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Naturwissenschaftliche
wochenschriet
BEGRÜNDET VON H. POTONlE
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof Dr. H. MIEHE
IN BERLIN
NEUE FOLGE. 21. BAND
(DER GANZEN REIHE 37. BAND)
JANUAR — DEZEMBER 1922
MIT 119 ABBILDUNGEN IM TEXT
JENA
VERLAG VON GUSTAV FISCHER
1922
Alle Rechte vorbehalten.
Register.
I. Originalartikel.
Angersbach, A., Joseph Petzoldt. 640.
Armbruster, L., Über das Farbenseheo
bei Wespen. 419.
Bayer, J., Die Ausbreitung des Men-
schengeschlechts. 693.
Becker, H. K., Reste eines alten Höhlen-
flusses. 105.
Becker, H. K., Beiträge zur Höhlenkunde.
205.
Bertsch, K. , Zuwachs und Alter der
oberschwäbischen Hochmoore. 708.
Brückner, G., Alfonso Corti. 322.
Buttel-Reepen, Das Vogelleben auf
dem Koralleneiland Laysan im Stillen
Ozean. 301.
Car, L., Velella spirans. 5S5.
Collier, W. A., Idiosynkrasie und Ana-
phylaxie. 17.
Dahl, Fr., Kritische Betrachtungen über
die Grundlagen der Relativitätstheorie
Einsteins. 41.
Dahms, F., Danzig als Heimat des Bern-
steins. 89.
Eckardt, W. R., Alfred Wegeners Theo-
rie der Kontinentalverschiebungen und
die Tiergeographie. 326.
Eckardt, W. K., Die Beziehungen der
afrikanischen Tierwelt zur südasiatischen.
689.
Feuerborn, H. J. , Das Problem der
geschlechtlichen Zuchtwahl im Lichte
neuer Beobachtungen, i.
Fischer, E., Stoff und Eigenschaft. 129
Fischer, H., Bemerkungen über Stand-
orte und Verbreitung der deutschen
Farnkräuter. 337.
Fr icke, H., Das Wesen der Schwer
kraft. 513.
Fricke, H. , Zur Klärung des Äther-
problems. 169.
Frölich, W. , Segelflug und fliegende
Fische. 64.
Garns, H., Kulturpflanzen und Unkräuter
der Wikinger. 81.
Goebel, K., Helmut Bruchmann. I08.
Goetsch, W., Beiträge zur Relativitäl
der Individuen. I, 11, III, IV. 201, 481,
529. 553-
Günther, H., über Generationsrhythmen
beim Menschen. 407.
Heikertinger, Fr., Die Stinkdrüsen
der Wanzen in ihrer Bedeutung als
Schutzmittel. 558.
Henkel, L., Über den Einfluß der Erd-
umdrehung auf den Bau von Flußbetten.
485.
Hennig, Edw., Geologie und Wünschel-
rute. 49.
Ken de, O.. Das Donautal in Österreich.
185.
Kendc, O., Der österreichische Anteil
am Böhmischen Massiv. 353.
Kobbe, S. V., Die .-Vblenkung des Fix-
sternlichtes im Schwerefeld der Sonne.
3<7-
Kobbe, S. V., Über Lichtablenkung nahe
der Sonne und Perihelbewegung. 652
K o p [1 li n y i , T h., Theoretische Erwägun-
gen über die Entstehung der Alters-
erscheinungen und des Todes. 5^9-
Kranichfeld, H., Das Verhältnis der
Relativitätstheorie Einsteins zur Kanl-
schen Erkenntnistheorie. 593.
K r e n k e 1 , Vom diluvialen Menschen und
seiner lagd. 241.
Krenkel, E. , Zum fünl'zigjährigen Be-
stehen der Sächsischen Geologischen
Landesuntersuchung. 321.
Krieg, H., Probleme der Artveränderung.
217.
Kuhn, K. , Das Spektrum der elektro-
magnetischen Wellen. 449.
Latz in, H., Zur Grundlegung der Ganz-
heitsforschung der Biologie. 50.
Lech 1er, H., Der Köderwurm. 263.
Lindinger, L. , Ein Vorschlag zur ge-
nauen Festlegung des Fundorts. 132.
Meyer, A. , Die logische Stellung der
Biologie im System der Wissenschaften.
57-
M e y e r , F r. J., Die Vitülhypothese .\rthur
Meyers. 633.
Miehe, H., Der Rhythmus im Leben
der Pflanze. 385.
Mohor o vicic, St., Eine elementare
Theorie der Gravitation. 145.
Nachtsheim, H. , Gregor Mendel und
sein Werk. 425.
Nickel, E. , Neue Grundlagen für den
einheitlichen Aufbau des GrundstotT-
systems in mathematischer Ableitung.
433-
Nieschulz, O., Über das Vorkommen
von Trypanosomen bei unseren heimi-
schen Wirbeltieren und etwas über
ihre Kultur auf künstlichen Nährböden.
164.
. Nölke,Fr., Zur Kimtraktionstheoric. 73.
Olbricht, K. , Die Eiszeit in Deutsch-
land und der vorgeschichtliche Mensch.
369-
Radovanovitch, A., Mathematik und
Wirklichkeit. 625.
Reck, H., Der neue zentralafrikanische
fossile Menschenfund. 125.
Reiche, K., Zur Kenntnis des Dicken-
wachstums der ( >puntien. 33.
Rudder, B. de, Axiom und Erfahrung.
194.
Rust, H, Mathematisches Neuland: Ar-
nold Kowalewskis Buntordnungslebre.
324-
Schalow, E., Pflanzenverbreitung und
vorgeschichtliche Besiedlung. 173.
.Schalow, F.., Vom Einfluß des Krieges
auf die Pflanzenverteilung. 499.
S c h e m i n s k y , P". , Das Problem der
Wünschelrute. 161.
Scheminsky, F., Moderne Probleme
der Elektrobiolügie. 541.
S c h m i d , E., Biozönologie und Soziologie.
518.
Schweizer, Chr., Der Darmkanal des
Maikäfers. 78.
Schwickerath, M., Exaktwissenschaft-
liches, philosophisches und künstleri-
sches Welterkennen und Wellbegreifen.
409.
Sieberg, A. , Bemerkungen zum Erd-
beben auf Jan Mayen am 8. April
1922 usw. 443.
Stadler, H., Wandernde Fledermäuse.
649.
S t i c k e r , G., Nährpflanzen und Heilpflan-
zen in der Geschichte. 609.
S t i e 1 e r , C, Rekonstruklionsversuch eines
liassischen Flugsauriers. 273.
Stolte, H. A., Mechanistische und vita-
listische Strömungen in der Geschichte
der biologischen Theorien. 281.
Taube, E., Tierische Chimären. 457.
Vogtherr, K., Über Fragen der Aber-
ration und Lichtausbreitung. 20.
Vügthcrr, K. , Ein neues Uhrenpara-
doxon. 497.
Voigt, J. , Euklidische Geometrie, Phy-
sik und Vierdimensionalität der Materie.
401.
Vollrath, P., Das Meer zur Wellen-
gebirgszeit zwischen Schwarzwald und
Thüringerwald. 257.
Waaser, Fr., Grundsätzliches zu Goethes
Metamorphosenlehre. 473.
3S847
Register.
Wächter, W., August Schulz f. 297.
Weber, Fr., Die Viskosität des Proto-
plasmas. 113.
Wiegers, Fr., Entstehung der dilu-
vialen Kalktuffe des Ilmtales bei Wei-
mar. 574.
Wiegers, Fr., Zur Wünschelrutenfrage.
705.
Wilser, I. L. , Sollen wir die Gold-
wäscherei am Oberrhein wieder auf-
nehmen? 393.
Wolff, M., Über die neuen Zeifischen
Mikroskop-Objektive und Okulare. 346.
Vakowleff, N. N. , Die Wandlungen
der AnheftuDg bei verschiedenen Grup-
pen der Meerestiere. 603.
Yakowlev, N. N. , Der Klimawechsel
als Hauptfaktor der Veränderung der
Organismenwell. 681.
Zache, Ed., Die Lager aus tierischen
und pflanzlichen Resten im Diluvium
des Eibstromgebietes. 665.
Zeuner, G., Das Biddersche Organ. 233.
Ziegler, H. E., Über die Homomerie.
537-
II. Einzelberichte.
A. Allgemeines, Biologie,
Zoologie, Anatomie,
Vererbungslehre.
Bluhm, A., Wirkung des Alkohols auf
das Verhältnis von Weibchen und Männ-
chen. 267.
Bormann, F. s. Lipschütz.
Bridges, C. B., Chromosomen der Obst-
fliege. 548.
Cohen-Kysper, Kontinuität des Keim •
plasmas oder Wiederherstellung der
Keimzelle? 658.
Davenport und Hurst, Teilweis ge-
schlechtsgebundene Vererbung der
Augenfarbe beim Menschen. 525.
Ding 1er, H., Ökonomieprinzip. 654.
Farbensinn der Biene. 349.
G e r o u 1 d , Veränderung der Hämolymphe
durch Mutation. 210.
Goette, K., Hodenatrophie. 697.
Gregory, A., Verjüngungsversuch. 697
Heymons, R., Rapsrüßler. 467.
Jacobshagen, Homologie der Wirbel-
tiere. 52.
Lichtenstein, Nahrungsgewinnung
einer Schlupfwespe. 1 10.
Lindner, Kr., Brutvorkoramen der Bart-
meise. 68.
Lipschütz, A., Bormann, F. und
Wagner, K. , Bedeutung der Keim-
drüsenzwischenzellcn. 350.
Oye, P. van, Biologie der Pfeilwürmer.
tg.
Robertson, W. R. B. , Maultier und
Pferd als Zwillinge. 292.
Schneider, K. M., Lichterscheinungen
an fliegenden Vögeln. 85.
Schröder, R., Ovarialcyclus und Uterus,
269.
Sitowski, Kiefernspanner und seine
Schmarotzer. 362.
T baden, Cl. v., Künstliche Beleuchtung
zur Förderung der Kükenaufzucht. 27.
Wagner, K., s. Lipschütz.
B. Botanik, Bakteriologie,
Landwirtschaft.
Bornmüller, s. Schuster.
Brockmannn-Jerosch, Die ältesten
Nutz- und Kulturpflanzen. 564.
Correns, C, Versuche, bei Pflanzen das
Geschlecht zu verschieben. 12.
Guttenberg, H. v. , Phototropismus.
659.
Haberlandt, G., Embryobildung nach
Verletzung der Fruchtknoten. 86.
Haberlandt, G. , Parthenogenesis und
Nekrohormone. 289.
Hallier, Bedeutung der Linaceen für
die Systematik. 227.
Heinricher, E., Neue Mistelunter-
suchungen. 591.
Hertwig, G. und P., Vererbung des
Hermaphroditismus bei Melandrium. 672
Klebahn, H. , Blühendes Wasser. 671
Kniep, Geschlechtsbestimmung und Re
duktionsteilung bei Basidiomyzeten. 523
Kochs, J., Giltwirkung des Meerrettichs
.525-
Lindau, G. , Pflanzenresle aus Pfahl
bauten. 363.
Lippmanu, E. O. v., s. Sabalitschka,
Melin, E., Boletus- At\.en als Mykorrhizen
pilze der Waldbäume. 488.
Melin, E., Mykorrhizapilze der Nadel
hölzer. 69S.
Mühldorf, A., Xeromorpher Spalt
öffoungsapparat bei Dikotyledonen. 564
N o a k , K., Physiologische Untersuchungen
an Flavonolen und Anlhoiyanen. 546
Pop off, M., Stimulierung der Zellfunk
tionen. 645.
Regel, s Vavilow.
Rikli, M., Die den 80." n. Br. erreichen-
den oder überschreitenden Gefäßpflan-
zen. 66 1.
Ruoff, S. , Verbreitung der Vegetation
im Europäischen Rußland. 577.
Sabalitschka und v. Lippmann,
Rohrzucker im Schilfrohr. 197.
Schalow, E., Einwanderungsgeschichte
von Matricur ia disroidea. 179.
Schuster, P. und Bornmüller, J.,
Genossenschaft mazedonischer Pflanzen
bei Aken an der Elbe. 268.
Vavil ow, N. und R egel , R., Ursprung
der Gelreidearten. 32S.
VVettstein, F. v., Entomophile Moose.
327-
Wettstein, R. , Die Verwertung der
Mendelschen Spaltungsgesetze auf die
Deutung von Artbastarden. 487.
C. Physiologie, Medizin,
Psychologie, Hygiene.
Abderhalden, Innervation und Inkret-
bildung. III.
R o m e i s , B. , Thymusdrüse und Wachs-
tum. 26.
Borchers, E., Epithelkörperverpflanzung
bei postoperativer Tetanie. 157.
Bresina, Treffsicherheit. 153.
d 11 ereile, F., Parasiten in Bakterien?
225.
Üstwald, B. C. Pauli
Paul C. und Ostwald, W., Farben-
psychologische Studien an Kindern. 508.
Pfeiffer, E., Homosexualität und innere
Sekretion. 468. 1
S u d e c k , P., Basedowsche Krankheit und
innere Sekretion. 25.
Tiedje, H., Gegen die „Pubertätsdrüse".
629.
Weil, A. , Psycho - inkretorischer Paral-
lelismus. 227.
D. Geologie, Paläontologie,
Hydrographie, Geographie.
Behr, J., Mächtigkeit des nordischen
Inlandeises in Schlesien. 157.
Bindemann, H., Verdunstungsmessun-
gen an Binnenseen. 488.
Cloos, H., Tektonik und Vulkanismus
290.
Friedländer, I., Tätigkeit des Pop
catepetl. 181.
Friedländer, I., Pico de Orizaba. 466
GeologenkongreS in Brüsseler. 178.
Koßinna, E., Tiefen des Weltmeeres
177.
Kranz, W., Torfmoore und deren Aus
nützung. 700.
Kranz, W., Nördlinger Ries. 710.
Kranz, W., Wünschelrutenfrage. 712.
Memelland. 381.
Nölke, Ursache der Eiszeit. 68.
Nordhagen, R. , Kulktuffstudien aus
dem zentralen Norwegen. 133.
Padtberg, A., Die Wahrheit über Beh-
ringers Lithographia Wirceburgensis.
628.
Sieberg, A., Verbreitung der Erdbeben.
547.
Soergel, W., Elephas Columbi. loo.
Soergel, W., Diluviale Aufscholterung.
99-
Wüst, Verdunstung und Niederschlag auf
dem Meere. 64Ö.
E. Völkerkunde, Anthropologie,
Vorgeschichte.
Kade, K., Vorgeschichtliche Getreide-
funde. 675.
Koch, W., Kastration bei den Skopzen.
465.
Martin, R., Körperkultur. 699.
Rivers, .'\ussterben der Naturvölker. 630.
Wiegers, Neue Funde aus der älteren
Steinzeit. 207.
Virchow, H., Menschliche Skelettrestc
aus dem Weimarer Kalktuff. 398.
F. Physik, Meteorologie,
Astronomie.
Ahlborn, Fr., Der Segeltlug. 644.
AUiata, Zur Relativitätstheorie. 13.
Kraufl, Zur Relativitätstheorie. 13.
Boccardi, s. Schnauder.
Brockmüller, J., Messung der Schall-
geschwindigkeit. 100.
Courvoisier, s. Schnauder.
Einthoven, W., Der dünnste Faden
sichtbar gemacht. 330.
Eötvös, R., Der Eötvöseffekt. 525.
Fischer, M. H., Theorie der Liesegang-
schen Ringe. 196.
Freundlich, Der sogenannte Einstein-
turm der Potsdamer Sternwarte. 25.
Register.
Gluud, W., Neue Normaltemperatur
+20» C. 581.
Grofimann, Bewegung des Merkur-
perihels. 28.
John, St., Rotverschiebung. 717.
Hartmann, Lichterscheinungen. 718.
Lenard, Zur Relativitätstheorie. 13.
Riem, Neuere astronomische Arbeiten.
503-
Rutherford, Künstliche Zerlegung von
Elenjenten. 562.
Sanford, Beziehungen der Spiralnebel
zu der Milchstraße. 332.
Schnauder, Courvisier, Boc-
cardi. Sprunghafte Vergrößerung der
geographischen Breite. 156.
Sola, Zur Relativitätstheorie. 13.
Strehl, Zur Relativitätstheorie. 226.
Volkmann, W., Prüftafel für Fernrohre.
332-
Wilsing, Neue Forschungen über die
Fixsterne. l8o.
G. Chemie, Mineralogie,
Kristallographie.
Alles, s. Wieland.
Aston, F. W., Neue Atomgewichtsfor-
schungen. 673.
Ballauf, s. Schlubach.
Chandra Ghosh, Theorie der Elektro-
lytlösungen. 224.
Friedrich, s. Schwarz.
Freudenberg, K. und Volbrecht,
E., Gerbstoff der Eichen. 716.
Glasstone, S. , Physikalische Chemie
der Bleioxyde. 506.
Gutbier, A., Analyse kolloider Systeme.
267.
Heller, H. , Neue Beiträge zur Theorie
und Praxis katalytischer Hydrierungen. II.
588.
Hofmann, A. und Will, E., Produkte
der unvollständigen Verbrennung. 717.
Hopff, s. Meyer, K. H.
HuUet, G. A. und Nelson, O., Che-
mische Natur der Graphitsäure. 27.
Jatrides, s. Winterstein.
Keller, R.. Azidität und Basizität. 287.
Krause, E, Di- und Triphenylblei. 363.
Kuhn, K., Einheit und Isotopie der Ele-
mente (Sammelbericht). 46.
Li pp mann, E. O. v., Rohrzucker in
Fingerhuiblüten. 717-
Lüppo-Cramer, Desensibilisierung des
Bromsilbers. 361.
M a n c h o t , W.. Lösliche Modifikation des
Siliciums. 266.
Meyer, K. H. und Hopff, H., Cyan-
wasserstoff. 69.
Meyer, K. H. und Hopff, H., Substi-
tutionsvorgänge. 360.
Nelson, O., s. Hüllet, G. A.
Ott, E. und Zimmermann, K., Pfeffer-
geschmack und chemische Konstitution.
507.
Plotnikow, J. , Photochemisches Äqui-
valentgesetz von Einstein. 422.
Rast, K., Mikromethode der Bestimmung
des Molekulargewichtes. 422.
Riesenfeld, E. und Schwab, G.,
Reindarstellung des Ozons. 698.
Seh lenk, W. , Freies Pentaphenyläthyl.
714.
Schlubach, H. H. und Ballauf, F.,
Freie Ammoniumradikale II. !;4.
Schwab, s. Riesenfeld.
Schwarz, R. und Friedrich, W.,
Röntgenstrahlen als Katalysatorengift.
381.
Seidell, A. , Silbervitaminverbindung.
715-
Teleczky, s. Winterstein.
Volbrecht, s. Freudenberg.
Weitz, E., Freie Ammoniumradikale 1.
14.
Wen dt, G., Dreiatomiger Wasserstoff.
423-
Wieland, H. und Alles, R., Giftstoff
der Kröte. 490.
Will , s. Hof mann.
Winterstein, E. und Jatrides, D.,
Taxin. 359.
Winterstein, E. und Teleczky, J.,
Glukosid des Safrans. 716.
Zimmermann, K. s. Ott, E.
III. Bücherbesprechungen.
.Abraham, M., Theorie der Elektrizität.
48.
.Abel, O., Lebensbilder aus der Tierwelt
der Vorzeit. 228.
Arrhenius, Sv., Lebenslauf der Plane-
ten. 128.
Auerbach, F., Moderne Magnetik. 16.
Auerbach, F., Raum, Zeit, Materie und
Energie. 352.
Bauer, E. , Grundprinzipien der rein
naturwissenschaftlichen Biologie. 320.
Bauer, H., Chemie-Büchlein. 452.
Bavink, B., Atom'stik. 333.
Bavink, B., Ergebnisse und Probleme
der Naturwissenschaft. 446.
Behrmann, W., Im Stromgebiet des
Sepik. 567.
Berg, A., .Vtherströmungs- und Äther-
strahlungshypothese. 620.
Böhm, Jos., Seelisches Erfühlen. 231.
Böhmig, L., Die Zelle. 183.
Bölsche, W., Vom Bazillus zum Affen-
menschen. 126.
Bölsche, W., Weltblick. 480.
Braun, M. und Seifert, O., Die tieri-
schen Parasiten des Menschen. 231.
Brehm, A., Kleine Schriften. 367.
Brehm, A. E, Leben der Vögel. 454.
Bretscher, K., Vogelzug in Mitteleuropa.
271.
Brion, G., Luftsalpeter. 44S.
Bruns, F., Zeichenkuust im Dienst der
beschreibenden Naturwissenschaften. 509.
Buchner, P., Tier und Pflanze in intra-
zellulärer Symbiose. 143.
Burckhardt-Erhard, Geschichte der
Zoologie. 648.
Bürger, C>., Venezuela. 184.
Chowrin, A. N., Experimentelle Unter-
suchungen auf dem Gebiete des räum-
lichen Hellsehcns. 238,
Citron, J., Immunodiagnostik und Im-
munotherapie. 104.
C 1 o o s , H. und Meister, E., Bau und
Bodenschätze Osteuropas. 159.
Collier, W. A., Variationsstatistik. 320.
Cornin g, H. K., Entwicklungsgeschichte
des Menschen. 319.
Coulter, J. H., Evolution of sex in
plants. 566.
Czapek, Fr., Biochemie der Pflanzen. 55.
Dahl, Fr., Vergleichende Psychologie.
591.
Dahl, Fr., Ökologische Tiergeographie.
366.
Dannemann, Vr., Plinius. 112.
Dannemann, Fr., Aus der Werkstatt
großer Forscher. 493.
Deegener, H., Chemisch - technische
Rechnungen. 454.
Di eis, L., Methoden der Phytographie
und der Systematik der Pflanzen. 534.
Diener, K., Paläontologie und Abstam-
mungslehre. 143.
Driesch, H. , Philosophie des Organi-
schen. 88.
Driesch, H., Das Ganze und die Summe.
269.
Dungern, E. v. , Prinzipien der Be-
wegung. 452.
Dürken, B. und Salfeld, H., Phylo-
genese. 311.
Einführungsliteratur in den wissenschaft-
lichen Okkultismus. 211.
Farbe. 528.
Fehringer, O., Singvögel Mitteleuropas.
471.
Fischer, E., Aus meinem Leben. 470.
Fischer Fr. und Schrader, H., Ent-
stehung und chemische Struktur der
Kohle. 621.
France, R. H., Süd- Bayern. 29.
Freudenberg, W., Geologie von Mexi-
ko. 663.
Frobenius,L. und RittervonWilm,
Atlas africanus. 662.
Fuchs, Fr., Kunkentelegraphie. 592.
Gehrcke, E., Physik und Erkenntnis-
theorie. 28.
Geiger, M. , Philosophische Bedeutung
der Relativitätstheorie. 309.
Geitler, J., Elektromagnetische Schwin-
gungen und Wellen. "I.
Geley, G., Materialisations-Experimente.
215.
G I a f e y , H., Rohstoffe der Textilindustrie.
480.
Goldschmidt, R., Ascaris. 333.
Gramberg, E., Pilze der Heimat. 334.
Großmann, H. und Wreschner, M.,
Anomale Rotationsdispersion. 48.
Grüner, P. , Elemente der Relativitäts-
theorie. 232.
1 1 a e c k e 1 , F., llalienfahrt. 703.
Haecker, V., Vererbungslehre. 30.
Haecker, V., Umkehrbare Prozesse in
der organischen Welt. 678.
Llagen, W., Deutsche Vogel weit. 447.
Hagen, W., Unsere Vögel. 703.
Hahn, Fr. V., Kolloidale Lösungen
anorganischer Stoffe. 451.
Handbuch der biologischen Arbeitsmetho'
den. 480.
Handbuch der Entomologie. 15.
Hansen, A., Pflanzendecke der Erde
159-
Hauser, G., Damaster - Coptolabrus
Gruppe der Gattung Carabus. 632.
Ilelmholtz, H. v., Schriften zur Er
kenntnistheorie. 70.
Hertwig, O., Werden der Organismen
S5°-
Hertwig, R., Lehrbuch der Zoologie
565-
Hof mann, A., Rätsel der Handstrahlen
238.
H ö r n e s , M., Gräberfeld von Hallstatt. 197
Register.
HoTvatb, Cl. V., Kaum und Zeit. 470.
Jäger, G., Theoretische Physik IV. 320.
Jungklaus, Fr., Münsterländer Vorsteh-
hund. lOl.
Kahler, K., Luftelektrizität. 87.
Kaiser, A., Die Sinaiwüste. 647.
Karsten, G., Methoden der Pflanzen-
geographie. 552.
Kaufmann, H. P., Chemie für Mediziner
und Biologen. 367,
Kay s er, E., Lehrbuch der Geologie. 158.
Kays er, E., Abriß der Geologie. 7 18.
Kayser, H., Lehrbuch der Physik. 352.
Kerners Pflanzenleben. 231.
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gemeinscliaft. 624
Aufruf. 704.
Bewegungen von Insekten zur Nahrungs-
suche. 688.
Botanisch-anatomische Terminologie. 536.
Farnkräuter, Verbreitung. 679.
Flugsaurier. 456.
Geologenkongreß in Brüssel. 68S.
Getreidearten, Ursprung. 494.
Graubündner, Trunksucht. 72.
Gravitationstheorie. 456.
Gyromitra esculenta, weifie. 400.
Handstrahlen. 334.
Helgoland, Biologische Anstalt. 335.
Höhlentiere, Bedeutung für Mutationstheo-
rie und Lamarekismus. 199, 239, 335,
535. 719.
Homöopathie. 160, 400.
Kontraktionstheorie. 216, 336.
Krebs, Lauterzeugung. 72.
Lichtwellen. 400.
Michelsonversuch. 680.
Mikroskop, Leitzsches 200 000stes. 335.
Mond, Strahlensysteme auf demselben. 704.
Monistenbund. 296.
Museen, Lage der deutschen naturwissen-
schaftlichen. 688.
Richtigstellung (Ulbricht). 592.
Wegeners Hypothese, durch die südameri-
kanischen Equiden nicht gestützt. 608.
Wespen und Bienen, Ähnlichkeit. 32.
Wisente in Pleß. 272.
V. Abbildungen.
Allium Cepa, AlUnante und Leukoplasten.
h35-
Arenicola piscatorum. 264, 265.
Campanula trachelium , Zellkerne mit Ei-
weißkristallen. 635.
Cereus marginatus, Holzkörper. 40.
Chlorella. 554.
Chlorohydra viridissima. 557.
Drosophila, Chromosomen. 548.
Flugsuuiier. 275, 276, 277.
Galtonia candfcans , Zellkerne aus der
Wurzel.
Goldlaufkäfer, Darmkanal. 78.
Hochmoore, Skizze der oberschwäbischen.
709.
Hydra, Regeneration. 481—484.
Kröte, Hand. 235.
Kröte, Schnitt durch den Finger. 236.
Maikäfer, Darmkanal. 78, 80.
Mendel, Bildnis. 425.
Mesembryanthemum linguiforme, AUinantc.
635-
Opuntia, Qucrschnittsbilder, sowie Stamni-
und Wurzelskelette. 35 — 37, 39.
Patella spec, Eikern. 637.
Phyllocactus phyllanthoides, Epidermis-
zellen mit Eiweißkristallen. 635.
Planarien, Regenerationen, 529 — 533.
Polytrichum commune , Protonemazelle.
635-
Psychodiden , Schmuck- , Duft- und Be-
rührungsorgane. 7.
Rattenkreuzungen. 539.
Ricinus communis, Aleuronkörner. 636.
Schlupfwespe. Iio.
Seesterne. 213.
Serumalbumin, Kristalle. 635.
Stentor, Regeneration. 639.
Triton, taeniatus, Chimären. 461 — 464.
Tropaeolum majus. Kern und Chloro-
plasten. 638.
Trypanosomen, Kulturbilder. 166.
Wünschelrute aus Metall. 161.
Wünschelrutengänge, drei Kartenskizzen,
706, 707.
Wünschelrutenreaktion, Schema. 163.
Zytoplasma, schematische amikroskopische
Struktur. 639.
VI. Literaturlisten.
56, 72, 88, 104, 112, 128, 144, 232,
240, 25Ö, 272, 296, 408, 424, 448, 456,
472, 480, 512, 528, 552, 568, 584, 608,
024, 64S, 6SS.
G. Päti'sche Bucbdr. Lippert S Co. G. m. b. H., N«
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
B.ln<l :
37- l'-->
Sonntag, den i. Januar 1922.
Nummer 1.
Das Problem der geschlechtlichen Zuchtwahl im Lichte neuer
Beobachtungen.
Von Dr. H. J. Feuerborn (Kiel, Zool. Institut).
Mit 1 Abbildung im Text.
[Nachdruck verboten.]
Bei getrenntgeschlechtlichen Tieren lassen sich
die Geschlechter in vielen Fällen nicht nur durch
die Geschlechtsorgane und ihre Anhänge, die
sog. „primären Geschlechtsmerkmale",
unterscheiden, sondern auch durch weitere Merk-
male, welche nur dem einen Geschlecht zukom-
men und sehr oft keine unmittelbare Beziehung
zu den Genitalorganen zeigen. Derartige Merk-
male werden als sekundäre Geschlechts-
merkmale bezeichnet. Allerdings ist es nicht
immer leicht, hier eine scharfe Grenze zu ziehen.
Vielfach sind Organe, welche ursprünglich nichts
mit der Fortpflanzung zu tun hatten, mehr oder
weniger völlig in den Dienst der geschlechtlichen
Funktion getreten, wie z. B. die Pterygopodien
an den Bauchflossen der männlichen Haifische,
die zu Hilfsorganen umgewandelten vorderen
Abdominalbeine der männlichen Krebse, wie auch
Teile des Kopulationsapparates der Insekten, die
auf abdominale Gliedmaßen zurückgeführt werden.
Derartige Bildungen rechnet man mit Plate,')
auf dessen Zusammenstellung und Einteilung die
nachfolgende Übersicht im wesentlichen fußt,
am besten zu den primären Geschlechtsmerk-
malen. Sehr viele differente Merkmale der Ge-
schlechter stehen jedoch in keinem unmittelbar
notwendigen oder kaum nachweisbarem Zusam-
menhange mit der Fortpflanzung. Nur diejenigen
seien hier ins Auge gefaßt, bei denen eine Be-
ziehung zum Fortpflanzungsakt mehr oder weniger
deutlich erkennbar ist.
In der Regel, wenn auch nicht ausschließlich,
ist es das männliche Geschlecht, das solche
sekundären Merkmale aufweist. Aus der großen
Fülle der Organe und Einrichtungen, die hier in
Betracht kommen, lassen sich verschiedene Gruppen
hervorheben.
I. Meist ist das männliche Geschlecht hin-
sichtlich der Fortpflanzung der aktive Teil, das
Weibchen verhält sich mehr oder weniger passiv,
es muß zum Zwecke der Fortpflanzung aufgesucht
werden. Dementsprechend ist vielfach das Männ-
chen mit besonderen Eigenschaften ausgestattet,
die das Aufsuchen erleichtern, mit schärferen
Sinnesorganen und größerer Beweglich-
keit versehen. So sind bei vielen Insekten im
männlichen Geschlecht die Geruchsorgane höher
')Plate, Ludwig, Selektionsprinzip und Probleme
der Artbildung. Ein Handbuch des Darwinismus. Leipzig
und Berlin 1913, S. 275 fr.
ausgebildet als im weiblichen Geschlecht, wie
sich dies z. B. bei dem Maikäfer und anderen
Coleopteren durch die stärkere Ausbildung der
Fühler kennzeichnet. Oder es sind die Augen,
z. B. bei den Bienen und manchen Fliegen, im
männlichen Geschlecht größer als im weiblichen.
Ein Unterschied in der Beweglichkeit der beiden
Geschlechter liegt bei den Frostspannern vor,
deren Weibchen verkümmerte oder gar keine
Flügel besitzen, während die Männchen geflügelt
sind. Bei manchen Parasiten ist nur das Männchen
beweglich. Bei dem Molch Triton palmatus treten
zur Brunstzeit breitgelappte Schwimmhäute an
den Hinterbeinen auf, bei unserem großen Kamm-
molch dient der breite Rückenkamm, außer viel-
leicht als Mittel zur Erregung des Weibchens, vor-
nehmlich zur Erhöhung der Beweglichkeit.
2. Sehr oft ist das Männchen in besonderer
Weise für den Kampf um das Weibchen ausge-
rüstet, mit „Kam pforganen" versehen, die ihm
einen Vorteil gegenüber Geschlechtsgenossen ge-
währen. Man denke an das Geweih der Hirsche,
die Hauer des Ebers, den Sporn des Haushahnes
oder die vergrößerten Oberkiefer des männlichen
Hirschkäfers. Es ist anzunehmen, daß derartige
Gebilde sehr oft zugleich eine besondere Wirkung
auf das Weibchen ausüben. In manchen Fällen
sind sogar Organe, welche ursprünglich als Wafi'en
dienten, ihrem primären Zweck mehr und mehr
entfremdet und zu Erregungsorganen geworden,
wie z. B. die Hauer des Hirschebers.
3. Nicht selten sind besondere Vorrichtungen
vorhanden, die zum Fangen, Überwältigen und
Festhalten des Weibchens dienen. Vor allem bei
den niederen Formen der Wirbellosen sind solche
„Greif- und Klammerorgane" verbrehet,
zumal bei den Krebsen und Insekten. Es sei an
die umgebildeten Ruderantennen des männlichen
Cyclops und die Saugscheiben an den Vorder-
beinen des Dytiscits Männchens erinnert. Von den
Wirbeltieren können die Daumenschwielen der
männlichen Frösche als Beispiel dienen.
4. In großer Mannigfaltigkeit treten schließlich
Organe auf, deren Zweck darin besteht, die Gunst
des Weibchens zu erwerben, es zu erregen und
für die Begattung bereit zu machen. Derartige
Organe und Vorrichtungen bezeichnen wir als
„Erregungs- oder Reizorgane". Sie neh-
men ohne Zweifel die hervorragendste Stelle
unter den sekundären Geschlechtsmerkmalen ein.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. I
Schon die Tatsache, daß manche dieser Merkmale
erst zur Zeit der Geschlechtsreife oder zur Brunst-
zeit auftreten, und bei den höheren Wirbeltieren
Merkmale, die der Erregung des Weibchens dienen,
fast den einzigen sekundären Unterschied zwischen
den Geschlechtern ausmachen, darf als Beweis
dafür gelten, daß die Reizorgane für die Fort-
pflanzung und Erhaltung der Art eine bedeutsame
Rolle spielen. Allerdings muß gesagt werden,
daß wir über diese Rolle im einzelnen vielfach
noch sehr wenig Klarheit besitzen. Es hat sogar
— um das gleich zu betonen — nicht an Stim-
men gefehlt, die den sog. Reizorganen jede Be-
deutung für die Erregung des VVeibchens ab-
sprechen.
