwohl  man  da- 
neben noch  andere  Conchylienreste  festgestellt 
hat.  In  Berlin  selbst  und  rings  um  Berlin  ist  sie 
an  vielen  Stellen  erbohrt  worden,  und  die  Ge- 
häuse zeigen  oft  einen  so  guten  Erhaltungszustand, 
daß  man  deswegen  auf  eine  Siedlungsstätte 
schließen  könnte.  In  diesen  Bohrungen  ist  die 
Paludinenbank  40  m  unter  der  Talsohle  der  Spree 
angetroffen  worden.  Und  in  derselben  Höhe  über 
dem  IVleeresspiegel  findet  sie  sich  auch  noch  in 
einer  der  Rüdersdorfer  Tiefbohrungen.  Diesen 
tiefsten  Fundpunkten  stehen  indes  eine  große 
Anzahl  höhere  gegenüber,  z.  B.  der  bei  P  h  ö  b  e  n ,') 
wo  die  Paludinenbank  unter  der  Oberfläche  des 
Haveltales  liegt  und  zwar  25  m  über  dem  Meeres- 
spiegel, also  bedeutend  höher  als  jene  unter  dem 
Spreetal,  weil  sie  hier  erst  10  m  unter  dem 
Meeresspiegel  angetroffen  wurde.     Der  Fundpunkt 


im  Grunewald  erhebt  sich  über  die  Ebene  des 
märkischen  Seespiegels,  und  ich  habe  die  Gehäuse 
sogar  in  den  hangenden  Sauden  einer  der  Glin- 
dower Tongruben  gesammelt  sowie  in  einer  Kies- 
grube dicht  unter  einer  dünnen  Decke  aus  Oberem 
Geschiebelehm. '^  Der  Aufschluß  liegt  auf  der  Süd- 
böschung der  Lebuser  Höhe  gegenüber  von 
Fürstenwalde  a.  S.  bei  dem,  Gute^  Palmnicken  un- 
gefähr 68  m  über  dem  Meeresspiegel,  ^j  Die  Rix- 
dorfer  Säugetierreste  treten  in  der  Höhe  des 
Spreetales  auf  Im  tieferen  Untergrunde  Ham- 
burgs endlich  sind  im  Diluvium  Einlagerungen  von 
Meeresconchylien  festgestellt  worden,  die  also  in 
den  Eisgewölben  durch  Meeresströmungen  an- 
gehäuft worden  waren  und  zwar  zu  einer  Zeit, 
als  die  diluvialen  Ablagerungen  das  Meer  noch 
nicht    so    weit   zurückgedrängt    hatten    wie  heute. 

Was  nun  die  Pflanzenlager  und  ihre  Ver- 
teilung in  den  diluvialen  Schichten  betrifft,  so 
lagert  das  Torflager  Sylts  auf  dem  Vorstrand, 
und  die  Tiefbohrungen  in  der  Stadt  Westerland 
haben  die  Torflager  in  derselben  Höhe  angetroffen. 
An  der  Böschung  des  rechten  Eibufers  bei  Ham- 
burg, die  6 — 7  m  hoch  ist,  ruhen  die  Pflanzen- 
reste in  der  Ebene  des  Strandes.  Das  Motzener, 
das  Klinger  und  das  Körbiskruger  Torflager 
wurden  in  Ziegeleigruben  aufgeschlossen,  und  die 
Diatomeenlager  der  Lüneburger  Heide  liegen  auch 
flach,  denn  bei  Wiechel  schwankt  die  Sanddecke 
zwischen  1,5  und  3  m  Mächtigkeit.  Die  tierischen 
Reste  sind  daher  durch  das  ganze  Diluvium  ver- 
teilt, während  die  pflanzlichen  allein  in  den 
höheren  Lagen  angetrofTen  werden.  Das  geht 
aus  den  aufgeführten  Beobachtungen  hervor  und 
folgt  auch  aus  der  Art  und  Weise,  wie  die  Pfianzen- 
trümmer  verschoben  wurden;  weil  das  strömende 
Wasser  sie  länger  in  Bewegung  hielt,  so  konnten 
sie  sich  erst  niederschlagen,  als  die  Masse  des 
Schmelzwassers  schon  bedeutend  abgenommen 
und  seine  Stoßkraft  zum  großen  Teil  verloren 
hatte.  Wenn  die  tierischen  Reste  meistens  locker 
verteilt  in  den  Schichten  sitzen,  so  kommt  es 
doch  auch  vor,  daß  sie  an  manchen  Stellen  auf- 
fallend zahlreich  vorhanden  sind,  wie  dies  z.  B. 
aus  einer  der  Rüdersdorfer  Bohrungen  -)  hervor- 
geht. An  der  betreffenden  Stelle  heißt  es,  daß 
„der  Sand  mit  massenhaften  zum  Teil  wenig  ver- 
letzten, weiß-  oder  blauschaligen  Paludina  dilu- 
viana  angefüllt  war".  Diese  Sandbank  war  5,5  m 
mächtig. 

Wenn  ich  in  den  tierischen  und  pflanzlichen 
Anhäufungen  des  Diluviums  Anschwemmungen 
erblicke,  die  ich  mit  den  wurzellosen  Schollen 
auf  eine  Stufe  stelle,  so  muß  ich  folgerichtig  die 
Siedlungen,  die  vorher  die  Tiere  und  Pflan- 
zen bewohnten,  auf  der  tertiären  Oberfläche  unter 
der  diluvialen  Decke  suchen.  Die  aufgefundenen 
Reste,  namentlich    die    tierischen,    weisen    darauf 


')  Den  Nachweis  dieser  Stelle  verdanke  ich  Herrn  Ober- 
')  F.  Soenderop  und  H.  Menzel,  Interglaziale  palu-       ingenieur  Bennhold,   Fürstenwalde, 
dinenführende    Ablagerungen    von  Phöben    bei  Werder    a.  H.  ^)  Erläuterungen  der  geologischen  Spezialkarte  von  Freu- 

Monatsber.  d.  d.  geol.  Ges.  Nr.  2,   1909,  S.   57.  ßen   1900,  S.  41. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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hin,  daß  die  Siedlungsstellen  Wasserbecken  waren; 
und  wenn  sich  in  den  Anschwemmungen  Samen 
und  Früchte  sowie  Blätter  von  Landpflanzen  nebst 
Knochen  von  Landtieren  finden,  so  sind  sie  vom 
Wind  und  Wasser  erst  in  die  Sammelstellen  be- 
fördert worden.  Unter  dem  Wasser  und  später 
unter  dem  Eise  konnten  die  organischen  Reste 
allein  ausdauern,  und  alle  Überbleibsel,  die  auf 
dem  trocknen  Boden  lagerten,  wurden  durch  die 
Verwitterung  zerstört. 

Bisher  ist  mir  keine  Siedlungsstätte  auf  dieser 
Grenzfläche  bekannt  geworden,  wohl  aber  habe 
ich  die  Tren  nu  ngs fläche  selbst  an  einigen 
Stellen  vorgefunden.  Im  Sommer  19(4  war  eine 
solche  in  einer  Ziegeleigrube  bei  Hansdorf,  10  km 
südlich  von  Sorau,  in  großer  Ausdehnung  freigelegt 
worden.  Man  hatte  einen  diluvialen  Kiesrücken 
abgeräumt,  um  zu  dem  tertiären  Ton  zu  gelangen. 
Seme  Oberfläche  bildete  eine  ganz  glatte  wage- 
rechte Ebene,  in  welche  breite  flache  Rinnen, 
die  kaum  auffielen,  eingeschnitten  waren.  Sie 
erinnerte  mich  lebhaft  an  die  Oberfläche  des 
Rüdersdorfer  Muschelkalkes,  wie  sie  am  Ausgang 
des  vorigen  Jahrhunderts  auf  den  flach  einfallen- 
den Schichtflächen  am  nördlichen  Rande  sich 
darbot,  natürlich  fehlten  auf  dem  tertiären  Ton 
die  Schrammen.  Die  Photographie  Wahn- 
sc  ha  ff  es  zwischen  S.  80  und  81  hat  diese  Er- 
scheinung aus  Rüdersdorf  festgehahen.  Eine 
zweite  ausgedehnte  Grenzfläche  zwischen  Diluvium 
und  Tertiär  ist  von  mir  ')  nach  einer  Photographie 
wiedergegeben  worden.  Sie  findet  sich  in  dem 
Tagebau  der  Grube  Finkenherd  südlich  von 
Frankfurt  a.  O.  Hier  stößt  die  Braunkohle  mit 
einer  Verwerfungskluft  gegen  weißen  tertiären 
Quarzsand,  und  beide  Gebirgsglieder  werden  von 
einer  wagerechten  Ebene  begrenzt,  auf  welcher 
als  unterstes  Glied  des  Diluviums  eine  5  rn  mäch- 
tige Bank  aus  Geschiebelehm  lagert,  der  steinhart 
ist  und  eine  graue  Farbe  besitzt. 

Die  wagerechte  und  glatte  Herrichtung  der 
Flächen  in  den  beiden  Fällen  genügt  wohl  schon 
allein,  um  sie  als  eine  Flutebene  ansprechen  zu 
können.  Und  es  müssen  daher  hier  große  Wasser- 
massen entlang  geflossen  sein ,  die  alle  Uneben- 
heiten der  Sohle  beseitigten.  Bei  einer  derartigen 
Stoßkraft  des  Wassers,  wie  sie  sich  gerade  in  dem 
Fall  der  Grube  Finkenherd  offenbart,  darf  man 
wohl  schwerlich  hoffen,  ausgedehnte  Siedlungen 
auf  der  Grenzfläche  anzutreffen.  Die  Wasser- 
massen, die  eine  solche  Arbeit  verrichteten, 
strömten  über  weite  Gebiete  dahin  wie  etwa  das 
Meer  zur  Zeit  der  Ebbe  und  Flut.  Ihre  Quellen 
lagen  in  der  Eisdecke,  die  selbst  flächenhaft  und 
lückenlos  die  ganze  norddeutsche  Ebene  über- 
spannte. Die  Schmelzwässer  werden  sich  in  der 
ersten  Zeit,  nachdem  das  Auftauen  eingesetzt 
hatte,   noch  gleichmäßig   auf  der  Oberfläche  ver- 

')  E.  Zache,  Die  subglaziale  Abrasionsebene  zwischen 
dem  Braunkohlengcbirgc  und  dem  Moränengebirge  in  der 
Provinz  Brandenburg.  Brandenburgia.  Monalsbl.  d.  Ges.  für 
Heimatkunde  der  Prov.  Brandenb.     XX.  Jahrg.,   1911,  S.   225. 


teilt  haben,  weil  die  unterste  Lage  der  Eisdecke 
wohl  ganz  allein  aus  Heimeis  bestand.  Sobald 
aber  erst  an  vielen  Stellen  die  Decke  der  Eis- 
gewölbe aus-  nordischem  Schutteis  aufgebaut  war, 
wird  dort  eine  Hemmung  in  der  Zufuhr  des 
Schmelzwassers  eingetreten  sein.  Auf  diesen 
Unterschied  in  dem  Bau  der  Eisgewölbe  und  die 
F"olgen,  die  sich  daraus  für  die  Zusammensetzung 
der  Niederschläge  auf  der  Sohle  der  Eisgewölbe 
ergaben,  habe  ich  in  dem  ersten  der  beiden  Auf- 
sätze ausdrücklich  hingewiesen.  Und  die  glatte 
Decke  aus  Geschiebelehm  in  der  Braunkohlen- 
grube Finkenherd  und  der  Kiesrücken  über  dem 
tertiären  Ton  bei  Hansdorf  sind  Belege  dafür,  daß 
hier  die  Decke  des  Eisgewölbes  schon  aus  nor- 
dischem Schutteis  bestanden  hat.  Es  mag  hier 
nur  kurz  angedeutet  werden,  daß  die  Beschaffen- 
heit der  heutigen  Decken  an  beiden  Önlichkeiten 
auf  die  Bodenschichten,  die  das  Liegende  bil- 
den, zurückgeführt  werden  muß.  Die  Sande  und 
die  Braunkohlen  in  Finkenherd  waren  nämlich 
imstande  die  letzten  Reste  des  Schmelzwassers 
aus  der  nordischen  Schutteisdecke  zu  verschlucken, 
so  daß  der  Untereisstrom  hier  versiegte  und  der 
gesamte  Gesteinsschutt  des  nordischen  Eises,  ohne 
eine  Sonderung  zu  erfahren,  sich  niederschlug, 
während  bei  Hansdorf  der  undurchlässige  Ton 
das  letzte  Schmelzwasser  auf  seiner  Oberfläche 
sammelte,  so  daß  es  abfließen  mußte,  wobei  es 
die  feinen  Gesteinstrümmer  aus  der  Schutteisdecke 
entführte. 

Weil  nun  die  Schmelzwasserströme  die  Ober- 
fläche unter  der  Eisdecke  gründlich  abgeräumt 
haben,  so  daß  dort  schwerlich  Siedlungen  erhalten 
geblieben  sind,  so  bleibt  nichts  weiter  übrig,  als 
die  organischen  Anschwemmungen  des  Diluviums 
darauf  zu  prüfen,  ob  sich  zwischen  ihnen  minerali- 
sche Reste  der  tertiären  Oberfläche  feststellen 
lassen.  Eine  solche  Stelle,  wo  dies  der  Fall  ist, 
findet  sich  bei  Hundisburg  in  der  Nachbarschaft 
von  Neuhaldensleben.  Wahnschaffe  berichtet 
S.  308,  daß  unter  einer  0,5  bis  2,5  m  mächtigen 
Decke  aus  Geschiebelehm  ein  1,5  m  mächtiges 
Lager  aus  groben  Schottern  sich  ausbreitet,  die 
hauptsächlich  einheimischen  Ursprungs  sind,  d.  h. 
Porphyrite  und  Grauwacken  führen  und  Land-  und 
Süßwasserschnecken  nebst  Wirbeltierresten  ein- 
schließen. Und  der  Pflanzenmull  von  Körbiskrug 
ruht  zwischen  farblosen  kleinen  Quarzkörnchen 
tertiären  Sandes.  In  beiden  Fällen  müssen  daher 
die  organischen  Trümmer  mit  den  mineralischen 
zusammen  verschoben  worden  sein. 

Die  Prüfung  der  Lagerbestände  hat  nun 
ergeben,  daß  die  diluviale  Tier-  und  Pflanzen- 
gesellschaft fast  völlig  mit  der  heutigen  überein- 
stimmt, und  man  kann  nur  sagen,  daß  die  zeit- 
genössische Tiergesellschaft  etwas  ärmer  an  Arten 
ist  als  die  diluviale.  Dies  geht  z.  B.  deutlich  aus 
einer   Liste,    die   H.  Menzel')    zusammengestellt 

')  H.  Menzel,  Klimaänderungen  und  Binnenmollusken 
im  nördlichen  Deutschland  seit  der  letzten  Eiszeit.  Zeitschr. 
d.  d.  geol.  Ges.  62.  Bd.,   1910,  S.   199. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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hat,  hervor.  Im  Diluvium  lebten  nämlich  21 1  Arten 
hier,  während  im  Alluvium  nur  107  aufgezählt 
werden.  Von  den  großen  Säugetieren  haben  sich 
die  meisten  nach  dem  Abschmelzen  des  Eises 
wieder  eingestellt,  und  es  fehlen  nur  die  großen 
Dickhäuter,  nämlich  die  beiden  Nashörner  und 
die  beiden  Elefanten.  Die  Nashörner  und  der 
eine  der  Elefanten,  das  Mammut,  sind  echte  Dilu- 
vialtiere, während  der  andere  Elefant,  der  E.  anti- 
quus,  schon  im  Pliocän  das  nördliche  Europa  be- 
wohnte, wie  die  Funde  aus  dem  Forest  bed  in 
Norfolk  zeigen.  Er  war  offenbar  ein  wärmeliebendes 
Tier,  wie  weiter  daraus  hervorgeht,  daß  seine 
Trümmer  im  Diluvium  Afrikas  festgestellt  worden 
sind.  Er  war  daher  wahrscheinlich  schon  vor 
dem  Mammut  in  Norddeutschland  ausgestorben, 
so  daß  seine  Oberreste  aus  einer  älteren  Zeit 
stammen  müssen.  Sie  bilden  daher  in  diesem 
Punkte  den  Übergang  zu  einer  anderen  Gruppe 
von  Diluvialfunden,  nämlich  von  solchen,  die  noch 
älter  sind  und  daher  aus  tieferen  Schichten  aus- 
gespült worden  sind,  so  daß  sie  schon  vor  der 
Eisbedeckung  in  den  Sammelbecken  der  alten 
Oberfläche  den  diluvialen  Resten  beigemengt 
worden  waren.  Von  Pflanzenresten  einer  älteren 
Zeit  gehören  hierher  die  Früchte  von  Dulichium 
und  die  Samen  von  Brasenia.  Namentlich  die 
letzteren  sind  durch  ihre  Härte  ausgezeichnet, 
weil  ihre  Samenschale  stark  verholzt  ist ,  und 
außerdem  haben  sie  eine  kugelrunde  Gestalt. 
Diese  Ausrüstung  sicherte  die  Samen,  so  daß  sie 
gegen  das  Verderben  gut  geschützt  waren,  und 
daher  ist  es  kein  Wunder,  wenn  N  eh  ring  in 
Klinge  tausend  Stück  von  ihnen  sammeln  konnte. 
Die  Fundstücke  einer  älteren  Zeit  haben  somit 
eine  wiederholte  Umbettung  erfahren,  indem  sie 
aus  einer  ursprünglichen  Lagerstelle  zunächst 
durch  einen  Wasserstrom  in  die  Sammelstelle 
unter  der  späteren  Eisdecke  geschafft  worden 
waren  und  von  dort  erst  zu  der  heutigen  durch 
das  Schmelzwasser.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich 
bei  der  Untersuchung  und  Deutung  der  Lager- 
bestände der  organischen  Niederschläge  ein.stellen 
können,  werden  durch  einen  Fund  aus  Klinge 
besonders  hell  beleuchtet.  Dort  hatte  sich  eine 
Samenart  gefunden,  die  seinerzeit  (1890)  nicht 
bloß  die  Berliner  Botaniker,^)  sondern  auch  die 
von  außerhalb  lebhaft  beschäftigte.  Ascherson 
hatte  diesen  Fund  die  Rätselfrucht  genannt,  und 
Nehring  taufte  die  Art  Paradoxocarpus  carina- 
tus.  Potonie  stellte  darauf  fest,  daß  der  Bau 
des  Samens  völh'g  mit  dem  der  tertiären  Gattung 
Fulliculites  übereinstimmte,  und  bezeichnete  die 
zugehörige  Pflanze  daher  F.  carinatus.  Da  fand 
Keil  hack,-)    daß   die    fraglichen  Samen  die  der 


Wasserschere  (Stratiotes  aloides)  seien,  so  daß 
damit  ein  weiteres  Mitglied  unserer  heutigen 
Flora  gefunden  war,  das  schon  vor  der  Vereisung 
hier  gelebt  hatte. 

Die  diluvialen  Bänke  beherbergen  indes  neben 
diesen  eben  beschriebenen  Funden  aus  einer  äl- 
teren Zeit  noch  Reste,  die  sicher  aus  den  Braun- 
kohlenflözen stammen.  Bei  Halbe  (5  km  südlich 
von  Königs -Wusterhausen)  hat  Wah  n  seh  äffe  ^) 
und  nicht  weit  davon,  zwischen  Groß  Besten  und 
Gräbendorf  habe  ich  in  den  Wänden  der  Ziegelei- 
gruben Brocken  und  Staub  sowie  auch  Holzstücke 
aus  der  Braunkohle  gefunden;  die  letzteren  waren 
zum  Teil  wie  Bachgerölle  abgerundet.  Solche 
Funde  lehren,  daß  die  Schmelzwässer  auch  ge- 
legentlich tief  in  den  Untergrund  eingedrungen 
waren  und  von  dort  Trümmer  emporgebracht 
hatten,  die  sie  unvermischt  wieder  absetzten.  Es 
ist  daher  ein  Unterschied  zu  machen,  ob  die  äl- 
teren Trümmer  mit  den  diluvialen  gemischt  an- 
getroffen werden  oder  ob  sie  sich  rein  vorfinden. 
In  letzterem  Falle  müssen  die  Untereisströme 
andere  Wege  eingeschlagen  haben  als  jene,  welche 
die  oberirdischen  Sammelstellen  der  alten  Ober- 
fläche berührten.  Es  ist  auch  möglich,  daß  die 
Braunkohlenflöze  an  manchen  Stellen  an  die  Ober- 
fläche unter. dem  Eise  heranreichten  oder  daß  sie 
erst  durch  die  Krustenbewegung  an  diese  alte 
Oberfläche  herangebracht  worden  waren,  nachdem 
sie  völlig  abgeräumt  worden  war.  Krustenbewe- 
gungen spielten  gegen  das  Ende  der  Eiszeit  eine 
große  Rolle  in  der  norddeutschen  Ebene,  und 
ich  habe  in  den  beiden  ersten  Aufsätzen  dafür 
schon  eine  Anzahl  Belege  beigebracht,  die  im 
folgenden  noch  um  einige  vermehrt  werden 
können. 

Die  Spuren  der  Krustenbewegungen 
waren  seinerzeit  gerade  auch  in  Klinge  und  Körbis- 
krug gut  zu  beobachten.  In  beiden  Profilen  fielen 
die  gebänderten  Schichten  unter  einem  spitzen 
Winkel  gegen  den  Horizont  ein.  Dieses  Verhalten 
tritt  besonders  in  einer  Skizze  Credners')  hervor, 
weil  dort  die  pflanzenführenden  Schichten  an  ihrer 
oberen  Kante  von  einer  wagerechten  Linie  ab- 
geschnitten werden  und  die  hangenden  Schichten 
horizontal  verlaufen.  Im  Jahre  1911  habe  ich  in 
Körbiskrug  vor  dem  Profil  eine  ganz  ähnliche 
Skizze  angefertigt.  Diese  auffällige  Abweichung 
in  der  Lagerung  zwischen  dem  Liegenden  und 
dem  Hangenden  ist  in  vielen  Profilen  der  nord- 
deutschen Ebene  festgestellt  worden,  und  ich  habe 
in  dem  ersten  Aufsatz  einige  von  ihnen  aufgeführt 
und  erläutert.  In  der  Crednerschen  Zeichnung 
ist  aber  außerdem  noch  die  Spur  einer  zweiten 
Störung   eingetragen.     Und    zwar   findet    sie    sich 


')  Neuere  Untersuchungen  des  diluvialen  Torflagers  bei 
Klinge  unweit  Koltbus.  Nach  Veröffentlichungen  von  H. 
Credner,  K.  Keilhack,  A.  Nebring,  H.  Potonie, 
F.  Wahnschaffe,  C.  A.  Weber  und  A.  Weberbauer. 
Naturw.  Wochenschr.   VIII.  Bd.,   1893,    Nr.  37,  S.  393. 

-)  K.  Keilhack,  Über  Fulliculites.  Naturw.  Wochen- 
schrift XI.  Bd.,   1S96,  Nr.  42,  S.  504. 


')  F.  Wahnschaffe,  Zur  Kritik  der  Interglazialbildun- 
gen  in  der  Umgegend  von  Berlin.  Monatsber.  d.  d.  geolog. 
Ges.  Nr.   5,   1906,  S.   152. 

^)  H.  Credner,  Über  die  Stellung  der  Klinger  Schich- 
ten. Berichte  über  die  Verhandlungen  der  Kgl.  sächs.  Ges. 
der  Wissenschaften  zu  Leipzig.  Math.-physik.  Klasse.  Leip- 
zig  1892,  S.  3S5. 


fi/o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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unter  der  wagerechten  Linie  des  Profils;  sie  er- 
streckt sich  hier  nur  bis  zu  einer  geringen  Tiefe 
hinab  und  hat  auch  nur  eine  beschränkte  Aus- 
dehnung. Die  pflanzenführenden  Schichten  sind 
nämlich  an  dieser  Stelle  gekröseartig  zusammen- 
geschoben, während  in  ihrer  Nachbarschaft  und 
darunter  die  Schichten  völlig  ungestört  lagern. 

Hier  sind  somit  an  einer  Stelle  zwei  Stö- 
rungen ausgebildet,  eine  große  und  eine  kleine, 
und  die  letztere  ist  gerade  von  besonderer  Wich- 
tigkeit, weil  sie  von  dem  Vorhandensein  eines 
Eisgewölbes  ein  klares  Zeugnis  gibt.  Ich 
lege  daher  das  Klinger  Profil  in  folgender  Weise 
aus:  die  pflanzenführenden  Schichten  wurden  auf 
der  Sohle  eines  Eisgewölbes  abgelagert;  nachdem 
der  Absatz  eine  gewisse  Mächtigkeit  erreicht 
hatte,  setzte  die  Krustenbewegung  ein  und  hob 
die  Sohle  empor.  Dabei  ging  natürlich  auch  das 
Eisgewölbe  in  Trümmer,  und  einzelne  Eisblöcke 
bohrten  sich  in  den  Grund  ein.  Nachdem  darauf 
die  Ruhe  wieder  eingetreten  war,  bildete  sich 
abermals  ein  Untereisstrom,  der  nun  die  Sohle 
erst  wieder  einebnen  mußte,  bevor  der  Absatz 
der  hangenden  Sande  beginnen  konnte.  Der 
Untereisstrom  hatte  somit  nach  der  Krusten- 
bewegung für  eine  kurze  Zeit  seine  Rolle  ver- 
tauscht und  wird  natürlich  auch  eine  Anzahl  der 
pflanzenführenden  Schichten  zerstört  haben,  deren 
Trümmer  von  neuem  in  den  Schmelz wasserstrom 
eingereiht  wurden  und  vielleicht  unterhalb  wieder 
zum  Stilliegen  kamen. 

Natürlich  wurden  damit  auch  die  Spuren  der 
Störung,  die  im  Liegenden  von  den  herabgestürzten 
Eisblöcken  erzeugt  worden  waren,  zum  größten 
Teil  entfernt,  und  nur  die,  welche  tief  genug 
hinabreichten,  blieben  erhalten.  In  Klinge  hatte 
der  Aufschluß  nur  eine  geringe  Ausdehnung  und 
eine  schwache  Mächtigkeit,  so  daß  man  die  Linien 
des  Profils  nicht  sehr  weit  verfolgen  konnte.  Auch 
in  Körbiskrug  war  der  Stoß  mit  den  pflanzen- 
führenden Schichten  nur  klein;  dafür  war  aber 
seinerzeit  der  Aufschluß  hier  tiefer,  und  ich  konnte 
in  meiner  Skizze  unter  den  pflanzenführenden 
Schichten  eine  Tonbank  einzeichnen,  die  einen 
großen  flachen  Sattel  bildete,  der  mit  den  pflanzen- 
führenden Schichten  parallel  lief.  Und  dieser  flache 
Sattel  ist  die  untrügliche  Spur  einer  Krusten- 
bevvegung.  Die  Mullschichten  von  Klinge  und 
Körbiskrug  sind  daher  vor  der  Krustenbewegung 
abgesetzt  worden,  und  von  den  Torflagern  auf 
Sylt  berichtet  W.  Wolff,  daß  sie  sichtlich  ge- 
staucht sind,  denn  sie  liegen  keineswegs  horizontal, 
sondern  stellenweise  stark  geneigt,  so  daß  auch 
sie  von  der  Krustenbewegung  betroffen  worden 
sind. 

Von  den  Braunkohlenhölzern  und  den  Schmit- 
zcn  aus  Braunkohlenbrocken  und  Braunkohlen- 
pulver von  Halbe  und  Gräbendorf  ist  an  dieser 
Stelle  noch  nachzutragen,  daß  sie  sich  dort  nur 
über  der  wagerechten  Flutebene  in  den  han- 
genden Sauden  vorfinden,  so  daß  hierdurch  an- 
gedeutet wird,  daß  die  Braunkohlenflöze  erst  durch 


die  Krustenbewegung  in  den  Schmelzwasserstrom 
hineingehoben  worden  waren. 

In  Klinge  ist  der  Einsturz  des  Eisgewölbes 
zweifellos  durch  die  Krustenbewegung  hervorge- 
rufen worden.  Das  war  aber  nicht  überall  der 
Fall.  E.  Hörn  und  C.  GageP)  veröffentlichen 
Profile,  bei  denen  die  große  Störung  fehlt  und 
nur  die  kleinen  unter  der  wagerechten  Linie  auf- 
treten. Das  Torflager  von  Winterhude  bei 
Hamburg  liegt  unter  einer  4 — 7  m  mächtigen 
Sanddecke  mit  horizontaler  Schichtung  und  setzt 
sich  aus  mehreren  Flözen  zusammen ,  die  durch 
Sandlagen  getrennt  sind.  Von  den  liegenden 
Schichten  ist  nur  die  unterste  ungestört,  während 
die  darüber  liegenden  in  stärkster  Weise  gestaucht 
sind,  so  daß  die  obersten  zu  liegenden  und  völlig 
überkippten  Falten  zusammengeschoben  worden 
sind.  Die  Störungen  hören  also  mit  großer  Schärfe 
auch   hier   unter   der    wagerechten  Flutebene  auf. 

Das  Winterhuder  Torflager  zwingt  dazu,  eine 
neue  Gruppe  von  pflanzenführenden  Schichten 
aufzustellen,  in  die  man  auch  das  Laue nburger 
einreihen  muß.  (Wahnschaffe  S.  80).  An 
beiden  Örtlichkeiten  liegen  die  Torfschichten  auf 
Geschiebelehm,  der  hier  aus  der  obersten  Lage 
einer  nordischen  Schutteisschicht  übrig  geblieben 
ist.  Zur  Zeit  der  Eisbedeckung  muß  darüber 
noch  eine  Schicht  aus  reinem  Heimeis  gelagert 
haben,  die  beim  Abschmelzen  das  letzte  Eisge- 
wölbe bildete,  so  daß  unter  ihm  die  pflanzen- 
führenden Schichten  nebst  der  deckenden  Sand- 
schicht von  dem  Untereisstrom  angehäuft  wurden. 
Die  Decksande  sind  in  Winterhude  völlig  frei 
von  Geschieben  —  höchstens  lagern  einige  am 
Rande  —  und  führen  in  Lauenburg  nur  kleine 
Steine,  die  aus  der  benachbarten  Schutteisdecke 
ausgespült  worden  waren.  Diese  beiden  Torf- 
lager sind  daher  die  jüngsten,  die  indem  be- 
grenzten Gebiet  angehäuft  wurden. 

In  Klinge  traten  in  dem  hangenden  Sande  Kiese 
und  Gerolle  auf  und  zwar  solche  nordischer  und 
südlicher  Herkunft,  die  also  auf  eine  Decke  aus 
Schutteis  schließen  lassen,  die  von  Norden  und 
Süden  vorgerückt  war.  Das  Auftreten  oder 
Fehlen  von  Geschieben  in  den  hangenden  Sauden 
dieser  weit  auseinanderliegenden  Örtlichkeiten 
darf  bei  der  Auslegung  nicht  vernachlässigt  wer- 
den, weil  man  daraus  schließen  kann,  daß  sich 
nur  in  den  nördlichen  Strichen  eine  mächtige 
Decke  aus  Heimeis  als  oberste  Schicht  bis  zum 
Ende  der  Eiszeit  erhalten  hatte,  die  in  den  süd- 
lichen Gegenden  vielleicht  gar  nicht  zur  Ausbil- 
dung gekommen  war.  Daher  scheint  mir  diese 
Tatsache  deutlich  für  die  Abhängigkeit  der  Eis- 
decke von  der  geographischen  Breite  zu  sprechen. 

In  Winterhude,  wo  der  künstliche  Aufschluß 
ziemlich  ausgedehnt    ist,    wurde    in  dem  Mulden- 


')  E.  Hörn,  Die  geologischen  Aufschlüsse  des  Stadt- 
parkes in  Winterbude  und  des  Elbtunnels  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Geschichte  der  Hamburger  Gegend  in  postglazialer 
Zeit.  Monatsber.  d.  d.  geol.  Ges.  Nr.  3,  1912,  S.  130.  Dazu 
in  der  Diskussion  C.   Gagel. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


671 


tiefsten  als  Unterlage  des  Torfes  auch  Sand  fest- 
gestellt ,  so  daß  bei  dem  Absatz  ein  Abzug  für 
das  Schmelzwasser  vorhanden  war.  In  Lauenburg 
liegt  ein  natürliches  Profil  vor,  das  durch  die  Ab- 
stürze des  Eibufers  bloßgelegt  wurde.  Hier  zieht 
sich  der  Geschiebelehm  in  gleichbleibender  Mäch- 
tigkeit unter  der  ganzen  Mulde  hinweg,  und  da- 
runter lagert  Sand.  Somit  muß  man  annehmen, 
daß  auch  an  dieser  Stelle  ein  Durchlaß  durch  den 
Geschiebelehm  zum  Sand  vorhanden  sein  wird. 
Die  Mulde  aus  Geschiebelehm  ist  hier  durch  eine 
Verwerfungskluft  begrenzt,  und  daher  wird  ihre 
Entstehung  wohl  mit  der  Krustenbewegung  im 
Zusammenhang  stehen;  daraus  kann  man  wieder 
weiter  folgern,  daß  das  Torflager  erst  nach  der 
Lagerungsstörung  entstanden  ist;  und  mithin 
wird  es  auch  aus  diesem  Grunde  zu  den  jüngsten 
zählen. 

Die  Aufschlüsse,  welche  die  Pfianzenlager  bloß- 
legen, deuten  an,  daß  die  Eisgewölbe,  besonders 
die  jüngeren,  nur  einen  bescheidenen  Umfang 
hatten,  und  W.  Wolff  meldet  z.B.,  daß  auf  Sylt 
bei  den  Tiefbohrungen  schon  in  8  m  Entfernung 
von  einem  erbohrten  Torflager  der  Torf  nicht 
wieder  angetroffen  wurde.  Sodann  hatH.  Cred- 
ner  festgestellt,  daß  in  Klinge  die  Wanne  des 
Torflagers  in  Ostwest  150 — 160  m  breit  war, 
während  sie  in  Nordsüd  eine  viel  beträchtlichere 
Ausdehnung  besaß.  So  viel  mir  bekannt,  muß 
man  wohl  die  Paludinenbank  unter  Berlin  und 
Umgegend  als  die  umfangreichste  Lagerstatt  an- 
sehen, und,  weil  sie  tiefer  liegt  als  die  übrigen, 
darf  man  wohl  den  Schluß  ziehen,  daß  in  der 
ersten  Zeit  des  Abschmelzens  die  Eisgewölbe 
dauerhafter  waren  als  später.  Wenn  nun,  wie 
das  Winierhuder  Profil  unzweifelhaft  lehrt,  die 
Eisgewölbe  auch  ohne  besonderen  Anlaß  ein- 
stürzen konnten,  so  mußten  die  Untereisströme 
ihr  Bett  häufig  verlegen,  und  Ansammlungen  und 
Durchbrüche  des  Wassers  werden  ihre  Stoßkraft 
gelegentlich  völlig  verwandelt  haben,  so  daß  man 
sich  nicht  wundern  darf,  wenn  es  Profile  gibt, 
wo  die  mineralischen  Absätze  sehr  schnell  in  der 
Korngröße  wechseln. 

Die  Profile  von  Klinge  und  Körbiskrug  lehren, 
daß  die  Untereisströme  auch  nach  der  Krusten- 
bewegung die  Einebnung  wieder  aufgenommen 
haben,    und    wenn    daher    an    vielen    Stellen    der 


norddeutschen  Ebene  eine  hügelige  Landschaft 
auftritt,  so  konnten  sie  sich  hier  nicht  entfalten. 
Auf  eine  besondere  Ursache  für  diesen  Ausfall 
habe  ich  in  dem  ersten  Aufsatz  hingewiesen. 

Das  Gefüge  der  diluvialen  Schichten  bildet 
trotz  ihrer  großen  Mannigfaltigkeit  ein  zusammen- 
hängendes Ganzes,  und  seine  Entstehung  muß 
daher  auch  auf  eine  einzige  Ursache  zurückgeführt 
werden,  nämlich  auf  die  Arbeit  der  Untereisströme 
in  den  Eisgewölben.  Und  sogar  die  Krusten- 
bewegung, die  gegen  das  Ende  der  Eiszeit  ein- 
setzte, hat  die  Untereisströme  nicht  wesentlich 
beeinflußt,  weil  nämlich  die  Sprunghöhe  der  Ver- 
werfungen und  die  Aufwölbung  der  Schichten 
nicht  tiefgreifend  genug  sind.  Das  geht  z.  B.  klar 
aus  der  Stelle  hervor,  wo  die  Spuren  der  Krusten- 
bewegung am  deutlichsten  in  die  Erscheinung 
treten,  nämlich  bei  Freien  walde :  Das  Oderbruch 
ist  ein  Graben,  aber  der  Höhenunterschied  zwischen 
der  Sohle  des  Niederoderbruchs  und  dem  benach- 
barten höchsten  Punkt  der  Barnimhöhe  beträgt 
nur  150  m.  Die  Krustenbewegung  hat  indes  für 
den  beobachtenden  Geologen  den  Vorteil,  daß 
ihre  Spuren  an  vielen  Stellen  den  Lauf  eines 
Untereisstromes  besonders  deutlich  anzeigen,  weil 
sie  die  Diskordanz  und  die  wagerechte  Flutebene 
erzeugt  hat. 

In  dem  von  mir  ausgewählten  Abschnitt  hängt 
die  Richtung  der  Untereisströme,  wenigstens  in 
dem  südlichen  Randstreifen,  zweifellos  von  dem 
gebirgigen  Untergrund  ab.  In  Thüringen  z.  B. 
sind  deutliche  Anzeichen  dafür  vorhanden,  daß 
die  Untereisströme  auf  dem  festen  Gesteinsunter- 
grund entlang  geflossen  sind,  weil  nämlich  das 
Diluvium  an  sehr  vielen  Ortlichkeiten  mit  einer 
Schotterschicht  beginnt,  die  nur  einheimische  Ge- 
steinstrümmer enthält.  Und  die  Heimat  dieser 
verfrachteten  Gesteinsbrocken  an  bestimmten 
Stellen  ist  der  Thüringer  Wald,  wie  die  Por- 
phyrite  und  Porphyre  dieses  Gebirges  lehren,  die 
auch  in  den  Schottern  leicht  wieder  zu  erkennen  sind. 
Das  nordische  Schutteis  hat  den  Thüringer  Wald 
selbst  nicht  erreicht,  doch  ist  wohl  anzunehmen, 
daß  er  von  Heimeis  bedeckt  war,  das  beim  Ab- 
schmelzen reines  Wasser  lieferte  für  die  Verschie- 
bung der  losen  Gesteinstrümmer.  Diese  sind 
dann  in  den  Eisgewölben  weit  ins  Vorland  hinein 
verlagert  worden. 


Einzelberichte. 


Blühendes  Wasser. 

Bei  der  Wasserblüte  handelt  es  sich  um 
Planktonalgen,  die  ein  recht  interessantes  Problem 
bergen.  Die  Algen  sind  dadurch  ausgezeichnet, 
daß  sie  spezifisch  leichter  sind  als  das  Wasser. 
Sie  steigen  daher  in  völlig  ruhigem  Wasser 
empor  und  sammeln  sich  an  der  Oberfläche, 
während    sie    bei    bewegtem    Wasser     in    mehr 


oder  weniger  große  Tiefen  gelangen.  Die  große 
Mehrzahl  dieser  Algen  gehört  zu  den  blaugrünen 
Algen  (Cyanophyceen),  nur  Botryococcos  Braunii 
ist  eine  Grünalge  (Chlorophycee).  —  Über  die 
Ursache  des  Steigvermögens  nun  sprach  in  der 
letzten  Sitzung  des  Naturwissenschaftlichen  Vereins 
in  Hamburg  Prof.  Dr.  H.  Klebahn  von  den 
Hamburger  Botanischen  Staatsinslituten.  Nach 
seiner    Untersuchung,     über    die    er    schon    vor 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


28  Jahren  am  gleichen  Ort  Mitteilungen  gemacht 
hat,  ist  die  Ursache    des  Steigvermögens    bei  Bo- 
tryococcos    eine    fettähnliche    Beschaffenheit    und 
Fettdurchtränkung  der  Zellwände,  bei  den  wasser- 
blütebildenden   Cyanophyceen    aber    eine    Durch- 
setzung   des  Protoplasmas    der  Zellen    mit    „Gas- 
vakuolen".     Molisch    hat    die  Theorie   der  Gas- 
vakuolen  bestritten.     Er  behauptet,    daß  die  frag- 
lichen Gebilde  aus  einer  „festweichen"  nicht  näher 
bekannten   Substanz   bestehen,    aber   sicher    keine 
Luft  enthalten.     Der  Vortragende  hat  sich  neuer- 
dings   mit    dem  Gegenstande   beschäftigt,  um  die 
Einwürfe  Molischs    zu   widerlegen    und    sichere 
Beweise  für  die  Richtigkeit   seiner  ursprünglichen 
Lehre   zu    bringen.     Die  Gasvakuolen    erscheinen 
hell    im    auffallenden,    dunkel    im    durchfallenden 
Lichte,  wie  winzige  Luftbläschen    in  einem    licht- 
brechenden   Medium.      Sie    werden,    ähnlich    wie 
Luftbläschen,    von    gewissen    Flüssigkeiten   absor- 
biert,   ertragen   aber    in    der    trockenen  Alge    ein 
Erhitzen  auf  mehr  als  200  Grad.    Sie  verschwinden 
momentan    bei    einem    genügend  starken    auf   die 
Algenmasse   ausgeübten  Druck    (mindestens  etwa 
4  Atmosphären),    und  zwar,  wie  der  Vortragende 
annimmt,  durch  Absorption  im  umgebenden  Proto- 
plasma.    Dabei  verliert    die  Alge    gleichzeitig  ihr 
Steigvermögen.     Einen  völlig  sicheren  Beweis  für 
den  Gasgehalt  liefert  die  Erfahrung,  daß  bei  dem 
Druckversuch,    der    mittels    der    Zentrifuge    oder 
mittels  einer  Gasbombe   ausgeführt  werden  kann, 
eine      dauernde     Volumenverminderung      eintritt, 
welche   der  Algenmenge,  die  der  aus  Algen  und 
Wasser   bestehende  Brei   enthält,  proportional  ist. 
Danach   läßt   sich    ermitteln,    daß    die   Gasmenge 
ungefähr   0,7  %    der    Algenmasse    ausmacht,    was 
mit  der   aus  dem  spezifischen  Gewicht   der  Alge 
berechneten     Menge     gut     übereinstimmt.       Der 
direkte  Nachweis   durch  Freimachung  des  in  den 
Algen    enthaltenen    Gases    wurde    nach    verschie- 
denen   Verfahren    versucht.        Er     bereitet    aber 
wegen  der  geringen  Menge  des  Gases  und  wegen 
der  Möglichkeit    zahlreicher  Versuchsfehler  große 
Schwierigkeiten.     Auf  verschiedene  Weise  wurde 
festgestellt,  daß  das  Gas  weder  Kohlensäure  noch 
Sauerstoff   noch    brennbare    Gase    in    merklichen 
Mengen    enthält;    es    muß    daher    wesentlich    aus 
Stickstoff   bestehen,    der    sich    allerdings,    weil    es 
kein  bequemes  Reagens   auf  Stickstoff  gibt,  nicht 
direkt   nachweisen   läßt.     Verschiedene  Umstände 
lassen    darauf  schließen,    daß    die  Zellmembranen 
und    die  Vakuolenwände    einen    hohen  Grad    von 
Festigkeit    haben.     Dies    erklärt    die  Unbeeinfluß- 
barkeit    der  Gasvakuolen    durch  das  Vakuum  der 
Luftpumpe,    eine  Erscheinung,    die  Molisch    als 
einen    wesentlichen  Beweisgrund    gegen   die  Gas- 
natur geltend  gemacht  hatte.  Petersen. 

Die   Vererbung   des  Heriiiapliroditismus  bei 
Melandriuni. 

Die  rote  Lichtnelke    (Melandrium  rubrum)   ist 
eine  diözische   Pflanze,    bei    der   indeß  dann    und 


wann  vereinzelte  zwittrige  Individuen  beobachtet 
werden  können.  Es  handelt  sich  hierbei  aller- 
dings nicht  um  reine  Zwitter,  vielmehr  sind  stets 
männliche  Blüten  neben  den  hermaphroditischen 
vorhanden,  und  diese  beiden  Blütentypen  sind 
durch  zahlreiche  Zwischenstadien  miteinander  ver- 
knüpft ,  was  dafür  spricht ,  daß  die  Zwitter  hier 
sekundär  aus  Männchen  hervorgegangen  sind.  Mit 
den  Erblichkeitsverhältnissen  dieser  Zwitter  be- 
schäftigt sich  eine  Arbeit  von  Günther  und 
Paula  Hertwig  (Zeitschr.  f.  ind.  Abstl.  28, 
1922).  Es  wurden  zunächst  5  Grundversuche  an- 
gestellt, die  zu  folgendem  Ergebnis  führten: 

1.  $X?  gibt  in  Fl    185  $  +  168  ^. 

2.  ^  X  normales  ^  gibt  14  ?  +  14  j^*  -f-  14  $. 

3.  normales   ?  X  5    gibt   263  $  -}-  246  <J  -f 

3  5- 

4.  $  aus  Fj   von  Versuch   1  X  normales  (J  gibt 

450  2  +  330  c?  +  93  5- 

5.  $  aus  F"i    von    Versuch    I   X  5  gibt    103  $ 

+  5  c?  +  73  ^. 
Aus  4  und  5  ist  zu  ersehen,  daß  sich  Weib- 
chen ,  die  von  Zwittern  stammen ,  ganz  anders 
verhalten  als  normale  Weibchen.  Normale  $  X 
normale  (J  geben  bloß  $  und  ^  in  gleicher  An- 
zahl (typisches  Verhalten  von  Melandrium  rubrum), 
während  in  Versuch  4  noch  dieselbe  Zahl  Zwitter 
hinzutritt.  Ferner  geben  normale  ?  X  5  ^^st  aus- 
schließlich 9  und  ^  und  nur  ganz  vereinzelte  ^ 
(Versuch  3),  während  bei  den  von  Zwittern  stam- 
menden $  das  Verhältnis  zwischen  Männchen  und 
Zwittern  gerade  vertauscht  ist.  Diese  Befunde 
werden  nun  im  Einklang  mit  den  Goldschmidt - 
sehen  Auffassungen  über  Geschlechtsvererbung  in 
folgender  Weise  gedeutet:  Sowohl  Männchen  als 
auch  Weibchen  haben  beiderlei  Geschlechts- 
faktoren (M  und  F),  aber,  im  männlichen  Ge- 
schlecht, das  nach  Correns  digametisch  ist, 
d.  h.  zweierlei  Sorten  von  Keimzellen  produziert, 
—  männchenbestimmende  und  weibchenbestim- 
mende in  gleicher  Anzahl,  —  ist  der  weibliche 
Geschlechtsfaktor  im  heterozygotischen  Zustande 
vorhanden.  Die  Konstitutionsformel  für  die  $ 
lautet  also  FF  MM,  für  die  (J  FfMM;  FF  ist  stär- 
ker als  MM,  Ff  dagegen  schwächer  als  MM,  da- 
her resultieren  im  einen  Fall  Weibchen ,  im  an- 
deren Männchen.  Für  die  Zwitter  muß  man  nun 
annehmen,  daß  die  weiblichen  Faktoren  (sowohl 
F,  wie  auch  f)  eine  Valenzverstärkung  erfahren 
haben,  was  durch  einen  angehängten  Index  aus- 
gedrückt werden  soll;  wir  erhalten  also  für  die  $ 
FiFjMM  und  für  die  ^  FJ^MM.  F^FjMM  ist  a 
fortiori  ein  $,  F^fjMM  nimmt  dagegen  infolge  der 
Verschiebung  des  Gleichgewichts  Zwittergestalt 
an.  In  dieser  Weise  lassen  sich  die  5  Grund- 
versuche in  qualitativer  Hinsicht  wenigstens  in 
befriedigender  Weise  erklären.  Dies  sei  hier  im 
einzelnen  durchgeführt. 

Versuch    i.       Gekreuzt    werden     FifjMM    X 
FjfjMM  (Zwitter  X  Zwitter). 

Eier:  FjM,  f,M.     Pollen:  FjM,  fjM. 

Nach  Mendel  scher  Regel  zu  erwarten : 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


673 


iFiFjMM  (?)  +  2FifiMM  (§)  +  i  fJ^MM  (^). 

Beobachtet:  187  ? -|-  168  5^;  die  Zwitter  sind 
also  in  zu  geringer  Anzahl  aufgetreten,  die  zu  er- 
wartenden homozygotischen  Männchen  fehlen;  das 
eine  führen  die  Verff.  darauf  zurück,  daß  nach 
Correns  die  weibchenbestimmenden  Pollen- 
schläuche in  der  Konkurrenz  überlegen  sind,  das 
andere  beruht  wohl  darauf,  daß  die  Kombination 
fifjMM  nicht  lebensfähig  ist,  wofür  die  große  An- 
zahl tauber  Formen  geltend  gemacht  wird. 

Versuch  2.  Gekreuzt  Fif^MM  X  Ff  MM  (^  X 
norm.  (J). 

Eier:  FjMj,  f^M.     Pollen:  FM.  fM. 

Zu  erwarten:  F^FMM  +  FJMM  +  Ff^  MM 
+  fifMM,  F,F MM  sind  Weibchen,  F^f  MM  schwache 
Zwitter,  FfjMM  Männchen  mit  schwacher  Tendenz 
zum  Zwitterlum,  fjfMM  ist  wiederum  nicht  lebens- 
fähig; damit  stimmt  das  Ergebnis  sehr  gut  über- 
ein; es  erscheinen  $,  ^  und  ^  in  gleicher  An- 
zahl (je  14),  die  Zwitter  zeigen  ihrem  Blütenbau 
nach  starke  Tendenz  zur  Männlichkeit. 

Versuch  3.  Gekreuzt  FFMM  X  F^f^MM  (nor- 
males ?  X  ^). 

Eier:  FM.     Pollen:  F^M,  fjM. 

Zu  erwarten:  FF^MM  +  Ff,M[VI  (d.h.  ?  +  <?). 

Beobachtet:  263  $  -|-  246  c?  +  3  5;  das  ver- 
einzelte Auftreten  von  3  Zwittern  ist  so  zu  er- 
klären, daß  durch  das  Vorhandensein  von  fj  im 
männlichen  Bastard  die  Tendenz  zum  Zwittertum 
ein  wenig  gesteigert  ist  den  normalen  Männchen 
gegenüber. 

Versuch  4.  Gekreuzt  FjFjMMXFfMM  (?  aus 
Zwitterzucht  X  (?)• 

Eier:  FjM.     Pollen:  FM,  fM. 

Zu  erwarten:  FjFMM  (?)  +  FjfMM  ($). 

Beobachtet:  450$,  330  cj  und  93^;  es  treten 
also  neben  den  zu  erwartenden  $  und  ^  auch  ^ 
in  großer  Anzahl  auf;  das  Fehlen  von  f,  im  männ- 
lichen Bastard  gegenüber  den  normalen  Zwittern 
(FjfjMM)  bedingt  also  eine  Verschiebung  nach 
der  Männchenseite;  genotypisch  handelt  es  sich 
um  Zwitter  mit  Unterdrückung  der  gemischt  ge- 
schlechtigen Blüten.  Das  wäre  experimentell  noch 
zu  erweisen. 

Versuch  5.  F^F^MM  X  FJ^MM  ($  aus  Zwitter- 
punkt X  $)■ 

Eier:  F^M.     Pollen:  F^M,  f,M. 

Zu  erwarten:  F,FiMM  -f-  FJ^MM    ($  und  §). 

Erhalten:  103  $  -f"  5  c?  +  73  5.  also  auch 
hier  Übereinstimmung,  wenn  man  von  dem  spora- 
dischen Auftreten  von  ^  absieht.  Die  zahlreichen 
Unstimmigkeiten  im  Verhältnis  von  ^  und  ^  er- 
klären sich  leicht,  wenn  rnan  bedenkt,  daß  cj  und 
5  durch  kontinuierliche  Übergänge  miteinander 
verbunden  sind.  Sicher  spielen  auch  äußere  Fak- 
toren (Ernährungsverhältnisse)  bei  der  Verschie- 
bung des  Gleichgewichts  mit.  Durch  die  geschil- 
derten Kreuzungen  wird  die  genotypische  IVlannig- 
faltigkeit  von  Männchen,  Weibchen  und  Zwittern 
noch  vermehrt.  Es  treten  3  Genotypen  von  $ 
(FFMM,  FFjMM  und  F^FiMM),  2  Genotypen  von 
^   (FJjMM,   FJMM)    und    2    Genotypen    von    (J 


(Ff MM  und  FfjMM)  auf.  Durch  zahlreiche  weitere 
Kreuzungen  und  Analyse  der  F,  Generation  konnte 
das  Vorhandensein  dieser  Typen  tatsächlich  er- 
wiesen werden.  Diese  Ergebnisse  schließen  sich 
in  schöner  Weise  an  die  bekannten  Versuche  von 
Goldschmidt  über  die  Intersexualität  bei 
Schmetterlingen  (I^ymantria)  an ,  durch  die  die 
Hypothese  von  quantitativen  Valenzunterschieden 
im  Verhältnis  der  Geschlechtsfaktoren  in  die  Wissen- 
schaft eingeführt  wurde.  Die  Verff.  weisen  darauf 
hin,  daß  man  in  derselben  Weise  auch  die  grund- 
legenden Versuche  von  Correns  über  die  Kreu- 
zung von  Bryonia  alba  ^  X  B.  dioica  (J  oder  $ 
erklären  könnte,  durch  die  zum  erstenmal  das 
heterozygotische  Verhallen  irn  Geschlechtsfaktor 
nachgewiesen  wurde.  Baur  und  Correns  neh- 
men hier  einen  besonderen  Faktor  für  Geschlechts- 
trennung an,  eine  Auffassung,  die  sich  auf  dem 
hier  beschrittenen  Wege  umgehen  läßt.  Man 
braucht  bloß  anzunehmen,  daß  Bryonia  alba  ho- 
mozygotisch  ist  in  den  Geschlechtsfaktoren  (FFMM) 
und  daß  sich  FF  und  MM  das  Gleichgewicht 
halten;  alle  Individuen  sind  demnach  Zwitter. 
Bei  B.  dioica  ist  das  (J  heterozy gotisch  geworden 
(Ff MM);  F  hat  an  Valenz  gewonnen,  f  dagegen 
verloren  und  zwar  derart,  daß  FF  >  MM,  Ff  <  MM. 
Auf  Grund  dieser  Annahme  läßt  sich  auch  die 
von  Correns  verzeichnete  Tatsache  erklären,  daß 
bei  der  Kreuzung  von  B.  alba  und  B.  dioica  neben 
den  reinen  Weibchen  auch  häufig  solche  mit  ein- 
zelnen männlichen  Blüten  entstehen,  eine  Er- 
scheinung, die  nach  der  Corrensschen  Auffas- 
sung eine  besondere  Hilfsannahme  erfordert.  Es 
handelt  sich  hierbei  offenbar  um  die  Bastard- 
formen, die  durch  Faktorenkombination  hinsicht- 
lich ihrer  Valenzverhältnisse  gerade  in  der  Mitte 
zwischen  Monözie  und  Diözie  stehen. 

Stark. 


Neue  AtomgewicMsforschnngeu. 

Nachdem  durch  die  Methode  der  Kanalstrahlen- 
analyse für  viele  Elemente  nachgewiesen  wurde, 
daß  sie  Gemische  von  chemisch  einheitlichen 
Atomen  mit  etwas  verschiedenem  Gewicht  dar- 
stellen, sind  genaue  Atomgewichtsbestimmungen 
von  großem  Interesse  geworden.  F.  W.Ast  on^) 
fand  durch  die  Massenspektroskopie  in  Kanal- 
strahlen, daß  das  Element  Bor  aus  einer  Haupt- 
komponente mit  dem  Atomgewicht  ii,o  und 
einem  Begleiter  vom  A.  G.-)  10,0  besteht.  Aus 
der  Linienintensität  der  beiden  Boratome  im 
Massenspektrum,  berechnet  Aston  als  prak- 
tisches A.G.  des  in  der  Natur  vorkommenden 
Bors  den  Wert  10,75^0,07.  Dieser  Wert  stimmt 
aber  nicht  mit  dem  auf  chemischem  Weg  er- 
mittelten A.G.  des  Bors  ii,o  überein,  wie  er  bis 
vor  kurzem  von  der  internationalen  Atomgewichts- 


')  F.  W.  Aston,    Isotopes.      152.    S.     Arnold    u.    Co., 
London  1922. 

''}  A.G.  ^=  Atomgewicht. 


674 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


kommission  anerkannt  wurde.  Auf  Grund  einer 
Untersuchung  von  va  n  Haagen  und  Smith  im 
Jahre  1917  mußte  das  A.G.  des  Bors  auf  10,9 
erniedrigt  werden.  Eine  Nachprüfung  dieser  Kon- 
stanten war  sehr  erwünscht;  sie  erfolgte  von 
O.  Hönigschmid  und  L.  Birkenbach  ^)  durch 
Analyse  des  Bortrichlorids.  Dieses  war  auf  das 
sorgfältigste  von  A.  Stock  dargestellt  worden, 
und  es  wurden  durch  Hönigschmid  und 
Birkenbach  3  in  Glaskugeln  eingeschmolzene 
Präparate  von  BCI3  analysiert.  Es  ergab  sich  im 
Mittel  für  das  Atomgewicht  des  Bors  der  Wert  10,82, 
welcher  gut  mit  dem  von  Aston  nach  der  Kanal- 
strahlenanalyse berechneten  Wert  übereinstimmt. 
Gleichzeitig  gelangten  auch  Gregory  P.  Baxter 
und  Scott  mit  Hilfe  der  gleichen  Methode  wie 
Hönigschmid  für  das  Mischelement  Bor  zu 
dem  A.G.  10,83. 

Quecksilber  zeigt  nach  Aston  bei  der  Kanal- 
strahlenanalyse Atome  von  der  Masse  197 — 204. 
Brönsted  und  von  Hevesy")  gelang  eine 
teilweise  Trennung  der  Quecksilberatome  durch 
ideale  Destillation.  Das  spezifische  Gewicht  der 
erhaltenen  Quecksilberfraklionen  ergab  sich  für 
den  kondensierten  Anteil  zu  0,999824  und  für 
den  nachgebliebenen  Anteil  zu  1,000164,  wenn 
die  Dichte  des  unverdampften  Quecksilbers  als 
Einheit  angenommen  wird.  Aus  den  spezifischen 
Gewichten  dieser  beiden  Quecksilberfraktionen 
berechnet  sich  für  ihre  Atomgewichte  ein  Unter- 
schied von  6  Einheiten  der  zweiten  Dezimale. 
Brönsted  und  von  Hevesy  überließen  ihre 
Quecksilberfraktionen  zu  Atomgewichtsbestim- 
mungen an  Hönigschmid')  und  seine  Mit- 
arbeiter Birken  bach  und  St  ein  heil.  Diese 
arbeiteten  eine  Analysenmethode  aus,  die  es  ge- 
stattete, das  gesuchte  A.  G.  mit  hinreichender 
Schärfe  zu  fassen ,  um  die  erwarteten  kleinen 
Differenzen  mit  Sicherheit  nachweisen  zu  können. 
Durch  Einwirkung  von  reinem  Chlor  oder  Brom- 
dampf auf  reinstes  Quecksilber  im  Quarzapparat 
wurden  HgClg  und  HgBrj  dargestellt,  sublimiert 
und  geschmolzen.  „Die  beiden  HgSalze  wurden 
nach  der  Wägung  in  ammoniakalischer  Lösung 
mit  reinstem  Hydrazin  reduziert,  die  klare  Lösung, 
die  nunmehr  nur  Ammoniumchlorid  bzw.  -bromid 
enthielt,  von  dem  zu  einem  einzigen  Tropfen  ver- 
einigten Quecksilber  quantitativ  abgezogen  und 
in  der  üblichen  Weise  analysiert."  Es  gelang,  die 
Bestimmungsmethode  so  zu  verfeinern,  daß  das 
ermittelte  A.G.  des  normalen  Quecksilbers  Hg 
=  200,61  in  20  Bestimmungen  eine  mittlere  Ab- 
weichung von  nur  +  0,005  aufwies.  Die  leichtere 
Fraktion  von  v.  Hevesy  und  Brönsted  ergab 
als  Mittel  von  7  Bestimmungen  das  A.  G.  Hg 
==^200,57+0,004  und  die  schwerere  Fraktion 
zeigte  als  Mittel  von  7  Bestimmungen  das  A.G. 
Hg  =  200,63  +  0,009.     »Diese  beiden  Werte  diffe- 


rieren um  6  Einheiten  der  zweiten  Dezimale,  wie 
sich  aus  den  spez.  Gewichten  der  beiden  Isotopen- 
gemische berechnen  läßt.  Damit  ist  auch  durch 
direkte  Atomgewichtsbestimmungen  nachgewiesen, 
daß  den  beiden  genannten  Forschern  die  ange- 
strebte partielle  Trennung  der  Quecksilberisotope 
gelungen  ist." 

Jod  erwies  sich  nach  Aston  bei  der  Kanal- 
strahlenanalyse als  ein  Element  mit  gleichartigen 
Atomen.  E.  Kohl  weiler  ^)  wollte  aber  im 
Jahre  1920  nach  768  Diffusionen  von  Joddampf 
durch  Tonmembrane  eine  Fraktion  Jod  von  4,32  g 
erhalten  haben,  die  bei  der  Dampfdichtebestim- 
mung nach  der  Methode  von  Dumas  ein  um 
0,66  %  tieferes  Verbindungsgewicht  aufwies  wie 
normales  Jod.  Wegen  der  Ungenauigkeit  der 
Methode  von  Dumas  war  aber  das  positive  Er- 
gebnis doch  als  sehr  zweifelhaft  anzusehen. 
K  o  h  1  w  e  i  1  e  r  ■')  wiederholte  daher  seine  Versuche 
über  die  fraktionierte  Diffusion  von  Joddampf;  er 
fing  immer  während  einer  halben  Minute  die  zu- 
erst ausdiffundierende  Jodmenge  von  3  mg  auf, 
welche  131  Membrane  durchwandert  hatte. 
1246  Fraktionen  wurden  gesammelt  und  zwar 
475  der  ersten  Obergänge  und  771  der  Diffusions- 
reste. Das  elementare  Jod  der  Fraktionen  wurde 
sodann  in  Jodion  übergeführt  und  dann  wurde 
das  Verbindungsgewicht  mit  großer  Sorgfalt  durch 
Fällung  mit  AgNOg  ermittelt.  Das  Mittel  aus 
17  Bestimmungen  des  Verbindungsgewichts  von 
gewöhnlichem  Jod  betrug  126,93,  wobei  die  größ- 
ten Abweichungen  vom  Normalwert 

126,92  +  0,073  "/j  und  — 0,079  "„ 
ausmachten.  „Das  Mittel  aus  den  7  Bestimmungen 
mit  den  Anfangsfraktionen  beträgt  126,07  und 
weicht  vom  internationalen  Wert  um  — 0,85 
=  0,67  "/ß  ab.  Die  14  Bestimmungen  mit  den 
Endfraktionen  nach  17  Minuten  ergeben  den 
Mittelwert  127,18  mit  einer  Abweichung  von 
0,26^0,21%,."  Demnach  müssen  im  gewöhn- 
lichen Jod  mindestens  noch  eine  leichtere  und 
eine  schwerere  Komponente  vorhanden  sein,  da 
Versuchsfehler  kaum  vorliegen  dürften. 

Die  Ergebnisse  von  Kohlweilers  Diffusions- 
versuchen stehen  mit  den  Aston  sehen  Resul- 
taten nicht  völlig  im  Widerspruch,  da  die  Grenze 
der  Nachweisbarkeit  beigemischter  Komponenten 
mittels  Kanalstrahlenanalyse  nach  Aston  bei 
ungefähr  5  %  üe^t,  während  die  Methode  der 
fraktionierten  Diffusion  durch  zahlreiche  hinter- 
einander stehende  Membrane  bei  kurzer  Aus- 
strömungszeit noch  wesentlich  geringere  Mengen 
beigemischter  Komponenten  nachzuweisen  ge- 
stattet. Es  wären  jedoch  noch  genaueste  Atom- 
gewichtsbestimmungen von  Kohl  weilers  Jod- 
fraktionen durch  Hönigschmid  erwünscht. 

Chlor  vom  A.G.  35,46  weist  bei  der  Kanal- 
strahlenanalyse nach  Aston    2  starke  Linien  bei 


')  Chem.  Zig.  S.  8S4,  Nr.   117,  Bd.  46  (1922). 
'•')  Zcitschr.  f.  phys.  Chem.   1920.  —  Naturw.  Wochenschr. 
XXI,  S.  47  (1922). 


>)  Zehschr.  f.  pbys.  Chem.  Bd.  95,  S.  95—195  ('92°).  — 
Nalurw.  Wochenschr.  XXI,  S.  47  (1922)  und  XIX,  S.  706 
(1920). 

■i)  Zeitschr.  f.  phys.  Chem.  Bd.  C  I,   S.  218—234  (1922). 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


675 


35  und  37  auf  und  außerdem  2  sehr  schwache 
bei  39  und  40.  Durch  fraktionierte  Diffusion 
wurden  von  Lorenz')  Chlorkomponenten  mit 
abweichendem  A.G.  gewonnen  und  neuerdings 
haben  Harkins  und  Hayes'-)  in  Amerika  bei 
ihren  im  großen  Maßstab  durchgeführten  Ver- 
suchen 90  g  Chlor  vom  A.G.  35,494,  9  g  Chlor 
vom  A.G.  35,498  und  5  g  Chlor  vom  A.G.  35,515 
gewonnen.  E.  Gleditsch  und  B.  SamdahP) 
bestimmten  das  A.G.  von  Chlor  aus  Apatit,  einem 
Calciumchlorfluorphosphat.  Dieses  Mineral  stammte 
aus  primären  Gesteinen  und  es  ergab  sich  zweifel- 
los, daß  das  Chlor  im  Apatit  das  gleiche  A.G. 
wie  gewöhnliches  Chlor  besitzt. 

Atomgewichtsbestimmungen  von  hoher  Ge- 
nauigkeit sind  also  nötig,  um  bei  Trennungsver- 
suchen von  Elementen  nachzuweisen,  ob  wirklich 
das  untersuchte  Element  ein  Gemisch  von  che- 
misch völlig  identischen,  aber  im  Atomgewicht 
unterschiedenen  Stoffen  (=  Isotopen)  ist.  Um 
aber  die  Stellung  eines  Grundstoffes  im  periodi- 
schen System  der  Elemente  festzulegen  und  damit 
also  sein  gesamtes  chemisches  Verhalten  zu  kenn- 
zeichnen, ist  das  Atomgewicht  eines  Elementes 
nicht  in  allen  Fällen  ausreichend.  Dagegen  be- 
stimmt die  Ordnungszahl  eines  Elementes,  welche 
die  Größe  der  positiv-elektrischen  Kernladung  des 
Atoms  angibt,  völlig  eindeutig  die  Stellung  eines 
Grundstoffes  im  periodischen  System.  Nun  kann 
man  nach  einer  wichtigen  Entdeckung  von  Mo- 
sel ey  im  Jahre  191 3  in  äußerst  einfacher  Weise 
aus  den  Linien  im  Röntgenspektrum  eines  Ele- 
mentes seine  Ordnungszahl  berechnen.  Es  genügt 
also,  die  charakteristischen  Hochfrequenzlinien 
eines  Elementes  im  Röntgenspektrographen  zu 
bestimmen,  um  sofort  die  Ordnungszahl  und  da- 
mit völlig  unzweifelhaft  die  Stellung  des  unter- 
suchten Elementes  *)  im  periodischen  System  fest- 
zulegen. 

Besonders  bei  den  chemisch  äußerst  ähnlichen 
seltenen  Erdmetallen,  die  analytisch  sehr  schwer 
völlig  zu  trennen  sind,  hat  sich  die  Bestimmung 
der  Ordnungszahl  aus  dem  Röntgenspektrum  für 
die  richtige  Einreihung  des  betreffenden  Elements 
in  das  periodische  System  sehr  wichtig  erwiesen. 
Neuerdings  hat  Georges  Urbain, ')  der  erfolg- 
reiche Forscher  auf  dem  Gebiet  der  seltenen  Er- 
den, die  Erdmetalle  des  skandiumhaltigen  Minerals 
Thortveitit,  eines  rhombischen  Polysilikates  der 
Ytteriterden,  weitgehend  getrennt.  Es  wurden 
reine  Skandiumsalze  dargestellt  und  aus  den 
Ytterbiumfraktionen  wurde  nach  Überwindung 
erheblicher  Schwierigkeiten  Neo- Ytterbium  abge- 
schieden, das  in  den  Atomgewichtstabellen  als 
Ytterbium    zu    finden    ist.      Ferner    wurde    nach 


')  Naturw.  Wochenschr.  XX,  S.  566—567  (192 1). 

*)  Nature.     London   1922. 

')  Corapt.  rend.  1922  nach  Nature  S.  456,  Vol.  109  (1922). 

*)  Isotope  haben  das  gleiche  Röntgenspektrum  und  die 
gleiche  Ordnungszahl. 

')  Journ.  Ind.  Eng.  Chem.  S.  662  (1922)  nach  Chem. 
Ztg.  S.  787,  Nr.   104,  Bd.  46  (1922). 


vielen  Fraktionierungen  das  Erdmetall  Lutetium  ') 
gewonnen,  welches  im  Jahre  1907  von  Urbain 
und  fast  gleichzeitig  von  Auer  von  Welsbach 
entdeckt  wurde;  letzterer  nannte  das  neue  Ele- 
ment Cassiopeium,  doch  nahm  die  internationale 
Atomgewichtskommission  den  Namen  Lutetium  an. 

Schließlich  isolierte  Urbain  noch  das  bisher 
kaum  bekannte  seltene  Erdmetall  Keltium  (Celtium 
=•  Ct),  das  er  zuerst  im  Jahre  191 1  beobachtet 
hatte.  Wie  Bunsen  die  neuen  Alkalimetalle  mit 
dem  Spektroskop  entdeckte  und  wie  P.  und  S. 
Curie  das  Element  Radium  mit  dem  Elektroskop 
aufspürten,  so  beobachtete  Urbain  in  seinen 
F"raktionen  die  fortschreitende  Trennung  der  Ele- 
mente Neo- Ytterbium,  Lutetium  und  Keltium  an 
der  zunehmenden  Intensität  ihrer  Röntgenspektren. 
Ob  bei  dem  von  Urbain  entdeckten  Element 
Kehium  die  Reindarstellung  soweit  gelungen  ist, 
daß  völlig  einwandfreie  Atomgewichtsbestimmun- 
gen möglich  wären,  ist  zweifelhaft.  Doch  erscheint 
dies  auch  nicht  mehr  so  dringend  nötig  wie  früher, 
wo  das  Keltium  wegen  fehlender  genauer  Atom- 
gewichtsbestimmung als  ein  etwas  zweifelhaftes 
Element  galt.  Jetzt  ist  jedoch  das  Keltium  durch 
sein  Röntgenspektrum  von  Urbain  völlig  ein- 
deutig als  das  Element  mit  der  Ordnungszahl  72 
festgestellt  worden;  es  steht  im  periodischen  Sy- 
stem der  Elemente  zwischen  dem  Lutetium  (Cas- 
siopeium) mit  der  Ordnungszahl  71  und  dem 
Tantal  mit  der  Ordnungszahl  73.  Die  weit- 
gehende Trennung  der  3  Elemente  Neo-Ytterbium, 
Lutetium  und  Keltium  ist  Urbain  nur  durch 
die  Verwendung  ihrer  Röntgenspektren  möglich 
gewesen. 

Jetzt  ist  nur  noch  ein  einziges  seltenes  Erd- 
element aufzufinden,  nämlich  jenes  mit  der  Ord- 
nungszahl 61 ,  das  zwischen  dem  Neodym  und 
Samariuin  steht.  Vermutlich  werden  einmal  die 
Röntgenlinien  dieses  unentdeckten  Elements  in 
irgendeiner  Fraktion  der  seltenen  Erden  auf- 
tauchen und  da  die  Wellenlängen  des  Elementes  61 
bereits  genau  bekannt  sind,  wird  seine  Identi- 
fikation keine  Schwierigkeiten  bieten. 

K.  Kuhn. 


Vorgeschichtliche  Getreidefunde  von   der 
Steinsburg  bei  Rönihild,  Sachsen-Jleiniugen. 

Vor  einer  Reihe  von  Jahren  habe  ich  in  dieser 
Zeitschrift  einmal  das  zusammengestellt,  was  an 
Zerealienfunden  vorgeschichtlicher  Zeit  aus  den 
thüringisch  -  sächsischen  Ländern  bekannt  war 
(N.  F.  13,  1914,  S.  294  ff.  u.  463  ff.).  Bei  dieser 
Gelegenheit  habe  ich  auch  bereits  zwei  F'unde 
von  der  Steinsburg  bei  Römhild,  einer  der  impo- 
santesten keltischen  Befestigungen  aus  ganz  Mittel- 
und  Süddeutschland,  in  die  Latenezeit  (500  v.  Chr. 
bis  um  Chr.  Geb.)  gehörig,  behandelt.  Zu  diesen 
zwei  P'unden  sind  inzwischen  in  derselben  Be- 
festigung fünf  neue  hinzugekommen,   und   außer- 


')  Nach  Lutetia  =  Paris  genannt. 


6;6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


dem  hat  sich  durch  eine  Nachprüfung  das  Bild 
der  ersten  beiden  Funde  wesentlich  verändert,  so 
daß  ich  das  Erscheinen  einer  Abhandlung  von 
Karl  Kade  „Vorgeschichtliche  Getreidefunde 
auf  der  Steinsburg"  (Prähistorische  Zeitschrift  13, 
1921,  S.  83 — 94)  benutze,  um  auf  diese  Funde 
hier  noch  einmal  einzugehen,  teils  um  die  alten 
Ausführungen  in  dieser  Zeitschrift  richtig  zu 
stellen,  teils  um  die  neuen  Funde  und  Forschungs- 
ergebnisse weiteren  Kreisen  zugänglich  zu  machen. 
I.  Der  erste  dieser  Funde  ist  derselbe,  den 
ich  bereits  in  dieser  Zeitschrift  1914,  S.  295  be- 
sprochen habe.  Der  Fund  befindet  sich  heute 
mit  der  Sammlung  Kumpel  im  Museum  zu  Hild- 
burghausen. Bereits  bei  meiner  ersten  Beschäfti- 
gung mit  dem  Funde  habe  ich  sofort  das  von 
Kumpel  dem  Funde  zugeschriebene  Alter  — 
Bronzezeit  —  angezweifelt,  und  angenommen,  daß 
der  Fund  wie  die  Hauptmasse  der  Funde  von 
der  Steinsburg  in  die  Latenezeit,  d.  h.  in  die  Zeit 
um  500  V.  Chr.  bis  um  Chr.  Geb.  gehöre.  In 
demselben  Sinne  habe  ich  mich  über  den  Fund 
dann  noch  einmal  in  meiner  Abhandlung  „Über 
Alter  und  Herkunft  der  Kultur  des  Speltes" 
(Korrespondenzblatt  der  deutschen  Gesellsch.  für 
Anthropologie  46,  191 S,  S.  26  ff.)  geäußert.  In 
beiden  F'ällen  habe  ich  jedoch  die  botanische 
Bestimmung  der  Zerealien  als  zu  recht  bestehend 
angenommen.  Inzwischen  ist  über  diesen  Fund 
nun  eine  ausführliche  Äußerung  von  Prof.  Götze, 
dem  langjährigen  Erforscher  der  Steinsburg,  er- 
schienen (Präh.  Zeitschr.  a.  a.  O.  S.  71),  die  sich 
eingehend  mit  der  archäologischen  Seite  des 
Fundes  auseinandersetzt,  und  dann  der  Aufsatz  von 
Kade,  der  sich  mehr  mit  der  botanischen  Seite 
des  Fundes  beschäftigt.  Beide  kommen,  um  das 
zunächst  vorwegzunehmen,  zu  dem  Ergebnis,  daß 
die  von  mir  angenommene  Datierung  die  einzig  rich- 
tige ist,  und  geben  im  übrigen  eine  geradezu  ver- 
nichtende Kritik  der  gesamten  Kümpelschen 
Arbeit.  So  stellen  sie  zunächst  einmal  die  Fund- 
angaben klar,  die  sich  bei  Kumpel  in  nicht 
weniger  als  vier  verschiedenen  Varianten  fanden. 
Nach  den  Feststellungen  von  Götze  und  Kade 
handelt  es  sich  um  eine  Kohlenschicht  im  Zeil- 
felder Bruch ,  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
Walle,  in  der  nach  Aussage  der  Arbeiter  von 
einer  baulichen  Anlage  nichts  zu  erkennen  ge- 
wesen ist.  Die  weitgehenden  Folgerungen,  die 
Kumpel  an  die  Fundstelle  anknüpft,  fallen  damit 
von  selbst  zusammen.  Weiterhin  zeigt  uns  dann 
Kade,  wie  selbst  die  F"undbestimmungen  Kum- 
pels als  solche  z.  T.  völlig  falsch  sind,  und  wie 
Kumpel  gerade  die  interessantesten  Zerealien- 
funde  bei  seinen  Aufsammlungen  gar  nicht  er- 
kannt hat.  Es  ist  Kade  nämlich  gelungen,  an 
der  Fundstelle  noch  Originalfunde  in  situ  zu  ent- 
decken, die  er  dann  mit  einer  eigens  zu  diesem 
Zweck  ausgedachten  Methode  untersucht  hat. 
Nach  diesen  Untersuchungen  von  Kade  waren 
in  dem  Funde  enthaltend:  i.  Ackersenf  (Sinapis 
arvensis).     2.  Daneben  fanden   sich  noch  kleinere 


Fruchtkörnchen,  die  bislang  noch  nicht  bestimmt 
werden  konnten.  Melde,  wie  Kade  zunächst 
vermutet  hatte,  ist  es  nicht.  3.  Das,  was  Braun- 
gart  und  Kumpel  als  Mohn  (Papaver  somni- 
ferum var.  antiq.)  bestimmt  hatte,  erwies  sich  als 
Hirse  (Panicum  miliaceum).  Von  Mohn  dagegen 
fand  sich  sowohl  in  dem  von  Kumpel  wie  auch 
in  dem  von  Kade  gesammelten  Funde  keine 
Spur.  4.  Pferdebohne  (Faba  vulgaris).  5.  Linse 
(Ervum  Lens).  6.  Labkrautfrüchte  (Galium), 
ebenso  wie  7.  Roggentrespe  (Bromus  secalinus) 
ein  Ackerunkraut.  8.  Erbse  (Pisum  sativum  L.). 
9.  Einkorn  (Triticum  monococcum).  10.  Zwerg- 
weizen (Triticum  compactum).  11.  Emmer  (Tri- 
ticum dicoccum).  12.  Eine  Gerstenart  (Hordeum), 
die  sich  nicht  näher  bestimmen  läßt.  13.  Ob  sich 
in  dem  Funde  Spelt  (Triticum  spelta  L.)  befindet, 
bleibt  zweifelhaft,  da  sowohl  Kade  wie  auch 
andere  Gelehrte,  die  sich  mit  dem  Funde  be- 
schäftigt haben,  irgendwelche  Speltkörner  nicht 
auffinden  konnten.  14.  Dazu  kommt  dann  endlich 
auch  noch  ein  Apfelkern,  den  bereits  Braun- 
gart  und  Kumpel  erkannt  hatten.  Durch  diese 
Feststellungen  hat  der  Fund  nunmehr  ein  ganz 
anderes  Aussehen  gewonnen  1 

II.  Neben  diesem  „großen"  Getreidefunde  wur- 
den auf  der  Steinsburg  noch  mehrere  andere  ge- 
hoben, davon  einer  wiederum  von  Kumpel 
(vgl.  diese  Zeitschr.  1914,  S.  464).  Dieser  zweite 
Fund  befindet  sich  heute  gleichfalls  in  Hildburg- 
hausen. In  dem  handschriftlichen  Katalog  Kum- 
pels finden  sich  über  ihn  die  Angaben:  Wohn- 
grube oberhalb  des  Zeilfelder  Bruches.  Von  den 
mitgefundenen  Scherben  ist  ein  Stück  mittelalter- 
lich, entweder  ein  Oberflächenfund,  oder  irgend- 
wie durch  Unachtsamkeit  zu  den  übrigen  hinzu- 
gekommen. Die  gleichfalls  mitgefundenen  Ton- 
wirtel  sind  latenezeidich.  Der  Fund  selbst  ist 
leider  noch  immer  nicht  wissenschaftlich  unter- 
sucht. Immerhin  vermochte  Kade  durch  eine 
oberflächliche  Untersuchung  Hirse,  Gerste  und 
mindestens  drei  Weizensorten  festzustellen.  Boh- 
nen, Erbsen  und  Linsen  fehlen  vollständig.  — 

Die  übrigen  vier  Funde  wurden  bei  den  von 
Prof  Götze  geleiteten  Ausgrabungen  oder  wenig- 
stens im  Zusammenhange  damit  aufgefunden;  sie 
werden  heute  in  Römhild  bei  den  Ergebnissen 
der  Ausgrabungen  von   Prof.  Götze  aufbewahrt. 

in.  Fund,  entdeckt  an  der  Strecke  2124  in 
der  kohlehaltigen  Erdmasse  einer  Wohnstätte,  er- 
gab an  Zerealien:  Pferdebohne  (Faba  vulgaris), 
Linse  (Ervum  Lens),  Zwergweizen  (Triticum  com- 
pactum), Einkorn  (Triticum  monococcum),  Emmer 
(Triticum  dicoccum),  eine  Gerstenart  (Hordeum), 
ebenso  Ackersenf  (Sinapis  arvensis)  und  die  klei- 
nen kugeligen  Körner  der  noch  unbestimmten 
Art.  Diese  Wohnanlage  ist  durch  die  darin  ge- 
fundenen kleinen  Hausgeräte  und  Werkzeuge  aus 
Eisen,  durch  Tonwirtel  und  zahlreiche  Scherben 
einwandfrei  als  latenezeitlich  bestimmt. 

IV.  Ein  weiterer  Fund  wurde  von  Kade  selbst 
am    oberen,    steil    abfallenden    Rande    des    alten 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


677 


staatlichen  Steinbruchs  entdeckt.  Auch  hier  war 
eine  Wohnstätte  angeschnitten  worden.  In  der 
darüberlagernden  kohlehaltigen  dunklen  Erde  lagen 
Getreidekörner,  von  denen  aber  der  schweren  Zu- 
gänglichkeit der  Stelle  wegen  nur  wenige  gebor- 
gen werden  konnten,  Sie  ließen  sich  als  Weizen, 
wohl  Triticum  dicoccum,  und  als  Linse  (Ervum 
Lens)  bestimmen.  Daneben  wurde  aber  auch 
noch  die  Linsenwicke  (Ervum  Ervilia  L.)  festge- 
stellt. 

V.  Ein  fünfter  Fund  wurde  bei  der  Erweite- 
rung des  Ulmenweges  1919  gemacht.  Man  stieß 
hierbei  auf  Siedlungsanlagen,  die  von  Prof. 
Götze  untersucht  und  als  spätlatenezeitlich  er- 
wiesen wurden.  Dabei  fanden  sich  auch  die 
Reste  eines  durch  Feuer  zerstörten  Getreide- 
speichers. In  diesem  wurden  zahlreiche  verkohlte 
Getreidekörner  entdeckt.  Nach  Kades  Bestim- 
mung gehört  die  große  Mehrzahl  der  Körner  dem 
Emmer  (Triticum  dicoccum)  an,  daneben  war  auch 
Zwergweizen  (Triticum  compactum)  ziemhch  reich 
vertreten,  und  weniger  zahlreich  Einkorn  (Triti- 
cum monococcum).  Zahlreicher  war  auch  noch 
eine  Gerstenart  (Hordeum)  vertreten.  In  einigen 
Früchten  auch  Erbse  (Pisum  sativum),  Ackersenf 
(Sinapis  arvensis)  und  die  kleinen  noch  nicht  be- 
stimmten Kügelchen.  An  Ackerunkräutern  fanden 
sich  daneben  (Bromus  secalinus),  Roggentrespe 
und  eine  andere,  noch  nicht  näher  bestimmte 
Bromusart. 

VL  Ein  sechster  Fund  wurde  auf  Strecke  24/25 
entdeckt.  Er  ergab  Zwergweizen  (Triticum  com- 
pactum), eine  Gerstenart  (Hordeum),  Linse  (Ervum 
Lens)  und  Erbse  (Pisum  sativum).  Die  Fundstelle 
ist  bislang  noch  nicht  näher  untersucht. 

VII.  Ein  siebenter  Fund,  in  einer  Wohnstätte 
auf  Strecke  21/24,  ergab  Emmer  (Triticum  dicoc- 
cum), Zwergweizen  (Triticum  compactum),  Linse 
(Ervum  Lens),  Pferdebohne  (Faba  vulgaris),  eine 
Gerstenart  (Hordeum)  und  die  Roggentrespe 
(Bromus  secalinus).  — 

Die  sieben  Funde  geben  im  großen  und  gan- 
zen ein  vollkommen  einheitliches  Bild,  wie  ein 
Blick  auf  die  obenstehende  Tabelle  zeigen  mag, 
wenn  man  dabei  berücksichtigt,  daß  sich  die 
Lücken  in  den  Funden  IV— VII  nach  erfolgter 
Ausgrabung  wohl  noch  schließen  werden. 

Von  allgemeinerem  Interesse  ist  in  den  Fun- 
den zunächst  einmal  der  Nachweis  von  Senf, 
der  bisher  zwar  in  drei  vorgeschichtlichen  Zerealien- 
funden  aus  Mittel-  und  Nordeuropa  vermutet,  in 
keinem  Falle  jedoch  als  sicher  erwiesen  war.  Der 
vorliegende  Fund  bietet  für  ihn  den  ersten  siche- 
ren Nachweis,  der  natürlich  von  ganz  besonderer 
Wichtigkeit  ist.    Ebenso  interessant  ist  der  Nach- 


Fund 

I. 

II. 

III. 

IV. 

V. 

VL 

VII. 

Emmer  (Triticum  dicoccum) 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

Zwergweizen    (Triticum  compac- 

tum) 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

Einkorn  (Triticum  monococcum) 

+ 

+ 

+ 

+ 

Spelt  (Triticum  spelta) 

? 

Gerstenart  (Hordeum  spec.) 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

Linse  (Ervum  Lens) 

+ 

ü 

+ 

+ 

0 

+ 

+ 

Linsenwicke  (Ervum  Ervilia  L.) 

+ 

Erbse  (Pisum  sativum) 

+ 

0 

0 

+ 

+ 

Pferdebohne  (Faba  vulgaris) 

+ 

0 

+ 

0 

+ 

Ackersenf  (Sinapis  arvensis) 

+ 

+ 

+ 

Hirse  (Panicum  miliaceum) 

+ 

+ 

0 

0 

Kleine  Früchtchen    (noch    unbe- 

stimmt) 

+ 

+ 

+ 

Roggentrespe  (Bromus  secalinus) 

+ 

+ 

+ 

Apfelkerne 

+ 

-|-  bedeutet  vorhanden,  O  nicht  vorhanden,  freies  Feld : 
es  besteht  die  Möglichkeit,  daß  eingehende  Untersuchung  das 
Vorkommen  ergibt. 


weis  der  Linsenwicke,  die  Wittmack  in 
prähistorischen  Funden  von  Bos-öjük  in  Phrygien 
und  in  Troja  festgestellt  hatte,  die  aber  sonst  in 
vorgeschichtlichen  Funden  aus  Europa  völlig  fehlte. 
Das  Vorkommen  dieser  Pflanze  in  der  latenezeit- 
lichen  Fundschicht  der  Steinsburg  muß  also  ge- 
radezu überraschen.  Weiterhin  verdient  dann 
auch  noch  der  Nachweis  von  Hirse  Beachtung. 
Dieselbe  Art  kommt  zwar  in  dem  thüringischen 
Gebiet  bereits  steinzeitlich  vor,  war  jedoch  eisen- 
zeitlich noch  nicht  festgestellt.  Und  zuguterletzt 
mag  dann  noch  auf  das  Vorkommen  der  Acke  r - 
u n krau te r  hingewiesen  werden,  über  die  bisher 
nur  sehr  wenig  Beobachtungen  vorliegen.  Kade 
vermutet,  daß  man  bereits  damals  eine  Reinigung 
des  Getreides  vorgenommen  habe,  denn  nur  ganz 
vereinzelt  fand  sich  ein  Same  von  den  Acker- 
unkräutern. Auf  welche  Weise  jedoch  diese 
Reinigung  vorgenommen  wurde,  entzieht  sich 
freilich  noch  unserer  Kenntnis.  Über  die  anderen 
in  dem  Funde  enthaltenen  Zerealien  habe  ich 
bereits  das  Nötige  in  dieser  Zeitschrift  1914, 
S.  295  ff.  gesagt. 

Insgesamt  bieten  also  die  Steinsburgfunde  auch 
für  den  Botaniker  eine  wahre  Fülle  von  Beleh- 
rungen —  und  gerade  darum  müssen  wir  den 
beiden  Forschern  Götze  und  Kade  für  ihre 
Beobachtungen  besonders  danken,  vor  allem  auch 
Kade  dafür,  daß  er  diese  Funde  so  sorgfältig 
studiert  und  der  Wissenschaft  durch  seine  Ab- 
handlung zugänglich  gemacht  hat. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Bücherbesprechungen. 

Weckmann,     Ornithologisch-photogra-  Trotzdem  wir  in  Deutschland  eine  ganze  An- 

phische     Naturstudien.       Velhagen     und      zahl  vorzüglicher  Werke  haben,    in  denen  photo- 
Klasing  1922.     Geb.  22  M.  graphische  Naturstudien  der  Nachwelt   überliefert 


678 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


werden,  bedeutet  dieses  Buch  eine  Bereicherung 
der  Bücherei  jedes  Naturfreundes.  Jeder,  der  da 
weiß,  wie  außerordentlich  schwer  es  ist,  gute 
Aufnahmen  von  freilebenden  Tieren  zu  machen, 
wird  die  technische  Fertigkeit  des  Verf.  anerken- 
nen. Das  Buch  ist  mit  78  Abbildungen  nach 
Originalaufnahmen  versehen.  Unter  ihnen  finden 
sich  IVIeisterstücke  wie  „Junge  Austernfischer  im 
Dunenkleid".  Die  Landschaftsaufnahmen  zeugen 
für  das  künstlerische  Auffassungsvermögen  des 
Autors.  Die  Schreibweise  ist  klar  und  frisch. 
Auch  der  Fachzoologe  findet  in  den  Schilderungen 
und  Berichten  der  freilebenden  Tierwelt  mancher- 
lei Anregung.  Aus  jeder  Zeile  spricht  ein  war- 
mes Naturgefühl ,  das  sich  auf  den  Leser  über- 
trägt. Das  Buch  ist  echt  deutsch.  Wir  empfehlen 
es  allen  Naturfreunden  auf  das  wärmste.  Die 
vorliegende  Ausgabe  auf  Kunstdruckpapier  kann 
auch,  bei  dem  Tiefstand  der  heutigen  Bücher- 
herstellung, als  vorzüglich  bezeichnet  werden.  Es 
ist  erstaunlich,  wie  der  Verlag  zu  so  billigem 
Preis  derartiges  überhaupt  bieten  kann. 

H.  v.  Lengerken. 


Haecker,  Valentin,  Über  umkehrbare  Pro- 
zesse in  der  organischen  Welt.  In: 
Schaxels  Abhandlungen  zur  theoretischen  Bio- 
logie, Heft  15.  39  Seiten.  1922. 
Von  umkehrbaren  Prozessen  in  der  Onto-  und 
Phylogenese,  führt  Haecker  aus,  dürfe  gesprochen 
werden,  wenn  lebendes  Material  vom  differen- 
zierten Zustand  auf  irgendwelche  Weise  auf 
den  Ausgangspunkt  und  von  ihm  wieder  auf  jenen 
differenzierten  Zustand  gelangen  kann.  Nur  selten 
jedoch  werde  man  in  der  Biologie  Entdifferenzie- 
rung  im  Sinne  eines  Durchlaufens  der  einzelnen 
Differenzierungsphasen  in  umgekehrter  Richtung 
erwarten  können.  Reversion  und  Redifferenzie- 
rung  in  jenem  verallgemeinerten  Sinn  kommt  an- 
scheinend z.  B.  bei  manchen  Protozoen  während 
der  Vermehrung  vor,  bei  nicht  wenigen  Restitu- 
tionsvorgängen von  Metazoen,  bei  Pigmentepithel- 
zellen im  Tritonauge,  die  nach  Pigmentaus- 
stoßung Retina  regenerieren  können,  bei  der 
Adventivsprossenbildung  von  Begonia,  während 
die  Restitution  des  Kiemendarmes  von  Clavelina 
oder  die  Adventivsprossenbildung  bei  abgeschnit- 
tenen Cardamine-Blätter  eher  eine  „Jteration"  oder 
Neubildung  von  embryonalen  Zellen  aus  zu  sein 
scheint.  Das  Wesen  mancher  derartigen  Erschei- 
nung, wie  der  Geschwulstbildung,  ist  in  dieser 
Hinsicht  immer  noch  umstritten.  Auf  phylogene- 
tischem Gebiete  sprächen  D  o  1 1  o  s  Beispiele  der 
NichtWiederkehr  geschwundener  Organe  oder  Or- 
gananpassungen und  die  Seltenheit  echter  Rück- 
schläge gegen  die  Möglichkeit  einer  EntSpeziali- 
sierung und  Restitution  des  Keimplasmas.  Eis- 
zeitrelikte  haben  sich  denn  auch  nicht  wieder  an 
die  Ebene  anpassen  können.  Die  Zickzackevolu- 
tion des  Planorbis  multiformis  dagegen,  welche 
allerdings    wohl    innerhalb   nicht-erblicher   Modifi- 


kationen verlief,  ähnlich  die  Wiederkehr  des  Olm- 
auges  bei  Licht,  die  Veränderung  des  Hinterleibes 
enlhäuster  Paguriden  in  Richtung  auf  verwandte 
freilebende  Formen,  vereinzelte  wirkliche  Spon- 
tanatavismen und  anderes  mehr  verlangen  die  Er- 
gründung  eines  die  Widersprüche  vereinigenden 
Prinzips:  reversible  Vorgänge  sind  nach  Verf. 
die  einfachen,  bei  der  Vererbung  meist  nicht 
spaltenden,  wie  auch  Farbenrückschläge  der 
Pflanzen  oder  wahrscheinlich  mutierende  Farben- 
und  Zeichnungsmuster  bei  Wirbeltieren,  oder  doch 
die  einfach-verursachten,  zu  denen  auch 
der  Habsburger  Prognathismus  inferior  gehört, 
der  sich  in  einigen  weiblichen  Seitenzweigen  ab- 
schwächte. Dagegen  erscheinen  komplex  ver- 
ursachte Bildungen  reversibel;  sie  sind  übrigens 
zugleich  artlich  oder  auf  Familien  begrenzt,  oft 
adaptativ  und  mendelnd  oder  von  komplizierter 
Vererbungsweise.  Bezüglich  der  Annahme  von 
Rassenhygienikern,  daß  pathologische  Anlagen 
des  Keimplasmas  irreversibel  und  somit  nicht  ab- 
schwächbar seien,  meint  Haecker,  sie  dürfte 
Einschränkungen  gestatten.  V.  Franz,  Jena. 


Berichte  der  staatlichen  Höhlenkommission. 
Vierteljahreshefte  für  theoretische 
und  praktische  Höhlenkunde.  Heraus- 
gegeben von  der  staatlichen  Höhlenkommission. 
Redigiert  von  Rudolf  Willner  und  Georg 
Kyrie.  Jahrg.  i  1920,  Jahrg.  2  1921.  Wien, 
Selbstverlag  der  Kommission. 
Bereits  früher  habe  ich  in  dieser  Zeitschrift 
einmal  darauf  hingewiesen,  wie  die  Höhlenfor- 
schung in  dem  Bereich  der  Länder  der  ehemaligen 
österreichisch- ungarischen  Monarchie  durch  die 
Kriegsereignisse  und  dann  weiterhin  durch  die 
Nachwirkungen  des  Krieges  neue  Anregungen  ge- 
funden hat  (vgl.  diese  Zeitschr.  19,  1920,  S.  526). 
Infolge  der  außerordentlich  großen  Not  an  Kunst- 
düngemitteln hat  inzwischen  Deutschösterreich 
ein  Gesetz  entlassen,  das  dem  Staate  die  Ge- 
winnung phosphorsäurehaltiger  Stoffe  vorbehält 
und  Enteignungen  vorsieht  und  eine  Höhlen- 
dünger Bau-  und  Betriebsgesellschaft  staatlich  kon- 
zessioniert, die  den  Ausbau  einer  Reihe  von  Höhlen 
übernahm  und  bereits  ganz  erhebliche  Erfolge  er- 
zielte. Der  Staat  konnte  sich  jedoch  nicht  der 
Einsicht  verschließen,  daß  bei  diesem  Höhlen- 
abbau neben  der  volkswirtschaftlichen  Seite  auch 
wichtige  wissenschaftliche  Interessen  auf  dem 
Spiele  stehen,  da  die  Höhlen  im  allgemeinen  und 
die  Höhlenabfallprodukte  im  besonderen  wahre 
Archive  der  Erd-  und  Urgeschichte  darstellen. 
So  wurde  denn  auch  sofort  für  die  Wahrung 
dieser  wissenschaftlichen  Interessen  im  weit- 
gehendsten Maße  gesorgt  und  zu  diesem  Zwecke 
eine  staatliche  Hohlenkommission  gebildet,  die 
als  beratendes  Organ  dem  Fachministerium  zur 
Seite  steht  und  mit  diesem  in  Fragen  des  Höhlen- 
abbaues ständig  Hand  in  Hand  arbeitet.  Diese 
Höhlenkommission     hat    sich    nun    in    den    vor- 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


679 


liegenden  Berichten  ein  besonderes  Publikations- 
organ geschaffen,  das  in  erster  Linie  über  die 
Arbeiten  der  Kommission  berichten,  daneben  aber 
auch  höhlenkundliche  Studien  in  jeder  Beziehung 
fördern  will.  Aus  dem  Inhalt  der  nunmehr  be- 
reits im  2.  Jahrgang  vorliegenden  Zeitschrift 
notieren  wir  hier  zunächst  einmal  die  allgemeinen 
Ausführungen  über  die  Höhlenkommission  und 
ihre  Tätigkeit  von  Kyrie,  einen  Bericht  über  die 
erste  Vollversammlung  der  Höhlenkommission  in 
Wien  und  dann  die  Organisationsgrundsätze  für 
die  staatliche  Höhlenforschung  sowie  den  Abdruck 
des  Gesetzes  betr.  der  Gewinnung  phosphorsäure- 
haltiger Stoffe.  Im  Vordergrunde  der  Zeitschrift 
steht  vorderhand  natürlich  die  Höhlendüngerfrage. 
Wichtige  Beiträge  zu  ihrem  Studium  bieten  ein 
Bericht  von  R.  Willner  über  die  Gewinnung 
von  Höhlendünger  in  Österreich  und  von  O.  Reit- 
mair  über  die  Ergebnisse  von  Höhlendünger- 
versuchen,  und  im  engsten  Zusammenhange  damit 
stehen  dann  auch  weiterhin  die  Ausführungen 
von  R.  Willner  über  Höhleneigentum  und  über 
Höhlenrecht.  In  zweiter  Linie  werden  Berichte 
über  die  Begehungen  und  Erschließungen  von 
Höhlen  gesammelt  und  auch  über  die  Arbeiten 
der  Kommission  selbst  referiert.  Als  besonders 
wertvoll  in  dieser  Beziehung  notieren  wir  die 
Angaben  über  die  Drachenhöhle  bei  Mixnitz  in 
Steiermark,    über   ihre   Erforschung    und   die   aus 


ihr  geförderten  Phosphatmengen.  Zu  guter  Letzt 
kommen  aber  auch  allgemeine  Fragen  bereits  zur 
Geltung;  so  ist  z.  B.  eine  Anleitung  zur  Auf- 
nahme von  Grundrißplänen,  Längen-  und  Quer- 
profilen in  Höhlen  von  H.  Reisner  als  besonders 
beachtenswert  zu  nennen,  weiterhin  Vorschläge 
für  den  Ausbau  und  die  Erschließung  von  Eis- 
höhlen von  R.  Saar  und  schließlich  auch  eine 
gehaltvolle  Anleitung  zum  Sammeln  von  Tieren 
und  Pflanzen  in  Höhlen  von  O.  Wettstein,  wie 
auch  ein  Bericht  über  die  paläontologischen  Er- 
gebnisse der  Ausgrabungen  in  der  Drachenhöhle 
zu  Mixnitz  von  O.  Abel  und  ein  vorläufiger  Be- 
richt über  die  Höhlenbärenschädel  aus  derselben 
Höhle  von  O.Antonius. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 

Hermann  Albert  Prietze,  Natur  und  Volks- 
tum. Eine  Anregung  zur  Erforschung  der  ge- 
setzmäßigen Zusammenhänge  innerhalb  der 
menschlichen  Gestalt  und  innerhalb  der  mensch- 
lichen Gemeinschaften.  93  S.  Hannover- Linden 
1920,  Gebr.  Hartmann. 

Die  in  dieser  Zeitschrift  bereits  nach  einem 
Manuskriptdrucke  N.  F.  19,  1920,  S.  95  ausführ- 
lich angezeigte  Schrift  ist  in  etwas  veränderter 
Form  inzwischen  im  Buchhandel  erschienen,  wo- 
rauf wir  auch  an  dieser  Stelle  gern  noch  einmal 
hinweisen  wollen.  Hugo  Mötefindt. 


Anregungen  und  Antworten. 


Nachtrag  zu  meinea  „Bemerkungen  über  Standorte  und 
Verbreitung    der    deutschen    Farnkräuter"    in    Heft  25,    1922, 

S.  3i7— 34&- 

Mein  alter  Freund  F.  W  i  r  t  g  e  n  macht  mich  bezügl.  Nr.  3 1 , 
Aspknmn  fontanum  (S.  343  r.  u.),  darauf  aufmerksam,  dafl 
ich  eine  Standortsangabe  m  Ascherson-Graebner,  Sy- 
nopsis, 2.  AuH.,  I.  Bd.,  S.  620,  Nachträge,  übersehen  habe; 
ein  reicher  Bestand  ist  an  einer  Mauer  in  Kappel  unweit 
Marburg  gefunden,  nach  der  a.  a.  O.  beifolgenden  Notiz  aber 
auch  bald  größtenteils,  wenn  nicht  völlig  ausgerottet  worden. 
Das  seltene  Pflänzchen  ist  jedenfalls  durch  eine  einzige  ver- 
wehte Spore  dorthin  gelangt,  und  hat  wohl  eine  Reihe  von 
Jahren  ungestört  und  unter  besonders  günstigen  Umständen 
dort  wachsen  und  sich   vermehren  können. 

Zu  einer  Bemerkung  unter  Nr.  40,  S.  345  r.  o.,  erinnert 
W.  daran,  daß  Aconitum  napellus  in  der  Eifel  doch  nicht 
nur  auf  Kalk  bzw.  Dolomit,  sondern  abgeschwemmt  auch 
auf  Grauwacke  vorkommt.  Die  Notiz,  daß  A.  n.  nicht  auf 
den  Devonschiefer  übergehe,  stammt  aus  der  Flora  der  Rhein- 
provinz von  W.  dem  Älteren;  damals  waren  jene  Fälle 
wohl  noch  nicht  bekannt.  Die  Bestätigung,  daß  A.  n.  doch 
auch  auf  anderen  Formationen  bzw.  Gesteins-  oder  Boden- 
arien sich  ansiedele  (in  der  Eifel  1),  finde  ich  bei  Rosbach, 
Flora  des  Reg. -Bez.  Trier,  der  aber  doch  die  Be  v  orzugung 
der  Kalkunterlage  hervorhebt.  Es  dürfte  also  (vgl. 
meine  Ausführungen  a.  a.  O.  S.  338  und  344 — 345)  doch 
wohl  richtig  sein,  daß  das  Aconitum  napellus  der  Eifel  eine 
kalkholde,  freilich  nicht  kalkstete,  morphologisch  aber  nicht 
unterscheidbare  Form  darstellt;  und  darauf  kam  es  mir  an. 
Mit  der  Überpflanzung  von  Stöcken  unserer  Art  von  kalk- 
armem Urgestein  auf  den  Eifelkalk  dürfte  man  voraussicht- 
lich wenig  Glück  haben.  Es  wäre  vielleicht  von  Interesse, 
jene  Ansiedlungen  des  Eifel-Sturmhutes  auf  kalkarmem  Ge- 
stein noch  nach  mehreren  Richtungen  hin  näher  zu  unter- 
suchen:   I.  ob  der  Ort  der  Ansiedlung  nicht  doch  auch  merk- 


liche Mengen  von  Kalk  enthält,  2.  ob  die  Ansiedlung  viel- 
leicht durch  geringeren  Wettbewerb,  auf  noch  wenig  bewach- 
senem Schwemmland  (?)  begünstigt  wird,  usw.  Denn,  wie 
ich  schon  a.  a.  O.  ausführte,  ist  der  Wettbewerb  ein  unge- 
mein wichtiges  Moment  in  der  Besiedlung  eines  jeden  Stand- 
ortes. 

Zu  der  Frage  der  Kalk-  und  Kieselpflanzen  möchte  ich 
noch  folgenden  kleinen  Beitrag  beisteuern:  Ich  fand  i.  J.  1914 
einen  hübschen  Bestand  von  Polentilla  rupeslris  zwischen  den 
Bahnstationen  Strelau  und  Slesin ,  westlich  Bromberg.  Die 
Eisenbahn  fährt  dort  dicht  unterhalb  des  Hanges  hin,  mit 
dem  sich  die  nördliche  höher  gelegene  Fläche  gegen  die 
Netze-Niederung  absenkt.  Dieser  Hang  ist  größtenteils  mit 
Mischwald  bedeckt  und  enthält  einige  Pflanzenarten ,  die 
immerhin  nicht  zu  den  häufigen  gehören.  Von  dort  hatte  ich 
einen  Stock  der  Potentilla  in  meinen  Schrebergarten  zu  Brom- 
berg gepflanzt  und  dort  davon  Samen  geerntet.  Von  diesen 
Samen  säte  ich  im  Frühjahr  1922  aus  und  erhielt  eine  An- 
zahl Pflänzchen,  die  ich  zu  zweit  in  etliche  Blumentöpfe  über- 
pflanzte, deren  einen  ich  mit  kalkhaltiger  Erde  füllte. 
Während  nun  die  anderen  Pflanzen  alle  im  Juni  zur  Blüte 
kamen  und  reichlich  geblüht  haben,  sind  die  beiden  im  Kalk- 
boden gewachsenen  kleiner  geblieben ,  zeigen  gelblichgrünes 
Laub,  und  verrieten  keine  Blühwilligkeit,  welch  letztere  Er- 
scheinung zweifellos  mit  der  geringeren  Ausbildung  des  Blatt- 
grüns zusammenhängt.  Da  bekanntermaßen  Kalk  die  Auf- 
nahme der  Eisen-  und  der  Phosphorverbindungen  beeinträch- 
tigt, begoß  ich  diesen  Topf  einigemale  mit  einer  schwachen 
EisenlösuDg,  gab  auch  zweimal  je  I  g  primär-phosphorsaures 
Kali,  KH2PO4,  in  je  50  g  Wasser  gelöst,  darauf.  Nun  weiß 
ich  natürlich  nicht,  wie  die  Pflanzen  sich  ohne  das  verhalten 
haben  würden.  Jedenfalls  hat  die  krältigere  der  beiden  erst 
in  den  letzten  Tagen  des  August  eine  Blütenknospe,  eine  ein- 
'••g^i  S^^^ig'i  die  sich  am  10.  September  zur  Blüte  öffnete; 
um    Mitte    September    wurden    noch     zwei    winzige    Knospen 


680 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  49 


sichtbar.  Die  genannte  Art  ist  also  jedenfalls  dem  kalkhalti- 
gen Boden  nicht  angepaßt.  Hoffentlich  gelingt  es,  sie  weiter 
zu  halten,  vielleicht  wird  sie  sich  an  den  Kalk  gewöhnen, 
vielleicht  auch  nicht.  Wenn  die  Art  in  der  Natur  auch  auf 
Kalk  vorkommen  sollte ,  so  hätten  wir  dort  eben  auch  eine 
besondere,  kalkhoide  Rasse.  Beiläufig  noch  eins:  vor  Jahren 
sah  ich  P.  rupestris  auf  Schieferfelsen  nahe  dem  Moseltal, 
dort  waren  die  Blüten  ganz  wesentlich  größer  als  bei  den 
Bromberger  Pflanzen  —  es  scheint  sich  auch  hier  um  erbliche 
Rassenmerkmale  zu  handeln.  Hugo  Fischer. 


Einige  Bemerkungen  zum  Michelsonversuch.  Wie  F.  L  e  - 
nard  in  der  neuen  Ausgabe  seiner  Abhandlung  „Über  Äther 
und  Uräther"  (1922,  2.  Aufl.)  mitteilt,  befindet  sich  in  Heidel- 
berg die  Ausführung  des  von  ihm  vorgeschlagenen  Michelson- 
versuches  mit  Fixsiernlicht  in  Vorbereitung.  Das  Experiment 
(dürfte,  nachdem  ja  die  Relativitätstheorie  die  Aufmerksamkeit 
weiter  Kreise  aut  das  mit  ihr  in  Zusammenhang  gebrachte 
Gebiet  physikalischer  Tatsachen  und  Experimente  hingelenkt 
hat,  allgemein  großes  Interesse  erregen.  Sein  nach  Le nard, 
wie  auch  nach  der  in  dieser  Zeitschrift  Nr.  2,  1922,  vorge- 
tragenen Hypothese  zu  erwartender  positiver  Ausfall  würde 
mit  einem  Schlage  die  experimentelle,  also  endgültige  Wider- 
legung sowohl  der  Einsteinschen  Relativitätslehre,  wie  auch 
der  Lorentzschen  Kontraktionshypothese  und  ebenso  der 
Stokesschen  Aberrationstheorie  bringen,  welche  alle  negativen 
Ausfall  erwarten  lassen,  und  er  würde  zugleich  zeigen,  daß 
die  von  Huygens,  Young  und  Fresnel  begründete  und 
bis  auf  die  neueste  Zeit  so  glänzend  bewährte  Undulations- 
theorie  des  Lichts  unter  gewissen  Umständen  (wie  in  dem 
vorliegenden  Fall  der  Bewegungen  des  Äthers)  nicht  mehr  in 
strengem  Sinne  Gültigkeit  hat  und  entsprechend  abgeändert 
werden  muß.  Dem  Experiment  käme  also  bei  positivem  Aus- 
fall eine  große  theoretische  Bedeutung  zu.  Es  würde,  kurz 
gesagt,  beweisen,  daß  das  von  einer  irdischen  und  einer 
außerirdischen  Lichtquelle  aus  der  gleichen  Richtung  kom- 
mende Licht  den  irdischen  Beobachter  mit  verschiedener  Ge- 
schwindigkeit erreicht,  was  natürlich  nach  der  reinen  Wellen- 
theorie nicht  erklärt  werden  kann. 