Wir können die Reizorgane nach den Sinnes-
organen gliedern, auf die sie einwirken.
a) Am auffallendsten und weitesten verbreitet
sind jene Merkmale, die das Auge des Weibchens
erregen. Die prunkvolle Färbung, die auffallend ge-
formten und vielfach beweglichen Anhänge vieler
Männchen legen es von vornherein nahe, diese Ein-
richtungen als „S c h m u c k o r g a n e" anzusprechen.
Sehr oft zeigt das Männchen außerdem besondere
Instinkte, a u f f a llende Bewegungen und G e -
stalts veränd eru ngen, mit denen es vor der
Begattung das $ reizt.
Aus der großen Fülle der Schmuckorgane, die
vor allem die höheren Wirbeltiere, in erster Linie
die Vögel aufweisen, die wir aber auch bei den
Insekten verbreitet finden, seien nur einige wenige
hervorgehoben. Gerade manche dieser schmücken
den Merkmale treten nur zur Brunstzeit auf, als
„Hochzeitskleid". Die bunten Farben vieler männ-
lichen Vögel im Gegensatz zu den unscheinbaren
P'ärbungen der Weibchen sind allgemein bekannt.
Es braucht nur auf die Hühnervögel, Paradies-
vögel und Kolibris hingewiesen zu werden. Von
den Amphibien zeichnen sich unsere Molche durch
zum Teil recht lebhafte Schmuckfärbung aus.
Von den Fischen sei der dreistachelige Stichling
genannt, dessen Männchen zur Laichzeit eine rote
Bauchfärbung annimmt. Unter den Säugetieren
sind manche Affen durch Schmuckfärbung aus-
gezeichnet.
Auffallende Formen sind sehr oft mit Schmuck-
färbung vereinigt, man denke an die bisweilen
geradezu absonderlichen Federbildungen bei Para-
diesvögeln und Kolibris. Hörner und andere
Fortsätze finden sich bei vielen Käfern.
Bewegliche, oft intensiv gefärbte Anhänge
scheinen von besonderer Wirkung zu sein. Manche
Vögel, besonders Hühnervögel, tragen am Kopfe
oder Halse allerlei gefärbte lappige Anhänge,
andere sind mit aufrichtbaren Schöpfen oder Hals-
kragen ausgestattet. Vielfach sind die Schwanz-
federn oder Schwanzdeckfedern besonders beweg-
lich, z. B. beim Pfau, beim Birkhahn und bei der
Trappe.
Auffallende Bewegungen und Gestaltsverände-
rungen haben wir in den Balzspielen und Balz-
flügen der Vögel vor uns. Als bekannte Beispiele
seien die Balzbewegungen des Birkhahns und das
eigenartige Gebahren des Kampfläufers, Maclicfcs
piigiiax, erwähnt. Wie schon der Name des
letzteren andeutet, haben diese Balzspiele häufig
den Charakter des Kampfes mit anderen Männ-
chen. Doch kann angenommen werden, daß
hierbei zugleich eine Reizwirkung auf das Weib-
chen stattfindet. Auch der Haushahn vollführt
einige charakteristische Bewegungen, wenn er um
die Henne wirbt. Die männliche Trappe bläst
beim Balzen den Mundhöhlensack auf und treibt
den Hals halbkugelartig vor. Interessant sind die
absonderlichen Bewegungen und Stellungen man-
cher Spinnen bei Annäherung an das Weibchen,
besonders der Attiden. Bei diesen führen die
Männchen die merkwürdigsten Prozeduren aus,
„sie schaukeln sich von einer Seite zur anderen,
heben das erste Beinpaar in die Höhe oder breiten
es weit aus, strecken das Abdomen rechtwinkelig
zum Cephalothorax nach oben oder suchen durch
andere absonderliche Stellungen die Aufmerksam-
keit des Weibchens zu fesseln, was ihnen auch
ersichtlich gelingt. Sie bekommen ferner zur
Brunstzeit lebhafte Farben (rot, schwarz, weiß,
regenbogenfarbig), bei den verschiedenen Arten in
den verschiedensten Mustern und verlängerte
Haarbüschel am Kopf und an den Beinen. — Da-
bei ist es unverkennbar, daß die Männchen sich
stets so vor den Weibchen bewegen und solche
Stellungen einnehmen , daß ihre Schmuckfarben
möglichst sichtbar sind" (Plate).
Ein besonderes Interesse dürfen noch die
„Laubenvögel" des australischen Urwaldes bean-
spruchen, deren Männchen keinen nennenswerten
eigenen Schmuck aufweisen und ihn dadurch er-
setzen, daß sie auf ihren Balzplätzen kunstvolle
Lauben bauen und deren Umgebung durch aller-
lei hellgefärbte Laubblätter, Früchte, Schnecken-
schalen und bunte Federn verzieren.
b) Neben dem Auge spielt der Geruchs-
sinn im Geschlechtsleben der Tiere eine überaus
wichtige Rolle. Zahlreiche Tiere finden sich zum
Zwecke der Fortpflanzung in erster Linie mit Hilfe
des Geruchssinnes zusammen. Es ist daher nicht
verwunderlich, daß auch die Wirkung auf den
Geruchssinn zur Steigerung der geschlechtlichen
Erregung herangezogen wird. Viele männliche
Tiere besitzen besondere Duftdrüsen, die
lediglich zur Brunstzeit in Funktion treten. Von
den Säugetieren mögen als Beispiele Ziegenbock,
Gemse, Moschustier und Fuchs genannt werden.
Vielfach ist der „Duft" dieser Tiere außerordent-
lich penetrant und für unseren Geruchssinn
alles andere eher als angenehm. Doch gibt es
auch für unsere Begriffe angenehme Düfte, vor
allem bei den Schmetterlingen. Der männ-
liche Rübenweißling {Picris iiapi L.) duftet nach
Melissengeist, Didoitis bihlis Fabr. nach Helio-
trop, Callidryas argaiita Fabr. nach Moschus,
Dirccinia xaiifho nach Vanille, „andere Lepidop-
teren strömen Düfte aus, welche denen ver-
schiedener Blüten oder Früchte nahe kommen"
N. F. XXI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
(Deegener). FritzMüller war es, der zuerst
auf die Organe, welche diese Düfte hervorbringen,
hingewiesen hat. Seitdem sind die Duftorgane
der Schmetterhnge von zahlreichen Forschern
untersucht worden. Bald sind es zerstreute
Schuppen , sog. Duftschuppen, auf den Flügeln,
bald zu Duftflecken vereinigte Gruppen von
Schuppen. In anderen Fällen sind die Duft-
schuppen in besonderen Falten untergebracht,
durch die ein unnötiges Verdunsten des Sekretes
verhindert wird. Bei dem Männchen von Hcpi-
aliis Iiccfa L. sind die Hinterbeine zu einem Duft-
apparat umgebildet, indem die Tibien stark ver-
dickt und mit langen Dufthaaren versehen, die
Tarsen verkümmert sind. Bei Nichtgebrauch
können die Tibien in je einer taschenartigen Falte
des Abdomens untergebracht werden.
Sehr verbreitet sind nun gerade bei den
Schmetterlingen auch Duftorgane des $ Ge-
schlechts. Sie sind erst neuerdings durch F r e i -
ling genauer bekannt geworden und befinden
sich meist am Hinterende des Abdomens als Duft-
büschel, Duftfalten oder auch ausstülpbare An-
hänge. Der Duft der $$ ist als Lockmittel an-
zusehen.
Von welch weitreichender Wirkung dieser
Lockduft einerseits und wie scharf und fein diffe-
renziert andererseits die Geruchsorgane der Männ-
chen sind, lehren Versuche von Standfuß, der
mit einem unbefruchteten Weibchen des kleinen
Nachtpfauenauges [Satunna carpini), das er im
Freien aussetzte, im Laufe von 7 Stunden 127 Männ-
chen herbeilockte.
c) Um die Erregungsmittel, die auf das Ge-
hör des $ einwirken, zu kennzeichnen, sei an das
Röhren des Brunsthirsches, an den Gesang, be-
sonders den Balzgesang der Vögel und an das
Konzert der Wasserfrösche erinnert. Bei letzteren
sind die Männchen mit besonderen Schallblasen
versehen. Auch die zirpenden und singenden
Töne mancher Insekten, z. B. der Heuschrecken
und Grillen, deren $^ besondere Lautinstrumente
besitzen, gehören hierher.
d) Auch der Geschmackssinn des $ wird
in einigen Fällen durch besondere Ausscheidungen
des (J erregt. Erst kürzlich wurde von Wille
bei der deutschen Schabe festgestellt, daß bei den
oft über eine Stunde lang währenden Liebesspielen
das $ auf den Rücken des Männchens klettert
und hier an besonderen Saftdrüsen leckt. Von
einer nordamerikanischen Gryllodee wird nach
Plate ähnliches berichtet.
e) Schließlich sind noch die Mittel anzuführen,
die auf den Gefühlssinn des $ einwirken. So
dienen z. B. die Drüsenschwielen der männlichen
Frösche dazu, bei der Umarmung den Druckreiz
zu erhöhen. Die männliche Chimäre, ein Knorpel-
flosser, preßt ihren mit Stacheln besetzten Stirn-
anhang in die Haut des Weibchens. Andere
Fische versetzen ihren Weibchen Stöße und Püffe,
um die geschlechtliche Erregung zu steigern.
Diese kurze Übersicht mag genügen, um einen
Einblick in die große und mannigfaltige Fülle von
Merkmalen, Organen und Einrichtungen zu ge-
währen, denen eine sexuelle Reizwirkung auf das
Weibchen zugesprochen wird. Wer sich ein-
gehender mit ihnen beschäftigt, ist erstaunt über
das Raffinement der Mittel, die die Natur hier an
wendet, um den Erfolg sicher zu stellen.
Aber, so müssen wir uns jetzt fragen, be-
steht tatsächlich die Auffassung, daß
es sich hier um Reiz- oder Erregungs-
organe handelt, zu Recht.' Und ferner,
wie ist die Entstehung und Ausbildung
dieser auffallenden Merkmale, die nur
das eine Geschlecht aufweist, zu er-
klären?
Der erste, der diesen Fragen größere Aufmerk-
samkeit zuwandte und sie zu lösen versuchte,
war Charles Darwin. In seinem 1871 er-
schienenen Werke über „Die Abstammung des
Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl"
wird die Bedeutung der sekundären Geschlechts-
merkmale eingehend erörtert und auf ihr die
Theorie der geschlechtlichen Zucht-
wahl aufgebaut. Wie bei der natürlichen
Zuchtwahl der „Kampf ums Dasein" die-
jenigen Merkmale und Einrichtungen zur Entwick-
lung gelangen läßt, welche dem Organismus in
irgendeiner Weise für seinen Bestand nützlich
sind, und so die verschiedenen Arten durch
„Überleben des Passendsten" sich herausgebildet
haben, so sind bei der geschlechtlichen
Zuchtwahl einmal durch den Kampfder Männ-
chen um das Weibchen alle jene Organe ent-
standen, welche dem Männchen besondere Vor-
teile gegenüber Geschlechtsgenossen gewährten,
wie größere Beweglichkeit, schärfere Sinnesorgane,
Kampfwerkzeuge und Greiforgane , das andere
Mal durch die Wahl der Weibchen jene Or-
gane und Einrichtungen, die in besonderer Weise
auf das $ einwirkten, es erregten und für die Be-
gattung bereit machten. Was insbesondere den
letzteren Teil der Darwin sehen Theorie betrifft,
so besagt er kurz folgendes :
Bei der Fortpflanzung ist in der Regel das $
der aktive Teil, es sucht das $ auf und wirbt um
dasselbe.
Das $ verhält sich demgegenüber meist passiv,
es zeigt eine gewisse Sprödigkeit und läßt nicht
ohne weiteres jedes $ zu. Diejenigen Männchen
nun, welche in irgendeiner Weise Vorzüge be-
saßen, das 5 stärker erregten, hatten größere Aus-
sicht, zur Fortpflanzung zu gelangen, da sie vom
$ vorgezogen, gewählt wurden. Durch diese Wahl
der $$ mußten sich die Erregungsmittel der
Männchen, die schmückenden Farben und An-
hänge, die Duftorgane, der Gesang usw. bei den
betreffenden Arten zu immer größerer Vollkom-
menheit steigern. Auch die Entwicklung des
Menschengeschlechts ist nach Darwin vornehm-
lich beherrscht durch die geschlechtliche Zuclit-
wahl. Die Tatsache, daß heute der männliche
Mensch in der Regel der Wählende ist und das
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1
weibHche Geschlecht sich schmückt und zu ge-
fallen sucht, ist eine Abkehr vom ursprünglichen
Verhalten, erklärt aber auch zugleich, weshalb
beim iVIenschen das weibliche Geschlecht das
„schönere" ist, wie ähnliches übrigens auch bei
einigen Tierarten vorkommt.
In der Tat, die Darwin sehe Theorie hat zu-
nächst etwas durchaus Bestechendes an sich. Doch
mußte schon Darwin selbst zugeben, daß der
Theorie allerlei Schwierigkeiten im Wege stehen.
Gerade dieser Teil seiner Selektionslehre hat zu
sehr vielen Kontroversen Anlaß gegeben und ge-
hört noch heute zu den am wenigsten geklärten
Gebieten der Abstammungslehre.
Um die Richtigkeit der Darwinschen Theorie
zu prüfen, unterscheiden wir 3 Hauptfragen.
1. Haben tatsächlich die sog. Schmuck-,
Duft-, Stimmorgane usw. die Bedeutung
von Erregungsorganen, d. h. wirken sie
in besonderer Weise auf das $ ein?
2. Wählt das $ das am besten ausge-
stattete Männchen aus: Es mag hierzu be-
merkt werden, daß von einer ,W'ahl" des Weib-
chens natürlich nur im bildlichen Sinne gesprochen
werden kann.
3. Wenn diese Wahl bejaht wird, läßt
sich durch sie die Entstehung und Aus-
bildung der betr. Organe erklären?
Betrachten wir zunächst, was die Beobachtungen
lehren.
Von den Vögeln, die doch durch so auffallende
Erregungsmittel, durch prächtigen Schmuck und
vollendeten Gesang sich auszeichnen, mußte Dar-
win erklären; „Was Vögel im Naturzustande be-
trifft, so ist die erste sich jedem aufdrängende
und am meisten in die Augen springende Ver-
mutung die, daß das $ zur gehörigen Zeit das
erste Männchen, dem es zufällig begegnet, an-
nimmt." Allerdings liegen einige Beobachtungen
vor, die auf eine Wahl schließen lassen könnten.
Ihnen stehen aber zahlreiche andere gegenüber,
wo die Weibchen sich völlig gleichgültig der
Schönheit des ^ gegenüber verhielten. Es ist
bekannt, daß nicht selten die Birkhenne sich mit
einem jungen Hahn, der sich nicht auf den Kampf-
oder Balzplatz wagt, hinwegstielt, daß, während
der Brunsthirsch ein Schmaltier treibt, die Alttiere
sich von jungen Hirschen begatten lassen (Hesse).
Mayer und Soul e haben Versuche mit Schmetter-
lingen gemacht, um experimentell eine etwaige
Wahl der Weibchen festzustellen. Sie beobachteten
600 (^(3* von Odlosainia pvoinethca, von denen
etwa die Hälfte mit grüner oder roter Tinte
künstlich gefärbt war. Diese gefärbten Tiere ge-
langten ebenso erfolgreich zur Kopulation wie die
normalen. Einem Männchen wurden die Flügel
eines Weibchens aufgeklebt, trotzdem wurde es
von einem Weibchen angenommen. Immerhin
zeigten andere Versuche, daß das Auge des
Weibchens eine gewisse Rolle bei der Zulassung
des Männchens spielt. Doch glaubt Plate von
den Schmetterlingen zugeben zu müssen, daß
,,eine Wahl der Weibchen bis jetzt nicht erwiesen
ist, sondern sehr häufig das erste Männchen zu-
gelassen wird, auch wenn es sich in sehr defektem
oder künstlich gefärbtem Zustande repräsentiert".
Anhänger der Wahltheorie helfen sich mit der
Annahme, daß vielleicht die Arten sich früher
anders verhalten hätten, oder daß, wenn nicht in
jedem Einzelfall, so doch im allgemeinen die ge-
schmückteren Männchen vorgezogen würden, oder
auch, daß die Wahl des Weibchens nicht aktiv,
sondern passiv sei, indem dasjenige $ zugelassen
werde, welches dem $ am wenigsten zuwider sei.
Oder sie machen, wie Weismann, den umge-
kehrten Schluß : Weil die Erregungsorgane da
sind, so muß auch eine Wirkung auf das Weib-
chen und eine Wahl des $ stattfinden. Weis-
m a n n sagt in seinen Vorträgen über Deszendenz-
theorie : „Es scheint mir geboten, den Prozeß der
sexuellen Selektion als wirklich wirksam anzu-
nehmen, und anstatt ihn in Zweifel zu ziehen,
weil man das Wählen der Weibchen nur selten
direkt feststellen kann , vielmehr umgekehrt aus
den zahlreichen sekundären Sexualcharakteren der
Männchen, welche nur Liebeswerbung bedeuten
können, zu schließen, daß die Weibchen solcher
Arten für deraitige Auszeichnungen empfänglich
sind und wirklich imstande zu wählen." Natür-
lich ist mit einer solchen Schlußfolgerung, wenn
ihr auch eine gewisse Berechtigung innezuwohnen
scheint, das Problem nicht gelöst.
Der Mangel an Beobachtungen über tatsäch-
lich stattfindende Wahl der Weibchen, der
Kramer zu dem Ausspruche veranlaßte, daß die
Beispiele nur dem genügen könnten , der aus
anderen Gründen von der Existenz der geschlecht-
lichen Zuchtwahl überzeugt sei , hat denn auch
schon bald Bedenken gegen die Richtigkeit der
Darwinschen Theorie aufkommen lassen. Es
seien hier nur die wesentlichen Einwände gegen
dieselbe und anderweitigen Versuche
einer Erklärung kurz besprochen.
'1889 hat Wallace, der im übrigen der
Theorie Darwins von der natürlichen Zucht-
wahl zuneigte, den Einwand gemacht, daß das
ästhetische Gefülil der Weibchen nicht so weit
gehen könne, um kleine Differenzen in den Farben-
mustern bzw. im Gesang zu unterscheiden. Eine
allmähliche Züchtung komplizierter Färbungen
sei deshalb durch Auslese geringfügiger Unter-
schiede nicht möglich. Weiterhin sei es unwahr-
scheinlich, daß alle Weibchen einer Art denselben
Geschmack hätten, das eine würde dies, das andere
jenes Merkmal vorziehen. Letzteren Einwand
äußern in ähnlicher Weise auch Claparede,
Günther, Morgan u.a. Beide Einwände, die
auch Plate aus verschiedenen Gründen nicht
anerkennt, verlieren wolil ihre Berechtigung, wenn
wir annehmen , daß die Empfindungsqualitäten
des Weibchens sehr fein abgestimmt sind und auf
erblich fixierter, instinktiv, d. h. reflektorisch wir-
kender Veranlagung beruhen, also sich stets in
**" derselben Richtung äußern müssen.
N. F. XXI. Nr. 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
s
Wallace versucht nun die Entstehung der
sekundären Geschlechtsmerkmale dadurch zu er-
klären, daß er annimmt, sie beruhen auf einer
Präponderanz des männlichen Geschlechtes, auf
einem „Überschuß an Lebenskraft". Auch
nach Eimer und Kicker t sind die „Pracht-
farben" einfach „Kraftfarben", während die un-
scheinbare Färbung der Weibchen eine Schutz-
färbung darstellt. Für Wallace ist die natür-
liche Auslese die Ursache der Weiterentwick-
lung, da nur stets die kräftigsten IVlännchen und
die geschützten Weibchen überleben.
Diese Wallace sehe Theorie vom männlichen
Kraftüberschuß ist in modifizierter F^orm von ver-
schiedenen Forschern übernommen worden. So
Iiat man vielfach die Ansicht ausgesprochen, daß
das Weibchen für die Bildung der Eier, Brut-
pflege usw. mehr materielle Kraft verbrauche als
das Männchen zur Bildung des Samens, daß
also im Männchen ein Überschuß an Energie vor-
handen sei , der sich in größerer Beweglichkeit
und in der Bildung der sekundären Geschlechts-
merkmale äußere. Auch Hesse vertritt neuerdings
diese Ansicht und versucht sie durch zahlreiche Bei-
spiele einer männlichen Präponderanz zu stützen.
Aber es ist hier Verschiedenes einzuwenden. Zu-
nächst ist es nicht recht verständlich, weshalb
dann nicht allgemein die Männchen vor den
Weibchen ausgezeichnet sind. Von nahe ver-
wandten Arten ist oft das cj der einen Art vor-
züglich ausgestattet, das der anderen nicht. Der
Kraftüberschuß müßte doch unter sonst gleichen
Bedingungen annähernd bei allen Männchen in
gleicher Weise vorhanden sein. Weshalb sollte
ferner der Kraflüberschuß sich stets nur an be-
stimmten Körperstellen äußern und in so merk-
würdigen Organen und Merkmalen, die augen-
scheinlich auf die weiblichen Sinne wirken sollen.
Manche Farben beruhen zudem nur auf Struktur
(physikalische Farben), es kommt in ihnen offen-
bar gar kein Kraftüberschuß zur Geltung. Weiter-
hin ist bisweilen auch das $ der bevorzugte, d. h.
mit besonderen Färbungen oder anderen Merk-
malen ausgestattete Teil. So sind z. B. bei den
Schetterlingen — wie ich schon erwähnte — viel-
fach gerade die Weibchen mit Duftorganen ver-
sehen. Und endlich ist zu bedenken , daß die
Erbfaktoren, auf denen die sekundären Geschlechts-
merkmale beruhen, vermutlich allgemein in beiden
Geschlechtern vorhanden sind, aber in bestimmter
Abhängigkeit stehen von Faktoren , die mit den
Keimdrüsen zusammenhängen. Diese Faktoren,
über die noch keine völlige Klarheit herrscht,
lassen beim Männchen die sekundären männlichen
Merkmale hervortreten , hemmen die weiblichen
Merkmale. Umgekehrt beim Weibchen. Ausfall
dieser F"aktoren, etwa infolgeKastration, mangelnder
Entwicklung der Keimdrüsen oder Alterssterilität
läßt in vielen Fällen Merkmale des anderen Ge-
schlechte« zur Entwicklung kommen. Es kaim
also offenbar nicht ein etwaiger Kraftüberschuß
des einen Geschlechtes der maßgebende Faktor
für die Ausbildung gerade dieser sekundären
Merkmale sein, wobei nicht in Abrede gestellt
werden soll, daß vielfach das Männchen in der
Weiterentwicklung dem Weibchen voranzugehen
scheint.
Es mag hier anschließend bemerkt werden,
daß man versucht hat, die fraglichen Organe und
Einrichtungen überhaupt durch korrelative
Wirkung seitens der Geschlechtsdrüsen
zu erklären. Zweifellos stehen, wie gesagt, die
sekundären Geschlechtsmerkmale in gewisser Be-
ziehung zu den Gonaden. Aber damit ist ihre
Entstehung offenbar nicht erklärt!
Doflein, um noch eine letzte Ansicht anzu-
führen, weist darauf hin, daß vielfach der Fort-
pflanzungsakt bei den Tieren mit Gewaltanwen-
dung verknüpft ist. Er kommt zu dem Schluß,
„daf3 die Künste, Kämpfe und sonstigen Proze-
duren der Männchen nur einen Ersatz für die
Gewaltanwendung bei der Werbung um die
Weibchen darstellen. Sie sind andere Mittel, um
den Selbsterhaltungsinstinkt des Weibchens zu
überwinden." So könne es vollkommen unter
dem Einfluß der natürlichen Zuchtwahl geschehen
sein, daß diese Gewohnheiten sich herausgebildet
haben, da durch sie eine Menge von Verletzungen
und Todesfällen den betreffenden Tierarten er-
spart werden. Doch muß auch Doflein zu-
geben, daß es nicht sehr wahrscheinlich sei, daß
durch natürliche Zuchtwahl allein die sekundären
Merkmale erklärt werden können. Der geschlecht-
lichen Zuchtwahl, d. h. einer Wahl der Weibchen,
sei aber jedenfalls keine allzugroße Bedeutung bei-
zumessen.
Plate kommt schließlich, nachdem er die
verschiedenen Theorien besprochen hat, zu der
Schlußfolgerung, daß manche sekundären Ge-
schlechtsmerkmale auf natürliche Zuchtwahl zu-
rückgeführt, andere durch vermehrten Gebrauch
oder Nichtgebrauch und verschiedene Lebensweise
gedeutet werden können, daß für die W'atTen und
Erregungsorgane der Männchen die sexuelle
Zuchtwahl , also die Wahl der Weibchen, ge-
nügende Erklärung biete, also in der Hauptsache
die Darwinsche Theorie zu Recht bestehe.
Immerhin muß er gestehen, „daß die Entstehung
der sekimdären Geschlechtsmerkmale ein in vieler
Hinsicht dunkles Gebiet ist."
Das Eine kann jedenfalls gesagt werden, schon
die Vorfrage, nach der es festzustejlen gilt, ob
tatsächlich eine besondere Erregung
der Weibchen durch die Reizorgane
stattfindet, ist so wenig geklärt, daß von Be-
weisen für die Richtigkeit der Zuchtwahltheorie
bis jetzt wohl kaum die Rede sein kann.
Versuchen wir nun, dieser Frage an der Hand
eines Beispiels, das Verf. selbst zu untersuchen Ge-
legenheit hatte,') näher zu treten.
') Fe uer b or n, H. I., Der se.\uelle Keizapparut (Schmuck-,
Duft- und Berührungsorgane) der Psychodidcn nach biolo-
jisclien und physiologischen Gosichtspuiiktini untersucht,
/.upieich ein Jlcitrag zur Kenntnis der Sinnesorgane und der
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. I
Bei den Dipteren, den Zweiflüglern, sind bis-
her — wenn wir von einigen unerheblichen
sekundären Merkmalen, deren Bedeutung teilweise
noch unsicher ist, absehen — sexuelle Erregungs-
organe nicht bekannt geworden. Die beiden Ge-
schlechter sind meist ziemlich gleich gefärbt und
zeichnen sich auch sonst voreinander nicht wesent-
lich aus. Und doch besitzt eine Dipterenfamilie
sexuelle Erregungsmittel in einer Vollkommenheit,
daß es verwunderlich ist, wie dieselben so lange
unbeachtet bleiben konnten. Es handelt sich um
die Schmetterlingsmücken {Psycltodidae),
die ihren Namen dem Umstände verdanken, daß
sie infolge ihrer dichten schuppigen Behaarung
und breiten Flügel fast wie kleine Schmetterlinge
aussehen. Es sind Mücken von nur 2 —4 mm
Größe, von denen Arten der einen Gattung,
Psychoda, wohl allgemein bekannt sein dürften,
da die weißlichen oder grauen Mückchen, deren
Flügel wie ein Dach stehen, zum Teil sehr häufig
sind, besonders an Stallfenstern, in der Nähe von
Dung, Abfällen und Küchenabwässern. In unge-
heuren Massen bevölkern sie die biologischen Klär-
anlagen der Großstädte. Die Arten der beiden
anderen Gattungen Pcricovia und Uloniyia sind
meist etwas größer, dunkler gefärbt, tragen die
Flügel wagerecht ausgebreitet und halten sich an
Uferpflanzen in der Nähe von Mühlenwehren,
Quellen und Sümpfen auf. Unter den letzteren
finden sich die Arten, die im männlichen Ge-
schlecht mit allerlei besonderen Merkmalen aus-
gestattet sind.
Schon Eaton, bisher der bqgte Kenner der
Psychodiden , bemerkte , daß manche Arten im
männlichen Geschlecht auffallend geschmückt seien.
Neuerdings hat der Belgier T o n n o i r auf die
merkwürdigen Anhänge vieler Arten aufmerksam
gemacht, ohne deren Bedeutung zu erkennen. Er
hält sie zum Teil für Sinnesorgane. In der Tat
handelt es sich um einen geradezu raffiniert
ausgebildeten Apparat, der im Dienste
sexueller Erregung steht. Dieser Reiz-
apparat zeigt verschiedene Grade der Vervoll-
kommnung. Von den etwa 60 Arten, die bisher
untersucht werden konnten, sind etwa 35 sekundär-
geschlechtlich modifiziert, bei etwa einem Dutzend
Arten kann die Ausbildung der Reizorgane als
hochdifferenziert bezeichnet werden.
Was zunächst am meisten in die Augen fällt,
sind die Schmuckorgane dieser Arten. Wäh-
rend die Weibchen durchweg unscheinbar gefärbt
sind, finden sich bei den Männchen ganz auf-
fallende Schmuckfärbungen, besonders lebhafte
Kontrastfarben. Gewöhnlich sind Kopf und
Vorderbrust ausgezeichnet, vielfach ganz schnee-
weiß oder sammetschwarz behaart. Bisweilen
ist der Vorderrücken mit breitem Längs- oder
Querband versehen. Auch Fühler, Taster, Vorder-
Organe des Geschlechts- und Bereitschaftsduftes. Archiv f.
Naturgeschichte (im Druck). — Hier, wie auch bei Plate,
). c, tindel sich die weitere l^iteratur verzeichnet.
beine und Vorderrand der Flügel nehmen an der
Schmuckfärbung teil. Oft sind verlängerte Haare
oder Schuppen zu abstehenden Pinseln, Hörnern
oder Locken vereinigt. Aber damit nicht genug.
Bei vielen Arten sind besondere Körperanhänge
ausgebildet, um den Schmuck zu erhöhen. P. inibila
hat einen dehnbaren Stirnanhang, der fast so
groß wie der ganze Kopf ist, aufgerichtet werden
kann und mit einem schneeweißen, schwarz unter-
legtön Haarbusch besetzt ist. Andere Arten haben
am Hinterkopf keulen- oder kolbenförmige An-
hänge. An der Vorderbrust, dem Pronotum,
weisen einige Arten mit langen Haarlocken ver-
sehene Anhänge auf, die in der Ruhe beutelartig
herabhängen, in der Erregung zu großen aufge-
richteten Ballons aufgebläht werden können. Sehr
verbreitet sind schließlich Anhänge der Mittel-
brust in Gestalt von epaulettenförmigen Schulter-
wülsten. Diese Wülste treten in der Ruhelage
kaum hervor, erst wenn sie wie ein Handschuh-
finger ausgestülpt werden, wirken sie als auffallen-
des Schmuckorgan. Bei fitsca und auriculafa er-
reichen diese mit sperrig abstehenden Schuppen-
haaren besetzten Anhänge in gedehntem Zustande
etwa die halbe Flügellänge.
Zu dieser mannigfaltigen Schmuckausstattung,
die auf den Gesichtssinn des Weibchens wirkt,
treten nun bei den meisten Arten noch besondere
Duftapparate zur Erregung des Geruchssinnes.
Bei Uloviyia, Pcriconia mibila und anderen Arten
sitzt jederseits unter der Schulterepaulette ein
zartes, gestieltes Bläschen, das an der Spitze eine
mit kleinen Papillen besetzte Platte trägt, die für
gewöhnlich ganz in das Bläschen eingesenkt ist.
Querschnitte zeigen, daß die Bläschen hohl und
nur im distalen Teil , dort wo sich die Papillen
finden, mit großen Drüsenzellen versehen sind,
die in die Papillen einmünden. Diese Duftbläschen
oder Duftorgane sind in der Ruhelage stark zu-
sammengefaltet und unter den Schuppen der
Epaulettes wie in einem schützenden Versteck ge-
borgen. Sobald die Schmuckanhänge ausgespreizt
werden , werden auch diese Duftbläschen mit
Körperflüssigkeit vollgepreßt und die Sekrete der
Drüsenzellen zur Absonderung gebracht. Bei
anderen Arten fehlt das Bläschen und sitzen die
Drüsenpapillen auf einer Platte vereinigt direkt
dem Körper an, bei einer Art in einer Falte der
Körperwand, bei P. alispinosa so angeordnet, daß
die Papillenplatte von dem hier unbehaarten
Schulteranhang zugedeckt wird. Bei Verwandten
dieser Art stehen die Duftpapillen auf der Spitze
der Schulteranhänge und werden in der Ruhelage
in diese eingezogen. Bei fusca und auriciilata
bilden das Duftorgan 2 lange Keulen, die an der
Vorderbrust zu beiden Seiten des Kopfes herab-
hängen. Andere Arten tragen die Duftorgane
am Hinterkopf als 2 einfaltbare, zarthäutige,
schlauchförmige Fortsätze, deren Enden mit den
Duftpapillen besetzt sind. Statt der Duftpapillen
finden sich bei einigen Arten auch besonders
geformte Duftschuppen. Schließlich sind bei
N. F. XXI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Cbersichtsbild von Schmuck-, Duft- und Berührungso;rganen dei
Psychodiden.
1 . Thorax von Fericotim fiis-
t\! Macq. (/' , von vorn.
Die Schmuckanhänge (Te-
gulae) ausgestreckt.
2. Rechte Tegula und Duft-
organ von Vlomyia fiui-
i^inosa Afeig. , er', von
vorn oben.
3. Längsschnitt durch das
Duftorgan von U. fitli-
giiiosa Meig.
4. Thorax von Perkoma
alispbwsn sp. n., c/'t ^on
vorn. Rechte Tegula in
Ruhelage, linke ausge-
streckt.
5. Thorax von Pciicoma pa-
iagiata sp. n. , o'^j von
vorn. Rechtes Patagium in
Ruhe mit um den Kopf
gelegter „Haarlocke",
linkes ballonförmig auf-
gebläht.
6. Kopf von Perkoina (C/y-
tocerus) ocellaris Meig., er",
von oben. Nur eine
Antenne gezeichnet, mit
S-förniig gebogenem Bor-
stenbüschel am 3. Knoten.