P.  Lenard  erwartet,  nach  seiner  Darstellung  in  Starks 
Jahrb.  Bd.  17,  Heft  4  und  in  Astron.  Nachr.  Bd.  213,  Nr.  5107 
zu  schließen,  einen  positiven  Ausfall  nur  mit  Fixstern-  (evtl. 
auch  Planeten-)Licht,  wenn  es  in  der  Richtung  der  Erd- 
bewegung verläuft.  Es  läßt  sich  jedoch,  wie  mir  scheint, 
leicht  zeigen,  daß  auch  nach  seiner  Annahme  vom  Äther  und 
Uräther,  ebenso  wie  nach  der  früher  hier  vorgebrachten  auf 
der  Trägheit  der  Lichtwellen  sich  aufbauenden  Hypothese 
vor  allem  mit  Licht,  das  senkrecht  zur  Richtung  der  Erd- 
bewegung einfällt,  also  mit  dem  Lichte  eines  jeden  Himmels- 
körpers, sofern  es  d  ie  Aberrat  io  n  aufweist,  ein  posi- 
tiver Ausfall  zu  erwarten  steht  (verglichen  mit  dem  Lichte 
einer  in  gleicher  Richtung  befindlichen  irdischen  Lichtquelle, 
welches  negativen  Ausfall  zeigt).')  Denn  da  der  Uräther  bei 
Lenard,  soweit  die  Erklärung  der  Aberration  in  Betracht 
kommt,  die  Rolle  des  absolut  ruhenden  Äthers  von  Loren tz 
übernimmt  und  in  dem  senkrecht  zur  Richtung  der  Erdbewe- 
gung stehenden  Schenkel  des  Apparats  alles  so  ablaufen  soll, 
wie  es  die  frühere  Auffassung  .nach  Loren  tz  erwartete,  so 
ergibt  sich,  wie  aus  der  bekannten  Berechnung  des  Michelson- 
versuchs  hervorgeht,  auf  alle  F'älle  eine  Zeitdifferenz  des  außer- 
irdischen gegenüber  dem  irdischen  Licht  in  diesem  Schenkel 
und  deshalb  eine  Streifenverschiebung,  gleichgültig,  ob  das 
außerirdische  Licht  im  anderen  parallel  zur  Richtung  der  Erd- 


bewegung stehenden  Schenkel  des  Apparats  die  Geschwindig- 
keit c  relativ  zum  Erdäther  oder  zum  Uräther  hat.  Die  Rech- 
nung zeigt,  daß  auch  in  ersterem  Falle  die  Streifenverschiebung 
gegenüber  irdischem  Licht  von  gleichem  Betrag  ist,  wie  er 
ursprünglich  bei  Anstellung  des  Versuchs  mit  irdischem  Lichte 

V* 

allein    erwartet    wurde,    nämlich    dem    Gangunterschiede  1 — ^ 

entsprechen  muß  (v  ^  Geschwindigkeit  der  Erde  in  ihrer 
Bahn).  Nimmt  man  jedoch  keine  seilliche  Mitführung  des 
Lichts  durch  bewegten  Äther  an,  wie  dies  P.  Lenard  tut, 
wenn  er  sagt:  ,, senkrecht  zur  Emissionsrichtung  stehende  Ge- 
schwindigkeitskomponenten der  Lichtquanten,  herrührend  von 
ebenso  gerichteter  Geschwindigkeilskomponente  der  Lichtquelle, 
nehmen  wir  als  dauernd  unverändert  weiter  bestehend  an",') 
so  würde  sich  im  Falle  des  senkrecht  zur  Erdbewegung  ein- 
fallenden Lichts  eine  Streifenverschiebung  ergeben,  welche 
der  transversalen  Komponente  der  Relativbewegung  Erde  — 
Himmelskörper  entspricht  und  zur  Messung  (oder  Schätzung) 
derselben  dienen  könnte  (v  ist  also  dann  gleich  dieser  Kom- 
ponente). Ein  negativer  Ausfall  auch  mit  senkrecht  zur  Erd- 
bewegung einfallendem  Licht  wäre  dagegen,  wie  uns  scheint, 
nicht  ohne  weiteres  vereinbar  mit  der  Theorie  P.  Lenards, 
die  Erklärung  der  Aberration  auf  die  angegebene  Weise  er- 
fordert auf  jeden  F'all  ein  positives  Ergebnis.  Dagegen  wäre 
ein  negativer  Ausfall  wohl  möglich  mit  parallel  zur  Rich- 
tung der  Erdbewegung  einfallendem  außerirdischen  Licht,  was 
für  seine  sofortige  Milführung  durch  den  Erdäther  in  seiner 
F^ortpflanzungsrichtung  (d.  h.  fehlende  longitudinale  Masse  nach 
unserer  Auffassung)  sprechen  würde.  Ob  eine  solche  anzu- 
nehmen ist,  würde  also  der  Versuch  durch  positiven  oder 
negativen  Ausfall  entscheiden.  Um  ein  negatives  Ergebnis 
des  Veisuchs  auch  bei  senkrecht  einfallendem  außerirdischen 
Licht  im  Zusammenhang  mit  allen  übrigen  Erscheinungen  zu 
erklären,  kann  man  annehmen,  daß  entsprechend  der  Emissions- 
vorstellung im  Falle  des  bewegten  Spiegels  nicht  nur  der  Re- 
flexionswinkel gleich  dem  Einfallswinkel,  sondern  auch  die 
Geschwindigkeit  des  reflektierten  Lichts  gleich 
der  Geschwindigkeit  des  einfallenden  gesetzt 
wird,  beides  relativ  zum  System  des  Spiegels  verstanden  (wie 
ich  dies  in  einem  demnächst  in  den  Astr.  Nachr.  erscheinen- 
den Aufsatz  näher  ausgeführt  habe).'^)  Die  Frage,  ob  der 
Michelsonversuch  auch  mit  Sonnen-,  Mond-  und  Planetenlicht 
positiv  ausfallen  müßte,  ist  schwierig  zu  beantworten,  da  man 
über  die  besondere  Art  der  Bewegungen  des  Äthers  im 
Sonnensystem,  und  ebenso  über  Art  und  Betrag  der  Milfüh- 
rung des  Lichts  durch  bewegten  Alher  bisher  nichts  Bestimmtes 
weiß.  Ein  positiver  Ausfall  des  Experiments  würde  wohl  dazu 
verhelfen,  darüber  einiges  Genauere  zu  ermitteln.  Die  Wahr- 
scheinlichkeit besteht  jedoch  nach  unserer  Auffassung,  daß 
auch  mit  Sonnen-  und  Planetenlicht  (vielleicht  sogar  Mond- 
licht) eine  Streifenverschiebung  eintritt.  K.   Vogtherr. 


')  Siehe  Naturw.  Wochenschr.  1922,  Nr.  2,  S.  25,  Anmerk. 


')  Starks  Jahrb.  Bd.    17,  S.  322,  Anmerk. 

^)  Wobei  jedoch  der  Michelsonversuch  mit  irdischem 
Licht  in  zur  Erde  und  zum  Apparat  ruhendem  .Äther  nach 
den  Gesetzen  der  alten  Undulaiionstheorie  vor  sich  geht  (es 
sind  die  Spiegel  des  Apparats  ja  nur  gegenüber  dem  außer- 
irdischen Licht  bewegt,  nicht  gegenüber  dem  irdischen).  In 
diesem  Falle  müßte  sich  nach  der  Methode  von  Fi zeau  oder 
Foucault  oder  einer  ähnlichen  eine  um  die  Größe  der  Erd- 
bewegung geänderte  Geschwindigkeit  des  parallel  zu  dieser 
einfallenden  außerirdischen  Lichts  ergeben  und  dieser  Effekt 
müßte  mit  genügend  verfeinerten  Apparaten  beobachtbar  sein. 
Möglicherweise  ließe  sich  auch  eine  Geschwindigkeitsänderung 
irdischen  Lichts  beim  Auftreffen  auf  künstlich  bewegte  Spiegel 
experimentell  prüfen. 


Inhalt:  Ed.  Zache,  Die  Lager  aus  tierischen  und  pflanzlichen  Resten  im  Diluvium  des  Eibstromgebietes.  S.  665.  — 
Einzelberichte:  H.  Klebahn,  Blühendes  Wasser.  S.  671.  G.  und  P.  Ilertwig,  Die  Vererbung  des  Hermaphro- 
ditismus bei  Melandrium.  S.  672.  F.  W.  Aston,  Neue  Atomgewichtsforschungen.  S.  673.  K.  Kade,  Vorgeschicht- 
liche Getreidefunde  von  der  Steinsburg  bei  Römhild,  Sachsen-Meiningen.  S.  675.  —  Bücherbesprechungen:  Weck- 
mann,  Ornithologisch-photographische  Naturstudien.  S.  677.  V.  Haecker,  Über  umkehrbare  Prozesse  in  der  orga- 
nischen Welt.  S.  678.  R.  Willner  und  G.  Kyrie,  Berichte  der  staatlichen  Höhlenkommission.  S.  678.  H.  A. 
Prietze,  Natur  und  Volkstum.  S.  679.  —  Anregungen  und  Antworten;  „Bemerkungen  über  Standorte  und  Verbrei- 
tung der  deutschen  Farnkräuter".  S.  679.     Einige  Bemerkungen  zum  Michelsonversuch.  S.  680. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  PStz'achen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  2i.  Band; 
ganzen  Reibe  37.  Band. 


Sonntag,  den  lo.  Dezember  1922. 


Nummer  50. 


Der  Klimawechsel  als  Hauptfaktor  der  Veränderung 
der  Organismenwelt. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Prof.  N.  N.  Yakowlev,  St.  Petersburg. 
Mit   I   Abbildung  im  Text. 


Bei  der  Betrachtung  der  Veränderungsgründe 
der  Organismenwelt  werde  Ich  von  der  Frage 
nach  den  Aussterbegründen  ausgehen,  von  der 
aus  ich  zu  den  hier  berichteten  Ergebnissen  ge- 
kommen bin. 

Das  Aussterben  ist  eine  Erscheinung  der  geo- 
logischen Geschichte  der  Organismen,  welche  be- 
sonders deutlich  beim  ersten  Einblick  in  dieselbe 
in  die  Augen  fällt. 

Wer  hat  nicht  von  dem  Untergange  der  ihrem 
Körperbau  nach  so  absonderlichen  und  oft  so 
riesenhaften  Reptilien  der  Jura-  und  Kreideperioden, 
Ichthyosaurier,  Plesiosaurier,  Dinosaurier  und  Ptero- 
dactyler  oder  der  Flugsaurier  gehört? 

Oder  vom  Erlöschen  der  für  die  Steinkohlen- 
periode so  charakteristischen  baumartigen  Lyco- 
podien,  der  Bärlappgewächse  und  Schachtelhalme, 
Lepidodendren  und  Calamiten.  Die  Aussterbe- 
erscheinung ist  so  allgemein,  daß  die  Ausdrücke 
„fossile"  und  „ausgestorbene"  Tiere  beinahe  als 
Synonyme  gelten. 

Was  sind  denn  die  Gründe  dieser  rätselhaften 
und  majestätischen  Erscheinung,  welche  die  Ab- 
lösung der  einen  Welt  durch  die  andere  zur  Folge 
hatte  ?  Diese  Frage  erscheint  als  eine  der  wesent- 
lichsten Fragen  der  Biologie,  doch  wird  sie  auf 
verschiedene  Weise  beantwortet,  je  nach  der  An- 
sicht der  Forscher  über  die  Bedeutung  dieser  oder 
jener  Faktoren  der  organischen  Evolution;  was 
nun  die  Frage  nach  der  relativen  Bedeutung  dieser 
Faktoren  anbetrifft,  so  gehen  bekanntlich  die  An- 
sichten stark  auseinander. 

Die  Entwicklungstheorie  der  Organismenwelt 
oder  die  Evolutionstheorie  in  der  Form,  in  wel- 
cher sie  anfänglich  die  Aufmerksamkeit  Aller  auf 
sich  gelenkt  hatte  und  die  Erscheinung  der  Evo- 
lution eines  jeden  Zweifels  enthob,  war  bekannt- 
lich die  Theorie  von  Darwin. 

Die  Grundidee  der  Darwinschen  Theorie  ist 
die  Auslese  auf  natürlichem  Wege  derjenigen 
Varietäten,  welche  für  die  jeweiligen  Tiere  und 
Pflanzen  am  nützlichsten  erschienen,  und  die  Er- 
haltung der  begünstigsten  Rassen  im  Kampfe 
ums  Dasein. 

Die  Weiterentwicklung  der  Darwinschen  Theo- 
rie führt  uns  natürlicherweise  zur  Annahme,  daß 
der  Kampf  ums  Dasein  nicht  nur  zwischen  ein- 
zelnen Individuen  und  Arten,  sondern  auch  zwi- 
schen größeren  Organismengruppen  wie  bei  Gat- 
tungen, Ordnungen,  Klassen  stattfindet. 

Man    erhält    somit    ein    ähnliches  Bild    wie    in 


der  Geschichte  der  Menschheit,  wo  wir  den  Kampf 
der  Stämme  und  Völker,  der  Geschlechter  und 
Klassen  beobachten.  Das  Resultat  dieses  Kampfes 
ist  die  Degeneration,  ja  sogar  das  Aussterben 
dieser  oder  jener  Gruppe. 

Die  Geologie  ist  ebenfalls  eine  historische 
Wissenschaft,  sie  ist  die  Geschichte  der  Erde  und 
der  Tier-  und  Pflanzenwelt,  welche  dieselbe  be- 
wohnen. Liegt  der  Grund  des  Aussterbens  der 
Tier-  und  Pflanzengruppen  im  Kampfe  unterein- 
ander und  im  Ersatz  der  einen  Gruppe  durch  die 
andere  ? 

Die  Darwinisten  bezweifeln  dieses  nicht. 

N  e  u  m  a  y  r  schildert  uns  folgendes  Bild :  ^) 
„Eine  genaue  Untersuchung  ergibt,  daß  der  Rück- 
gang großer  blühender  Familien  in  der  Regel  der 
Zeit  nach  zusammenfällt  mit  dem  Auftreten  über- 
legener Mitbewerber  im  Kampfe  ums  Dasein; 
zunächst  tritt  dies  auffallend  bei  den  während 
einer  Zeit  in  ihrem  Lebenskreise  herrschenden 
Formen  hervor,  über  deren  Lebensbedingungen 
wir  uns  auch  überdies  meist  wenigstens  einige 
Rechenschaft  geben  können,  während  in  anderen 
Fällen  allerdings  die  Verhältnisse  weniger  günstig 
für  eine  Erklärung  liegen.  In  den  ältesten  Zeiten 
nehmen  die  schon  früher  genannten  Trilobiten 
die  erste  Stufe  in  der  Tierwelt  ein;  ihr  Über- 
gewicht wird  gebrochen  mit  dem  Überhand- 
nehmen der  Cephalopoden,  der  gefahrlichsten 
und  wildesten  Räuber,  die  wir  unter  den  wirbel- 
losen Tieren  des  Meeres  überhaupt  kennen. 

In  rascher  Folge  tritt  dann  der  vollständige 
Verfall  mit  dem  Umsichgreifen  der  Fische  auf 
der  Grenze  zwischen  Silur  und  Devon  ein.  Im 
oberen  Silur  sind  die  Cephalopoden  aus  der  Fa- 
milie der  Nautiliden  die  herrschenden  Formen  im 
Meere,  aber  auch  sie  geraten  vom  Auftreten  hoch- 
entwickelter Fische  an,  also  seit  Schluß  der  Silur- 
formation, in  steten  Rückgang;  außerdem  fällt 
mit  der  Verminderung  der  Nautiliden  das  Auf- 
blühen einer  anderen  Abteilung  der  Cephalopoden, 
der  Ammoniten,  zusammen.  Die  Ammoniten 
sind  während  der  jüngeren  Phasen  der  großen 
paläozoischen  Ära  und  während  der  mesozoischen 
Zeit  in  außerordentlicher  Entwicklung;  erst  seit 
der  Mitte  der  Kreidezeit  tritt  eine  namhafte  Ver- 
minderung derselben  ein,  bis  sie  ungefähr  auf  der 
Grenze    zwischen   Kreide   und  Tertiär   erlöschen; 


')  M. 
146. 


Neumayr,    Die  Stämme    des  Tierreiches.     iS 


682 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5ü 


der  Beginn  ihres  Rückganges  fällt  zusammen  mit 
der  starken  Entwicklung  der  Knochenfische,  der 
Teleostier.  Und  dieses  Ereignis  bringt  auch  den 
Verfall  der  Belemnitiden  und  der  schmelzschup- 
pigen Fische,  der  Ganoiden,  mit  sich,  die  bis  da- 
hin alle  Meere  in  iVIenge  bevölkert  hatten  und 
nun  bis  auf  wenige  Überbleibsel  verschwinden. 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei  diesen  Meerestieren 
verhält  es  sich  mit  den  Bewohnern  des  festen 
Landes.  Gegen  Ende  der  paläozoischen  Zeit 
finden  wir  hier  die  Amphibienordnung  der  Stego- 
cephalen  als  herrschende  Gruppe;  neben  ihr  er- 
scheinen dann  Reptilien  und  verdrängen  sie,  so 
daß  mit  Schluß  der  Triasformation  die  ersteren 
verschwunden  sind;  dann  beginnt  die  Herrschaft 
der  Reptilien,  welche  aber  mit  dem  Überhand- 
nehmen der  höheren  Säugetiere  aufhört,  und  die 
gewaltigsten  Abteilungen  jener  sterben  aus;  ebenso 
machen  die  fliegenden  Reptilien,  die  Pterodactylen, 
den  Vögeln  Platz." 

Neben  den  Darwinschen  Faktoren  des  Kampfes 
ums  Dasein  und  der  natülichen  Zuchtwahl  erhebt 
sich  der  unmittelbare  Einfluß  der  äußeren  Be- 
dingungen und  vorwiegend  des  Klimas. 

„Wir  leben  in  einer  Zeit,  wo  die  Erde  merk- 
bare klimatische  Verschiedenheiten  aufweist,  wel- 
che zwischen  dem  sehr  kalten  polaren  Klima  und 
dem  heißen  feuchten  und  trockenen  tropischen 
schwanken.  Dies  war  nicht  immer  der  Fall;  in 
einer  noch  nicht  sehr  fernliegenden  geologischen 
Epoche  war  die  Temperatur  niedriger  als  jetzt, 
andererseits  war  das  Klima  in  früheren  Zeiten 
vorwiegend  warm  und  blieb  so  im  Verlauf  langer 
geologischer  Epochen,  und  wenn  es  dann  auch 
Temperaturschwankungen  und  klimatische  Zonen 
gab,  so  waren  die  Polargegenden  dennoch  von 
solchen  Tieren  und  Pflanzen  bewohnt,  die  jetzt 
nur  in  frostfreien  Gegenden  vorkommen.  Diese 
Temperaturschwankungen  äußerten  sich  darin, 
daß  lange  warme  Perioden  durch  kurze  kalte  ab- 
gelöst wurden.  Das  kalte  Klima  trat  ein,  als  die 
Kontinente  am  größten  und  höchsten  waren,  also 
im  Abschlußstadium  der  Perioden  und  Aren  und 
existiert  immer  zur  Zeit  intensiver  gebirgsbildender 
Prozesse  oder  unmittelbar  danach."  ') 

Uns  interessieren  die  Epochen  bedeutender 
Veränderungen  der  klipiatischen  Verhältnisse  auf 
der  Erde  und  dabei  die  Zeitspanne  zwischen  der 
kambrischen  Epoche  und  der  Jetztzeit,  von  wel- 
cher Überreste  fossiler  Organismen  erhalten  ge- 
blieben sind. 

In  dieser  Zeit  treten  drei  Hauptepochen  im 
Wechsel  der  klimatischen  Verhältnisse  hervor; 
die  erste  und  älteste  von  ihnen  liegt  auf  der 
Grenze  zwischen  unterem  und  oberen  Silur  und 
ist  als  Entstehungsepoche  der  sogenannten  kale- 
donischen  Gebirgsketten  bekannt;  die  zweite  — 
auf  der  Grenze  der  Steinkohlenzeit  und  der  per- 
mischen Periode   —   die  Epoche   der  Entstehung 

')  Schuchert,  Historical  Geology.  1915.  p.  984— 985. 
(Pirson  &  Schuchert.     Text-book  of  Geology.j 


des  herzynischen  Gebirges  — ,  und  endlich  die 
dritte  —  auf  der  Grenze  zwischen  der  meso- 
zoischen und  kenozoischen  Ära  —  die  Epoche 
der  Bildung  der  alpinischen  Gebirgsketten  (nach 
Ramsay).  Diese  drei  Epochen,  „im  Verlaufe 
derer  sich  auf  den  meisten,  wenn  nicht  auf  allen 
Kontinenten  Gebirgsketten  erhoben,  werden  die 
kritischen  Perioden  der  Erdgeschichte  genannt. 
Die  Kontinente  erheben  sich  dann  besonders  hoch 
über  den  Meeresspiegel,  und  da  das  Klima  immer 
trockener,  kühler,  ja  sogar  kalt  wird,  kann  man 
annehmen,  daß  diese  Zeit  auch  für  die  damals 
lebenden  Tiere  und  Pflanzen  eine  kritische  war".^) 

Gegen  klimatische  Veränderungen  sind  beson- 
ders die  Pflanzen  empfindlich.  Zur  Zeit  der  kale- 
donischen  Faltenbildung  gab  es  noch  keine  vier- 
füßigen  Landtiere  und  auch  keine  höheren  Pflanzen, 
sondern  es  existierten  bloß  niedere  Pflanzen,  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  vorwiegend  Algen,  welche 
im  fossilen  Zustand  größtenteils  nicht  erhalten 
geblieben  sind.  Der  lückenhaften  Überlieferung 
wegen  ist  es  schwer,  festzustellen,  welche  Ver- 
änderungen der  Pflanzen  möglicherweise  statt- 
gefunden haben.  Anders  verhält  es  sich  zu  Ende 
der  paläozoischen  und  mesozoischen  Ären,  d.  h. 
im  Zusammenhange  mit  der  herzynischen  und 
alpinischen  Faltenbildungen,  als  eine  bedeutende 
und  leicht  nachweisbare  Veränderung  der  Pflanzen- 
welt und  der  vierfüßigen  Tiere  zweifelsohne  vor 
sich  ging. 

Das  Klima  der  Steinkohlenzeit  gilt  als  feucht 
und  warm.  Darauf  weisen  die  reichen  Stein- 
kohlenablagerungen, die  sich  an  Stellen  von 
Sümpfen  bildeten,  hin ;  ebenso  das  Ausbleiben 
von  Jahresringen  im  Holze,  die  sonst  im  Zusam- 
menhange mit  den  kalten  Winterperioden  stehen, 
die  Fülle  und  die  enormen  Dimensionen  der  In- 
sekten (Libellen  mit  %  m  Flügeispanne). 

Diesem  Klima  entsprach  das  Übergewicht  der 
samenlosen  Sporenpflanzen  einerseits  und  der  vier- 
füßigen Amphibien  andererseits.  Mit  dem  Über- 
gang dieses  Klimas  in  ein  trockenes  und  mög- 
licherweise auch  kälteres  zu  Ende  der  paläozoi- 
schen Ära  entstanden  ungünstige  Verhältnisse  für 
die  Existenz  der  Sporenpflanzen,  nicht  nur  weil 
diese  im  heißen  Klima  besser  gedeihen,  wie  aus 
der  Verbreitung  ihrer  gegenwärtigen  Vertreter  — 
der  baumartigen  Farne  und  großer  Schachtelhalme 
zu  ersehen  ist,  sondern  auch  weil  sie  die  P'euchtig- 
keit  zu  ihrer  Fortpflanzung  benötigen.  Letztere 
geht  in  abwechselnden  geschlechtslosen  und  ge- 
schlechtlichen Generationen  vor  sich.  Die  ge- 
schlechtliche Generation  ist  weniger  bekannt,  als 
die  ungeschlechtliche;  die  männlichen  Genital- 
zellen entstehen  auf  ihnen  in  P'orm  von  Sperma- 
tozoiden  und  für  eine  Befruchtung  der  weiblichen 
Zellen  ist  die  Vermittlung  des  Wassers  unent- 
behrlich, denn  nur  im  Wasser  können  die  Sper- 
matozoide  sich  bewegen  und  zur  weiblichen  Zelle 
gelangen.      Die    geschlechtliche    Generation    hat 


')  Ibid.,  p.  979. 


N.  F.  XXI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


683 


das  Aussehen  kleiner  Pflänzchen,  die  dem  Boden 
aufliegen  und  im  feuchten  Klima  leicht  vom 
Regenwasser  benetzt  werden  können.  Das  Wasser 
ist  für  die  Sporenpflanzen  so  unentbehrlich,  daß 
die  Botaniker  sie  oft  mit  den  Amphibien  des 
Tierreiches  vergleichen,  deren  Existenz  ebenso 
an  das  Wassermedium  wie  das  Trockenland  ge- 
bunden ist. 

Die  für  die  oberpaläozoischen  Ablagerungen 
so  charakteristisch  gewesenen,  außerordentlich 
großen  baumförmigen  Sporenpflanzen,  Bärlapp- 
gewächse, Schachtelhalme  sterben  auf  der  Grenze 
des  Paläozoikums  und  des  Mesozoikums  aus;  an 
ihrer  Statt  treten  im  Mesozoikum  anemophyle 
Samenpflanzen  auf,  d.  h.  solche  Pflanzen,  die  ver- 
mittels des  Windes  befruchtet  werden.  Zu  An- 
fang sind  es  ihrer  Organisation  nach  einfache 
Gymnospermen,  Zykadophyten  und  Koniferen, 
welche  besser  als  die  Sporenpflanzen  an  das 
trockene  Klima  mit  seinen  großen  Temperatur- 
schwankungen angepaßt  sind. 

In  der  Kreidezeit,  mit  dem  Anfang  der  Epoche 
der  alpinischen  Gebirgsbildung,  vermindern  sich 
in  ihrer  Ausbreitung  die  Zykadophyten,  den,  aus 
ihnen  entstandenen,  bedecktsamigen  dikotyledonen 
Pflanzen  Platz  machend,  welche  bedeutende 
Schwankungen  des  Klimas  vertragen,  wie  es  auch 
aus  der  geographischen  Verbreitung  der  gegen- 
wärtigen Dikotyledonen  im  Vergleiche  zu  den 
Zykadophyten  ersichtlich  ist.  Man  kann  im 
Voraus  erwarten,  daß  die  Pflanzen,  welche  emp- 
findlicher als  die  Tiere  gegenüber  den  Schwan- 
kungen des  Klimas  sind,  schneller  sich  verändern 
müssen,  als  diese. 

In  der  Tat,  im  sog.  Permokarbon,  oder  in 
dem  vom  Steinkohlen-  zum  permischen  System 
überführenden  Ablagerungen,  trägt  die  Flora  den 
permischen ,  d.  h.  eigentlich  den  späteren  Cha- 
rakter, während  die  Fauna  noch  den  Charakter 
der  Steinkohlenzeit  beibehält.  Die  Flora  der 
oberen  Kreide  nähert  sich  mehr  dem  ihr  folgen- 
den Tertiär-  als  der  vorhergehenden  unteren 
Kreidezeit,  während  das  Tierreich  der  Epoche 
der  oberen  Kreide  seinem  Charakter  nach  meso- 
zoisch, nicht  aber  kenozoisch  erscheint. 

Man  hält  es  für  möglich,  ja  sogar  für  durch- 
aus glaubwürdig,  daß  aus  den  Seichtwasserfischen 
die  Amphibien  hervorgegangen  sind,  welche  dank 
der  Luftatmung  und  der  Gehgliedmaßen  an  bloß 
feuchten  Stellen  zu  leben  vermochten.  Die  Am- 
phibien, deren  Aufblühen  in  die  oberpaläozoische 
Zeit  fällt,  verminderten  sich  daraufhin  in  ihrer 
Zahl,  mit  dem  Übergange  des  feuchten  Klimas 
zum  trockenen.  In  der  Geschichte  der  fossilen 
Amphibien  kann  man  drei  Phasen  unterscheiden: 
die  allerältesten  und  primitivsten  Amphibien  ver- 
brachten ihr  ganzes  Leben  im  Wasser  und  waren 
mit  Kiemen  versehen.  Mit  dem  Verluste  der 
Kiemen  paßten  sie  sich  daraufhin  an  das  Leben 
auf  dem  Lande  im  feuchten  und  warmen  Klima 
an.  Mit  dem  Übergange  dieses  Klimas  zum 
trockenen  kälteren  und  ungünstigen  für  ihr  Leben 


auf  dem  Lande,  treten  sie  ihren  Platz  den  Rep- 
tilien ab,  welche  des  Wassermediums  sogar  in 
der  Jugend  nicht  bedürfen  und  überhaupt  ihren 
Eigenschaften  nach  an  das  Leben  im  trockenen 
Klima  angepaßt  sind.  Nur  eine  Gruppe  der 
Stegocephalen,  die  sog.  Labyrinthodonten ,  ge- 
deihen noch  in  der  Trias,  sich  wieder  dem  Leben 
im  Wasser  zuwendend,  augenscheinlich  infolge 
des  trockenen  Klimas,  —  wobei  sie  nicht  nur 
im  Süßwasser,  sondern  auch  im  salzigen  Meer- 
wasser lebten  —  eine,  in  der  Geschichte  der 
Amphibien  einzig  dastehende  Erscheinung;  die 
im  Meere  lebenden  Labyrinthodonten  sind  aus 
der  Trias  in  Spitzbergen  und  Indien  bekannt. 
Die  Reptilien,  welche  im  Mesozoikum  die  Stelle 
der  Amphibien  einnahmen,  sind  so  mannigfaltig 
und  zahlreich  (11  Ordnungen  an  Stelle  der  4  jetzt 
lebenden),  daß  das  Mesozoikum  das  Zeitalter  der 
Reptilien  genannt  wird.  Die  Eigenschaften,  welche 
den  Reptilien  ermöglichten,  des  Lebens  im  Wasser 
vollständig  zu  entsagen,  sind:  die  harte  Haut,  mit 
Krallen  versehene  Finger,  innere  Befruchtung  und 
große  Eier  mit  direkter  Entwicklung  (ohne  Meta- 
morphose), was  sie  von  dem  Entwicklungsstadium 
im  Wasser  befreit. 

Die  Reptilien  waren  sowohl  auf  dem  Lande 
als  auch  im  Wasser  verbreitet  und  außerdem 
nahmen  sie  in  der  Luft  die  Stelle  der  Vögel  ein. 

Allein  auch  die  Reptilien  waren  in  ihrer  Ver- 
breitung infolge  ihrer  Kaltblütigkeit  beschränkt, 
und  der  Klimawechsel  in  der  Periode  der  alpini- 
schen Gebirgsbildung  wurde  für  sie  verhängnisvoll. 

Sowohl  die  Säugetiere,  als  auch  die  Vögel, 
welche  beinahe  gleichzeitig  mit  den  Reptilien  auf 
der  Erde  erschienen,  blieben  im  Mesozoikum  so- 
zusagen im  Schatten,  im  Hintergrunde,  ^)  solange 
die  Lebensbedingungen  für  die  Reptilien  günstig 
waren,  daraufhin  aber  überstanden  sie  dank  ihrer 
Warmblütigkeit  den  Klimawechsel,  traten  in  den 
Vordergrund  und  verbreiteten  sich ,  die  Stelle 
der  Reptilien  einnehmend  und  entwickelten  gleich 
den  Letzteren  eine  große  Mannigfaltigkeit  in  der 
Anpassungsart  an  die  verschiedenen  Lebensbe- 
dingungen. 

Was  die  wirbellosen  Tiere  im  Meere  anbetrifft, 
so  kann  man  bei  ihnen  schon  auf  der  Grenze 
zwischen  oberem  und  unterem  Silur  eine  funda- 
mentale Änderung  der  Fauna  bemerken.  In  diese 
Zeit  fällt  auch  der  Umschwung  in  der  Entwick- 
lung der  Trilobiten  und  die  Verminderung  der 
Zahl  ihrer  Arten  und  Gattungen  um  die  Hälfte. 
Von  den  anderen  Gruppen  des  Tierreiches,  dessen 
Aufblühen  dem  Silur  angehört,  wären  noch  die 
ausgestorbenen  gestielten  und  größtenteils  fest- 
sitzenden Stachelhäuter  der  Klassen  der  Cystoidea 
Carpoidca  und  Thecoidca  zu  erwähnen.  Sie  alle 
haben  im    unteren  Silur   ihre   größte  Verbreitung 

*)  ebenso,  wie  auch  wahrscheinlich  die  Dikotyledonen 
längere  Zeit  im  Hintergrunde  blieben,  bis  ihnen  die  Dezimie- 
rung der  Zykadophyten  und  der  Guikgo'mae  im  Zusammen- 
hange mit  dem  Klimawechsel  in  der  Epoche  der  oberen 
Kreide   die  Möglichkeit  bot,  in  den  Vordergrund  zu  treten. 


684 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  so 


gefunden.  Zweifelsohne  nehmen  ihre  Stelle  die 
Crinoiden  ein,  welche  im  oberen  Silur  und  im 
Devon  am  meisten  verbreitet  sind. 

Von  den  meisten  wirbellosen  Polypomedusen 
muß  doch  das  Aufblühen  und  der  Untergang  der 
in  Kolonien  befestigten  achsenlosen  Axonolipa 
im  unteren  Silur  erwähnt  werden,  nach  welcher 
Zeit  schwimmende  und  mit  einer  Achse  versehene 
Graptolithen  {Axoi/opliora)  sie  ablösen.  Schließ- 
lich wird  die  Verbreitung  der  korallenartigen 
Stromatopocoiden  (der  Gattungen  Bcafricea, 
CryptopJiragvuis,  Gymiwsotoi)  durch  das  untere 
Silur  begrenzt,  während  sie  später  von  den  Ko- 
rallen und  echten  Stromatoporen  abgelöst  werden. 


Das  Dargelegte  weist  deutlich  auf  den  Zu- 
sammenhang zwischen  dem  Klimawechsel  einer- 
seits und  dem  Aussterben  und  der  Entwicklung 
neuer  Gruppen  an  Stelle  der  untergegangenen 
andererseits  hin.  Besonders  klar  ist  dieser  Zu- 
sammenhang an  den  Pflanzen  und  den  vierfüßigen 
Wirbeltieren  zu  sehen. 

Was  ist  aber  mit  der  obenerwähnten  ver- 
lockend-harmonischen Schilderung  Neumayrs 
von  dem  Aussterben  infolge  des  Kampfes  ums 
Dasein  anzufangen  ? 

So  hinreißend  dieses  Bild  auch  erscheinen  mag, 
so  enstpricht  es  augenscheinlich  doch  nicht  der 
Wirklichkeit.     Zu   allererst   befinden   wir  uns  oft 


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Systeme 

Poslterliär 
Tertiär 

Kreide 
Jura 

Coelenterat 

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Kambrium 
Ordoticiura 

Die    geologische    Verbreitung    einiger    Gruppen    der    Organismenwelt. 


Der  Epoche  der  hercynischen  Gebirgsbildung 
entspricht  das  Aussterben  der  paläozoischen  Cri- 
noiden und  Seeigel,  eine  bedeutende  Verminde- 
rung der  Brachiopoden,  der  Untergang  der  paläo- 
zoischen Korallen  Riti;'osa  und  Tabulata,  —  alles 
Tiergruppen  des  flachen-  Meeres,  wo  die  Einwir- 
kung des  Klimawechsels  besonders  schnell  sich 
zeigte.  Dasselbe  kann  man  von  den  Insekten 
sagen,  von  denen  einige  Ordnungen  in  dieser 
Epoche  ausstarben.  Daraufhin  entstanden  die 
Ordnungen  Colcoptcra,  Ilyjiiciiopfera  und  andere, 
welche  sich  durch  ihre  vollständige  Metamorphose 
bei  der  individuellen  Entwicklung  (Stadien  der 
Larve,  der  Puppe  und  des  erwachsenen  Insekts) 
auszeichneten,  was  als  eine  Anpassung  zum  Schutz 
gegen  die  Winterkälte  betrachtet  wird. 

An  der  oberen  Grenze  des  Mesozoikums  ster- 
ben die  Ammoniten  und  die  Belemniten  aus  und 
es  entwickeln  sich  (aus  letzteren)  die  gegenwärti- 
gen  Ccphalopoda  Dccapuda. 


in  einer  schwierigen  Lage  etwas  bestimmtes  in 
bezug  auf  die  frilheren  geologischen  Epochen 
auszusagen,  da  wir  nicht  imstande  sind,  die  Le- 
bensart der  damaligen  Tiere  zu  beobachten,  be- 
sonders in  bezug  auf  die  Ernährung  der  gänzlich 
ausgestorbenen  Gruppen.  Darüber  kann  man  nur 
unbestimmte  Mutmaßungen  äußern,  die  einander 
oft  stark  widersprechen. 

Neumayr  nimmt  an,  daß  der  Verfall  der 
Trilobiten  als  Folge  der  Entwicklung  der  Nauti- 
liden  eintrat.  Schachert  jedoch  stellt  diesen 
Verfall  mit  der  Entwicklung  der  Meerestiere  im 
Devon  in  Zusammenhang,  obgleich  der  Umschwung 
in  der  Entwicklung  der  Trilobiten  zwischen  dem 
unteren  und  oberen  Silur  stattgefunden  hat. 

Der  Hinweis  auf  den  Verfall  der  Cephalopoda 
Nautiloidea  im  Zusammenhange  mit  dem  Auf- 
treten der  Fische,  der  Untergang  der  Cephalopoda 
Ammonoidea  im  Zusammenhange  mit  der  star- 
ken Entwicklung   der   neuen  Fischgruppe   ist  für 


N.  F.  XXI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


685 


das  Feststellen  einer  Abhängigkeit  dieser  wenn 
auch  zusammenfallender  Erscheinungen  nicht  be- 
weiskräftig. Es  bleibt  gänzlich  unbekannt,  ob  die 
betreffenden  Fische  sich  von  den  Nautiliden  und 
Ammoniten  ernährt  haben  und  sogar  ob  sie  sich 
von  ihnen  genährt  haben  könnten.  Die  Schalen 
dieser  iVIoUusken  erreichen  eine  gehörige  Größe 
und  sind  mit  Schutzdeckeln  versehen,  so  daß  es 
den  Fischen  nicht  besonders  leicht  gewesen  sein 
mußte,  sich  von  ihnen  zu  ernähren  um  so  mehr 
als  die  ältesten  sog.  Panzerfische  weichmäulig  und 
zahnlos  waren.  Außerdem  erwähnt  Neumayr 
selbst,  daß  der  Verfall  der  Nautiliden  nicht  nur 
von  dem  Auftreten  der  Fische,  sondern  auch  vom 
Aufblühen  der  Ammonoideen  begleitet  war,  — 
warum  also  haben  die  Fische,  welche  im  Paläo- 
zoikum die  eine  Gruppe  der  Cephalopoden  ver- 
nichtet hatten,  die  andere,  nach  ihr  folgende  ver- 
wandte   Gruppe    erst   im  Mesozoikum    verdrängt? 

Neumayr  nimmt  als  Grund  des  endgültigen 
Aussterbens  der  Ammoniten  wiederum  die  Ent- 
wicklung der  Fische,  diesmal  der  Knochenfische 
an.  Warum  haben  diese  Fische  keinen  Verlust 
an  ihrer  Zahl  erlitten,  nachdem  sie  alle  Ammo- 
niten vernichtet  hatten  ?  Es  nehmen  doch  einige 
Autoren  an,  daß  das  in  die  gleiche  Zeit  fallende 
Aussterben  der  Plesiosaurier  und  Ichthyosaurier 
im  Zusammenhange  mit  dem  Untergange  der 
Ammoniten,  welche  ihre  Hauptnahrung  ausmach- 
ten, vor  sich  gegangen  ist  (Koken).  Wenn  in 
diesen  Fällen  im  Kampfe  ums  Dasein  eine  Ver- 
nichtung der  einen  Gruppe  durch  die  andere 
stattgefunden  hat,  so  könnte  man  meinen,  die 
Übergabe  der  Position  der  einen  zugunsen  der 
anderen  müßte  allmählich  geschehen  sein.  Von 
den  kämpfenden  Gruppen  würde  die  eine  allmäh- 
lich an  Zahl  zunehmen ,  die  andere  an  Zahl  ab- 
nehmen. Indessen  sehen  wir  dies  nicht.  Die 
eine  stellt  sich  an  Stelle  der  anderen,  blüht  ge- 
wöhnlich nach  dem  Aussterben  letzterer  auf,  sonst 
aber  erscheint  sie  sogar  erst  darnach ,  den  freien 
Platz  der  untergegangenen  Gruppe  in  der  Öko- 
nomie der  Natur  einnehmend. 

DieiSäugetiere  und  die  Vögel  haben  nicht  die 
Reptilien  allmählich  verdrängt,  sondern  sie  fingen 
an  sich  zu  entwickeln,  erst  nachdem  letztere  nach 
dem  Aussterben  einer  ganzen  Reihe  ihrer  Ord- 
nungen plötzlich  ihre  Verbreitung  eingeschränkt 
hatten. 

Die  Korallen  des  IMesozoikums  haben  in  der 
Ökonomie  der  Natur  zweifelsohne  die  Stelle  der 
paläozoischen  Korallen  eingenommen,  jedoch  ver- 
mengten sich  diese  beiden  Gruppen  nicht:  die 
eine  stellte  sich  an  die  Stelle  der  anderen  nach 
deren  Aussterben. 

Der  Untergang  eines  bedeutenden  Teils  der 
Brachiopoden  zum  Ende  des  Paläozoikums  ermög- 
lichte den  Lamellibranchiaten,  die  einen  ähnlichen 
Lebenswandel  führen  und  gerade  im  Mesozoikum 
sich  zu  verbreiten  begannen,  ihre  Stelle  in  der 
Ökonomie  der  Natur  einzunehmen. 

Die    Nacktsamigen     nehmen     den    Platz     der 


Sporenpflanzen  ein,  um  ihrerseits  wieder  den  Di- 
kotyledonen  das  Feld  zu  räumen. 

Das  Obenerwähnte  zusammenfassend,  können 
wir  sagen,  daß  der  Antrieb  zur  Entwicklung  neuer 
Organismengruppen  die  Entstehung  freier  Stellen 
in  der  ( )konomie  der  Natur  war.  Die  eine  Gruppe 
verdrängt  nicht  die  andere,  indem  sie  mit  ihr  in 
Kampf  tritt,  sondern  sie  nimmt  bloß  die  von  ihr 
infolge  ungünstiger  anorganischer,  klimatischer 
Lebensbedingungen  frei  gemachte  Stelle  ein. 

Auf  die  Bevölkerung  vakanter  Stellen  in  der 
Ökonomie  der  Natur  als  auf  einen  wesentlichen 
Faktor  in  der  Veränderung  der  Organismenwelt 
wurde  von  Cuenot  hingewiesen.  Durch  die 
Einnahme  der  freien  Stellen  ist  ein  Stoß  zur  Ent- 
wicklung gegeben,  welche  sodann  augenscheinlich 
ruckweis  vor  sich  gegangen  ist. 

In  der  von  uns  sehr  fernliegenden  Zeit,  sagt 
Cuenot,  als  noch  viele  freien  Plätze  vorhanden 
waren :  Süßwasser,  Sümpfe,  festes  Land,  Erdspalten 
und  Höhlen,  Polargegenden,  Luft  usw.,  war  eine 
Entstehung  neuer  Gruppen  möglich;  jetzt  aber 
bleibt  der  Mutation  immer  weniger  die  Möglich- 
keit, noch  einen  freien  Raum  im  Konzerte  der 
solidarischen  Lebewesen,  die  in  der  Jetztzeit  die 
Erde  bewohnen,  zu  finden.  Die  Evolution  hat 
nicht  aufgehört,  schließt  Cuenot,  sie  ist  nur  stark 
verzögert  —  bis  zum  Einsetzen  einer  neuen  kri- 
tischen Periode  in  der  Erdgeschichte  —  setzen 
wir  hinzu,  wenn  der  Untergang  der  eben  lebenden 
Organismen  die  Verbreitung  neuer  Organismen 
und  Organismengruppen  gestattet  und  ihnen  einen 
Stoß  zur  Entwicklung  geben  wird. 

Im  Hinblick  auf  die  Säugetiere  und  nackt- 
samigen Pflanzen  wird  der  Gedanke  ausgesprochen, 
daß,  bevor  sie  die  vorherrschende  Stelle  einge- 
nommen hatten  (erstere  im  Känozoikum,  letztere 
im  Mesozoikum),  sie  längere  Zeit  im  Hintergrunde 
existierten,  sich  an  Orten  mit  kälterem  Klima  in 
Polargegenden  oder  auf  Plateaus  und  im  Gebirge 
aufhaltend.  Hier  konnte  ihre  Lage  von  den  Rep- 
tilien und  Sporenpflanzen,  welche  an  niedrigen 
Stellen  und  im  warmen  Klima  in  der  Nähe  der 
Meeresufer  lebten,  nicht  strittig  gemacht  werden. 

Als  die  Reptilien  und  Sporenpflanzen  in  ihrer 
Verbreitung  infolge  des  Klimawechsels,  erstere 
am  Ende  des  Mesozoikums,  letztere  am  Ende  des 
Paläozoikums,  eingeengt  wurden,  nahmen  ihren 
Platz  die  Säuger  und  die  Nacktsamigen  ein,  wel- 
che sich  verbreiteten,  neue  Abzweigungen  aus- 
sendend, die  an  die  verschiedenen  Bedingungen 
freigewordener  Stellen  sich  anpaßten.  Aus  den 
einförmigen  Säugetieren  des  IVIesozoikums  z.  B. 
wurden  in  der  Tertiärzeit  bald  alle  die  mannig- 
faltigen Ordnungen,  die  gegenwärtig  die  Säuger 
vertreten.  Die  Übereinstimmung  in  der  Entwick- 
lung der  Säugetiere  und  der  Nacktsamigen  ist  in- 
sofern von  Interesse,  als  diese  ihr  zugrundeliegende 
Idee  von  zwei  amerikanischen  Autoren,  unabhängig 
voneinander  ausgesprochen  wurde,  obgleich  sie 
in  bezug  auf  die  Säuger  schon  vor  einigen  Jahr- 
zehnten  erwähnt  war  (Packard),   in   bezug  auf 


686 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  50 


die  Nacktsamigen  jedoch  erst  neulich  (Wieland). 
Sind  viele  Gruppen  völlig  ausgestorben,  ohne  Epi- 
gonen, neue  Gruppen,  ausgebildet  zu  haben?  Mög- 
lich ,  daß  ihrer  weniger  waren ,  als  bisher  an- 
genommen wurde. 

Wieland  weist  darauf  hin,  daß  Huxley  mit 
der  ihm  eigenen  kühnen  Einsicht  darauf  aufmerk- 
sam macht,  daß  beim  Betrachten  des  Tierreiches 
in  seinem  Ganzen  die  Zahl  der  ausgestorbenen 
Ordnungen  verhältnismäßig  gering  ist;  möglicher- 
weise sind  bloß  an  15"/,,  von  125  Tierordnungen 
jetzt  gänzlich  ausgestorben.  Wieland  nimmt 
augenscheinlich  an,  daß  dieses  noch  eher  für  die 
Pflanzen  gilt,  und  Steinmann  spricht  sogar  die 
Meinung  aus,  mit  der  man  wohl  schwerlich  ein- 
verstanden sein  kann,  ein  Aussterben  ohne  Hinter- 
lassung von  Nachkommen  hätte  überhaupt  nie 
stattgefunden. 

Es  gab  ein  solches  Aussterben  auch.  Wir  er- 
innern z.  B.  an  die  Graptoliten,  Trilobiten,  Ammo- 
niten,  an  die  verschiedenen  Reptilien,  doch  öfter 
fand  das  Verschwinden  der  einen  Gruppe  infolge 
ihrer  Umwandlung  in  eine  andere  Gruppe  statt. 
Die  Aussterbeepochen  waren  somit  auch  Epochen 
der  Entstehung  neuen  Lebens,  obgleich  die  Lebe- 
wesen nicht  immer  gleich  eine  große  Verbreitung 
fanden.  Wir  wollen  noch  die  Frage  über  das 
Aussterben  unter  den  Säugetieren,  welches  in  die 
Tertiär-  und  Quaternärzeit  fiel,  berühren.  Os- 
born  bemerkt,  daß  im  späten  Eozän  und  Oligo- 
zän  vorwiegend  der  Untergang  von  Familien,  im 
Miozän  der  Gattungen  und  im  Postpliocän  der 
Arten  stattfand.  Diesem  könnte  man  noch 
das  Aussterben  der  Ordnungen  im  unteren 
Eozän  (Aiiiblypoda ,  Tacm'odoiifa ,  Condylarthra) 
voranstellen.  Aus  dieser  Aussterbefolge  kann 
man  die  allmählichen  Abschwächungsphasen  des 
mehr  oder  weniger  ununterbrochenen  Prozesses 
ersehen,  und  man  kann  diesen  Prozeß  von  der 
oberen  Kreidezeit  an  in  Zusammenhang  bringen 
mit  den  andauernden  Veränderungen  der  physi- 
kalisch-geographischen Bedingungen. 

Diese  Änderungen  bestanden  in  der  Vermin- 
derung der  Meeresfläche  und  in  der  teilweise  da- 
mit, teilweise  mit  der  immer  weiter  fortschreiten- 
den Gebirgsbildung  im  Zusammenhang  stehenden 
Änderungen  des  Klimas.  Dasselbe  wurde  trock- 
ner,  was  eine  Vergrößerung  der  Wiesen-  und 
Steppenregionen  und  des  Trockenlandes  mit  der 
Entwicklung  von  Gräsern  nach  sich  zog.  Gräser 
kommen  in  Schichten  der  oberen  Kreide  vor,  je- 
doch ihre  bedeutende  Verbreitung  erreichen  sie 
erst  zu  Ende  des  Eozäns.  Diese  Veränderung 
der  Bedingungen  begünstigte  die  Entwicklung 
schnellfüßiger  Grasfresser,  Ungulata,  mit  hohen 
Beinen  und  verlängerten,  hypsodonten,  Zähnen. 
Die  öfters  schwerfälligen  Polydaktyleii  mit  tuber- 
kulären  Zähnen  starben  aus;  es  nahmen  die 
Läufer  mit  verminderter  Zahnzahl  und  seieno- 
donten  Zähnen  überhand.  Daraufhin  fand  unter 
den  P'ormen  mit  reduzierter  Zahnzahl  eine  weitere 
Auslese  statt.     Formen,  welche  konservativer  die 


primitive  Anordnung  der  Carpal-  und  Tarsal- 
knochen  beibehielten,  starben  gänzlich  aus,  es 
überlebten  diejenigen  Tiere,  bei  welchen  sich 
diese  Fußteile  modifizierten,  ihnen  eine  größere 
Festigkeit  beim  Tragen  des  Körpers  verleihend. 
Es  bleibt  uns  übrig  die  Frage  des  Unterganges 
der  postmiozänen  Säugetiere  zu  berühren.  Eigent- 
lich kann  man  diesen  als  Abschluß  des  vorher- 
gegangenen Prozesses  betrachten,  ähnlich  wie 
möglicherweise  auch  die  Eiszeit  —  das  Endglied 
der  mit  der  Gebirgsbildung  im  Zusammenhang 
stehenden  Klimaveränderung  darstellt  (Ramsay). 

Die  Kälte  könnte  auch  nicht  der  unmittelbare 
Grund  des  Aussterbens  gewesen  sein,  jedenfalls 
nicht  immer.  Die  Anpassungsfähigkeit  an  die 
Kälte  beweist  die  Entwicklung  des  Haarkleides 
bei  Tieren  tropischer  Gegenden ,  wie  bei  den 
Elephanten  (Mammut)  und  beim  Rhinozeros.  Je- 
doch kann  die  Kälte,  gleich  anderen  Bedräng- 
nissen (Dürre,  Überschwemmungen),  die  eine  zeit- 
weilige Verminderung  der  Dimensionen  der  Her- 
den nach  sich  ziehen  (nach  Osborn),  zum  Aus- 
sterben führen;  diese  Reduktion  aber  schwächt 
die  Widerstandsfähigkeit  der  Herden  im  Kampfe 
mit  den  Feinden.  Die  Verminderung  der  Indi- 
viduenzahl der  Rassen  geht  vor  sich  auch  infolge 
der  durch  die  Temperatur  hervorgerufenen  Hem- 
mung der  Fortpflanzungsfähigkeit.  Die  Fort- 
pflanzungsperiode, die  in  den  Tropen  das  ganze 
Jahr  fortdauert,  beschränkt  sich  in  den  Polar- 
gegenden und  Hochgebirgen  auf  bloß  zwei  Mo- 
nate oder  auf  noch  kürzere  Zeit. 

Osborn  führt  für  den  Untergang  der  ameri- 
kanischen Pferde  in  der  Eiszeit  besondere,  jedoch 
gleichfalls  vom  Klima  nicht  zu  trennende  Gründe 
an.  Die  nach  Mexiko  emigrierten  Pferde  konnten, 
wie  er  bemerkt,  dank  der  verschiedenartigen 
Lebensbedingungen,  die  sich  ihnen  hier  boten, 
passende  physikalische  Bedingungen  finden.  Das 
Aussterben  geschah  seiner  Meinung  nach  infolge 
der  Epidemien ,  die  durch  Insekten ,  ähnlich  der 
gegenwärtigen  Tsetsefliege  in  Afrika  hervorgerufen 
werden.  Solchen  Epidemien  begegnen  wir  vor- 
wiegend in  der  Zeit  feuchter  Perioden,  oder  in 
Gegenden  mit  regnerischem  Klima.  In  Gegen- 
den ,  wo  zu  gewissen  Jahreszeiten  Insekten  und 
Milben  sich  lebhaft  fortpflanzen,  können  dieselben 
sogar  unmittelbar  verderblich  für  die  Säugetiere 
werden. 

Resümieren  wir  alles  oben  Dargelegte,  so  kön- 
nen wir  konstatieren,  daß  der  Hauptfaktor  zum 
Aussterben  in  den  verschiedenen  geologischen 
Epochen  vorwiegend  im  Klimawechsel  zu  suchen 
ist.  Das  Aussterben  infolge  des  darwinschen 
Faktors  eines  direkten  Kampfes  ums  Dasein  er- 
folgt mit  Bestimmtheit  nur  in  speziellen  Fällen 
und  lokal,  und  fand  wahrscheinlich  vorwiegend 
nach  der  Verbindung  der  Kontinente,  welche 
früher  getrennt  waren,  statt.  So  waren  zur  ersten 
Hälfte  der  Tertiärzeit  Nord-  und  Südamerika  durch 
ein  breites  Meer,  welches  die  Stelle  der  jetzt  exi- 
stierenden Panamalandenge  und  des  großen  Teiles 


N.  F.  XXI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zentralamerikas  einnahm,  voneinander  getrennt. 
In  jener  Zeit  hatten  Nord-  und  Südamerika  eine 
sich  voneinander  ganz  unabhängig  entwickelnde 
Fauna.  Im  Miozän  ging  die  Verschmelzung 
beider  Kontinente  vor  sich,  im  Postpliozän  emi- 
grierten und  vermengten  sich  die  Faunen,  was  in 
Südamerika  das  Aussterben  der  früher  dort  le- 
benden Litopternae  und  Raubtiere  nach 
sich  zog.  Erwähnen  wir  noch  die  sogenannten 
inneren  Gründe  des  Aussterbens,  d.  h.  diejenigen, 
welche  nicht  im  äußeren  Medium,  nicht  in  den 
äußeren  Lebensbedingungen  des  Organismus  liegen, 
sondern  in  ihm  selbst,  in  seiner  Organisation.  Von 
der  Möglichkeit  des  Aussterbens  infolge  solcher 
Faktoren  wurden  ab  und  zu  Andeutungen  ge- 
macht, obgleich  möglicherweise  das  Beste,  was 
man  darüber  aussagen  könnte,  vor  60  Jahren  von 
K.-E.  von  Baer  ausgesprochen  wurde. 

So  schreibt  Baer  unter  anderem  folgendes; 

„Man  stößt  jetzt  nicht  selten  auf  die  —  als 
selbstverständlich  hingeworfene  Behauptung:  wie 
die  Individuen  absterben,  so  müssen  auch  die 
Arten  oder  genetischen  Reihen  von  Organismen 
derselben  Form  ihr  Ende  erreichen.  Eine  solche 
Ansicht  ist  keineswegs  neu."  „Auch  scheint  für 
den  ersten  Augenblick  die  Analogie  so  groß  zu 
sein,  daß  man  leicht  glauben  könnte,  das  Ab- 
sterben des  organischen  Individuums  mache  auch 
das  Aussterben  der  Arten  wahrscheinlich  oder 
gar  notwendig.  Indessen  darf  man  diese  Zu- 
sammenstellung oder  Vergleichung  nur  ein  wenig 
mehr  ins  Auge  fassen,  um  zu  erkennen,  daß  dem 
Sterben  des  Individuums  eine  innere  Notwendig- 
keit zugrunde  liegt,  daß  aber  für  den  Untergang 
der  Arten  eine  solche  weder  empirisch  nach- 
gewiesen, noch  theoretisch  wahrscheinlich  ge- 
macht scheint."  ^) 

„Suchen  wir  nun  nach  einer  solchen,  im 
Lebensprozesse  selbst  liegenden,  also  rein  physio- 
logischen Notwendigkeit  des  Aufhörens  in  der 
Reihenfolge  der  Generationen,  so  scheint  es  mir, 
daß  die  Beweise  aus  der  Erfahrung  fehlen  und 
die  Analogie  keineswegs  groß  genug  ist,  um  auf 
sie  einen  Schluß  zu  gründen."  -J 

Analogie  bedeutet  Ähnlichkeit,  ist  überhaupt 
bloß  ein  Gegenüberstellen,  ein  Vergleich,  nicht 
aber  ein  Beweis,  wie  es  das  französiche  Sprich- 
wort so  treffend  ausdrückt. 

Die  Analogie  ist  hauptsächlich  bei  populärer 
Darstellung  von  Nutzen,  um  vermittels  der  ver- 
einfachten Erklärung  das  klar  zu  legen,  was  sonst 
wegen  der  Kompliziertheit  der  Erscheinungen  und 
des  Mangels   an   ausreichenden  Kenntnissen  nicht 


')  K.  E.  V.  Baer,  Über  das  Aussterben  der  Tierarten 
in  physiologischer  und  nichtpbysiologischer  Hinsicht  über- 
haupt usw.  Bulletin  de  l'academie  imperiale  des  Sciences  de 
St.  Petersbourg.     Tome  III,   1861,  S.  369—370. 