7. Antennenglied von Psy-
clioila sp., mit dreizinkigen
.\skoiden (Organen des
Geschlechtsduftes).
8. Viertes und fünftes An-
tennenglied von Periiovia
deminuciis sp. n., o'^i mit
Stacheln und einfachen
Askoiden , letztere beim
(/' durch akzessorische
Schläuche vermehrt.
9. u. 10. Je ein Antennen-
glied von I'eruoina deci-
pkns Katon, c'"' u. 9i in
etwa gleicher Vergröße-
rung. Beim c/' sind die
Askoide durch starke
Vermehrung zu einem
Reizorgan ausgebildet.
11. Antenne von Perkoma
niibila Meig. , ^ , mit
Stacheln und Schmuck-
schuppen.
12. Bereitschaftsdrüse („Epi-
pterygalorgan") einer
Psyc/uh/a, von oben, bei
abgespreiztem Flügel. Die
gestrichelte Linie deutet
den Bereich der Ver-
schlußfalte an.
13. Männchen und Weibchen von CUvnyia fidl^inosa .Meig. in der ,, Umarmung;", von oben gesehen.
Abkürzungen.
AI = Alula. Ask = „Askoide" (Organ des Gcschlechtsduftes). BD = Bereilschaftsdrüse („Epipterygalorgan").
Co, = Vordere Coxa. DO = Duftorgan. DW = Deckwulst, legt sich auf die Bereitschaftsdrüse (BD). DZ ^ Drüsenzellen.
KA = Flügeladern. FV = Flügelvorderrand. K = .^nsatzslelle des Kopfes. Msn = Mesonotum.
Pat = Patagium (Schmuckanhang des Prothorax). Pn = Pronotum. Sp = Chitinspangen der Verschlußfalte. St = Stacheln.
Sti = Vorderes (mesothor.) Stigma. Tcg := Tegula (Schmuckanhang des Mesothorax).
Hinsichtlich der Einzelheiten, die hier nicht genau wiedergegeben sind, vergleiche man die zitierte Arbeit.
einer Reihe von Arten die Organe des Gcschlechts-
duftes, auf die ich noch zu sprechen komme, in
männlichen Geschlecht zu Erregungsorganen aus-
gebildet.
Zu den Schmuck- und Duftorganen treten
nun bei manchen Arten noch Organe des Be-
rührungsreizes, besondere Stacheln, die den
Hautsinn des Weibchens erregen. Solche Stacheln
finden sich einzeln oder zu Gruppen vereinigt
besonders an den Fühlern, so bei dem Männchen
8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. I
von P. nubila, das mehrere untere Antennen-
glieder dicht mit starren Stacheln besetzt zeigt.
Auch an den Vorderbeinen und an der unteren
Flügelfläche finden sich bei anderen Arten Stacheln
oder Stachelreihen.
Schließlich sind, im Einklang mit der Ausbil-
dung der genannten Reizorgane, die Instinkte
der Männchen in verschiedener Weise modifiziert.
Bei seiner Werbung führt das Männchen allerlei
Bewegungen aus, um das Weibchen zu erregen.
Diese Bewegungen enden bei manchen Arten in
einem eigenartigen Vorgang, der dazu dient, die
Schmuck-, Duft- und Berührungsorgane zu aus-
giebiger Wirkung zu bringen.
Bevor wir nun versuchen, die physiologische
Bedeutung dieser Einrichtungen, die in der Tat
sowohl hinsichtlich ihrer Ausbildung im einzelnen
als auch ihres Zusammenwirkens als überaus
vollendet bezeichnet werden können, näher zu
prüfen, muß noch einiges vorausgeschickt werden.
Wie ich bereits erwähnte, finden viele Tiere
sich vorwiegend durch den Geruchssinn zusammen,
vor allem ist das bei den meisten Insekten der
P"all. Es muß also den Individuen einer Art ein
besonderer Geruch anhaften, den man als Spezies-
duft, besser wohl — da er nach dem Geschlecht
unterschieden sein muß — als Geschlechts-
duft bezeichnet. Im allgemeinen wird ange-
nommen, daß es diffus verteilte Hautdrüsen oder
Drüsenhaare sind, die diesen Duft erzeugen. Bei i
den Psychodiden, und zwar sämtlichen Arten, sindf
es besondere Organe an den Antennen, zarte
Schläuche in mannigfaltiger Form, die an den
Geißelknoten paarig angeordnet sind. Die An-
ordnung an den Antennen ist insofern auffallend,
als sich bekanntlich auch die Organe des Geruchs-
sinnes an den Antennen finden. Es ist das ein
Beweis dafür, daß diese Geruchszapfen ganz ge-
nau auf bestimmte Duftqualitäten eingestellt sein
müssen, der eigene Duft wird offenbar gar nicht
wahrgenommen.
Dann aber besitzen beide Geschlechter aller
Arten noch eine weitere sehr interessante Duft-
drüse. Sie findet sich an jeder Seite des Brust-
abschnittes dicht oberhalb der hinteren Flügel-
wurzel in Form eines Zäpfchens, das an der Spitze
ein Büschel von Haaren trägt. Das merkwürdigste
an diesem Organ ist die Einrichtung, durch die
es gewissermaßen bei Nichtgebrauch unter Ver-
schluß gehalten wird. Die hintere P'lügelmem-
bran bildet eine Falte, die durch 2 chitinöse
Spangen gehalten und durch besondere Muskeln
bewegt wird, so daß der Apparat auf- und zuge-
klappt werden kann. Ich habe dieses Organ
„Rereitschaftsdrüse" genannt. Es tritt erst
dann in Funktion, wenn die Reifung der Ge-
schlechtsprodukte beendet, also die Bereitschaft
zur Kopulation eingetreten ist. Daß gerade dieses
Bereitschaftsorgan für die Beobachtungen von wert-
voller Bedeutung ist, wird einleuchten.
Die Bereitschaft der Imagines tritt bei den
hüherdiffcrcnzicrten Arten in der Regel erst i bis
2 Tage nach dem Ausschlüpfen, bei den Männ-
chen etwas früher als beim Weibchen ein. Die
gesamte Lebensdauer umfaßt nur kurze Zeit, in
der Gefangenschaft selten mehr als 5 — 8 Tage.
Setzt man in eine Glaskammer zu einem reifen
unbefruchteten Weibchen ein reifes Männchen, so
„erkennen" sich vermöge ihres Geschlechtsduftes
die beiden Geschlechter sofort, auch wenn sie
sich nicht sehen. Das äußert sich darin, daß in
der Regel ohne Verzug das i^ oder $ seine Be-
reitschaft äußert. Diese „Bereitschaftsäuße-
rung" besteht in einem ruckartigen, i — 2 maligen
Flügelschlagen, bei dem zweifellos der Verschluß-
apparat des Bereitschaftsorganes geöffnet wird, so
daß etwas Duft entweicht, dessen Verbreitung
durch das Schlagen mit den Flügeln beschleunigt
wird. Bei einzelnen Arten sind Modifikationen
dieser Bereitschaftsäußerung vorhanden. Bei den
Weibchen scheint ziemlich allgemein das i — 2-
malige Schlagen vorzuherrschen, die Männchen
einiger Arten spreizen flatternd die Flügel oder
zittern und rütteln mit dem ganzen Körper.
Letzteres ist z. B. bei dem $ von Uloinyia fitli-
ginosa Meig. der Fall, auf das ich hier im wesent-
lichen mich beziehe. Der erste „Anruf" kann,
wie gesagt, sowohl vom ^ als vom $ ausgehen,
meist ist es das Männchen, das Weibchen nur
dann, wenn es etwa hochgradig bereit ist. „An-
ruf" und „Antwort" folgen sich bei bereiten Tieren
, außerordentlich schnell, ein Beweis für die Wirkung
ides „Bereitschaftsduftes". Verhält sich das ?
zögernd, so beginnt das Männchen zu „werben".
Es wiederholt immer von neuem seine Bereit-
schaftserklärung, dabei häufig den Platz wechselnd,
während das Weibchen gewöhnlich ruhig sitzen
bleibt. Vollführt das Weibchen aber einen kurzen
Flügelschlag, so ist in der Regel das Männchen
in aller Kürze in seiner Nähe. Hier wird es immer
aufgeregter, wiederholt das Zittern und Rütteln
lebhafter und häufiger und läuft unruhig um das
Weibchen herum. Schließlich bleibt es dicht vor
dem Weibchen, ihm zugewandt, stehen. Das
Rütteln geht in einen erregten Dauerzustand über,
der einige Sekunden lang anhält. Dann wird —
wenn das Weibchen aushält — plötzlich der
eigentliche, bis jetzt in Reserve gehaltene Reiz-
apparat in Funktion gesetzt. Das Männchen
schnellt seine Schmuckanhänge hervor, so daß sie
weit vom Körper abstehen, hebt den einen Flügel
hoch, legt ihn nach vorn herüber an die Seite
des Weibchens und preßt seinen Vorderkörper
dicht an den des Weibchens heran. In dieser
Stellung, die gewisse Ähnlichkeit mit einer „Um-
armung" hat, verharren die beiden Tiere 4 bis
6 Sekunden lang regungslos. Ohne Zweifel treten
währenddessen die Duftblasen des Männchens in
Tätigkeit. Hat der Duft genügend gewirkt, so
nimmt das Männchen den nach vorn geschlagenen
Hügel zurück, wendet sich zur Seite, ergreift mit
seinen Greifzangen das Hinterende des weiblichen
Abdomens und tritt in Kopula.
So glatt N^erläuft aber der Vorgang nichl
N. F. XXI. Nr. 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
immer. Es kommt vor, daß das Weibchen, auch
wenn es bereits seine Bereitschaft geäußert hat,
im letzten Moment vor der Umarmung abspringt.
Dann muß das Männchen von neuem seine Wer-
bung beginnen, bisweilen wirbt es bis zu ^U Stunde
lang ohne Erfolg.
Nun ist es recht interessant, diese Vorgänge
bei verschiedenen Arten zu beobachten. Es zeigt
sich , daß die Werbebewegungen des
Männchens völlig im Einklang stehen
mit der Ausbildung des Reizapparates.
So fehlt z. B. bei Arten, die keine Berührungs-
organe aufweisen, auch die „Umarmung".
Um diese Beobachtungen theoretisch
zu würdigen, müssen wir uns zunächst eins
vergegenwärtigen. Es handelt sich bei den Äuße-
rungen, die hier vorliegen, zweifellos um Instinkt-
bewegungen, d.h. um erblich festliegende,
selbstverständlich in gewisser Hin-
sicht plastische, aber im Prinzip gesetz-
mäßige Reflexe. Den Ablauf dieser
Reflexe verstehen wir am besten, wenn wir
alle psychologischen Erwägungen beiseite lassen
und die Vorgänge nach rein physiologischen
Gesichtspunkten betrachten.
Jeder Reflex setzt einen Reiz voraus, der ihn
auslöst. Betrachten wir unter diesem Gesichts-
punkt einmal das Weibchen.
Seine Äußerungen sind abhängig von im
wesentlichen zwei Reizen. Zunächst dem inner-
sekretorischen Reiz , der von den reifenden Ge-
schlechtsprodukten (oder irgendwie mit der Rei-
fung im Zusammenhang stehenden Faktoren) aus-
geht. Solange die Reife nicht vorhanden ist,
bleibt der Reflex aus. In zweiter Linie von dem
Reiz, den das Männchen ausübt. Es ist nun
klar, daß, wenn der erste Reiz — sagen wir
der innere Trieb zur Begattung — bereits sehr
stark geworden ist, der zweite Reiz, der vom
Männchen ausgehende, nur schwach zu sein braucht,
um den Endeffekt, d. h. den Begattungsreflex aus-
zulösen. In der Tat läßt sich deutlich erkennen,
daß die Bereitschaft des Weibchens, seine „Re-
aktionsstimmung", steigende Grade aufweist.
Steht das Weibchen im Beginne der Bereitschaft,
so muß das Männchen sehr lange werben, häufig
wirbt es dann vergebens. Nun wird das Weib-
chen nur ein einziges Mal begattet. Die Männ-
chen aber sind imstande, die Kopulation wieder-
holt vorzunehmen, sie sind immer von neuem
bereit und meist außerordentlich begierig. Es
muß sich also, da die Tiere in der Regel wohl
in größerer Anzahl nahe beieinander leben , ein
gewisser Wettbewerb der Männchen um die Weib-
chen ergeben. Wirbt ein Männchen vergebens
um ein Weibchen, so kann inzwischen ein zweites
Männchen aufmerksam werden und seinerseits
Werbungsversuche anstellen. Verfügt es über
bessere Reizmittel, so liegt die Möglichkeit vor,
daß es ihm eher gelingt als dem anderen, weniger
gut ausgestatteten, das Weibchen zu erringen.
Sicherlich spielen auch die „Selbsterhaltungs-
instinkte" des Weibchens, die Doflein im Auge
hat, eine Rolle. Sie verzögern die Reaktions-
stimmung. Selbst wenn wir nicht annehmen, daß
der Fortpflanzungsakt durchweg mit Gewalt-
anwendung verbunden ist, schon der bloßen Be-
rührung gegenüber verhalten sich die meisten
Tiere ablehnend.
Die Reize, über die das Männchen bei
seiner Werbung verfügt, sind folgende: Zunächst
der Geschlechtsduft. Schon dieser kann genügen,
um bei einem sehr reifen Weibchen die Bereit-
schaft auszulösen. Dann der Bereitschaftsduft;
beides Reize, die auf den Geruchssinn wirken.
Weiterhin Reize, die den Gesichtssinn erregen,
die Bewegungen des Männchens, schließlich die
plötzliche Entfaltung des Schmuckapparates. Zur
letzten Steigerung werden die eigentlichen Duft-
organe in Tätigkeit gesetzt, zugleich mit dem
Reiz, der durch die Berührung bei der Umarmung
ausgeübt wird. Gerade diese Berührung scheint
mir nicht unwesentlich zur Überwindung etwa
noch im Wege stehender Selbsterhaltungsinstinkte
zu sein. Jedenfalls finden wir in Korrelation zu
den Graden der „Sprödigkeit" des Weibchens,
wenn wir als solche die mangelnde Bereitschaft
bezeichnen wollen, graduell gesteigerte Reize bei
dem Männchen.
Kurz zusammengefaßt ergibt sich also folgen-
des:
1. Da die Mäimchen den Fortpflanzungsakt
sehr häufig vornehmen können, die Weibchen nur
ein einziges Mal begattet werden, muß sich ein
Wettbewerb der Männchen um die
Weibchen ergeben. Die Männchen, zumal sie
früher reif sind, „lauern" gewissermaßen auf den
Eintritt der Bereitschaft des Weibchens.
2. Da die Bereitschaft der Weibchen steigende
Grade aufweist, ist die größere oder ge-
ringere Intensität der Werbung des
Männchens, die mehr oder weniger
vollkommene Ausbildung der Reiz-
organe von ausschlaggebender Bedeu-
tung.
3. Es findet also eine gewisse Wahl der
Weibchen statt , nicht in dem Sinne, daß be-
wußt ein Männchen ausgewählt wird, sondern in
dem Sinne, daß im allgemeinen ein Männchen,
das über stärkere Reize verfügt, bei
seiner Werbung größere Aussicht auf
Erfolg hat.
Ohne Zweifel enthalten diese Beobachtungen
und Schlußfolgerungen eine Antwort auf die bei-
den ersten Fragen, die ich oben aufstellte. Die
Reizorgane haben offensichtlich den Zweck, die
Weibchen zu erregen und für die Begattung ge-
fügig zu machen , das ergibt sich aus den Vor-
gängen mit aller nur wünschenswerten Deutlich-
keit. Ein „Wahl" der Weibchen kann daraus
meines Erachtens schon rein logisch gefolgert
werden, sobald, wie es hier der Fall ist, ein Wett-
bewerb der Männchen vorliegt.
Ich zweifle nicht, daß auch bei anderen Tier-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. I
arten, welche Erregungsorgane aufweisen, ähnliche
Verhältnisse sich nachweisen lassen, falls man nur
die Beobachtungen sorgfältig genug anstellt. Man
kann über die Lebensäußerungen der
Tiere — das gilt besonders für die In-
sekten — nur dann zu richtigen An-
schauungen gelangen, wenn man so-
wohl die morphologischen Eigentüm-
lichkeiten der betreffenden Art genau
untersucht, als auch sich frei hält von
anthropomorphen Deutungen, d. h. rein
physiologisch die Erscheinungen wer-
tet. Wenn Möbius den Einwand macht, daß
Tiere keine Schönheit wahrzunehmen vermöchten,
,,weil sie nicht imstande sind, das Gesetzmäßige
in den auf sie einwirkenden Naturerscheinungen
zu erkennen"; oder wenn Schneider die ge-
schlechtliche Zuchtwahl bekämpft, weil sie bei
den Weibchen eine „hohe geistige Veranlagung,
direkt eine ästhetische Begabung" voraussetze, so
zeigt das nur, daß die Vorgänge, um die es sich
hier handelt, völlig falsch aufgefaßt werden. Es
braucht nur darauf hingewiesen zu werden, daß
selbst der intelligente Mensch in vielen seiner
Handlungen völlig unter dem Einfluß rein physio-
logischer, teils innersekretorischer, teils sinnlicher
Reizwirkungen steht. Bei den erwähnten Ver-
suchen mit Schmetterlingen, denen die Flügel
übermalt oder abgeschnitten wurden, hat man
festzustellen versäumt, ob nicht die Männchen
noch über weitere Reizmittel verfügen (wie es in
der Tat der Fall ist), und in welchem Zustande
der Bereitschaft sich die Weibchen befanden.
Nun aber kommt die weitere Frage: Ist die
Entstehung und Ausbildung der Reiz-
organeaufdieWirkungdiesersexuellen
Zuchtwahl zurückzuführen, kann sie
durch diese erkärt werden?
Einer Bejahung dieser Frage stehen von vorn-
herein prinzipielle Bedenken entgegen.
Die F'orschungen über die Variabilität der
Arten haben ergeben, daß die Eigenschaften
nicht über eine gewisse Breite hinaus schwanken
und diese Schwankungen nicht erblich sind, also
durch Auswahl auch der extremsten Abweichungen
nichts neues gezüchtet werden kann. Diese F"est-
stellung, auf die hier nicht näher eingegangen
werden soll, läßt es als unmöglich erscheinen, daß
die sexuelle Zuchtwahl als solche die fraglichen
Organe hervorgerufen und vervollkommnet hat,
da nicht anzunehmen ist, daß die Variationsge-
setze etwa in früheren Zeitperioden wesentlich
andere waren.
Ein Beispiel, das die Psychodiden bieten, scheint
in der Tat einen deutlichen Beweis zu liefern, daß
die .sexuelle Zuchtwahl nicht der maßgebende
I'aktor für die Ausbildung der Reizorgane ist. Es
gibt zwei Psychodidenarten, Pcruoiiiii iiithiLi Mcig.
und tnvialis Eat. , die so nahe verwandt sind,
daß die Larven und Puppen und auch die weib-
lichen Imagines einander völlig gleichen, vielleicht
nur etwas durch ihre Größe differieren. Die
Männchen dieser Arten zeigen in der Ausbildung
ihrer Reizorgane ganz auffallende Unterschiede.
Bei frivialis ist der Reizapparat in jeder Hinsicht
primitiv, bei iiubüa auf das höchste vervoll-
kommnet. Zweifellos hängen die beiden Arten
genetisch eng zusammen, die Organe der einen
Art lassen sich von denen der anderen ableiten.
Ich vermute daher, daß die eine, frivialis, die
Stammart der anderen ist, falls es sich nicht über-
haupt um eine einzige Art mit zwei Männchen-
formen handelt. In jedem Falle müßte aber,
wenn man die Entwicklung der sekundären Merk-
male aus der Wirkung der Zuchtwahl erklären
will, das nur kümmerlich ausgestattete irivialis-
Männchen ausgestorben sein. Es ist aber eher
das Gegenteil der Fall, frivialis ist die häufigere,
überall verbreitete Art, iiubila ziemlich selten.
Wir müssen also nach anderen Fak-
toren suchen, um die Entstehung und Weiter-
entwicklung der Reizorgane zu erklären.
Die vergleichende Morphologie der Psycho-
diden legt zunächst die Annahme nahe, daß bei
den Imagines eine ererbte oder erworbene
Neigung zur Ausbildung dieser Organe
vorliegt, z. B. eine erworbene Neigung zur Bildung
von Sekreten oder DuftstofTen vielleicht im Zu-
sammenhang mit der Nahrung der Larven, eine
ererbte Neigung zur Bildung von Anhängen an
bestimmten Körperstellen auf phylogenetisch über-
lieferten Grundlagen. Eine solche Neigung oder
Prädisposition kann vielleicht als Vorbedingung
für das Entstehen der Reizorgane betrachtet wer-
den, bildet aber natürlich keine Erklärung für
dieses.
Weiterhin drängt sich die Vermutung auf, daß
manche dieser Bildungen durch funktionelle Be-
wirkung hervorgerufen sind, z. B. die ausstülp-
baren Anhänge durch erhöhten Druck der Körper-
flüssigkeit infolge der sexuellen Erregung oder
die Stacheln an den Antennen durch den Reiz
bei der Berührung, mit anderen Worten: durch
den Gebrauch der betreffenden Organe
nach der Auffassung Lamarcks, eine Erklärung,
die auch Plate für manche Organe gelten läßt.
Doch stehen hier einige Bedenken entgegen. Ein-
mal können wir unmöglich wissen, was eher da
war, der Gebrauch oder das Organ, z. B. der In-
stinkt, das Weibchen zu berühren oder die
Stacheln an den Antennen. Allerdings, die Über-
einstimmung, die zwischen den Besonderheiten
des männlichen Instinktes und den verschiedenen
Modifikationen des Reizapparates herrscht, spricht
für eine engere Beziehung zwischen beiden. Aber
wir brauchen uns nur zu fragen, wieso etwa am
4. oder 5. Glied jeder Anteime durch den Reiz
bei der Berührung von den dort vorhandenen
Wirtelhaaren je 3 zu starren Stacheln geworden
sein sollten, um die Unmöglichkeit einer solchen
Annahme zu erkennen. Sollen vielleicht sämtliche
Männchen der betreffenden Art die Weibchen
stets mit denselben Antennengliedern berührt
haben ? Eine andere Form funktioneller Bewir-
N. F. XXI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
kung ist aber meines Erachtens undenkbar. Selbst
wenn wir aber mit dieser Schwierigkeit uns ab-
finden würden, so stoßen wir auf eine weitere.
Es ist zu beachten, daß zu der Zeit, wo das
Männchen die Reizorgane, etwa die Stacheln, ge-
braucht, also durch den Gebrauch die Bildung der
Organe gefördert werden könnte, die Geschlechts-
produkte ausgereift sind. Es ist also nicht er-
sichtlich, wie etwa durch den Gebrauch ent-
standene oder weiterentwickelte Menkmale auf
die folgende Generation vererbt werden können.
Daher ist diese Deutung, wenigstens für unseren
Fall, meines Erachtens zu verwerfen.^)
Eine andere Auffassung geht dahin, daß, wenn
ein „Bedürfnis" vorliege, ein „inneres Gefühl"
oder eine „innere Reizempfindung" die
Bildung von Organen zur Befriedigung des Be-
dürfnisses verursache. Auf unseren F"all ange-
wandt , würde man etwa sagen können : es hat
eine größere Sprödigkeit der Weibchen die Ent-
wicklung der Reizorgane notwendig gemacht und
sie auf Grund innerer Bedürfnisempfindung her-
vorgerufen. Mir scheint aber diese Auffassung
doch zu viel des Hypothetischen an sich zu haben.
Zunächst wissen wir von einer solchen „Bedürfnis-
empfindung" de facto nichts. Weiterhin vermag
man sich schwer eine Vorstellung davon zu
machen, wie ein Bedürfnis nach einem Organ, das
nicht vorhanden ist, dieses oder auch nur die
Tendenz zur Hervorbringung eines solchen ins
Leben rufen soll. Alle Anzeichen deuten darauf
hin, daß das Verhalten der beiden Geschlechter
in strengster Korrelation zueinander steht, aber
es ist anzunehmen , daß nicht etwa zuerst die
Sprödigkeit sich herausgebildet hat und dann der
Reizapparat zur Überwindung derselben, also nicht
das eine als die Ursache des anderen gelten
kann, sondern beides zu gleicher Zeit aufgetreten ist.
') Es mag von Interesse sein, hier das merkwürdige
„Hypopygiura inversum" der Psychodiden zum Vergleich
heranzuziehen. Wie ich an anderer Stelle (Zoolog. Jahrb.,
Anat. Bd. 42. S. 543) bereits kurz ausgeführt habe, ist die
Muskulatur des aus dem 9. und 10. Abdominalsegment auf-
gebauten Kopulationsapparates der Männchen bis auf einen
dorsalen und einen ventralen Muskel, die die Verbindung mit
dem 8. Segment herstellen, völlig selbständig. Nach dem
Ausschlüpfen der Imago dreht sich der Apparat um 180^ und
bleibt in dieser inversen Lage dauernd erhalten. Es handelt
sich um eine vollendete Anpassung an die Lage der weib-
lichen Genitalöffnung. Was liegt näher als die Annahme, daß
diese Drehung durch den Gebrauch, d. h. funktionelle An-
passung hervorgerufen ist! Das durch den weiblichen Lege-
apparat behinderte Männchen mußte versuchen, durch Drehung
des Hypopygiums das Begattungsglied von unten her einzu-
führen. Wiederholter Versuch beseitigte nach und nach ent-
gegenstehende Hindernisse (intersegmentale Muskeln usw.1, der
Apparat wurde immer selbständiger und die Drehung zu einer
obligatorischen ! Aber auch hier steht einer solchen Deutung
die oben angeführte Tatsache durchaus entgegen. Soweit ich
feststellen konnte , sind sämtliche Geschlechtsprodukte vor
dem ersten Begaltungsakt ausgereift. Wie soll hier eine durch
funktionelle Anpassung bei der Kopulation selbst erst er-
worbene neue Eigenschaft erblich übertragen werden.^ Wie
mir scheint, eine überaus schwierige Frage, falls wir nicht an-
nehmen, daß etwa Vorfahren, die dieses Merkmal erwarben,
hinsichtlich der Reifung ihrer Geschlechlsprodukte sich
wesentlich anders verhielten.
Des Eindruckes kann man sich nicht erwehren,
daß in den Erregungsorganen, dem prächtigen
Schmuck , den Anhängen und Duftdrüsen , ein
gewisser Kraft Überschuß zutage tritt. Aber,
wie ich schon betonte, dieser Kraftüberschuß kann
nicht dem einen Geschlecht eigen sein, er muß
meiner Ansicht nach in der Art liegen. Und
gerade in dieser Hinsicht scheinen die Psycho-
diden einigen Anhalt zu geben. Wir müssen dazu
natürlich die Larven untersuchen, da diese allein
etwaigen Kraftüberschuß erwerben können. Es
unterscheidet sich nun die Lebensweise der Arten,
die keine besonderen Erregungsorgane aufweisen,
sehr wesentlich von derjenigen ausgestatteter
Arten. Die ersteren leben vorzugsweise an schnell
faulenden Substanzen, sind lebhaft und beweg-
lich, ihre Entwicklung dauert nur kurze Zeit, in
manchen Fällen nur einige Tage. Die Larven der
anderen Gruppe leben auf moderndem Laub, sind
außerordentlich träge, zeigen z. T. hochgradige
Anpassungen an ihren Wohnort, ihre Entwicklung
dauert bis zu einem Jahre. Inwiefern etwa die
Nahrung dabei von Bedeutung ist, kann nicht ge-
sagt werden. Jedenfalls liegt die Annahme nahe,
daß die verschiedene Lebensweise eine verschie-
dene Konstitution bedingt, und daß die trägen,
langlebigen, geschützten Arten gewissermaßen
Energien speichern, die in den Imagi-
nes zur Geltung kommen. Aber wohl-
gemerkt, es kann die Annahme eines Energie-
überschusses gewisser Arten uns allenfalls als Er-
klärung für die materielle Grundlage, auf
der die Reizorgane entstehen konnten, dienen,
nicht die Entstehung gerade der Reiz-
organe erklären.
Die Zuchtwahltheorie im Sinne Darwins
glaubte ich ablehnen zu mi'ssen. Hat nun aber
die „Wahl der Weibchen", die ich als solche in
gewissem Sinne bejahte, gar keine Bedeutung für
die Entwicklung der Reizorgane? Ich halte es
für nicht richtig, ganz eine Bedeutung dieser
Wahl zu leugnen. Sollte sie nicht den Erfolg
haben, daß, wenigstens im allgemeinen, nur die
besten Männchen zur Fortpflanzung gelangen, und
damit die Konstitution der Art auf der
vollen Höhe ihrer Potenz erhalten
bleibt? Und weiter; sollte nicht gerade durch
die Wahl die Potenz derjenigen Merk-
male, die bei dieser Wahl ausschlag-
gebend sind, im besonderen gefestigt
werden? Mir scheint dieser Gesichtspunkt eine
gewisse Erklärung für das Bestehen der Wahl und
für die Möglichkeit der Weiterentwicklung des
Reizapparates zu enthalten. Doch dürfen wir auch
hier nur die „Grundlage", nicht die „Ursache"
suchen.
Diese Ursache muß in inneren Kräften
des Organismus liegen, in einem Vervollkomm-
nungsprinzip oder besser einer Tendenz fort-
schreitender Differenzierung etwa im
Sinne Nägelis. Der Nägelische Gedanken-
gang, der neuerdings vor allem von Oskar Hert-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. I
wig aufgegriffen und weiter ausgebaut ist, geht
von der Auffassung aus, daß als Träger der erb-
lichen Eigenschaften eine besondere materielle
Substanz angenommen werden muß, das „Idio-
plasma". Dem Idioplasma kommt die Fähigkeit
zu, zu wachsen und sich zu differenzieren, d. h.
vorhandene Erbanlagen bzw. Merkmale umzu-
bilden und neue hinzu zu gewinnnen. Es ge-
schieht dies unter dem Einfluß äußerer Bewir-
kungen, wie Nahrung, Feuchtigkeit, Temperatur
usw., deren Einfluß auf die Ausbildung oder Ver-
änderung von Merkmalen des Organismus ja ex-
perimentell festzustellen ist.
Es läßt sich diese Auffassung unter mehr
positiver Berücksichtigung der Zuchtwahl,
die Hertwig nur als rein negativen Faktor
gelten läßt, und unter Vernachlässigung der An-
nahme, daß die Veränderungen des Idioplasmas
a priori bestimmt gericlitet sind, vielleicht in
folgender Weise kurz formulieren:
Treffen den Organismus irgendwelche neuen
Einflüsse, so kann er durch Umformung seines
Idioplasmas neue Eigenschaften bilden. Diese
mögen schädlich, gleichgültig oder nützlich sein.
Die natürliche Zuchtwahl, d. h. der Kampf ums
Dasein, sorgt dafür, daß im wesentlichen die
Eigenschaften erhalten bleiben, die dem Organis-
mus Vorteile bieten, bewirkt aber dadurch zu-
gleich, daß die Potenz gerade dieser Merkmale
auf gewisser Höhe gehalten und die Möglichkeit
ihrer Weiterentwicklung gewährleistet ist. In
gleicher Weise wirkt die sexuelle Zuchtwahl. Um
auf unser Beispiel zurückzugreifen: Neue, sagen
wir: günstige Lebensbedingungen haben bei ge-
wissen Arten neue Differenzierungen des Idio-
plasmas hervorgerufen. Sie äußerten sich darin,
daß bei dem Weibchen die Reifung der Ge-
schlechtsprodukte verzögert, seine „Sprödigkeit"
vergrößert wurde, während bei dem Männchen
Eigenschaften zur Geltung kamen, durch die es
befähigt war, diese Sprödigkeit zu überwinden.
Die geschlechtliche Zuchtwahl ließ gerade jene
Männchen zur Fortpflanzung kommen, bei denen
diese Eigenschaften höhere Qualitäten besaßen.
So konnte die prospektive Potenz ge-
rade dieser Merkmale durch die Wahl
der Weibchen sich festigen und auf ihr,
bei Fortbestehen der günstigen Ein-
flüsse und der aus ihnen resultierenden
Differenzierungstendenz, eine immer
we iterge he nde Vervollkommnung fuße n,^)
deren Resultat sich uns heute in den uns so
wunderbar erscheinenden Einrichtungen des sexu-
ellen Reizapparates offenbart.
Daß mit dieser Auffassung alle Schwierigkeiten
hinweggeräumt seien, die gerade die Frage der
Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale
bietet, wage ich nicht zu behaupten. Vielleicht
aber mögen die mitgeteilten Tatsachen uns einer
Lösung des Problems der geschlechtlichen Zucht-
wahl näher führen.
') Die ,,Hypenelie" gerade bei sekuudaren Gesclilcchls-
merkmalen dürfte als Stütze dieser Auffassung angesclu-u
werden können. — Ob die ,, Vervollkommnung" als allnuih-
liche oder sprunghafte anzunehmen ist, mag hier unerörtert
bleiben. Das Beispiel trivialh-nubila deutet auf sprungweise
erfolgte Mutation hin.
Einzelberichte.
A'ersuche, l)ei PHauzeii das (Geschlecht zu
verschieben.
In einem früheren Jahrgang dieser Zeitschrift
(N. F. 17, S. 458) wurde über Versuche von Cor-
rens, die sich mit der Frage der experimentellen
Verschiebung der Geschlechtsverhältnisse bei
Pflanzen beschäftigen, berichtet. Inzwischen sind
zwei weitere Arbeiten desselben Forschers und
neuerdings eine zusammenfassende Darstellung
der bisherigen Ergebnisse erschienen (Uereditas,
2. 1921). Bei dem Versuchsobjekt von Correns,
der Lichtnelke (Melandrium) liegen die Verhält-
nisse folgendermaßen : es werden nur einerlei Ei-
zellen gebildet, aber zweierlei Pollenkörner, „Männ-
chenbestimmer" und „Weibchenbestimmer" zu
gleichen Teilen. Es ist das der sog. Drosophila-
typus im Gegensatz zu dem selteneren Abraxas-
typus (Schmetterlinge, Vögel), bei dem gleich-
artige männliche und zweierlei weibliche Gameten
produziert werden. Danach müßte man erwar-
ten, daß bei der Lichtnelke männliche und weib-
liche Pflanzen in gleicher .-Anzahl gebildet werden.
Die Erfahrung zeigt aber, daß in der Natur die
Weibchen sehr stark dominieren. Solche Unstim-
migkeiten im Sexualverhältnis sind ja im Pflanzen-
und Tierreiche häufig beobachtet. Bei Melandri-
um beruhen sie nun in erster Linie darauf, daß
die weibchenbestimmenden Pollenschläuche den
männchenbestimmenden in der Konkurrenz durch
ihr rascheres Wachstum überlegen sind ; sie über-
holen ihre Partner auf dem Wege nach der Ei-
zelle. Sorgt man nun dafür, daß jedes keimende
Pollenkorn zur Befruchtung gelangen kann, indem
man nur soviel Pollenkörner auf die Narbe auf-
trägt, als Eizellen im Fruchtknoten vorhanden
sind, dann zeigt sich, daß das Geschlechtsverhält-
nis unter Umständen bis zum Gleichgewicht von
Männchen und Weibchen verschoben werden kann.
Das Voraneilen der weibchenbestimmenden Pollen-
schläuche kann nun in folgender Weise sehr schön
demonstriert werden : man erntet die Samen der
oberen und der unteren Kapselhälfte getrennt und
sät sie auch gesondert aus. Dabei offenbart sich,
daß die Nachkommenschaft der oberen Kapsel-
hälftc prozentual viel mehr Weibchen enthält als die
N. F. XXI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
der unteren. Das ist sehr einfach so zu deuten,
daß die zuerst ankommenden Pollenschläuche die
zunächstliegenden Samenanlagen der oberen Re-
gion befruchten , so daß die Nachzügler auf die
entfernter liegenden Eizellen der unteren Region
angewiesen sind. Ganz so schematisch erfolgt
der Prozeß nicht, so daß wir auch Männchen in
der oberen und Weibchen in der unteren Hälfte
antreffen. Einmal spielen zufällige Verhältnisse
bei dem Erreichen der Samenanlage eine Rolle,
dann aber ist die Wachstumsgeschwindigkeit der
männchenbestimmenden Pollenschläuche bloß
durchschnittlich geringer als die der weibchen-
bestimmenden, während im einzelnen Ausnahmen
vorkommen. Daß die Weibchenbestimmer die
Männchenbestimmer auf dem Weg zur Narbe tat-
sächlich überholen, kann in folgender Weise ver-
anschaulicht werden. Man schneidet den Griffel
einige Zeit, nachdem die Narbe mit Pollen belegt
wurde, an der Basis ab und stellt nun das Ver-
hältnis der Geschlechter bei derart behandelten
Fruchtknoten fest. Es zeigt sich, daß hier die
Weibchen viel stärker dominieren als in Parallel-
serien ohne solchen Eingriff. Diese Erscheinung
ist darauf zurückzuführen, daß durch das Ab-
schneiden des Griffels alle nachhinkenden Pollen-
schläuche — also in erster Linie die Männchen-
bestimmer — von der Konkurrenz ausgeschlossen
sind. Umgekehrt kann man das Minus an Wachs-
tumsgeschwindigkeit bei den Männchenbestimmern
einigermaßen dadurch ausgleichen, daß man den
Weg zur Narbe verkleinert. Es ist dies dadurch
zu erreichen, daß man den Pollen nicht wie ge-
wöhnlich auf die Narbe aufträgt, sondern an die
Basis des Griffels. Nun werden weniger Männchen-
bestimmer von den Weibchenbestimmern überholt
werden, und der Erfolg zeigt tatsächlich, daß sich
nunmehr das Gleichgewicht zugunsten der Männ-
chen verschiebt. Bei Melandrium liegen die Ver-
hältnisse also ganz klar. Es ist von Bedeutung,
daß Heribert Nilsson und Renner bei der
Nachtkerze (Oenothera) ganz ähnliche Verhältnisse
antrafen, und daß es Renner geglückt ist, die
beiden Sorten von Pollenkörnern an ihren Stärke-
körnern morphologisch - anatomisch zu unter-
scheiden. Weiterhin fand C o r r e n s dann,
daß eine Verschiebung des Geschlechtsverhält-
nisses in der Richtung der Männchenproduktion
durch Alternlassen des Pollens erzielt werden
kann. Das beruht darauf, daß beim Altern mehr
Weibchenbestimmer als Männchenbestimmer zu-
grunde gehen, so daß um so mehr Männchen er-
zeugt werden, mit je älterem Pollen man arbeitet.
Es sei hier an die entsprechenden Versuche
R. Hertwigs mit F"röschen erinnert. Hier ging
die Verschiebung so weit, daß schließlich bloß
Männchen resultierten. Endlich mag noch er-
wähnt werden , daß es in jüngster Zeit Seiler
bei seinen Versuchen mit der Psychide Talaeporia
geglückt ist, für die Verschiebung der Geschlechts-
verhältnisse eine zytologische Grundlage zu finden.
Talaeporia ist heterogametisch im weiblichen Ge-
schlecht; sie entwickelt 2 Sorten von Eiern
(AbraxastypusI). Die weibchenbestimmenden
haben 29, die männchenbestimmenden 30 Chro-
mosomen, zeichnen sich also durch den Besitz
eines Geschlechtschromosoms aus. Bleibt dies im
Ei, dann entsteht ein Männchen, wandert es in
den Richtungskörper, so resultiert ein Weibchen.
Durch Altern der Eier sowie durch erhöhte Tem-
peratur wird der Übertritt des Geschlechtschromo-
soms in den Richtungskörper begünstigt. „Es
wird also durch Alter und durch Wärme irgend-
wie ein orientierender Einfluß auf das Geschlechts-
chromosom ausgeübt und dadurch das Zahlen-
verhältnis der beiderlei Eier und der beiden Ge-
schlechter verschoben." Durch all diese Versuche,
denen sich noch die bekannten Arbeiten Gold-
schmidts über Intersexualität anreihen, ist also
das Problem der Geschlechtsbestimmung in eine
verheißungsvolle Phase eingetreten.
Stark.
Neues zur Kelativitälstheorie.
Wohl das Überraschendste auf diesem Gebiet
ist die Ausgrabung einer Arbeit aus dem Jahre
1801 im Astronomischen Jahrbuch für 1804, durch
Lenard, in den Annalen der Physik 1921,
S. 593, wo er zeigt, wie der damalige Münchener
Astronom und Physiker S o 1 d n e r auf Grund einer
ganz modernen Auffassung vom Wesen des Lichtes,
das er der Gravitation unterwirft, und dem er
Eigenschaften der Materie zuschreibt, die Ab-
lenkung der Lichtstrahlen am Rande eines F'ix-
sternes, wie der Sonne ableitet, ohne irgendwelche
relativistischen Gedanken. Hier ist Einstein
also um ein Jahrhundert zu spät gekommen.
Krauß befaßt sich in der Umschau Nr. 46 mit
der „Unmöglichkeit der E i n s t e i n sehen Bewegungs-
lehre". Der sehr wertvolle Aufsatz spricht der
Theorie Einsteins den Charakter einer physi-
kalischen Theorie schlechthin ab. Seine Kunst-
griffe sind keine Physik mehr, sondern eine rein
spielerische fiktive Rechenaufgabe, die in der
Minko wskischen Einkleidung einen besonderen
Reiz auf mathematische Köpfe ausübt, für die
Laienwelt aber mit dem Ehrfurcht einflößenden
Schimmer höherer und höchster Mathematik um-
geben wird, vor der man sich schweigend und
staunend zu beugen habe". Über die Uhren-
verzögerung beim M i c h e 1 s o n - Versuch sagt
Krauß: „Imaginäre Zeitkoordinaten mit reellen
Uhren und Uhren mit Zeit selbst zu verwechseln,
und von dem einen auszusagen, was von dem
andern gilt oder auch nicht gilt], ist doch nur
möglich, weil den Betreffenden jede Zucht rein-
lichen Denkens und Sprechens abhanden ge-
kommen ist.
Giulio Alliata schreibt ein Werk über
„Verstand contra Relativität", in dem er auf die
zahlreichen Widersprüche der Theorie in sich und
mit der Wirklichkeit hinweist. Sehr lehrreich ist
eine Zeichnung, in der man ersehen kann, wie die
14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. 1'. XXI. Nr. 1
Fachwelt die berühmte Ablenkung des Lichtstrahles
an der Sonne gänzlich verschieden darstellt, teils
konvex teils konkav zur Sonne, die Sache ist
also offenbar un verstehbar, und zwar nach Gehrcke
deswegen, weil sie falsch ist.
Comas Sola gibt in den Veröffentlichungen
der Sternwarte Fabra in Barzelona 1920 Heft 3
in einem längeren Aufsatz den Nachweis, daß die
absurden Konsequenzen der Relativitätstheorie
sie sehr angreifbar machen, mit der nicht vor-
handenen Rotverschiebung fällt sie, nach Einsteins
Wort selbst. Dagegen ist die moderne Emissions-
Undulations - Theorie des Lichtes, die sich auf
unsern Anschauungen vom Äther aufbaut, im-
stande, alle Erscheinungen zu erklären, für die
die Relativitäts theorie angeblich notwendig ist.
Comas Sola zeigt wie diese Anschauung alle
astronomischen und physikalischen Widersprüche
aufklärt, die zur speziellen Relativitätstheorie
führten. Sie läßt die Formeln der Physik unbe-
rührt. Sie erklärt die Sonnenfinsternislichtab-
lenkungen. Sie ergibt keine Rotverschiebung. Sie
erklärt die Abberration besser, als die Undulations-
theorie allein. Sie ergibt keinen Ätherwiderstand.
Sie führt zur Identität der Formeln von Fresnel
und Descartes. Sie beseitigt den Einwand, daß
der Äther keine Longitudinalschwingungen be-
sitze. Sie läßt das Newton sehe Gesetz unbe-
rührt. Sie erfordert nicht die von A. Hall,
Weber und anderen eingeführten Korrektions-
faktoren. Leider ist der Aufsatz spanisch ge-
schrieben und schwer zugänglich. Riem.
Freie Amnioniuinradikale I.
Das freie Rhodan, d. h. das Radikal SNC — ,
ist vor kurzem erst dargestellt ') und damit er-
neut der Nachweis erbracht worden, daß freie
Radikale einigermaßen beständig nur in Lösung
auftreten, außerhalb dieser sich jedoch rasch zu
einem gesättigten Polymeren zusammenschließen
oder aber zu stabilen Bruchstücken zerfallen. Das
Radikal Ammonium NH, — , aus zahlreichen
wichtigen Verbindungen wohlbekannt, in seinem
Charakter den Alkalimetallen äußerst ähnlich,
konnte bisher nicht isoliert werden. Man erhält
in jedem Fall nur gasförmigen Ammoniak NH^.
Immerhin ist an der Existenzmöglichkeit des
Ammoniums nie gezweifelt worden; das Am-
moniumamalgam bewies den autonomen, metall-
ähnlichen Charakter des Radikals deutlich genug.
Durch einen Kunstgriff versuchte man in neuerer
Zeit die Isolierung. Auch das Radikal Methyl
CH^ — ist auf keine Weise frei darzustellen ge-
wesen, wohl aber ist es gelungen, einen Ab-
kömmling davon in Lösung zu stabilisieren
und den verschiedensten Umsetzungen zu unter-
werfen. Gomberg ersetzte die 3 Wasserstoffe
durch Phenylreste und erreichte durch diese Be-
lastung des Kohlenstoffatoms die Gewinnung des
Triphenylmethyls C(C|jH5)3 — , d. h. des substi-
tuierten Melhylradikals. Ganz analog verfuhr
W i e 1 a n d , der im Tetraphenylhydrazin (C^Hj),
N — N(C,iH-)., einen Stoff fand, welcher unter ge-
eigneten Bedingungen einen substituierten Radi-
kaltypus liefert. Der Weg zur Gewinnung des
freien Ammoniumradikals war damit gegeben :
nicht das Ammonium selbst, sondern das substi-
tuierte Radikal mußte zu isolieren versucht werden.
Ansätze in dieser Richtung finden sich in zwei
Arbeiten von P^ m m ert ') und von Sc h 1 u b ac h.'-')
Es geht daraus hervor, daß das substituierte Am-
moniumradikal und damit auch dieses selbst in
Lösung eine blaue Farbe aufweist. Nunmehr
glauben E. Weitz-') und seine Mitarbeiter einige
freie Ammoniumradikale dargestellt zu haben.
Wenn sie das Benzoylpyridiniumchlorid (Formel I)
in Lösung mit Zink behandelten, so trat das Chlor,
wie zu erwarten, an das Metall, und ein dunkel-
brauner, bronzeglänzender Stoff von der Formel
CijHjyON ließ sich abscheiden, dem die Struktur
eines Benzoylpyridiniums zugeschrieben
wird (Formel II).
\
') Vgl. Naturw. Wochenschr. XIX, S. 138, 1920.
N JN
/\ /'•■■
CaHjCo Cl C„H,iCo
Man kann die Reaktion im Reagenzglas leicht
wiederholen, wenn man zu einer Lösung von
Pyridin und Benzoylchlorid in Xylol etwas Zink-
staub gibt. Es tritt sofort stürmische Reaktion
ein. Für die angegebene Struktur des entstehen-
den Stoffes spricht zunächst seine starke
Farbigkeit. Wie immer, so muß auch sie
auf eine „ungesättigte" Bindung in Molekül zurück-
geführt werden. Es spricht sodann dafür, daß
die Farbe der Lösung des Stoffes blau ist, den
oben erwähnten Befunden entsprechend. An der
Luft werden die Lösungen infolge Oxydation mehr
oder weniger rasch entfärbt. Auch dies beweist
den ungesättigten Charakter, ebenso die äußerst
rasche, quantitative Umsetzung des Stoffes mit
Chlor und Brom, wobei i Mol Substanz genau
I Mol des Halogens verbraucht. Säuren dagegen
sind ohne jede Einwirkung. Dies alles beweist,
daß man es nicht mit einem basischen Stoff zu
tun hat, der als substituiertes Ammoniak NH3
aufzufassen wäre, sondern daß in der Tat ein
substituiertes Ammonium NHj — mit einer sog.
„freien", d. h. leicht reagierenden, Valenz vorliegt.
Die Bestimmung des Molargewichtes bestätigt das.
In Äthylenbromid und in Chlorbenzol erwies sich
der Stoff als monomolekular. In Phenol da-
gegen zunächst als dimolekular; der Wert des
Molargewichtes sinkt jedoch allmählich auf den
') Berichte d. d. Chem. Gesellsch. 53, S. 370, 1920.
•■') Ebendas. S. 1689.
'] Annalen d. Chemie 425, S. 161, 1921.
N. F. XXI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'5
einfachen Betrag. Man hat also, vor allem im
freien Zustande, assoziierte Dopp el molekiile an-
zunehmen, die sich leicht in Einzelmoleküle
spalten. (Da auch die Doppelmoleküle stark
farbig sind, so ist eine Formulierung der Sub-
stanz mit 3 wertigem Kohlenstoff, die an sich
möglich wäre, abzulehnen.) Im Benzoylpyridinium
würde demnach ein substituiertes Ammonium-
radikal vorliegen.
Ganz analog glaubt Weitz") nun auch den
Radikalcharakter desBenzylpyridiniums nach-
weisen zu können. Als solches sieht Weitz
einen Stoff an, den schon A. W. Hof mann 1881
in den Händen hatte, als er Benzylpyridinium-
halogenide reduzierte. Das Reduktioiisprodukt
entsprach der Formel nach dem Benzylpyridinium,
ohne daß freilich Hofmann dieser Auffassung
beitritt. Er erwähnt lediglich, daß die alkoho-
lischen Lösungen des Stoffes tiefbraun gefärbt
sind, der Stoüf selbst aber sich farblos daraus ab-
scheidet. Emmert sowohl wie Schlubach
lehnen noch den absoluten Ammoncharakter des
H o f m a n n sehen Stoffes ab. Weitz jedoch findet
ihn bestätigt. In Methylalkohol nämlich löst
sich das Reduktionsprodukt mit tief indigo-
blauer Farbe, also ganz wie das Benzoylpyridi-
nium. Beim Schütteln an der Luft verschwindet
die Farbe, um nachher wieder zu erscheinen. Es
findet also langsame Dissoziation eines Polymeren
zum Radikal statt, das infolge seiner Reaktions-
fähigkeit leicht oxydiert wird, was auch Emmert
schon diskutierte. Weitz glückte es jedoch auch,
daß freie kristallisierte Benzylpyridinium in Form
tiefroter zackiger Kristalle zu isolieren, die in Al-
kohol sofort mit blauer Farbe löslich sind. Wie-
der ließ sich der Wahrscheinlichkeitsbeweis führen,
daß es sich wirklich um das freie monomoleku-
lare Radikal (F"ormel I) handelt. Das farblose,
von Hofmann gefundene Produkt wird dann
als das Dimere davon aufzufassen sein (Formel IV).
Beide Stoffe würden sich also zueinander ver-
halten wie N.,0, (farblose Dimeres) zu N0.> (stark
farbig). Auch die monomolekularen Nitrosover-
bindungen sind ja farbig, ihre Dimeren farblos.
/\ /\
N
N
-N
CßHß'CHa C^(H_^.CHo
Wiederum beruht natürlich die Farbe auf dem
ungesättigten Charakter des Radikals. Mit unseren
heutigen Vorstellungen über das Wesen der che-
mischen Valenz ist es nun aber unvereinbar, eine
„freie", ungebundene Valenzeinheit anzunehmen,
wie das in den oben stehenden Formeln der beiden
neuen Radikale zum Ausdruck kommt. Weitz
muß sich also entschließen, die fünfte „freie" Va-
lenz irgendwie abgesättigt zu denken. Er gibt
dem in den beiden Formelbildern
/\
/■•
Ausdruck. Es handelt sich also um einen Behelf,
der zweifellos bestehenden Valenzzersplitterung
graphisch Rechnung zu tragen. Wahrscheinlich
kommt aber das Benzylpyridinium wegen seiner
sehr großen Ähnlichkeit zum Ammonium der
Formel III noch am nächsten. Die Unzulänglich-
keit unserer Strukturformeln wird erneut offenbar.
Man darf, wenn im einzelnen auch Widerspruch
gegen die Auffassungen von Weitz erhoben
werden wird, doch festhalten, daß die Existenz
freier substituierter Ammoniumradikale nunmehr
Tatsache ist.
In einer soeben erschienenen Arbeit von H.
H. Schlubach') sind Reaktionen des Tetra-
äthylammoniumradikals sowie des Ammoniums
selbst beschrieben. F.s wird demnächst darüber
berichtet werden. H. Heller.
') Annalcn d. Chemie 425, S. 187, 1921.
') Berichte d. d. Chem. Gesellsch. 54. S. 2S11 und 2S25,
Bücherbesprechungen.
Handbuch der Entomologie herausgegeben von
Prof. Dr. Schröder. Fünfte Lieferung ent-
haltend: Band III, Bogen 8 — 13 mit 143 Abb.
im Text. Inhalt: Bd. III, Kapitel 6 (Schluß);
Terminologie der für die Systematik wichtigsten
Teile des Hautskelettes. Von Dr. A. Hand-
lirsch, Wien (S. 113 — 116, Abb. 44 — 51).
Kapitel 7 ; Paläontologie. Von Dr. A. H a n d -
lirsch, Wien (S. 117 — 208, Abb. 52 — 186).
Jena 1920, G. Fischer. 20 M.
Sechste Lieferung: Band III, Bogen
14 — 19 mit 51 Abb. im Text. Inhalt: Band III,
Kapitel 7; Paläontologie. Von Dr. A. Hand-
lirsch, Wien (S. 209 — 304, Abb. 187 — 237).
Jena 192 1. 15 M.
Siebente Lieferung: Band I, Kapitel 8
(Schluß); Geschlechtsorgane. Von Prof. Dr.
Deegener, Berlin (S. 529 — 533). Kapitel 9
(i. Teil); Mechanik des Insektenfluges. Von
Dr. O. Prochnow, Berlin - Großlichterfelde
(S. 534—560, Abb. 1—25). Band III, Kapitel 7
(Schluß); Paläontologie. Von Dr. A. Hand-
i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. I
lirsch, Wien (S. 305— 306). Kapitel 8; Phylo-
genie oder Stammesgeschichte. Von Dr. A.
Handlirsch, Wien (S. 307 — 368, Abb. 238
bis 289 und 2 Stammbaumfig). Jena 1921.
15 M.
Die nach langer durch den Krieg bedingter
Pause erschienene Fortsetzung des Schröder-
schen Handbuchs behandelt in der 5. und 6. Liefe-
rung hauptsächlich die Paläontologie der Insekten,
ein Gebiet, auf dem der Verf., A. Handlirsch,
eine allseitig anerkannte Autorität ist. Ihm ist es
namentlich zu verdanken, wenn in das Chaos
der fossilen F'ormen Ordnung gekommen ist, und
wir uns ein Bild von der Insektenwelt vergangener
Erdperioden machen können. Die Ergebnisse der
Han dlirs chschen Forschungen, die in einem
umfangreichen Spezialwerk niedergelegt sind,
dürften allerdings bis jetzt wohl nur wenigen ge-
nauer bekannt geworden sein; sie werden nun-
mehr durch das Sc hröd ersehe Handbuch zum
ersten Male auch weiteren Kreisen zugänglich ge-
macht. Auch wer sich selbst mit Fossilien nicht
abgegeben hat und nur die gegenwärtigen In-
sektenformen kennt, wird sicherlich das Kapitel
Paläontologie mit Interesse lesen und die historische
Entwicklung der Insektenwelt verstehen lernen.
Zum Verständnis tragen sehr wesentlich die vielen
Abbildungen ausgestorbener Arten bei, die der
Verf. auf Grund von Rekonstruktionen nach Flügel-
abdrücken oder sonstigen Überresten gegeben hat,
und dem Leser eine Vorstellung davon geben, wie
die Insekten der Vorwelt ausgesehen haben mögen.
Mitteilungen, die dem speziellen Teil vorausge-
schickt sind und das Vorkommen, den Erhaltungs-
zustand sowie die zweckmäßigste Behandlung
fossiler Insekten betreffen, werden besonders allen
denen willkommen sein, die sich eingehender mit
derartigen Funden beschäftigen oder selbst forschend
auf diesem Gebiete tätig sein wollen. Die siebente
Lieferung bringt uns aus der Feder von Proch-
now eine Darstellung von der Mechanik des In-
sektenflugs, in der Bau und Verrichtungen der
Flugorgane eingehend besprochen werden. Die
in der gleichen Lieferung von Handlirsch be-
handelte Stammesgeschichte der Insekten gibt
einen guten Überblick, läßt aber leider vielfach
die höhere Warte vermissen und bringt allzu ein-
seitig die Ansichten des Autors zur Geltung, ohne
den abweichenden Meinungen anderer Autoren
gerecht zu werden. Überflüssig ist der Abschnitt IV:
„Die Stellung der Insekten im Systeme der re-
zenten Organismen" mit spaltenlangen Aufzählungen
von Pflanzen- und Tiergruppen. Ebenso gehört
auch der folgende Abschnitt „Schlußbemerkungen",
in dem sich H a n d 1 i r s c h darüber beschwert,
daß seine Ansichten über die Stammesgeschichte
der Insekten „von manchen Seiten eine geradezu
schroffe Ablehnung erfahren haben" nicht in ein
Handbuch der Entomologie hinein.
R. Heymons.
Lüscher, H. , Photogramm et rie. Band 612
von „Aus Natur und Geisteswelt". 128 S. mit
78 Fig. im Text und auf 2 Tafeln. Leipzig
und Berlin 1920, B. G. Teubner. — Kart. 2,80 M.
und 100 "/u Teuerungszuschlag.
Die Methoden der Bildmessung, d. h. jenes
Zweigs des Vermessungswesens, der sich mit der
Auswertung photographisch gewonnener Zentral-
projektionen zur P'estlegung von Lage und Aus-
maß eines Gegenstandes beschäftigt, haben in
neuerer Zeit derart an Umfang und Bedeutung
gewonnen, daß die gegenwärtige höchst anschau-
liche und klare Darstellung der Photogrammelrie
allgemeinem Interesse begegnen wird. Besondere
Beachtung werden ihr naturgemäß die Geodäten,
Geographen, Architekten und alle anderen Prak-
tiker entgegenbringen, die sich mit Objektausmes-
sungen zu beschäftigen haben; dem Lehrer und
Studierenden mathematisch-naturwissenschaftlicher
Disziplinen zeigt sie ein wichtiges Anwendungs-
gebiet der Lehren der geometrischen Optik und
der projektiven Geometrie. In 3 Abschnitten
werden zunächst die grundlegenden Verfahren der
einfachsten Photogrammelrie, dann mit größerer
Ausführlichkeit die von Pulfrich begründete
Stereophotogrammetrie oder Raumbildmessung
und schließlich die namentlich durch den Welt-
krieg geförderte Luftphotogrammetrie besprochen.
Den durchweg elementaren geometrischen Be-
trachtungen liegen zahlreiche schematische Zeich-
nungen zugrunde. A. Becker.
Auerbach, Felix, Moderne Magnetik. VIII
und 304 S. 167 Abb. Leipzig 1921, Johann
Ambrosius Barth. Geb. 55 M.
Das Buch ist aus der Mitarbeit an dem großen,
von Graetz herausgegebenen Handbuche der
Elektrizität und des Magnetismus hervorgegangen.
Es wendet sich in erster Linie an Lehrer und
Techniker, in zweiter an alle wißbegierigen Laien
und stellt, in knappem Rahmen, ein in sich ge-
schlossenes Abbild des gegenwärtigen Standes der
Lehre vom Magnetismus dar. Unterstützt wird
die Darstellung durch zahlreiche P'iguren, teils
graphische Darstellungen, teils Abbildungen von
Apparaten und experimentellen Anordnungen.
Fricke.
lllllRlt: H. J. leuerborn, Das l'roblera der geschlechtlichen Zuchtwahl im Lichte neuer Beobachtungen. (l Abb.) S. I.
— Einzelberlcbte: Correns, Versuche, bei l'Hanzen das Geschlecht zu verschieben. S. 12. Lenard, Krauß,
G. .'\lliata, C. Sola, Neues zur Relativitätstheorie. S. 13. E. Weit/. , Freie Ammoniumradikale I. S. 14. — Bücher-
besprechungen: Handbuch der Entomologie. S. 15. H. Lüs eher , Photogrammetrie. S. 16. F.Auerbach, Moderne
Magnetik. S. 16.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidcnstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav bischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folgte 21. Band;
der ganzen Reihe ,57. ba
Sonntag, den 8. Januar 1922.
Nummer 3.
Idiosynkrasie und Anaphylaxie.
(Nachdruck verboten.] Von Dr. W.
Bei bestimmten Personen verursacht die Auf-
nahme einer Reihe von Nahrungsstoffen oder Ge-
nußmitteln besondere Erscheinungen, die man
früher unter dem Namen der Idiosynkrasie zu-
sammenzufassen versuchte. Diese Erscheinungen
können in der verschiedensten Intensität auftreten,
mitunter findet sich nur ein leichtes Unwohlsein,
oft aber auch Zeichen einer mehr oder weniger
heftigen Erkrankung, die sich unter Umständen
längere Zeit hinziehen kann und in ein chronisches
Stadium übergeht. So beobachtet man nach dem
Genuß, von Eiern, Milch, Krebsen, Krabben, Erd-
beeren und anderen Nahrungsmitteln Ausschlag,
Hautjucken, Geruch aus dem Munde, starke Ver-
dauungsstörungen, Ekzeme, Erbrechen und ver-
schieden starkes Fieber. Sogar Todesfälle sind
beschrieben worden. Auch gegen bestimmte Heil-
mittel finden sich derartige Idio.'-ynkrasien.
Eine Erklärung dieser sonderbaren Vorgänge
fand sich erst, als die Lehre von der Anaphylaxie
immer weiter ausgebaut wurde.
Die Anaphylaxie oder Überempfindlichkeit
wurde von Behr in g entdeckt. Dieser aber maß
ihr keinen allzugroßen Wert bei, und erst nach
fast zehn Jahren beschäftigte sich Richet ein-
gehender mit ihr. Von ihm stammt auch der
Name.
Behring hatte beobachtet, daß Tiere, denen
Diphtheriegift einverleibt worden war, auf den
1000 sten bis lOOOOOOsten Teil einer Giftmenge
stark antworteten, die für ein normales Tier voll-
kommen unschädlich war. Die vorbehandelten
Tiere also erkrankten heftig und starben sogar,
während unvorbehandelte Tiere durch die gleiche
Dosis überhaupt nicht berührt wurden. Durch die
vorangegangene Behandlung mit Gift ist der
tierische Körper gegen das betreffende Gift über-
empfindlich, anaphylaktisch geworden. Diese
Gittüberempfindlichkeit unterscheidet sich nur
scheinbar von der eigentlichen Anaphylaxie, die
wir unten besprechen werden.
Eine Grundtatsache der „pathologischen Bio-
logie", wie Much die Gesamtheit dieser Ge-
biete bezeichnet, ist die Beobachtung, daß im
Organismus nach dem Überstehen von Infektions-
krankheiten eine derartige Umstimmung eintritt,
daß eine neue Infektion überhaupt nicht oder
doch nur in geringerem Grade erfolgen kann.
Es ist in dem Körper eine Veränderung aufgetreten,
die man weder chemisch noch histologisch nach-
weisen kann, und die man als Immunität bezeichnet.
Parallel zur Entstehung der Immunität findet sich
das Auftreten von Antikörpern oder Antistoffen,
die die verschiedenste Bedeutung haben können,
die man aber auf keinen Fall mit der Immunität
identifizieren darf, wenngleich es in der Literatur
häufig genug geschehen ist.
Die Anaphylaxie oder Überempfindlichkeit
stellt den Gegensatz der Immunität (=Prophylaxie)
dar. Sie ist keineswegs eine Ausnahme, sondern
vielmehr etwas durchaus Gesetzmäßiges und
Regelmäßiges. Die engsten Beziehungen ver-
knüpfen sie mit der Immunität.
Das Wesen der Anaphylaxie läßt sich am besten
bei der Eiweißanaphylaxie und hier besonders an
der Serumüberempfindlichkeit beobachten. Wenn
man einem Meerschweinchen ein artfremdes Serum,
beispielsweise Katzenserum, einspritzt, so verträgt
es dieses ohne jede Reaktion. Wird jedoch nach
einiger Zeit die Einspritzung mit dem gleichen
Serum wiederholt, so treten die heftigsten Reiz-
erscheinungen auf, die vor allen Dingen außer-
ordentlich plötzlich einsetzen. Es genügt in diesem
Falle, die allergeringste Menge des Serums zur
Einspritzung zu verwenden, so wirkt schon 0,001 g
Pferdeeiweiß unbedingt tödlich (von Eiereiweiß
genügt bereits 0,0001 g).
Die Reizerscheinungen bestehen in der Regel
aus Krämpfen und Atemnot und können zu einem
schockartigen Ende führen, das man den anaphy-
laktischen Schock nennt. Während dieses treten
die heftigsten Veränderungen des Blutes ein: Das
Fibrinferment, Fibrinogen und die Gerinnbarkeit
des Blutes nimmt stark ab, und eine Leukozyten^
armut setzt ein.
Die Tiere gehen nach wenigen Augenblicken
an Erstickung ein und zeigen bei der nachfolgenden
Sektion aufgeblähte und starre Lungen, die durch
Krämpfe der Bronchialmuskulatur hervorgerufen
sind. Mitunter jedoch gehl die Atemnot vorüber
und schon nach ganz kurzer Zeit sind die Ver-
suchstiere genau ebenso munter und frisch wie
vorher. Wird nach der Genesung die Injektion
wiederholt, so tritt keinerlei Schädigung ein, die
Tiere sind gegen die Überempfindlichkeit geschützt,
sie sind antianaphylaktisch geworden.
Zum Eintritt der Anaphylaxie sind die ver-
schiedensten Faktoren notwendig. So die vor-
bereitende Injektion oder die Sensibilisierung, die
Dosis, die Dauer der Inkubationszeit oder das
präanaphylaktische Stadium, die Art und Größe der
zweiten Dosis, die Tierart usw.
Die Sensibilisierung erfolgt in der Regel paren»
teral, also unter Ausschaltung des Verdauungskanals,
am meisten wählt man die subkutane Injektion.
Aber auch durch Verfütterung läßt sich unter
18
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
Umständen leicht Anaphylaxie erzeugen, wenn
auch hier die Ergebnisse nicht so regelmäßig und
prägnant sind wie bei der parenteralen Einver-
leibung. Immerhin gelingt es leicht durch Ver-
füttern tierischen Eiweißes in größeren Mengen
an Pflanzenfresser, bei diesen die Symptome der
Überempfindlichkeit hervorzurufen. Unter Um-
ständen können also die Schleimhäute in unver-
letztem Zustande bei bestimmten Versuchsbe-
dingungen Stoffe passieren lassen, die Anaphylaxie
hervorrufen. Aus diesem Grunde muß sie also
auch durch Einatmung zu erzeugen sein, und in
der Tat kann man beobachten, daß Meerschwein-
chen, die längere Zeit in Pferdeställen gehalten
werden, gegen Pferdeeiweis anaphylaktisch ge-
worden sind. Bekannt ist auch die Tatsache, daß
bei Asthmatikern starke Anfälle ausgelöst werden
können, wenn sie Pferdeställe betreten haben. Es
müssen also in den Ställen kolloide Pferdeeiweiß-
substanzen in der Luft schweben, die durch die
Schleimhäute der Atmungsorgane ins Blut ge-
langen und dort die Anaphylaxie hervorrufen
können. Auch das Heufieber ist eine Krankheit,
die auf Überempfindlichkeit beruht und auf ähn-
liche Weise entsteht.
Wie schon oben bereits erwähnt, ist die Größe
der Dosis von Wichtigkeit. Zur Sensibilisierung
genügen bereits die allergeringsten Mengen, bei-
spielsweise
0,0 1 mg Rinderserum
0,00 1 mg Pferdeserum
0,00005 mg Eiereiweiß im kristallisierten Zustand.
Für gewöhnlich verwendet man jedoch nicht
diese kleinen Dosen, sondern wählt meistens 0,01 ccm
Serum. Auch die wiederholte Verabfolgung ge-
ringerer Menge hat stets eine sehr gute Wirkung
(Summierung).