-)  Ibid.  S.  371. 


leicht  verständlich  zu  machen  wäre.  Auch  in 
wissenschaftlicher  Hinsicht  hat  die  Analogie  eine 
Bedeutung  als  Heuristik,  als  ein  auf  der  Intuition 
beruhendes  Suchen,  als  Ahnung,  dieser  oder  jener 
Verallgemeinerung  im  Forschen  nach  der  Wahr- 
heit; dennoch  bedarf  dieses  Erraten  unbedingt 
einer  Prüfung  und  eines  Beweises,  ohne  selbst  ein 
solcher  zu  sein.  Baer  weist  darauf  hin,  daß  man 
unter  den  jetzt  lebenden  Haustieren  und  wilden 
Tieren  kein  Aussterben,  welches  sich  in  der  Ver- 
minderung der  Fruchtbarkeit  oder  der  Verminde- 
rung des  Wuchses  äußern  könnte,  beobachtet. 
Dieses  wird  auch  nicht  in  bezug  auf  die  ausgestor- 
benen Gruppen  in  vergangenen  geologischen 
Epochen  bemerkt;  im  Gegenteil,  es  starben  mit 
besonderer  Beständigkeit  die  Riesen  aus,  Tiere, 
die  den  Kulminationspunkt  im  Sinne  ihrer  Größe 
erreicht  hatten.  Natürlich,  wenn  man  im  Auge 
behält,  daß  jede  Erscheinung  in  ihrer  Existenz 
einen  Anfang,  eine  Mitte  und  ein  Ende  hat, 
so  veranlaßt  die  Gegenwart  dieser  drei  Phasen 
sie  mit  der  Jugend,  der  Reife  und  dem  Alter  im 
Leben  des  Individuums  zu  vergleichen;  jedoch 
wäre  es  seltsam,  daraus  den  Schluß  zu  ziehen, 
daß  das  Ende  unbedingt  dem  Alter  entspräche 
und  kann  man  diese  Behauptung  nicht  ernst 
nehmen. 

Mir  scheint,  man  kann  behaupten,  daß  ich  in 
dem  vorliegenden  Aufsatz  die  Abhängigkeit  der 
Entwicklung  der  Organismenwelt  von  den  physi- 
kalisch-geographischen (klimatischen)  Bedingungen 
nicht  nur  ganz  genau,  sondern  auch  noch  viel 
bestimmter  und  entschiedener,  als  es  bis  dahin 
durch  andere  geschehen  ist,  dargelegt  habe. 

Der  Zweifel  an  der  Möglichkeit  eines  gleich- 
zeitigen Klimawechsels  auf  der  ganzen  Erd- 
oberfläche infolge  geologischer  Vorgänge  (siehe 
z.  B.  in  den  Arbeiten  des  geologischen  Kon- 
gresses in  Kanada  die  Schrift  von  v.  Lo- 
zinsky)  hielt  davon  ab,  dieses  früher  zu  tun. 
Indessen  scheint  eine  solche  Allgemeinheit  in  den 
physikalisch  •  geographischen  Veränderungen  klar 
genug  hervorgehoben,  sogar  in  den  von  Schu- 
chert  in  denselben  Arbeiten  des  Kongresses  ge- 
gebenen Daten  über  die  Ansichten  seiner  Vor- 
gänger   (Suess,  Lapparent,  Chamberlin). 

Es  wurde  mitunter  erwähnt,  daß  der  Grund 
zum  Aussterben  nicht  die  klimatischen  Bedingun- 
gen gewesen  sein  könnten,  wegen  deren  allmäh- 
lichen Veränderungen.  Wenn  nun  aber  Cuviers 
Katastrophismus  dem  Uniformitarianismus  Lyells 
und  von  Hoffs  Platz  gemacht  hat,  so  werden 
in  letzter  Zeit  diesem  Grenzen  gezogen ,  indem 
man  zugibt,  daß  die  Veränderungen  der  Erde 
und  ihrer  physikalisch-geographischen  Bedingungen 
nicht  immer  mit  gleicher  Geschwindigkeit  vor 
sich  gegangen  sind. 


688 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  so 


Anregungen  und  Antworten. 


Bewegungen  von  Insekten  zur  Nahrungssuche.  Folgende 
Beobachtungen  am  Admiralschmetlerling  machte  ich  in  Sep- 
tembertagen in  einem  Obstgarten,  in  welchem  die  Schmetter- 
linge der  genannten  Art  oft  an  von  Wespen  angefressenem 
und  faulendem   Fallobst  saugten. 

1.  Ein  am  Fallobst  saugender  Falter,  den  ein  vorbei- 
kommender Mensch  oder  Hund  oder  eine  ihn  störende  große 
Fliege  aufscheucht,  fliegt  fast  stets  in  I — 3  m  Höhe  auf  einen 
der  Obstbäume  und  läßt  sich  dort  mit  ausgebreiteten  Flügeln 
auf  einem  Blatt  nieder.  Ein  diesen  Platz  spontan  verlassen- 
der Falter  dagegen  kommt  stets  herabgeflattert  und  nähert 
sich  im  Pendelflug  Früchten  am  Boden.  Will  mans  anders 
hören,  so  scheint  er  im  ersten  Falle  negativ  geotaktisch, 
doch  kann  positive  Phototaxis  damit  verbunden  sein;  im 
zweiten  Falle  dagegen  kann  von  positiver  Geo-  und  Chemo- 
taxis gesprochen  werden. 

2.  Das  Aufsuchen  einer  am  Boden  liegenden  Frucht  ge- 
schieht meist  wesentlich  unter  sich  allmählich  herabsenkendem 
pendelnden  Hin-  und  Herfliegen  über  ihr  mit  allmählich  sich 
verkleinerndem  Ausschlag.  Der  anlockende  Reiz  wird  der 
chemische  sein;  der  Falter  nähert  sich  aber  nach  Gesagtem 
der  Keizquelle  nicht  durch  stetes  Eindringen  in  stärker  duft- 
geschwängertes Gebiet,  sondern  unt-.r  umkehren  zu  kürzerem 
Rückflug  nach  jedesmaligem  Überschreiten  des  Duftmaximums, 
also  unter  Mitwirkung  des  Gedächtnisses  und  zwar  unter 
kombinierter  Verarbeitung  von  äußeren  (chemischen)  und  kin- 
ästhetischen  Reizen. 

3.  Schließlich  aber  wird  die  Frucht  nicht  angeflogen,  son- 
dern der  Faher  läßt  sich  in  ihrer  Nähe  nieder  und  kriecht 
dann  zu  ihr  hin.  Gewöhnlich  sieht  man  ihn  nach  dem  Sich- 
niederlassen und  vor  Beginn  des  Hinkriechens  sich  durch  eine 
Wendung  genau  in  die  Richtung  auf  die  Reizquelle  hin  ein- 
stellen. Diese  Wendung  bis  zu  dem  Moment,  wo  beide 
Fühlerenden  augenscbeialich  in  gleichstarkem  chemischem  Reiz 
sind,  ist  eine  chemotaktische  Reaktion  in  Rein- 
heit und  somit  für  das  Vorkommen  von  solchen  ein  so  deut- 
liches Beispiel,  wie  man  es  selten  haben  kann.  —  Ich  be- 
merke, daß  Optisches  so  gut  wie  sicher  nicht  mitwirkt,  da 
die  Reizquelle,  die  faulende  Frucht,  stets  von  unauffälliger 
brauner  Farbe  ist,  oft  zwischen  Geäst  oder  Gesträuch  versteckt 
liegt  und  nicht  selten  nur  durch  ein  kleines,  zertretenes  Stück 
Frucht  dargestellt  wird,  das  der  menschliche  Beobachter  kaum 
erkennt,  und  das  höchst  unauffällig  gegenüber  anderen  opti- 
schen Eindrücken  am  Orte  ist. 

4.  Den  auf  die  Frucht  zukriechenden  Falter  kann  ein 
Windstoß  oder  die  Notwendigkeit,  Äste  zu  umklettern,  aus 
der  Bahn  bringen.  Das  alsobald  darauf  erfolgende  Sichwieder- 
einstellen auf  die  Frucht  hin  kann  als  rein  chemotaktisch 
erklärt  werden,  so  sehr  auch  der  Eindruck  besteht,  der  Falter 
„lasse  sich  nicht  von  seinem  Ziele  abbringen". 

5.  Das  Hinzukriechen  auf  die  Reizquelle  erfolgt  unter 
ständigem  Auf-  und  Niederschlagen  der  Flügel,  und  dies  bat 
zur  Folge,  daß  alle  auf  der  Frucht  sitzenden  Fliegen  vor  dem 
herannahenden  Falter  flüchten.  Auch  nachdem  er  angelangt 
ist  und  saugt,  reagiert  er  auf  jede  sich  annähernde  kleine  oder 
mittelgroße  Fliege  durch  Flügelschläge,  die  sie  nicht  berühren; 
nur  ziemlich  große  Fliegen  lassen  sich  nicht  vertreiben,  son- 
dern kriechen  so  kräftig  zwischen  den  Beinen  und  dem  Rüssel 
des  Schmetterlings  umher,  daß  dieser  selbst  weicht.  Wahr- 
scheinlich ist  es  wesentlich  der  optische  Eindruck  von  den 
lebhaften  Flügelfarben,  der  die  Fliegen  vertreibt,  und  hierin 
scheint  auch  der  Nutzen  oder  die  Zweckmäßigkeit  der  Flügel- 
farben der  Tagfalter  zum  Teil  —  natürlich  nicht  allein 
hierin  —  zu  liegen,  denn  ähnlich  kann  es  bei  anderen  Tag- 
faltern sein ,  die  beim  Blütenbesuch  mit  Fliegen  zu  konkur- 
rieren haben. 

0.  Wesentlich  anders  als  den  Admiralschmetlerling  sah 
ich  in  jenen  Tagen  vor  einem  anderen  Objekt  Fliegen 
verschiedener  Art  reagieren.     Stinkmorcheln  standen  in  sandi- 


gem Dünengelände  und  wurden  viel  von  rasch  gegen  Wind 
anfliegenden  Fliegen  besucht.  Inwieweit  zieht  sie  chemischer 
Reiz  an,  inwieweit  optischer?  Halte  ich  meine  Handfläche 
im  Sonnenschein  20  cm  schräg  vor  den  Pilz,  so  wird  diese 
angeflogen.  Also  die  chemisch  angelockte  Fliege  reagiert  in 
diesem  Falle,  in  Nähe  der  chemischen  Reizquelle  angelangt, 
auf  irgendeinen  optischen  Reiz,  der  mit  dem  von  der  Reiz- 
quelle ausgehenden  und  vielleicht  den  Fliegen  jener  Gegend 
im  Gedächtnis  sitzenden  nur  entfernte  Ähnlichkeit  hat. 

V.  Franz,  Jena. 

Die  Lage  der  deutschen  naturwissenschaftlichen  Museen 
gestaltet  sich  von  Jahr  zu  Jahr  schwieriger.  Durch  den  Raub 
unserer  Kolonien,  die  Absperrung  vom  Auslande  und  den 
schlechten  Stand  unserer  Währung  sind  Neuerwerbungen 
äußerst  erschwert,  und  die  zur  Verfügung  stehenden  Mittel 
stehen  in  keinem  Verhältnis  zu  den  geforderten  Preisen;  das 
valutastarke  Ausland  dagegen  ist  in  der  Lage ,  deutsches 
Kulturgut  um  wenig  Geld  zu  erwerben.  Wohin  diese  Ver- 
hältnisse führen,  zeigt  das  Schicksal  unserer  Zoologischen 
Gärten,  von  denen  bereits  3  (Breslau,  München  und  Hannover) 
geschlossen  werden  mußten,  und  ähnliches  droht  den  natur- 
wissenschaftlichen Museen.  Sich  gegen  diese  verhängnisvolle 
Entwicklung  zu  wehren,  ist  Pflicht  der  Museumsleiter,  und  ein 
Mittel  hiezu  ist  die  Gründung  einer  Vereinigung 
der  wissenschaftlichen  Beamten  der  deutschen 
naturhistorischen  Museen.  Durch  eine  derartige  Ver- 
einigung würde  es  möglich  sein,  einen  regen  Tauschverkehr 
der  Museen  untereinander  anzubahnen  und  gemeinsame  Unter- 
nehmungen zu  ihrem  weiteren  Ausbau  ins  Werk  zu  setzen. 
Auch  die  zielbewußte  Heranbildung  tüchtiger  Präparatoren 
und  geschulter  Sammler  könnte  von  dieser  Vereinigung  in  die 
Hand  genommen  werden,  die  das  berufene  Organ  für  die  Ver- 
tretung der  Standesinteressen  der  naturwissenschaftlichen 
Museumsbeamten  sein  würde.  Es  wird  deshalb  vorgeschlagen, 
die  Gründung  einer  solchen  Vereinigung  möglichst  ungesäumt 
in  die  Wege  zu  leiten.  Zustimmende  Erklärungen  erbittet 
Prof.  Dr.  Fritze -Hannover,  Provinzialmuseum. 


Gelegentlich  eines  Geologenkongresses  in  Brüssel,  der  sich 
den  Anschein  gab,  der  13.  internationale  zu  sein,  hatten  die 
Franko-Belgier  natürlich  das  Bedürfnis,  auch  dort  mit  ihren 
Kriegsleiden  Reklame  und  sich  interessant  zu  machen.  Den 
geeignetsten  Rahmen  dazu  gab  Loewen  ab.  Es  muß  doch 
festgenagelt  werden,  daß  bei  dieser  Gelegenheit  auch  ein  Ver- 
treter der  ,, Neutralen"  (soweit  diese  nicht  unter  Protest  dem 
gesamten  Zankspiel  ferngeblieben  waren),  nämlich  Lugeon 
aus  Lausanne  seine  Ansichten  über  die  ,,barbarie  allemande" 
vom  Stapel  ließ.  Ich  habe  in  diesen  Blättern  des  öfteren  in 
anerkennendster  Weise  seiner  großen  Verdienste  um  die  Tek- 
tonik der  Alpen  gedacht  und  habe  davon  kein  Wort  auch  nur 
in  Gedanken  zurückzunehmen.  Um  so  mehr  fühle  ich  Anlaß, 
mein  schmerzliches  Mitleid  darüber  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
daß  die  Kriegsepidemien  noch  so  unvermindert  wüten  und  nun 
auch  ein  früher  so  klares  Urteil  zum  Opfer  gefordert  haben. 
Prof.  Dr.  Edw.  Hennig-Tübingen. 


Literatur. 

Titschak,  E. ,  Beiträge  zu  einer  Monographie  der 
Kleidermotte  Tineola  biselliella.  Mit  4  Tafeln  u.  91  Text- 
abbildungen.    Leipzig  '22,  Gebr.  Bomträger. 

Möller,  Prof.  Dr.  M.,  Kraftarien  und  Bewegungsformen. 
Mit  72  Abb.     Braunschweig  '22,  Fr.  Vieweg  &  Sohn,     loo  M. 

Kolk  witz,  Prof.  Dr.  R.,  Die  Pflanzenwelt  der  Umgegend 
von  Berlin.  Mit  1  Karte  und  12  Textabb.  Berlin -Lichler- 
felde  '22,  Naturschutz- Verlag. 


lubftlt:  N.  N.  Vakowlev,  Der  Klimawechsel  als  Hauptfaklor  der  Veränderung  der  Organismenwelt.  S.  681.  —  An- 
regungen und  Antworten ;  Bewegungen  von  Insekten  zur  Nahrungssuche.  S.  6S8.  Die  Lage  der  deutschen  natur- 
wissenschaftlichen Museen.  S.  688.     Geologenkongreß  in  Brüssel.  S.  6SS.  —  Literatur:  Liste.    S.  688. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Flacher  in  Jena. 

Druck  der  G.  PKtz'icben  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b,  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
der  ganzen  Reihe  37.  band. 


Sonntag,  den  17.  Dezember  1922. 


Nummer  51. 


Die  Beziehungen  der  afrikanischen  Tierwelt  zur  südasiatischen. 

Ein  Beitrag  zur  Geographie  der  Tiere. 

Von  Dr.   Willi.  R.  Eckardt,   Essen. 


(Nachdruck  verboten.]  ^^ 

Afrika  südlich  der  Sahara  ist  bezüglich  seiner 
Säugetierwelt  das  formenreichste  Tiergebiet  der 
Erde.  Dieser  Umstand  ist  nach  Da  h  P)  darauf  zu- 
rückzuführen, daß  trotz  aller  Einförmigkeit  des  alten 
ungegliederten  Kontinents  sehr  verschiedene  Le- 
bensbedingungen vorkommen,  denn  es  gibt  in  Afrika 
Regen wald,  Savanne,  Steppe,  Wüste,  Gebirge, 
zahlreiche  und  große  Binnenseen  sowie  Flüsse. 
„Es  fehlt  also  nichts,  was  zur  Differenzierung  der 
Formen  Anlaß  geben  konnte.  Zudem  sind  die 
Temperaturverhältnisse  für  das  Tierleben  äußerst 
günstig,  da  der  allergrößte  Teil  innerhalb  der 
Wendekreise  liegt.  Trotzdem  würde  der  Formen- 
reichtum nicht  ein  so  gewaltiger  sein,  wenn  Afrika 
nicht  sehr  lange  mit  dem  Hauptfesllandkomplex 
der  Erde  in  engem  Zusammenhang  geblieben 
wäre"  (Da hl).  Wenn  dagegen  Afrika  namentlich 
hinsichtlich  der  Artenzahl  der  Insekten  und  Vögel 
gegenüber  Südasien  und  Südamerika  zurücksteht,  so 
ist  die  Ursache  darin  zu  erblicken ,  daß  hier  die 
Vegetation  bei  weitem  nicht  so  reichhaltig  und 
mannigfaltig  entwickelt  ist,  wie  in  jenen  Ländern. 
Nur  im  westlichen  Afrika,  wo  wir  ausgebreiteten 
Hochwald  finden,  sind  die  Bedingungen  für  eine 
reichere  Vogel-  und  Insektenwelt  vorhanden.  Im 
übrigen  Afrika  begünstigte  das  Fehlen  hoher  von 
Ozean  zu  Ozean  in  latitudinaler  Richtung  sich 
erstreckender  Gebirge  und  überhaupt  der  IVIangel 
sehr  hoch  gelegener  Landschaften  von  größerer 
Ausdehnung  sowie  vor  allem  der  Zusammenhang 
der  großen  schwach  gewellten  Gebiete  in  allen 
Teilen  des  Kontinents  zusammen  mit  dem  ziem- 
lich gleichmäßigen  Klima  nach  K.  Dove*)  un- 
gemein die  Ausbreitung  der  gleichen  Formen- 
kreise  aus  der  Großtierwelt  über  weite  Strecken 
des  Weltteils,  ja  in  einzelnen  Fällen  sogar  über 
Gesamtafrika  mit  Ausnahme  der  völlig  wüsten 
Striche.  „Die  eigenartige  Regenverteilung  aber, 
die  wieder  die  Hauptursache  offener  Landschaften 
ist,  diente  so  ebenfalls  zur  wesentlichen  Verbrei- 
tung der  ungeheuren  IVIenge  von  Weidetieren  der 
verschiedensten  Art,  welche  die  endlosen  Savannen 
und  Steppen  der  Hochländer  bevölkerten.  Wir 
finden  deshalb  die  Hauptunterschiede  in  der  Zu- 
sammensetzung der  Tierwelt  innerhalb  dieses 
großen  Erdteils  nicht  etwa  zwischen  dem  äußer- 
sten Süden  und  den  nördlichsten  Randgebieten, 
sondern    vielmehr   zwischen    dem    offenen    Lande, 


einerlei  ob  Wüstensteppe  oder  reiche,  ja  park- 
artige Graslandschaft,  und  der  Zone  der  geschlos- 
senen Urwälder  in  den  äquatorialen  Strichen." 
Dabei  müssen  wir  aber  mit  LeoWaibeP)  den 
Umstand  berücksichtigen,  daß  der  Urwald  an 
Großtieren  hinsichtlich  Arten-  und  Individuenzahl 
arm,  die  offenen  Landschaften  dagegen  an  diesen 
reich  sind.  Wenn  daher  Wal lace  im  Gegensatz 
zu  den  übrigen  Gebieten  eine  westafrikanische 
Tierregion  aufstellt,  so  besagt  diese  Einteilung, 
wie  M.  C.  Eng  eil'-)  treffend  bemerkt,  nichts 
anderes,  als  daß  eben  gewisse  Tierformen  dem 
Leben  in  Waldgegenden,  andere  dem  Leben  in 
offenen  Steppengegenden  angepaßt  sind.  Es 
liegen  aber  der  Wallaceschen  Einteilung  keine 
geologisch -genetischen  Ursachen  zugrunde,  und 
wenn  eine  Anzahl  Tierformen  Westafrikas  auf 
Indien  hinweisen,^)  so  ist  der  Grund  hiervon  darin 
zu  erblicken,  daß  diese  einst  nach  Osten  hin  eine 
weitere  Verbreitung  besessen  haben ,  daß  sich 
aber,  als  im  Laufe  des  Pliozäns  und  Diluviums 
die  Wälder  im  Osten  sich  lichteten,  die  an  den 
Schutz  der  Hylaea  angepaßte  Tierwelt  nach 
Westen  zurückzog,  bzw.  nur  dort  erhalten  blieb. 
Im  allgemeinen  trägt  die  Tierwelt  Afrikas  ein  ost- 
festliches Gepräge;  sie  bildet  aber  doch  den  am 
eigentümlichsten  abgesonderten  festländischen 
Faunakreis  innerhalb  des  Küstenzugs  der  Ostfeste. 
Denn  nie  sind  in  diesen  Raum  eingezogen  Bären, 
Wölfe,  Hirsche,  Marder,  Maulwürfe,  auch  keine 
echten  Rinder,  Schweine,  Ziegen,  Schafe,  Kamele, 
ehe  der  Mensch  Tiere  dieser  Gruppen  für  seinen 
Gebrauch  einführte.*)  Mit  der  indischen  Welt  aber 
wird  das  äthiopische  Tiergebiet,  wie  wir  sehen 
werden,  eng  verknüpft,  und  zwar  bezüglich  der 
höheren  Tierwelt  durch  die  menschenähnlichen 
Affen,  die  echten  Zibetkatzen,  Linsangs,  Palmzibet- 
katzen, Honigdachse,  Elefanten,  Nashörner  und 
Schuppentiere,  die  Nagetiergattungen  Naiiiiosci'u- 


')  Grundlagen  einer  ökologischen  Tiergeographie.     Jena, 
1921.     S.  67. 

*J  Wirtschaftsgeographie  von  Alrika.    JeDal9i7,  S.  48/49. 


')  Urwald,  Veld,  Wüste.  Breslau  1921.  Vgl.  auch: 
L.  Waibel,  Lebensformen  und  Lebensweise  der  Tierwelt 
im  tropischen  Afrika.  Versuch  einer  geographischen  Betrach- 
tungsweise der  Tierwelt  auf  physiologischer  Grundlage.  Mitt. 
d.  Geogr.  Ges.  zu  Hamburg  Bd.  29,  1913  (Heidelberger 
Doktor-  Dissertation). 

^)  Verbreitung  und  Häufigkeit  des  Elephanten  und  Löwen 
in  Afrika.  Petermanns  Mitteilungen  Erg.-Heft  Nr.  171.  Gotha 
1911. 

'^]  Vgl.  M.  Schlosser,  Die  fossilen  Säugetiere  Chinas 
nebsl  einer  Odontographie  der  rezenten  Antilopen.  Abh.  d. 
kgl.  Bayr.  Akad.  d.  Wissenschaften  II.  Kl.,  22.  Bd.,  I.  Abt. 
München   1903. 

^1  Vgl.  Kirchhoff,  Pflanzen-  und  Tierbreitung.  Prag, 
Wien,  Leipzig   1899. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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rus,  Golwida  und  Atlieriira,  sowie  eine  Anzahl 
von  Vogelfamilien  bzw.  -gattungen,  so  z.  B.  Bart-, 
Nashornvögel  und  Honigsauger. 

Treten  wir  zunächst  der  Beantwortung  der 
Fragen  näher,  warum  die  genannten  Tierfamilien 
nicht  in  das  transsaharische  Afrika  gelangt  sind, 
und  warum  andererseits  in  Afrika  so  viele  Tier- 
arten, deren  Entstehungsgebiet  Asien  war,  wo  sie 
indessen  ausgestorben  sind,  heute  noch  fortleben 
und  sich,  wie  die  Antilopen  daselbst,  zu  einer 
Formenfülle  ohnegleichen  fortentwickelt  haben. 

Das  Fehlen  der  Maulwürfe  {Talpidnc)  erklärt 
Lydekker')  dadurch,  daß  diese  Tiere  nur  lang- 
sam zu  wandern  vermögen,  und  daß  sie  daher 
nicht  imstande  gewesen  sind,  innerhalb  einer  ver- 
hältnismäßig kurzen  Periode  dorthin  einzudringen, 
d.  h.  zu  der  Zeit,  als  die  Verbindung  mit  anderen 
Regionen  eine  solche  war,  daß  diese  Tiere  in  den 
Zwischengebieten  hätten  leben  können.  Die  echten 
IVIaulwürfe  fehlen  ja  bekanntlich  auch  in  Indien ! 
Sehr  wichtig  erscheint  mir  indessen  die  Tasache, 
daß  die  Maulwürfe  der  paläarktischen  Region  in 
Äthiopien  —  und  nebenbei  bemerkt  auch  in 
Australien  —  durch  Tiere  von  ähnlicher  Lebens- 
weise vertreten  werden,  und  zwar  durch  die  Gold- 
mulle {OirysocJdon's)  und  die  sogenannten  Kap- 
mulle {Bafhyergiis),  die  den  klimatischen,  eda- 
phischen  und  somit  auch  den  Vegetationsverhält- 
nissen Afrikas  weit  besser  angepaßt  sind  als  die 
nordischen  echten  Maulwürfe.-)  Dasselbe  gilt  wohl 
auch  von  den  echten  Schweinen,  die  in  Afrika 
ebenfalls  durch  besser  angepaßte,  wenn  im  all- 
gemeinen auch  ältere,  /-.  T.  sogar  sehr  alte  Typen, 
wie  HylocJincrKS,  vertreten  werden ;  und  was  unser 
Wildschwein  anlangt,  so  ist  von  diesem  bemerkens- 
wert, daß  es  auch  in  die  asiatischen  Tropen  süd- 
lich des  Himalaya  ebensowenig  eingedrungen  ist 
wie  nach  Zentralafrika,  wohin  es  leicht  von  Ägypten 
her,  wo  sich  die  Wildschweine  jahraus  jahrein  in 
den  Zuckerrohrfeldern  auch  ohne  jeden  Wald 
wohlfühlen,  hätte  gelangen  können.  Es  hat  sich 
eben  freiwillig  nicht  den  Tropen  angepaßt,  son- 
dern wird  hier  von  anderen  Arten  vertreten. 

Sehr  einfach  liegen  die  Verhältnisse  ferner  be- 
züglich des  Kamels,  welches  aus  dem  Grunde 
nicht  nach  Südafrika  über  den  feuchtschwülen 
Äquatorialgürtcl  dringen  konnte,  weil  seine  Ver- 
breitung überall  da  aufhört,  wo  die  absolute 
Feuchtigkeit  im  Monatsmittel  mehr  als  12  mm 
beträgt,  wie  Lehmann  nachgewiesen  hat. 

Die  Abwesenheit  von  Ziegen  und  Schafen  — 
mit  Ausnahme  einer  Cafra-hxX.  in  den  Hoch- 
ländern Abessiniens  und  von  Hrmifragus  in  Oman 
im  südöstlichen  Arabien  —  ist  wohl  einfach  da- 
durch zu  erklären,  daß  diese  Tiergruppen  Berg- 
tiere sind,  die  nur  bei  verhältnismäßig  niedriger 
Temperatur   von    einer  Gebirgskette   zur  anderen 

')  Die  geographische  Verbreitung  und  geologische  Ent- 
wicklung der  Säugetiere.     2.  Aufl.     Jena   1901.     S.   315. 

*)  Vgl.  hierüber:  Brehms  Tierleben,  4.  Aufl.,  Bd.  I, 
sowie  Hilzheimer,  Handbuch  der  Biologie  der  Wirbeltiere. 
Stuttgart   191 3. 


Übergehen  können.  Spuren  einer  echten  Kälte- 
periode fehlen  aber  im  äthiopischen  Afrika.  Auf 
die  gleiche  Weise,  wie  bei  den  Ziegen  und  Schafen, 
erklärt  sich  wohl  auch  die  Abwesenheit  von 
Murmeltieren  {Ardomys),  Zieseln  {Spcniiopliüiis), 
Backenhörnchen  (Tamias),  Bibern  (Casioridae), 
Feldmäusen  {Älicrotinac)  und  Pfeifhasen  [Lago- 
iiiys),  da  diese  Tiere  sämtlich  Bewohner  hoch- 
gelegener oder  nördlicher  Gegenden  sind.  Das- 
selbe gilt,  im  allgemeinen  wenigstens,  auch  von 
den  Bären.  Mit  Ausnahme  des  Lippenbären,  der 
eine  besondere  Gattung  {Aldiirsiis)  bildet,  gibt 
es  im  eigentlichen  Indien  keine  Bären,  wenn  auch 
eine  mit  dem  Lippenbären  verwandte  Art  in  den 
Siwalikschichten  gefunden  wurde.  „Unter  diesen 
Umständen",  bemerkt  Lydekker,  „und  mit 
Rücksicht  auf  das  Fehlen  fossiler  Bären  in  den 
Ablagerungen  von  Pikermi  und  Persien  ist  es 
durchaus  nicht  zu  verwundern,  daß  diese  Tiere 
während  der  ganzen  pliozänen  Wanderung  nicht 
nach  Äthiopien  eingedrungen  sind",  auch  wenn 
sie  z.  T.  Gegenden  bewohnen,  in  denen  kein  Wald 
vorkommt. 

Wenn  wir  nun  bedenken,  daß  doch  Südasien, 
insbesondere  Vorderindien,  wahrscheinlich  die  Ur- 
heimat der  Flußpferde,  Giraffen,  Strauße,  Anti- 
lopen, Menschenaffen  und  anderer  Tiere  gewesen 
ist,  so  erscheint  die  Tatsache  auf  den  ersten  Blick 
sehr  merkwürdig,  daß  diese  Tierwelt  in  Südasien 
z.  T.  verschwunden  ist,  wie  z.  B.  Giraffen,  Fluß- 
pferde, Strauße,  während  sie  sich  in  Afrika,  wohin 
sie  erst  verhältnismäßig  spät  eingewandert  sind, 
erhalten  haben.')  Was  die  Mehrzahl  der  in  Asien 
ausgestorbenen  Charaktertiere  anlangt,  so  handelt 
es  sich  um  Steppen-  bzw.  Savannentiere,  die  den 
Urwald  meiden.  Sie  könnten  daher  heute  in 
Vorderindien  noch  ebenso  leben  wie  in  Afrika; 
Klima  und  Pflanzenwuchs  würden  das  ohne  wei- 
teres ermöglichen  Wenn  die  genannten  Tiere 
in  Südasien  trotzdem  ausgestorben  sind,  so  bleibt 
uns  hierfür  keine  andere  Annahme  übrig,  als  daß 
durch  eine  Klimaänderung  die  ursprüngliche 
Baumsteppe  sich  zu  einem  tropischen  Regenwald 
verdichtete,  dem  die  der  Steppe  und  Savanne  an- 
gepaßten Tierformen  weichen  mußten.  Dieses 
Ausweichen  kann  aber  in  der  Hauptsache  nur 
nord-  und  westwärts  stattgefunden  haben.  Als 
dann  gegen  die  Eiszeit  hin  von  Norden  her  Tem- 
peraturerniedrigung und  Sommertrockenheit  ein- 
trat, die  Regenwälder  des  in  Frage  kommenden 
Gebietes  sich  also  wieder  zu  Savannen  und 
Steppen  lichteten,  mußte  wohl  infolge  der  durch 
die  gewaltigen  geotektonischen  Vorgänge  der 
Tertiärzeit  hervorgerufenen  Klimaverschlechte- 
rung am  Nordrande  des  orientalischen  Faunen- 
reiches die  für  Savanne  und  Steppe  charakte- 
ristischen    Tierwelt     größtenteils      verschwinden, 

')  Mit  Afrika  teilt  Arabien  beute  noch  den  Strauß ,  die 
Paviane,  Klippdachse,  Schakal,  Hyäne,  Baisaantilope,  Gazellen 
u.  a.  Der  Löwe  ist  dagegen  in  Arabien  ausgerottet  und  nur 
noch  in  Persien  und  Nordwestindien  auf  asiatischem  Boden 
zu  finden. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


so  daß  Indien  infolge  vorübergehender  Urwald- 
bedecl<ung  nicht  als  Erhaltungsgebiet  für  dieselbe 
bis  auf  den  heutigen  Tag  in  Frage  kam.  Was 
aber  von  der  Pikermifauna  im  Norden  an  Wald- 
oder Gebirgstieren  während  der  Waldperiode 
nicht  den  Anschluß  gefunden  hatte  bei  der  großen 
Südwärtsbewegung  des  Klimas  und  des  Lebens, 
das  blieb  dem  transsaharischen  Afrika  für  immer 
fern. 

Fragen  wir  nun  nach  den  Gründen  der  Ände- 
rungen des  Klimas,  so  muß  man  sich  von  vorn- 
herein darüber  klar  sein,  daß  bloße  Änderungen 
in  der  horizontalen  Konfiguration  von  Festland 
und  iVIeer  allein  diese  unmöglich  hervorrufen 
konnten,  zumal  da  sie  seit  der  Mitte  der  Tertiär- 
zeit gar  nicht  von  besonders  großem  Ausmaße 
gewesen  sind.  Es  bleibt  uns  daher  nur  die  An- 
nahme übrig,  daß  die  in  Frage  kommenden  Länder 
zur  Tertiärzeit  eine  andere  Lage  zum  Äquator 
und  Pol  hatten  und  zwar  eine  sehr  wechselnde, 
die  etwa  in  dem  Sinne  vor  sich  gegangen  sein 
dürfte,  wie  sie  uns  die  Weg n ersehe  Verschie- 
bungshypothese plausibel  machen  will.  Ob  diese 
Theorie  in  allen  ihren  Konsequenzen  richtig  ist, 
soll  uns  hier  nicht  weiter  kümmern.  Nur  das  sei 
gesagt:  Wenn  sie  irgendwo  zu  Recht  besteht, 
dann  ist  das  in  dem  Gebiet  von  Ostafrika  und 
Arabien  der  Fall,  wo  das  Auseinanderreißen  der 
beiden  Festländer  durch  Einsenkung  des  Roten 
Meeres,  des  gewaltigsten  Teiles  der  oslafrikanischen 
Grabenversenkung,  ganz  offensichtlich  ist. 

Das  Urwaldklima  war  aber  wohl  auch  für  das 
Aussterben  des  Flußpferdes  in  Südasien  z.  T.  mit 
maßgebend ,  denn  in  den  meilenweit  von  einem 
bis  an  beide  Ufer  herantretenden  Baumwuchs  be- 
schatteten Urwaldströmen  findet  sich  im  allge- 
meinen nicht  das  typische  Flußpferd,  sondern  in 
der  Regel  in  den  offenen  Gewässern  der  Savannen 
und  Steppen.  Auf  asiatischem  Boden  aber  lebte 
das  Flußpferd  noch  in  historischer  Zeit,  und  zwar 
im  Jordan.  Eine  eigentlich  diluviale  Kältewelle 
hat  Indien  nicht  betroffen ;  eine  gewisse  Verarmung 
der  Großtierwelt  ist  hier  in  der  Hauptsache  das 
Werk  eines  Wechsels  zwischen  einem  tropischen 
und  subtropischen  Regenregime  und  seiner  Fol- 
gen für  den  Pflanzenwuchs,  d.  h.  für  Regenwald 
oder  Savanne.  Da  über  Vorderasien  zudem  der 
ozeanische  Typus  des  Subtropenklimas  mit  Nieder- 
schlägen in  der  kälteren  Jahreszeit  herrscht,  und 
die  Niederschläge  selbst  nicht  gerade  reichlich 
sind,  so  ist  es  kein  Wunder,  wenn  u.  a.  auch  das 
Flußpferd  im  Laufe  des  Pleistozäns  mit  Ausnahme 
des  Jordantales  auf  asiatischem  Boden  schließlich 
gänzlich  ausstirbt. 

Diese  Erwägungen  führen  vor  allem  aber  auch 
die  Tatsache  vor  Augen,  daß  trotz  allen  Ausbrei- 
tungsdranges, welcher  für  die  Organismen  „Leben" 
im  wahren  Sinne  des  Wortes  bedeutet,  die  Tier- 
wanderungen z.  T.  doch  einen  recht  passiven  Cha- 
rakter haben  können.  Die  durch  Änderungen  der 
Pollage  bedingten  Wanderungen  der  Klimazonen 
und  die  dadurch  hervorgerufenen  Änderungen  der 


Vegetation  bilden  den  Hauptanstoß  für  die  Be- 
wegungen. Finden  die  zur  Wanderung  gezwun- 
genen Tiere  einen  ungehinderten  Ausweg,  der  es 
ihnen  erlaubt  den  Länderstrichen  zu  folgen,  auf 
denen  das  Klima  und  seine  Wirkungen  und  mit- 
hin auch  die  Existenzbedingungen  für  die  Tierwelt 
die  gleichen  bleiben,  so  ist  deren  Fortbestehen, 
wenn  kein  Konkurrenzkampf,  sonstige  übermäch- 
tige feindliche  Agentien,  Überspezialisierung  die 
Arten  bedrohen,  gesichert,  andernfalls  geraten  sie 
in  tellurisch  bedingte  Sackgassen,  in  denen  sie 
den  Folgen  der  geänderten  Klimawirkungen  er- 
liegen. Die  großen  Tierreiche  der  Erde  sind  also 
nichts  anderes  als  die  großen  natürlichen  Reser- 
vate, auf  die  der  moderne  Naturschutz  einer 
geistig  und  moralisch  hochstehenden  Mensch- 
heit alle  Rücksicht  noch  weit  sorgfältiger  zu  neh- 
men hat  als  bisher.  Denn  alles,  was  durch  sein 
Verschulden  vernichtet  wird,  ist  unwiederbringlich 
für  immer  dahin! 

Am  meisten  Kopfzerbrechen  hat  den  Tiergeo- 
graphen das  Fehlen  der  Hirsche  in  Afrika  südlich 
der  Sahara  bereitet,  während  das  waldreiche  Süd- 
asien, von  dem  Afrika  so  viele  Tiere  bezogen 
hat,  geradezu  als  die  Region  der  Hirsche  bezeichnet 
wird.  Allerdings  sind  die  südasiatischen  Hirsche 
auf  verhältnismäßig  niedriger  Entwicklungsstufe 
stehen  geblieben:  es  sind  ältere,  durch  die  Um- 
gestaltung der  Naturverhältnisse  der  Paläarktis 
nach  Süden  abgedrängte  Formen.  Der  Grund 
des  Fehlens  der  Hirsche  in  Äthiopien  dürfte  darin 
zu  erblicken  sein,  daß  die  nahe  verwandten  Antilopen, 
unter  denen  sich  doch  sehr  hirschähnliche,  wie  z.  B. 
Kudu,  Bongo  und  Wasserbock  ')  befinden,  jene  nicht 
aufkommen  ließen,  denn  es  ist  geradezu  ein  Grund- 
satz der  Tierverbreitung,  daß  Tierarten  ihr  Gebiet 
von  ähnlich  Gearteten  rein  halten.  Treffend  sagt 
Adolf  Fischer,  ein  scharfer  Tierbeobachter  in 
seinem  schönen  Buche:  „Menschen  und  Tiere 
in  Deutsch-Südwest"  (Stuttgart  und  Berlin  1914): ") 
„Wie  die  Oryx  die  Südkalahari  gegen  Kuhanti- 
lopen sperren,  Kudus  auf  Inseln  stehen,  die  keine 
andere  Großantilope  betritt,  Zebras  und  Wild- 
pferde anscheinend  nie  unter  gleichem  Himmel 
lebten,  schwarze  und  weiße  Nashörner  keine  Ge- 
meinschaft pflegen ,  so  ist  das  eigentliche  Anti- 
lopenland, Afrika,  frei  von  Hirschen  geblieben". 
Ad.  Fischer  ist  aus  guten  Gründen  der  Ansicht, 
daß  Kudus  und  verschiedene  Kleinantilopen 
(Ducker,  Steinbock,  Blaubock,  Klippspringer) 
Spätlinge    des  Feldes    sind    und    den    Nachschub 


')  Die  Mendesantilope  [At/äax) ,  die  den  losen  Wüsten- 
sand tritt,  erinnert  in  ihrem  Fußbau  und  sonstigem  ganzen 
Habitus  starli  an  das  über  das  weiche  Scbneefeld  des  Nordens 
dahinschreitende  Renntier. 

-)  Unter  den  neueren  Werken  liefern  in  erster  Linie 
reichen  Stoff  für  eine  ökologische  Tiergeographie  die  folgen- 
den: Steinhardt,  Vom  wehrhaften  Riesen  und  seinem 
Reiche.  Hamburg  1922.  Schomburgk,  Bwakukama. 
Berlin  1922.  J.  von  Oertzen,  In  Wildnis  und  Gefangen- 
schaft. Berlin  1913.  W.  Kuhnert,  Im  Land  meiner  Mo- 
delle. Leipzig  1918.  Bronsart  v.  Schellendorf,  Afri- 
kanische Tierwelt  i — 5. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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des  großen  Zuzuges  bildeten.  „Vielleicht  erlebten 
sie  noch  die  nachdringenden  Hirsche,  hielten  mit 
anderen  Antilopen  die  Nordgrenze  des  Landes 
besetzt,  nahmen  Wasser  und  Äsung  in  Anspruch, 
so  daß  die  Neuen  keinen  Raum  fanden,  sich  nicht 
festsetzen  konnten,  auf  den  Weitermarsch  südwärts 
verzichteten."  In  der  Tat  erscheint  der  hier  vor- 
getragene Gesichtspunkt  als  der  natürlichste,  denn 
in  Südamerika,  wo  die  Antilopen  überhaupt  fehlen, 
haben  die  Hirsche  vom  Nordkontinent  her  in 
zahlreichen  Arten  ihren  Weg  selbst  bis  in  die 
Pampas  des  äußersten  Südens  gefunden.  Wenn  sich 
aber  in  Afrika  die  Antilopen  ebenfalls  bis  zum  äußer- 
sten Süden  verbreiten  konnten,  so  ist  die  von 
Forschungsreisenden  mehrfach  vertretene  Ansicht, 
daß  der  tropische  Regenwald  vor  nicht  langer  Zeit 
vom  Guineabusen  bis  zur  Ostküste  ohne  Unter- 
brechung gereicht  habe,  nicht  richtig,  denn  Steppen- 
tiere vermögen  keinen  breiten  Urwald  zu  passieren. 
Auch  aus  klimatischen  Gründen  ist  bei  der  seit 
der  Pliozänzeit  bestehenden  Festlandsverschiebung 
im  Osten  Afrikas  ein  in  der  Äquatorialzone  von 
Küste  zu  Küste  sich  erstreckender  Regen-Urwald 
ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  So  konnte  denn 
die  Afrika  wahrscheinlich  hauptsächlich  im  Pliozän 
zugewanderte  artenreiche  Huftierwelt  sich  bis  zur 
Südspitze  des  Kontinentes  verbreiten  und  das 
Land  wurde  zu  dem  an  Säugetieren  reichsten 
der  Erde.  Der  an  salzhaltigem  Kalk  reiche  Bo- 
den der  Steppen  mit  seinem  zumeist  sehr  üppi- 
gem Graswuchs  mußte  die  körperliche  Entwick- 
lung dieser  Tierwelt  begünstigen,  denn  ohne  ihn 
wäre,  wie  Passarge')  bemerkt,  die  Extraktion 
so  enormer  Mengen  von  Kalksalzen  zum  Aufbau 
des  Knochengerüstes  der  Millionen  von  Großtieren 
kaum  möglich  gewesen.  Wir  dürfen  aber  auch 
nicht  vergessen,  daß  Südafrika,  im  Gegensatz  zu 
den  Steppen  der  Nordhalbkugel,  im  Winter  keine 
Niederschläge  empfängt,  weil  es  dann  im  Wir- 
kungsbereich des  subtropischen  Hochdruckgürtels 
zu  liegen  kommt,  und  somit  dem  Wild  und 
Weidevieh  ein  durch  keinerlei  Nässe  verdorbenes 
Futter  bietet,  vielmehr  ein  „Heu  auf  dem  Halm", 
wie  Karl  Dove  zuerst  treffend  gesagt  hat. 

Wir  haben  jedenfalls  in  Afrika  den  typischen 
Fall  vor  uns,  daß  durch  Herstellung  einer  ein- 
stigen engeren  Landverbindung  mit  den  Nachbar- 
kontinenten im  Nordosten  die  Fauna  an  Formen- 
reichtum zugenommen  hat.^) 

Ist  somit  Afrika  der  Bergeraum  für  eine  Tier- 
welt von  wesentlich  pliozänem  Gepräge  geworden, 
so  hat   die  indomalaiische  Fauna  am   besten  den 


')  Aus  dem  Ticrleben  in  der  minieren  Kalahari.  Naturw 
Wochenschr.   1905,  Nr.  22. 

'■')  Für  Sudamerika  das  Gegenteil  annehmen  zu  wollen, 
wie  Kr.  Dahl  (a.  a.  O.)  tut,  ist  nicht  unbedingt  richtig,  da 
das  Aussterben  der  eigentümlichen  südamerikanischen  Huftier- 
welt und  von  Riesentieren  anderer  Art  daselbst  andere,  d.  h. 
klimatische  Ursachen  hatte  und  wohl  weniger  auf  Konkurrenz- 
kampf und  Bedrohung  durch  neue  zugewanderte  Feinde  aus  der 
Raubtierwelt  zurückzuführen  ist.  Vgl.  den  Aufsatz  des  Verf.: 
,, Alfred  Wegeners  Theorie  der  Kontinentalverschiebungcn 
und   die  Tiergeographie".     Naturw.  Wochenschr.   1922,  Nr.  24. 


ehemaligen  Charakter  der  europäischen  Miozän- 
fauna in  merkwürdiger  Reinheit  bewahrt,  wenn 
auch  die  Gattungen  und  Arten  naturgemäß  andere 
geworden  sind.  Das  war  aber  nach  O.  AbeP) 
nur  dadurch  möglich,  daß  sich  in  diesem  Gebiete 
die  Lebensverhältnisse  für  die  Säugetiere  seit  der 
Miozänzeit  nur  ganz  unbedeutend  verändert  haben. 
In  der  Tat  erinnerte  ja  auch  Europa  im  Miozän  geo- 
graphisch stark  anlnsulinde.  Der  miozäne  Charakter 
der  Tierwelt  Südasiens  ist  nach  Abel  ein  Beweis 
dafür,  daß  die  hier  lebenden  Tiere  verweich- 
lichte Typen  sind,  die  einer  durchgreifenden 
.Änderung  des  Klimas  und  deren  Folgen  ebenso 
zum  Opfer  fallen  würden,  wie  es  mit  den  mio- 
zänen  Säugetieren  Europas  der  Fall  war.  Die 
Pikermifauna  hat  sich  unter  solchen  Umständen 
in  Afrika  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  ähnlicher 
Weise  erhalten,  wie  es  mit  der  Miozänfauna  in 
Insulinde  der  Fall  war,  nur  mit  dem  Unterschiede, 
daß  die  Gegensätze  zwischen  der  unterpliozänen 
Tierwelt  Europas  und  der  lebenden  Tierwelt  der 
Massaisteppe  noch  viel  geringer  sind  als  zwischen 
der  Miozänfauna  Europas  und  der  lebenden  Fauna 
des  indomalaiischen  Archipels  (Abel). 

Was  den  Tapir  anlangt,  so  konnte  sich  dieser 
Vertreter  einer  veralteten  Huftiergruppe  in  Teilen 
von  Insulinde  ebenso  wie  in  Mittelamerika  erhal- 
ten, weil  ihm  in  diesen  Gegenden  moderne 
Huftiere,  namentlich  artiodaktyle  und  monodaktyle, 
nicht  zu  sehr  Konkurrenz  machten.  In  Afrika 
würde  seine  Existenz  bei  dem  ungeheuren  Reich- 
tum an  etwa  gleich  großen  modernen  Huftieren 
kaum  möglich  sein.')  Vor  allem  nehmen  hier  das 
Zwergflußpferd  und  das  Okapi  hinsichtlich  ihres 
Aufenthaltsortes  und  ihrer  Lebensweise  seine  Stelle 
ein.  Interessant  ist  aber  außer  bei  den  Tapiren 
auch  die  gleiche  diskontinuierliche  Verbreitung 
der  unter  sich  sehr  nahe  verwandten  Entenarten: 
Cairiii'i  und  Asarcoruis,  die  beide  reine  Wald- 
bewohner sind  und  nicht  übers  Meer  fliegen.  Es 
handelt  sich  in  allen  diesen  Fällen  um  Relikte 
von  erdgeschichtlich  früh  auftretenden   Formen."^) 

Bezüglich  der  Säugetiere  ist  der  Formenreich- 
tum des  indomalaiischen  Tiergebietes  im  all- 
gemeinen entschieden  etwas  geringer  als  in  Afrika 
und  Südamerika.  Der  geringere  Formenreichtum 
hat  nach  Dahl  aber,  zum  Teil  wenigstens,  schon 
darin  seinen  Grund,  daß  die  Geländeformen  auf 
den  Sundainseln  sehr  einförmig  sind;  fehlen  doch 
höhere  Gebirge  und  Wüsten  auf  den  Sundainseln 
ganz,  während  sie  in  Afrika  reichlich  vorhanden 
sind.  Sonst  sind  die  Sundainseln,  soweit  sie  noch 
ihr  ursprüngliches  Gesicht  zeigen,  mit  Urwald 
oder  mit  Alang-Alang  bedeckt. 

In  Afrika  neigt  alles  Tierleben  mehr  zu  Steppen- 
formen ;  der  Urwald  ist  hier  mehr  als  sonst  nur 
Bergeraum  oder  Erhaltungsgebiet  für  primitivere 
Formen   geworden.     Es   sei   nur  an  Gorilla   und 

')  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt  der  Vorzeit.  Jena  1922, 
S.  203/04. 

»1  Vgl.  Dahl,  a.  a.   O. 

')  O.  Heinroth,    Journal  f.  Ornithologie   1922,  S.   241. 


N.  F.  XXI.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


693 


Schimpansen,  an  das  Okapi,  das  westafrikanische 
Zwergflußpferd,  das  Merkmale  von  S//s,  Potauio- 
chocriis,  Eusiis  und  Babinissa  tragende,  erst  1904 
entdeckte  Waldschwein  {Hylodioerits  inci)icriz- 
hagciii  TIios.),  sowie  an  Dorcatlicrütm  aqtiahcuni, 
das  Wasserzwergmoschustier,  den  einzigen  Ver- 
treter der  Traguliden  außerhalb  Südostasiens,  er- 
innert, dem  eine  den  indomalaiischen  Pracht- 
drosseln verwandte  Pitta-Art  und  Halbaffen  Ge- 
sellschaft leisten  und  so  für  eine  einst  ununter- 
brochene Hylaea  vom  Guineabusen  bis  Insulinde 
sprechen.  Aber  nicht  nur  in  der  Menge  der 
Antilopen,  Giraffen,  Büffel,  Zebras,  der  grabenden 
Nager,  der  Zahnarmen  tritt  uns  in  Afrika  der 
Steppen-  oder  Savannencharakter  entgegen,  son- 
dern hier  zeigt  sich  auch  in  echt  tropischen  Ver- 
tretern als  südasiatischen  Reminiszenzen  eine  ge- 
wisse Emanzipation  vom  Waldleben.  So  ist  der 
afrikanische  Elefant,  obwohl  noch  mehr  „Baum- 
fresser" als  sein  indischer  Vetter,  doch  mehr  Tier 
der  Baumsteppe,  und  was  die  Nashörner  anlangt, 
so  unterscheiden  sich  die  afrikanischen  in  der 
Lebensweise  in  mancher  Hinsicht  von  den  indischen. 
Es  liegt  das  nach  Sokolowsky')  an  ihrem 
Aufenthaltsort  in  steppenartigen  Gegenden,  und 
zwar  sind  die  asiatischen  als  Waldtiere  als  die 
ursprünglicheren  anzusehen,  die  sich  im  allgemei- 
nen den  Tapiren  in  ihrem  Benehmen  anschließen ; 
sie  besitzen  außerdem  als  Bewohner  der  Wald- 
dickichte einen  panzerartig  von  mächtigen  Haut- 
decken umhüllten  plumperen  Körper ,  der  den 
Tieren  als  Widerstand  beim  Durchbrechen  des 
Dickichts  dient  und  ihnen  das  vorweltliche  Aus- 
sehen verleiht.  Die  afrikanischen  Nashornarten 
dagegen  besitzen  als  Steppenbewohner  eine  wenn 
auch  dicke,  so  doch  glattere  Haut,  deren  Beschaffen- 

')  Genossenschaftsleben    der    Säugetiere.      Leipzig    1910, 
S.  96/97. 


heit  ohne  weiteres,  d.  h.  nicht  erst  durch  das  Vor- 
handensein weicher  Falten  an  den  Gelenken,  wie 
es  bei  den  asiatischen  Verwandten  der  Fall  ist, 
eine  ausgiebige  Bewegung  gestattet.  Auch  im 
Kiefer-  und  Zahnbau  erweisen  sich  die  südasiati- 
schen Nashornarten  als  primitiver.  ^) 

Betrachtungen  wie  die  vorstehende,  auch  wenn 
sie  wie  diese  nur  skizzenhaft  oder  aphoristisch 
sind,  dächte  ich,  zeigten  zur  Genüge,  daß  die  Bio- 
geographie ein  notwendiger  Bestandteil  der  Erd- 
kunde wie  der  Biologie  ist,  der  die  Wissenschaft 
von  den  Lebewesen  überhaupt  erst  abrundet  und 
dem  allgemeineren  Interesse  und  Verständnis  er- 
schließt. Sie  allein  stellt,  in  ihrer  Vollständigkeit 
erfaßt,  von  physiognomischen,  ökologischen  und 
erdgeschichtlichen  Gesichtspunkten  aus  die  großen 
Zusammenhänge  wichtiger  allgemeiner  Züge  her, 
deren  Fülle,  Buntheit  und  Schönheit  einen  Haupt- 
reiz des  naturwissenschaftlichen  und  erdkundlichen 
Studiums  ausmacht  und  mit  in  allererster  Linie 
geeignet  ist,  den  Menschen  auf  einen  höheren 
Standpunkt  der  Moral  allen  Geschöpfen  und  zuletzt 
nicht  zum  mindesten  seinesgleichen  gegenüber- 
zustellen. Solche  Betrachtungen  wirken  anregend 
auf  den  Natursinn  des  Menschen  und  schulen  das 
kausale  biologische  Denken,  indem  sie  zum  Be- 
wußtsein der  habituellen  Verschiedenheit  der  eine 
Gegend  bewohnenden  Lebewesen  führen  und  so- 
mit einzig  und  allein  auch  die  wahre  Grundlage 
für  den  dringend  notwendigen  Schutz  aller  Ver- 
treter der  Tierwelt  abgeben.") 


')  Vgl.  Hilzheimer,  a.  a.  O.  S.  611/12. 

^)  Vgl.  zu  diesem  Aufsatz  auch:  E.Stromer,  Über  die 
Bedeutung  der  fossilen  Wirbeltiere  Afrikas  für  die  Tiergeo- 
graphie. Verh.  d.  deutsch,  zool.  Ges.  1906,  S.  204  ff.,  Leip- 
zig 1906,  sowie:  Methoden  paläogeographischer  Forschung, 
erläutert  an  dem  Beispiele  einstiger  Landverbindungen  des  afrika- 
nischen Festlandes.     Geogr.  Zeitschr.  Bd.  26,  S.  287  ff.,   1920. 


[Nachdruck  verboten,] 


Die  Ausbreituug  des  Menschengeschlechtes. 

Von  J,  Bayer,  Wien. 


Die  Frage,  woher  der  Mensch  gekommen  ist, 
läßt  sich  naturwissenschaftlich  damit  beantworten, 
daß  er  zweifellos  ein  Glied  der  Säugetierwelt  ist 
und  einen  gleichen  Entwicklungsgang  wie  diese 
durchgemacht  hat.  Damit  wollen  wir  uns  aber 
hier  nicht  beschäftigen,  sondern  mit  dem  Problem 
der  Ausbreitung  des  fertigen  Genus  homo,  soweit 
sie  sich  durch  reale  Unterlagen,  also  Funde  seiner 
körperlichen  Überreste  und  manueller  Äußerungen, 
feststellen  läßt. 

Unsere  erste  Fragestellung  wird  also  lauten :  In 
welchem  Gebiete  der  Erde  finden  sich  die  ältesten 
Spuren  vom  Menschen  und  in  welche  Zeit  fallen  sie. 