Zum Zustandekommen einer regulären Anaphy-
laxie ist stets eine gewisse Inkubationszeit not-
wendig. Diese zeigt, daß auch hier die engsten
Beziehungen zwischen Immunität und Anaphylaxie
bestehen, wenn sich auch die gesamten Zusammen-
hänge zur Zeit nicht klar überblicken lassen. In
diesem Punkte finden sich aber auch Verschieden-
heiten. Denn während die Immunität um so
später eintritt, je geringer die injizierte Menge ist,
tritt beispielsweise beim Meerschweinchen die
Überempfindlichkeit später ein, wenn man zu viel
Pferdeserum zur Sensibilisierung benutzt.
Mit den Immunitätsreaktionen jedoch hat die
Anaphylaxie einen sehr wichtigen Punkt gemein-
sam, nämlich den, daß sie sich auch auf andere
Tiere leicht übertragen läßt. Wird beispielsweise
ein Hund gegen Rinderserum anaphylaktisch ge-
macht, diesem Tiere Blut entzogen, und das
daraus gewonnene Serum einem anderen Hunde
eingespritzt, so wird auch dieses neue Tier über-
empfindlich gegen Rinderserum, trotzdem es
niemals früher auch nur eine Spur Rinderserum
eingespritzt bekommen hat, es wird passiv ana-
phylaktisch. In Analogie mit den Erscheinungen
der Immunität redet man hier also von einer
aktiven und passiven Anaphylaktisierung.
Aus allem geht also mit Klarheit hervor, daß
körperfremdes Serum, das bei einer einmaligen
Injektion ohne jede Reaktion ertragen wurde, bei
einer nochmaligen Einverleibung in denselben
Organismus als Gift wirken kann. Fragen wir
uns aber nun, was denn eigentlich der Haupt-
bestandteil des Serums ist, so müssen wir uns
antworten, daß es sich zum größten Teil um
Eiweißbestandteile handelt, und diese werden es
jedenfalls sein, die die besonderen Symptome der
Überempfindlichkeit hervorrufen. Und in der
Tat lehrt die weitere Untersuchung, daß jedes
körperfremde Eiweiß, daß unter Umgehung des
Verdauungsweges einem Individuum einverleibt
wird, in der Lage ist unter gegebenen Bedingungen
Anaphylaxie hervorzurufen. Allerdings müssen
wir betonen, daß auch durch körperfremde oder
besser gesagt durch blutfremde Neutralfette und
Lipoide eine starke Überempfindlichkeit eintreten
kann, daß also jeder hochmolekulare Stoff, der
normalerweise nicht im Blute vorhanden ist, fähig
ist, Anaphylaxie eintreten zu lassen.
In fast allen Fällen aber handelt es sich um
Eiweiße, wobei es gleichgültig ist, ob das Eiweiß
wie im Serum ungeformt ist. Auch artfremde
Zellen von Tieren oder Pflanzen, die als solche
gar nicht giftig wirken, können die Überempfind-
lichkeit eintreten lassen. So auch die Bakterien.
Auf diese Weise läßt es sich verstehen, daß
Bakterien, die an und für sich dem Körper gegen-
über völlig indifferent sind und keinerlei Krank-
heitserscheinungen auftreten lassen, doch unter
nicht klar erkennbaren Voraussetzungen plötzlich
stark giftig wirken und vielleicht gar den Tod des
Tieres hervorrufen können. Hier wirken die
Bakterien als solche gar nicht giftig, sondern das
Individuum ist nur gegen die fremden Zellen wie
gegen jede beliebige andere überempfindlich ge-
worden und erliegt nun dem anaphylaktischen
Schock. Nach neueren Untersuchungen, vor allem
durch Pfeiffer und Wolff-Eisner, hat sich
ferner die interessante Tatsache gezeigt, daß sogar
Zellen des eigenen Körpers, so Zellen der Leber,
Niere, Hoden, Gehirn und Linse, eine starke Über-
empfindlichkeit eintreten lassen können, wenn sie
in die Blutbahn gelangen. Aus diesem Grunde
ist auch das oben Erwähnte leichter anzunehmen,
daß zur Anaphylaktisierung alle normalerweise
nicht im Blute vorhandenen Stoffe wirksam
sein können, denn die erwähnten Zellen bedeuten
ja nichts Artfremdes, wohl aber Blutfremdes, denn
für gewöhnlich kommen derartige Zellen nicht in
den Blutkreislauf hinein.
Eine vollkommen befriedigende Erklärung für
die gesamten Phänomene der Anaphylaxie hat sich
bisher noch nicht finden lassen, nur das eine ist
bisher sicher, daß die allerengsten Zusammenhänge
zwischen Immunität und Überempfindlichkeit be-
stehen. Da nun die Anaphylaxie meist etwas
Schädliches und Ungünstiges darstellt, die Immu-
N. F. XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
ly
nität aber gerade das Gegenteil, so nennt
V. Pirquet jede Änderung der Reaktionsart eines
Organismus, die durch Einverleibung eines Antigens
bewirkt wird, Allergie. Unter Algergie würde
man also anders geartete Reaktionen verstehen,
und diese könnte man einteilen in prophylaktische
und -anaphylaktische. Welcher Art aber diese
Zusammenhänge zwischen Immunität und Ana-
phylaxie sind, ist noch nicht geklärt.
Wenngleich auch diese Fragen zurzeit noch
als ungelöst angesehen werden müssen, so ist
dennoch die Lehre von der Anaphylaxie bereits
von großer Wichtigkeit in der gesamten Biologie
der Krankheiten geworden. Eine große Rolle
scheint die Überempfindlichkeit bei den Pocken,
den Masern, dem Scharlach, bei Tuberkulose,
Syphilis und anderen Infektionskrankheiten zu
spielen. Die Serumkrankheit, die ausschließlich
durch Behandlung mit Seren entsteht, ist die ty-
pischste Anaphylaxie, auch die gesamten Idio-
synkrasien und das oben erwähnte Heufieber. Bei
allen hier erwähnten Krankheitsbildern handelt es
sich um solche, die durch artfremde Stoffe erzeugt
werden. Wie wir aber sahen, ist es auch mög-
lich, daß körpereigene Zellen, die dem Blute
fremd sind , Überempfindlichkeit erzeugen kön-
nen. Dies tritt stets dann ein, wenn irgendwo
im Körper eigene Zellen abgebaut werden, so
unter anderm bei der Eklampsie. Hierbei dringen
Zotten der Plazenta, die an sich ungiftig, dem
Blute aber fremd sind, in den Kreislauf ein, und
es kommt zu einer Immunkörperbildung. Bei
einem erneuten Eindringen kommt es sodann zu
einem plötzlichen, schnell einsetzenden Abbau,
und die hierbei freiwerdenden Eiweißbausteine
rufen die Erscheinungen der Eklampsie hervor.
Auch die Urämie gehört hierher.
Die größte praktische Bedeutung jedoch ge-
wann die Lehre von der Anaphylaxie durch die
Tuberkulindiagnostik, die immer mehr an Aus-
dehnung gewinnt. Je nach der Anwendungsart
und den Erscheinungen kann man folgende Ein-
teilung vornehmen:
1. Allgemeinreaktion.
2. Herdreaktion.
3. Örtliche Reaktion.
a) Hautprobe.
b) Unterhautprobe.
c) Quaddelprobe.
d) Einreibungsprobe.
e) Augenprobe.
f) Ohrenprobe.
Es gibt zurzeit eine Anzahl der verschieden-
sten Tuberkuline, die aber im wesentlichen alle
auf das von Robert Koch entdeckte Alttuber-
kulin zurückgehen. Dieses wird derart hergestellt,
daß 4 — 6 Wochen alte Reinkulturen von Tuberkel-
bazillen, die auf 5 "/(, Glyzerinbouillon gewachsen
sind, filtriert werden, und daß das Filtrat durch
Kochen auf ^|^^, des ursprünglichen Volumens
eingedickt wird. Es ergibt sich eine sirupartige
dunkelbraune Flüssigkeit, die unbegrenzt haltbar ist.
Wir wenden uns nun zu den einzelnen Reak-
tionen. Die Allgemeinreaktion besteht aus Un-
wohlsein, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Übel-
keit, Hustenreiz, Herzklopfen und vor allem aus
Fieber. Dieses ist das konstanteste Symptom
und gibt den Ausschlag bei der Auswertung der
Probe. Sie ist selbstverständlich nicht anwend-
bar, wenn bereits Fieber besteht. Ist solches
nicht vorhanden, so gibt man ^j., mg Tuberkulin
unter die Haut. Tritt kein Fieber ein, so steigt
man nach einiger Zeit anf i mg und weiter auf
5 und 10 mg. Eine Temperatursteigerung von
0,5" gilt bereits als positiver Ausfall.
Parallel zu dieser Allgemeinreaktion geht die
Herdreaktion, die sich darin äußert, daß bei sicht-
baren Herden, so bei Lupus, bei Iris- und Larynx-
tuberkulose entzündungsähnliche Vorgänge nach-
zuweisen sind. Auch in der tuberkulösen Lunge
zeigen sich Herdreaktionen, die sich durch Auf-
treten von Rasseln, durch Steigerung pathologi-
scher Auskultationsphänomene u. a. kundgeben.
Häufig treten auch stärkere Brustschmerzen auf.
Viel wichtiger jedoch sind die örtlichen Reak-
tionen, da sie stets ein viel klareres Bild ergeben.
Die Hautprobe, die von v. P i r q u e t entdeckt
wurde , besteht in folgendem : Im Abstände von
etwa 10 cm bringt man auf die gereinigte Haut
des Unterarms 2 Tropfen konzentriertes Alttuber-
kulin und ruft mittels eines Impfbohrers zuerst
zwischen den beiden Tropfen und dann unter
jedem derselben eine schwache Verletzung der
Haut hervor. An allen diesen drei Stellen ent-
steht eine kleine Quaddel, die von einem rosa
gefärbten Hof umgeben ist, bis nach einigen
Stunden nur noch ein kleiner Schorf zurückbleibt,
der rötlich umrandet ist. Von dieser „traumati-
schen Reaktion", die bei Nichttuberkulösen ein-
tritt, unterscheidet sich die „spezifische" Reaktion
dadurch, daß sie nur bei den mit Tuberkulin in
Berührung gekommenen Stellen auftritt und daß
eine rote Papel entsteht, die schnell größer wird
und einen Durchmesser von 10 — 30 mm gewinnen
kann. Nach 48 Stunden ist ein Maximum erreicht,
und die Reaktion klingt allmählich ab, doch kann
leicht eine Pigmentierung der Impfstelle zurück-
bleiben. Die Stichprobe wird in ähnlicher Weise
ausgeführt, nur wird mit einem Impfbohrer bis in
tiefere Hautschichten eingegangen.
Mendel und Mantoux haben zuerst die
Quaddelprobe oder Intrakutanreaktion angewandt.
Bei tuberkulös infizierten Individuen entstehen
hierbei schon bei geringfügigen Verdünnungen
stark entzündliche Infiltrate. Das Tuberkulin wird
in 0,1 ccm Flüssigkeit in die straff gespannte
Haut gespritzt, worauf sich eine Quaddel bildet,
deren Größe man messen kann.
Dies Verfahren ist von Deyke und Much
derart modifiziert worden, daß sie den Tuberkel-
bazillus in vier Partialantigene zerlegt haben.
Diese Partialantigene sind aus dem Tuberkel-
bazillus durch Einwirkung von Milchsäure ge-
wonnene Präparate, die getrennt benutzt werden
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
Die vier Partialantigene sind folgende:
1. Wasserlösliches Partigen (L.) = Reintuber-
kuiin.
2. Rückstandspartigene (R.).
a) Eiweiß (A.).
bj Fettsäure -j- Lipoide (F.).
c) Neutralfett -|- Fett- oder Wachsalkohol (N.).
Das wasserlösliche Partigen (L.) wird von
Much und Deyke fortgelassen, da es nach
ihrer Annahme die Immunisierung ungünstig be-
einflußt, vielmehr wird muteis der Hauireaktion
die lokale Immunität gegen die Rücksiandsparti-
gene einzeln geprüft, da sich wesentliche Unter-
schiede gegen die einzelnen Pariigene erkennen
lassen. Die tiweißgruppe (A.) pflegt die stärkste
Reaktion hervorzurufen, am schwächsten ist die
Reaktionsfähigkeit gegen das Ncutralfett. So
pflegen zu reagieren
Eiweiß in Verdünnungen von i : i Mill. — I : lOOOO Mill.
Fettsäuiein „ „ i : loco — i : lo MiU.
Neutralfett in „ „ i:iOJO — i:i Mill.
Die Reaktionen bleiben verschieden lange Zeit
sichtbar, so die der Neuiralfette 3 — 4 Tage, der
Fettsäuren 3 — 7 Tage und der Eiweiße 3 — 4 Tage.
Abgelesen wird die Reaktion meistens am 3. Tage.
Eine andere Reaktion fanden JMoro und Do-
ganoff, die Salbenreaktion, bei der eine 50proz.
Tuberkulin-Lanolinsalbe auf einer kleinen Stelle
der Bduchhaut verrieben wird. Im positiven Falle
kommt es zum Aultreten knötchenförmiger Ef-
floreszenzen, bei denen man je nach Zahl und
Größe verschiedene Grade des Ausfalls unter-
scheidet. Eine ähnliche Beobachtung machten
Berger und Lignieres, die bei peilsüchtigen
Rindern konzentriertes Alttuberkulin auf die
rasierte Bauchhaut brachten und dort verrieben.
Eine der wichtigsten IVlethoden zur Erkennung
der Tuberkulose ist zweifellos die Ophthalmo-
reaktion oder die Augenprobe geworden. Diese
Wolff - Eisner sehe Augenprobe wird jetzt
meistens folgendermaßen veranstaltet. Der Patient
erhält zunächst einen Tropfen 2 proz. Tuberkulins
in das eine Auge geträufelt. Stets wird das Alt-
tubetkulin der Höchster Farbwerke verwendet, da
nur dieses einwandsfreie Resultate ergibt. Der
Tropfen darf nicht sofort wieder ausgepreßt werden
sondern muß direkt in den Bindehautsack ge-
langen. Schon nach etwa 12 — 24 Stunden tritt
bei Tuberkulösen eine deutliche Reaktion auf, die
von einer leichten Rötung der Innenseite des
unteren Lides zu einer sehr starken Bindehaut-
entzündung und anderen stärkeren Erscheinungen
anwachsen kann. Fieber tritt nie auf, und die
Reaktionen klingen sehr schnell wieder ab. Zur
Kontrolle wird stets das andere Auge herange-
zogen, und man muß sich daher vorher verge-
wissern, daß in bezug auf Färbung keine Diffe-
renzen bei beiden Augen zu beobachten sind.
Auch bei allen Augenkrankheiten darf diese Me-
thode nicht Anwendung finden.
Gibt nun der Patient eine positive Reaktion,
so handelt es sich in fast allen Fällen sicher um
eine aktive Tuberkulose, will man jedoch ganz
sicher gehen, so erhalt der Kranke nach dem
Verschwinden der ersten Symptome in das andere
Auge zur Kontrolle noch einen Tropfen i proz.
Alttuberkulin. Ist die erste Reaktion aber nega-
tiv, so gibt man meist in das andere Auge einen
Tiopfen 4 proz. Alttuberkulin, und wenn auch hier
die Probe negativ war, so ist Tuberkulose mit
der größten Sicherheit auszuschließen. An Stelle
der Tuberkulinverdünnungen kann man sich vorteil-
haft auch einer Tuberkulinsalbe bedienen.
Über die Ohrenprobe Tedeschis sind die
Ansichten zur Zeit noch sehr geteilt.
In Analogie zu dem Alttuberkulin sind aus
den Bazillen des Rotzes das Mallein und aus den
Kulturen von Trichophyton (Erreger der Bart-
flechte) das Trichophytin hergestellt worden. Be-
sonders das Maliern hat in der veterinärärztlichen
Praxis eine große Bedeutung gewonnen. Auch
die Luetinreaktion, die zur Erkennung der Spät-
formen der Syphilis Verwendung findet, beruht
auf ähnlichem Prinzip. In allen P allen handelt es
sich um die Überempfindlichkeitsreaktion des
Körpers, der gleichsam durch seine Krankheit mit
dem spezifischen Gifte sensibilisiert worden ist.
Dadurch nun, daß man biologische Vorgänge,
die dem Körper eigentlich schädlich und gefähr-
lich sind, dazu verwendet, um Krankheiten zu er-
kennen, zeigt sich wieder einmal, wie der forschende
Geist immer tiefer in die Natur einzudringen sucht
und sich auch die gefährlichsten Mächte dienstbar
macht, selbst wenn er sie und ihre Natur noch
nicht genau kennt.
Wichtigste Literatur:
Friedberger, Die Anaphylaxie in: Kraus und Brugscli
Handbuch der speziellen Palh. und Therapie Bd. I. Berlin-
Wien 1919.
Much, Pathologische Biologie. Leipzig 1920.
Riebet, Die Anaphylaxie. Leipzig 1920.
Über Fragen der Aberration und Lichtausbreitung.')
[Nachdruck verboten. 1 Von K. Vogtherr, München.
Der für die Physik des Äthers scheinbar un-
lösbare Widerspruch zwischen der Tatsache der ') Nachstehende Betrachtungen dienen als Ergänzung zL
Aberration und dem experimentell ermittelten de.« von iiiir in Nr. 27, 1921, dieser Zeitschrift veröffemhchten
\r^, ,,j lu . r, r- I Aufsatze; ,,Uber die Kosmischen BcwepuBPen des Aihcrs". Die
Vorgang der Lichtausbreitung auf der Erdober- dort gegebene Darstellung ist dahin zu berichtigen, daß au.
Hache hat bekanntlich eine revolutionäre Bewegung die angenommene Rotationsbewegung des Äthers ein Sonnen-
N. F XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
hervorgerufen , die ohne Scheu auch die bisher
regierenden Häupter der physikalischen Begriffe
für abgesetzt erklärt und immer mehr die Herr-
schaft über alle Gebiete der Physik an sich zu
reißen sucht. Da jedoch die Relativitätstheorie,
wie uns dünkt, trotz ihres glänzenden mathemati-
schen Gewandes nicht frei von logischen oder
erkenntnistheoretischen Mängeln ist, so kann der
Gedanke nicht zur Ruhe kommen, daß auch auf
Grundlage der bisherigen, Raum und Zeit betreffen-
den Prinzipien eine Lösung irgendwie möglich
sein muß. Freilich wird sich die alles umwälzende
Revolution wohl nur dann vermeiden und die
Bewegung in geordnete Bahnen lenken lassen,
wenn man sich rechtzeitig zu Konzessionen an
die Erfordernisse einer neuen Zeit verstehen will,
d. h. in den grundlegenden Anschauungen über
das Wesen des Lichts den neuen Beobachtungen
entsprechende Änderungen vornimmt.
Wir wollen im folgenden versuchen, aus den
bis jetzt vorliegenden Beobachtungen und daraus
gewonnenen Anschauungen einige einfache Folge-
rungen hinsichtlich der Lichtausbreiiung im be-
wegten Medium zu ziehen. Welche mathemati-
schen Konsequenzen diese, wie uns scheint, nahe-
liegenden und der Gesamtheit der Beobachtungen
am ungezwungendsten Rechnung tragenden
Schlüsse ergeben würden, muß allerdings zunächst
unentschieden bleiben. Dabei wollen wir an der Vor-
stellung festhalten, daß das Licht auf wellenartiger
Fortpflanzung von Schwingungen beruht,^) und dies
erfordert mit logischer Notwendigkeit ein Medium,
den Äther, da der leere Raum nicht in Schwin-
gungen geraten kann. Daß der Äther existiert,
geht aus dem bekannten Versuch von Sagnac
hervor, dessen Ergebnis in zwei Abhandlungen
veröffentlicht wurde, die die bezeichnenden Titel:
„L'ether lumineux, demontre par l'effet du vent
relatif d'ether" und „Sur la preuve de la realite
de l'ether lumineux" tragen (Compt. rend. 157,
708 u. 1410, 1913).
In diesem Versuch zeigt sich nämlich ein
Agens wirksam, das die Lichtgeschwindigkeit von
der Bewegung der Lichtquelle unabhängig macht.
Da andererseits der Mich elson versuch ergab,
daß die Lichtgeschwindigkeit relativ zur Erde
System die Stokessche Aberrationstheorie nicht ange-
wandt werden l^ann, denn diese erfordert eine Drehung der
Wellenfront um den Aberrationswinkel, während eine solche
Drehung für einen beispielsweise vom Pole der Ekliptik kommen-
den Licbt'itrahl nicht erfolgen kann. Dieser würde vielmehr
nahezu senkrecht durch parallel zueinander bewegte Äther-
schichten dringen, welche in der Richtung des Lichtstrahls
keine Drehung aufweisen. Die zitierien Äußerungen von
Lodge beziehen sich entgegen dem Wortsinn, wie aus dem
Zusammenhang seiner Darstellung hervorgeht, auf den als
Ganzes gleichmäßig bewegten Äther, wa^ bedauerlicherweise
übersehen wurde. In folgendem soll versucht werden , die
dort fehlende Aberrationsetklärung zu geben.
■) Wir lassen hier die Lichtquantenhypothese zunächst
unbeiücksichtigt, welche ja nicht notwendig der Wellentheorie
widerspricht (vgl. P. Lenard: „Über Relativitätsprinzip,
Äther usw." 1920, S. 27), jedoch zurzeit noch wenig geklärt
erscheint.
unabhängig von deren Bewegung im Räume ist,
so folgt aus beiden Versuchen als die unge-
zwungenste Annahme die, daß Erde und Erdäther
zusammen den gleichen oder nahezu gleichen Be-
wegungszustand haben, d. h. daß der Äther rela-
tiv zur Erde und Erdatmosphäre nahezu oder
völlig ruht.
Dem scheint jedoch bekanntlich die Aberration
zu widersprechen. Nun hat F. Hasenöhrl schon
1904 gezeigt, daß ein gewisser Kraftaufwand nötig
ist, um die in einem Hohlraum eingeschlossene
strahlende Energie in Bewegung zu setzen oder
ihren Bewegungszustand zu ändern.*) Man hat
daraus bekanntlich auf eine „scheinbare Masse"
oder „scheinbare Trägheit" der strahlenden Energie
E
geschlossen, wobei die Beziehung M=-y besteht.
Sind diese Folgerungen richtig, so muß auch dem
Lichtstrahl infolge der ihm innewohnenden Energie
scheinbare Masse und Trägheit zukommen und er
würde dadurch in mancher Beziehung
ähnliche Eigenschaften erhalten, wie sie
ihm die Emissionstheorie seinerzeit
beilegte. Die Tatsache der Interferenz, der
Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der
Bewegung der Lichtquelle und die ohne Störung
erfolgende gegenseitige Durchdringung der von
den verschiedensten Punkten des Raums aus-
gehenden Lichtstrahlen nötigt jedoch unter allen
Umständen, an der Wellennatur des Lichts fest-
zuhalten. Die daraus sich ergebende Schwierig-
keit erscheint jedoch nicht unüberwindbar, wenn
man bedenkt, daß ja nur an den Stellen des
Raums Masse sein kann, wo elektromagnetische
Energie ist. Legt man die den elektromagnetischen
Kräften innewohnende Polarität und Richtung
auch der Masse im Äther bei, so daß „negative"
und „poshive" Lichtmasse, welche getrennt jede
für sich träge Masse ist, wo sie in gleichem Be-
trage und in gleicher Richtung zusammentreffen, sich
ebenso aufheben, wie die entgegengesetzt ge-
richteten dielektrischen und magnetischen Polari-
sationen im Äther, so lassen sich Emissions- und
Undulationstheorie offenbar einander näher bringen.
Wie Licht zu Licht gefügt unter Umständen
Dunkelheit ergibt, so kann dann auch Masse zu
Masse gefügt die Masse Null ergeben, wobei je-
doch ebenso wie der Satz von der Erhaltung der
Energie auch der von der Erhaltung der Masse
gewahrt bleibt. Man darf daher erwarten, daß
das Licht ungeachtet seiner Wellennatur sich in
mancher Beziehung wie ein fortge-
schleuderter Stoff verhält.
Stellen wir unter diesem Gesichtspunkt die
Frage: wie verläuft ein Wellenzug, der aus ruhen-
') Wien. Akad. 113, 1039, 1904 und Starks Jahrb. 6,
485, 190g. Die Vorstellung von einer Art Tiiigheit der Energie
kann also auch unabhängig von den Gedankengangen der
Relativitätstheorie gewonnen werden. Auch G. N. Lewis
kommt zu einer Ableitung obiger Formel aus dem Strahlungs-
druck, ohne auf die Relaiiviiätstheotie Bezug zu nehmen (siehe
Phil. Mag. 16, 705, 1908).
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
dem in bewegten Äther eintritt, so ergibt sich
eine doppelte Möglichkeit: der Wellenzug kann
vom Äther sofort im vollen Betrage seiner Be-
wegung mitgenommen werden, wie es die Wellen-
theorie bisher annahm, er kann aber auch seiner
Korpuskularnatur und derihminnewohnendenTräg-
heit entsprechend seine geradlinige Fort-
pflanzung in Richtung und Geschwindig-
keit wenn überhaupt, so erst allmä hlich
dem Bewegungszustand des Äthers an-
passen, wie es der Emissionstheorie entsprechen
würde. Er verhält sich dann ähnlich wie ein sich aus
eigener Kraft im Wasser bewegendes Torpedo,
das in eine Strömung von geänderter Geschwindig-
keit oder Richtung eintritt. Welche von beiden
Möglichkeiten tatsächlich vorliegt, kann nur die
Erfahrung lehren und die Beobachtung der
Aberration lehrt, daß das letztere Ver-
halten stattfindet. Nehmen wir nämlich
entsprechend den Experimenten an, daß der Äther
in der Erdatmosphäre mitbewegt ist, und ferner,
daß die Mitführung des Lichtstrahls durch den
Zither in der kurzen zur Durchdringung der Erd-
atmosphäre benötigten Zeit (ca. Vinoo Sek.), zu
geringfügig ist, um sich in einer Verkleinerung des
Äberrationswinkels bemerkbar zu machen, so
ergibt sich aus der Trägheit der strah-
lenden Energie die Aberration im be-
wegten Äther.
Im Lichtstrahl ist also mit Lichtgeschwindig-
keit bewegte Masse vorhanden, aber Masse von
anderer vielseitigerer Art, als sie uns von der
gewöhnlichen Materie her bekannt ist, in welcher
sie nach allen Richtungen die gleiche Eigenschaft
hat. Denn die elektromagnetische und Lichtmasse
im freien Äther besitzt ebenso wie die elektrischen
und magnetischen Kräfte in ihm die Eigenschaft
der Polarität und Richtung; nur dadurch verträgt
sie sich ja mit der Undulationstheorie, indem sie
die Ausbildung und den Verlauf der Wellen in
keiner Weise stört und indem je nach der Energie-
verteilung im Räume entsprechend Masse vor-
handen ist. Wegen der Wellennatur des Lichts
kann also der bewegte Lichtstoff keine gewöhn-
liche Masse sein, welche sich stets in einfacher
Weise addiert und dadurch eine ungestörte
wechselseitige Durchdringung der Lichtstrahlen,
Interferenz, Beugung und Polarisation unmöglich
machen würde. Wenn nun der Lichtmasse Vor-
zeichen und Richtung zugesprochen werden
müssen, ebenso wie den elektrischen und ma-
gnetischen Kräften, denen sie ihr Dasein verdankt,
so bezieht sich dies zunächst nur darauf, daß die
Lichtmasse als Masse im Äther sich nicht in ein-
facher Weise, sondern entsprechend ihren Vor-
zeichen und Richtungen in geometrischer
Weise addiert; aber es ist eine naheliegende
Annahme, daß sie dann überhaupt nur in
bestimmten Richtungen vorhanden,
d. h. als Widerstand gegen Bewegungs-
änderung wirksam ist. Nun zeigt sich in
der Tat, daß wir gerade auf Grund dieser Vor-
stellungen einer Erklärung der Erscheinungen
näher kommen können.
Wir machen zu diesem Zwecke, indem wir
die Möglichkeit kosmischer Bewegungen des
Äthers voraussetzen, folgende Annahme: Im
Äther hat das Licht wohl in den Richtungen
der Wellenebene Masse, also transversale
Masse, wie die Aberration zeigt, in der Längs-
richtung, d. h. in der Richtung der Wellennor-
male jedoch keine, oder nur dann Masse, wenn
die Geschwindigkeit des Lichts relativ zum Äther,
in dem es läuft, größer oder kleiner wird, als die
gewöhnliche konstante Lichtgeschwindigkeit c,
welche Licht in „ruhendem" Äther zeigt. In
diesem Falle wird der Widerstand des Äthers
gegen die Bewegung der Lichtmasse die Diffe-
renz allmählich ausgleichen und wieder konstantes
c herstellen, wobei die longitudinale Masse
zum Verschwinden gebracht wird. Diese An-
nahme einer fehlenden oder nur temporär vor-
handenen longitudinalen Lichtmasse ist deshalb
notwendig, weil ohne sie die Geschwindigkeit des
Lichts bei seiner Bewegung durch den Äther ent-
weder durch dessen Widerstand eine allmähliche
Abnahme bis auf Null erführe, oder, wenn man
keinen solchen Widerstand annimmt, dauernd un-
veränderlich bliebe, d. h. dauernd konstantes c
relativ zu dem die Lichtquelle umgebenden
Äther beibehielte, auch wenn das Licht in Äther
von in der Fortpflanzungsrichtung verändertem
Bewegungszustand übertritt. Letzterem wider-
spricht aber die Beobachtung an Doppelsternen,
wenn man, wie wir es tun, als Folgerung aus
dem Michelson- und dem S a g n a c versuch
annimmt, daß wie mit der Erde, so auch mit den
Fixsternen der Äther der Umgebung oder der
Atmosphäre mitbewegt sei. Es ergibt sich also
die Möglichkeit, entweder überhaupt keine longi-
tudinale, d. h. in der Fortpflanzungsrichtung vor-
handene Lichtmasse anzunehmen, wobei dann in
dieser Richtung die Lichtgeschwindigkeit relativ
zum umgebenden Äther, auch bei Änderung der
Bewegung desselben stets konstant bleibt, also
mit der Bewegung des Äthers unmittelbar Schritt
hält, oder eine nur zeitweilig auftretende longi-
tudinale Lichtmasse, welche, sobald der Wider-
stand des Äthers die ihm gegenüber in der Fort-
pflanzungsrichtung vorhandene Relativbewegung
der Polarisationen aufgehoben hat, mit dieser zu-
gleich verschwindet.
>;_ Diese Eigenschaft der Lichtmasse, nur Masse
in den Richtungen der Wellenebene zu sein (und
nur unter bestimmten Umständen vielleicht auch
in der Richtung der Wellennormale) gilt jedoch
nur gegenüber dem Äther. Denn bei
Spiegelung und Absorption erzeugt ja die Licht-
masse den Strahlungsdruck und wir müssen daher
annehmen, daß sie sich beim Auftreffen auf
gewöhnliche Materie wie gewöhnliche
Masse verhält, d. h. nach allen Richtungen
gleichen Widerstand gegen Bewegungsänderungen
äußert.
N. F. XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23
Zu einer analogen Erklärung gelangt man,
wenn man nicht die Eigenschaft der Lichtenergie,
Masse zu sein als je nach der Orientierung zur
Wellenebene verschieden ansieht, sondern dem
Widerstand des Äthers gegen die Bewegung der
Lichtmasse eine den Umständen entsprechende
Verschiedenheit beilegt. Man kann dann etwa
folgendermaßen argumentieren ;
Auf die Erage: hat ein ruhender oder gleich-
förmig-geradlinig ohne Aufwand von Kräften oder
Energieverbrauch bewegter Körper, Masse, solange
er in dieser Bewegung beharrt? — können wir ant-
worten: wir wissen es nicht, denn als Wider-
stand gegen Bewegungsänderung kann die Masse
in diesem Falle nicht in Erscheinung treten. So
wird auch die Masse des Lichts nur manifest als
ein Widerstand gegen Bewegungsänderung des-
selben, welche von selten des Äthers oder von
festen Körpern beim Auftreffen auf diese verur-
sacht wird. Dagegen tritt sie nicht in Erschei-
nung bei dem gleichmäßigen Fortschreiten der
Lichtausbreitung in ruhendem oder gleichförmig
bewegtem Äther (so wenig als die Masse eines
ohne Einwirkung von Kräften gleichförmig- gerad-
linig bewegten Körpers), weil dies eine Aus-
breitung ohne Widerstand, ohne Energieverbrauch,
ohne innere Reibung ist.
Der Äther leistet also nur Widerstand gegen
eine Bewegung des Lichts, welche als Folge von
dessen Masse in Erscheinung tritt, d. h. gegen
eine Bewegung, bei welcher Äther und Licht-
wellen eine Relativbewegung gegeneinander be-
kommen; nicht aber gegen die gleichmäßige Aus-
breitung des Lichts in ruhendem Äther, für welche
kein Energieaufwand erforderlich ist. Anstatt
also anzunehmen, daß in der Richtung der Wellen-
normale keine Lichtmasse vorhanden ist, kann man
auch annehmen, daß kein Widerstand des Äthers
gegen die Bewegung der Lichtmasse existiert.
Sobald jedoch die Lichtmasse außer ihrer ge-
wöhnlichen Geschwindigkeit c noch eine Relativ-
geschwindigkeit in beliebiger Richtung zum Äther
bekommt, setzt mit dem Effektivwerden der
Masse des Lichts auch der Widerstand des Äthers
gegen diese (sit venia verbo!) abnorme Lichtbe-
wegung ein, mit dem Erfolg sie nach Ablauf
einer gewissen Zeit wieder zum Verschwinden zu
bringen und wieder „normale" Verhältnisse her-
zustellen.
Endlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit
der Auffassung: Die beirn „normalen" Vorgang
der Lichtausbreitung im Äther ruhenden Polari-
sationen sind dasjenige, was im Äther Masse hat,
also Widerstand gegen Bewegung besitzt, und sie
sind es auch, deren Bewegung relativ zum Äther
der Äther einen nach jeder Richtung vorhan-
denen , wenn auch sehr geringen Widerstand
entgegensetzt. Für gewöhnlich ruht dann gegen-
über dem Äther die Lichtmasse im Äther. Die
Schwierigkeit liegt dann darin, wie diese Licht-
masse, die also für gewöhnlich gegenüber dem
Äther gar nicht bewegte Masse ist, den Strahlungs-
druck hervorrufen kann. Es bleibt dann zunächst
die Paradoxie bestehen, daß sich die dem Äther
gegenüber ruhende Lichtmasse der ponderablen
Materie gegenüber als mit Lichtgeschwindigkeit
bewegt verhält. — Die einfachste Annahme ist
offenbar die : nur transversale Lichtmasse, welche
sich bei Absorption und Spiegelung wie gewöhn-
liche verhält, und dabei kein Widerstand des
Äthers gegen die Bewegung der Lichtmasse.
In der ersten und dritten der angeführten
Auffassungsmöglichkeiten zeigt also die Lichtmasse
gegenüber dem Äther andere Eigenschaften als
gegenüber gewöhnlicher Materie. Im Falle zwei
dagegen zeigt der Widerstand des Äthers gegen
die Bewegung der Lichtmasse (welcher wegen der
Doppelsternbeobachtungen angenommen werden
muß) ein anderes Verhalten als der Widerstand
gewönlicher Materie, z. B. eines Gases gegenüber
der Bewegung gewöhnlicher Masse, z. B. starrer
Körper; denn hat die Lichtmasse geringere Ge-
schwindigkeit relativ zum Äther als c, so erfährt
sie durch dessen Einfluß eine Beschleunigung,
hat sie größere, eine Verzögerung, bis c herge-
stellt ist.
Wie es nun zugeht, daß die Lichtmasse sich
gegenüber dem Äther ganz anders verhält als
gegenüber gewöhnlicher Materie, oder auch der
Äther gegenüber der Lichtmasse ganz anders als
gewöhnlicheMaterie gegenüber gewöhnlicher Masse,
bleibt freilich zunächst unerklärt; in der Annahme
eines abweichenden Verhaltens liegt aber keinWider-
spruch, sie hat im Gegenteil die Wahrscheinlich-
keit auf ihrer Seite. Wir können sagen, ein
gleiches Verhalten wäre höchst verwunderlich, ist
doch Lichtmasse, wie wir sahen, etwas differen-
zierteres als gewöhnliche Masse und ebenso der
Äther etwas von Grund aus anderes als gewöhn-
liche Materie.
Als Fazit aus diesen Erörterungen und als die
nächstliegende Folgerung aus den vorliegenden
Tatsachen ergibt sich folgendes : Ein auf gewöhn-
liche Weise im „ruhenden" Äther mit konstanter
Geschwindigkeit laufendes Bündel paralleler Licht-
strahlen zeigt keine effektive, d. h. in Erscheinung
tretende Masse, vulgo Trägheit. Diese tritt je-
doch zutage, sobald das Strahlenbündel
gezwungen werden soll die Richtung,
evtl. auch die Fortpflanzungsgesch win-
digkeit der Lichtbewegung zu ändern,
sobald es also entweder auf gewöhnliche Materie
auftrifft (Strahlungsdruck), oder der Äther sich
ihm gegenüber zu bewegen beginnt, bzw. die
Lichtstrahlen in Äther von abweichendem Be-
wegungszustand eintreten. In letzterem Falle tritt
zum mindesten in transversaler, vielleicht auch in
longitudinaler Richtung Masse und Trägheit in
Erscheinung und dementsprechend wird Richtung
und evtl. Geschwindigkeit erst allmählich dem
geänderten Bewegungszustand des Mediums ange-
glichen, nicht momentan, wie es die reine Wellen-
24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
theorie fordert.^) Die Masse der Lichtstrahlen wird
solange effektiv bleiben, bis durch den Widerstand
des bewegten Äthers die Geschwindigkeit relativ
zu ihm wieder konstant und die Richtung der
Strahlen relativ zu ihm wieder die gleiche gewor-
den ist, wie vordem gegenüber dem ruhenden
Äther.
Nun gibt es neben der Aberration noch eine
zweite Beobachtung, die, vorausgesetzt daß sie
richtig ist, zugunsten der Ansicht gedeutet wer-
den kann, daß unter Umständen das Licht außer
der Wellengeschwindigkeit noch eine seiner Träg-
heit zuzuschreibende Eigengeschwindigkeit relativ
zum Äther haben kann. Es ist dies die A. Ein-
stein zu verdankende Entdeckung der Lichtstrahl-
krümmung im Gravitationsfeld der Sonne. Wir
haben dazu nichts weiter als die Annahme nötig,
daß die träge Masse des Lichtstrahls auch schwere
Masse involviert. Unter dieser Annahme nämlich
würde sich die Ablenkung des Lichtstrahls als
eine Schwerewirkung erklären und sich ergeben,
daß die sich der Sonne genügend nähernden
Lichtwellen der Fixsterne in derem Gravitations-
feld eine quer zur Fortpflanzungsrich-
tung gerichtete Bewegung relativ zum
Äther annehmen.^) Da die Annahme, daß
der Äther selbst unter dem Einfluß der Gravita-
tion in die Sonne stürze, unzulässig ist und ebenso
für die Annahme, daß unter dem Einfluß der
Gravitation eine dem Winkel der Ablenkung ent-
sprechende Drehung der Wellenfront eintrete,
kein Grund vorliegt, so bleibt tatsächlich nur die
Vorstellung übrig, daß der Lichtstrahl, also die
Lichtwellen gegen die Sonne fallen, während der
Äther ruht (immer vorausgesetzt, daß die Beobach-
tungen richtig sind und die Ablenkung des Licht-
strahls tatsächlich mit der Gravitation in Beziehung
steht). Gerät aber ein Lichtstrahl unter
dem Einfluß der Schwerkraft relativ
zumÄther inBewegung, vermögen sich
in diesem Falle die Lichtwellen trans-
versal durch den Äther zu bewegen, so
vermögen sie es offenbar auch unter
dem Einfluß der Trägheit. Letzteres muß
dann in Erscheinung treten, wenn der Lichtstrahl
aus relativ zu ihm ruhenden in relativ zu ihm quer
bewegten Äther eintritt. In beiden Fällen, sowohl
bei der Aberration als bei der Schwereablenkung
des Lichtstrahls, würde die Fortpflanzungsrichtung
desselben relativ zum umgebenden Äther nicht
mehr genau senkrecht zur Schwingungsebene
stehen, sondern um die kleinen in Betracht kom-
menden Winkel davon abweichen.
Die Beobachtungen und Experimente, welche
zur Aufstellung der Relativitätstheorie geführt
haben , erklären sich in dieser Weise auch auf
Grund der Vorstellung des mit der Erde
bewegten Äthers. Der F i z e a u versuch wider-
spricht dem nun nicht mehr, denn unter der
Annahme auch longitudinaler Lichtmasse , wo-
bei die Trägheit der Lichtenergie sich nicht nur
quer zur Fortpflanzungsrichtung, sondern auch in
dieser selbst bemerkbar machen wird, läßt sich
vorstellen, daß im Fizeauversuch zwar
Wasser und Luft wohl den Äther, je-
doch dieser nicht in merkbarem Betrage
das Licht mit sich führt.') Mit Rücksicht
auf den Versuch von Sagnac, bei dem die in
der Umgebung der Lampe wenigstens zum Teil
in Mitbewegung versetzte Luft keinen Einfluß auf
die Interferenz zeigte , ^) müßte man allerdings
wohl die Einschränkung machen, daß zwar die
große Masse der Erde den Äther in ihrer Be-
wegung vollständig mit sich führt, kleinere Massen
an der Erdoberfläche jedoch nur in einem ge-
ringeren Betrage, der vielleicht sogar noch unter
der Grenze der Wahrnehmung durch Interferenz-
versuche liegt. Es ist dies um so eher möglich,
als ja nun der Äther eine Art Viskosität besitzen
kann, ohne daß dem die Versuche von O. Lodge
widersprechen, weil hier die Lichtquelle nicht mit-
bewegt war. Es ist aber auch zu erwägen, daß
der Äther genau wie die Erde selbst eine kos-
mische Eigenbewegung besitzen kann und mög-
licherweise bis über die Neptunsbahn hinaus um
die Sonne rotiert, mit der Geschwindigkeit, welche
dem Newton sehen Gesetze entspricht.") In
diesem Falle müsste die Mitführung des Licht-
strahls durch den Äther außerordentlich gering
sein oder gänzlich fehlen, um eine Erklärung der
Aberration möglich zu machen. Verzichten wir
auf longitudinale Lichtmasse, so kann auch bei
einer derartigen Ätherbewegung eine Überein-
stimmung mit den Doppelsternbeobachtungen
leicht gefunden werden. *) Das Licht läuft dann
bei der Emission zunächst relativ zum Stern,
d. h. zum Sternäther, um nach einem relativ
kurzen Intervall des Wechsels die konstante Ge-
schwindigkeit relativ zum interstellaren Äther des
Raums zu erlangen. Die relativ kurze Strecke,
') Nimmt man nur transversale Masse an, so ist diese
Angleichung, diese seilliche Mitführung des Lichts durch den
bewegten Äther zur Erklärung nicht unbedingt notwendig.
*) Allerdings müfite dann für die Dauer der völligen Mit-
führung des Lichts durch den Äther ein größerer Wert ange-
nommen werden, als wenn man die Aberration in der be-
wegten Erdatmosphäre allein berücksichtigt, da ja sonst die
Erscheinung auf Erden nicht mehr beobachtbar wäre.
') Dabei erfolgt eine dem Fr esnel sehen Mitführungs-
koeffizienten entsprechende Mitführung des Lichtes durch die
an der Materie haftende elektromagnetische Energie (wie dies
der herrschenden Theorie entspricht), nicht aber durch den
mit der Materie bewegten Äther.
'') Es wäre wohl der Muhe wert zu untersuchen, ob der
Äther in der Umgebung der Lichtquelle nicht durch geeignete
Vorrichtungen (z. B. Bleimantel um die Lampe) in Mitbe-
wegung versetzt werden könnte, und ob dann die Streifen-
verschiebung bei der Drehung des Apparates ausbleibt oder
geringer wird.
') Die Vorstellung eines mit den Planeten um die Sonne
kreisenden Äthers findet sich übrigens schon bei Descartes
(siehe Drude, Optik, 111 Aufl. S. 473.
*) Es ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen,
daß die Milführung des Lichts durch den Äther in der Fort-
pflanzungsrichtung und senkrecht dazu nicht von gleichem
Betrag ist, z. B, in ersterer stärker in Erscheinung tritt.
N. F. XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
25
in der das Licht mit Lichtgeschwindigkeit relativ
zum Stern lief, kann bei dessen ungeheurer Ent-
fernung sich in Beobachtung und Rechnung natür-
lich nicht bemerkbar machen. ')
Erhebliche Schwierigkeiten scheint allerdings
die Vorstellung zu bereiten, daß die Geschwindig-
keit des Mediums sich nicht stets zu der der
Wellen nach dem Unabhängigkeitsprinzip addieren
soll. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß im Falle
des Lichts es sich nicht um mechanische Schwin-
gungen des Mediums selbst, analog den Schall-
schwingungen in der Luft, sondern um die Schwin-
gungen einesZustandesim Medium handelt.
Man muß sich also denken, daß dieser Zustand
der magnetischen und dielektrischen Polarisationen
im Äther neben der Wellengeschwindig-
keit seiner Fortpflanzung noch eine
') Die hier vorgetragene Auffassung zeigt zwar nicht im
Ausgangspunkt und der theoretischen Grundlage, wohl aber
im Ergebnis eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den
neuen Anschauungen P. Lenards, welche in den Aufsätzen
„Über Äther und üräther" (Starks Jahtb. XVII, H. 4, S. 307)
und „Fiageu der Lichtgeschwindigkeit" (Astr. Nachr. 213,
Nr. 5107) veröffentlicht wurden. Die Verwandtschaft zeigt
sich darin, daß ein Lichtstrahl nach beiden Auffassungen mit
annähernd gleicher aber an sich wechselnder Geschwindigkeit
den Raum durcheilen würde. — Eine experimentelle Prüfung
dieser Vorstellungen würde sich durch Anstellung des
Mich elson Versuchs mit dem Lichte der Himmelskörper,
also Sonnen-, Mond-, Planeten- und Fixsternlicht (letztere
evtl. unter Anwendung photographiscber Methoden) ermög-
lichen lassen, wie dies für Fixsternlicht auch P. Lenard
(1, c.) vorschlägt. Es ist zu erwarten, daß mit Licht,
welches die Aberration zeigt, also senkrecht
zur Bewegungsrichtung der Erde verlaufend von
außerird isch en Lieh t q ueUen kommt, der Michel-
sonversuch positiv ausfällt und, wenn man auch
longitudinale Masse annimmt, ebenso mit Licht von Himmels-
körpern, welches in der Bewegungsricbtung der Erde läuft.
Nach Einstein und Lorentz wäre in beiden Fällen ein
negatives Resultat zu erwarten, nach Lenard möglicherweise
ein positives, jedoch nur mit Licht der Fixsterne, welches in
der Bewegungsrichtung der Erde läuft.
Eigengeschwindigkeit relativ zum
Äther besitzen kann, daß sich also unter
Umständen, nämlich während der Übergangs-
stadien die Lichtgeschwindigkeit relativ
zum Äther aus zwei Komponenten zu-
sammensetzt. Die elektromagnetische Licht-
theorie birgt in dieser Hinsicht jedenfalls Möglich-
keiten in sich, die der früheren mechanischen
nicht zukamen.
Auch die hier vorgetragene Auffassung ver-
trägt sich mit dem Prinzip der Relativität der
Bewegung. Man ist ja keineswegs gezwungen,
sich den interstellaren Äther des Raumes als
ruhend vorzustellen, er kann ebensogut in Strö-
mungen begriffen sein, wie es sogar wahrschein-
lich ist. denn in der Natur gilt der Satz: ndv%a
Qti. Für ein absolut ruhendes Bezugssystem und
Absolutgeschwindigkeiten findet sich also in un-
serer Auffassung, wenigstens soweit es sich um
Translationen handelt, kein Platz. Auch wenn
der Mich elson versuch mit Sternenlicht positiv
ausfallen sollte, so läge kein Anlaß vor, daraus
auf eine Absolutgeschwindigkeit der Erde zu
schließen; es ginge daraus nur hervor, daß zwi-
schen Stern und Erde weite Gebiete des Äthers
sein müssen, welche an der Erdbewegung nicht
teilnehmen, wie dies ja auch selbstverständlich ist.
Unseren Ausführungen liegt also die Vorstellung
zugrunde, daß Lichtmasse und Lichtäther sich
nicht notwendig ausschließen, sondern daß beide
(indem die Lichtmasse auf einem gewissen physi-
kalischen Zustand des Äthers beruht) zugleich
vorhanden sind und sich unter Umständen gegen-
einander bewegen können. Eine Synthese der
Undulations- und Emissionstheorie, für die die
neue Auffassung der Masse den Weg gebahnt hat,
wird, wie man hoffen darf, den in der Optik
bewegter Körper und bewegten Äthers bisher
vorhandenen Widerspruch beseitigen.
Einzelberichte.
Der sogenannte Eiiisteiiitiirm der Potsdamer
Sternwarte.
Der Neubau ist, wie Freundlich auf der
Potsdamer Astronomenversamrhlung mitteilte, ein
Turmteleskop, dessen Errichtung durch schwe-
dische Unterstützung möglich wurde, und dessen
Zweck möglichst genaue Wellenlängenmessungen
sowohl im Sonnenspektrum als auch in dem der
Fixsterne sind. Durch diese Wellenlängenmes-
sungen soll beigetragen werden zur Entscheidung
der Frage, ob die Relativitätstheorie berufen ist
an die Stelle der Newtonschen Mechanik zu
treten. Mit der Herstellung des Beobachtungs-
instruments, in erster Linie eines gewaltigen
Cölostaten von 14V2 rn Brennweite, ist die Firma
Zeiß beauftragt, auf deren Rat man sich für ein
von einem Steinbau umschlossenes Holzgerüst
entschieden hat, das größere Sicherheit gegen
Schwingungen zu gewähren verspricht wie ein
eisernes Gerüst. Die vom Cölostaten in eine
unveränderlich bleibende Richtung geleiteten
Lichtstrahlen werden durch einen Spiegel recht-
winklig in einen unterirdischen Arbeitsraum mit
unveränderlicher Temperatur geführt und sollen
dort sowohl mit Hilfe eines Gitters, als auch durch
einen Prismenspektrographen zerlegt werden. Vor-
läufig ist der Bau erst im Rohen fertig. Es steht
zu erwarten, daß dieses neue Hilfsmittel der For-
schung nicht nur dem oben angegebenen Haupt-
zweck dienen, sondern auch manche weitere Pro-
bleme der Spektralanalyse erheblich zu fördern
gestatten wird. Kbr.
Basedowsche Krankheit und innere Sekretion.
Die von Möbius aufgestellte Theorie einer
engen Beziehung zwischen Schilddrüse und Mor-
26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
bus Basedowii („Die Basedowsche Krank-
heit ist eine Vergiftung des Körpers durch krank-
hafte Tätigkeit der Schilddrüse") bildet gegen-
wärtig die Grundlage für die operative Therapie,
die in den meisten Fällen von Basedow scher
Krankheit als erfolgreich bezeichnet werden kann.
Seitdem man die Beziehungen der endokrinen
Drüsen untereinander zu erforschen versucht, wer-
den immer neue Argumente dafür erbracht, daß
auch unter pathologischen Verhältnissen ein Zu-
sammenarbeiten der Blutdrüsen stattfindet. So
ist nach den Feststellungen verschiedener Forscher
die Ursache der Basedowschen Krankheit nicht
allein in einer Erkrankung oder Degeneration der
Schilddrüse zu suchen, sondern es sind auch andere
Drüsen mit innerer Sekretion mehr oder weniger
an der Pathogenese beteiligt. An erster Stelle
steht in dieser Beziehung der Thymus, aber auch
Hypophysis, Nebenniere, Keimdrüsen, Epithel-
körperchen und Bauchspeicheldrüse kommen in
Betracht.
Auf Grund dieser erweiterten Theorie wirft
P. Sudeck in einem Aufsatz über „die chirurgi-
sche Behandlung des IVIorbus Basedowii" (nach
einem Vortrage im Ärztlichen Verein in Ham-
burg am 17. V. 1921)') die Frage auf, „ob und
inwieweit die bisher übliche operative Therapie
(die Schilddrüsenverkleinerung) dnrch Einbeziehung
der Thymusdrüse erweitert werden muß". S u -
deck teilt zunächst die Ergebnisse seiner Schild-
drüsenoperationen mit. Die operativen Eingriffe
waren graduell verschieden und gipfelten in der
totalen Exstirpation der Schilddrüse (bei Anwen-
dung der Substitutionstherapie). Die Ergebnisse
bestätigten das K o c h e r sehe Gesetz, wonach die
Heilung der Basedowschen Krankheit propor-
tional der entfernten Schilddrüsenmasse verläuft.
Von den nicht radikal operierten Patienten waren
nämlich nur 53 "/q, von den radikal operierten
dagegen 90 "'(, und von den Totalexstirpierten
sogar 100 "/„ geheilt. Diese Resultate zeigen also
offensichtlich, von welcher Bedeutung die Schild-
drüse für die Entstehung des Morbus Basedowii
ist. Damit steht auch die Bedeutung
der Schilddrüsenoperation fest. So
sagt Sud eck: „Es liegt deswegen keine Veran-
lassung vor, sich in der Indikationsstellung durch
theoretische Erwägungen des pluriglandulären
Charakters der Erkrankung nach der negativen
Seite hin beeinflussen zu lassen." Um feststellen
zu können, ob auch die Entfernung des Thymus
zur Besserung der Basedow sehen Krankheit
beiträgt, exstirpierte Sudeck neben der Schild-
drüsenoperation in einigen Fällen die Thymus-
drüse. Er hat aber weder unmittelbar nach der
Operation noch bei der Nachuntersuchung einen
entscheidenden Unterschied von den Erfolgen der
üblichen IVlethode nachweisen können. Aus die-
sem Grunde spricht er sich gegen eine grund-
•) Deutsche Medizinische Wochenschrift, 47. lahrgang,
Nr. 41, 1921.
sätzliche Änderung der Operationsmethode aus
und hält die Thymektomie nur in Fällen,
„bei denen die wesentlich mitbestim-
mende Einwirkung des Thymus dia-
gnostisch erkannt und das Bedürfnis der
Thymusentfernung festgestellt ist", für nötig. Ehe
also die neuen Theorien, die neben der Schild-
drüse den komplementären Drüsen eine Mitwir-
kung in bezug auf Morbus Basedowii zu-
schreiben, die Praxis irgendwie beeinflussen kön-
nen, müssen sie durch vermehrte Kenntnis des
Verhaltens einzelner Blutdrüsen wie des gesamten
inkretorischen Drüsenkomplexes unter den Ver-
hältnissen der Basedowkrankheit ergänzt und
vertieft werden. Daß in vereinzelten Fällen die
Thymektomie (auch ohne Schilddrüsenbehandlung)
von Erfolg sein kann, ist von Garre schon vor
längerer Zeit erwiesen worden. Ferner kennen
andere Forscher Fälle von Morbus Basedowii,
die als rein thymogen zu bezeichnen sind (Hart,
Klose). Sie fordern in der Praxis neben der
Schilddrüsenbehandlung die Thymektomie, um
vor allem die Fälle auszuschalten, bei denen nach
der Schilddrüsenoperation plötzlich der Tod ein-
tritt, den sie auf Thymusvergiftung zurückführen.
Daß der Thymus von nicht geringer Bedeutung
ist, wird durch die Tatsache bewiesen, daß „man
in über ^/^ der Fälle eine deutliche Ver-
größerung desThymus findet" (Leschke).
Im Hinblick auf die Mitwirkung anderer Blut-
drüsen kann man die Basedowsche Krankheit
überhaupt als pluriglanduläre Erkrankung
bezeichnen. Treffend ist die folgende Definition
Leschkes: „Wir müssen die Basedowsche
Krankheit als ein pluriglanduläres Syndrom an-
sehen, bei dem außerdem Zustandsänderungen
des sympathischen Nervensystems eine wesent-
liche Rolle spielen" (Die Wechselwirkungen der
Blutdrüsen bei der Basedowschen Krankheit,
dem Diabetes mellitus und dem Verjüngungs-
problem). ')
Dresden. Gustav Zeuner.
ThyiiiHsdrüse und Wachstum.
Einen interessanten Beitrag zur Kenntnis der
Beziehungen zwischen Thymusdrüse und Wachs-
tum liefert B. Romeis in einer Abhandlung über
die „Beeinflussung minder veranlagter, schwäch-
licher Tiere durch Thymusfütterung" (i. Teil der
Experimentellen Studien zur Konstitutionslehre).-)
Die darin veröffentlichten Versuche sollen im
folgenden kurz geschildert werden. Als Versuchs-
tiere verwendete Rom eis Rana-temporaria Lar-
ven. Aus einer Aufzucht wählte er je 30 kräftige,
schwächliche und stark zurückgebliebene Tiere
aus und fütterte einen Teil der Larven aus jeder
') Wiener Medizinische Wochenschrift, 71. Jahrgang,
Nr. I, 1921. (S. auch mein Referat über „Pluriglanduläre
Verjüngung" in der Naturw. Wochenschr. Nr. 42, 1921.)
') Münchener Medizinische Wochenschrift, 68. Jahrgang,
Nr. 14. 1921.
N. F. XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
27
Gruppe von Zeit zu Zeit neben der gewöhnlichen
Nahrung mit einem Präparat von Thymussubstanz.
Der Einfachheit halber sei die Gruppeneinteilung
im folgenden angeführt:
Gruppe la: kräftige, normale Tiere; gewöhn-
liche Nahrung,
Gruppe Ib: desgleichen; Thymussubstanz,
Gruppe IIa: schwächliche Tiere ; normale Nah-
rung,
Gruppe IIb: desgleichen; Thymussubstanz,
Gruppe III a: sehr schwächliche Tiere ; normale
Nahrung,
Gruppe III b: desgleichen; Thymussubstanz.
Die Tiere unter la und b hatten zu Beginn
der Versuche eine durchschnittliche Länge von
18 mm, diejenigen unter IIa und b eine solche
von etwa 14 mm und diejenigen unter III a und b
von etwa 12 mm. Nach dreimaliger Fütterung
mit Thymusextrakten innerhalb von 12 Tagen
ergaben sich folgende Wachstumswerte (aus jeder
Gruppe wurden die drei kleinsten und die drei
größten Larven gemessen und aus deren IVIaßen
der Durchschnittswert berechnet). Die Kontroll-
tiere unter la waren ca. 4,7 mm, diejenigen unter
IIa 3,1 mm und diejenigen unter III a 2,3 mm
gewachsen. Die mit Thymus behandelten Tiere
der entsprechenden Gruppen waren dagegen
6,5 mm, 6,8 mm und 6,6 mm gewachsen. Re-
lativ war also das Wachstum der
schwächlichsten Larven am stärksten.
Nach 10 Extraktfütterungen stellte Rom eis fest,
daß die mit Thymus gefütterten Tiere der Gruppe
nib größer waren, als die normal kräftigen Larven
unter la. Der günstige Einfluß des Thymus-
extraktes ist also deutlich zu erkennen. Inter-
essant wäre es auch, einen gewissen Zusammen-
hang zwischen der inneren Sekretion des Thymus
(auch anderer Blutdrüsen, vor allem der Keim-
drüsen 1) und der Neotenie der Larven zu er-
forschen.') Rom eis hat diese Frage in seiner
Veröffentlichung nur kurz gestreift. Hoffentlich
findet sie bei ähnlichen Gelegenheiten einmal ein-
gehendere Berücksichtigung. Meiner Meinung
nach kommen für die Neotenie der Amphibien-
larven nicht nur äußere Lebensverhältnisse als
Ursache in Betracht; in manchen Fällen wird die
Konstitution eine nicht geringe Rolle spielen.
Gustav Zeuner.
Die chemische Natur der Graphitsiiure.
Wenn Graphit durch Erhitzen mit Kalium-
chlorat und Salpetersäure kräftig oxydiert wird,
so entsteht ein unter dem Namen „Graphitsäure"
bekannter Stoff mit sauern Eigenschaften. Die
Konstitution dieses Stoffes war ungewiß, immer-
hin nahm man an, daß die für organische Säuren
kennzeichnende Karboxylgruppe — COOH auch
in der Graphitsäure vorhanden sei. Diese Auf-
fassung der Säure als einer Substanz mit wohl-
') Ich erinnere an die Versuche von Hart (Berliner
Klinische Wochenschrift 191 7, Nr. 45).
gekennzeichneter Struktur wird durch Unter-
suchungen von Geo. A. Hulett und O. Nel-
son') erschüttert.
Läge nämlich in der Graphitsäure eine wahre
Karbonsäure vor, so müßte beim Entwässern der
(stets feucht erhaltenen) Säure ein Punkt erreicht
werden, wo alles adsorbierte Wasser oder auch
das Kristallwasser verdampft ist und nur der in
dem Säuremolekül selbst vorhandene Wasserstoff
noch vorliegt. Auch diesen würde man entfernen
und dann das Anhydrid der Säure gewinnen
können; aber es bedürfte diese Maßnahme höchst-
wahrscheinlich einer anderen Energiemenge. In
einem Knick in der Entwässerungskurve würde
sich dieser Sachverhalt zu erkennen geben. Die
Verff. fanden jedoch, daß bei der Entwässerung
die Dampfdruckkurve ohne jeden Knickpunkt
völlig stetig dem Nullpunkt zustrebt. Die
Substanz verhält sich ganz so wie ein Kolloid,
das an der Oberfläche \X'asser adsorbiert hat und
dieses naturgemäß stetig verdampfen läßt. In
der Tat zeigt die Graphitsäure eine Oberflächen-
struktur, die für Adsorptionen vorzüglich geeignet
ist. Ihre durchsichtigen Tafeln bestehen aus einer
großen Zahl äußerst dünner Täfelchen, besitzen
also eine beträchtliche Oberfläche. Die Verff.
erklären das Verhalten der Säure beim Entwässern
auf Grund dieses Befundes nun mit einer neuen
Auffassung der chemischen Natur der Graphit-
säure.
Die Graphitsäure soll ein festes niedri-
ges Oxyd des Kohlenstoffs, etwa C3O
oder Cj^O^, sein, das infolge seiner ungewöhnlich
großen Oberfläche mit viel Adsorptionswasser
bedeckt ist. Eine Anzahl von Literaturangaben
soll diese Auffassung stützen. —
Berichterstatter möchte demgegenüber bemer-
ken, daß das Oxyd als solches natürlich keiner
sauern Betätigung fähig ist, sondern immer ein
Anhydrid darstellt. Die Graphitsäure muß also
zum mindesten zu einem kleinen, vielleicht völlig
dissoziierten Betrage in der Adsorptionsverbindung
vorliegen. Die Verhältnisse lägen alsdann so wie
in wässerigen Lösungen des Kohlendioxyds , die
ja auch die (hypothetische) Kohlensäure ent-
halten müssen. Man wird die Graphitsäure als
ein festes Analogon hierzu betrachten dürfen. Es
muß aber daraufhingewiesen werden, daß Selvig
und Ratliff,-) die die Entwässerungsschwierig-
keiten der Graphitsäure bestätigen , an deren
Charakter als Karbonsäure festhalten, deren
Kohlen- und Wasserstoff durch Verbrennung be-
stimmbar sei. H. Heller.
Künstliche Beleuchtung zur Förderung der
Kükenaufzucht.
In Nr. 9 der „Deutsch, landw. Geflügelzeitg."
von 1921 teilt Cl. v. Thaden seine Erfahrungen
') Transactions of the Americ. Klectr, Soc. 37, S. 103,
[.
-) Ebenda 37, S. 121.
28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
mit über den günstigen Einfluß der künstlichen
Beleuchtung auf die Küken, indem möglichst
intensive Beleuchtung der Kükenstallungen wäh-
rend der Nacht in Verbindung mit mehrmaligem
Füttern sich als außerordentlich vorteilhaft er-
wiesen hat, die Küken schnell wachsen und kör-
perlich gedeihen zu lassen. Der Verf. ist geneigt,
den Strahlen der elektrischen Lichtquelle eine
mithelfende Wirkung zuzuschreiben. Über nach-
teilige Nebenwirkung, wie Ausbildung eines ner-
vösen Zustandes, mit dem bei der Jugend der
Tiere durch die nächtliche Beleuchtung zu rechnen
wäre, wird nichts erwähnt. Reuter.
Die Bewegung des Merburpevihels
nach den Arbeiten Newcombs betitelt Groß-
mann in Astr. Nachr. Nr. 5115 einen Aufsatz,
in dem er zeigt, wie Newcomb zu seinem be-
kannten Wert gekommen ist. Er gibt für den
Unterschied von Theorie und Beobachtung für
die Bewegung des Perihels im Jahrhundert 43"
an, mit einer Unsicherheit von 2". Da nun Ein-
stein aus der Relativitätstheorie fast genau den-
selben Wert ableitet, 42,89", eine Übereinstim-
mung, die so auffallend ist, daß man geneigt ist,
das Spiel des Zufalls für ausgeschlossen zu halten,
und da Einstein hierin einen Beweis für die
Richtigkeit seiner Theorie sieht, so ist es wert-
voll zu sehen, wie Newcomb zu diesem Wert
gekommen ist. Merkur ist sehr schwer zu be-
obachten, nur bei Tage, in stets wechselnder
Phase, und vor allem bei den Merkurdurchgängen
spielen soviel Faktoren mit, daß die hieraus ab-
geleiteten Merkurörter mit starken Fehlern be-
haftet sind. Abweichungen, größer als 27 Sek.,
treten häufig auf Schon Leverrier ist sehr
mißtrauisch gegen die Beobachtungen gewesen.
Ferner gibt die Art und Weise, wie Newcomb
das Problem aufgefaßt hat, zu vielen Bedenken
Anlaß. Druck- und Rechenfehler lassen sich nach-
weisen, die das Ergebnis beeinflußt haben. Meh-
rere Korrektionen von Elementen sind von vorn-
herein = o gesetzt worden, ohne einen zureichen-
den Grund anzugeben. Die Ausgleichung der
Bewegungen der 4 inneren Planeten ist nicht ge-
nügend gelungen, und Newcombs Mitteilungen
darüber sind recht unklar und unbefriedigend.
Gerade die hier wichtige Bestimmung der den
Merkur störenden Venus ist in wenig zweck-
mäßiger und daher ungenügender Weise durch-
geführt worden. Und Großmann kommt zu
dem Schluß, daß in unserer Kenntnis der Merkur-
bewegung noch mancherlei Widersprüche vor-
handen sind, die der Aufklärung bedürfen. Jeden-
falls aber ist das eine sicher, daß der gesuchte
Wert der Bewegung des Merkurperihels im Jahr-
hundert zwischen 28" und 38" liegt, das er also
den von Einstein geforderten Wert von 43" unter
keinen Umständen erreicht. Es geht also nicht
an, hier eine Stütze der Relativitätstheorie finden
zu wollen. Riem.
Bücherbesprechungen.
Gehrcke.E., Physik und Erkenntnistheorie.
119 S. Leipzig und Berlin 1921, B. G. Teubner.
Der Verf ist nicht nur durch seine physi-
kalischen Forschungen, sondern auch durch die
energische und systematische Art, mit der er in
den Kampf um die Grundprobleme der Physik
eingegriffen hat, bereits in weiten Kreisen rühm-
lichst bekannt geworden. Hier betrachtet er nun
vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes
aus das Grenzgebiet zwischen Physik und Er-
kenntnistheorie. Das vortreffliche Büchlein will
in erster Linie anregen; es stellt aber m. E den
höchst bedeutsamen Versuch dar, in dem Chaos
der modernen Physik wieder eine feste Ordnung
hineinzubringen, und die vielen Grundbegriffe,
Prinzipien und „Weltpostulate", die sich jetzt meist
hinter einem mathematischen Schleier verbergen,
einer gründlichen Kritik zugänglich zu machen.
Im ersten Teile werden allgemeinere Begriffe, wie
Wahrheit, Wahrnehmung, Naturgesetze, Kontinuum
und Diskretum, konditionale und kausale Natur-
beschreibung behandelt, im zweiten Teile wird
Besonderes!, wie Raum, Zeit, Bewegung, Energie,
Kraft, Masse, Atome und Äiher näher besprochen.