Nach  der  bisherigen  Ansicht  wäre  die  älteste 
bekannte  Kultur,  das  Chelleen,  fast  über  die 
ganze  Erde  verbreitet  gewesen,  denn  man  hat  die 
Werkzeuge  vom  Typus  Chelles  außer  in  Europa 
auch  in  Afrika,  Asien  und  Amerika  gefunden. 

Sonach  hätte  der  älteste  bekannte  Mensch,  der 


Neandertaler,  schon  von  dem  größten  Teile  der 
Erde  Besitz  ergriffen  und  eine  Lokalisierung  der 
Menschwerdung  oder  wenigstens  Kulturentstehung 
wäre  angesichts  dieses  ungeheuer  ausgedehnten 
Verbreitungsgebietes  nicht  durchzuführen. 

Nun  habe  ich  aber  im  Jahre  1918  zu  zeigen 
versucht,  daß  dem  tatsächlich  nicht  so  ist,  son- 
dern daß  sich  das  echte  alte  Chelleen  auf 
ein  relativ  ganz  kleines  Gebiet  der 
Erde  im  äußersten  Westen  der  alten 
Welt  beschränkt.  Ich  vertrete  seit  damals 
die  Ansicht,  daß  alle  Faustkeilkulturen  außer- 
halb dieses  Gebietes  jünger  sind  und  zwar 
in  dem  Maße  jünger,  als  das  betreffende 
Gebiet  von  jenem  Ausgangspunkte  entfernt  ist. 
Wie  das  zu  verstehen  ist,  daß  dabei  die  geogra- 
phischen Verhältnisse  in  hohem  Maße  für  die 
Ausbreitung  ausschlaggebend  sind  und  es  sich 
nicht  um  eine    reine  Mathematik   der  Entfernung 


694 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  51 


handelt,  versteht  sich  von  selbst.  So  ist  z.  B.,  da 
natürlich  in  erster  Linie  Landausbreitung  in  Be- 
tracht kommt,  Ostasien  früher  von  diesem  Men- 
schen betreten  worden  als  Amerika,  Nordamerika 
früher  als  Südamerika. 

Diese  Ansicht  habe  ich  damit  begründet,  daß 
die  Funde  vom  Chelles- Charakter  in  dem  genannten 
Gebiete  der  Erde  die  geologisch  absolut  ältesten 
sind  und  sich  für  die  außerhalb  dieses  Gebietes 
gelegenen  sowohl  geologisch  wie  typologisch  ein 
jüngeres  Alter  erweisen  läßt. 

Hier  nur  einige  Hinweise:  Das  Prächelleen 
und  Chelleen  Westeuropas  gehört  der  einzigen 
Zwischeneiszeit  des  Diluviums  an,  welche  fau- 
nistisch  durch  Elephas  meridionalis,  Rhinoceros 
etruscus  usw.  im  älteren,  durch  Elephas  antiquus 
und  Rhinoceros  Merckii  im  jüngeren  Abschnitt 
charakterisiert  wird.')  Nirgends  finden  sich  sonst 
so  alte  Spuren,  denn  schon  das  ägyptische  „Alt- 
paläolithikum"  läßt  sich  höchstens  bis  in  den 
älteren  Abschnitt  der  jungquartären  Eiszeit  (Riß- 
und  Würmeiszeit  Pencks),  das  syrische  nur  mehr 
in  den  mittleren  oder  jüngeren  derselben  Eiszeit 
zurückverlegen  und  die  verwandten  amerikanischen 
Funde  reichen  wahrscheinlich  nicht  viel  weiter 
als  in  das  Frühalluvium  zurück. 

Ich  habe  dieses  Pseudo-Altpaläolithikum  nach 
den  von  mir  bei  Askalon  untersuchten  reichen 
und  eindeutigen  Fundplätzen  „Askalonien" 
genannt.') 

Dieses  Askalonien  ist,  wie  aus  dem  Gesagten 
hervorgeht,  von  größter  Wichtigkeit  für  die  Frage 
der  Ausbreitung  der  Menschheit,  nicht  minder 
aber  auch  für  die  gesamte  Kuhurentwicklung. 

Es  lehrt  uns  die  Dinge  nun  mit  ganz  anderen 
Augen  zu  sehen  wie  bisher,  wie  ich  hier  nur 
flüchtig  der  Hauptsache  nach  andeuten  will. 

So  war  es  z.  B.  schon  lange  aufgefallen ,  daß 
die  Geräte  des  Altpaläolithikums,  des  Solutreen 
und  Neolithikums  eine  gewisse  Verwandtschaft 
in  typologischer  und  technischer  Beziehung  zeigen. 
Da  aber  diese  Kulturphasen  nicht  nur  zeitlich 
weit  auseinanderliegen  (besonders  für  den,  der 
noch  an  Pencks  Darstellung  des  Eiszeitalters 
glaubt),  sondern  auch  durch  ganz  anders  geartete 
Kulturen  getrennt  werden  —  Aurignacien  und 
Magdalenien  —  Azilien  —  konnte  man  sich  schwer 
entschließen,  darin  mehr  als  zusammenhangslose 
Wiederholungen  zu  sehen. 

Das  Askalonien  hellt  nun  die  Situation  blitz- 
artig auf.  Es  läßt  erkennen,  daß  in  gewissen 
Gebieten  der  Erde  die  altpaläolithische  Entwick- 
lung ungestört  in  langsamem  Tempo  weiterge- 
gangen ist.  Die  ihre  europäischen  Erscheinungen 
trennenden  Kulturphasen  aber  deuten  an,  daß 
wir  es  im  Diluvium  nicht  allein  mit  diesem  Faust- 


*)  Nach  meiner  neuen  Einteilung  des  Eiszeitalters  in 
zwei  Eiszeiten  und  ein  Interglazial,  worüber  meine  Arbeit 
„Kritische  Gruppierung  und  Neubenennung  der  Abschnitte 
des  Eiszeitalters"  im  nächsten  Mannusheftc  Aufschluß  gibt. 

')  Der  Kulturvcrlauf  im  Sleinzeitalter.  Zeitschr.  f.  Eth- 
nolog.  1919,  S.  171. 


keilkulturkreis  zu  tun  haben,  sondern  daß  eine 
zweite,  bei  ihrem  Erscheinen  von  der  ersten 
unabhängige  Rassen-  und  Kulturgruppe  existierte, 
deren  ursprünglicher  Zusammenhang  mit  der 
ersteren ,  wenn  ein  solcher  überhaupt  besteht, 
jedenfalls  in  eine  Zeit  zurückgeht,  wo  der  Begriff 
„Mensch"  noch  nicht  herausgebildet  war. 

Ich  nannte  die  erste  Gruppe  nach  dem  wich- 
tigsten Gerät  „Faustkeilgruppe",  die  zweite 
nach  demselben  Gesichtspunkte  „Klingen- 
gruppe".') 

Mit  diesen  beiden  Kulturen  haben  wir  von 
nun  an  zu  operieren  und  wir  werden  die  ganze 
altsteinzeitliche  Menschheitsgeschichte  der  Haupt- 
sache nach  als  nichts  anderes  kennen  lernen,  als 
ein  durch  die  klimatischen  Verhältnisse  bedingtes 
Hin-  und  Herwogen  dieser  beiden  Rasse-  und 
Kultursphären  und  zeitweise  Mischungen ,  auf 
welchen  der  ganze  grandiose  Aufstieg  der  Mensch- 
heit im  Alluvium  letzten  Endes  beruht.  -) 

Der  enge  Raum  verbietet  uns,  hier  mehr  als 
eine  ganz  kurze  Skizze  zu  geben,  eine  ausführliche 
Darstellung  ist  in  Vorbereitung.^) 

Um  den  Verlauf  dieses  Phänomens  zu  ver- 
stehen, ist  es  also  notwendig,  den  geologischen 
Verlauf,  genauer  gesagt,  klimatologischen  Wechsel 
während  des  Diluviums  in  die  Betrachtung  ein- 
zuschließen, denn  nur  dieser  enthüllt  uns  die 
tieferen  Gründe  der  so  gewaltigen  Veränderungen 
in  den  Herrschbereichen  der  beiden  Kultur- 
gruppen. 

Wir  werden  dabei  sehen,  daß  die  Verschie- 
bungen der  klimatischen  Zonen  in  der  Steinzeit 
regelmäßig  Verschiebungen  der  Kulturzonen  aus- 
gelöst haben. 

Die  ältesten  Zeugnisse  sicheren  Menschentums 
liefert  die  Faustkeilkultur.  Nicht,  daß  sie  die 
absolut  ältere  wäre,  aber  als  die  Südgruppe  war 
ihr  Schauplatz  von  den  Verheerungen  der  Eiszeit 
verschont  und  so  blieben  ihre  Spuren  erhalten. 
Dies  ist  bekanntlich  in  Westeuropa  der  Fall,  wo 
sie,  wie  oben  erwähnt,  bis  etwa  in  die  Mitte  des 
Interglazials  zurückreichen. 

Inwieweit  diese  älteste  Kultur  auch  in  Nord- 
westafrika beheimatet  ist,  läßt  sich  mangels  ge- 
nauerer Erforschung  noch  nicht  sagen. 

Jedenfalls  hatte  diese  früheste  Menschheits- 
schichte eine  Verbreitung  bis  England,  gegen 
Osten    bis    an    den    Rhein    und    im    Süden    über 


')  A.  a.  O.  S.  177;  diese  Bezeichnung  wendet  nun  er- 
freulicherweise auch  K.  Ulbricht  an  (s.  diese  Wochenschr. 
Nr.  27,  S.  377);  leider  steht  auch  er  auf  dem  unrichtigen 
Standpunkte  der  Penckschen  Chronologie  mit  „warmem 
Moustericn",  w.is  u.  a.  zur  Kolge  bat,  daß  seine  Schätzuneen 
der  absoluten  Dauer  der  Kulturstufen  viel  zu  hoch  gegriffen 
sind. 

-)  Natürlich  fällt  mir  nicht  ein,  es  für  absolut  ausge- 
schlossen zu  halten,  daß  noch  weitere  ,,Urkulturgruppen" 
existieren. 

»)  Das  Buch  wird  unter  dem  Titel  ,,Der  Mensch  im  Eis- 
zeitalter" im  Verlage  von  F.  Deuticke,  Wien  -  Leipzig,  er- 
scheinen. 


N.  F.  XXI.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


69s 


Spanien.     Im  übrigen  Europa  ist  sie  bisher  nicht 
erwiesen. 

Eine  weitere  Ausbreitung  zeigt  schon  die 
nächste  Kulturphase,  das  Acheuleen,  indem  es 
sich  bereits  bis  gegen  Osteuropa  hin  vorschiebt. 
Eine  ähnliche  Verbreitung  kommt  dem  Mousterien 
zu,  das  sich  indes  keineswegs  in  einheitlicher  Aus- 
prägung, sondern  vielmehr  in  stark  lokalgefärbter 
Entfaltung  verfolgen  läßt,  wenn  auch  gewisse 
Werkzeugformen  und  der  geologisch-päläontolo- 
gische  Befund  die  Identifizierung  dieses  Horizontes 
auf  weite  Strecken  hin  in  unzweifelhaft  sicherer 
Weise  gestatten.  Aus  der  Fauna  geht  klar  her- 
vor, daß  es  einer  Eishochstandszeit  angehört.  Es 
ist   der   erste  Vorstoß   der  jungquartären  Eiszeit. 

Die  Zersetzung  des  Altpaläolithikums 
in  Europa. 

Erscheint  das  Chelleen  als  einheitliche  Kultur, 
so  zeigt  das  Acheuleen  und  besonders  das  Mou- 
sterien gewisse  fremdartige  Züge.  Die  technische 
Tendenz  ändert  sich  zusehends  und  stellt  sich 
mehr  und  mehr  auf  die  (dann  im  Jungpaläolithi- 
kum  herrschende)  Klingentechnik  ein. 

Daß  diese  Entwicklung  im  Süden,  z.  B.  in 
Spanien,  später  vor  sich  ging  als  am  Kontinent, 
zeigt  ebenfalls  an,  daß  wir  im  Acheuleen  und 
Mousterien  nur  Phasen  der  Mischung  der  Nord- 
und  der  Südgruppe  vor  uns  haben.  Diese  Mi- 
schung und  ihre  verschiedene  Zeit  im  Norden 
und  Süden  versteht  man  sofort,  wenn  man  sich 
die  Klimaverhältnisse  vergegenwärtigt:  Während 
des  Acheuleen  verschlechtert  sich  das  Klima,  um 
im  jüngeren  Mousterien  direkt  hocharktisch  zu 
werden. 

Es  wurde  also  die  während  des  Interglazials 
in  Nord-  und  Osteuropa  lebende  faustkeillose 
Kultur  nach  Süden  gedrückt  und  sie  vermischte 
sich  in  der  Zeit  des  Anstieges  zur  Eiszeit,  wie  ich 
das  19 19  darlegte.')  Ob  hier  im  Norden  ein 
Prämousterien  oder  Präaurignacien  vorhanden 
war  oder  beides  und  zwei  Wellen  nach  Süden 
gegangen  sind,  möchte  ich  noch  dahingestellt 
sein  lassen,  mir  kommt  es  aber  wahrscheinlicher 
vor,  daß  der  Hauptsache  nach  nur  eine  Klingen- 
kultur im  Spiele  ist,  denn  das  Mousterien  ist  ja 
gegenüber  Chelleen  und  Acheuleen  keine  selb- 
ständige Kultur,  sondern  in  allen  seinen  charak- 
teristischen Formen  noch  ein  Glied  des  Alt- 
paläolithikums, wie  in  bezug  auf  die  (z.  T.  degene- 
rierten) Fäustelformen,  den  Racloir  usw.  Erst 
was  wir  dann  im  Aurignacien  vor  uns  haben,  ist 
ganz  neues  Element  in  reiner  Ausprägung,  in  dem 
nur  in  ganz  verschwindendem  Maße  noch  Er- 
innerungen an  die  verdrängte  Kultur  nachleben 
(z.  B.  Racloirformen  im  älteren  Aurignacien). 

Rückblickend  ist  also  über  das  Altpaläolithi- 
kum  bezüglich  seiner  Verbreitung  zu  sagen,  daß 
es  zuerst  in  Westeuropa  auftritt  (Prächelleen)  und 
sich    bis  zum  Mousterien    über   den    größten  Teil 


')  A.  a.  O.  S.   177. 


Europas  ausbreitet,  hinsichtlich  seines  Verlaufes, 
daß  es  vom  Interglazial  bis  zur  Höhe  des  ersten 
Eisvorstoßes  der  jungquartären  Eiszeit  dauert,  in 
bezug  auf  seine  Entwicklung,  daß  es  seit  dem 
Acheuleen  sichtlich  unter  dem  Einflüsse  der  nörd- 
lichen Kulturgruppe  steht,  von  der  aber  aus  jener 
Zeit  nichts  erhalten  ist.^) 

Sein  ganzer  Verlauf  wird  also  von  den  klima- 
tischen Verhältnissen  diktiert. 

Dort  wo  die  Klingengruppe  nicht  mehr  hin- 
zuwirken vermag,  in  Afrika,  scheint  aber  die 
Chelles- Entwicklung  normal  weitergegangen  zu 
sein,  wenngleich  sie  sich  speziell  in  Nordafrika 
ihren  Fernwirkungen  nicht  ganz  zu  verschließen 
vermochte,  wie  die  Fäustelkulturen  Ägyptens, 
Syriens  usw.  mit  ihren  jungpaläolithischen  Be- 
gleitformen erkennen  lassen. 

Diese  nachaltpaläolithische  Entwicklung  außer- 
halb Europas  haben  wir  oben  als  „Askalonien" 
kennen  gelernt. 

Es  dauert  vom  Verschwinden  des  reinen  Alt- 
paläolithikums aus  Europa  bis  zum  Wieder- 
erscheinen seiner  Formen  im  frühen  Alluvium, 
umfaßt  also  die  ganze  jungquartäre  Eiszeit.  Hier- 
her gehören  sämtliche  diluvialen,  bisher  für  gleich- 
altrig mit  dem  Altpaläolithikum  Europas  gehal- 
tenen Faustkeilkulturen  außerhalb  Europas. 

Somit  ist  das  Askalonien  das  Mittelglied 
zwischen  der  Makroindustrie  des  Altpaläolithikums 
und  frühen  Neolithikums,  welche  beide  (ebenso 
wie  in  gewisser  Beziehung  das  Solutreen)  einer 
und  derselben  Familie  angehören,  der  Faustkeil- 
gruppe.'■) 

Das  Jungpaläolithikum. 
Während  sich  die  reine  Chelleskultur  beim 
Herannahen  des  Eises  allmählich  nach  Süden  ver- 
schiebt (Nordwest -Afrika),  wohin  sie  sich  schon 
während  des  Interglazials  nicht  unwesentlich  aus- 
gedehnt haben  dürfte,  tritt,  offenbar  durch  den 
Moustier- Vorstoß  in  Bewegung  gesetzt,  die  Klingen- 
kultur in  der  Ausprägung  des  Aurignacien  in 
Mittel-  und  Westeuropa  auf  den  Plan,  wo  sie 
alsbald  von  Rußland  bis  zu  den  Pyrenäen  domi- 
nierend wird.  Ihrer  durch  die  körperliche  Be- 
schaffenheit ihrer  Träger  hochgesteckten  Entwick- 

^)  Hier  triU  die  große  Differenz  in  dea  .\nschauungcn 
zwischen  Breuil,  O  b  e  rmaier  usw.  und  mir  hervor,  welche 
im  Acheuleen  und  iVIousterien  selbständige  Kulturen  anneh- 
men, die  alle  möglichen  Wanderungen  durchgemacht  hätten 
und  in  verschiedener  Fazies  aufgetaucht  wären  (West-,  Süd-, 
Ost-Acheuleen  usw.).  Hier  also  Kulturkreise,  bei  mir 
Randerscheinungen,  Kulturzouen. 

■-)  Die  Reihe,  Chelleskeil  —  z.  T.  Solutreeblattspitzc  usw. 
—  Campignien-Faustkeil ,  neolithische  Lorbeerblattspitze,  ist 
also  als  geschlossen  anzusehen ,  ebenso  wie  andererseits  die 
von  der  ältesten  Aurignacien-Klinge  bis  zu  den  Tardenoisien- 
forraen  des  Vollneolithikums.  Die  heutigen  Endpunkte  dieser 
Reihen  sind  Beil  und  Messer.  Gegen  diese  Interpretation 
sprach  bisher,  wie  erwähnt,  der  lange  zeitliche  Abstand,  wel- 
cher zwischen  Altpaläolithikum  und  Neolithikum  angenommen 
wurde.  Nachdem  ich  nun  erweisen  konnte,  daß  es  sich  nur 
um  eine  Eiszeit  handelt,  fügt  sich  alles  harmonisch  in  diesen 
Gedankengang. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  51 


lung  kommt  zugute,  daß  sich  die  klimatischen 
Verhältnisse  in  Europa  infolge  Rückganges  der 
Vereisung  (Aurignac- Schwankung)  längere  Zeit 
beträchtlich  besserten.  Wir  sehen  in  dieser  Zeit 
eine  hohe  Blüte  der  Stein-  und  Knochenindustrie 

—  sicher  war  auch  die  Holzindustrie  sehr  ent- 
wickelt —  und  der  Kunst,  eine  Kultur,  die  aber 
sehr  rasch  in  sich  zerfallen  wäre,  wie  später  das 
Magdalenien,  wäre  nicht  durch  eben  diese  Klima- 
besserung eine  Nordwärtsbewegung  des  Faustkeil- 
gruppeneinflusses ausgelöst  worden,  die  indes  zu 
spät  einsetzte  —  nämlich  bei  bereits  sich  wieder 
verschlechterndem  Klima  —  um  sich  auf  dem 
europäischen  Kontinent  dauernd  halten  zu  können. 
Das   Resultat    dieser   kurzen    Nordwärtsbewegung 

—  bei  der  ich  vorläufig  die  Frage  des  Weges 
offen  lasse  und  ob  es  Bewegung  von  Menschen 
oder  nur  von  Ideen,  Techniken  war  —  ist  das 
Solutreen. 

Das  Solutreen  —  eine  Störung  des  jung- 
paläolithischen   Entwicklungsganges. 

Die  Flächenbearbeitung  ist  eine  fremde  Tech- 
nik in  der  Klingengruppenentwicklung,  welche 
bisher  mit  Steilretusche  gearbeitet  hat.  Nur  die 
Unterlage,  die  Klinge  ist  geblieben.  Das  Solu- 
treen fällt  demnach  aus  dem  Rahmen  des  Jung- 
paläolithikums  heraus  und  ist  keine  normale 
Weiterentwicklung  des  Aurignacien,  sondern  eine 
Mischung  südlicher  Technik  mit  nörd- 
licher Form. 

Sie  hält  sich  —  und  das  ist  bezeichnend  — 
bis  knapp  zum  Maximum  des  zweiten  Vorstoßes 
der  jungquartären  Eiszeit,  dann  bricht  ihre  — 
aus  nun  begreiflichen  Gründen  —  unmotiviert 
sprunghafte  Entwicklung,  wie  es  scheint,  plötzlich 
ab,  und  die  normale  Fortsetzung  des  Aurignacien, 
das  Magdalenien,  erscheint  auf  dem  Plan.*) 

Wäre  diese  Klimaverschlechterung  nicht  mehr 
eingetreten,  so  wäre  es,  wie  man  mit  Sicherheit 
annehmen  kann,  schon  vom  Solutreen  aus  zur 
neolithischen  Entwicklung  in  Europa  gekommen, 
so  hoch  ausgebildet  sind  bereits  in  gewissen  Ge- 
bieten die  SolutreFormen,  z.  B.  in  Spanien,  wo 
sie   einen    direkt    neolithischen  Eindruck  machen. 

So  blieb  es  bei  einem  kurzen  Ansätze  und  es 
lebte  noch  einmal  die-  alte  reine  Jägerkultur 
(Magdalenien)  auf,  ^)  welche  indes  ohne  Befruch- 
tung zum  Untergang  verurteilt  war,  weil  sie 
trotz  aller  Kunsthöhe  zu  einseitig  auf  die  Klingen- 
technik und  auf  eine  durch  die  arktische  Tierwelt 
bedingte  Knochenindustrie  eingestellt  war.  Daher 
war  sie  zu  Ende,  als  es  mit  dieser  Tierwelt  zu 
Ende  war. 


')  In  der  Übersichtstabelle  in:  „Spaniens  Bedeutung  für 
die  Diluvialchronologie",  Mitt.  d.  Anthrop  Ges.  Wien  LI, 
1921,  S.  03,  habe  ich  diese  Stellung  des  Solutieen  nicht  zum 
Ausdruck  gebracht,  da  dort  nur  die  Grundformen,  Keil  und 
Klinge,  Berücksichtigung  fanden. 

'')  Die  Aurignacentwicklung  ist  in  gewissen  der  Solutre- 
entwicklung  entrückten  Gebieten,  besonders  nördlich  des 
SolutrebereicheSi  weitergegangen. 


Das    Capsien    als    Konsequenz 
des    Solutrevorstoßes;     die    Zonen- 
bewegungen  im    Frühalluvium. 

Der  Rückschlag  der  Nordgruppe  nach  Süden 
während  des  letzten  Eisvorstoßes  war  aber  so 
stark,  daß  der  Einfluß  der  Klingenkultur  bis  in 
das  Mittelmeergebiet  vorstieß,  wo  sich  nun  eine 
Klingenkultur  südlicher  Fazies,  das  Capsien,  von 
Spanien  bis  Syrien  ausbreitete,  aus  dem  sich  dann, 
wie  Breuil  zeigte,  das  Azilieri-Tardenoisien  ent- 
wickelte. 

Es  lagern  also  während  des  letzten  Eisvor- 
stoßes 3  große  Zonen  von  Süden  nach 
Norden:  Das  Askalonien  südlich,  des  Nord- 
randes von  Afrika,  das  Capsien  im  Mittelmeer- 
gebiete und  das  Magdalenien  in  Europa  selbst. 
Daß  dem  so  ist,  lehrt  auch  eine  Betrachtung 
der  kulturellen  Erscheinungen  der  Eisrückgangs- 
zeit (Postglazialzeit).  Alle  3  Zonen  setzen  sich 
nach  Norden  in  Bewegung  und  es  läßt  sich  stra- 
tigraphisch  belegen,  daß  auf  die  Magdalenienleute 
die  Azilien-  und  zum  Schlüsse  die  Campignien- 
menschen  gefolgt  sind ,  letztere  als  Überbringer 
der  wichtigen  Makrolithik  des  Askalonien. 

Aus  den  Mischungen  dieser  drei  Kulturzonen 
entstand  dann  das  Neolithikum,  später  immer 
wieder  durch  neue  Wellen  aus  Afrika  beeinflußt. 
So  versteht  man  auch,  warum  das  Bild  der  neo- 
lithischen Entwicklung  so  unendlich  mannig- 
faltig ist. 

Wirft  man  einen  Blick  auf  das  Ganze,  so  sieht 
man,  daß  nicht,  wie  bei  Obermaier,  eine  ver- 
wirrende Menge  von  Kulturen  vielfach  unmoti- 
vierte Züge  in  alle  möglichen  Weltrichtungen 
machen,  sondern  daß  es  sich  nur  um  Bewegungen 
zweier  Hauptgruppen  handelt,  deren  nördliche 
anscheinend  die  geistig  höhere  war,  während  die 
entwicklungsfähigere  Kulturbasis  die  südliche  be- 
saß. Aus  ihrer  endlichen  Verschmelzung  im 
Frühalluvium  entstanden  —  nachdem  wie  erwähnt 
ein  Versuch  in  der  Aurignacschwankung  durch 
nochmalige  Klimaverschlechterung  vereitelt  wor- 
den war  —  nach  einer  noch  Jahrtausende  wäh- 
renden Entwicklung  die  Hochkulturen  der  Welt- 
geschichte. 

Über  die  ursprüngliche  Herkunft  der  beiden 
Gruppen  wäre  zu  sagen,  daß  die  Südgruppe  an- 
scheinend aus  Zentralafrika  stammt,  wo  noch 
heute  die  nach  Klaatsch  dem  Neandertaler  nahe- 
stehenden Westanthropoiden  (Gorilla  und  Schim- 
panse) leben,  während  die  Nordgruppe  im  Laufe 
des  älteren  und  mittleren  Diluviums  aus  Ostasien 
herübergewandert  sein  mag,  wo  derselbe  Autor 
im  Gibbon  und  verwandten  Affen  der  Aurignac- 
rasse  nahestehende  Anthropoiden  sehen  will. 
Diesen  P>agen  läßt  sich  aber  m.  E.  ernstlich  erst 
näher  treten,  wenn  wir  die  fremden  Erdteile  ein- 
mal annähernd  so  genau  kennen  wie  Europa,  und 
es  braucht  wohl  nicht  betont  zu  werden,  daß  es 
sich  bei  alledem  heute  vorerst  nur  um  eine  grob- 
umrissene   Skizze    handeln    kann,   bei   der   es   zu- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nächst  auch  viel  weniger  auf  die  Genauigkeit  als 
auf  die  dem  ganzen  Problem  zugrunde  liegende 
Idee  ankommt: 

Zwei  Kreise  nähern  sich  Europa  von  weit- 
entfernten Gebieten  der  alten  Welt  (altquartäre 
Eiszeit),  lagern  daselbst  eine  Zeitlang  einander 
gegenüber  (Interglazial)  und  kommen  schließlich 
durch  die  klimatische  Veränderung  im  Jungquartär 
in    engere    Berührung,    wobei   sich    die    nördliche 


etwas  verschmälert  und  verlängert  haben  dürfte, 
während  sich  die  südliche  rasch  nach  den  freien 
Seiten  hin  ausbreitete.  Im  Rhythmus  der  klima- 
tischen Erscheinungen  wogen  diese  Zonen  eine 
Zeitlang  hin  und  her  fjungquartäre  Eiszeit),  um 
sich  endlich  in  der  frühen  Nacheiszeit  auf  euro- 
päischem Boden  zu  überlagern  und  zu  vermischen. 
Darin  liegt  die  überragende  Bedeutung  Euro- 
pas für  die  Geschichte  der  Menschheit. 


Einzelberichte. 


Zur  Hodenatrophie. 


Verschiedentlich  schon  wurden  die  männlichen 
Keimdrüsen  auf  ihren  atrophischen  Zustand  hin 
untersucht.  Es  sei  hier  neben  den  bekannten 
Arbeiten  von  Kyrie,  Steinach,  Tandler 
und  Groß,  Tiedje  u.  a.,  die  vor  allem  auf  das 
Verhältnis  der  interstitiellen  zu  den  generativen 
Zellen  Wert  legen ,  an  die  Untersuchungen  von 
Leupold  erinnert,  über  deren  Ergebnisse  ich  in 
Nr.  28  der  Naturw.  Wochenschr.  1921  berichtete. 
In  einer  sehr  beachtlichen  Abhandlung  liefert 
nun  K.  Goette  einen  „Beitrag  zur  Atrophie  des 
menschlichen  Hodens".*)  Leupold  stellte  eine 
Abhängigkeit  der  Hodengewichte  von  der  Körper- 
größe fest,  Goette  hat  nun  auch  eine  Beziehung 
zum  Lebensalter,  zur  Krankheitsdauer  (in  seiner 
Arbeit  handelt  es  sich  nur  um  Schädigungen  die- 
ser Art)  und  zum  Ernährungszustand  beobachtet. 
Aus  seinen  Angaben,  die  sich  auf  eine  histologi- 
sche Untersuchung  von  140  Hoden  aus  der  Frei- 
burger Kriegssammlung  und  auf  Wägungen  bei 
350  weiteren  F'ällen  gründen,  geht  hervor,  daß 
entsprechend  der  Dauer  der  Erkrankung  die 
Atrophie  des  Hodens  zunimmt  und  die  Gewichts- 
zahlen sinken.  Diese  Veränderungen  sind  vor 
allem  bei  schlechtem  Ernährungszustand  zu  be- 
obachten, sonst  sind  die  Differenzen  nicht  so  auf- 
fallend. Das  Durchschnittsgewicht  des  Hodens 
steht  wohl  mit  dem  Lebensalter  in  Zusammen- 
hang (höchste  Gewichtszahlen  im  dritten  Jahrzehnt, 
dann  keine  wesentliche  Änderung);  der  Grad  der 
Atrophie  ist  dagegen  vom  Lebensalter  unabhängig. 
Während  Leupold  in  Übereinstimmung  mit  den 
oben  erwähnten  Autoren  bei  seinen  Untersuchun- 
gen von  der  Voraussetzung  ausging,  daß  das  Ver- 
hältnis der  Zwischenzellen  zu  den  generativen 
Zellen  das  Wichtigste  sei,  mißt  Goette  dem 
mehr  oder  weniger  zahlreichen  Vorkommen  der 
Zwischenzellen  nicht  diese  entscheidende  Bedeu- 
tung bei.  Wohl  konnte  er  in  dieser  Beziehung 
Veränderungen  am  atrophischen  Hoden  beobach- 
ten. So  fand  er  bei  einer  „Atrophie  ersten 
Grades"  (Verschwinden  der  Spermien  und  Sper- 
matiden)   die   Zwischenzellen ,    die    durch    großen 


Kern  und  reichliches  Protoplasma  an  die  Stei- 
nachschen  F-Zellen  erinnerten,  „oft  etwas  ver- 
mehrt". Bei  einer  „Atrophie  zweiten  Grades" 
(Verschwinden  der  Spermiozyten)  ist  die  IMasse 
der  Zwischenzellen  weiter  vergrößert.  Im  „dritten 
Stadium  der  Atrophie"  kann  „das  Zwischengewebe 
schließlich  mehr  Raum  einnehmen  als  die  Kanäl- 
chen". Trotzdem  hält  Goette  diese  Vermehrung 
des  Zwischengewebes  für  keine  absolute,  da  dem 
Verschwinden  des  Hodenepithels  eine  Abnahme 
des  Hodengewichtes  entspricht.  Er  führt  viel- 
mehr die  relative  Vermehrung  des  Interstitiums 
auf  eine  Verschiebung  zurück,  die  durch  die 
Schrumpfung  der  Hodenkanälchen  verursacht  wird. 
Goette  meint,  die  Hodenatrophie  sei  durch  eine 
primäre  Schädigung  des  Samenepithels  bedingt. 
Gustav  Zeuner. 


Eiu  uener  Verjüngungsversuch. 

Über  einen  neuen  Verjüngungsversuch  berichtet 
A.  Gregory  in  einer  vorläufigen  Mitteilung  im 
„Zentralblatt  für  Chirurgie".  *)  Es  handelt  sich 
um  eine  Altersbekämpfung  durch  Hodentrans- 
plantation. Neuartig  und  von  größter  praktischer 
Bedeutung  ist  die  Herkunft  des  Transplantates  in 
diesem  Fall.  Der  Hoden  wurde  nämlich  einem 
an  Lungentuberkulose  gestorbenen  20jährigen 
Manne  5 — 10  Minuten  nach  dem  Tode  entnommen 
und  auf  den  Senilen  übertragen.  Der  Patient  ist 
68  Jahre  alt,  war  seit  4 — 5  Jahren  arbeitsunfähig, 
ermüdete  leicht,  hatte  Atembeschwerden  und  litt 
an  Gedächtnisschwäche.  Seit  7  Jahren  war  keine 
Erektion,  seit  10  Jahren  kein  Koitus  erfolgt.  Nach 
der  Operation  fühlte  er  sich  immer  frischer  und 
rüstiger,  sein  Gang  wurde  leichter,  seine  Be- 
wegungen rascher.  Die  Atemnot  verging.  Der 
Patient  ermüdet  nicht  so  leicht,  fühlt  sich  kräftig 
und  lebensfroh  und  ist  „wie  umgewandelt".  Drei 
Wochen  nach  der  Operation  erfolgte  die  erste 
Erektion,  seither  häufig  und  kräftig.  Der  Ge- 
schlechtstrieb ist  normal,  „wie  vor  20 — 30  Jahren". 
Der  Versuch  wurde  Mitte  April  1922  ausgeführt, 
von    einem    Nachlassen    des    Erfolges    ist    bisher 


')  Veröffentlichungen  aus  der  Kriegs-  und  Konstitutions- 
pathologie.    2.  Bd.,  Heft  5,   1922,  Gustav  Fischer. 


')  A.  Gregory,  Ein  Verjüngungsversuch  mit  Trans- 
plantation von  Hoden,  die  einer  Leiche  entnommen  wurden. 
Zentralblatt  für  Chirurgie.     49.  Jahrg.,  Nr.  36,   1922. 


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keine  Rede.  Über  die  weitere  Wirksamkeit  des 
Transplantates  läßt  sich  natürlich  jetzt  noch  nichts 
sagen.  Der  Transplantationsversuch  von  Gre- 
gory zeigt,  daß  auch  von  Leichen  entnommene 
Hoden  „verjüngend"  wirken.  Sollte  das  Trans- 
plantat dauerhaft  sein,  so  wäre  für  die  Praxis  der 
Altersbekämpfung  ein  großer  Erfolg  errungen. 
Gregory  schneidet  mit  Recht  die  Frage  an,  ob 
sich  Hoden  von  an  Lungentuberkulose  leidenden 
Menschen  besonders  eignen,  da  bekanntlich  deren 
Keimdrüsen  inkretorisch  besonders  wirksam  zu 
sein  scheinen.  Ob  die  Möglichkeit  suggestiver 
Einflüsse  in  Gregorys  Fall  ausgeschaltet  oder 
verringert  worden  ist,  geht  aus  der  Mitteilung 
leider  nicht  hervor,  doch  ist  meiner  Meinung  nach 
ein  so  auffallender  Erfolg  derartigen  Einflüssen 
auf  keinen  Fall  allein  zuzuschreiben,  zumal  die 
Suggestionstherapie  niemals  Erfolge  zeitigte. 
Gustav  Zeuner. 


Über  die  Mykor)iizaiiii/e  der  Nadelhölzer. 

Obwohl  schon  seit  langer  Zeit  bekannt  ist, 
daß  unsere  Waldbäume  fast  ausnahmslos  in  Sym- 
biose mit  Pilzen  leben,  so  ist  es  bisher  doch  noch 
in  keinem  Falle  geglückt,  die  in  Frage  kommende 
Pilzart  mit  Sicherheit  festzustellen.  Vermutungs- 
weise wurde  zwar  schon  ein  Zusammenhang 
zwischen  Elaphomyces  und  Kiefer,  zwischen  den 
Gattungen  Cortinarius,  Russula,  Tricholoma  und 
Tuber  und  der  Eiche  angenommen,  aber  diesen 
Mutmaßungen  haftet  die  Unsicherheit  an,  daß  sie 
sich  bloß  darauf  gründen,  daß  sich  das  Pilzmyzel  bis 
in  den  Hyphenfilz  der  Mykorhizen  verfolgen  läßt. 
Besonders  auffällig  ist  freilich  das  oft  sehr  kon- 
stante Zusammenauftreten  von  Boletusarten  und 
gewissen  Hölzern.  Schon  Woronin  hat  Boletus 
edulis  (Steinpilz)  und  B.  scaber  (Birkenpilz)  als 
Mykorhizenbildner  angesprochen.  Pennington 
weist  auf  die  Beziehungen  zwischen  B.  speciosus 
und  Quercus,  Mc.  Dougal  auf  diejenigen  zwi- 
schen B.  scaber  fuscus  und  Betula  papyrifera  hin. 
B.  Boudieri  lebt  nach  Ouelet  fast  ausschließlich 
unter  Pinus  halepensis,  B.  pictilis  nur  unter  Pinus 
strobus.  Den  prägnantesten  Fall  stellt  wohl,  wie 
Rom  eil  kürzlich  (Svensk.  Bot.  Tidskr.  1921)  aus- 
führte, Boletus  elegans  dar,  der  immer  nur  im 
Verband  mit  der  Lärche -erscheint  und  sie  überall 
dorthin  begleitet,  wo  sie  künstlich  eingeführt  wird. 
Ahnlich  verhält  sich  B.  luteus  zu  Pinus  silvestris 
und  Pinus  montana.  Dieser  Pilz  bildet  Hexen- 
ringe um  die  Bäume,  aber  nur  soweit,  als  das 
Wurzelsystem  reicht,  und  soweit  auch  nur  tritt  er 
aus  dem  Walde  heraus.  In  einem  Fall,  wo  eine 
Pilzgruppe  10  m  außerhalb  des  Waldes  beobach- 
tet wurde,  konnte  durch  Nachgraben  festgestellt 
werden,  daß  eine  Kieferwurzel  bis  hierher  strich. 
Um  in  solchen  Fällen  festzustellen,  daß  es  sich 
tatsächlich  um  den  gesuchten  Mykorhizapilz  Iian- 
delt,  sind  zwei  Wege  möglich ;  erstens  man  iso- 
liert Hyphen  aus  der  Mykorhiza  und  sucht  sie 
zur    Fruchtkörperbildung    zu    bringen    oder    aber 


man  geht  von  bekannten  Pilzen  aus  und  versucht 
mit  ihnen,  Wurzelinfektion  hervorzurufen.  Den 
ersten  Weg  beschritt  M  e  1  i  n  (Svensk.  Bot.  Tidskr. 
192 1)  für  den  Mykorhizapilz  der  Kiefer  und  der 
Tanne.  Es  gelang  ihm,  aus  den  Wurzeln  der 
Kiefer  drei  und  aus  denen  der  Tanne  einen  Pilz 
rein  zu  züchten  und  mit  ihnen  wiederum  pilzfrei 
gezogene  Pflanzen  zu  infizieren,  worauf  die  typi- 
schen Erscheinungen  der  Mykorhiza  zutage  traten. 
Leider  blieb  eine  Fruchtkörperbildung  aus,  doch 
ergaben  sich  Anhaltspunkte  dafür,  daß  es  sich  um 
Hutpilze  handelte.  Interessant  ist  die  Beobachtung, 
daß  diese  Pilze  Nucleinsäuren  als  Stickstoffquelle 
schätzen.  Da  solche  im  Humus  nachgewiesen 
sind,  so  könnte  in  ihrer  Aufschließung  die  Be- 
deutung der  Symbiose  liegen.  Dagegen  war  der 
zweite  Weg  von  Erfolg  gekrönt  (Melin,  Svensk. 
Bot.  Tidskr.  1922),  denn  hier  glückte  der  Nach- 
weis, daß  Boletus  elegans  wirklich  der  Mykorhiza- 
pilz der  Lärche  ist;  steril  aufgezogene  Lärchen- 
pflänzchen  wurden  mit  steril  isoliertem  Hyphen- 
gewebe  von  Boletus  elegans  geimpft,  und  binnen 
kurzer  Frist  lieferten  die  Wurzeln  die  charakte- 
ristischen Mykorhizabilder :  die  Wurzelenden  sind 
von  einem  dicken  Hyphenfilz  umschlungen  und 
im  Innern  der  Wurzeln  machen  sich  die  Pilzfäden 
sowohl  im  eigentlichen  Zelllumen  als  auch  in 
dem  Interzellularräumen  breit;  es  resultiert  also 
die  charakteristische  Kombination  von  ektotropher 
und  endotropher  Verpilzung.  Versuche,  mit  Bole- 
tus edulis  Wurzeln  von  Kiefern  oder  Tannen  zu 
infizieren,  schlugen  fehl,  es  handelt  sich  also  offen- 
bar um  eine  ganz  ausgeprägte  Spezialisierung. 
Dagegen  glückte  die  Kombination  von  Larix  und 
zweier  jener  Pilzstämme,  die  aus  Kiefernwurzeln 
gezogen  waren,  während  der  Tannenpilz  zu  para- 
sitischer Lebensweise  überging,  also  offenbar  zu 
stark  virulent  ist.  Mutmaßlich  liegen  hier  ganz 
ähnliche  Verhältnisse  vor,  wie  bei  den  Rostpilzen, 
bei  denen  man  Formen  mit  starker  und  solche 
mit  geringer  Spezialisierung  feststellen  kann.  Da- 
rüber werden  ja,  nachdem  einmal  eine  feste  Ope- 
rationsbasis geschaffen  ist,  die  nächsten  Jahre 
Aufschluß  geben.  Es  wird  sich  dann  auch  zeigen, 
inwieweit  andere  Arten  und  Gattungen  der  Hut- 
pilze an  der  Mykorhizabildung  beteiligt  sind. 

P.  Stark. 


Die  Keiudarstelliiiii,'  des  Ozons. 

Obwohl  das  Ozon  seit  beinahe  einem  Jahr- 
hundert bekannt  und  obwohl  es  in  theoretischer  und 
praktischer  Beziehung  von  gleich  großer  Wichtig- 
keit ist,  ist  seine  Rein  darstellung  bisher  nicht  ge- 
lungen. Obschon  diese  Tatsache  verständlich  ist, 
wenn  man  sich  der  Schwierigkeiten  seiner  Dar- 
stellung in  hoher  Konzentration  ^)  und  seiner  da- 
mit   wachsenden    Instabilität    erinnert,    befremdet 


')  Vgl.  z.  B.  das  in  Naturw.  Wochenschr.  N.  V.  XX, 
S.  528  besprochene  Rudi  von  M.  Möller,  Das  Ozon. 
(Braunschweig   1921.) 


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es  doch,  daß  sich  chemische  Experimentierkunst 
der  vorliegenden  Aufgabe  noch  nicht  eingehender 
gewidmet  hat.  Seit  seiner  Entdeckung  nämlich 
vermutete  man  im  Ozon  nicht  nur  den  Stoff  der 
Formel  O3,  sondern  glaubte  aus  den  verschieden- 
sten Gründen  daneben  noch  andere  Modifikationen 
des  elementaren  Sauerstoffs  annehmen  zu  sollen; 
so  früher  das  Antozon  (jetzt  als  Hydroperoxyd 
erkannt),  neuerdings  (Harries)  die  Oxozone. 
Einen  Entscheid  über  die  wahre  Beschaffenheit 
des  Ozons  kann  man  aber  offenbar  erst  dann 
fällen,  wenn  man  diesen  Stoff  sicher  rein  dar- 
gestellt hat. 

Die  Reindarstellung  des  Ozons  ist  E.  Riese n- 
feld  und  G.  Schwab^)  gelungen.  Ausgehend 
von  der  Tatsache,  daß  das  reine  Ozon  sehr  ex- 
plosiv ist,  nahmen  sie  die  Bereitung  in  kleinem 
Maßstabe  vor  und  benutzten  zur  Bestimmung  der 
physikalischen  Konstanten  die  Methoden  der  Mikro- 
analyse. Elektrolytisch  gewonnener  Sauerstoff 
wurde  auf  das  sorgfältigste  von  Wasserstoff  be- 
freit und,  getrocknet,  der  Einwirkung  eines  etwa 
8000  Volt  gespannten  500frequentigen  Wechsel- 
stroms unterworfen.  Es  entsteht  ein  Sauerstoff- 
Ozongemisch  von  etwa  10—15%.  Dieses  Ge- 
misch wurde  durch  Kühlung  in  flüssiger  Luft 
kondensiert  und  hierauf  der  gleichzeitigen  Wir- 
kung einer  Wasserstrahl-,  einer  Volmer-  und 
einer  Quecksilberdampfstrahlpumpe  unterworfen. 
Hierbei  verdampft  der  überschüssige  Sauerstoff. 
Die  Forscher  erhielten  so  zunächst  eine  tiefveil- 
gefärbte  Flüssigkeit,  die  eine  Lösung  von  Sauer- 
stoff in  Ozon  ist;  hiernach  trat  eine  lichtblaue 
Flüssigkeit  (Lösung  von  Ozon  in  Sauerstoff)  auf. 
Durch  mehrfaches  Kondensieren  und  Abdampfen 
des  Sauerstoffs  gelangte  man  endlich  zu  einigen 
sehr  stark  veilgefärbten  Tröpfchen,  von  denen 
jeweils  2 — 4  Milligramm  in  kleine  Kapillarkugeln 
abgezapft    und    der  Analyse    unterworfen  wurden. 

Die  Mikroanalyse  der  kleinen  Mengen  Sub- 
stanz ergab  nun  ein  Verhältnis  von  aktivem  zu 
inaktivem  Sauerstoff  wie  1:2,  d.  h.  das  Molekül 
bestand  aus  O3  -[-  O,  war  also  O3,  also  reines 
Ozon.  Diese  Bestimmung  ist  mit  einem  Maxi- 
malfehler von  10  %  ausgeführt  worden  und  hat, 
laut  Beleganalysen,  recht  genaue  Werte  ergeben. 
Es  geht  daraus  zunächst  mit  Sicherheit  hervor, 
daß  das  bei  der  elektrischen  Aktivierung  des 
Sauerstoffs  entstehende  Gas  Ozon  und  nichts 
anderes  sonst  ist,  andernfalls  hätte  es  sich  nicht 
auf  die  beschriebene  sehr  einfache  Weise  vom 
Sauerstoff  trennen  lassen.  Eine  weitere  Stütze 
für  die  Reinheit  des  Ozons  war  seine  Dampf- 
dichtebestimmung. 

An  dem  so  gewonnenen  reinen  Ozon  ließen 
sich  nun  Beobachtungen  machen,  die  als  für  das 
Ozon  kennzeichnend  genannt  werden  müssen. 
Auffallend  ist  zunächst  die  große  Farbintensität 
des  Stoffes.  Der  Faden  einer  hellbrennenden 
Glühlampe  war  durch    ein    plattgedrücktes  Röhr- 

')  Ber.  d.  D.  ehem.  Gesellsch.   55,  S.  208S.      1922. 


chen  mit  flüssigem  Ozon  von  nur  0,2  mm  Durch- 
messer nicht  zusehen!  In  einem  Kühlgefäßchen 
mit  flüssigem  Wasserstoff  erstarrte  das  Ozon  zu 
dunkelveil  gefärbten  Kristallen.  Bei  — 112,3" 
siedet  Ozon.  Das  alsdann  entstehende  gasförmige 
Ozon  ist  von  allen  anderen  Gasen  durch  seine 
intensiv  blaue  F"arbe  unterschieden,  eine  Er- 
scheinung, die  auf  starke  Elektronenlockerung 
schließen  läßt,  was  andererseits  mit  der  Explosi- 
vität des  Stoffes  in  Zusammenhang  steht.  Dennoch 
ist  die  Unbeständigkeit  des  reinen  Ozons  nicht 
gar  so  groß  wie  man  bisher  annahm.  Während 
Warburg  durch  Rechnung  gefunden  zu  haben 
glaubte,  daß  reines  Ozon  bei  16"  innerhalb 
167  Stunden  auf  die  Hälfte  zerfallen  müsse,  ge- 
lang es  Riesenfeld  und  Schwab,  unter  Aus- 
schluß auch  geringster  Mengen  katalysierender 
Stoffe  Präparate  zu  gewinnen,  die  erst  nach 
Wochen  zerfallen  waren. 

Für  die  sogenannten  Oxozone  fand  sich 
nicht  der  geringste  Anhalt.  Aus  dem  Vergleich 
der  kritischen  Daten  von  Sauerstoff  und  Ozon 
ergibt  sich,  daß  etwa  vorhandenes  Oxozon  bei 
der  Analyse  sich  entschieden  bemerkbar  machen 
würde.     Dies  ist  jedoch  nicht  der  Fall.') 

Die  Arbeit  ist  ein  erstes  wohlgelungenes  Bei- 
spiel dafür,  daß  die  Untersuchung  hochexplosiver 
Stoffe  durchaus  im  Bereich  der  Möglichkeit  liegt, 
wenn  man  sie  in  kleinen  Mengen  handhabt  und 
zu  ihrer  Untersuchung  Mikromethoden  anwendet, 
die  in  ihrem  Ausmaß  ungefährlich  bleiben. 

H.  Heller. 


Körperkultur. 

Über  Körperkultur  hielt  Prof.  Rudolf  Martin 
einen  bemerkenswerten  Vortrag  im  Auditorium 
Maximum  der  Universität  München,  der  nun  bei 
Gustav  Fischer  in  Druck  erschienen  ist.')  Einleitend 
zeigte  Martin  den  Gegensatz  auf,  der  zwischen 
dem  griechischen  Erziehungsideal  und  dem  unserer 
eigenen  Kultur  besteht,  die  auf  höchste  Entfal- 
tung des  geistigen  Wesens  hinstrebt.  Die  starke 
und  einseitige  Betonung  des  Geistigen  erklärt  M. 
nur  dadurch,  daß  eine  Grundtatsache  der  Physio- 
logie in  Vergessenheit  geriet  oder  wenigstens  in 
den  Hintergrund  trat,  nämlich  die  Tatsache,  daß 
eine  enge  Wechselbeziehung  zwischen  psychischen 
Funktionen  und  körperlicher  Leistungsfähigkeit 
besteht.  Deshalb  gilt  es,  einen  Ausgleich  zwischen 
geistiger  und  körperlicher  Kultur  zu  finden  und 
natürlichen  Lebensbedingungen  und  Lebensformen 
wieder  näher  zu  kommen,  ohne  das  aufzugeben, 
was  mühsam  erworben  wurde.  Die  Körper- 
übungen haben  nicht  nur  die  Wirkung,  Masse 
und  Leistungsfähigkeit  unserer  Skeletmuskeln  zu 
vermehren,    sondern   sie  tragen  auch  bei    zur  Re- 


')  Demgemäß  sind  alle  MiUeiluDgen  über  das  Auftreten 
von  ,,Oxozoniden''  zu  bewerten;  u.  a.  in  einer  Arbeit  von 
Kuzicka  (Helv.  Chim.  Acta  V,  3.      1922). 

-)  Dr.  Rudolf  Martin,  „Körperkultur".  Eine  akade- 
mische Rede.     40  Seiten.     Jena  1922,  Gustav  Fischer. 


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gulierung  des  Stoffwechsels  und  der  Wärmebildung, 
sie  beeinflussen  das  Herz,  die  Lungen  und  die 
nervösen  Zentralorgane,  was  gewöhnlich  voll- 
ständig übersehen  wird.  Man  verkennt  ferner 
vielfach  die  Wirkungen  der  Leibesübungen  auf 
die  Ausbildung  der  Sinnesorgane,  auf  unsere 
Psyche,  auf  die  geistige  Frische  und  Leistungs- 
fähigkeit, auf  die  Stärkung  des  Willens,  die 
Hebung  der  Entschlußkraft  und  damit  die  Ent- 
wicklung des  persönlichen  Mutes.  Der  Nachweis 
ist  erbracht,  daß  durch  regelmäßige  Körper- 
übungen die  Wachstumsperiode  verlängert  wird 
und  daß  im  Zusammenhang  damit  neue  Entwick- 
lungsmöglichkeiten gegeben  sind,  die  —  wenn  auch 
idioplasmatisch  vorhanden  —  ohne  Körperübungen 
latent  bleiben.  Die  Organe  unseres  Körpers  sind 
imstande,  sich  höherer  funktioneller  Inanspruch- 
nahme anzupassen,  d.  h.  zu  wachsen,  sich  zu  ent- 
wickeln und  ihre  Leistung  zu  vermehren,  aller- 
dings innerhalb  der  durch  die  Erbanlagen  ge- 
gebenen Grenzen.  Das  Erbbild  des  Menschen, 
der  Idiotypus,  kommt  jedoch  nicht  rein  zur  Aus- 
prägung, weil  der  Körper  durch  peristatische 
Momente,  sogenannte  Umwelteinflüsse,  verändert 
wird.  Die  so  veränderte  Erbform  ist  das  Er- 
scheinungsbild oder  der  Phänotypus.  Vererbt  ist 
aber  auch  die  Reaktionsnorm  auf  äußere  Ein- 
flüsse und  damit  bis  zu  einem  Grade  die  mög- 
liche Größe  der  Paravariationen,  d.  h.  der  nicht 
erblichen  Merkmale.  Dies  gilt  auch  für  den  Ein- 
fluß körperlicher  Übungen  auf  den  Phänotypus 
des  einzelnen  Menschen.  Wir  können  niemals 
mehr  erreichen,  als  durch  die  vererbte  Anlage 
gegeben  ist,  aber  wo  körperliche  Minderwertigkeit 
nicht  angeboren  ist,  da  kann  die  Leistungsfähig- 
keit gehoben,  der  Körper  entwickelt,  abgehärtet 
und  widerstandsfähig  gemacht  werden. 

Es  gilt,  die  bestmögliche  Körperbeschaffenheit 
möglichst  vieler  Glieder  des  Volksganzen  zu  er- 
streben, und  zwar  durch  Ertüchtigung  der 
Schwachen.  Damit  wird  die  körperliche  Er- 
ziehung auch  zu  einem  volkswirtschaftlichen 
Faktor  ersten  Ranges,  es  wird  damit  qualitative 
Bevölkerungspolitik  getrieben.  Würden  wir  zu- 
lassen, daß  in  unserem  Volk  die  körperlichen 
Kräfte  zu  schwinden  beginnen,  dann  wäre  es 
außerstande,  im  wirtschaftlichen  Daseinskampf  zu 
bestehen  und  es  würde  so  langsam  dem  Untergang 
entgegengehen. 

Martin  legt  auch  dar,  was  in  den  verschie- 
denen Staaten  des  Auslandes  bisher  zur  körper- 
lichen Ertüchtigung  der  Bevölkerung  getan  wurde 
und  er  zeigt,  was  wir  in  Deutschland  in  dieser 
Hinsicht  aufzuweisen  haben.  Reich  und  Länder 
müssen  mehr  als  bisher  die  körperliche  Erziehung 
der  Jugend  fördern,  diesen  wichtigen  Teil  öffent- 
licher vorbeugender  Gesundheitspflege. 

H.  Fehlinger. 

Torimoore  und  deren  Ausnützung. 