Als Beispiel sei hier das Kapitel über Entropie
kurz erwähnt. Unter der Herrschaft des Forma-
lismus in der Physik hat man die Bedeutung des
sog. zweiten Hauptsatzes der Wärmetheorie, der
eine erhebliche Einschränkung des Energieprinzips
darstellt, bedeutend übertrieben, so daß man ihn
in populären Darstellungen bereits als ein neues
Weltprinzip ausgibt, das allerdings nur für mathe-
matisch geschulte Köpfe erfaßbar sein soll.
Gehrcke weist auf den Streit (1876) zwischen
Loschmidt und Boltzmann über den Gel-
tungsbereich des Prinzips hin; der erstere be-
hauptete, es sei möglich, mittels einzelner oder
weniger Gasmoleküle Wärme von einem Körper
mit niederer zu einem solchen mit höherer Tempe-
ratur überzuführen, der letztere wies durch Rech-
nung nach, daß bei sehr vielen, quasi unendlich
vielen, Gasmolekülen ein solcher Übergang nicht
möglich sei. „Für geringe Molekülzahlen gilt der
zweite Hauptsatz so ungenau, daß er als praktisch
ungültig anzusehen ist." Der zweite Hauptsatz
sei also eigentlich gar kein Hauptsatz, sondern ein
Nebensatz; er erstreckt sich überhaupt nur auf
spezielle Erscheinungen der Wärme. Die neueren
Arbeiten von Zermelo und von v. Smolu-
chowski (Naturforscherversammlung in Münster,
191 2) werden nicht erwähnt, wohl weil sie be-
sonders neue Gesichtspunkte nicht ergeben haben
N. F. XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
29
Da der Entropiesatz sich nur auf die Wärmebe-
wegung bezieht, bleibt natürlich auch die Frage
offen, ob nicht noch unbekannte Energiebe-
wegungen vorhanden sind, die dem bedrohlichen
Wachsen der Entropie entgegenwirken. (Ich ver-
mute, daß z. B. in der bisher wenig beachteten
Schwerkraft eine solche Energiebewegung ent-
halten ist.) Man erkennt hier an einem Beispiele,
wie umstritten noch vielfach die Geltung physi-
kalischer Prinzipien ist, und wie gefährlich es ist,
aus ihnen allzu weitgehende Schlüsse über das
Schicksal der Welt zu ziehen; wie notwendig es
aber auch ist, die beschränkte Bedeutung dieser
Grundbegriffe sich möglichst klarzumachen und
nicht nur gedankenlos mit ihnen zu rechnen.
Bemerkenswert sind auch Gehrckes Aus-
führungen über den Äther. „Auch der Äther ist
für den Physiker kein denkökonomischer oder aus
anderen formalen Gründen zu behandelnder Ein-
fall, sondern entweder eine Tatsache oder nichts:
gibt es wirklich einen Welläther oder nicht?
Welches sind seine wirklichen Eigenschaften? Das
sind die wesentlichen Fragen, die zu beantworten
Aufgabe der physikalischen Forschung ist." Weiter
wird erwähnt „daß neuerdings der Äther wieder
in Aufnahme gekommen ist, daß also der Triumph
über diesen „phantastischen" und „übei flüssigen"
Rest aus der „alten" Physik offenbar verfrüht war."
— Die Abwesenheit jedes komplizierteren mathe-
matischen Rüstzeugs ist durch die Natur des be-
handelten Gegenstandes gegeben, der es mit
Prinzipien, also mit etwas Einfachem zu tun hat.
Mit Recht sagt der Verf.: „Komplizierte Prinzipien
gibt es nicht." Allen, die sich mit physikalischen
und erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigen,
sei das Büchlein dringend empfohlen.
Fricke.
Francs, R. H. , Süd -Bayern. Junks Natur-
lührer. Berhn (W. Junk) 1922. 423 S. Geb.
32 M.
Die „Naturführer", von denen in früheren Jah-
ren bereits die Bändchen Tirol (1913), Riviera
(1914), Schweiz (1921) erschienen sind, wollen als
sehr dankenswerte Ergänzung zu den herkömm-
lichen Reiseführern in allgemeinverständlicher
Form vor allem über die botanischen, zoologi-
schen und geologischen Verhältnisse des betreffen-
den Landes unterrichten. Leider muß gesagt
werden, daß das eben erschienene Bändchen
„Süd- Bayern", das den vielschreibenden France
zum Verfasser hat, sich wenig vorteilhaft von den
bereits erschienenen unterscheidet. So groß die
Verdienste sein mögen, die sich France durch
sein „Leben der Pflanzen" und andere botanische
Werke um die Popularisierung der Naturwissen-
schaften erworben hat und so sehr die Lebendig-
keit seiner Darstellung zu loben ist, um einen
„Naturführer" zu schreiben, dazu bedarf es ge-
diegener Kenntnisse im systematischen
Teil der Naturwissenschaften und solche besitzt
m. E. Francs nicht, wie mir das angezeigte
Buch deutlich beweist. Was er bringt, sind zum
großen Teil Auszüge besonders aus den Werken
von Sendtner (1854) und Gümbel (1894) und
wenn der Verf. in der Einleitung behauptet, er
habe „mehr als tausend Arbeiten über die Natur
des voralpinen Bayerns durchlorscht", so ist es
um so verwunderlicher, wenn er ein so grund-
legendes Werk wie Vollmanns Flora von
Bayern (1914) nicht benutzt hat. Sonst wären
ihm nicht die zahlreichen veralteten und falschen
Angaben über die bayrische Flora unterlaufen.
Z. B. kommt der Sumpf Porst (Ledum palustre),
den France vom Gallerfilz am Siarnbergersee
angibt (S. 93), in ganz Bayern nicht vor, Euphra-
sia salisburgensis hat ihre Nordgrenze nicht bei
München (S. 74), sondern findet sich noch im
fränkischen Jura, Gentiana germanica ist keines-
wegs „eine seltenere Pflanze" (S. 54). Ein
schlechtes Zeugnis als Pflanzenkenner stellt sich
France aus, wenn er den bekannten Stech-
apfel (Datura Stramonium) in ganz Bayern nur (11)
am Lech bei Füssen vorkommen läßt. Eine Reihe
Pflanzen, z. B. Trientalis europaea (S. 111), Cor-
tusa Matthioli (S. 120J, Marsilia quadrifolia (S. 330)
führt der Verf. von Fundorten auf, wo sie längst
verschwunden sind. All das hätte er ver-
meiden können, wenn er unter den „tausend Ar-
beiten" auch die Vollmannsche Flora zurate
gezogen hätte. Bei den wiedergegebenen Pflanzen-
listen macht es sich bemerkbar, daß der Verf.
oft nicht zwischen allgemein verbreiteten und den
charakteristischen Pflanzen unterscheiden kann.
Wenn also F'rance, der doch seiner ganzen bis-
herigen Arbeiisrichtung nach als Botaniker gelten
will, schon im botanischen Teil soviel „Versehen"
passieren, so darf man wohl vom zoologischen
und geologischen nicht allzuviel Gutes hoffen.
Mehr als mangelhaft sind die Literaturangaben,
die doch gerade für den, der sich in der be-
treffenden Gegend näher orientieren will, recht
wertvoll wären, ganz abgesehen von zahlreichen
Druckfehlern, die auch gerade keine Zierde sind.
Unter diesen Umständen glaube ich doch, daß es
etwas überheblich ist, wenn F'rance seinen
„Naturführer" als einen gewissenhaften Ver-
such bezeichnet. Es mag zugegeben werden, daß
es schwierig ist, einen guten, kritischen und zu-
verlässigen „Naturführer" zu schreiben, wenn man
wie France Jahr für Jahr ein um das andere
Werk — sei es nun über Botanik, Geologie oder
„objektive" Philosophie — auf den Markt bringt.
Wahlloses Exzerpieren genügt für einen „Natur-
führer" nicht, auch nicht die 600 Bergwanderungen
und Streifzüge, die der Verf. gemacht hat. Das
hat er wohl selbst eingesehen, wenn er sagt, daß
sein Versuch vielleicht erst bei der „10. ver-
mehrten und umgearbeiteten Auflage" das sein
wird, was ihm als Ideal vorschwebte. Hoffentlich
entschließt er sich aber bereits vor Herausgabe
der zweiten Auflage seinen Führer gründlich
durchzusehen und erfahrene Fachleute zu ersuchen,
ihm dabei behilllich zu sein. Marzell.
30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
Haecker, V., Allgemeine Vererbungs-
lehre. 3. umgearbeitete Aufl. 444 S. mit
einem Titelbilde und 149 Figuren im Text.
Braunschweig 1921, F. Vieweg u. Sohn. Brosch.
46 M.
Das Buch von Haecker, eines der wichtigsten,
das wir auf dem Gebiete der Vererbungswissen-
schaft haben, bringt in der vorliegenden dritten
Auflage mancherlei neues und trägt in allen Ab-
schnitten den vielen in den letzten Jahren er-
zielten Fortschritten der Wissenschaft gewissenhaft
Rechnung. Beibehalten wurde aber der bewährte
Grundplan des Werks, und beibehalten nament-
lich auch die überall durchgeführte scharfe Unter-
scheidung zwischen gesicherten Ergebnissen und
Hypothese. So ist der Leser in der Lage, überall
ein klares Bild von dem gegenwärtigen Stande
der Dinge zu gewinnen, er wird hingewiesen auf
viele noch offene Fragen und Lücken in unserer
Erkenntnis und unwillkürlich zum eigenen Nach-
denken angeleitet, wozu noch die vielen kritischen
Bemerkungen des Verfs. wesentlich beitragen.
Eine zum Feil recht scharfe Kritik übt Haecker
an der Chromosomenhypothese, die manchen be-
reits als festgefügtes Gebäude erschienen war.
Gegenüber einer reinen Chromosomenhypothese
der Vererbung wird eine Kernplasmahypothese
derselben dargelegt. Nicht die Qualität der chro-
matischen Kernsubstanz allein, sondern auch das
Wechselverhältnis zwischen Kernsubstanz und
Zellplasma spielt bei den Differenzierungsvorgängen
der Zellen eine wichtige Rolle, eine Anschauung,
die sich auch den Ansichten anderer neuerer
Forscher nähert. Viel gedankenreiches enthalten
besonders die Kapitel 28 und 29. Im ersteren
weist Haecker darauf hin, daß der auf der
Grundlage der M e n d e 1 sehen Regeln beruhende
Weg der Eigenschaftsanalysen nicht der einzige
ist. Auch eine rückläufige Eigenschaftsanalyse
oder Phänogenetik ist möglich, die morphogene-
tisch und eniwicklungsphysiologisch das Zustande-
kommen der Eigenschalten in tunlichst frühe Ent-
wicklungsstadien zurückzuverfolgen sucht. Im
folgenden Kapitel werden die Zusammenhänge
zwischen Entwicklung und den verschiedenen
Vererbungsmodi eingehend erörtert und eine ent-
wicklungsgeschichtliche Vererbungsregel ausein-
andergesetzt. Nicht ganz glücklich wurde auf
Seite 200 das Beispiel eines Bastards Capra
hircus X Ovis aries gewählt, denn derartige
Bastarde gibt es nicht. Bei dem Interesse, welches
gegenwärtig der Vererbungswissenschaft entgegen-
gebracht wird, ist das durch eine streng sachliche
und überall klare Darstellungsweise ausgezeichnete
Haeck ersehe Lehrbuch zweifellos sehr am Platze.
R. Heymons.
Volk, Prof. Karl G., Geologisches Wander-
buch. Eine Einführung in die Geologie an
Bildern deutscher Charakterlandschaften. Teil I.
2. Aufl. 264 S., 201 Abb., 1 Taf. Teubners
Naturwiss. Bibliothek H. 6. Berlin und Leipzig
1921. Geb. 36 M.
Das Werk, dessen 2. Teil gleichfalls bereits
erschien, ist mit Recht verbreitet genug, um keiner
langen Wiedergabe des Inhalts zu bedürfen. Es
wendet sich an reifere Schüler, ist aber auch bei
Studierenden wegen der wissenschaftlichen Zuver-
lässigkeit des Inhalts noch beliebt. Die ausge-
zeichnete Ausstattung, wobei besonders die Aus-
wahl der Illustrationen Zustimmung verdient, trägt
das Ihrige dazu bei. Sodann aber der warm-
herzige Anschluß an die deutsche Heimat, der
frisch-fröhliche, gesunde Ton des begeisterten
Wanderers, der seit jeher ein Geselle auch des
Humors ist.
Eine Fülle von Wissensstoff in leicht zugäng-
licher, den Boden des Echtwissenschaftlichen nie
ganz verlassender Zubereitung wird im Plaudertone
dargebracht. Der Hauptwert aber liegt in der
Methode: der Wissensstoff ist nur Stufe zur Bil-
dung des ganzen Menschen, nicht Selbstzweck,
der im „Überhören" mündet. Des jungen Men-
schen Seele soll empfänghch, ja durstig gemacht
werden in bezug auf die Natur unserer schönen
deutschen Landschaft und das, was sie dem zu
sagen weiß, der ihre Sprache erlernte. Nicht
totes Wissen, sondern Schauen, fröhlich Schauen,
Trinken was die Wimper hält, darauf ist das ganze
Buch abgestellt und solchen Jugendlehrern wollen
wir dankbar sein!
Gegenüber der ersten bewährten Auflage
konnten sich die Ergänzungen in bescheidenen
Grenzen halten. Sie gehen auf Abrundung aus
und halten an der induktiven Art der Einführung
in Probleme von allgemeiner Bedeutung fest.
Hennig.
Wenz, Dr. W., Das Mainzer Becken und
seine Randgebiete (zwischen Hunsrück,
Taunus, Vogelsberg, Spessart, Odenwald). 350 S.
mit 518 Abb., 41 Tafeln. Heidelberg 1921,
Ehrig. Geh. 50 M., geb. 60 M.
Ders. , Geologischer Exkursions führer
durch das Mainzer Becken und seine
Randgebiete. 1 36 S. mit 30 Abb., 6 Tafeln.
Ebenda 1921. Kart. 16 M.
Als offenbaren Niederschlag einer sehr liebe-
vollen und langjährigen Beschäftigung mit einem
in Kürze und vorübergehender Neigung nun ein-
mal nicht zu bewältigenden Stoff bietet der Verf.
in Anlehnung an eine Vortragsreihe eine ein-
gehende Darstellung des Mainzer Beckens, wobei
mit voller Absicht und mit gutem Recht das
Schwergewicht auf das Tertiär gelegt ist. Nicht
weniger als 59 Seiten umfaßt für dies historisch
wichtige, zeitlich und räumlich aber enge Spezial-
gebiet der Aufzählung des Schrifttums und der
Karten 1 Die Behandlung ist umfassend und klar,
auch dem Nichtgeologen zugänglich. Besondere
Sorgfalt ist auch auf die Veranschaulichung des
Stoffes verwendet. Sämtliche Profile, Kärtchen,
Fossilwiedergaben sind selbst gezeichnet (nur der
N. F. XXI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
31
üreikanter, Fig. 38, erscheint mißglückt). Be-
sonders eine Reihe paläogeographischer Kärtchen
müssen auch dem Fachmann willkommen sein.
Außerordentlich eingehend sind die Fossillisten.
Dem Sammlerliebhaber kommt das Werkchen vor
allem entgegen, leitet ihn aber zugleich an, nicht
Fossilien zu sammeln, wie man Briefmarken
sammelt, sondern darüber hinaus den Zusammen-
hängen der Erscheinungen nachzugehen.
Der geologische Führer ist praktischerweise
abgetrennt worden, um dort nicht den Umfang
zu überlasten, selbst handlich zu bleiben. Alles
ist auch im kleinsten praktisch angefaßt und jedem
möglichen Bedürfnis in glücklichster Weise ent-
sprochen. Zuverlässigkeit in allen Angaben steht
bei dem Verf. außer Frage. E. Hennig.
Theimer, V., Praktische Astronomie, geo-
graphische Ortsbestimmungen und
Zeitbestimmungen. Teubners Technische
Leitfäden Bd. 13. 127 S. mit 62 Fig. Leipzig,
Berlin 1921. Kart. 20 M.
Das Buch ist besonders den Bedürfnissen der
Studierenden technischer Berufe angepaßt, die
nur ein gewisses Kapitel der Astronomie sich an-
eignen wollen, und darum hier alles vollständig
beisammen finden. Von den Grundbegriffen und
der Ableitung der Kepl ersehen Gesetze aus-
gehend, werden die Koordinatensysteme und deren
Umwandlung ineinander abgeleitet, dann die Kor-
rektionen der Ablesungen der Kreise der Libellen,
die Instrumentalfehler und die Einflüsse von Re-
fraktion, Parallaxe und Radius der Gestirne, so
daß nach Berücksichtigung dieser Größen die Be-
stimmung des Meridians und der Zeit nach ver-
schiedenen Methoden stattfinden kann. Die so
erhaltenen Ergebnisse werden dann zur geogra-
phischen Zeit- und Längenbestimmung verwendet,
wie sie für geodätische und Vermessungszwecke
notwendig ist. Die Beweisführung und Beschrei-
bung der Methoden ist knapp und klar, das Werk
ein willkommenes Handbuch für den beabsichtigten
Zweck. Riem.
Planck, M., Vorlesungen über Thermo-
dynamik. 6. Aufl. 292 S. mit 5 Fig. im
Text. Berlin und Leipzig 1921, Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger. Geb. 45 M.
Das Planck sehe Werk ist für das Studium
der Thermodynamik bis heute von so fundamen-
taler Bedeutung, daß das Erscheinen dieser Neu-
auflage zweifellos starkem Bedürfnis entspricht.
Es will die Theorie der Wärme nicht erschöpfend
behandeln, sondern zeigen, in welchem Umfang
die thermodynamische Kenntnis aus den Gebieten
der Physik und physikalischen Chemie auf der
rein energetischen Grundlage der beiden Haupt-
sätze entwickelt werden kann. Wo ihre Konse-
quenzen nicht ausreichen, wird das Nernstsche
Wärmetheorem eingeführt. Molekularkinetische
und quantentheoretische Betrachtungen aber blei-
ben ausgeschlossen. Unter den Ergänzungen,
welche die neue Auflage erfahren hat, ist im
wesentlichen eine Theorie der Gefrierpunktsernie-
drigung starker Elektrolyte und die Debyesche
Zustandsgieichung fester Körper hervorzuheben.
Hingewiesen sei noch besonders auf die bei größter
Reichhaltigkeit des Inhalts durchweg klare, leicht-
faßliche Darstellung, die lediglich Vertrautheit
mit den Elementen der Physik und Chemie und
der Differential- und Integralrechnung voraussetzt.
A. Becker.
Ludewig, P., Radioaktivität. 317. Bänd-
chen der „Sammlung Göschen". 133 Seiten
mit 37 Abbildungen. Berlin und Leipzig 1921,
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. Geh.
4,20 M.
Das vorliegende Bändchen ist als vortreftliche
Einführung in das Erscheinungsgebiet der Radio-
aktivität und in eine Reihe damit zusammen-
hängender Fragen von allgemeinerer Bedeutung
allen am Fortschritt der neueren physikalischen
Forschung interessierten Lesern angelegentlich zu
empfehlen. In kurzen Zügen gibt es zunächst
einen klaren Einblick in die gegenwärtige Kennt-
nis vom Bau der Atome, dem Atomzerfall und
der im periodischen System enthaltenen gesetz-
mäßigen Beziehungen der Elemente zueinander.
Im folgenden wendet es sich dann den speziellen
physikalischen Eigenschaften der radioaktiven
Strahlen und den Grundlagen und der praktischen
Ausführungsweise aller wesentlich in Betracht
kommenden radioaktiven Messungen zu. Daß die
Betrachtung hier nicht erschöpfend sein konnte,
ist bei der Kürze der Darstellung selbstverständ-
lich. Von besonderem Interesse ist das der An-
wendung der radioaktiven Stoffe in der Medizin
gewidmete Schlußkapitel. A. Becker.
Lehner, Alfons, Tafeln zum Bestimmen
der Mineralien mittels äußererKenn-
zeichen. 72 S. Berlin und Leipzig 192 1,
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. Walter
de Gruyter u. Co. Preis geh. 10 M.
Die Tabellen geben in der üblichen Reihen-
folge für metallisch glänzende und nichtmetallisch
glänzende Mineralien von farbigem oder weißem
Strich die notwendigen Daten zur Bestimmung.
Soweit durch Proben festgestellt wurde, ist die
gleiche Vollständigkeit wie in den bekannten
Tabellen von Weisbach-Kolbeck nicht ganz
erreicht worden. Auch die dort angenehm emp-
fundene Hervorhebung seltener, häufigerer und
sehr häufiger Mineralien durch verschieden star-
ken Druck wäre zu empfehlen gewesen. Die bei
den einzelnen Gruppen angehängten sehr spär-
lichen Angaben über zugehörige seltenere Mine-
ralien sind für die Zwecke einer Bestimmung
wertlos. Bei geringeren Ansprüchen an Voll-
ständigkeit werden die Tabellen aber, zumal in-
folge ihres billigeren Preises, genügen können.
Spangenberg.
32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2
Anregungen und Antworten.
Die Ameisenhöcker auf den Grettsladter Wiesen. Die
Gretlstadter Wiesen, jenes südlich von Schweinfurt zwischen
Schwebheim und Sulzbeim gelegene, in einer Ausdehnung von
ungefähr 6 km Länge und 2,5 km Breite sich hinziehende
Moorgebiet, gehören zu der dem Stcigerwald vorgelagerten
Senkung, die wahrscheinlich dadurch entstand, daß dieser Teil
des schwäbisch-tränkischen Muschelkalkplateaus abbrach und
in die Tiefe sank. So bildete sich zwischen dem Steigerwald
und den Honen nördlich des Mains ein weites Becken, dessen
Wasser sich allmäblich nach Westen uod Südwesten einen
.■\blluB schafften. Durch das Wegspülen der Gips-, Mergel-
und Kalkbchichten bildeten sich flache Mulden, in denen das
Wasser stehen blieb; kleine Seen, Sümpte und Moore zeugen
heute noch von diesen Voigangen.
Von den Schichten der Triasformation, zu der Unter-
franken gehört, ist es der Keuper, der an dem Aufbau der
Gegend hauptsächlich beteiligt ist und zwar die Lettenkohle,
deren gelbgrauer und gelbbrauner Dolomit am Unter^pies-
heimer Weg zurzeit wieder gebrochen wird, und der Gips-
keuper, der ihm aufgelagert ist und besonders bei Sulzheim
(Gipshügel und Gipstjruch) zutage tritt.
Die eigentliche Torfscbicht ist meist überdeckt von einer
30 — 40 cm dicken Humuslage, unter welcher der Torf an
manchen Stellen bis 2 m hinabreicht. Weiter nach unten
folgen gewöhnlich starke Lagen eines feinen, mit Millionen
kleiner Schneckenhäuser durchsetzten Sandes, durch den sich
weiflgraue Mergel- und Tonschichien ziehen, woraus sich das
Stagnieren des Wassers zur Genüge erklärt.
Seit Jahrhunderten ist dieses Gebiet bei den Floristen
Deutschlands als Fuodstätte seltener Pflanzen bekannt. Nicht
minder Interessantes bietet sie den Faunisten, und es wäre
wohl an der Zeit, dafi von diesen eine systematische Durch-
forschung der Gegend erfolgte.
Zu den augenfälligsten Erscheinungen auf dem Gebiet
gehören die Ameisenhocker, die zwischen dem alten und
neuen Unkenbachbctt am östlichen Rande des Riedholzes
sich fiaden m nächster Nähe jener Tümpel, die durch das
Vorkommen verschiedener Charaarten und als Standoit von
Cladium mariscus bekannt sind, infolge der Regulierung des
Unkenbachs jetzt aber austrocknen.
Auf dieser ungefähr 150 m langen, 130 m breiten, etwas
höher als die Umgebung gelegenen und darum tiockenen
Stelle erheben sicti Hunderle von ca. 30 — 40 cm hoben
Ameisenhügeln, oft dicht beisammenstehend, manchmal auch
l'/s — 2 m voneinander entfernt.
Gebildet werden sie alle von staubfeinem, dunkelge-
{arbtem Sand ; als Bewohner konnte ich ausschließlich Lasius
flavus feststellen. Zahlreiche bleistift- und kleinlingerdicke
Gänge durchziehen die Hügel, in denen ich bei meinem
letzten Besuche anfangs September dieses Jahres neben ziem-
lich vielen Weibchen noch einige geflügelte Männchen und
Eier, Nymphen und Puppen fand, letztere in geringer Anzahl.
An Bäumen erheben sich auf dem Platze nur eine fast
armdicke Kiefer von etwas über 2 m Höhe und am Süd-
und Westrande einige Birken und Eichen. (Das anstoßende
Riedholz weist neben zahlreichen Stiäuchern in der Haupt-
sache Kiefern und Eichen auf.) Zwischen den Hockern
wachsen einige hundert Faulbaumsträucher (Frangula alnus)
von verschiedener Höhe und Stärke, kleine Büsche unter I m
und gröfiere bis 1 m hoch.
An sonstigen Pflanzen stellte ich fest: Euphorbia Gerar-
diana, Reseda luteola, Ononis spinosa, Jasione montana, Ga-
lium boreale, Achillea millefolia, Scabiosa columbaria, Poten-
tilla tormentilla.
Auf dsn Höckern selbst wachsen: Galium boreale, Gali-
um verum, Asperula cynanchica, Campanula rotundifolia,
Thymus serpyllum.
Leider ist auch dieses Gebiet — wie der Bestand der
Grettstadter Wiesen überhaupt — durch die immer näher
heranrückende Kultivierung bedroht. Jahr für Jahr werden
neue Machen dem Ackerbau dienstbar gemacht und durch die
Tieferlegung und Regulierung des Unkenbachs wird die Zer-
störung dieses in Franken einzigartigen Moorgebietes und
seine Umwandlung in Wiesen- und Ackerland immer mehr
beschleunigt. Oberlehrer A. Jackel, Schweinfurt.
Zu: Heikertingers Täuschende .Ähnlichkeit mit Wes-
pen und Bienen (SphekoidieJ in Nr. 41, 20. Jabrg. mocme ich
folgendes bemerken: Es ist merkwürdig, wie verschieden doch
die üntersuchungsergebnisse jeweilig ausfallen. Ich habe im
August 1894 '™ freien Versuche angestellt mit fast erwachsenen
Kreuzspinnen (Araneus diadematus), denen ich Eristalis tenax,
die große braune bchlammfliege, ins Netz warf. Die Versuchs-
spinnen waren sehr lebhaft und höchst gefräßig — sie standen
dicht vor der Keile und waren einfach unersättlich. Sie
fraßen an Fliegen und Schmetterlingen, was ihnen nur ins
Netz kam, hungrig Tag und Nacht, und stürzten sich mit
Leidenschaft auf ihre Beutetiere. Als ich einer Spinne aber
eine Scdlammfliege ins Netz gab, änderte sich ihr Benebraen
beträchtlich. Sie stürzte zwar wie immer, so auch aut jetzi
die Pseudobienendrohne los — aber kurz vor ihr stoppte sie,
zuckte eine kleine W^eile an den nächsten Netziäden und stieß
die Spitzen ihrer Vorderbeine nach der verdächtigen Beute.
Erst aann begann sie in der Tat auch die Eristalis einzu-
wickeln, aber sehr respekivoU : mit hochgestellten Beinen und
den Rumpf in Beinlänge, also etwa I cm Eutlernung haltend,
umspann sie mit einem breiten Gespinstband das gefährliche
Kerl, wickelte es dicker ein als sie es mit anderer Beute
machte; und dann erst brachte sie der Wehrlosen den ersten
Biß bei. Ich habe das grausame Experiment — ich war da-
mals sehr jung — an mehreren Tagen vielleicht ein dutzend-
mal wiederholt mit mehreren Spinnen — sie verhielten sich
alle und immer gleich.
Nach meiner Meinung kann man diese Beobachtungen
nur so deuten : Die Bienenähnlichkeit der Schlammfliege — ihr
Aussehen, ihr Gebrumm, ihr ungebärdiges Rütteln im Netz —
kam den Kreuzspinnen irgendwie zum Bewußtsein; sie zögeiten
beim Überfall, und eine mit voller Wucht in ein Spinnennetz
prallende Eristalis würde voraussichtlich durch diese Bienen-
ähnlichkeit und das Stutzen der Angreiferin Zeit gewinnen,
sich aus dem Netz zu befreien.
Dagegen kann ich Herrn H eike rting er bestätigen, daß
Wespen für Radspinnen gefährlich werden können. Unter
einem Fenstersims an der Außenwand eines Hauses befand
sich das Netz einer Meta merianae. Eine Arbeiterin von
Vespa vulgaris, die die Hauswand nach Fliegen absuchte,
geriet in das Netz hinein. Sie gebärdete sich sogleich wie
rasend, strampelte und schnappte um sich und schnitt der
unvorsichtig zufahrenden Spinne mit einem Biß 3 Beine und
einen Taster ab. Einen Augenblick später war sie frei.
Ich habe die Eristalisbeobachtung seinerzeit veröffentlicht
in der längst eingegangenen Zeitschrift ,, Natur und Haus",
Jahrg. 1S95; daher ist mir die Sache so gut in Erinnerung.
D. Stadler (Lohr).
Inhalt: W. A. Collier, Idiosynkrasie und Anaphylaxie. S. 17. K. Vogt her r. Über F'ragen der Aberration und Licht-
ausbreitung. S. 20. — EiDzelbeiichte: Freundlich, Der sogenannte Einsteinturm der Potsdamer Sternwarte. S. 25.
P. Sud eck, Basedowsche Krankheit und innere Sekretion. S. 25. B. Romeis, Thymusdrüse und Wachstum. S. 26.
G. A. Hüllet und O. Nelson, Die chemische Natur der Grap'bitsäure. S. 27. Cl.v. Thaden, Künstliche Beleuch-
tung zur Förderung der Kükenaufzucht. S. 27. Groß mann. Die Bewegung des Mcrkurperihels. S. 28. — Bücher-
besprecbungen E. Gehrcke, Pbysik und Erkenntnistheorie. S. 28. R. H. F r a n c e , Süd Bayern. S. 29. V. H a e c k e r ,
Allgememe Vererbungslehre. S. 30. K. G. Volk, Geologisches Wanderbuch. S. 30. W. Wenz, Das Mainzer Becken
und seine Randgebirge. Ders, Geologischer Exkursionsführer durch das Mainzer Becken uud seine Randgebiete. S. 30.
V. The im er, Praktische Astronomie, geographische Ortsbestimmungen und Zeitbestimmungen. S. 31. M. Planck,
Vorlesungen über Thermodynamik. S. 31. P. Ludewig, Radioakiivität. S. 31. A. Lehner, Tatein zum Bestimmen
der Mineralien mittels äußerer Kennzeichen. 8.31. — Anregungen und Antworten: Die Ameisenhöcker auf den Grett-
stadter Wiesen. S. 32. Täuschende Ähnlichkeil mit Wespen und Bienen. S. 32.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band:
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 15. Januar 1922.
Nummer 3.
Zur Kenntnis des Dickenwachstums der Opuntien.
Von Karl Reiche.
[Nachdruck verboten.]
Mit 7 Textabbildungen.
Die Umgebung der Hauptstadt Mexicos ist
reich an Kakteen und besonders an Opuntien, —
nur daß leider die Unterscheidung, zumal der
flachsprossigen Arten, noch große Schwierigkeiten
bietet. Mit den Vorstudien zu meiner Vegetations-
skizze der Hochebene von Mexico beschäftigt,
wurde meine Aufmerksamkeit natürlich auch auf
diese physiognomisch bedeutsame Gruppe gelenkt ;
und da in der mir zur Verfügung stehenden ziem-
lich reichhaltigen Literatur eingehendere Aufgaben
über die nachträgliche Verdickung von Stämmen
und Wurzeln dieser Kakteen fehlten, so habe ich
versucht, einige Beobachtungen über diese mir
interessant erscheinenden Verhältnisse anzustellen.
Ich glaubte mich um so mehr dazu veranlaßt, als
man in Europa wohl schwerlich dickstämmige,
vielleicht hundertjährige 0/?/w//«-Bäume, falls sie
überhaupt existieren, dem Messer des Anatomen
opfern würde. Neben Opiintia sollen gelegentlich
auch andere Kakteen zum Vergleich herangezogen
werden. —
Hinsichtlich der Methodik der Untersuchung
schicke ich voraus , daß ich zur Feststellung der
gröberen Anatomie von der Mazeration in Wasser
einen weitgehenden Gebrauch gemacht habe.
Man erhält auf diese Weise von den Holzkörpern
der Stämme und Wurzeln sehr anschauliche, jedem
Museum zur Zierde gereichende Skelette (vgl.
Abb. 5). Dieses Verfahren war durch die zahl-
reichen ausgefaulten Stammstücke nahegelegt,
welche man in der Steppe findet. Sofern es sich
um Herstellung mikroskopischer Präparate handelt,
ist es empfehlenswert, nur Material zu schneiden,
welches gänzlich von Alkohol durchtränkt ist;
sonst hat man, sobald man die Schnitte mit
Wasser oder wässerigen Lösungen in Berührung
bringt, von den unglaublichen Schleimmengen
aller Gewebe mancherlei Unbequemlichkeiten zu
leiden; übrigens scheinen die Opuntien weit reicher
an Schleim als andere Kakteen. Schneidet man
einen ausgewachsenen, aber noch nicht verholzten
Flachsproß durch, so quillt eine beträchtliche
Menge Schleim heraus ; er wird aus den Schleim-
lücken in dicken, wurstförmigen Massen entleert,
steht also unter einem gewaltigen, von dem um-
gebenden Parenchym ausgeübten Druck.
Das untersuchte Material läßt sich nach seinen
Wuchsverhältnissen in drei Gruppen bringen ;
I. niedrige, rasen- oder herdenweis wachsende
Arten mit eiförmig- zylindrischen, weichen Körpern ;
Typus: Opiintia funicata Lk. et Otto; 2. hoch-
wüchsige Arten mit zylindrischen, deutlich ver-
holzenden Stämmen; Typus: O. imbricaia DC;
3. dickstämmige Bäume mit runder Krone, deren
jüngere Sprosse flach sind ; Typus : O. toincntosa
S.-D. Von ihnen stehen in anatomischer Bezie-
hung die beiden ersten einander näher als dem
dritten.