Im  Mai  1920  veranstaltete  der  Verband  tech- 
nischer Vereine  Württembergs  in  Stuttgart  die  erste 


württembergische  Technikerwoche,  auf  der  u.  a. 
Prof.  Dr.  A.  S  a  u  e  r  über  „Geologisches  Vorkommen 
und  Bildungsweise  der  Torfmoore  Württembergs" 
sprach,  anschließend  Oberbaurat  E.  Ganz  über 
„Die  Ausnützung  der  Torfmoore",  Dr.  P.  Schick- 
ler über  „Die  Verwertung  des  Torfes".  Der  In- 
halt dieser  Vorträge  wurde  dann  in  Tageszeitungen 
und  Buchform  veröffentlicht,^)  sie  ergänzen  sich 
gegenseitig  vortrefflich  und  geben,  abgesehen  von 
württembergischen  Belangen,  einen  guten  Über- 
blick über  den  gegenwärtigen  Stand  dieses  für 
Naturwissenschaft  und  Volkswirtschaft  gleich  wich- 
tigen Gebiets;  wir  entnehmen  den  anregenden 
Ausführungen  das  Nachstehende: 

Unter  den  Kohlengesteinen,  Stein-,  Braunkohle 
und  Torf,  gehört  der  letztere  zu  den  Humus- 
st offen,  als  besonders  mächtige  Ansammlung 
derselben.  Nach  dem  geologischen  Vorkommen 
unterscheidet  man  Grünlands-,  Flach-  oder 
Niedermoore  (Riede),  sodann  Moos-  oder 
Hochmoore  und  dazwischen  Übergangs- 
oder Zwischen  moore.  Die  ersteren  entstehen 
in  alten  Flußläufen,  Weihern,  Seen,  mit  nährstoff- 
reichem hartem  Wasser  bedeckten  Niederungen, 
aus  vermodernden  Wasserpflanzen  —  sauren  Grä- 
sern, Schilf,  Rohr,  Binsen  u.  dgl.  —  mit  ebenen 
Oberflächen;  sie  enthalten  vielfach  mineralische 
Zwischenschichten,  die  den  Brennwert  des  Torfs 
herabsetzen.  Auf  solchem  Grünland  können  sich 
mit  den  Übergängen  der  Zwischenmoore  in 
Gegenden  mit  starken  Niederschlägen  Moose  — 
hauptsächhch  Sphagnum  —  ansiedeln,  hiernach 
Wollgras,  Heidel-,  Preiselbeere,  Rosmarin,  Heide 
usw.;  auf  der  absterbenden,  vermodernden  Pflanzen- 
decke wuchert  die  Vegetation  namentlich  in  deren 
Mitte  dicht,  wächst  so  über  die  Umgebung  hinaus 
und  wölbt  sich  oft  mehrere  Meter  nach  oben  zum 
Hochmoor.  Derartige  Bildungen  finden  sich  aber 
auch  auf  plateauartigen  nährstoffarmen,  schwer 
durchlässigen  Hochflächen  mit  reichen  Nieder- 
schlägen und  niederer  mittlerer  Jahrestemperatur; 
ihr  Wasserreichtum  tritt  randlich  und  in  „Kolken" 
inmitten  der  Moosdecke  hervor.  Ein  Hochmoor- 
profil aus  Holstein  ergab  unter  der  Oberfläche 
57"/^  Kohlenstoff,  in  2  m  Tiefe  62  "/u,  in  4  m 
Tiefe  64  "l„,  was  den  nach  der  Tiefe  fortschreitenden 
Verkohlungsvorgang  zahlenmäßig  belegt.  —  Im 
Niedermoor  besteht  die  unterste  charakteristische 
Schicht  meist  aus  Seekreide  (Seekalk,  •  schlick, 
Wiesenkalk,  Moormergel),  wohl  hauptsächlich  aus 
Armleuchtergewächsen  abgeschieden.  Darüber 
folgt  brauner  Faulschlamm,  anscheinend  vor- 
wiegend aus  abgestorbenen  Wassertierchen,  Ol- 
algen  und  ähnlichem  feinem  Material  zusammen- 
gesetzt, das  bei  trockener  Destillation  nicht  weniger 
als  30  "0  ( »Iteer  liefert.  Unter  weiter  wachsender 
pflanzlicher  Vegetation  von  Chara,  Laichkant,  See- 
rose bilden  sich  schwimmende  Rasen,  „Schwing- 


')  Sauer,  Ganz  und  Schickler,  Die  Ausnutzung  der 
Torfmoore,  Stuttgart  1920,  Verlag  K.  Wittwer.  —  Vgl.  auch 
H.  Puchner,  Der  Torf,  Enkes  Bibl.  f.  Chemie  und  Tech- 
nik, 1,  Stuttgart   1920. 


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rasen",  an  den  Ufern  „Verlandungspolster" 
von  Schilfrohr,  Hahnenfuß,  bis  die  von  außen 
nach  innen  fortschreitende  Verlandung  beendet 
ist  und  sich  die  ebene,  dem  ehemaligen  Wasser- 
spiegel entsprechende  Oberfläche  mit  Riedgräsern 
bedeckt.  Bisweilen  schließt  das  Niedermoor  mit 
einem  Erlenbruch  oder  etwas  ähnlichem  ab.  Bei 
rationeller  Entwässerung  liefern  Riede  in  Fluß- 
auen an  der  Oberfläche  einen  schwarzen  süßen 
Humus,  der  für  Wiesen-  und  Gemüsekulturen  un- 
gemein günstig  ist. 

In  feuchtem  Waldboden,  wo  die  Verwesung 
gehemmt  ist,  entwickelt  sich  unter  der  oberfläch- 
lichen Waldstreuschicht  dicht  gelagerter  Roh- 
humus,  Trockentorf,  besonders  im  Buchen-, 
Eichen-,  Birken-  und  Nadelwald  sowie  Erlenbruch, 
unter  Erika,  Preisel-,  Heidelbeere,  Farnkraut,  Seggen, 
Azaleen  u.  dgl.  Dieser  Humus  reagiert  bald  al- 
kalisch —  süßer  Humus  — ,  bald  sauer;  ersterer 
entsteht  auf  nährstoffreichem  bzw.  kalkhaltigem, 
der  saure  Rohhumus  auf  nährstofiarmem  bzw. 
kalkfreiem  Untergrund. 

Bei  Torfgewinnung  sind  alle  Anlagen,  be- 
sonders die  Entwässerung,  auf  einen  vollständigen 
Abbau  des  Torfprofiles  einzustellen,  jedes  andere 
Verfahren  ist  mehr  oder  weniger  Raubbau.  Beim 
Doppelmoor  z.  B.,  wo  sich  ein  Hoch-  auf  einem 
Niedermoor  ausbreitet,  würde  man  zunächst  in 
ersterem  konservierenden  Streutorf  und  Torfmull 
aus  dem  leichten  Moor-  und  P^asertorf  gewinnen, 
welche  große  Mengen  Flüssigkeit  und  Gas  (z.  B. 
Ammoniakgas)  aufsaugen  können.  Fasertorf  wird 
ferner  zur  Herstellung  von  Papier,  Pappe,  Ge- 
spinsten, Verbandstoff  usw.  verwendet,  als  Ersatz 
für  Holz,  Kork,  Filz  u.  dgl.,  als  Baustoff,  Isolier- 
und  Schalldämpfungsmittel.  Sodann  sollte  man 
bei  maschineller  Verarbeitung  Hoch-,  Übergang- 
und  Niedermoorschicht  möglichst  gut  durch- 
mischen, um  ein  stofflich  gleichartiges  Material 
zu  gewinnen,  wobei  die  Faulschlammschicht  wegen 
ihres  erheblichen  Ölgehalts  bei  der  Durchmischung 
besonders  aufmerksam  zu  behandeln  ist.  Die  lie- 
gende Seekreide  sollte  nicht  ausgeräumt  werden, 
sondern  bildet  bei  zweckmäßiger  Entwässerung, 
vielleicht  mit  etwas  oberstem  Torfabfall  gemischt, 
die  Oberfläche  auf  dem  abgebauten  Lager  für  er- 
tragreiche Wiesenkultur.  Ein  Nachwachsen  ab- 
gebauter Moormasse  findet,  wenn  überhaupt  unter 
günstigen  Bedingungen,  in  lOOO  Jahren  nur  um 
etwa  I  m  statt.  Mehr  als  hundertjähriger  Abbau  hat 
schon  viele  Torfmoore  ausgebeutet,  deren  Flächen 
teils  öde  liegen,  teils  land-  oder  forstwirtschaftlich 
benützt    werden;    von    den    schätzungsweise    etwa 

4.2  Mill.  ha  Mooroberfläche  Deutschlands  befinden 
sich  aber  noch  etwa  3,5  Mill.  ha    im  Urzustände. 

Je  nach  Bildungsweise,  Lagerung  und  Alter 
der  Moorschichten,  nach  chemischer  Zusammen- 
setzung, Asche-,  Wassergehalt  und  Gewinnungs- 
weise des  Torfes  ist  dessen  Brennwert  außer- 
ordentlich verschieden.  Er  enthält  durchschnitt- 
lich 58—60%  Kohlenstoff,  1,7  "/o  verfügbaren  und 

4.3  •/„    nicht  disponiblen  Wasserstoff,    sowie  etwa 


34 — Sö^/y  Sauerstoff.  Im  Lager  hat  er  90— 95  "/q 
Wassergehalt,  der  durch  gute  Entwässerung  des 
Moors  auf  80 — 85  %  herabgesetzt  werden  kann. 
Gewonnener  Torf  wird  auf  einen  Trockenplatz 
gebracht  und  der  Luft  ausgesetzt,  dann  in  Haufen 
aufgesetzt,  eingelagert,  und  soll  schließlich  bei 
Handgewinnung  —  „Handstichtorf"  —  nicht  mehr 
als  20 — 25  %  Feuchtigkeit  haben,  bei  Maschinen- 
gewinnung—  „Maschinentorf"  —  25 — 30%,  und 
höchstens  10 — 11  %  Asche.  Über  etwa  25 — 30 "/j, 
Asche  machen  den  Torf  als  Brennstoff  unverwend- 
bar, gute  Brennstoffe  haben  unter  5  %.  Der  Heiz- 
wert von  bestem  deutschem  Reintorf  mit  15 — 18% 
Wasser  ist  etwa  5  200  Kalorien,  bei  Trockentorf 
5100  Kai.,  bei  20"/,,  Feuchtigkeitsgehalt  etwa 
4000  Ka!.,  bei  mittleren  und  schlechten  Torfen 
3500—1500  Kai.  Da  Braunkohle  2500 — 6000  Kai. 
und  Steinkohle  5500  —  8000  Kai.  Heizwert  besitzt, 
ist  Torf  von  diesen  3  Brennstoffen  der  mindest- 
wertige;  er  besitzt  um  so  weniger  Heizwert,  je 
nasser  er  ist,  da  durch  die  Verdampfung  seines 
Wassers  ein  großer  Teil  Wärme  verloren  geht. 
Entwässerung  der  Torflager  ist  also  wirtschaftlich 
Vorbedingung  für  die  Torfgewinnung,  aber  auch 
für  spätere  land-  und  forstwirtschaftliche  Benützung 
der  Abbaufläche.  Zurücklassen  von  Wasserflächen, 
Sümpfen  oder  Ödungen  nach  Ausbeute  der  Moore 
ist  Raubbau  schlimmster  Art. 

Ein  großer  Vorzug  des  Torfes  liegt  darin,  daß 
er  mit  langer,  fast  rußfreier  Flamme  ohne  wesent- 
liche Rauchentwicklung  verbrennt  und  bei  meist 
sehr  geringem  Schwefelgehalt  kein  Anfressen  der 
Ofen  und  Apparate  durch  schweflige  Säure  be- 
fürchten läßt.  Er  ist  deshalb  ein  schätzens- 
werter Behelfsbrennstoff  für  Hausbrand  — 
am  besten  in  rostlosen  Kachelöfen  — ,  für  Dampf- 
kesselfeuerungen, Sud-  und  Braupfannen,  in  Glas- 
hütten, Tonwarenfabriken,  Ziegeleien,  auch  für  die 
Stahl-  und  Eisenindustrie  —  bei  industriellen  An- 
lagen in  sog.  „Vorfeuerung".  Torfbriketts  (aus 
Grus  oder  Pulver  gepreßt)  sind  dafür  ungünstig. 
Als  gutes  Mischungsverhältnis  hat  sich  i  Teil  Torf 
auf  2  Teile  Steinkohle  bewährt,  in  einzelnen  Fällen 
auch  gleiche  Teile. 

Bei  Maschinengewinnung  werden  große 
Rohtorfbrocken  zerkleinert,  gemischt,  geknetet 
und  geformt,  was  bei  der  Verschiedenartigkeit  der 
einzelnen  Schichten  im  geologischen  Moorprofil 
von  größtem  Wert  ist  (vgl.  oben).  Der  nasse 
Torf  hält  das  Wasser  infolge  seines  kolloidalen 
Zustandes  mit  großer  Zähigkeit  fest  und  gibt  es 
auch  bei  andauerndem  Pressedruck  von  4 — 500 
Atmosphären  nur  zum  geringsten  Teil  ab.  Man 
ist  deshalb  im  allgemeinen  auf  die  langwierige 
Lufttrocknung  angewiesen,  die  wieder  vom 
Klima,  der  Witterung  usw.  abhängt.  Nasser  ge- 
frorener Torf  verliert  seinen  kolloidalen  Zustand 
und  wird  nach  Wiederauftauen  für  die  gewöhn- 
liche Aufarbeitung  unbrauchbar.  Da  man  sonach 
nur  mit  der  geringen  Zahl  von  etwa  I20 — 140 
Gewinnungstagen  im  Jahr  rechnen  kann,  wurde 
versucht,  durch  teils  mechanische,  teils  chemische 


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und  gemischte  Verfahren  die  Trocknung  abzu- 
kürzen (Naßpreß-,  Madruckverfahren,  Kolloidver- 
drängung durch  Öle,  Salze,  Säuren,  Osmose -Ver- 
fahren, Erhitzen,  Naß  verkohlung,  Ekenberg-,  Halden- 
verfahren usw.).  Die  Wirtschaftlichkeit  solcher 
Methoden  war  bisher  nicht  gesichert.  Weiter  hat 
man  sich  mit  Verarbeitung,  „Veredelung"  des 
Torfes  befaßt,  d.  h.  mit  seiner  Verkokung  und 
Vergasung.  Er  wird  dabei  ganz  oder  teilweise 
in  einen  neuen  chemischen  oder  physikalischen 
Zustand  überführt,  bevor  man  seine  Energie  in 
Wärme  verwandelt,  unter  Gewinnung  wertvoller 
Nebenprodukte.  Dies  entspricht  am  meisten  den 
heutigen  Grundsätzen  wiitschaftlicher  Brennstoff- 
verwertung, nur  lohnt  es  sich  gegenwärtig  meist 
nicht  wegen  der  ungeheuren  Kosten  für  die  dazu 
nötigen  Anlagen  und  weil  schon  der  Preis  für 
unveredelten  Torf  zu  hoch  wurde.  Torfkoks  (aus 
aschearmem  Torf)  kommt  daher  z.  Z.  nur  für  be- 
stimmte technische  Zwecke  in  Frage ;  er  wird  bei 
der  Entgasung,  d.  h.  der  trockenen  Destillation 
gewonnen,  hat  etwa  6900  Kai.  Heizwert,  ist  dem 
Steinkohlenkoks  ähnlich  und  für  hüttentechnische 
Zwecke   brauchbar,    die   dabei   entfallende   Asche 


eignet  sich  als  Düngemittel.  Aus  den  entwei- 
chenden Gasen  werden  Teeröl,  Essigsäure,  Methyl- 
alkohol gewonnen,  die  durchschnittliche  Ausbeute 
an  Teer  beträgt  4 — 5  "/„,  an  Brenngas  400  cbm 
auf  die  Tonne,  an  Kohle  33"/,,,  Teerwasser  35"/n 
aus  lufttrockenem  Torf,  je  nach  dem  Stickstoff- 
gehalt des  Moors  1,5 — 2  kg  Stickstoff  in  Form 
von  Ammoniak  aus  i  cbm  Moormasse.  Destilla- 
tion von  Torfteer  ergibt  leichte  Rohöle,  Paraffin- 
präparate, Kreosotöl,  „Blasenkoks"  (fast  reiner 
Kohlenstoff).  Aus  Teerwasser  wird  Ammonsulfat, 
essigsaurer  Kalk  und  Holzgeist  dargestellt. 

Bei  Ausnützung  der  Torflager  im  großen  kann 
neben  Brennstoffgewinnung  für  den  Versand  noch 
Verwertung  an  Ort  und  Stelle  zum  Betrieb  von 
Kraft  zentralen  angezeigt  sein,  wobei  durch- 
schnittlich aus  I  cbm  Rohtorf  50  Kilowattstunden 
erzielt  werden.  Die  Auricher  „Wiesmoorzentrale" 
zeigt,  daß  nach  Überwindung  großer  Schwierig- 
keiten eine  großzügige  erfolgreiche  Nutzung  aus- 
gedehnter Moore  durch  grol3e  Kraftbetriebe  mit 
Torf  als  ausschließlichem  Brennstoff  möglich  ist. 
Major  a.  D.  Dr.  W.  Kranz,  Stuttgart. 


Bücherbesprechungen. 


Mönnig,  Hermann  O.,  Über  Leucochlori- 
dium  macrostomum  (Leucochloridium 
paradoxum  Carus).  Ein  Beitrag  zur  Histologie 
der  Trematoden.  61  Seiten,  5  Tafeln.  8". 
Jena  1922,  G.  Fischer.  25  M. 
Zuweilen  findet  sich  an  einem  oder  beiden 
Fühlern  der  Gemeinen  Bernsteinschnecke,  Succinea 
putris  L.,  ein  höchst  sonderbarer  Schmarotzer. 
Man  bemerkt  eine  bis  etwa  12  mm  lange  und 
bis  2,5  mm  dicke  Anschwellung  von  lebhaft  grün, 
weiß  und  rot  geringelter  oder  braun  und  hell  ge- 
ringelter Farbe  —  also  nach  Mönnig  zwei  Varie- 
täten —  und  pulsierende  Bewegung.  Dies  „Leuco- 
chloridium paradoxum"  ist  das  Sporozystenstadium 
eines  Saugwurms,  der  als  geschlechtsreifes  Tier 
im  Darmkanal  von  Singvögeln  lebt,  die  aus  dem 
auffällig  beränderten  Schneckenfühler  den  Para- 
siten begierig  herausbeißen  (Zell er  1874).  Die 
Fundorte  sind  nicht  häufig.  Die  erste  Mitteilung 
stammt  aus  dem  Jahre  18 10,  die  letzte  ausführ- 
liche Beschreibung  bisher  aus  dem  Jahre  1889. 
Die  vorliegende  Schrift  Mönnigs  ist  eine  neue 
Spezialuntersuchung.  Die  histologischen  Ergeb- 
nisse sind  besonders  für  den  von  Belang,  der  ähn- 
liche Untersuchungen  ausführen  wird.  Einige  all- 
gemeinere Beobachtungen  können  aber  auch 
Fernerstehende  angehen.  Die  Auftreibung  des 
Fühlers  rührt  lediglich  her  von  dem  Eindringen 
eines  „Schlauches"  in  den  Fühler.  Der  Haupt- 
körper der  Sporozyste  befindet  sich  nämlich  in 
der  Leber  der  Schnecke  (Carus  181 5)  und  treibt 
Schläuche,  welche  die  aus  Eiern  im  Hauptkörper 
entstehenden,  zum  Freiwerden  im  Vogeldarm  be- 


stimmten Zerkarien,  die  jungen  Geschlechtstiere, 
enthalten.  Schon  Zeller  bemerkte,  daß  nach 
Herausbeißung  eines  Schlauches  aus  einem  Fühler 
der  letztere  verheilt  und  ein  neuer  Schlauch  in 
ihm  erscheint.  Dies  dauert  nach  Mönnig  je 
nach  der  Temperatur  und  Fütterung  10  Tage  bis 
den  Winter  über.  Infizierte  Schnecken  suchen 
mehr  als  andere  das  Licht  auf;  eine  Verletzung 
der  Augennerven  war  nicht  bemerkbar.  War  der 
Fühler  vom  Vogel  mit  abgepickt,  so  wurde  inner- 
halb zweier  Beobachtungsmonate  auch  kein  Auge 
regeneriert.  Die  Pulsalionsfrequenz  erhöht  sich  bei 
starker  Belichtung  (Sonnenschein)  und  kommt  im 
Dunkeln  auf  Null.  Zwei  Schläuche  einer  Schnecke 
können  verschieden  pulsieren.  Auch  Reizung  des 
Schneckenfühlers  verändert  die  Pulsation. 

V.  Franz,  Jena. 


Pfeffer,  W.,  OsmotischeUntersuchungen. 
Studien  zur  Zellmechanik.   Zweite,  unveränderte 
Auflage.    Mit  fünf  Holzschnitten.   Leipzig  1921, 
Verlag  von  Wilhelm  Engelmann. 
Fr.  Czapek,    Schüler   und  Nachfolger  Pfef- 
fers,   hat    seinem    großen    Lehrer    ein    schönes 
Denkmal    gesetzt    durch    die   Neuherausgabe   des 
berühmtesten    Werkes    unseres    größten    Pflanzen- 
physiologen.    In   einem    Geleitwort   zu    der    vor- 
liegenden   zweiten    Auflage    weist    Czapek    auf 
die    große    Bedeutung    der    „osmotischen    Unter- 
suchungen" hin,    die    „einen   der  Grundpfeiler  der 
neueren    physikalischen    Chemie   und  allgemeinen 
Physiologie  bilden",   und   er   drückt   den  Wunsch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


703 


aus,  „daß  die  Aufnahme  dieser  Neuausgabe  eine 
mögHchst  günstige  werde,  und  das  Studium  der 
Zellphysiologie  von  neuem  kräftig  fördern  möge". 
Es  ist  dem  Herausgeber  leider  nicht  vergönnt  ge- 
wesen, die  Freude  der  Schüler  und  Verehrer 
Pfeffers  über  das  neue  alte  Buch  zu  erleben, 
denn  wenige  Wochen  nach  der  Niederschrift  sei- 
nes Geleitwortes  wurde  auch  Fr.  Czapek  der 
Wissenschaft  durch  den  Tod  entrissen.  —  Dem 
Verleger  gebührt  der  Dank  aller  Pflanzenphysio- 
logen, daß  er  dem  Wunsche  des  Herausgebers 
nach  einem  Neudruck  Folge  geleistet  hat. 

Wächter. 

Hagen,     W. ,     Unsere     Vögel     und     ihre 
Lebensverhältnisse.    60  Seiten  8",   11  Ab- 
bildungen nach  Lichtbildern  von  R.  Zimmer- 
mann.    Freiburg  i.  Br.  1922,  Verlag  von  Theo- 
dor Fisher. 
Gewissermaßen  eine  „Allgemeine  Ornithologie" 
und  somit    ein   Büchlein,    das    man  in    der  Hand 
eines  jeden,  der  die  Vogelwelt  kennt,   bearbeitet 
oder  genauer  kennenlernen  will,    wünschen    muß 
als  Ergänzung  zu  anderen  Werken,   welche  mehr 
die  Artenkenntnis    pflegen.      Nur   die  deutsche 
Ornis  ist  der  einwandfreien,  inhahreichen  und  zur 
forschenden  Beobachtung  anregenden  Darstellung 
zugrunde  gelegt.  V.  Franz,  Jena. 

Koch,  A.    und    Lowartz,    C,    Leitfaden    für 
zoologische         Bestimmungsübungen 
zum   Gebrauche  an  U  ni  versitäten  und 
höheren  Schulen.    Mitteilungen  der  Preußi- 
schen   Hauptstelle    für    den    naturwissenschaft- 
lichen Unterricht,    Heft  6.     122  S.    gr.  8"    mit 
120    Abbildungen     im    Text.       Leipzig     1922, 
Quelle  &  IVIeyer. 
Bei  der  zu  geringen  zoologischen  Artenkennt- 
nis, der  man  in  weiten  Kreisen  aller  Bevölkerungs- 
schichten und  mehr  oder  weniger  auch  bei  mehr 
anatomisch  oder  allgemeinbiologisch  eingestellten 
Fachzoologen  begegnet,  ist  die  Tendenz  des  vor- 
liegenden, scharf  durchgearbeiteten  Buches  lebhaft 
zu    begrüßen.       Seine    Verwendung    soll    jenem 
Mangel  abhelfen,  indem  es  in   14  Kursen  zur  Be- 
stimmung der  bekanntesten  und  wichtigsten  Ver- 
treter   der   Metazoen    anleitet.      Vorzugsweise    ist 
die  deutsche  Binnenfauna  berücksichtigt;  Meeres- 
und   ausländische    Landtiere    konnten    aber    nicht 
ganz  übergangen  werden,  um  den  Überblick  über 
das  Tierreich    einigermaßen    zu    vervollständigen. 
Das  Buch  gibt   kurze  Anleitungen  zum  Sammeln, 
Lebendhalten,  Konservieren  und   zum  Bestimmen 
nach  äußeren  Merkmalen,    nimmt    allerdings  auch 
oft    der  Kürze    halber   Bezug    auf   andere    leicht- 
zugängliche Werke,    wie  namentlich  ßrohmers 
„Fauna   von   Deutschland",    statt    selber    die   Be- 
stimmungstabellen zu  geben.     In  dieser  Hinsicht 
mag    ihm    für   die  Zukunft    mehr  Selbständigkeit 
zu  wünschen  sein.   Als  Universitätslehrer  wünscht 
man    dem  Buche    und    der    von    ihm    gepflegten 
Methode  wohl  vor  allem  Verbreitung  an  Schulen, 


wo  zu  einem  guten  biologischen  Unterricht  dies 
mindestens  hinzugehört  und  damit  Grundlagen 
gelegt  werden  würden,  auf  denen  später  An- 
regungen, Erweiterungen  und  Vertiefungen  ge- 
deihen. Dann  erübrigt  sich  dieser  Unterricht  an 
den  Hochschulen.  Hat  es  an  ihm  gefehlt,  so  ist 
es  nur  zu  begrüßen,  wenn  er  an  der  Hochschule 
nachgeholt  werden  kann.  Hier  verlangen  die 
Autoren  „mindestens  2  Wochenstunden,  vor- 
ausgesetzt, daß  den  Praktikanten  außerhalb  dieser 
Kursstunden  die  Möglichkeit  zum  selbständigen 
Weiterarbeiten  unter  gelegentlicher  Anleitung  ge- 
geben wird".  V.  Franz,  Jena. 

Schall,    Dr.    med.    H.,    Die    Fortpflanzung. 
(Die  Geschlechtsorgane  des  Menschen  und  ihre 
Krankheiten.)     Mit  4  Dreifarbendruck-Tafeln  u. 
170  z.  T.  mehrfarbigen  Abbildungen.     Stuttgart 
1922 ,   J.  B.   Metzlersche   Verlagsbuchhandlung. 
Geb.  80  M. 
In   gemeinverständlicher   Weise    schildert    der 
Verf.    in    dieser    seiner    neuesten  Schrift   die  Ge- 
schlechtsorgane  des    Menschen    und    ihre    Krank- 
heiten.    Er  versteht  es,  ein  heikles  Gebiet  so  ab- 
zuhandeln,   daß  alle  vorhandenen  Schwierigkeiten 
überwunden  werden.     Dieses  Werk   sollte  jedem 
Studenten,  gleichgültig  welcher  Fakultät  er  ange- 
hört, in  die  Hand  gegeben  werden.   Eis  wird  seine 
segensreiche    Wirkung     nicht     verfehlen.       Auch 
Frauen  wird  das  Studium  der  Schrift  von  großem 
Vorteil  sein.     Es  gibt  nur  wenige  Bücher,  die  so 
volkstümlich  geschrieben  sind  wie  das  vorliegende 
Schalische  Werk  ohne  „populär"   im    üblen  Sinne 
zu  sein.      Ganz    besonders    muß   auf   die   vorzüg- 
lichen,   z.   T.    farbigen    Abbildungen    hingewiesen 
werden,    ohne    die    nun    einmal    ein    naturwissen- 
schaftliches   Werk   nicht   auskommen   kann.     Das 
Buch    bedeutet    eine    hervorragende   Bereicherung 
unserer    Aufklärungsschriften    über    den    Bau    und 
die  Funktion  des  menschlichen  Körpers. 

H.  v.  Lengerken. 

Haeckel,  Ernst,  Italien  fahrt.  Briefe  an  die 
Braut  1859/60.  Leipzig  192 1 ,  Verlag  von  K. 
F.  Koehler. 
Prof.  Heinrich  Schmidt,  Leiter  des 
Haeckel-Archivs  in  Jena,  hat  der  Herausgabe  von 
Haeckels  Jugendbriefen,  „Entwicklungsgeschichte 
einer  Jugend'',  nun  eine  weitere  wertvolle  Ver- 
öffentlichung folgen  lassen.  Er  hat  die  „Briefe 
an  die  Braut"  in  einem  handlichen  Band  zusam- 
mengestellt. Man  braucht  weder  Haeckel- Anhänger 
noch  -Gegner  zu  sein,  um  diese  Briefe  eines 
schönheitsuchenden,  naturbegeisterten,  künstlerisch 
veranlagten  Menschen  mit  tiefer  Anteilnahme  zu 
lesen.  Ein  Feuerkopf  spricht  hier,  ein  wahrhaft 
ideal  veranlagter  Geist  sucht  sich  den  Weg  zur 
Weltanschauung  zu  bahnen.  Haeckels  edles 
Menschentum  offenbart  sich  in  diesen  Briefen  in 
reinster  Form.  Dem  Buche  sind  eine  Abbildung 
Haeckels  und  seiner  Braut  Anna  Set  he,  eine 
Photographie    des    Marschendichters    Hermann 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Allmers,  eine  Aufnahme  Haeckels  in  Reise-  Originaizeichnungen  beigegeben.  Das  Werk  wird 
ausrüstung  sowie  einige  verkleinerte  Tafeln  des  auch  ohne  Empfehlung  auf  weitestes  Interesse  zu 
berühmten    Radiolarienwerkes    nach    Haeckels     rechnen  haben.  H.  v.  Leno-erken. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zur  Frage  nach  der  Entstehung  der  Strahlensysteme  des 
Mondes.  In  Nr.  37  dieser  Zeitschrift  referiert  Herr  Prof. 
Riem  über  einen  Versuch  Wilsings,  die  Strahlensysteme 
des  Mondes  zu  erklären.  Wilsing  deutet  dieselben  als 
„Ströme  sehr  heifler  und  leichtflüssiger  Lava,  welche  sich  über 
die  damalige  stetig  gegen  das  Zentrum  des  Ausbruchs  anstei- 
gende Mondoberfläche  verbreiten  konnten". 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  mit  dieser  Erklärung  irgend- 
etwas gewonnen  ist.  Sie  ist  im  Gegenteil  noch  unwahr- 
scheinlicher, als  die  früheren  Erklärungen ,  die  etwa  die 
Strahlen  als  vom  Krater  aus  in  radiärer  Richtung  verwehte 
Aschenmassen  deuten  wollten.  Wie  denkt  sich  denn  Herr 
Wilsing  die  genannte  Aufwölbung  der  Mondoberfläche  nach 
dem  jeweiligen  Zentrum  des  Ausbruches  hin?  Eine  solche 
Aufwölbung  könnte  sich  doch,  wenn  sie  überhaupt  stattfand, 
nur  auf  die  unmittelbar  an  den  Krater  anschließenden  Partien 
der  Mondoberfläche  erstreckt  haben.  Und  nun  vergegenwärtige 
man  sich  das  ungeheure  Strahlensystem  des  Tycho,  das  von 
einem  keineswegs  auffallend  riesigen  Ringgebirge  des  Mondes 
ausgeht,  und  sich  über  fast  Y>  ^"  gesamten  Mondoberfläche 
erstreckt!  Soll  diese  ganze  ungeheure  Fläche  durch  die  Erup- 
tion des  Tycho  kegelförmig  aufgewölbt  gewesen  sein?  Jeder 
der  sich  nur  einen  Augenljlick  mit  diesem  Gedanken  etwas 
näher  befaßt,  wird  zugeben  müssen,  daß  derselbe  im  höchsten 
Grade  unwahrscheinlich  ist.  Er  ist  außerdem  rein  hypothe- 
tisch und  findet  auf  der  Erde,  die  wir  allein  zum  Vergleich 
heranziehen  können ,  nirgends  auch  nur  andeutungsweise  Be- 
lege. 

Aber  die  UnWahrscheinlichkeiten  der  Wil  sin  g sehen 
Hypothese  sind  hiermit  noch  keineswegs  erschöpft.  Nach 
seiner  Auffassung  stellen  die  Strahlen  Lavaströme  dar,  also 
in  kontinuierlichem  Fluß  entstandene  Bildungen.  Derartige, 
auf  flüssigem  Wege  entstandene  Gebilde  haben  nun  bekannt- 
lich stets  die  Eigentümlichkeit,  kontinuierliche  Massen  oder 
Streifen  zu  bilden.  Man  müßte  also  auch  bei  den  Strahlen 
der  Strahlensysteme  diese  Kontinuität  feststellen  können. 
Aber  gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Eine  große  .Anzahl 
der  Strahlen  setzt  sich ,  wie  eine  nähere  Untersuchung  lehrt, 
aus  lauter  einzelnen  Spritzern  zusammen,  die  zum  Teil  durch 
weitere  Zwischenräume  getrennt  sind.  Es  ist  dies  geradezu 
ein  Charakteristikum  dieser  Strahlen.  Zum  Beweis  vergleiche 
man  insbesondere  das  Strahlensystem  des  Kopernikus, 
Tycho  und  Kepler.  Die  Struktur  der  Streifen  widerspricht 
also  direkt  den  Wilsing  sehen  Annahmen. 

Was  endlich  die  Wilsingsche  Auffassung  anbetrifft, 
die  Strahlensysteme  seien  früher  entstanden  wie  die  übrigen 
Mondformationen  —  da  sonst  das  rücksichtslose  Hinweggehen 
der  Streifen  über  alle  Erhöhungen  und  Vertiefungen  der  Mond- 
oberfläche mit  seiner  Theorie  nicht  stimmen  würde  —  so 
wird  diese  ebenfalls  durch  die  schlichtesten  Argumente  auf 
dem  Monde  selbst  widerlegt.  Ein  Blick  bei  Vollmond  auf 
das  Ringgebirge  Archimedes,  dessen  dunkles  Innere  von 
mehreren  Strahlen  des  StrahVensystems  des  nahe  gelegenen 
Autolycus  durchzogen  wird,  genügt  allein  um  ihre  Haltlosig- 
keit darzutun.  Unzweifelhaft  überlagern  hier  die  Strahlen 
den  Boden  des  genannten  Kraters,  sind  also  jünger  wie 
dieser.  Und  derselbe  Befund  läßt  sich  am  Tycho,  dessen 
Strahlen  so  unendlich  viele  Kinggebirge  und  Krater  durch- 
ziehen, bei  genauerer  Beobachtung  erbringen.  Mit  seiner  An- 
nahme   aber,    daß    die  Krater    und   Ringgebirge    des    Mondes 


sich  gebildet  haben  sollten,  ohne  die  Mondoberfläche  am  Ort 
ihrer  Entstehung  im  geringsten  zu  verändern,  außer  daß  sie 
bestimmte  Bezirke  dieser  Oberfläche  durch  gewaltige  kreis- 
förmige Gebirgsbildungen  gewissermaßen  ,, einzäunten",  dürfte 
Wilsing  wohl  schwerlich  irgendwo  Glauben  finden. 
Wie  ein  Blick  durch  das  Fernrohr  lehrt,  sind  doch  diese 
,, Krater"  durch  ganz  gewaltige  Umwälzungen  der  Mondober- 
fläche entstanden,  und  daß  ihr  Inneres  von  diesen  Umwälzun- 
gen nicht  verschont  blieb,  beweisen  —  aufler  der  Tatsache, 
daß  das  Innere  so  gut  wie  aller  Krater  und  Ringgebirge  des 
Mondes  z.  T.  um  Tausende  von  Metern  tiefer  liegt  als  die 
anschließende  Mondoberfläche  —  die  offenbar  mit  der  Ent- 
stehung der  Ringbildungen  im  direkten  genetischen  Zusam- 
menhang stehenden  Zentralberge,  sowie,  von  vielen  anderen 
abgesehen,  die  oft  zahlreichen  konzentrischen  Gebirgsbildungen 
im  Innern  der  Krater  —  direkt  auf  der  eingesunkenen  Ober- 
fläche —  die,  häufig  weit  ab  vom  Randgebirge  gelegen,  doch 
dem  Zuge  der  Umwallung  folgen.  Es  heißt  meines  Erachtens 
den  Tatsachen  Gewalt  antun,  wenn  man  hier  die  Wilsing- 
sche Erklärung  gutheißen  wollte. 

So  dürfte  auch  dieser  Versuch ,  die  Strahlensysleme 
auf  vulkanischem  Wege  zu  deuten,  als  an  den  Tatsachen 
gescheitert  zu  betrachten  sein.  Durch  vulkanische  Vor- 
gänge lassen  sich  eben  die  Strahlensysteme  überhaupt  nicht 
erklären.  Einzig  und  allein  die  Aufsturztheorie  bietet  hier, 
wie  ich  in  meinen  Arbeiten  über  diesen  Gegenstand  (Sirius 
1922,  Heft  3  u.  9)  dargelegt  habe,  eine  erschöpfende  und  bis 
ins  einzelste  gehende  Deutung.  Ich  glaube  in  diesen  Arbeiten 
den  Nachweis  erbracht  zu  haben,  daß  sowohl  beim  Aufsturz 
fester  Massen  in  Flüssigkeitsansammlungen,  als  auch  bei  Zer- 
trümmerung und  Zerspritzung  fester  und  flüssiger  Körper 
beim  Aufsturz  Gebilde  entstehen,  die  den  Strahlensystemen 
des  Mondes  in  allen  Stücken,  so  in  dem  sehr  wichtigen  Auf- 
treten gesetzmäßig  gelagerter,  strahlenfreier  Sektoren ,  in  der 
Zusammensetzung  der  Strahlen  aus  einzelnen  Spritzern,  ihrer 
am  Krater  oder  in  dessen  Nähe  breit  beginnenden  und  spitz 
verlaufenden  Form,  ihren  charakteristischen  Krümmungen  und 
Überschneidungen ,  kurz  in  allem  denjenigen  Eigenschaften 
völlig  gleichen,  welche  die  Wilsingsche  Theorie  —  ebenso 
wie  alle  übrigen  vulkanischen  Theorien  —  völlig  unerklärt 
läßt.  Gerade  die  Strahlensysteme,  diese  Steine  des  Anstoßes 
für  die  vulkanische  Theorie,  stellen  mit  das  wichtigste  Argu- 
ment dar,  das  die  Aufsturztheorie  für  sich  ins  Feld  führen  kann. 

Dr.  de  Beer. 

Aufruf.  In  Blumenau,  Santa  Catharina,  Brasilien,  soll 
dem  Naturforscher  Fritz  Müller  in  Gestalt  einer  Herme 
ein  einfaches,  aber  würdiges  Denkmal  gesetzt  werden.  Die 
Anregung  dazu  geht  von  Herrn  Jose  Boiteux  aus.  Wahr- 
scheinlich sind  auch  deutsche  Naturforscher  gern  bereit, 
einen  Geldbeitrag  zu  diesem  Vorhaben  zu  schenken.  Ich  bin 
erbötig,  Beiträge  entgegenzunehmen  und  nach  Blumenau  zu 
übermitteln.  Die  deutsche  Wissenschaft  hat  Fritz  Müller 
in  der  von  Alfred  Möller  veranstalteten  Gesamtausgabe 
seiner  Werke  und  seiner  Briefe  ein  würdiges  literarisches 
Denkmal  gesetzt,  aber  der  Gedanke,  dem  verdienten  Forscher 
auch  an  der  Stätte  seiner  langjährigen  Wirksamkeit  ein  jeder- 
zeit sichtbares  Erinnerungszeichen  aufzurichten,  verdient  auch 
von  deutschen  Naturforschern  warm  gefördert  zu  werden. 

Bielefeld,  Zastrowstr.  29.  Dr.  W.  Breitenbach. 


Inhalt:  Wilh.  R.  Eckardt,  Die  Beziehungen  der  afrikanischen  Tierwelt  zur  südasiatischen.  S.  6S9.  J.  Bayer,  Die 
Ausbreitung  des  Menschengeschlechtes.  S.  693.  —  Einzelberichte:  K.  Goette,  Zur  Ilodenatrophie.  S.  697.  A.Gre- 
gory, Ein  neuer  Verjüngungsversuch.  S.  697.  E.  .Melin,  Über  die  Mykorhizapilze  der  Nadelhölzer.  S.  698.  E.  Rie- 
senfeld und  G.  Seh  wab ,  Die  Reindarstellung  des  Ozons.  S.  698.  R.Martin,  Körperkultur,  S.  699.  Sauer,  Ganz, 
Schick  l  er,  Torfmoore  und  deren  Ausnützung.  S.  700.  —  Bücherbesprechungen:  O.  H.  Mönnig,  Über  Leucochlori 
dium  macroslomum.  S.  702.  W.  Pfeffer,  Osmotische  Untersuchungen.  S.  702.  W.  Ilagen,  Unsere  Vögel  und  ihre 
Lebensverhältnisse.  S.  703.  A.  Koch  und  C.  Lowartz,  Leitfaden  für  zoologische  Bestiramungsübungen  zum  Gebrauche 
an  Universitäten  und  höheren  Schulen.  S.  703.  H.  Schall,  Die  Fortpflanzung.  S.  703.  E.  llaeckel,  Italienfahrt. 
S.  703.  —  Anregungen  und  Antworten:  Zur  Frage  nach  der  Entstehung  der  Strahlensysteme  des  Mondes.  S.  701 
Aufruf.  S.  704. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätr'ichen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  21.  Band; 
ganzen  Reihe   37.  Ba: 


Sonntag,  den  24.  Dezember  1922. 


Nummer  5ä. 


Die  Naturwissenschaftliche  Wochenschrift  wird  das  Jahr  1923  nicht  erleben;  sie 
stellt  mit  der  heutigen  Nummer  ihr  Erscheinen  ein.  Damit  verschwindet  eine  Zeitschrift  aus  dem 
deutschen  Schrifttum,  die  sich  seit  37  Jahren  die  Verbreitung  naturwissenschaftlicher  Bildung  hat 
angelegen  sein  lassen.  Schweren  Herzens  haben  sich  Verleger  und  Herausgeber  zu  diesem  Schritte 
entschlossen.  Er  war  unvermeidlich.  Die  ungeheuerlich  gestiegenen  Herstellungskosten,  die  Un- 
möglichkeit, den  Bezugspreis  auch  nur  in  angenähertem  Verhältnis  dazu  zu  erhöhen,  legten  dem 
Verlage  ein  Opfer  auf,  das  er  sich  im  Hinblick  auf  die  ungewisse  Zukunft  unserer  gesamten  Wirt- 
schaft nicht  entschließen  konnte,  noch  weiter  zu  bringen.  Daß  er  es  so  lange  dargebracht  hat  und 
der  Wochenschrift  bis  zuletzt  eine  so  vorzügliche  Ausstattung  gab,  sei  dem  Herausgeber  in  diesem 
Augenblicke  gestattet  rühmend  und  dankend  anzuerkennen. 

So  nehmen  wir  Abschied  von  dem  Kreise  unserer  Leser  und  IVIitarbeiter  mit  dem  Ausdruck 
herzlichen  Dankes  für  ihr  Interesse  und  ihre  Hilfe  und  in  der  Hoffnung  auf  eine  bessere  Zukunft 
unseres  Vaterlandes! 


Die  Verlagsbuchhandlung 
Gustav  Fischer. 


Der  Herausgeber 
Dr.  Hugo  IVIiehe. 


Zur  Wünschelrutenfrage. 

Von  Dr.  Fritz  VTiegers. 


[Nachdruck  vcrboleu]  Mit   3    Abbild 

Die  Wünschelrute  ist  uralt.  Jakob  Grimm 
hat  sie  schon  im  Nibelungenlied,  im  Titurel  des 
Wolfram  von  Eschenbach  und  bei  Konrad  von 
Würzburg  nachgewiesen,  aber  ihr  Gebrauch  geht 
wohl  noch  über  das  ii.  und  I2.  Jahrhundert 
hinaus;  denn  der  Name  (wunsciligerta)  deutet  auf 
altgermanischen  Ursprung;  wahrscheinlich  ist  sie 
auf  die  germanischen  Götter  zurückzuführen.  Im 
Mittelalter  diente  die  Wünschelrute  hauptsächlich 
zum  Schatzsuchen  oder  zum  Auffinden  von  Erz- 
gängen; vorübergehend  wurde  sie  von  den  Berg- 
leuten „amtlich"  gebraucht.  In  unserem  Jahr- 
hundert ist  sie  seit  1902  zum  Auffinden  von 
Wasser,  später  auch  von  Erzen,  Kohle,  Petroleum 
und  Salzlagerstätten  angewendet   worden. 

Der  Glaube  an  die  Wünschelrute  war  wohl 
stets  geteilt;  während  der  eine  auf  sie  schwor, 
hielt  sie  der  andere  für  Lug  und  Trug.  Schon 
Paracelsus  (1493 — 1541)  und  Georg  Agri- 
cola,  der  „Vater  des  Bergbaus"  (1494 — 1555), 
lehnten  sie  ab.  Auch  heute  noch  tobt  der  Streit 
des  „Für  und  Wider",  aber  im  Gegensatz  zu  frü- 
heren Jahrhunderten  bemüht  man  sich  heute  um 
wissenschaftliche  Erklärungen  des  Rutenproblems. 
In  einem  kürzlich  erschienenen  Schriftchen  des 
Grafen    Karl    von    Klinckowstroem^)    sind 


')  Graf  Karl  v.  KÜDckowstroem :  Die  Wünschelrute  als 
wissenschaftliches  Problem.  Stuttgart,  Verlag  von  Konrad 
Wittwer,   1922.     40  Seiten.     3  Abb. 


ungen  im  Text. 

die  neueren  Untersuchungen  übersichtlich  zu- 
sammengestellt. 

Die  Bewegung  der  Wünschelrute  geschieht  in 
der  Hand  des  Rutengängers  durch  eine  unwill- 
kürliche und  unbewußt  bleibende  Muskeltätigkeit 
oder  wie  der  berühmte  Seh  weizer  Geologe  A.  H  e i m 
sich  1903  ausdrückte:  Die  Wünschelrute  ist  der 
Fühlhebel  einer  nervösen  Erregung  des  Körpers. 
Als  Ursachen  dieser  nervösen  Erregung  werden 
von  den  Rutengängern  meist  physikalische  Ein- 
wirkungen gewisser  Substanzen,  wie  Wasser,  Kohle, 
Salz  angesehen;  während  die  Gegner  der  Wünschel- 
rute nur  psychische  Faktoren  oder  unbewußte 
Beobachtung  von  Bodenmerkmalen,  Pflanzenwuchs 
u.  a.  gelten  lassen  wollen.  Im  ersteren  Fall  würde 
der  Rutenausschlag  als  reflektorischer  Vorgang, 
im  anderen  als  sogenannte  ideomotorische  Be- 
wegung aufzufassen  sein  (Naturw.  Wochenschr. 
1918,  S.  313). 

Die  hypothetische  physikalische  Reizursache 
der  Rutenreaktion  ist  der  umstrittenste  Punkt  des 
Problems;  von  einigen  Physikern  wurde  sie  völlig 
in  Abrede  gestellt  (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1906, 
Nr.  48),  andere  haben  sie  experimental  zu  be- 
stimmen versucht.  Der  Göttinger  Physiker 
Dr.  Ambron  n  stellte  fest,  daß  an  gewissen 
Stellen,  wo  Erzgänge  zutage  streichen  oder  Ver- 
werfungsspalten ausgehen,  plötzliche  Änderungen 
der  radioaktiven  Zustandsgrößen  stattfinden 
und   daß   die  Wünschelrute  an   genau   denselben 


"job 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXt.  Nr.  52 


Stellen  Ausschläge  gäbe,  woraus  er  auf  einen  Zu- 
sammenhang zwischen  geologischen  Besonder- 
heiten (Störungszonen),  Wünschelrutenausschlägen 
und  charakteristischen  Schwankungen  der  radio- 
aktiven Zustandsgrößen  schließt.  Damit  ist  aller- 
dings noch  nicht  bewiesen,  daß  Rutenausschlag 
und  radioaktive  Strahlung  tatsächlich  im  ursäch- 
lichen Zusammenhang  stehen. 

Neuerdings  haben  die  beiden  Physiker  Ha- 
sch ek -Wien  und  Herzfeld  -  München  M  Ver- 
suche über  den  Kinfluß  plötzlich  wirksam  wer- 
dender statischer  elektrischer  und  magne- 
tischer Felder  auf  den  Rutengänger  angestellt, 
für  die  sich  als  Versuchsobjekt  der  Chefgeologe 
der  Geologischen  Reichsanstalt  in  Wien  IBergiat 
Dr.  Waagen  zur  Verfügung  stellte.  Als  Ergeb- 
nis wurde  festgestellt,  daß  die  Annahme  einer 
Strahlung  irgendwelcher  Art  als  unmittelbare 
Ursache  des  Rutenausschlages  nicht  berechtigt 
ist;  auch  die  Einwirkung  magnetischer  F"elder 
kommt  nicht  in  Betracht,  wohl  aber  diejenige 
elektrostatischer  P^ eider.  Dabei  spürt  der 
Rutengänger  nicht  den  Erdstrom  an  sich,  sondern 
die  Deformationen  im  elektrischen  Felde, 
in  dem  er  sich  befindet.  Die  beiden  Physiker 
betonen,  daß  sie  ihre  Untersuchungen  nur  als 
einen  ersten  Versuch  einer  physikalischen  Theorie 
det  Wünschelrute  ansehen.  Als  solcher  ist  er 
sicher  zu  begrüßen,  wie  jeder  ernste  Versuch,  der 
zur  Klärung  der  Wünschelrutenfrage  unternommen 
wird.  Allerdings  stehen  die  Ergebnisse  dieser 
Versuche,  die  anscheinend  nur  im  Laboratorium 
stattgefunden  haben,  und  daher  vielleicht  nur 
einen  theoretischen  Wert  haben,  in  starkem  Gegen- 
satz zu  den  praktischen  Untersuchungen,  die  die 
Preußische  Geologische  Landesanstalt  -)  im  De- 
zember 1920  im  Gelände  mit  drei  Rutengängern 
angestellt  hat. 

Diese  Untersuchungen  bewegten  sich  nach 
einer  ganz  anderen  Richtung  als  die  oben  ge- 
nannten ;  sie  sollten  nicht  die  Ursachen  des  Ruten- 
ausschlages feststellen,  sondern  nur  die  praktischen 
Erfolge.  Sie  fanden  daher  in  geologisch  einfach 
gebauten  (lebieten  statt,  deren  geologischer  Auf- 
bau durch  die  Kartierung  genau  festgelegt  war. 
Die  Versuche  sollten  bereits  im  Sommer  1920 
stattfinden,  sie  mußten  aber  mehrfach  hinaus- 
geschoben werden,  weil  die  Rutengänger  unerfüll- 
bare Honorarforderungen  und  der  Internationale 
Verein  der  Wünschelrutenforscher  unerfüllbare 
Bedingungen  stellten.  Als  endlich  der  Termin 
auf  den  8.  Dezember  festgelegt  ward,  zu  dem 
sich  5  Rutengänger  verpflichtet  hatten,  sagten  im 
letzten  Augenblick  auch  diese  fünf  ab.  Dieser 
Widerstand  dtx  Rutengänger  gegen  eine  objek- 
tive Prüfung  macht  denn  doch  einen  recht  eigen- 
artigen Eindruck.  Es  gelang  schließlich  noch 
drei   andere  Rutengänger   zu    gewinnen,    die   vier 

')  „Naturwisseaschaflcn"   1921,  Hc-ft  51. 

-j  Zur  Wünschclrutenfrage.  I.  Die  mit  Rutengängern  im 
Dezember  1920  angestellten  Versuche  der  Preußischen  Geolo- 
gischen l.andesanstall.     Berlin  1921.     20  Seiten,  5  Textfiguren. 


Tage  in  der  Umgend  von  Magdeburg  und  einen 
Tag  in  der  Provinz  Hannover  herumgeführt  wurden. 
Von  den  Ergebnissen  dieser  gemeinsamen  Be- 
gehungen seien  im  folgenden  drei  geschildert: 


üie  Streclten^  auf  denen  die  iVunschef ' 
rufe  der  /?utengängep  A.  B  u  C  Hohle 
an  seigre,  stnd  ourc/i  — ^  tvo  Sie  Salz 
angab,  durch  —  bezeichnet 

^A  Kohle  u.  3alz  kommen  m  dem 

Gebiet  in  IVahrhe/t  nicht  tvr. 

Zivischen  den  Ansagen  von 

A,B  u  C  bestehen  die 

größten  Unterschiede 


1.  Auf  dem  Meßtischblatte  Neuhaldensleben 
liegt  zwischen  Nordgermersleben  und  Groß-Rott- 
mersleben  das  in  Abb.  i  wiedergegebene  Wege- 
dreieck. Der  geologische  Untergrund  besteht  aus 
Kulmgrauwacken  (das  sind  Gesteine,  die  unter 
den  produktiven  Karbonschichten  liegen)  und  rot- 
liegenden Porphyriten,  die  beide  älter  sind  als 
die  Zechsteinsalze.  Beide  Gesteine  treten  teils 
frei  zutage,  teils  liegen  sie  unter  einer  ganz 
dünnen  Decke  von  Löß.  Es  fehlt  demnach  in 
dieser  Gegend  jede  Spur  von  Steinkohle, 
Braunkohle,  Kali-  und  Steinsalz  usw.  Den 
3  Rutengängern  wurde  die  Aufgabe  gestellt:  „In 
dem  Wegedreieck  Gr.-Rottmersleben — Kl.-Rott- 
mersleben  ist  die  Verbreitung  von  Kalisalz  und 
Braunkohle  festzustellen  und  abzugrenzen."  Folge- 
richtig hätte  keiner  der  drei  Rutengänger  auch 
nur  einen  einzigen  Ausschlag  erhalten  dürfen,  da 
von  den  genannten  Bodenschätzen  nichts  vor- 
handen ist;  tatsächlich  erzielten  aber  alle  drei 
recht  erhebliche  Ausschläge  (siehe  Abb.  i),  und 
zwar  stellte  Herr  A.  hauptsächlich  Kalisalz  fest, 
dann  aber  auch  Braunkohle  und  Petroleum.  Herr 
B.  bekam  im  Westen  Ausschläge  auf  Kohle,  im 
Osten  auf  Salz  und  bei  Herrn  C.  war  es  um- 
gekehrt. 

Dieses  Ergebnis  muß  doch  jeden  vorurteils- 
freien Menschen  nachdenklich  machen.  In  einer 
Gegend,  in  der  weder  Kohle  noch  Salz  vorhanden 
ist,  wird  der  Nachweis  von  beiden  von  den  drei 
Rutengängern  gefordert.  Vermutlich  durch  Ein- 
wirkung der  Suggestion  erhalten  darauf  alle  Drei 
Ausschläge,  aber  wiederum  bezeichnenderweise 
decken  sich  die  Ausschlagsstellen  nicht,  sondern 
jeder  erhält  vom  anderen  abweichende  Ergebnisse. 

2.  Auf  dem  Blatte  Wolmirstedt  verläuft  die 
große  Ohretalbruchspalte,  an  der  der  östliche  Teil 
des  Gebietes  eingesunken  ist,  so  daß  heute  die 
viel  jüngeren  Trias-  und  Zechsteinschichten  neben 
den  ältereren  Kulmschichten  liegen.  Östlich  der 
Ohre  ist  daher  an  vielen  Stellen  Stein-  und  Kali- 


N.  R  XXI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


707 


salz  erbohrt,  während  es  westlich  derselben  fehlt,  wackenuntergrunde  die  Wasserbewegung  ausge- 
da  die  Zechsteinschichten  längst  von  den  Grau-  sprochen  West-Ost,  wie  in  diesem  Sommer  zahl- 
wackenschichten  abgetragen  sind.  reiche    und    sehr    gewissenhafte    Untersuchungen 


r  &   e 


,4;.,  '  ^   9  t  M-  i 


Die  Aufgabe  lautete :  „Es  ist  i.  das  Vorhanden- 
sein von  Kalisalzen  auf  dem  Wege  von  Groß- 
Ammensleben  nach  Bleiche — Samswegen;  2.  das 
Auftreten  von  etwa  vorhandenen  Verwerfungen 
und  ihre  Richtung;  3.  etwa  sich  findendes  arte- 
sisches Wasser  festzustellen. 

Nach  dem  geologischen  Bau  des  Gebietes 
hätte  keiner  der  drei  Rutengänger  zwischen  Groß- 
Ammensleben  und  der  Ohre  einen  Salzausschlag 
der  Rute  bekommen  dürfen;  es  erfolgte  aber  ge- 
rade das  Gegenteil :  solange  die  drei  Rutengänger 
sich  auf  der  salzfreien  Grauwacke  bewegten,  er- 
hielten sie  kräftige  Ausschläge  auf  Salz,  besonders 
Herr  B.,  der  auch  16  Ölreaktionen  hatte.  In  etwa 
1 1  von  88  Fällen  fielen  die  Angaben  der  Herren 
A.  und  C.  annähernd  zusammen.  Über  dem 
tatsächlich  vorhandenen  Salzgebirge 
aber  erhielt  keiner  der  drei  Herren 
einen  Ausschlag.    Verwerfungsspalten  wurden 


des  Kanalbauamtes  in  Magdeburg  ergeben  haben. 
—  Die  Rutenergebnisse  dieses  Tages  waren  also 
ebenfalls  negativ. 

3.  Auf  dem  Blatte  Staßfurt  steigt  in  der  Mitte, 
in  der  Linie  Marbe,  Staßfurt,  Rathmannsdorf,  das 
Salzgebirge  bis  dicht  unter  die  Oberfläche  empor, 
nur  noch  von  einer  dünnen  Schicht  Diluvium  be- 
deckt. ( östlich  und  westlich  von  diesem  Sattel 
aber  sinkt  das  Salz  schnell  bis  800  m  in  die  Tiefe, 
überlagert  von  den  Schichten  des  Buntsandsteins 
und  Muschelkalkes.  Zwischen  NeuStaßfurt  und 
Löderburg  erstreckt  sich  eine  Braunkohlenmulde, 
in  deren  südlichem  Teil  ein  bis  1 5  m  mächtiges 
Braunkohlenflöz  abgebaut  wird.  Die  Aufgabe 
lautete;  „Vom  Punkt  80,7  NO  Staßfurt  ausgehend 
ist  zu  suchen :  Steinsalz,  Kalisalz,  Braunkohle  mit 
Angabe  der  Tiefe  und  bei  den  Kalisalzen  mit  An- 
gabe der  Streichrichtung,  bei  der  Braunkohle  auch 
Angabe  der  Mächtigkeit  des  Flözes." 


^u^  den  n  d  e  Wu   5  he/Pu       der  Hutenaon^e^  '^  und  B  ^a^lne  che  >iu 
£ine   Be^iehan^  ^um   3aUhoröf  15t  mohf  erkennba/y^wiscJ^en  A  l 


zeifff'e,  5  nd  dun  h dan^este/  > 

größten  Unterschiede 


auf  dem  ganzen  Wege  angegeben,  aber  die  große 
Abbruchzone  der  Grauwacke  kam  dabei  nicht 
zum  Ausdruck.  Auch  Wasser  wurde  angesagt 
und  zwar  mit  der  Behauptung,  es  bewege  sich 
im  Ohretal  von  Ost  nach  West;  das  trifft  zwar 
zu  für  das  artesische  Wasser,  das  von  der  Letz- 
linger  Heide  herunter  kommt  und  dem  Ohretal 
unterirdisch  zufließt.  Die  artesischen  Brunnen 
gehen  aber,  von  wenigen  Ausnahmen  in  Neu- 
haldensleben  abgesehen,  nicht  über  das  Ohretal 
hinüber,  mit  anderen  Worten,  die  Ost-West-Be- 
wegung des  unterirdischen  Wassers  hört  mit  der 
Ohretalspalte  auf     Umgekehrt  ist  auf  dem  Grau- 


Zur  Verfügung  standen  zwei  Rutengänger,  A. 
und  B.;  letzterer  fiel  jedoch  für  den  ersten  Teil 
des  Versuchs  aus,  da  der  Weg  an  einer  Stark- 
stromleitung entlang  führte,  die  ihn  —  im  Gegen- 
satz zu  Herrn  A.  —  störend  beeinflußte.  Herr  A. 
hörte  infolge  von  Ermüdung  bzw.  Blasenbildung 
an  den  Händen  früher  auf.  Die  Arbeiten  beider 
Herren  sind  daher  nur  für  eine  kurze  Strecke  des 
Weges  vergleichbar. 

Herr  A.  erhielt  im  Anfange  auf  450  m  Länge 
dauernd  Kohlenausschläge,  obwohl  dort  keine 
Kohle  vorhanden  ist,  sondern  unter  etwa  33  m 
Diluvium  sofort  der  Buntsandstein  folgt.     Auf  der 


7oH 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5ä 


weiteren  Strecke  erhielt  er,  sowohl  über  dem 
Salzstocke  wie  über  dem  Buntsandstein,  Salz- 
ausschläge, die  durch  größere  salzfreie  Zonen 
unterbrochen  waren.  Außerdem  gab  er  eine 
Reihe  von  Verwerfungen  an,  die  in  den  Gruben- 
aufschlüssen keine  Bestätigung  finden,  also  falsch 
sind. 

Herr  B.  bekam  über  dem  Salzstock  einen 
größeren  Salzausschlag,  ebenso  aber  auch  west- 
lich davon  über  der  Braunkohlenmulde,  jedoch 
keinen  Kohlenausschlag,  obwohl  der  Weg  an 
einem  Bohrloch  vorüberführte,  in  dem  von  38,82 
bis  44,65  Braunkohle  erbohrt  worden  war  (am 
südlichen  Wetterschacht  der  Grube). 

Die  Ergebnisse  der  beiden  Rutengänger  stim- 
men also  auch  hier  nicht  mit  der  Wirklichkeit 
überein,  obwohl  der  Gegensatz  nicht  ganz  so  kraß 
ist,  wie  in  den  ersten  beiden  Fällen.  Es  ist  da- 
her begreiflich,  daß  der  Ausfall  dieser  Unter- 
suchungen den  Anhängern  der  Wünschelrute 
keine  Freude  macht.  Graf  Klinckowstroem 
geht  mit  wenigen  Worten  über  sie  hinweg  und 
möchte  sie  mit  den  äußeren  ungünstigen  Um- 
ständen der  Dezemberwitterung  entschuldigen. 
Am  bezeichnendsten  für  die  IVIentalität  der  ein- 
gefleischten Wünschelrutenanhänger  ist  die  Äuße- 
rung des  Münchener  Arztes  Dr.  A.  Aigner, 
des  Vorsitzenden  des  Verbandes  zur  Klärung  der 
Wünschelrutenfrage,  der  nach  seinem  Vortrag  am 
6.  Februar  1920  vor  dem  Kollegium  der  Geolo- 
gischen Landesanstalt  diese  zur  gemeinsamen 
Arbeit  mit  dem  Verband  aufforderte.  Dr.  Aigner 
äußerte  sich  mir  gegenüber  im  Frühjahr  1921: 
„Verloren  habt  Ihr  auf  alle  Fälle;  entweder  Ihr 
hättet  direkt  verloren,  so  aber  bestreiten  wir  Euch 
den  Erfolg,  weil  Ihr  bei  schlechtem  Wetter  unsere 
Leute  überanstrengt  habt."  Daraus  geht  doch 
zur  Genüge  hervor,  daß  die  Mitarbeit  der  Geo- 
logen nur  gewünscht  wurde,  weil  man  sich  einen 
Erfolg  von  ihnen  im  Sinne  der  Wünschelrute  ver- 
sprach. An  dem  schlechten  Wetter  sind  nicht  die 
Geologen  schuld  gewesen  —  beim  guten  Wetter 
im  Sommer  hatten  die  Rutengänger  sich  den 
Versuchen    entzogen  —  und  den  drei  Herren  A., 


B.  und  C.  war  das  Wetter  doch  nicht  zu  schlecht, 
denn  sie  haben  keine  Einwendungen  dagegen  ge- 
macht, sondern  im  Gegenteil  ausdrücklich  gesagt, 
daß  es  sie  nicht  störe.  Ich  habe  bisher  auch  nie 
gehört,  daß  sich  die  Berufstätigkeit  der  Ruten- 
gänger nach  der  Jahreszeit  richtet. 

Wenn  dem  Verbände  zur  Aufklärung  der 
Wünschelrutenfrage  aber  tatsächlich  an  einer 
Klärung  lag,  wie  Dr.  Aigner  1920  versicherte, 
dann  —  so  sollte  man  meinen  —  hätten  nach 
dem  eklatanten  Mißerfolge  im  Dezember  1920 
sämtliche  in  den  Tageszeitungen  sich  regelmäßig 
anpreisenden  Rutengänger  es  als  eine  Forderung 
der  Berufsehre  ansehen  müssen,  sich  im  folgenden 
Sommer  in  corpore  der  Geologischen  Landes- 
anstalt zu  gemeinsamen  Versuchen  zur  Verfügung 
zu  stellen.  Nicht  einer  ist  gekommen.  Die 
Herren  wollen  anscheinend  ernstlich  gar  keine 
Aufklärung,  weil  sie  sie  fürchten. 

Die  geschilderten  Ergebnisse  lassen  aber  auch 
hier  die  oben  erwähnten  physikalischen  Versuche 
im  Laboratorium  in  anderem  Lichte  erscheinen. 
Welchen  Zweck  können  solche  Versuche  im 
kleinen  haben  angesichts  derartiger  Mißerfolge 
im  großen?  Meines  Erachtens  ist  die  Basis  der 
Frage  hier  ein  wenig  verschoben  und  es  erinnert 
sehr  an  die  bekannte  Streitfrage  mittelalterlicher 
Gelehrter,  ob  das  Gewicht  eines  toten  Fisches 
von  dem  eines  lebenden  verschieden  sei.  Bände 
wurden  zur  Lösung  dieser  Frage  geschrieben,  aber 
niemand  kam  auf  den  Gedanken,  die  P'ische  nach- 
zuwiegen. Genau  so  mit  der  Wünschelrute !  Ehe 
man  an  die  Erforschung  ihrer  radioaktiven,  elek- 
trischen oder  magnetischen  Ursachen  herangeht, 
muß  doch  zweifelsfrei  festgestellt  werden,  ob  die 
Rute  bzw.  ihr  Träger  irgendwelche  Beziehungen  zu 
unterirdischen  Stoffen  hat.  Die  Dezemberversuche 
beweisen  das  Gegenteil.  Ehe  also  nicht  bei 
neuen  gemeinsamen  Begehungen  unumstößlich 
nachgewiesen  ist,  daß  die  Rute  Erze,  Kohlen, 
Salz  und  Wasser  richtig,  d.  h.  in  Übereinstimmung 
mit  den  geologischen  Befunden  anzeigt,  sind  sämt- 
liche Bemühungen  zur  Klärung  einer  Frage  nutz- 
los, die  unfraglich  gar  keine  Frage  ist. 


Zuwachs  und  41ter  der  oberschwäbischen  Hochmoore. 

Von  Karl  Bertsch  in  Ravensburg. 
Mit   I   Kartenskizze. 


[Nachdruck  verhoten.l 

Zu  den  merkwürdigsten  Bildungen  der  süd- 
deutschen Pflanzenwelt  gehören  die  Hochmoore, 
welche  durch  die  eigenartige  Ausbildung  von 
düstern,  schwarzen  Wäldern  zwergiger  Bergkiefern 
(Pinus  montana)  oft  bestimmend  auf  das  Land- 
schaftsbild einwirken,  besonders  im  Gebiet  der 
Jungmoränen  des  ehemaligen  Rheingletschers. 
Doch  heutzutage  sinkt  ihre  Bedeutung  rasch. 
Moor  um  Moor  verfällt  der  Torfnutzung,  und  bald 
wird  von  der  alten  Herrlichkeit  wenig  übrig  ge- 
blieben sein. 


Darum  gilt  es,  ihren  eigenartigen  Aufbau  zu 
untersuchen,  bevor  das  letzte  derselben  zerstört 
ist.  Von  besonderem  Wert  scheint  es  mir  zu 
sein,  die  Zuwachsverhältnisse  genauer  festzulegen. 
Der  rundblättrige  Sonnentau  (Drosera  rotundifolia) 
bietet  hierzu  ein  günstiges  Objekt,  denn  er  zeigt 
einen  nach  den  einzelnen  Jahren  gegliederten, 
stockwerkartigen  Aufbau  seiner  Sprosse,  der  dann 
besonders  deutlich  hervortritt,  wenn  die  Pflanze 
in  mehreren  aufeinanderfolgenden  Jahren  die 
Blütenstengel  ausgebildet  hat.     Die  Pflanzen  wer- 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


709 


den  sorgfällig  ausgehoben  und  der  Abstand  zwi- 
schen der  Einfügungsstelle  des  letztjährigen  und 
des  heurigen  Blütenschaftes  gemessen.  Um  ver- 
gleichbare Zahlen  zu  erhalten,  wurde  eine  größere 
Anzahl  von  Messungen  ausgeführt  und  zur  Unter- 
suchung nur  gleiche  ökologische  Örtlichkeiten 
gewählt:  voll  ausgebildetes  Hochmoor  mit  buschig 
verkrüppelten  Bergkiefernbeständen,  in  denen  die 
Torfmoose  der  Cymbifolium  -  Gruppe ,  vor  allem 
Sphagnum  medium,  die  vorherrschenden  Moos- 
arten bildeten.  Im  Wurzbacher  Ried  ergaben 
sich  beisp.ielsweise  folgende  Zahlen:     3     3,5     3,5 

3,5  4  4  4  4  4,5  4,5  4,5  5  5  5,5  5,5 
5,5  6  6  6  6  6  6  7  7  7  7,5  8  8  9 
9  9  9  9  9  9  9,5  10  11,5  12  15  15  mm. 
Die  erhaltenen  Werte  schwanken  also  innerhalb 
gewisser  Grenzen,  je  nachdem  die  Sonnentau- 
pflänzchen  auf  dem  Rücken  oder  an  den  Seiten 
der  Bulten  oder  in  den  Lücken  zwischen  den- 
selben gewachsen  sind,  und  ihr  Durchschnitt  gibt 
das  durchschnittliche  Emporwachsen  der  Moor- 
oberfläche an. 

Leider  waren  viele  der  besuchten  Moore  von 
der  Kultur  so  verändert,  daß  nichts  mehr  zu 
machen  war:  Tannried  bei  Waldsee,  Dornachried 
bei  Wolpertswende,  Burgermoos  und  Lanquanzer- 
moos  bei  Kißlegg,  Rotmoos  und  Riedmüllermoos 
bei  Isny,  Eisenhammermoos  und  Gründelmoos 
bei  Eisenharz.  Trotzdem  gelang  es,  in  einigen 
Mooren  günstige  Ergebnisse  zu  erzielen,  die  einen 
Überblick  über  die  Zuwachsverhältnisse  ermög- 
lichen :  Federseeried  (Durchschnitt  aus  50  Messun- 
gen): 7,0  mm,  Wurzacher  Ried  (Durchschnitt  aus 
41  Messungen):  7,2  mm,  Reichermoos  (Durch- 
schnitt aus  II  Messungen):  12,4  mm,  Rötmoos 
bei  Wolfegg  (Durchschnitt  aus  31  Messungen): 
14,2  mm,  Gründienried  bei  Kißlegg  (Durchschnitt 
aus  49  Messungen):  14,7  mm,  Hasenmoos  bei 
Eisenharz  (Durchschnitt  aus  29  Messungen): 
18,6  mm. 

Ein  Blick  auf  das  beigefügte  Kärtchen  zeigt, 
daß  diese  Werte  gegen  das  Gebirge  zu  ansteigen, 
ganz  entsprechend  den  zunehmenden  Nieder- 
schlagsmengen. 

An  Stellen,  an  denen  das  Hochmoor  in  eine 
nasse  Sphagnum-Schlenke  und  weiterhin  in  offenes 
Wasser,  Weiher  oder  See,  übergeht ,  wo  also  die 
Torfmoose  weniger  von  den  Niederschlägen  ab- 
hängig sind  und  wo  Arten  herrschen,  welche 
auch  nährstoffreicheres  Wasser  nicht  scheuen ,  ist 
der  Zuwachs  ein  höherer,  aber  auch  ein  gleich- 
mäßigerer. Ich  fand  am  Holzmühleweiher  bei 
Immenried  17,6  mm,  am  Argensee  bei  Gebraz- 
hofen  22,5  mm,  am  Metzisweiler  Weiher  bei 
Wolfegg  22,8  mm,  am  Brunnenweiher  bei  Ein- 
türnen  24,4  mm. 

Am  Hochmoorrand,  der  gegen  ein  trockeneres 
Flachmoor  oder  gegen  gewöhnliche  Sumpfwiesen 
ausläuft,  wird  der  Zuwachs  geringer.  Das  Gründlen- 
ried,  das  im  zentralen  Teil  mit  buschigen  Berg- 
kiefern   einen    Zuwachs    von    14,7  mm    aufweist, 


zeigt  an  seinem  Ostrand  auf  der  Außenseite  des 
Bestandes  baumartiger  Spirken  nur  noch   13,2  mm. 

Diese  Zahlen  reizten  zu  dem  Versuch,  das 
Alter  der  Moore  zu  berechnen.  Da  infolge  der 
antiseptischen  Wirkung  der  Torfmoose  die  Fäulnis- 
bakterien ihre  zersetzende  Wirkung  nicht  aus- 
üben können,  bleibt  die  gesamte  Stoffmenge  im 
Hochmoor  erhalten.  Darum  muß  die  Bestimmung 
des  Trockengewichts  die  nötigen  Unterlagen  zur 
Berechnung  liefern. 

Als  erstes  Beispiel  wählen  wir  das  durch  seine 
Pfahlbauten  bekannte  Federseeried,  das  eine  Hoch- 
moordecke von  2  m  über  die  prähistorischen 
Bauten  geschichtet  hat.  Wir  berechnen  das 
Trockengewicht  des  Hochmoortorfs  über  einer 
Grundfläche  von  i  qdm  und  denken  die  ganze 
Torfsäule  in  Glieder  von  je   i   cdm    zerlegt.      Die 


Übersicht  über  den  Zuwachs  in  den 

oberschwäbischen  Hochmoorenj/^'- 
,^.«..  A  -  äußere  Jung-Endmoräne 
.....^...  J  -  innere 

Halbjahrs-lsobyet^H' 

(April  bis  September,|' 
in  Millimeter). 


500 


{  ^7,2  mm 


'iSOO 


•      \ 

14,7  mm\    ,"800 


Trockengewichtszahlen  dieser  Glieder  bilden  eine 
arithmetische  Reihe,  deren  Anfangsglied  rund 
12  g,  deren  Endglied  lOO  g  und  deren  Glieder- 
zahl 20  beträgt.  Das  gesamte  Trockengewicht 
der  Torfschichte  ergibt  somit  1120  g.  Jährlich 
wächst  nun  die  Torfmoosdecke  um  7,0  mm  in 
die  Höhe,  das  Trockengewicht  nimmt  um  0,397  S 
zu,  und  das  Alter  der  ganzen  Torfschichte  beträgt 
2821  Jahre.  Der  Untergang  des  Pfahlbaudorfs  muß 
sich  ums  Jahr  900  v.  Chr.  ereignet  haben,  und  unsere 
Prähistoriker,  welche  die  Siedlung  auf  2200 — 1800 
V.  Chr.  ansetzen,  rechnen  900  Jahre  zu  hoch. 

Im  Reichermoos  wurde  die  über  den  Wasser- 
spiegel des  ehemaligen  Sees  hinausgewachsene 
Torfmasse  zu  8  m  bestimmt.  Wenn  wir  auch 
hier  für  das  i.  und  20.  Glied  dieselben  Trocken- 
gewichtszahlen   einsetzen,    erhalten    wir    für    das 


710 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5: 


80.  Glied  ein  Trockengewicht  von  378  g.  Das 
gesamte  Trockengewicht  beträgt  also  15,6  kg. 
Das  Reichermoos  wächst  aber  jährlich  um  12,4  mm 
in  die  Höhe,  sein  Trockengewicht  nimmt  um 
0,704  g  zu,  und  zur  Bildung  des  Moores  bedurfte 
es  eines  Zeitraums  von  22159  Jahren. 

Im  Wurzacher  Ried  hat  der  Torf  ein  wenig 
nördlich  vom  Schwindelsee  eine  Mächtigkeit  von 
8,3  m.  Da  unter  dieser  Stelle  der  mineralische 
Untergrund  bei  646  m  liegt  und  einerseits  bis 
gegen  den  Moorrand  hinaus  stetig  ansteigt  und 
andererseits  gegen  den  Abfluß  hin  stetig  fällt,  der 
heutige  Abfluß  aber  an  den  Hochmoorrand  hinaus- 
gedrängt worden  ist,  so  daß  er  die  Sphagnum- 
Fläche  in  weitem  Bogen  umfließen  muß,  bis  er 
den  Hochmoorrand  endlich  bei  647  m  verlassen 
kann,  so  dürfen  wir  die  bezeichnete  Moorschichte 
ganz  dem  Hochmoortorf  zurechnen.  Unter  Be- 
nutzung der  vorigen  Zahlen  erhalten  wir  für  das 
83.  Glied  den  Wert  von  392  g,  für  das  ganze 
Trockengewicht  16,766  kg.  An  der  gleichen 
Stelle  aber  wächst  das  Hochmoor  jährlich  um 
7,2  mm,  was  einem  Trockengewicht  von  0,408  g 
entspricht,  und  das  Alter  des  Hochmoors  berechnet 
sich  auf  41093  Jahre. 


Beide  Hochmoore  sind  von  den  Moränen  der 
Würmeiszeit  abgedämmt  worden,  das  Wurzacher 
Ried  von  der  äußeren,  das  Reichermoos  von  der 
inneren  Jung  Endmoräne.  Mit  der  Altersbestim- 
mung der  Moore  erhalten  wir  also  zugleich  das 
Alter  der  abdämmenden  Moränen.  Dieses  beträgt 
für  die  äußere  Jung-Endmoräne  rund  40000  Jahre, 
für  die  innere  rund  20000,  Zahlen,  die  mit  den 
Schätzungen  Pencks  recht    gut  übereinstimmen. 

In  Oberschwaben  gibt  es  indes  auch  Hoch- 
moore von  ganz  jugendlichem  Alter.  So  sah  ich 
im  Riedmüllermoos  einen  Aufschluß,  der  auf 
einer  Länge  von  rund  300  m  bei  horizontal  ver- 
laufendem Kiesuntergrund  nur  eine  80  cm  dicke 
Hochmoorschichte  zeigte,  ohne  Ausbildung  von 
Faulschlamm-  und  Flachmoorbildungen.  Nach 
den  Einschlüssen  der  untersten  Schichte  war  das 
Hochmoor  aus  einem  Fichtenwald  hervorgegangen. 
Wenn  wir  den  Zuwachs  des  benachbarten  Hasen- 
mooses und  die  bisher  gebrauchten  Trocken- 
gewichtszahlen in  die  Berechnung  einsetzen,  er- 
halten wir  für  seine  Bildung  einen  Zeitraum  von 
213  Jahren.  Die  Vermoorung  des  Fichtenwaldes 
hat  sich  also  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts 
vollzogen. 


Einzelberichte. 


Vom  Nördlinger  Ries. 


Eines  der  interessantesten  Probleme  der  Geo- 
logie Europas,  ja  der  ganzen  Erde  ist  die  Deu- 
tung der  verworrenen  Lagerungsverhältnisse  im 
Nördlinger  Ries  und  seiner  Umgebung.  Aber 
auch  die  Pflanzenkunde  und  die  Vor-  und  Früh- 
geschichte dieses  Landstrichs  bieten  ungewöhn- 
lich viel  Eigenartiges,  ebenso  wie  die  landschaft- 
lichen und  kulturellen  Reize  über  das  gewöhnliche 
Maß  hinausgehen.  Ist  doch  z.  B.  die  alte  Reichs- 
stadt Nördlingen  mit  ihren  malerischen  Straßen, 
Bauten  und  wohlerhaltenen  mittelalterlichen  Be- 
festigungen geradezu  ein  Schmuckstück  echt 
deutscher  Baukunst.  Es  bleibt  das  Verdienst  des 
jetzigen  i.  Bürgermeisters  von  Nördlingen,  Dr. 
Otto  Mainer  sowie  der  Vereine  für  Volksbil- 
dung in  Stuttgart  und  Nördlingen,  dies  und  vieles 
andere  auf  der  Rieser  Heimatwoche  vom 
22. — 31.  Juli  1922  in  das  rechte  Licht  gerückt 
und  weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht  zu 
haben.  Zahlreiche  heimatliche  Ansprachen,  ge- 
meinverständlich-wissenschaftliche Vorträge  und 
Exkursionsführungen  erläuterten  die  Verhältnisse, 
und  das  gesamte  Material  liegt  nunmehr  in  einem 
stattlichen  Band,  dem  „Ries  er  Heimat  buch" 
vor, ')  dem  wir  aus  den  einzelnen  Gebieten  der 
Naturwissenschaft  auszugsweise  folgendes  ent- 
nehmen : 


')  Herausgejr.  v.  d.  GescUsch.  f.  Volksbildung  Nörd- 
lingen. C.  H.  Becksche  Vcrlagsbucbh.  O.  Beck.  München 
1922,  mit  446  S.,  4  Taf.,   I  Fundkarle  u.  zahlreichen  Textfig. 


Eingeleitet  wurden  die  Vorträge  durch  den 
von  Walter  Kranz  über  den  „geologischen 
Aufbau  und  Werdegang  des  Nördlinger 
Rieses"')  mit  anschließender  Exkursionsführung 
in  einen  Teil  des  weiten  Beckens,  das  fast  kreis- 
rund mit  21  bzw.  24  km  Durchmesser  in  die 
umgebende  Juratafel  der  schwäbisch  -  fränkischen 
Alb  eingesenkt  ist.  Schon  in  der  Umgebung  der 
Wanne  erkennt  der  Geologe  zahllose  Abweichun- 
gen vom  gewohnten,  nur  wenig  gestörten  Bau 
der  Alblandschaft,  auf  dem  „Vorries"  liegen  in 
wechselnder  Entfernung  bis  zu  24  km  vom  Becken- 
rand ortsfremde  Massen  älterer  Gesteine  des 
Grundgebirges  und  namentlich  vom  Mesozoikum, 
sehr  wahrscheinlich  alle  aus  dem  Untergrund  des 
Rieses  selbst  stammend,  sowie  als  Vertreter  echt 
vulkanischer  Gesteine  viele  Vorkommen  von 
Suevit.  -')  In  der  weiten  Senke  sind  die  Lage- 
rungsverhältnisse dieser  gleichen  Gesteine  womög- 
lich noch  verwickelter,  jeder  neue  Autschluß  fast 
bringt  unberechenbare  Überraschungen.  Und 
schließlich  weisen  Kalk-,  Schlick-  sowie  Braun- 
kohlenablagerungen mit  Überresten  einer  Süß- 
wasserfauna und  deutlichen  Spuren  heißer  sprudeln- 
der Mineralquellen,  daß  ein  großer  See  den  Ries- 
kessel einst  ausfüllte.  Die  geologische  Geschichte 
des  Gebiets  läßt  sich  nun  seit  der  Zeit  des  Grund- 

')  a.  a.  O.  S.  25— 6S,  mit  I  Taf.,  9  Textlig,  u.  Sl  Litc- 
raturanmerkungen. 

-)  Krüher  Trachyt  oder  Liparit  genannt,  von  A.  Sauer 
und  seinen  Schülern  als  ein  bisher  nur  dem  schwäbisch-frän- 
kischen Riesgebiet  eigentümliches  Gestein  erkannt. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


gebirges,  des  „vindeiicischen"  Landes,  durch  das 
Mesozoikum  bis  zur  katastrophalen  Entstehung 
des  Beckens  im  jüngeren  Tertiär  ziemlich  klar 
verfolgen,  auch  die  Ergebnisse  dieser  letzten  Re- 
volution der  Erdrinde  sind  in  zahlreichen  geolo- 
gischen Profilen  erforscht. ')  Über  Ursache  und 
Verlauf  der  obermiozänen  Katastrophe  selbst  wur- 
den aber  seit  der  Zeit  des  Altmeisters  IVIathias 
Flurl,  der  1805  als  erster  die  vulkanische  Natur 
des  Rieses  erkannte,  die  verschiedensten  Ansichten 
geäußert.')  Während  z.B.  Deffner  (1870)  und 
Koken  (bis  1902)  hypothetischen  „alten  Ries- 
gletschern" einen  wesentlichen  Einfluß  auf  den 
Bau  der  Gegend  zuschrieben,  während  Schaf- 
häutl  (1849)  nach  chemischen  und  Quenstedt 
wie  C.  Regelmann  nach  tektonischen  Ursachen 
suchten,  bestätigten  alle  anderen  Riesgeologen 
den  Vulkanismus  als  maßgebend  bei  der  Ent- 
stehung der  Gegend.  Aber  auch  hierin  gingen 
die  Anschauungen  wieder  z.  T.  stark  auseinander. 
V.  Gümbel  glaubte  Tufferuptionen  und  wahr- 
scheinlich auch  im  Mittelpunkte  des  Beckens  einen 
Tuffvulkan  zu  erkennen,  der  nach  dem  Ausbruch 
in  die  Tiefe  versank  und  den  Kessel  mit  seinem 
See  entstehen  ließ:  , .Riesvulkan  theorie". 
Branca  und  E.  Fraas  stellten  bei  Beginn  des 
20.  Jahrhunderts  die  „Riesbergtheorie"  auf,  wo- 
nach ein  Lakkolith  zunächst  einen  gewaltigen 
„Granitpfropfen"  nahezu  senkrecht  emporgetrieben 
habe,  dessen  wirr  zerbrochene  Schollen  unter 
„Mitwirkung  einer  großen  Kontaktexplosion"  durch 
schnelle  Bergstürze  und  langsames  Abgleiten  auf 
das  Vorries  „überschoben"  worden  seien;  später 
hätte  sich  dann  das  gehobene  Gebiet  wieder  ge- 
senkt und  den  Rieskessel  gebildet,  möglicherweise 
wären  auch  außerhalb  der  Wanne  kleine  Auf 
Pressungen,  „Miniaturriese"  entstanden,  von  wel- 
chen die  weitest  entfernten  ortsfremden  Massen 
abgerutscht  sein  sollten.  In  Anlehnung  an 
E.  Sueß  erklärte  schließlich  W.  Kranz  seit 
1908  die  Entstehung  des  Riesgebiets  ohne  „Vul- 
kan", „Berg"  oder  Miniaturriese"  durch  eine  ge- 
waltige Wasserdampfexplosion,  eine  riesige  vul- 
kanische „Fladdermine"  (Trichtersprengung)  im 
oberen  Grundgebirge,  übertrug  damit  Erfahrungen 
der  Sprengtechnik  auf  den  Vulkanismus  und  stellte 
1911  durch  Sprengversuch  an  einem  Riesmodell 
aus  Beton,  Sand,  Lehm  und  Zement  mit  errech- 
neter Schwarzpulverladung  die  Form  des  Ries- 
kessels, Überschiebungen  und  Aufstreuungen  an 
seinen  Rändern,  radiale,  konzentrische  und  andere 
Spalten  experimentell  dar.-')")  Zwei  von  Reuter 
1911/12  geologisch  angeleitete  Tiefbohrungen  bei 
Nördlingen  und  Ottingen  stimmten  mit  dieser 
„Sprengtheorie"  überein,  die  Bohrung  an  der 
Marienhöhe    bei    Nördlingen    erwies    zudem,    daß 

')  Vgl.  Darstellung  und  Lileraturangaben  im  Rieser 
Heimatbuch. 

■■ä)  Jahresber.  u.  Mitt.  Oberrhein.  Geol.  Ver.  N.  F.  U,  I, 
1912,  S.  54—65. 

■')  Vgl.  Darstellung  und  Literaturangaben  im  Rieser 
Heimatbuch. 


hier  ein  zusammenhängender  „Granitpfropfen"  im 
Sinne  der  Riesbergtheorie  nicht  vorhanden  ist. 
Zurzeit  lautet  das  Feldgeschrei:  Hie  Riesberg-  — 
Hie  Sprengtheorie! 

Nach  der  gewaltigen  Katastrophe,  welche  den 
Kessel  und  die  Trümmermassen  schuf,  folgten  die 
Suevitexplosionen,  sodann  Gasaushauchungen,  die 
Füllung  des  Beckens  durch  den  großen  Ries-See 
und  dessen  Trockenlegung  noch  im  Obermiozän. 
Als  neue  Bildungen  entstanden  im  Diluvium  Löß, 
Lößlehm,  Schwarzerde  und  feiner  Ouarzsand, 
z.  T.  in  mächtigen  Lagern,  unter  allmählichem 
Einschneiden  der  Flüsse  und  Bäche  in  die  ehe- 
malige tertiäre  Landoberfläche  und  in  das  Becken. 
Vorwiegend  lehmige  Alluvionen,  Sumpf-  und 
Moorbildungen  sind  die  jüngsten  Zeugen  der  Erd- 
geschichte des  Gebiets,  dessen  Vulkanismus  in 
Erdbeben  nachklingt. ') 

Eine  Nachwirkung  der  Vorzeit  erkennen  wir 
ferner  in  der  Pflanzenwelt,  wie  Hermann 
F  r  i  c  k  h  i  n  g  e  r  in  seinem  Vortrag  „Über  die 
Pflanzenkunde  des  Rieses"  trefflich  er- 
läutert. ■-)  Je  nach  den  geologischen  Verhältnissen 
und  den  dadurch  bedingten  verschiedenen  Boden- 
arten läßt  sich  hier  z.  B.  eine  Flora  der  trockenen 
Tonkalkheide  auf  bewaldeten  Höhen  im  Becken 
und  an  seinen  Rändern  erkennen,  eine  Flora  der 
alluvialen  Wiesen  und  Bachränder,  der  Jurabuchen- 
wald ,  durch  Erosion  der  Vorzeit  bedingter  Mul- 
den-, Schlucht-  und  Felsenwald,  eine  Flora  des 
schweren  Tonbodens  im  Westries,  des  Quarz- 
sandbodens östlich  der  Wörnitz  und  im  Schwalb- 
tal, sowie  Nachzügler  der  Eiszeit  (je  eine  /ri's, 
I'idiciiliiris,  l'irciiiid.  Sdlix).  Außer  diesen 
Nachwirkungen  der  verschiedenartigen  Ausnützung 
des  Bodens  durch    die  Pflanzen    wird  diese  durch 

„Das  Klima  des  Rieses"  beeinflußt,  über 
welches  uns  Ernst  Frickhinger  unterrichtet.^) 
Nach  elfjährigen  Beobachtungen  seit  1910  beträgt 
der  mittlere  Barometerstand  der  435,6  m  ü.  M. 
gelegenen  Wetterwarte  Nördlingen  723,4  mm,  die 
mittlere  Jahrestemperatur  8,3"  C,  der  Nieder- 
schlagsdurchschnitt 597,2  mm  (ohne  Berücksichti- 
gung der  trockenen  Jahre  1920  und  1921  — 
638,2  mm).  Am  häufigsten  ist  Westwind,  Ge- 
witter teilen  sich  oft  am  Riesrand  und  umgehen 
den  Kessel  auf  2  Seiten ,  nur  ein  geringer  Teil 
und  dann  meist  schwere  Gewitter  ziehen  durch 
die  Wanne  hindurch.  Im  ganzen  ist  das  Klima 
gesund  unf  für  Ackerbau  sehr  günstig. 

Ernst  Frickhinger  hielt  ferner  einen 
Vortrag  über  „Die  Vor-  und  Frühgeschichte 
des  Rieses",^)  Oscar  Paret  hatte  tags  zuvor 
eine  vorgeschichtliche  Exkursion  auf  den  württem- 
bergischen  Rand    der   Senke    geführt.  ^)      Danach 

')  Vgl.  Darstellung  und  Literaturangaben  im  Kieser 
Heimatbuch. 

^)  Rieser  Heimatbuch  S.  08 — 84. 

^)  Ebenda  S.  85—88.  Vgl.  auch  A.  Bechtle,  Das 
Klima    des    Rieses    und    seiner  Umgebung.     Nördlingen   1907. 

*)  Rieser  Heimatbuch  S.  88—146,  mit  I  Taf.,  2  Textfig. 
und   I   Fundkarte. 

■'')  „Goldberg  und   Ipf",  a.   a.   U.  S.   146 — 154. 


712 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


beginnt  die  Besiedlungsgeschichte  des  Gebiets 
mit  dem  jüngeren  Paläolithikum,  dessen  sämtliche 
Stufen  in  den  Ofnethöhlen  bei  Hohlheim  vor- 
handen sind;  weitere  Zeugen  dieser  Zeit  wurden 
im  Hohlenstein  bei  Edernheim  und  am  Kauferts- 
berg  bei  Lierheim  gefunden.  In  der  Ofnet  haben 
wir  den  ersten  Fall  von  Rassenmischung:  Rund-, 
Langkopfform  und  Mischung  beider,  die  Birnform 
der  Schädel  der  Pfahlbauern,  deren  Vorfahren  wir 
in  den  Ofnetleuten  erblicken  können.  Aus  den 
Niederungen  der  Eger  und  Wörnitz  ist  kein  vor- 
geschichtlicher Fund  bekannt,  während  das  übrige 
Ries  durch  das  ganze  Neolithikum  hindurch  stark 
besiedelt  war.  Zahlreiche  Fundpunkte  geben  da- 
von Zeugnis,  darunter  wieder  Ofnet,  Hohlenstein 
und  Kaufertsberg ;  auf  dem  Goldberg  fanden  sich 
Befestigungen  und  in  Schwarzerde  eine  Siedlung 
aus  dieser  jüngeren  Steinzeit,  mit  der  Keramik 
der  „Tulpenbecher"  (Beutelstil)  und  Gefäßen  im 
Körbchenstiel  („Rössener  Kultur"),  im  übrigen 
finden  wir  ein  Ineinanderfließen  der  „Band"-  und 
„Schnur- Keramik"  (Gefäße  mit  Bandmustern  und 
mit  Eindrücken  von  Schnüren  verziert).  Beim 
Hohlenstein  deuten  die  Fundumstände  auf  Men- 
schenfresserei hin.  Aus  der  reinen  Kupferzeit 
fand  sich  im  Ries  bis  jetzt  lediglich  ein  Kupfer- 
beil mit  3  Goldringen  bei  Wechingen,  dagegen 
sind  aus  der  Bronze-  und  älteren  Eisenzeit  wieder 
zahlreiche  Funde  bekannt,  die  u.  a.  von  der  Kultur 
in  der  Hallstatt-,  Latene-,  Römer-,  Alemannen- 
und  Merovingerperiode  zeugen.  Während  der 
ersten  Eisen  (Hallstatt-)zeit  war  der  Sprudelkalk- 
felsen des  Goldbergs  abermals  besiedelt  und  stark 
befestigt,  gleichzeitig  trug  auch  der  hohe  Ipf  eine 
umwehrte  Siedlung  (ca.900 — 500  v.Chr.).  F'rick- 
hinger  rechnet  die  Zeit  von  2000— 1200  v.Chr. 
zur  Bronzeperiode  der  Riesgegend,  ca.  6000 — 2000 
v.  Chr.  zum  Neolithikum,  die  Ofnetschädel  (Mas 
d'Azilstufe  des  jüngeren  Paläolithikum)  etwa 
10000  V.  Chr.;  eine  Erstbesiedlung  des  Rieses 
müßten  wir  dann  noch  etwa  10 — 200GO  Jahre 
zurückverlegen,  was  aber  um  so  unsicherer  wird, 
je  weiter  wir  zurückgehen.  Die  Besiedlung  und 
z.  T.  hohe  Kultur  seit  der  älteren  Steinzeit  muß 
ein  Vorhandensein  von  Sumpf  und  Urwald  in 
größerer  Ausdehnung  innerhalb  des  Rieses  wohl 
ausschließen. 

Mit  eingehenden  statistischen  Nachweisen  er- 
läuterte sodann  Friedrich  Zahn  in  seinem  Vor- 
trag über  „Die  volkswirtschaftliche  Be- 
deutung des  Rieses"')  den  maßgebenden 
Einfluß  des  Bodens  auf  die  Volkswirtschaft,  die 
entsprechend  der  außergewöhnlichen  Fruchtbar- 
keit namentlich  der  Lehmdecke  westlich  der 
Wörnitz  im  Ackerbau  gipfelt.  Deutlich  hebt 
sich  die  etwas  geringere  Ertragfähigkeit  des 
Quarzsandbodens  östlich  der  Wörnitz  und  der 
Kalkränder  des  Beckens  ab,  im  ganzen  ist  das 
Gebiet  aber  durch  seinen  fruchtbaren  Boden,  die 
nicht  allzu  reichlichen  Niederschläge  und  die  aus- 


gezeichnete Belichtung  zum  Überschußgebiet,  zur 
„zweiten  Kornkammer  Bayerns"  geworden,  beson- 
ders begünstigt  für  Getreidebau  und  Hackfrüchte, 
weniger  für  Wiesenkultur  und  Obstbau.  Von 
sonstigen  Bodenschätzen  ist  der  vulkanische  Suevit- 
tuff  als  Baustein  und  in  Form  von  „Trass"  als 
hydraulischer  Mörtelbildner  seit  langem  in  Ge- 
brauch, der  Trass  könnte  aber  noch  in  größerem 
Umfang  als  bisher  ausgewertet  werden.  Ob  die 
Braunkohlenlager  im  Riesbecken  Förderung  der 
Volkswirtschaft  versprechen,  ist  mehr  als  fraglich, 
ebenso  wie  der  neuerdings  versuchte  Abbau  von 
Eisenerzen.  Dagegen  sind  die  natürlichen  und 
kulturellen  Reize  der  Landschaft  und  die  geologi- 
schen Eigentümlichkeiten  entwicklungsfähige 
Werte  für  den  Fremdenverkehr;  namentlich  der 
Naturwissenschaftler  wird  hier  reichste  Anregung 
finden. 

Major  a.  D.  Dr.  W.  Kranz,  Stuttgart. 

Zur  Wüiischelruteufrage. 

Im  trockenen  Sommer  1921  hatte  ich  aus- 
giebige Gelegenheit,  über  die  Wünschelrutenfrage 
vom  praktischen  Standpunkt  eingehende  Beob- 
achtungen zu  machen.')  Mehrere  württember- 
gische Gemeinden  versuchten  damals,  auf  Grund 
von  Rutenansagen  Wasser  zu  erschließen.  Da  ich 
in  den  betreffenden  Gebieten  nicht  nur  die  geo- 
logischen Verhältnisse  bei  meinen  amtlichen  Auf- 
nahmen im  Maßstab  1:25000  kennen  gelernt 
hatte,  sondern  auch  die  Aufschlüsse  genau  ver- 
folgte, welche  die  Gemeinden  auf  den  Rat  der 
Rutengänger  ausführen  ließen,  und  da  ich  großen- 
teils auch  die  Gedanken  der  Rutenleute  nach 
deren  eigenen  Aussagen  und  nach  Beobachtungen 
von  Augenzeugen  in  Erfahrung  bringen  konnte, 
dürften  meine  tatsächlichen  Feststellungen  die 
breite  Öffentlichkeit  interessieren,  wenn  sie  sich 
auch  nicht  verallgemeinern  lassen. 

Ich  halte  es  für  zweifellos,  daß  bei  sorgfältiger 
Ausschaltung  suggestiver  iVIomente  der  ehrlich 
von  seiner  Kunst  überzeugte  und  psychisch  dazu 
geeignete  Wünschelmann  —  Damen  einbegriffen 
—  irgendwelche  Reaktionen  empfangt  und  durch 
seine  Nerven  und  Muskeln  mit  seinem  Instrument, 
der  Holz-  oder  Metallrute,  einer  Art  Pendel  (?)  usw. 
sichtbar  macht.-')  Aber  die  vielen  falschen  Deu- 
tungen dieser  Reaktionen  lassen  die  einsei- 
tige Verwendung  des  Phänomens,  selbst  in  der 
Person  der  besten  und  erfahrensten  Medien,  vom 
praktischen  Standpunkt  als  nahezu  wertlos  er- 
scheinen. Dazu  kommt,  daß  sich  nicht  bloß  phä- 
nomenale, sondern  auch  recht  minderwertige  Me- 
dien und  außerdem  Schwindler  dieser  Kunst  be- 
fleißigen, so  daß  oft  nur  der  Psychiater  die  Spreu 


')  a.a.O.  S.  205  — 258,  mil  4  graphischen  Darstellungen. 


')  W.  Kranz,  Zur  Klärung  der  Wünschelrutenfrage, 
Zeitschr.  f.  prakt.  Geologie,  29.  Jahrg.  1921,  Heft  11  und 
30.  Jahrg.  ig22,  H.  3  u.  4,  ü  Textfig. ;  Zur  Wünschelruten- 
fragc,  Stuttgarter  Neues  Tagebl.att  Nr.  381    vom    19.  S.   1922. 

'']  Vgl.  K.  Scheminsky,  Moderne  Probleme  der  Elektro 
biologie,  Naturw.  Wochenschr.  1922,  Nr.  40,  besonders  S.  545. 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


713 


vom  Weizen  zu  scheiden  vermag,  und  zunächst 
einmal  der  Anatom  des  Untergrundes,  der  Geo- 
loge, über  die  Möglichkeit  ihrer  Angaben 
Auskunft  erteilen  muß,  wenn  der  Auftraggeber 
nicht  von  vornherein  viel  Geld  und  Zeit  für  Erd- 
arbeiten übrig  hat.  Vorläufig  sind  wir  noch  nicht 
so  weit,  in  den  allermeisten  Fällen  arbeiten  mehr 
oder  minder  begabte  Rutengänger  neben  Schwind- 
lern allein,  und  das  nutzlos  auf  den  Rat  von 
Rutengängern  bei  Erdarbeiten,  Bohrungen  usw. 
hinausgeworfene  Geld  beläuft  sich  in  die  Hundert- 
tausende. Dem  entsprechen  meine  Erfahrungen 
1921.  Ich  beobachtete  7  Einzelfälle,  an  denen 
5  Gemeinden  und  eine  Wasserversorgungsgruppe, 
sowie  10  Rutengänger  beteiligt  waren.  Namen 
werden  nicht  genannt,  um  dem  an  sich  schon 
heftigen  Streit  der  Meinungen  die  persönliche 
Spitze  zu  nehmen,  die  Beteiligten  können  aber 
aus  meinen  eingehenden  und  mit  Skizzen  be- 
legten Darstellungen  ihren  Einzelfall  unschwer 
erkennen.  In  fast  allen  Fällen  konnte  ich  an 
Hand  der  Aufgrabungen  und  in  Verbindung  mit 
den  amtlichen  geologischen  Aufnahmeergebnissen 
entweder  gänzliche  Unkenntnis  oder  Verkennung 
der  natürlichen  Verhältnisse  des  Untergiundes 
feststellen.  So  muteten  die  Rutengänger  meist 
Linien  und  angeblich  besonders  ergiebige  Schnitt- 
punkte solcher  Linien,  in  Erwartung  der  bei 
ihnen  so  beliebten  „Wasseradern"  an  Stellen,  wo 
allenfalls  breitere  Flächen  (Schichten  usw.)  von 
Grundwasser  in  Frage  kamen.  In  2  Fällen  fand 
sich  in  den  angegebenen  Tiefen  überhaupt  nichts, 
was  auf  die  gewünschelten  Linien  oder  dergleichen 
hätte  hinweisen  können,  in  anderen  sind  die  Auf- 
grabungen nicht  bis  zu  den  entscheidenden  Tiefen 
vorgedrungen.  Einer  der  Rutengänger,  der  große 
Kenntnisse  und  Erfahrungen  auf  geologischem 
Gebiet  besitzt,  war  natürlich  von  solchen  Vor- 
stellungen unbeeinflußt,  dafür,  fiel  aber  seine 
Rutenkunst  wohl  durchweg  irrtümlicher  geolo- 
gischer Voraussetzung  und  Beurteilung  der  Auf- 
schlüsse zum  Opfer,  wie  der  Vergleich  seiner  An- 
sagen mit  den  tatsächlichen  Ergebnissen  der  Auf- 
grabungen zeigt.  Besonders  charakteristisch  war 
das  Bestreben  mehrerer  Rutenleute,  mit  dem 
F"ortschritt  der  Aufschlüsse  die  Reaktionen  der 
Rute  zu  überprüfen  und  ihre  Ansagen  zu  korri- 
gieren: Wenn  die  vorausgesagten  Tiefen  unergie- 
big blieben,  dann  sollte  einige  Meter  tiefer  ein 
besseres  Ergebnis  eintreten,  und  wenn  das  eben- 
falls ausblieb,  dann  müßte  man  noch  weiter  ab- 
teufen oder  an  nahe  benachbarten  Stellen  neue 
Aufschlüsse  beginnen.  Teilweise  geschah  das, 
aber  die  hohen  Kosten  schreckten  schließlich  auch 
die  gläubigsten  Auftraggeber  von  weiteren  Ver- 
suchen ab,  so  daß  die  Partie  wissenschaftlich 
remis  blieb.  Auf  Bruchteile  genaue  Zahlenangaben 
einzelner  Rutengänger  über  die  Ergiebigkeit  an 
Wasser  konnten  den  Laien  verblüffen,  für  den  Geo- 
logen war  ihre  Unmöglichkeit  meist  schon  aus 
der  Zahlengröße  der  Voraussage  erkennbar. 
Autosuggestion    hat    zweifellos    in    der  Mehr- 


zahl dieser  Fälle  eine  große  Rolle  gespielt.  Wo 
tatsächlich  Wasser  unter  dem  gewünschelten 
Punkt  erschlossen  wurde,  hätte  man  es  nach  den 
geologischen  Verhältnissen  in  ähnlicher  Menge 
auf  breiterer  Fläche  auch  in  der  Nachbarschaft 
aufschließen  können,  so  daß  es  der  Wünschelrute 
nicht  bedurft  hätte.  Meist  war  das  Wasser  auch 
entgegen  den  Rutenansagen  in  ungenügender 
Menge  vorhanden  oder  von  unbrauchbarer  Be- 
schaffenheit; in  einem  F'alle  hätte  es  genügt, 
seine  Erschließung  schädigte  aber  eine  unter- 
halb gelegene  Quellfassung  des  Auftraggebers 
selbst  und  die  seitlich  oberhalb  gelegene  Fassung 
einer  Nachbargemeinde  durch  Wasserentziehung. 
Im  übrigen  war  der  praktische  Wert  aller 
dieser  Rutenansagen  (1921)  gleich  Null. 
Insgesamt  haben  die  nutzlosen  Grabarbeiten,  wel- 
che auf  diese  Rutenausschläge  hin  ausgeführt* 
wurden,  etwa  goooo  M.  gekostet,  eingerechnet 
ungefähr  2900  M.  Gebühren  für  die  Rutengänger. 
Nach  solchen  Erfahrungen  stehe  ich  einer  prak- 
tischen Verwendung  der  Wünschelrute  zur  Er- 
schließung von  Bodenschätzen  irgendwelcher  Art 
mit  stärksten  Zweifeln  gegenüber.  Grund  für 
die  Versager  mag  sein,  daß  das  Nervensystem 
des  Menschen,  das  ja  nach  allen  bisherigen  Fest- 
stellungen eine  ausschlaggebende  Rolle  beim 
Wünschelrutenproblem  spielt,  auf  viele  äußere 
Einflüsse  reagiert,  nicht  nur  auf  solche  aus  dem 
Untergrund.  Derartige  Fehlerquellen  stehen  aber 
einem  praktischen  Wert  der  Rute  zum  mindesten 
im  Wege.  Doch  wird  es  noch  mancher  ein- 
gehenden Beobachtung  und  Aufzeichnung  von 
Tatsachen  bedürfen,  bis  die  Frage  vollkommen 
geklärt  werden  kann. 

Von  ganz  anderem  Standpunkt  aus  faßt  Graf 
Carl  V.  Klinkowstroem  die  Sache  an,  wenn 
er  auch  in  den  Berührungspunkten  zu  fast  den 
gleichen  Ergebnissen  kommt.')  Nach  kurzen 
Angaben  über  die  Rute  selbst  und  ihre  Geschichte 
gibt  er  eine  kleine  Auswahl  gut  verbürgter  und 
kontrollierter  Wünschelruten  er  folge  wieder,  die 
eine  klare  Beurteilung  gestatten  und  höchstens 
dem  billigen  Einwurf  des  „Zufalls"  Raum  bieten. 
Statistiken  dagegen,  wie  sie  Rutengänger  zuweilen 
veröffentlichen,  oder  Anerkennungsschreiben  der 
Auftraggeber  erklärt  er  mit  Recht  für  wissen- 
schaftlich wertlos.  Der  Rutengänger  hat  es 
seiner  Ansicht  nach  den  Fachleuten  zu  über- 
lassen, Schlüsse  aus  den  Reaktionen  zu  ziehen, 
er  hält  die  Deutung  der  Rutenausschläge  über- 
haupt für  einen  der  schwächsten  Punkte  im  Pro- 
blem. Mißerfolge  wird  „außer  dem  etwa  ge- 
schäftlich interessierten  Rutengänger  selbst  nie- 
mand leugnen  wollen.  Denn  der  menschliche 
Organismus  ist  keine  automatisch  registrierende 
Maschine,  sondern  allen  möglichen  Störungen  und 
Fehlerquellen,    namentlich    psychischer    Art,    zu- 

')  Graf  Carl  v.  Klinkowstroem,  Die  Wünschelrute 
als  wissenschaftliches  Problem ;  mit  Anhang:  Geophysikalische 
Aufschlußmelhoden.  Verlag  K.  Wittwer,  Stuttgart  1922. 
40  S.,  3  Textfig. 


714 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  5: 


gänglich";  auch  die  bekanntesten  Rutengänger  ha- 
ben Mißerfolge.  „Wunsch,  Erwartung,  Wille  sind 
allein  schon  imstande,  die  typische  Wünschel- 
rutenreaktion hervorzurufen,  und  der  Suggestion 
wie  der  Autosuggestion  als  Fehlerquellen  sind 
hierbei  Tür  und  Tor  geöffnet."  Auch  bei  den 
neueren  Erklärungsversuchen  des  Problems  durch 
Schwankungen  elektrischer  Erdströme,  Radio- 
aktivität, Änderungen  des  Gravitations- ,  elektro- 
statischen, magnetischen  und  elektromagnetischen 


Stellung  von  Radikalen,  die  in  der  Tat  wertvolle 
Beiträge  zur  Erkenntnis  der  chemischen  „Valenz" 
geliefert  haben,  ist  seitdem  mehrfach  gelungen. 
Wir  erinnern  an  das  freie  Rhodan ')  und  das 
Ammonium.-')  Einen  weiteren  aufschlußreichen 
Beitrag  zur  vorliegenden  Frage  bringt  nunmehr 
W.  Schlenk  in  Gemeinschaft  mit  H.  IVIark,^) 
denen  die  Darstellung  des  Pentaphenyläthyls, 
eines  in  struktureller  Hinsicht  nahen  Verwandten 
des  Triphenylmethyls,  gelang. 


•■'\ 

C,,H,— C. 


+ 


C„H..-C— C. 


-C-QH-, 


QH.,^  i 

C^H-,— C-C- 

C„H., 

in 


QH-/ 


Feldes,  des  als  Ursache  suggestiver  Fehlschlüsse 
besonders  wichtigen  Reaktionsablaufs  im  Nerven- 
system, durch  Deformation  im  elektrischen  Feld 
bedarf  es  nach  v.  Klinkowstroem  noch  weiterer 
Klärung.  Schon  die  Tatsache,  daß  es  sich  bei  der 
Rutengabe  „um  Eigenschaften  handelt,  die  sonst 
nur  bei  Neurotikern  beobachtet  werden,  legt  die 
Frage  nahe,  ob  die  Veranlagung  des  Rutengängers 
etwa  überhaupt  als  eine  mehr  oder  weniger  krank- 
hafte anzusehen  ist",  oft  „gepaart  mit  hysterischen 
Einschlägen",  wenn  sich  das  auch  nicht  verallge- 
meinern läßt.  Jedenfalls  kann  auch  über  die 
praktische  Verwendbarkeit  der  Wünschelrute  erst 
langjährige  Zusammenarbeit  von  Geologen  mit 
erfahrenen  und  zuverlässigen  Rutengängern  end- 
gültig Klarheit  schaffen. 

Besonders  anzuerkennen  ist,  daß  dieser  gründ- 
liche Kenner  der  Wünschelrutenliteratur  dann  in 
diesem  Zusammenhang  auf  die  „volkswirtschaft- 
lich bedeutsamen  geophysikalischen  Auf- 
schlußmethoden" hinweist,  die  in  Deutsch- 
land ausgebildet  wurden  und  „geeignet  erscheinen, 
mit  weit  größerer  Sicherheit  als  der 
Rutengänger  die  Schürftätigkeit  des  Geologen 
und  Bergmanns  in  wirksamster  Weise  zu  unter- 
stützen": Magnetische  und  Schwerkraftmessungen, 
elektrische  Methoden,  Beobachtung  elastischer, 
durch  Explosionen  erzeugter  Wellen  und  Messung 
der  Verteilung  radioaktiver  Stoffe  und  Strahlungen. 
Major  a.  D.  Dr.  ,W.  Kranz,  Stuttgart. 

Freies  PentapheiijiJithjl ,  eiu  Beitrag  zur 
Kenntnis  der  Natur  der  eheniischen  Valenz. 

Seit  der  Entdeckung  des  Triphenylmethyls 
durch  Gomberg,  die  zum  ersten  Male  die 
Existenz  dreiwertigen  Kohlenstoffs  bewies, 
hat  sich  die  Experimentalchemie  mit  besonderem 
Nachdruck  der  Erforschung  sogenannter  „Radikale" 
gewidmet.  Liegt  es  doch  im  Wesen  des  Radi- 
kals, also  eines  zunächst  rein  gedanklich  ge- 
wonnenen Bruchstücks  von  größeren  Molekülen, 
daß  es  in  irgendeiner  Weise  die  „Bindung"  mit 
dem  Molekülrest  erkennen  lassen  muß.     Die  Dar- 


Die  Darstellung  des  neuen  Stoffes  geschah 
analog  der  des  Triphenylmethyls,  indem  man 
aus  Benzophenonchlorid  und  Triphenylmethyl- 
natrium  das  Octaphenylpropan  (III)  dar- 
stellte, das  erwartungsgemäß  in  Fentaphenyläthyl 
(II)  und  Triphenylmethyl  (I)  dissoziierte,  ein  Re- 
aktionsverlauf, der  oben  formuliert  ist.  Das  der- 
art entstehende  Fentaphenyläthyl  stellt  in  festem 
Zustande  schöne  schwach  metallisch  schimmernde, 
goldgelbe  Kristallschuppen  dar,  die  in  Benzol 
und  Äther  löslich  sind.  Die  Farbe  dieser  Lö- 
sungen ist  ein  reines  lichtes  Rot:  die  Absorption 
erstreckt  sich,  laut  Abbildung  des  Absorptions- 
spektrums im  Original,  von  680  bis  545,  mit 
Ausnahme  eines  ausgeprägten  Bandes  bei  650. 
Schüttelt  man  die  Lösungen  an  der  Luft,  so  ent- 
färben sie  sich.  Das  bedeutet,  daß  der  an  sich 
ja  ungesättigte  Stoff  oxydiert  wird.  Da  ferner 
die  Entfärbung  endgültig  ist  und  nicht,  wie 
bei  Lösungen  von  Triphenylmethyl  wiederkehrt, 
so  muß  der  neue  Stoff  in  Lösung  völlig  m  o  n  o  - 
molekular,  also  wirklich  als  reines  freies  Radi- 
kal vorhanden  sein.  (Beim  Triphenylmethyl 
nimmt  man  bekanntlich  Gleichgewichte  in  Lösung 
an.  Ref.)  Die  Molekulargewichtsbestimmung  be- 
stätigte diesen  Schluß  durchaus.  Des  weiteren 
addiert  der  Kohlenwasserstoff  äußerst  leicht  Chlor, 
wobei  sich  Pentaphenylchloräthan  bildet,  aus  dem 
sich  mit  Silberpulver  das  Chlor  entfernen  und 
das  Radikal  zurückgewinnen  läßt.  Endlich  wirkt 
der  Stoff  auch  auf  Natriumamalgam  ein  dergestalt, 
daß  sich  Pentaphenyläthylnatri  um  bildet.  Alle 
diese  L'msctzungen  sind  nur  möglich,  wenn  es 
sich  wirklich  um  das  vermutete  Radikal  handelt. 
Selbstverständlich  erfordert  die  Darstellung  den 
sorgfältigsten  Ausschluß  von  Luft,  Kohlendioxyd 
und  Wasser.  Die  bekannte  elegante  Methodik 
Schlenks  hat  hier  einen  neuen  großen  Erfolg 
zu  verzeichnen. 

Man  hat  also    im   Fentaphenyläthyl   ein  neues 

')  Vgl.  Naturw.  Wochenschr.  N.   F.  XIX,   S.  138.      1920. 

-)  Vgl.  Naturw.  Wochenschr.  N.  K.  XXl,  S.  14  und 
54.     1922. 

■')  Ber.  d.   U.   Chcin.  Gesellscli.  55,  S.  22S5.  1922. 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


715 


Beispiel  dafür,  daß  chemische  Radikale  mit  „freien 
Valenzen"  unter  gewissen  Vorsichtsmaßregeln 
stabil  sind.  Über  die  allgemeine  Bedeutung  dieser 
Tatsache  spricht  sich  Seh  lenk  etwa  wie  folgt 
aus.  Man  nimmt  heute  in  der  Regel  an,  daß  die 
Verknüpfung  zweier  Atome  durch  linear  gerich- 
tete Affinitätskräfte  bewirkt  wird,  die,  von  beiden 
Atomen  ausgehend,  einander  das  Gleichgewicht 
halten.  Dem  physikalischen  Grundsatz  actio  =  re- 
actio  entsprechend  nimmt  „gefühlsmäßig"  wohl 
die  Mehrzahl  der  Chemiker  an,  daß  hierbei  von 
beiden  Liganden  je  die  gleichen  Affinitäts- 
beträge ausgehen.  Der  Gedanke,  daß  etwa  die 
starke  Affinitätswirkung  des  einen  Atoms  eine 
schwächere  des  anderen  kompensieren  könne, 
ist  hiermit  offenbar  nicht  vereinbar.  Dennoch 
zwingt  er  sich  bei  der  Betrachtung  der  am  Penta- 
phenyläthyl  beobachteten  Erscheinungen  auf. 
Während  nämlich  das  Triphenylmethyl  (I)  in 
Lösung,  wie  oben  erwähnt,  nur  zum  Teil  in 
monomolekularer  Form,  also  als  wirklich  isoliert 
bestehendes  Radikal,  vorhanden,  zum  anderen 
aber  zum  Duplum,  dem  Hexaphenyläthan,  zu- 
sammengetreten ist,  befindet  sich  das  Pentaphenyl- 
äthyl,  wie  beschrieben,  in  Lösung  völlig  als 
Radikal,  ohne  daß  Assoziation  nachweisbar  wäre. 
Nun  kann  offenbar  der  neue  Stoff  als  ein  Derivat 
des  Triphenylmethyls  aufgefaßt  werden  derart, 
daß  man  sich  im  Triphenylmethyl  einen  Phenyl 
rest  durch  den  Tryphenylmethylrest  ersetzt  denkt: 


^  — C 


C-. 


In  beiden  Fällen  bleibt  also  im  Sinne  der  her- 
kömmlichen Auffassung,  wie  sie  auch  in  den 
Formeln  zum  Ausdruck  kommt,  eine  Valenz 
des  Kohlenstoffs  ungesättigt,  „frei".  Käme  nun 
in  einer  solchen  der  vier  Kohlenstoffvalenzen 
immer  der  für  das  C  -  Atom  kennzeichnende 
gleiche  Affinitätsbetrag  zur  Wirkung,  so  müßte 
das  Verhalten  der  beiden  Radikale  in  Lösung 
gleichartig  sein.  Statt  dessen  treten,  wie  wieder- 
holt sei,  die  kleineren  Radikale  des  Triphenyl- 
methyls leicht  und  zu  einem  ansehnlichen  Be- 
trage zum  gesättigten  Hexaphenyläthan  zusammen, 
die  Pentaphenyläthylreste  aber  bleiben  monomole- 
kular nebeneinander  bestehen!  In  dieselbe  Rich- 
tung weist  das  ziemlich  unbeständige  Verhalten 
des  Pentaphenylchloräthans,  das  sich  (s.  o.)  leicht 
zu  dem  neuen  Radikal  zurückbilden  läßt,  während 
andererseits  das  Triphenylchlormethan  eine  recht 
stabile  Verbindung  darstellt.  „Diese  Tatsachen 
zwingen  zu  dem  Schluß,  daß  bei  einer  C — C-Bin- 
dung  die  beiden  Atome  in  bezug  auf  die  Beteili- 
gung ihrer  bindenden  Energie  nicht  gleichmäßig 
beansprucht  sein  müssen." 


Nun  handelt  es  sich  nach  der  Auffassung,  die 
insbesondere  die  heutigen  Physiker  im  Anschluß 
an  Bohr  und  Rutherford  entwickelt  haben, 
sowohl  im  Falle  des  neuen  Radikals  wie  seiner 
konstitutionellen  Muttersubstanz  um  eine  freie, 
ungesättigte  Valenz,  d.  h.  um  den  quantitativ  ein- 
deutig bestimmten  Betrag  der  elektrostatischen 
Ladung  eines  Elektrons.  Die  Erfahrung  zeigt 
aber,  daß  die  nach  der  modernen  Theorie  zu  er- 
wartende Kraftäußerung  ganz  und  gar  nicht  die 
gleiche  ist.  Und  so  wie  in  dem  hier  näher 
beschriebenen  Falle  liegen  die  Verhältnisse  in 
„unzählig"  vielen  anderen.  Schlenk  kommt 
daher  zu  der  sehr  bemerkenswerten  und  aus  dem 
Munde  eines  so  vorsichtigen  und  erfahrungsreichen 
Forschers  doppelt  bedeutungsvollen  Folgerung, 
„daß  in  dem  modernen  Bestreben  der  heutigen 
Physik,  unsere  chemischen  Bindungen  in  mög- 
lichst einfacher  Weise  durch  altbekannte  physi- 
kalische Kräfte  zu  erklären,  zunächst  eben  nur 
eine  Seite  des  Gegenstandes  getroffen  ist,  wäh- 
rend die  andere  Seite,  d.  h.  alle  sonst  noch  mit- 
spielenden F'aktoren,  als  eben  heute  quantitativ 
noch  nicht  formulierbar  zu  sehr  außer  acht  ge- 
lassen werden." 

Der  Berichterstatter  hat  mehrfach  ähnlicher 
Auffassung  Ausdruck  gegeben  ')  und  aus  dem 
Empfinden  heraus,  dem  Schlenk  nun  sehr  ent- 
schiedene Worte  gibt,  die  mehr  oder  minder  auf 
Rechnung  aufgebauten  Formulierungen  der  Phy- 
siker in  einer  früheren  zusammenfassenden  Dar- 
stellung ")  über  das  Wesen  der  chemischen  Valenz 
geflissentlich  nicht  berücksichtigt.  Schlenk  geht 
in  seiner  Ablehnung  der  einseitig  physikalischen 
Spekulationen  sogar  soweit,  insbesondere  die  in 
manchen  Kreisen  sehr  überschätzten  Vorstellungen 
W.  Kossels  als  für  den  Chemiker  „unbefrie- 
digend" zu  bezeichnen,  weil  sie  „die  zweite  Seite 
der  Natur  des  Impulses  zur  Bildung  einer  chemi- 
schen Bindung,  die  chemische  Verwandtschaft,  zu 
sehr  außer  acht  lassen."  H.  Heller. 

Notiz  über  eiue  dauerhafte  Silbervitamin- 
verbindiiug. 

Einen  bemerkenswerten  Befund  gibt  in  einer 
vorläufigen  Mitteilung  A.  Seidel  1  bekannt.^)  Der 
Verf.  schüttelte  Bolus  während  i  Stunde  mit  fil- 
trierter Brauhefe,  wusch  und  trocknete  den  Bolus 
und  fand  diesen  alsdann  beträchtlich  aktiv.  Der 
Bolus  hatte  also  das  in  der  Hefe  enthaltene  „Vi- 
tamin" gebunden.  Mit  gesättigter  Bariumhydr- 
oxydlösung ließ  sich  das  Vitamin  dem  Bolus  ent- 
ziehen. Wurde  nun  das  Filtrat  schwefelsauer 
gemacht  und  durch  aufeinanderfolgende  Behand- 
lung mit  Bleiazetat  und  Schwefelwasserstoff  eine 
weiße  Ausscheidung  von  Nichtvitaminsubstanz  be- 
wirkt,   so   lieferte    das  Filtrat    hiervon    beim   Ein- 


')  Vgl.  z.  B.  Naturw.  Wochenschr.  N,  F.  XXI,  S.  383.   1922. 
-)  „Die  chemische  Valenz  in  heutiger  Auffassung"  v.  Ref., 
Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XVIIl,  S    273.     1919. 

^)  United  States  Public  Health  Reports  36,  S.  665.    1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


dampfen  im  Vakuum  ein  trocknes  Produkt, 
das  seine  antineuritischen  Eigenschaften  unbe- 
grenzt behielt.  Aus  diesem  Extrakt  von  R  o  h  - 
vitamin  ließ  sich  mit  Silbernitrat  eine  in  Wasser 
schwerlösliche  Silberverbindung  fällen,  die  nach 
dem  Trocknen  noch  völlig  antineuritisch  wirkte! 
Der  Silbergehalt  betrug  rund  55  ",'0.  Aus  300  g 
aktiviertem  Bolus  wurden  so  0,7  g  der  hochwer- 
tigen Silbervitaminverbindung  erhalten. 

Sollte  sich  die  (aus  Amerika  stammende)  Nach- 
richt bestätigen  lassen,  so  läge  hier  die  Möglich- 
keit einer  näheren  Erforschung  der  noch  ganz 
rätselhaften  „Vitamine"  vor.  H.  Heller. 

Pikrocrociu,  ein  Glukosid  des  Safrans. 

Die  unter  dem  Namen  „Safran"  wohlbekannten 
Narben  von  Crocus  sativus  sind  trotz  ihrer  schon 
altbekannten  Anwendung  chemisch  noch  nicht 
erforscht  in  dem  Sinne,  daß  man  aus  den  natür- 
lichen Sorten  dieses  Präparates  seine  charakte- 
ristischen Bestandteile  rein  isoliert  hätte.  Das 
ist  um  so  auffallender,  als  gerade  der  Safran  wie 
kaum  eine  andere  Droge  Verfälschungen  ausge- 
setzt ist.  Sowohl  dem  Pharmakologen  wie  dem 
Nahrungsmittelchemiker  kommt  darum  eine  Ar- 
beit von  E.  Winterstein  und  J.  Teleczky') 
entgegen,  die  als  die  erste  einer  Reihe  systema- 
tischer Untersuchungen  über  den  Safran  die  Iso- 
lierung wenigstens  eines  kennzeichnenden  Bestand- 
teils jenes  Gewürzes  beschreibt. 

Im  Jahre  1884  gewann  Kayser  durch  Ather- 
extraktion  des  Safrans  eine  bei  75  '^  schmelzende 
Substanz,  die  er  als  einheitlich  ansah  und  mit 
dem  Namen  Pikrocrocin  belegte.  In  der  vor- 
liegenden Arbeit  wird  die  Reindarstellung  des 
Stoffes  und  ein  Hinweis  auf  seine  Konstitution 
mitgeteilt.  Als  Ausgangsmaterial  diente  Safran 
Aquila,  aus  dem  allein  der  Stoff  bisher  kristalli- 
nisch erhalten  wurde.  Die  Extraktion  mit  Äther 
des  vorbereiteten  Materials  ergab  eine  sirupöse, 
teils  kristallinische  Masse,  die  nach  entsprechender 
Umlösung  einen  Brei  von  etwa  3  mm  langen 
glänzenden  Kristallen  lieferte.  Die  Ausbeute  hier- 
von betrug  3,6"/^. 

Die  harten  Kristalle  des  im  reinen  Zustand 
fast  farblosen  Pikrocrocins  schmelzen  bei  154  bis 
155",  sind  in  Wasser  und  Alkohol  löslich  und 
drehen  die  Ebene  des  polarisierten  Lichts  um 
—  50,3 ".  Zu  bemerkenswertem  Ergebnis  führte 
die  Behandlung  des  Stoffes  mit  heißen  Säuren 
oder  Laugen.  Hierbei  spaltet  sich  das  Pikrocrocin 
in  einen  Zucker  (zu  etwa  50  %)  und  in  ein  äußerst 
stark  nach  Safran  duftendes  hellgelbes  Öl.  Dieses 
optisch  inaktive  '  )1  reagierte  sauer,  ließ  sich  durch 
Destillation  reinigen  und  als  einheitlicher  Stoff 
kennzeichnen.  Weitere  Einblicke  in  seine  Struk- 
tur waren  bisher  nicht  möglich,  doch  steht  fest, 
daß  es  sich  um  ein  Keton,  wahrscheinlich  um  ein 
zyklisches   Kcton    handelt.      Da   das  Öl   so    stark 


nach  Safran  duftet,  daß  der  Duft  noch  lange  an- 
haftet und  dem  Beobachter  die  Tränen  in  die 
Augen  trieb,  so  dürfte  es  sich  hier  um  den  eigent- 
lichen Duftstoff  des  Safrans  handeln.  Mit  dem 
Safran  färbst  off,  dem  Crocin,  hat  er  nichts  ge- 
mein. (Was  nahelag,  dennoch  hervorgehoben  zu 
werden  verdient  im  Hinblick  auf  einen  groben 
Irrtum  Hennings,  der  in  seiner  Monographie 
„Der  Geruch"  [Leipzig  19 16]  Duft  und  Farbe  des 
Safrans  dem  gleichen  Stoff  zuschreibt,  woraus 
dann  weittragende  Folgerungen  gezogen  werden.  H.) 

H.  Heller. 


Der  Gerbstoff  der  einheimischen  Eichen. 

In  einer  früheren  Mitteilung  hatten  K.Freuden- 
b  e  r  g  und  H.  Wa  1  p  u  s  k  i  einige  Angaben  über  die 
Zusammensetzung  des  Gerbstoffes  der  Edelkastanie 
gemacht.')  Im  Verlauf  der  Untersuchung  stellte 
sich  nun  heraus,  daß  die  Blätter  der  einhei- 
mischen Eiche  den  gleichen  Gerbstoff  in  weit 
bequemer  zugänglicher  Form  enthalten.  Damit 
ergab  sich  ein  neuer  Weg  zur  Gewinnung  und 
Untersuchung  des  reinen  Gerbstoffes,  über  den 
soeben  eine  kurze  Beschreibung  erschien,  die 
Freudenberg  in  Gemeinschaft  mit  E.  Vol- 
brecht  veröffentlicht.-) 

Zur  Untersuchung  gelangten  frische  Blätter 
von  Quercus  pedunculata,  nachdem  sich  gezeigt 
hatte,  daß  nur  die  unverwelkten  Blätter  ein  ge- 
eignetes Ausgangsmaterial  darstellen.  Die  Blätter 
wurden  abgekocht  und  der  Extrakt  mit  Bleiessig 
gefällt.  Der  Gerbstoff  erscheint  alsdann  in  Form 
seiner  Bleiverbindung,  die  leicht  zu  dem  freien 
Gerbstoff  zersetzt  werden  kann.  Mittels  Essig- 
äther konnte  beigemengte  freie  Ellagsäure  ent- 
fernt werden.  Es  hinterblieb  der  Gerbstoff,  be- 
gleitet von  seinen  eigenen  Kondensationsprodukten. 
Diese  überwiegen  in  der  Rinde  weitaus;  deshalb 
ist  die  Rinde  kein  geeignetes  Ausgangsmaterial, 
wie  schon  Feist  gefunden  hat.  Da  der  Gerb- 
stoff in  keiner  Weise  in  verschiedene  Bestand- 
teile zu  zerlegen  war,  so  konnte  er  als  rein  an- 
gesehen werden.  Er  stellt  ein  amorphes,  rotgelbes 
Pulver  dar,  das  in  Wasser,  Alkohol  und  Azeton 
leicht  löslich  ist.  Die  Analyse  ergab  einen  Gehalt 
von  50  "/o  Kohlen-  und  4"/,,  Wasserstoff.  Der 
Stoff  dreht  polarisiertes  Licht  um  35"  nach  links 
und  stellt  eine  starke  Säure  dar.  Die  Spaltung 
mit  verdünnter  Säure  lieferte  etwa  5"/,,  Glu- 
kose, die  also  im  Eichengerbstoff  gebunden  ist. 
Verdünnte  Alkalien  spalten  etwa  25",,  Ellag- 
säure, einen  ständigen  Bestandteil  der  Gerb- 
stoffe im  allgemeinen,  ab.  Schließlich  hinterblieb 
eine  noch  immer  saure  amorphe  Masse,  der  die 
Entdecker  den  Namen  Quere ussäure  beilegen. 
Der  Eichengerbstoff  ist  das  Glukosid  der  Ouercus- 
säure,  die  mit  Ellagsäure  zu  einem  sogenannten 
Depsid  verestert  ist. 


')  Helvetica  Chimicu  Acta  5,  S.  370.    1922. 


')  Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.  1698.     1921. 
2)  Ebenda  55,  S.  2420.     1922. 


N.  "F.  XXI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


717 


Die  Quercussäure  ist  an  sich  schon  gerbstoff- 
artig, aber  optisch  inaktiv  und  bisher  in  keiner 
Weise  in  Spahstücke  zu  zerlegen  gewesen.  Ihr 
Molekulargewicht  beträgt  etwa  800,  während  sich 
das  des  Gerbstoffes  zu  etwa  1 100  berechnen  ließ. 

Der  Gerbstoff  ließ  sich  auf  noch  eine  andere 
Weise  isolieren.  Unter  bestimmten  Bedingungen 
gedeiht  auf  den  Extrakten  der  Pilz  Aspergillus 
niger.  Dieser  erzeugt  Tan  nase,  die  ihrerseits 
den  Abbau  des  Moleküls  auf  fermentativem  Wege 
bedingt,  wobei,  was  wichtig  ist,  die  Quercussäure 
nicht  verändert  wird.  Des  weiteren  konnte  ge- 
funden werden,  daß  die  Fruchtbecher-Gallen 
von  Quercus  pudunculata  denselben  Gerbstoff  wie 
die  Blätter  enthalten.  Demgemäß  setzte  man 
diesen  ergiebigen  Rohstoff  der  Einwirkung  des 
Pilzes  bei  beschränktem  Luftzutritt  aus,  was  nichts 
anderes  als  eine  Nachahmung  eines  technischen 
Prozesses  ((ialläpfelfermentation)  ist.  Man  gelangte 
auf  solche  Art  zu  größeren  Mengen  Quercussäure, 
so  daß  deren  Strukturerforschung  in  Angriff  ge- 
nommen werden  kann.  H.  Heller. 

Über  einige  Produkte  der  unvoUstiindigen 
Verbrennung. 

K.A.Hof  mann  und  E.  Will  veröffentlichen 
einige  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Abbaus  von 
Kohlenstoffverbindungen  durch  die  Oxydation 
mittels  Luftsauerstoff.  ^)  Zu  ihren  Versuchen  ver- 
wendeten sie  das  an  sich  bekannte  Prinzip  der 
umgekehrten  Flamme.  Dadurch,  daß  Luft 
in  einer  Dampfsphäre  des  brennbaren  Stoffes 
brennt,  ist  ein  Unterschuß  des  zu  völliger  Ver- 
brennung notwendigen  Sauerstoffes  vorhanden, 
so  daß  der  Verbrennungsvorgang  zwangläufig 
unvollständig  verläuft.  Die  Dämpfe  des  brenn- 
baren Stoffes  nebst  den  Produkten  ihrer  unvoll- 
ständigen Verbrennung  wurden  alsdann  durch 
einen  Kühler  geführt.  Hier  kondensierten  sich 
Dämpfe  und  schwerflüchtige  Anteile,  und  nur  die 
gasförmigen  Anteile  entwichen.  Man  leitete  sie 
durch  eine  Reihe  von  Absorptionsgefäßen  und 
bestimmte  aus  den  darin  nachweisbaren.  Um- 
setzungsprodukten Art  und  Menge  der  Verbren- 
nungsprodukte. ^) 

Das  Ergebnis  war  auffallend :  in  den  meisten 
Fällen  und  in  der  Hauptsache  bildet  sich  bei  un- 
vollständiger Verbrennung  Azethylen,  sodann 
Blausäure.  So  wurden  aus  je  100 g  der  durch 
die  Luftflamme  zersetzten  Kohlenstoffverbindung 
an  Azethylen  in  g  erhalten:  aus  Benzol  5  g, 
Phenol  4,4  g,  Anthracen  1,6  g,  Urteer  aus  Stein- 
kohlen der  Zeche  Matth.  Stinnes  4  g,  Chinon  i  g, 
Hexan  2  g.  Die  Bildung  des  Azethylens  ist  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  wohl  thermischer  Natur. 
Deshalb  zeigen  Benzol,  Phenol  und  Urteer  so 
hohe  Ausbeuten.     Zum  Teil   aber  liegt  sicherlich 

')  Berichte  d.  Deutsch.  Cham.  Gesellschaft  55,  S.  322S, 
1922. 

^)  Genaue  Beschreibung  und  Illustration  der  Apparatur 
im  Original. 


oxydativer    Abbau    vor,    wie    aus    der    immerhin 
großen  Menge  Azethylens  aus  Hexan  hervorgeht. 

Über  die  gebildeten  Mengen  an  Blausäure 
liegen  folgende  Zahlen  vor:  auf  je  lOO  g  ent- 
standen aus  Anilin  3  g,  Carbazol  bis  zu  1,5  g. 
Da  die  Blausäure  sehr  reaktionsfähig  und  der 
Oxydation  besonders  leicht  zugänglich  ist,  so  sind 
die  gefundenen  Mengen  bemerkenswert  groß.  Es 
dürfte  sich  hier  gleichfalls  um  thermischen  und 
oxydativen  Abbau  handeln. 

Die  hier  mitgeteilten  Befunde  sind,  wenn  sie 
auch  noch  nicht  abschließend  genannt  werden 
können,  in  mehrfacher  Hinsicht  wichtig.  Theo- 
retisch insofern,  als  man  mit  ihrer  Hilfe  vielleicht 
den  Weg  erkennen  kann,  über  den  die  Verbren- 
nung zu  den  letzten  Endprodukten  Wasser, 
Kohlendi-  und  monoxyd  führt.  Dann  aber  ist 
bei  genauer  Kenntnis  der  Produkte  der  unvoll- 
kommenen Verbrennung  eine  Verlustrechnung  bei 
Verpuffungsmotoren  möglich.  Endlich  aber  geht 
eines  der  Hauptaugenmerke  der  heutigen  Feue- 
rungstechnik dahin,  minderwertige  Kohlen  durch 
unvollständige  Verbrennung  in  Generatoren  usw. 
in  höherwertige  Gase  und  Teere  überzuführen. 
Für  alle  diese  Zwecke  liefern  die  vorstehenden 
Daten  erste  wertvolle  Fingerzeige. 

H.  Heller. 

Rohrzucker  in  Fingerhutblüten. 

Sowohl  in  den  Nektarien  tropischer  wie  ein- 
heimischer Pflanzen  ist  Rohrzucker,  zum  Teil  in 
wohlausgebildeten  Kristallen,  nachgewiesen  wor- 
den. Daß  zu  solchen  Pflanzen  auch  der  Fingerhut 
zählt,  war  bisher  nicht  bekannt.  Nunmehr  ist  der 
Nachweis  hierfür  Edm.  O.  v.  Lippmann  ge- 
lungen. ')  Während  eines  ungewöhnhch  heißen 
Sommers  wurde  im  Vorgarten  eines  Thüringer 
Wohnhauses  beobachtet,  daß  in  den  Vormittags- 
stunden aus  den  überhängenden  Blütenstauden 
einiger  kräftiger  Fingerhutpflanzen  einzelne  Nektar- 
tropfen auf  die  Pflasterung  des  Gartenweges  fielen. 
Unmittelbar  nach  dem  Auftropfen  erstarrten  die 
Tröpfchen  zu  einer  völlig  festen  Masse.  Schon 
einmaliges  Umkristallisieren  genügte,  um  sie  als 
Rohrzucker  zu  identifizieren.  Es  waren  harte, 
glänzende  süß  schmeckende  Kristalle  vom  Schmelz- 
punkt 162".  Das  Drehungsvermögen  der  Lösung 
(c  =  9,5)  betrug  «p  =  -|-66,6.  Die  Lösung  lie- 
ferte eine  Fällung  von  Strontiumbisaccharat  und 
ließ  sich  zu  einer  Lösung  invertieren,  die  nach 
Drehung  und  Reduktionsvermögen  eine  solche 
gemeinen  Invertzuckers  war.  Der  Nachweis  des 
Rohrzuckers  dürfte  damit  geliefert  sein. 

H.  Heller. 

Rotverschiebung  und  Michelsonscher  Versuch. 

In  der  Julinummer  des  Observatory  berichtete 
St.  John   über   die   neueren   Messungen   zu   den 

')  Berichte  d.   Deutsch.  Chem.  Gesellschaft  55,    S.  3038, 


^{ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


Nachweisen  der  Relativitätstheorie,  der  Rotver- 
schiebung und  dem  Michelsonschen  Versuch.  Er 
weist  zunächst  darauf  hin,  daß  es  ganz  unstatt- 
haft ist,  sich  auf  wenige  ausgesuchte  Linien  be- 
schränken zu  wollen ,  so  daß  die  bisherigen  Mes- 
sungen keineswegs  als  einwandfrei  zu  betrachten 
sind.  Auf  dem  Mt.  Wilson  werden  gegenwärtig 
Messungen  an  einer  großen  Anzahl  von  Linien 
vom  roten  bis  zum  violetten  Ende  des  Spektrums 
vorgenommen,  die  verschiedenen  Elementen  an- 
gehören und  von  verschiedener  Intensität  sind. 
Bisher  läßt  sich  als  einziger  endgültiger  Schluß 
nur  aussagen,  daß  die  Unterschiede  zwischen  den 
Wellenlängen  der  Sonnen-  und  der  Laboratoriums- 
linien nicht  auf  eine  einzige  Ursache  zurückgeführt 
werden  können.  Erst  sehr  umfangreiche  Messun- 
gen und  Studien  über  das  Verhalten  der  Linien 
am  Sonnenrand,  in  der  Mitte  und  der  künstlichen 
Linien  werden  es  ermöglichen ,  den  äußerst  ver- 
wickelten Komplex  verschiedener  Ursachen  zu 
entwirren. 

Von  dem  bekannten  Experiment  von  Michel- 
son  und  Morley  wird  mitgeteilt,  daß  es  zu- 
nächst noch  nicht  i  "/„  der  berechneten  Bewegung 
der  Erde  durch  den  Äther  ergab.  Die  Wieder- 
holung 1905  wurde  an  der  freien  Luft  angestellt, 
200  Fuß  über  dem  Meere;  sie  zeigte  eine  Ver- 
schiebung der  Interferenzfransen  größer  als  die 
Beobachtungsfehler  waren.  Die  damaligen  Er- 
gebnisse wurden  aber  nicht  veröffentlicht,  da  man 
störende  äußere  Einflüsse  annahm.  Zurzeit  wer- 
den die  Versuche  auf  dem  Mt.  Wilson  wiederholt, 
man  findet  den  Betrag  von   '/in  der  relativen  Be- 


wegung, aber  merkwürdigerweise  überlagert  von 
einem  Betrage  von  der  doppelten  Größe  der 
vorausberechnetet!  Periode.  Man  nahm  an,  daß 
hier  vielleicht  magnetische  Einflüsse  von  Wirkung 
sein  könnten,  und  die  Versuche  wurden  mit 
magnetfreien  Instrumenten  wiederholt,  mit  dem 
gleichen  F>gebhis.  Bei  dieser  Lage  der  Dinge 
kann  zurzeit  überhaupt  von  keinem  Ergebnis  der 
Versuche  geredet  werden.  Riem. 


Lichterscheiuuugen. 

Eigentümliche  Lichterscheinungen  wurden  in 
Westdeutschland  um  den  I.  Februar  an  mehreren 
Stellen  beobachtet.  Dazu  berichtet  der  Leiter 
der  La  Piatastern  warte,  Prof.  Hartmann,  daß 
diese  offenbar  auf  den  gewaltigen  Ausbruch  eines 
bis  dahin  unbekannten  Vulkans  in  Chile,  am 
13. — 19.  Dezember  1921  zurückzuführen  seien. 
Noch  in  no  km  Entfernung  vom  Vulkan  fielen 
wallnußgroße  Brocken  nieder,  und  Staubmassen 
bedeckten  den  Boden.  Die  Wolke  kam  in  La 
Plata  am  17.  Dezember  an,  das  sind  1400  km  Ent- 
fernung, so  daß  sich  eine  Geschwindigkeit  von 
4  Sekundenmetern  ergibt.  Das  würde  in  der 
gleichen  Richtung  verlängert  in  der  Tat  Ende 
Januar  in  Westdeutschland  ergeben.  Es  wäre 
dies  eine  Wiederholung  der  Erscheinungen  nach 
dem  Ausbruch  des  Krakatau  im  Jahre  1883,  der 
damals  bekanntlich  die  mehrere  Jahre  lang  sicht- 
baren leuchtenden  Nachtwolken  im  Gefolge  hatte. 

Riem. 


Böcherbesprechungen. 


Kayser,  Emmanuel,  Abriß  der  allgemeinen 
und  stratigraphischenGeologie.  3. Aufl. 
Enke-Stuttgart  1922. 
Das  Kaysersche  Lehrbuch  und  der  gekürzte 
„Abriß"  sind  viel  zu  bekannt,  um  bei  Ankündigung 
einer  Neuauflage  einer  Gesamtcharakterisierung 
zu  bedürfen.  Daß  auch  der  Umfang  des  Abrisses 
bedrohlich  wächst,  wurde  schon  bei  der  2.  Aufl. 
betont,  ist  aber  in  der  Tat  kaum  vermeidbar. 
Findet  doch  wirklich  nahezu  die  Gesamtliteratur 
von  einiger  Bedeutung  in  diesen  Werken  K  a  y  s  e  r  s 
ein  Echo.  Ein  „Nachtrag"  referiert  sogar  ge- 
wissenhaft über  einige  interessantere  Neuerschei- 
nungen. Die  sorgfältig  bessernde  und  aus- 
gleichende Hand  des  unermüdlichen  Verf.  ist 
überall  zu  spüren.  Edw.  Hennig. 


Schmidt,  C.  W.,  Die  Herstellung  ein- 
facher mikroskopischer  Präparate 
aus  dem  Tierreich.  „Biologische  Arbeit", 
Heft  12.  55  Seiten  8",  39  Abbildungen  im 
Text.  Freiburg  i.  Br.,  Verlag  von  Theodor 
Fisher. 
Das  Büchlein  ist  mit  dem  vom  Autor  bekann- 


ten didaktischen  Geschick  beschrieben  und  be- 
handelt außer  der  mikroskopischen  Lebendunter- 
suchung von  Tieren  das,  was  auf  Anfänger  ge- 
wöhnlich eine  große  Anziehungskraft  ausübt:  die 
Herstellung  mikroskopischer  Totalpräparate  von 
ganzen  Tieren  und  von  Teilen  solcher.  Einer 
allgemeinen  Darstellung  der  mikroskopischen  Tech- 
nik, soweit  sie  für  den  vorliegenden  Zweck  er- 
forderlich ist,  folgen  Anleitungen,  mit  den  einzel- 
nen Tierklassen  zu  arbeiten.  Wer  nach  diesem 
Buch  privatim  studiert,  wird  Kenntni.sse  sammeln, 
deren  Besitz  ihn  zu  tieferem  Studium  befähigen 
wird.  V.  Franz,  Jena. 

Das  Tierreich.     Zweite  Auflage.     III,    1.  Repti- 
lien,   von    Franz    Werner.      VI,    2.    Krebse, 
Spinnentiere,    Tausendfüße,    Weichtiere,    Moos- 
tierchen, Armfüßer,  Stachelhäuter    und  Mantel- 
tiere.    Sammlung  Göschen,   1922. 
Daß     auch     diese     beiden     Göschenbändchen 
ebenso   wie  die  unlängst  hier  angeführten  „Fische" 
in  zweiter  Auflage  vorliegen,  ist  ein  Zeichen,  daß 
nicht    wenige    Wissensdurstige    auch    in    diesen 
kleinen  Quellen  Belehrung   und  Gelegenheit  zum 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


;i9 


Nachschlagen  suchen.  Wer  könnte  das  tadeln; 
denn  dem  geringen  Kostenpunkt  entspricht  nicht 
etwa  geringe  Qualität,  höchstens  daß  die  Abbil- 
dungen etwas  spärlich  und  zum  Teil  von  be- 
scheidener Ausführung,  gleichwohl  teilweise  sehr 
klar  erläuternd  sind.  Der  Text  ist  jedenfalls 
genau,  inhaltreich  und  gut.  In  den  „Wirbellosen" 
allerdings  kann  er  wegen  der  überwältigenden 
Fülle  des  Stoffes  sich  nicht  über  das  in  einem 
guten  Lehrbuch  Gebotene  erheben.  Anders  bei 
den  „Reptilien",  die  ein  erster  Fachmann  dieses 
Gebietes  schrieb.  Selbst  wer  den  Brehmband 
des  gleichen  Autors,  Franz  Werner,  zur  Hand 
hat,  findet  in  dem  Göschenbändchen  Ergänzungen 
dazu.  V.  Franz,  Jena. 


Müller,  F.  W.,    Bau  und  Entwicklung  des 
menschlichen   Körpers.     Mit    32  farbigen 
Tafeln    und  Textfiguren.     216   Seiten    in    zwei 
Bänden.     Stuttgart   1914,  K.  G.  Lutz'  Verlag. 
Die    beiden   vorliegenden  Bände   bilden    einen 
Teil   eines  Werkes   mit   dem  Titel   „Der  Mensch. 
Bau,  Leben  und  Hygiene   des  menschlichen  Kör- 
pers",   das  als  31.  Band    der  „Schriften  des  Deut- 
schen   Lehrervereins    für    Naturkunde"    erscheint. 
Es  ist  also   ein   für   den  Laien   bestimmtes  Buch. 
Demgemäß   ist  die  Form    eine    durchaus  gemein- 


verständliche, obwohl  man  sagen  kann,  daß  die 
ganze  Anatomie  lückenlos  dargestellt  ist.  Der 
Verf.  ist  ein  Fachmann  der  Anatomie.  Darum 
braucht  kaum  noch  gesagt  zu  werden,  daß  die 
Darstellung  fehlerfrei  ist.  Die  lateinischen  Be- 
zeichnungen sind  durchweg  vermieden,  die  Ver- 
deutschung überall  gut  gelungen.  Die  Textabbil- 
dungen sind  instruktiv,  die  farbigen  Tafeln  ver- 
mögen selbst  verwöhnten  Ansprüchen  gerecht  zu 
werden.  So  wird  das  Buch  seine  Aufgabe  sehr 
gut  erfüllen  können,  den  deutschen  Lehrern  eine 
sehr  gründliche  Handhabe  für  ihr  Anatomiestudium 
zu  geben.  Aber  auch  sonst  möge  es  allen  emp- 
fohlen sein,  die  sich  über  den  Bau  und  die  Ent- 
wicklung ihres  Körpers  unterrichten  wollen. 

Huebschmann,  Leipzig. 


Miehe,  Prof.  Dr.  H.,    Zellenlehre    und  Ana- 
tomie  der  Pflanzen.     Mit  79  Abbildungen. 
Durchgesehener   Neudruck.     Verlag   wissensch. 
Verleger,    Berlin  und  Leipzig  1921,   Sammlung 
Goeschen. 
In  leicht  faßlichem   und  flüssigem  Stil  werden 
die  wichtigsten  Tatsachen  der  Zellen-  und  Gewebe- 
lehre behandelt   und  durch  gute  Abbildungen  er- 
läutert. Wächter. 


Anregungen  und  Antworten. 


W.  Peter-Buenos  Aires  beanstandet  in  Nr.  39,  S.  535 
der  Naturw.  Wochenschr.  den  von  mir  in  Nr.  24,  S.  335  auf- 
gestellten Satz,  daß  unter  den  Nachkommen  einer  Kreuzung 
zwischen  rezessiver  Stammform  und  dominierender  Mutante 
die  RR -Kinder  (die  reinen  Stammformen)  gegenüber  den 
DR-Kindern  (den  heterozygoten  Mutantenformen)  in  rapider 
Weise  zunehmen;  das  Zahlenverhältnis  der  Nachlsommen  der 
Stammform  und  der  Mutante  bleibe  vielmehr  während  aller 
Generationen  konstant.  Er  glaubt  meine  abweichende  Auf- 
fassung auf  einen  Rechenfehler  zurückführen  zu  müssen.  Die 
Differenz  beruht  jedoch  nicht  auf  einem  Rechenfehler,  sondern 
auf  einem  Mißverständnis.  Mein  Satz  bezieht  sich ,  wie  ich 
übrigens  klar  ausgesprochen  habe,  auf  die  Nachkommenschaft, 
welche  aus  einer  Kreuzung  zwischen  Mutante  und  Stamm- 
form hervorgeht,  während  W.  Pete  r  das  Zahlenverhältnis  von 
Mutantenformen  und  Stammformen  in  der  ganzen  Population 
im  Auge  hat.  Beides  ist  scharf  auseinanderzuhalten.  Inner- 
halb der  Nachkommenschaft  der  beiden  gekreuzten  Formen 
ändert  sich  von  Generation  zu  Generation  das  Zahlenverhält- 
nis  von  Mutantenformen  und  Stammformen  nach  der  von  mir 
angegebenen  Formel.  Die  ersteren  treten  den  letzteren  gegen- 
über immer  mehr  zurück.  In  der  ganzen  Population  bleibt 
dagegen  das  betreffende  Zahlenverhältnis  unverändert.  Zwi- 
schen beiden  Sätzen  findet  kein  Widerspruch  statt.  Die  Ver- 
hältnisse in  einem  Teilvorkommen  können  andere  sein  als  in 
dem  ganzen  Vorkommen.  Das  läßt  für  die  in  Rede  stehen- 
den Verhältnisse  gerade  das  von  W.  l'eter  mitgeteilte  Sche- 
ma deutlich  erkennen.  Aus  der  von  W.  Peter  S.  199  ge- 
brauchten Wendung,  „daß  die  Nachkommen  der  Stammform 
und  der  Mutante  während  aller  Generationen  immer  in  dem- 
selben Zahlenverhältnis  zueinander  bleiben",  schloß  ich ,  daß 
er  von  der  Nachkommenschaft  aus  der  Kreuzung  spreche  und 
die  frühere  Platesche  Auffassung  vertrete,  nach  welcher  in 
dieser  Nachkommenschaft  jenes  Zahlenverhältnis  konstant  sein 
sollte.     Auch  das  war  ein  Mißverständnis. 

Die  Nachtsheimsche  Auffassung  (Naturw.  Wochenschr. 
1921,  Nr.  45  und  1922,  Nr.  17),  daß  sich  eine  dominierende 
Mutante    in    dem    von    ihm    angenommenen    Falle    auch   ohne 


Selektionswert  durchsetzen  könne,  ist,  soweit  die  Mendel- 
schen  Gesetze  gelten,  von  beiden  Gesichtspunkten  aus,  mögen 
wir  nun  die  Verhältnisse  innerhalb  der  Nachkommenschaft 
aus  einer  Kreuzung  von  dominierender  Mutante  und  rezessiver 
Stammform  oder  die  Verhältnisse  innerhalb  der  ganzen  Popu- 
lation in  Betracht  ziehen,  nicht  haltbar.  Wäre  die  frühere 
Platesche  Auffassung,  daß  in  der  betreffenden  Nachkommen- 
schaft aus  der  Kreuzung  die  Stammformen  und  die  Mutanten- 
formen immer  in  gleicher  Anzahl  vertreten  seien  und  daß  sich 
infolgedessen  in  der  Gesamtpopulation  das  Zahlenverhältnis 
allmählich  zugunsten  der  Mutantenformen  verschiebe  und 
schließlich  eine  Verbindung  zwischen  Mutantenformen  anzu- 
nehmen sei,  richtig  gewesen,  so  hätte  man  wohl  auf  eine 
eventuelle  Verdrängung  der  Stammformen  durch  die  Mutanten- 
formen schließen  können.  Vermehren  sich  dagegen  in  der 
Nachkommenschaft  aus  der  Kreuzung  die  Stammformen  nach 
der  von  mir  aufgestellten  Formel,  so  ist  hier  eine  Verdrängung 
derselben  durch  die  Mutantenformen  völlig  ausgeschlossen ; 
außerhalb  derselben,  in  dem  übrigen  Teil  der  Gesamtpopula- 
tion, kann  sie  aber  auch  nicht  stattfinden,  da  hier  überhaupt 
keine  Mutantenformen  auftreten.  Dieselbe  Unmöglichkeit  er- 
gibt sich  von  dem  von  W.  Peter  geltend  gemachten  Ge- 
sichtspunkt aus,  daß  in  der  Gesamtpopulation  das  Zahlen- 
verhältnis von  Mutantenformen  und  Stammformen  konstant 
ist.  Denn  wenn  dann  aucTi,  wie  es  in  einem  unbesetzten 
Gebiete  der  Fall  ist,  die  Population  zunimmt,  so  bleibt  doch 
immer  eine  Verbindung  von  Mutantenformen  mit  Mutanten- 
formen gleich  unwahrscheinlich. 

Obgleich  es  wünschenswert  ist,  daß  diese  Verhältnisse 
völlig  klargestellt,  bzw.  durch  die  erwähnten  Mißverständnisse 
nicht  verdunkelt  werden,  würde  ich  doch  auf  deren  Erörterung 
hier  nicht  zurückgekommen  sein,  wenn  ich  nicht  zugleich  her- 
vorheben möchte,  daß  die  Tatsachen,  von  welchen  Nachts- 
heim bei  seinen  Ausführungen  ausgeht,  in  der  Tat  auf  einen 
Weg  hinweisen,  auf  dem  man  schließlich  doch  zu  der  Über- 
zeugung gelangt,  daß  ein  Siebdurchsetzen  einer  Mutante  auch 
ohne  Selektionswert  derselben  möglich  ist.  Nur  hat  Nachts- 
heim, wie  mir  scheint,  diesen  Weg  nicht  weit  genug  verfolgt. 


720 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XXI.  Nr.  52 


Den  Ausführungen  Nachtsheims  lagen  die  Beobach- 
tungen Zelenys  zugrunde,  dafl  die  Rückbildung  der  Augen 
bei  Drosophila  sich  schrittweise  vollzieht,  in  dem  hier  das 
zurückgebildete  „Bandauge"  durch  eine  weitere  Mutation  in 
das  ,, Ultra-Bandauge"  (eine  noch  stärkere  Rückbildung)  über- 
geht. Zweifellos  sollte  nach  der  Auffassung  Nachtsheims 
die  Dominanz  der  Mutante  durch  eine  wiederholte  Mutation 
unterstützt  werden.  Das  muß  der  nur  zum  Teil  berechtigten 
Kritik  \V.  Peters  in  Nr.  39  der  Naturw.  Wochenschr.  ent- 
gegengehalten werden.  Doch  kann  die  blofie  Wiederholung 
einzelner,  an  verschiedenen  Orten  auftretender  Mutationen 
nichts  helfen.  Sie  werden,  wie  sie  einzeln  auftreten,  auch 
unfehlbar  einzeln  eliminiert.  Selbst  die  Verkuppelung  der 
Augenlosigkeit  einer  im  dunklen  Höhlenraum  sich  einstellen- 
den Mutante  mit  einer  Eigenschaft  von  Selektionswert,  etwa 
einer  erhöhten  Leistungsfähigkeit  der  Antennen,  kann  an  die- 
sem negativen  Resultat  im  wesentlichen  nichts  ändern.  Ein 
Organisationsvorteil  schützt  immer  nur  bestimmten  Gefahren- 
komple.\en  gegenüber;  in  den  anderen  kämpft  die  Mutante 
mit  den  Nichtmutanten  auf  gleichem  Fuße.  Darum  unterliegt 
sie  der  Wahrscheinlichkeit  nach,  weil  sie  hier  als  einzelnes 
Individuum  einer  Überzahl  von  Nichtmutanten  ohne  den  be- 
sonderen Schutz  gegenübersteht.  Die  Hauptgefahren,  welche 
sie  bei  der  Entwicklung  zu  bestehen  hat,  liegen  dabei  gerade 
auf  dem  ersten  Stück  des  Weges,  wo  die  Organisationsvorteile 
des  erwachsenen  Tieres ,  wie  die  Leistungsfähigkeit  der  An- 
tennen, noch  keine  Rolle  spielen,  da  sie  noch  nicht  ausge- 
bildet sind. 

Eine  andere  Gestalt  gewinnen  die  Dinge,  wenn  man  die 
Nach  tsheim  sehen  Gedanken  mit  der  de  Vri  es  sehen  Mu- 
tationslehre verbindet.  Nach  de  Vries  treten  in  der  Muta- 
tionsperiode einer  Art  in  derselben  Aussaat  mehr  oder  weniger 
zahlreiche  gleiche  Mutanten  auf.  So  betrug  bei  der  Oenothera 
Lamarckiana  der  Mulationskoeffizient  der  Mutante  Oenothera 
gigas  0,01  "/o>  '^^'  Mutante  rubrinervis  0,1  "/(, ,  der  Mutante 
Oenothera  oblonga  l  "/o-  Doch  kann  nach  de  Vries  der 
Mutationskoeffizient  noch  viel  höher  steigen.  Bei  Plantago 
lanceolata  ramosa  soll  er  50%,  bei  der  Wh it eschen  To- 
mate sogar  100  "/o  erreichen.  Dazu  kommt,  daß  in  der 
Mutationsperiode  für  die  Kreuzung  von  Mutante  und  Mutterart 
die  Mend  eischen  Gesetze  nicht  gelten.  Die  Nachkommen 
sind  hier  schon  in  der  ersten  Generation  (F,)  dimorph ;  sie 
treten  einseitig  in  der  Form  der  Mutterart  und  der  Mutante 
auf.  Das  Zablenverhältnis,  in  welchem  beide  erscheinen  (die 
„Erbzahl")  ist  bei  Oenothera  Lamarckiana  verschieden  je  nach 
der  gekreuzten  Mutante.  Bei  der  Mutante  Oenothera  rubri- 
nervis betrug  die  ,, Erbzahl"  74  "/(,,  bei  der  Mutante  Oenothera 
gigas   loo»/„. 

Ahnlich  verhält  es  sich  auch  bei  Drosophila,  da  bei  einer 
Kreuzung  der  bandäugigen  Mutante  mit  der  normaläugigen 
Mutterart  ebenfalls  die  erste  Generation  (Fj)  dimorph  ist  und 
in  ihr  die  normaläugigen  und  bandäugigen  Formen  zugleich 
auftreten.  Diese  Verhältnisse  hat  Nachtsheim  jedenfalls 
im  Auge,  wenn  er  davon  spricht,  daß  ein  Mutant  mit  Selek- 
tionswert sich  erhalten  und  ausbreiten  könne  ,,auch  wenn  er 
nicht  über  die  Stammform  dominant  wäre".  Bei  Geltung 
der  Mendelschen  Gesetze  würde  das  absolut  unmöglich 
sein,  da  bei  einer  Rückkreuzung  der  rezessiven  Mutante  mit 
der  dominanten  Mutterart  nach  Mendel  nur  DD-  und  DR- 
Formen  erscheinen,  die  Mutante  im  Phänotyp  daher  dauernd 
verschwunden  bleibt. 


Aber  auch  die  größte  „Erbzahl"  kann  allein  die  Erhal- 
tung und  Ausbreitung  einer  Mutante  mit  Selektionswert  nicht 
sichern.  Denn  in  den  Gefahrenzonen,  in  welchen  ihr  Orga- 
nisationsvorleil  nicht  in  Betracht  kommt,  würde  sie  immer 
noch  gcgenübei  den  Nichtrautanten  in  der  Minderzahl  sein. 
Anders  ist  es  jedoch,  wenn  sich  die  hohe  Erbzahl  einer  Mu- 
tante mit  einem  hohen  Mutationskoeffizienten  derselben  ver- 
bindet. Dann  wird  die  Mutante,  mag  sie  einen  Selektions- 
wert haben  oder  indifferent  sein,  die  Stammform  gleichsam 
verschlingen.  Sie  muß  dieselbe,  wenn  sie  nur  überhaupt  er- 
haltungsfähig ist,  in  kürzester  Zeit  verdrängen. 

Damit  stimmen  nun,  wie  ich  in  einem  im  Biologischen 
Zentralblatt  veröffentlichten  Artikel :  Wie  können  sich  Mutanten 
bei  freier  Kreuzung  durchsetzen?  seiner  Zeit  gezeigt  habe 
(Bd.  XXX,  Nr.  18),  eigentümliche  Erscheinungen  in  der  geo- 
logischen Aufeinanderfolge  der  Typen  in  bemerken^erter 
Weise  überein.  So  treten  bei  den  Goniatiten  plötzlich  ganz 
neue  Gattungen  in  der  Basis  des  Oberdevons  und  ebenso 
wieder  in  der  oberen  Etage  desselben  auf.  Nur  eine  einzige 
Gattung  Brancoceras  steigt  ferner  unverändert  aus  dem  Ober- 
devon in  das  Karbon  auf.  Sonst  findet  man  im  Karbon 
gleichzeitig  überall  ganz  neue  Genera.  Derselben  Erscheinung 
des  plötzlichen  Wechsels  der  Gattungen  begegnen  wie  bei 
den  Ammoniten  der  Trias  (Moislsowics).  Am  meisten  fallt 
sie  jedoch  im  unteren  Jura  auf.  Es  stellen  sich  hier  an  der 
Basis  plötzlich  Ammoniten  aus  der  Gattung  Psiloceras  ein. 
Diese  verschwinden  aber  schon  in  der  nächsten  Zone  voll- 
ständig. Die  Gattung  Schlotheimia  (A.  angulatus)  gelangt  zur 
Alleinherrschaft,  um  in  der  weiter  nach  oben  folgenden  Zone 
ebenso  schnell  und  vollständig  von  den  eigentümlichen  Arie- 
titen  verdrängt  zu  werden.  Der  Wechsel  ist  dabei  so  durch- 
greifend, daß  nie  eine  dieser  Formen  aus  einer  Zone  in  die 
andere  aufsteigt  und  erfolgt,  was  das  Seltsamste  ist,  in  allen 
uns  bekannt  gewordenen  Gegenden  in  gleicher  Weise.  Es 
setzen  z.  B.  die  Zonen  mit  Psiloceras,  Schlotheimia  und  den 
Arietiten  gleich  scharf  ab  im  Jura  Deutschlands,  Frankreichs 
und  Englands,  auf  Timor  und  Rotti  in  Hinterindien,  in  Japan, 
Me.xiko,  Peru,  Chile,  Argentinien  —  kurz  überall,  wo  wir 
überhaupt  den  unteren  Lias  antreffen.  Wir  können  die  Er- 
scheinung daher,  soweit  die  Beobachtung  reicht,  nicht  auf 
Einwanderung  zurückführen.  In  unserer  Auffassung  der  Ent- 
wicklung würde  sie  eine  Erklärung  finden.  Die  Entstehung 
komplizierter  adaptiver  Einrichtungen  wäre  dann  freilich,  da 
der  Einfluß  der  natürlichen  Zuchtwahl  ausgeschaltet  sein 
würde,  nur  bei  bestimmt  gerichteten  Mutationen  denkbar.  So 
viele  bestimmt  gerichtete  Varietäten  vir  kennen,  fehlt 
es  uns  zwar,  wie  auch  Nachtsheim  hervorhebt,  in  der 
Gegenwart  an  bestimmt  gerichteten  Mutationen.  Wir  haben 
nur  Andeutungen  von  solchen.  H.  de  V'ries  schließt  aus 
dem  Namen  von  Scabiosa  atropurpurea  nana  purpurea,  daß 
hier  die  Farbennuanzierung  in  zwei  aufeinanderfolgenden 
Schritten  erfolgt  ist.  Das  ist  aber  nur  eine  Vermutung.  Eine 
erste  bestimmt  gerichtete  Mutation  haben  wir  jedoch  in  dem 
Übergang  der  bandäugigen  Mutante  von  Drosophila  zur  ultra- 
bandäugigen.  Sie  läßt  sich  noch  mechanisch  auffassen.  Es 
handelt  sich  bei  ihr  um  den  Abbau  eines  adaptiven  Organs. 
Er  kann  erfolgen,  indem  die  Hemmung  des  Ablaufes  eines 
chemischen  Prozesses  immer  mehr  in  Wegfall  kommt.  Ganz 
anderer  Art  müßten  jedenfalls  die  bestimmt  gerichteten  Jluta- 
tioncn  bei  dem  Aufbau  eines  komplizierten  adaptiven  Organs 
sein.     Doch  kann  darauf  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

Kranich  feld. 


Inhalt:  Fr.  Wiegers,  Zur  Wünschelrutenfrage.  (3  Abb.)  S.  705.  K.  Bertsch,  Zuwachs  und  Alter  der  oberschwäbischen 
Hochmoore.  (l  Abb.)  S.  708.  —  Einzelbeiicbte:  W.  Kranz,  Vom  Nördlinger  Ries.  S.  710.  W.  Kranz,  Zur 
Wünschelrutenfrage.  S.  712.  W.  Schlenk  und  11.  Mark  ,  Freies  Pentaphenyläthyl,  ein  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Natur  der 
chemischen  Valenz.  S.714.  A. Seidell,  Notiz  über  eine  dauerhafte  Silbervitaminverbindung.  S.715.  E.  Winterstein 
und  J.  Teleczky,  Pikrocrocin,  ein  Glukosid  des  Safrans.  S.  716.  K.  Freudenberg  und  E.  Volbrecht,  Der 
Gerbstoff  der  einheimischen  Eichen.  S.  716.  K.  A.  Hof  mann  und  E.  Will,  Über  einige  Produkte  der  unvollstän- 
digen Verbrennung.  S.  717.  f:dm.  ( >.  v.  Lippmann,  Rohrzucker  in  Fingerhutblüten.  S.  717.  St.  John,  Rotver- 
schiebung und  Michelsonscher  Versuch.  S.  717.  Hartmann,  Lichterscheinungen.  S.  7 iS.  —  Bücherbesprechungen: 
E.  Kayser,  Abriß  der  allgemeinen  und  straligraphischen  Geologie.  S.  71S.  C.  W.  Schmidt,  Die  Herstellung  ein- 
facher mikroskopischer  Präparate  aus  dem  Tierreich.  S.  718.  Fr.  Werner,  Das  Tierreich.  S.  71S.  F.  W.  Müller, 
Bau  und  Entwicklung  des  menschlichen  Körpers.  S.  719.  H.  Miehe,  Zellenlehre  und  Anatomie  der  Pflanzen.  S.  719. 
—  Anregungen  und  Antworten:  Zahlenverhältnis  der  Nachkommen  der  Stammform  und  der  Mutante.  S.   719. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


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