Die nachfolgende Darstellung gliedert sich in
drei Teile: zunächst ist die ursprüngliche Be-
schaffenheit und Lagerung der an der späteren
Dickenzunahme beteiligten Gewebe zu verzeichnen;
alsdann ist ihre durch das Dickenwachstum be-
dingte Veränderung zu schildern; daran sollen
sich einige allgemeine Bemerkungen über den
Aufbau des Skelettes der Kakteen schließen.
I. Der Bau des Stammes und der Wurzel
von Opuntia vor dem Dickenwachstum.
A. Der Stamm. Als gemeinsamer Zug im
inneren Aufbau ist festzustellen das Vorhandensein
von stammeigenen , ein regelmäßiges Maschen-
werk bildenden Gefäßbündeln und von unregel-
mäßig anastomosierenden
Blattspursträngen, welch letz-
tere von den Areolen zu
den stammeigenen Bündeln
sich erstrecken. In den
jungen, noch zylindrischen
und in den älteren, flachen
Sprossen von O. loviciitosa
liegen die Blattspursysteme
in der Ebene der stamm-
eigenen Stränge; in den
mit hervorragenden Warzen
ausgestatteten Gliedern von
O. tiiuicata und O. imbricaia
bildet die Gesamtheit der
Blattspuren, welche zu einer
Areole gehören, den Mantel
eines schiefen Kegels, dessen
etwas abgestumpfte Spitze
in der Areole, dessen Basis
am Innenrande der Masche
des stammeigenen Systems
gelegen ist, über welche jene areolentragende
Warze sich erhebt (Abb. i). An den Ein-
schnürungen, welche die Glieder voneinander
trennen, bilden die Bündel ein dichtes Geflecht;
das ist selbstverständlich, insofern der Tochter-
sproß von einer räumlich sehr beschränkten Stelle
des Muttersprosses seinen Ursprung nahm.
Betrachten wir zunächst a) die Arten mit zy-
lindrischen Stämmen, so ergibt der Querschnitt
Abb. I.
Stücl< des Holzkörpers
von Opuntia imbricaia^
die Lage der Areolen
und das Maschenwerk
zeigend.
34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
durch ein Glied, in der Höhe einer Areole aus-
geführt, das folgende Bild: Die dicken, stamm-
eigenen Stränge sind nach Dikotylenart in einen
Kreis gestellt, während die dünnen, zahlreichen
Blattspurstränge der in ihrer Areole getroffenen
Warze parallel mit deren Umrißlinie angeordnet
und, ihrer geneigten Richtung zufolge, + schief
durchschnitten sind. Die stammeigenen Bündel
besitzen rindenwärts eine schwache Bastzell-
gruppe, dann Phloem , Kambium und einen
Xylemteil, der aus engen Schraubengefäßen und
Vasalparenchym besteht; ihm schließen sich mark-
wärts jene eigentümlichen, seit Seh leiden be-
kannten , spindelförmigen Elemente an , welche
dünne, unverholzte Membranen und ringförmige,
stark nach der Mitte vorspringende (manchmal
auch Schraubenbänder von '/a bis i Umgang
bildende) und schwach verholzte Verdickungs-
leisten besitzen, und in Anlehnung an den
S c h 1 e i d e n sehen Ausdruck „Spiralfaserzellen"
hier als „Spiraltracheiden" bezeichnet werden
mögen. Von der Seite betrachtet, sehen sie den
zu Illuminationszwecken benutzten „chinesischen
Papierlaternen" nicht unähnlich. Außerdem findet
sich an den Seiten und dem ins Mark vorspringen-
den Ende des Xylems reichliches und typisches
Collenchym, dessen weit nach dem Innern des
Sprosses vorgeschobene Lagerung von dem son-
stigen peripherischen Vorkommen dieses Gewebes
abweicht. Die warzenständigen Blattspurstränge
sind weit einfacher gebaut; sie entbehren zumal
des Kambiums, der Spiraltracheiden und des Collen-
chyms.
b) Von den später flachsprossig werdenden
Arten standen mehrere Keimlinge der O. touientosa
(oder einer verwandten Art) zur Verfügung. Ihre
Keimblätter waren, beiläufig bemerkt, oft ungleich
lang. Das hypokotyle Glied zeigt im Querschnitte
einen merklich zentral gelegenen Strang, der sich
aus 4, um ein schwach entwickeltes Mark ge-
legenen Bändeln aufbaut. Von ihnen gehen 2
in die Keimblätter ab, die anderen beiden ver-
zweigen sich unmittelbar bei ihrem Eintritt in
das Stämmchen. Dieses ist hier, und ganz allge-
mein bei den flachsprossigen Arten zylindrisch
geformt und besitzt schwach hervorragende,
areolentragende Warzen; die in einen Kreis ge-
stellten Bündel enthalten im Xylem, neben den
Schraubengefäßen, auch einige Spiraltracheiden,
im Widerspruch zu den Eiteraturangaben, ') wo-
nach sie den flachsprossigen Opuntien fehlen
sollen. Das ist allerdings auch hier insofern rieh
tig, als sie eben in der noch zylindrischen, jugend-
lichen Pflanze auftreten, aber bereits im nächst-
folgenden, schon sich abflachenden Sprosse nicht
mehr gebildet werden. Aus dem Vorstehenden
erklärt sich die Tatsache, daß man gelegentlich
in der Markkrone am Grunde älterer Stämme
noch Spiraltracheiden findet. — Der Übergang vom
zylindrischen zum flachen Sproß gibt sich durch
') Solercdcr, H., System. Anat. der Dikotylen, S. 463.
den zunehmenden Horizontalabstand der in glei-
cher Höhe liegenden Areolen kund; er betrug
beispielsweise im zylindrischen Teil $ mm; aber
2 cm höher, im abgeflachten Teil, bereits 8 mm;
und mit dieser äußerlich meßbaren Entfernung
der Areolen geht im Innern eine Zunahme der
Bündel Hand in Hand; einem Areolenabstand
von 5 mm entsprechen auf dem Querschnitt 6,
einem solchen von 9 mm aber 13 Bündel; diese
Vermehrung ist bedingt durch die neu einge-
schalteten Anastomosen. —
Die Oberfläche des Sprosses, der Schauplatz
der späteren ausgiebigen Peridermentwicklung,
wird bedeckt von einer einschichtigen Epidermis
mit sehr stark verdickten Außenwänden; darauf
folgt ein I — 2 Lagen mächtiges Hypoderm und
alsdann die bekannte kristallführende Schicht,
welche in ihrer Gesamtheit einen von kristall-
freien Gewebestreifen unterbrochenen Steinmantel
darstellt, der den Sproß umgibt. Die hier be-
findlichen Kristallaggregate weichen von den
im Grundparenchym enthaltenen dadurch ab, daß
sie nicht die geläufige Morgensternform haben,
sondern radialgestreifte Kugeln (Sphärokristalle)
mit glatter Oberfläche darstelle«. Sie sind außer-
ordentlich hart, so daß das Messer bei Anfertigen
der Präparate knirscht; auch sind sie in Kalilauge
und in Mineralsäuren so langsam zersetzbar, daß
ich an ihrem Bestände aus Kalziumoxalat irre
wurde und sie für Silikate zu halten geneigt war,
bis ich beim Durchmustern älterer Präparate, die
mit schwefelsäurehaltigem Anilinsulfat behandelt
waren, den Zerfall jener Drusen in Gipsnadeln
bemerkte. Unter jener kristallführenden Schicht
breitet sich schließlich der Mantel aus unregel-
mäßigem Collenchym aus, der hier und da von
den schlotartigen Kanälen senkrecht durchbrochen
wird, welche die Spaltöffnungen mit dem Assi-
milationsgewebe in Verbindung setzen.
B. Die Wurzel. Die untersuchten Wurzeln
sind von typischem Bau, mit reichlicher Entwick-
lung des Parenchyms. Das zentrale Gefaßbündel
ist tetrarch bis hexarch. Spiraltracheiden wurden
niemals beobachtet.
II. Nach dem Dicken Wachstum.
Wie bereits von allen Autoren festgestellt ist,
wird die Volumenzunahme der Stämme großen-
teils, wie bei fleischigen Pflanzen überhaupt, durch
eine beträchtliche Vermehrung des (hier glykose-
reichen) Grundparenchyms bedingt. Von histo-
logisch wesentlicherem Interesse ist das vom
Kambium aus unternommene Dickenwachstum.
Nach Schumann ^) setzt dieser Vorgang erst
nach Jahren ein : „bei den meisten Arten währt
es sehr lange Zeit, ehe die gesonderten Stränge
durch Interfaszikularbündel geschlossen werden
und es zur Bildung eines zusammenhängenden
Verdickungsringes kommt." Ich kann diese Mei-
nung für die untersuchten Opuntien nicht be-
') Natürl. Pflanzenfam. III 6a, S. IU5.
N. F. XXI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
35
stätigen ; die Schumann sehen Angaben beziehen
sich wohl auf das Verhalten kultivierter Exem-
plare, wie denn überhaupt den sorgfältigen Kakteen-
arbeiten dieses Verf.s (auch in der Systematik
der Kakteen) ein Teil ihres Wertes durch die
notgedrungene Beschränkung auf Gartenmaterial
genommen wird. — Wie im vorigen Abschnitte,
mögen zunächst O. tunicata und 0. imbricata
einerseits, und alsdann O. tomciüosa andererseits
betrachtet werden. Bei jenen ist folgendes Ver-
halten zu beobachten: Neben den stammeigenen,
das mehrfach erwähnte Maschensystem bildenden
Strängen entstehen im Grundparenchym neue,
mit ihnen parallellaufende, bzw. mit ihnen anasto-
mosierende Bündel, die mit jenen durch Inter-
faszikularkambium in Verbindung treten; damit
wird zunächst ein in tangentialer Richtung ver-
breiterter Strangkomplex geschaffen, der alsdann,
durch -die kambiale Tätigkeit, auch in radialer
Richtung verdickt wird. Für O. tunicata im be-
sonderen gestalten sich die weiteren Verhältnisse
folgendermaßen (Abb. 2): Das Kambium scheidet
nach innen zu enge Schraubengefäße, weitere
bedingt, daß das Kambium abscheidet i. dick-
wandige, sehr stark verholzte, mit schiefen Spalten-
tüpfeln versehene Holzfasern ; 2. kurzgliedrige, an
Trachelden erinnernde Gefäße mit eiförmiger Per
foration und breiten, quergestellten Tüpfeln, mi
allen Übergängen vom einfachen zum Hoftüpfel
diese Gefäße sind von verschiedener Weite
3. spärliches Vasalparenchym und 4. Spiral
tracheiden, diese wiederum nach dem IVIarke zu
gelegen. Der Zusammenschluß zwischen den
einzelnen Bündeln wird durch schmale und breite,
verholzte oder streckenweis unverholzte IVlark-
strahlen, deren Zellen stark getüpfelt sind, ver-
mittelt. So entstehen im Querschnitt trapez-
förmige oder dreieckige Stränge von außerordent-
licher, an Knochen erinnernder Härte und von
1,5 — 2 cm Dicke. Ihre Außenseite ist leicht
längsgefurcht, weil die Markstrahlen nach außen
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Abb. 2. Querschnitt aus einem mehrjährigen Holzstrange von
0. Iiiiiirata. Der Pfeil weist auf die Spiraltracheiden hin.
Netzgefäße (bzw. eine Übergangsform zwischen
beiden, insofern sich die Schraubenbänder gabeln),
Vasalparenchym und Spiraltracheiden ab, letztere
zumal nach dem Marke hin. Zwischen den ein-
zelnen, demselben Strang zugehörigen Bündeln
bleiben breite, unverholzte Markstrahlen offen.
Wie man sieht, ist der gesamte Strang von lockerer,
und bei der Menge parenchymatischen Gewebes
von weicher Beschaffenheit. Demgegenüber
weist O. imbricata ein weit festeres Strangsystem
auf (Abb. 3). Diese größere Festigkeit ist dadurch
Abb. 3. Querschnitt aus einem älteren Skelettstrang von
O. imbricata; A. nach der Rinde, B. nach dem Marke zu. In
letzterer Figur sind am Innenrande des Stranges Spiraltracheiden
und Collenchymfasern zu sehen.
weniger vorspringen, als die Holzteile; ihre Innen-
seite ist stark und unregelmäßig gebuchtet, weil
die markwärts gelegenen Anteile der primitiven
Bündel weit mehr vorspringen, als die sekundären
Erzeugnisse des Kambiums. —
Die im Vorstehenden angeführten Gewebe sind
in den Holzsträngen in einer vom Alter des Indi-
viduums und von der Jahreszeit abhängigen Weise
verteilt. Nur in der Jugend gebildete und daher
im erwachsenen Stamme ausschließlich in der
Markkrone befindliche Elemente sind, wie im
vorigen Abschnitte bereits ausgeführt wurde, die
engen Schraubengefaße, Collenchymzellen und die
Spiraltracheiden. Die Verteilung der übrigen
36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
Elemente erfolgt in Abhängigkeit von der Jahres-
zeit, bedingt also die Entstehung der Zuwachs-
zonen. Von ihnen wurden auf dem dreieckigen
Querschnitt eines Holzstranges von 2 cm Dicke
etwa 15 — 16 von verschiedener Deutlichkeit ge-
zählt; doch kommt auch die Einschiebung breiter,
tangentialer Parenchymstreifen vor, so daß lokal
die Altersbestimmung eines Sprosses nach der
Zahl der Jahresringe unsicher werden kann. ') Das
Dickenwachstum beginnt Anfang Mai mit der
Bildung weiter Gefäße, großer Markstrahlzellen,
etwas Vasalparenchym und Libriform ; und schließt
im Dezember mit der Bildung von reichlichen,
aber nicht tangential abgeflachten Nestern engerer
Gefäße und kleineren Markstrahlzellen. Mark-
strahlen, welche die ganze Dicke des Holzstranges
durchlaufen, scheint es nicht zu geben, sondern
nur begrenzte Stücke verschiedener Länge, auf
dem Querschnitte gemessen; und von verschiede-
ner Höhe, auf dem Längsschnitte beobachtet; nach
der Rinde zu vergrößert sich ihre Breite; auch
ist deutlich zu sehen, daß diese Markstrahlstücke
unter sich streckenweise seitlich zusammenhängen.
Der Tangentialschnitt zeigt, wie die Libriform-
zellen und Gefäße bogenförmig um die unregel-
mäßig gestalteten und verschieden mächtigen
Markstrahlinseln herumlaufen. —
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Abb. 4. Querschnitt durch das Periderm eines alten Stammes
von O. imbricata.
Während nun die Dicke des Stammes durch
Vergrößerung des Grundparenchyms und des
Holzkörpers zunimmt, wird seine Außenfläche
durch einen sich erweiternden Peridermmantel
vergrößert (Abb. 4). Zu diesem Zwecke über-
nimmt jene oben erwähnte, zwischen Epidermis
und Kristallschicht gelegene dünne Zellage die
Verrichtung eines Phellogens, welches einseitig
nur nach außen Peridermzellen abscheidet, dabei
selbst aber mehr und mehr in die Tiefe gerät.
Der gesamte Peridermmantel liegt demnach außer-
halb der Kristall- und der unmittelbar an sie an-
schließenden Collenchymschicht, deren kamin-
') De Bary (vgl. Anatomie S. 5 18, 519) stellt das \'or-
handensein von Jahresgrenzen in den Stämmen der CJpunticn
und der Kakteen überhaupt als unsicher hin.
artige Spaltöffnungskanäle selbst noch in alten
Stämmen erhalten bleiben. Durch den zunehmen-
den Rindendruck werden die einzelnen Periderm-
zellen zusammengedrückt und ihre ursprünglich
radialen Reihen unregelmäßig verbogen. Zwischen
sie sind schmale, tangential verlaufende Züge
parallelepipedischer, bis zum Schwinden des Lu-
mens verdickter und stark verholzter Zellen ein-
geschaltet (Trennungsphelloide), längs deren die
alimähliche Abstoßung der ältesten, äußersten
Peridermlagen erfolgt. Da dies in dünnen Platten
vor sich geht, macht die Rinde selbst alter, ge-
legentlich noch Reste der ursprünglichen Stachel-
bündel bewahrender, armstarker Stämme einen
glatten Eindruck. — Besonders erwähnenswert
erschien eine einmal beobachtete Abweichung in
der Lokalisierung der Peridermbildung, insofern
diese nicht, wie eben beschrieben, zwischen Epi-
dermis und Kristallschicht, sondern unterhalb der
CoUenchymlage stattfand, so daß natürlich jene
beiden Schichten im Laufe der Zeit nach außen
abgestoßen werden müssen. Ich kenne keinen
analogen Fall von zwei derartig verschiedenen
Peridermbildungen innerhalb derselben Art.
Das Dickenwachstum der O. toDCiitosa und
anderer, nicht sicher bestimmter, flachsprossiger
Arten spielt sich in folgender, etwas abweichen-
der, Weise ab. Zwischen den ursprünglichen,
stammeigenen und den mit ihnen in einer Ebenen
liegenden dünneren Blattspursträngen, bzw. deren
Anastomosen wird bereits in den noch jugend-
lichen Sprossen ein Interfaszikularkambium ange-
legt; es tritt also das Dickenwachstum von an-
fang an im ganzen Umfang des Flachsprosses und
in einer großen Anzahl von Bündeln in Tätigkeit,
nicht bloß, wie im vorigen F'alle, nur in den pri-
mären, stammeigenen Bündeln und deren nächster
Umgebung. Damit ist aber das Verhalten der
O. tovicnfosa und Verwandten auf das allgemeine
Dikotylenschema zurückgeführt und die noch zu
erwähnenden Eigentümlichkeiten betreffen nur
histologische Einzelheiten. Die in Betracht kom-
menden Zellelemente sind unverholztes und ver-
holztes Parenchym; Tüpfelgefäße in allen Über-
gängen zu Netz- und Treppengefäßen, wobei die
Tüpfel oft leicht behöft sind ; und stark verdicktes
Libriform mit feinen, spaltenförmigen Tüpfeln.
An Menge überwiegt das Parenchym, einmal als
Vasalparenchym, und dann, und zwar ganz be-
sonders, in Form von Markstrahlen, teils schwach
verholzt und getüpfelt, teils unverholzte Inseln in
jenen bildend. Alle diese parenchymatischen
Elemente werden durch eine genügend lange
Mazeration in Wasser zerstört. Bei dieser Ge-
legenheit möchte ich auf eine, an unserer hier in
Mexico geläufigen, aus Eichenholz dargestellten
Holzkohle zu machende Beobachtung hinweisen;
auch in ihr ist das reichlich vorhandene Mark-
strahlgewebe durch das Glühen im Meiler zer-
stört, während die prosenchymatischen Elemente
erhalten bleiben. Es weist dies ebenfalls auf eine
geringere Widerstandskraft und somit auf eine
N. F. XXr. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
37
andere chemische Beschaffenheit der Mari<strahlen
hin.') — Um jenes oft mächtig entwickelte Strang-
parenchym laufen die aus Gefäßen und Libriform
bestehenden Holzgruppen im Bogen herum, der-
gestalt, daß man auf Querschnitten durch den
Opuntiastamm nur einige Holzpartien senkrecht
zur Axe, die anderen aber + tangential durch-
schneidet, und die Lupenvergrößerung des Tan-
gential- und Querschnittes ungefähr dasselbe Bild
gibt. — Die Verteilung der verschiedenen ana-
tomischen Elemente in ihrer Abhängigkeit von
der Jahreszeit, d. h. die Bildung der Zuwachszonen,
ist schwieriger festzustellen als in der O. inibricata-
Gruppe. Zwar werden auch hier zu Beginn der
Vegetationszeit weite Gefäße, umgeben von dünn-
wandigem Vasalparenchym ; und später im Jahr,
außer Gefäßen, Gruppen sehr dickwandigen Libri-
forms gebildet; aber der eben erwähnte schiefe
Verlauf dieser Elemente, die Einschiebung der
Markstrahlen bzw. Markflecken von wechselnder
Breite macht die Ver-
folgung der Jahresgrenzen
über größere Strecken un-
sicher. Da, wie gesagt,
das Parenchym durch
Mazeration leicht zerstört
wird, so erhält man auf
diesem Wege aus den
Stammstücken ein System
umeinander gelegter, ma=
schiger Holzplatten von
verschiedener Dicke, und
von lokal wechselnder
Menge und Weite der
Maschen, wozu natürlich
die Dicke der Holz-
stränge in umgekehr-
tem Verhältnisse steht.
Streckenweise, d. h. auf
der und jener Flanke,
kommen auch fast mas-
sive Holzkörper vor, deren
Ausbildung wohl örtlichen mechanischen Anforde-
rungen der stockwerkartig übereinander stehen^
den Generationen von Flachsprossen und Asten
ihr Dasein verdankt. Bei dem unregelmäßig ge-
wundenen Verlauf der Markstrahlen erklärt es
sich außerdem, daß die Maschen der einen Platte
durchaus nicht immer genau über denen der
anderen liegen, so daß man durch dickere, aus
mehreren Lagen bestehende Skelettstücke in der
Richtung ihrer zerstörten Markstrahlen nicht hin-
durchsehen kann. Die Trennung der aufeinander
liegenden Platten ist auf größere Strecken des-
halb möglich, weil ihre prosenchymatischen Ele-
mente in radialer Richtung mit Ausnahme der
Knoten (d. h. in den Verbindungsstellen der auf-
einander folgenden Flachsprossen) wenig in Ver-
') Auch in den als Braunkohle erhaltenen Dikotylen-
hölzern werden die pareachymatischen Teile vollständiger zer-
setzt als die faserigen (Gothan in Naturw. Wochenschr.
Band 19, 1904, S. 574).
bindung stehen (Abb. 5 A, B). Während man
durch Mazeration des Stammes von O. imbricata
einen einzigen, aus dicken, maschenbildenden
Holzsträngen bestehenden Skelettkörper erhält,
ergeben sich aus dem O. tomciitosa ■ Stamm
(Abb. 5 C, D) mehrere, mit dem Alter des Baumes
an Zahl zunehmende, verschieden dicke und kon-
zentrisch umeinander gelegte Gitterplatten. Der
Skelettkörper der O. imbricata macht mit dem
regelmäßigen Maschensystem seiner Stränge einen
eleganten, der von O. tonieiitosa mit seinen un-
regelmäßigen, lokal eng- oder weitporigen Gitter-
platten einen klobigen Eindruck. Bei der Schwierig-
keit, das Alter solcher Opun tiastämme aus den
Jahresringen zu bestimmen, bleibt nur der Aus-
weg, durch Umfrage bei der Bevölkerung Aus-
kunft zu erhalten. In einem Falle sollten etwa
1,6 — 1,7 m hohe Opuntiabäume gegen 30 Jahre
alt sein; da es sich hier aber um einen durch
Bewässerung und Düngung von der Steppe ver-
Abb. 5. Skelette von Stämmen und Wurzeln. A. von 0. hnbrUata; der Pfeil bezeichnet
die Anschwellung an der unteren Seite der Einfügung des Astes. B. O; imbricata; der
Pfeil bezeichnet eine unregelmäßige Masche infolge von Fäulnis. C. 0. tomentosa. Holz-
körper des jungen Stammes. D. O. toiiientosa. Holzkörper des alten Stammes. E. Holz-
körper der Wurzel.
schiedenen Standort handelte, so scheint mir diese
Mitteilung nicht von besonderem Wert; immer-
hin gestattet sie vielleicht den Schluß, daß die
höchsten, etwa 4 — 5 m erreichenden Opuntia-
bäume wohl hundert und mehr Jahre alt sein
können. Beiläufig gesagt, fehlt es in der Steppe
nicht an jungem Nachwuchs.
Die Korkentwicklung an der Oberfläche des
Stammes geht im wesentlichen wie bei O. imbri-
cata vonstatten. Auch hier sind die zwischen
Epidermis und Kristallschicht eingeschobenen
I — 2 Zellagen der Sitz der Korkbildung, deren
Herd, indem die Abscheidung neuer Periderm-
zellen immer nur nach außen erfolgt, mehr und
mehr nach dem Innern des Stammes zu verlegt
wird. Während aber bei O. imbricata zwischen
die Peridermschichten nur spärliche und jedenfalls
dünne, verholzte Trennungsphelloide eingeschaltet
werden, kommt es hier zur Entwicklung mehr-
facher, mächtiger Holzplatten, gegen welche die
38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
Entwicklung der sie trennenden, verkorkten Peri-
dermlagen stark zurücktritt. So kommt eine
derbe Schuppenborke zustande, auf deren rauher
Oberfläche zahlreiche Flechten und epiphytische
Tillandsien, zumal T. rccurvata, sich ansiedeln. —
Die tangentiale Spannung, welche die sich ver-
dickenden Sprosse von O. inibricata und O. to-
mmtosa erfahren, scheint keine bedeutende zu
sein, da Längsschnitte, welche das Rindengewebe
der lebenden Pflanze durchtrennen, zunächst nicht
klaffen; späterhin treten die Wundränder natür-
lich auseinander, in dem Maße, als sie aus-
trocknen.
Das Dickenwachstum der Wurzeln bietet wenig
bemerkenswertes. Sie erreichen bei O. imhricata
Daumenstärke, bei den hohen, flachsprossigen
Opuntien die doppelte Dicke. IMit dem Holz-
körper der Stämme stimmen sie im maschigen
Bau überein, doch sind die Maschen hier viel
enger, da ja hier jede Bezugnahme auf die Blatt-
insertionen wegfällt (Abb. 5 E). Der Bau des
Holzkörpers wird von außen nach innen dichter,
insofern die Markstrahlen mehr und mehr an
Menge zurücktreten und ein zentrales Mark über-
haupt nicht vorhanden ist. Als Transpirations-
schutz der oberflächlich streichenden Wurzeln ist
ein stark verholzter Peridermmantel vorhanden.
Die Holzmasse besteht aus schief getüpfelten
Libriformfasern und sehr zahlreichen, kurzgliederigen
und weiten Gefäßen, mit allen Übergängen von
Tüpfel- zu Netz- und Treppengefäßen; die Tüpfel
sind deutlich behöft. Die Libriformfasern einer
flachsprossigen Art, deren Wurzeln ich bereits
durch Wind und Wetter mazeriert fand, waren
sehr deutlich spiralig gestreift.
III. Allgemeine Bemerkungen über das
Skelett der Kakteen.
In diesem letzten Abschnitte sollen einige all-
gemeine Erörterungen angestellt werden, die zu
den vorstehenden Beschreibungen in Beziehung
stehen.
Zunächst sei nochmals die Aufmerksamkeit
auf das eigenartigste Bauelement des Kakteen
Stammes gelenkt, auf die Spiralstracheiden. Da
sich für sie eine besondere Lebensaufgabe kaum
wird feststellen lassen , so dürfen sie wohl als
morphologisches Merkmal betrachtet werden,
dessen Interesse sich noch dadurch erhöht, daß
es unter den Opuntien nur den Jugendformen
zukommt. Es lag nahe, nacli einem anatomisch
so ausgesprochenen Element (wenn ihm auch
Übergänge zu Gefäßen mit Spiral- und Netz-
struktur nicht fehlen) im weiteren Verwandt-
schaftskreise der Kakteen zu suchen; und die
neuere Anschauung, diese doch recht isoliert im
System stehende Familie mit den Centrospermen
in eine wenn auch entfernte Beziehung zu bringen,^)
gab für jene Nachforschungen einen Fingerzeig.
Zwar zitiert Solereder^) diese spindelförmigen
Tracheiden nur von den Kakteen ; aber auf S. 1 29
des Hauptwerkes werden „zahlreiche, kurze, spin-
delförmig gestaltete Spiraltracheiden im Mark" von
Anacampseros (einer zu den Portulacaceen
und somit zu den Centrospermen gehörigen Gat-
tung) hervorgehoben. Doch ist dieser Tatsache
wohl keine Bedeutung für phylogenetische Er-
wägungen einzuräumen, da Anacampseros
der südafrikanischen Flora angehört, die Kakteen
dagegen fast ausschließlich amerikanisch sind, und
die Entwicklung der betreffenden Florenreiche
keine gemeinsamen Züge aufweist. —
Von allgemeinem Interesse ist weiter die be-
trächtliche Entwicklung des Markstrahlgewebes.
Es wurde oben darauf hingewiesen , daß ein ur-
sprünglicher, die fleischige Beschaffenheit der
Kakteen bedingender Charakter in der mächtigen
Entwicklung des Grundparenchyms beruht; dazu
kommt nun noch als weiteres, von der Tätigkeit
des Kambiums abhängendes Moment die starke
Ausbildung des Markstrahlgewebes. Sie ist eben-
falls als ein ursprünglicher, morphologischer Cha-
rakter (wie bei den Protaceen usw.) aufzufassen,
da er sich auch in den nicht fleischigen Pei res -
kiastämmen findet und in anderen Kakteen bei
Zunahme des Grundparenchyms auch seinerseits
eine Weiterbildung erfährt.
Eine eingehendere Erörterung verlangt ferner
das Skelettsystem der oben besprochenen Kakteen
einmal in Rücksicht auf seine physiologischen
Leistungen, und dann auf seine Beziehungen zu
den anderen Gewebssystemen, die mit und neben
ihm im Kakteenkörper vertreten sind. Dabei
dürfte zunächst von Interesse sein, daß die ge-
ringste Entwicklung des Skelettes den niedrigsten,
einzeln oder rasenförmig wachsenden F'ormen zu-
kommt, die bei ihrer geringen Erhebung über
den Boden nicht vom Winde gefaßt werden. Die
innere Struktur von O. tniiicata mag dafür als
Beispiel dienen; ebenso verhält sich die zum Ver-
gleich herangezogene Miuiiillaria cciüncirrha, bei
deren Mazeration man überhaupt kein zusammen-
hängendes Skelett, sondern nur eine Menge regel-
los anastomosierender, dünner Bündel erhält, ver-
gesellschaftet mit unzähligen gegliederten Milch-
röhren, zu deren Demonstration ein mazerierter
M amillariakörper geradezu empfohlen werden
kann. Auch die weichen Stämmchen von Echinv-
ccreits ciiicrascois lassen beim Verfaulen kein
Skelett, sondern nur die kaftonpapierartige Hülle
ihres Peridermmantels zurück. Das mechanische
System des ebenfalls vergleichsweise untersuchten
Echiiiocactus cdniigcr besteht aus einem niedrigen,
im Grunde des kugeligen Körpers gelegenen Holz-
zylinders, von welchem die Bündel zu den Are-
olen auslaufen. Weit mehr Gefahr, als vom
Winde umgebrochen zu werden, laufen diese
niedrigen Kakteen, von den Tritten der etwa über
') Kngler, .X., .Syll^ibus, 1912, S. 273.
') Solcrcdcr
irags-Hand S. 38S.
Syst. .'\ii;it. der Dikulyl.-n. Narli-
N. F. XXI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
39
sie hinwegschreitenden Tiere verletzt zu werden;
aber bei O. tiiiiicata bildet die furchtbare Be-
stachelung eine wirksame Abwehr, während die
tangential der Oberfläche des Körpers ange-
schmiegten Stacheln von Mamillaria cenfricirrlia,
M. elegans usw. einen federnden Außenmantel
darstellen. Die anderen, vorstehend genauer be-
schriebenen Opuntien sind hohe, stattliche Pflanzen.
Die in ihrer regelmäßigen Verzweigung an eine
Araucarie erinnernde O. inibricata erreicht 2 m
Höhe bei 40 zu 45 cm Stammumfang über dem
Boden. Ihr Innenskelett (Abb. 5 A, B) läßt sich
einem zu einem Zylinder zusammengebogenen,
weitmaschigen und dicksträngigen Drahtgitter
vergleichen, dessen Biegungsfestigkeit noch durch
die starre, wie aus steifem Karton gebaute Peri-
dermhüUe verstärkt wird. Da wo die rechtwinklig
abstehenden Seitenäste abzweigen, ist das Skelett
des Hauptstammes an der Unterseite stärker ver-
dickt, als auf der Oberseite, um die Äste in ihrer
horizontalen Richtung erhalten zu können (Abb. 5 A) ;
und wenn die Regelmäßigkeit des Maschensystems
durch einen der in den fleischigen
Kakteen häufigen Fäulnisherde lokal
zerstört ist, so suchen die Nachbar-
stränge durch veränderte Stärke und
Richtung den Schaden im Sinne einer
Erhaltung derGesamtfestigkeit wieder
gut zu machen (Abb. 5 B). Es er-
innert dies an die Umlagerung der
Knochenbälkchen im Halse unseres
Oberschenkelknochens infolge von
Verletzungen. — ■ O. tomeutosa und
verwandte flachsprossige Arten sind
reichästige Bäume mit runder Krone,
die 4 — 5 m Höhe bei 1,75 m Stamm-
umfang über dem Boden erreichen.
Von Interesse ist der Wechsel der
Querschnittsform ihrer Glieder mit
dem Alter; wie bekannt, ist die
Hauptaxe der jungen Pflanze zylin-
drisch, während die folgenden Aus-
zweigungen flachsprossig werden.
Aber, mit vorschreitendem Alter nehmen die
älteren Flachsprosse zunächst einen elliptischen,
dann einen kreisförmigen Querschnitt an, und
die anfänglich deutlich ausgesprochene Gliede-
rung (durch die nach Spitze und Basis ver-
schmälerte Gestalt der Flachsprosse bedingt) ver-
liert sich allmählich infolge des Dickenwachstums,
bis auf eine leichte, gürtelförmige Einschnürung.
Wenn man nun im Auge behält, daß die Hunderte
von nach allen Richtungen und unter allen Winkeln
zum Horizont abstehenden flachen Glieder um-
fänglicher Opuntien dem Winde eine gewaltige
Angriffsfläche darbieten, so ist mechanisch ver-
ständlich, daß die unteren Sprosse, welche so-
wohl auf Biegungs- als auch auf Säulenfestigkeit
in Anspruch genommen werden, ihre abgeflachte
Form durch die weniger flächenhafte zylinderische
ersetzen. Wie man durch die Beobachtungen von
Sachs und Goebel') weiß, bedingt das Licht
die flache Form der Sprosse; aber sein Einfluß
wird mit zunehmendem Wachstum des Individuums
durch die Ansprüche an Standfestigkeit zurück-
gedrängt, und die ursprüngliche, zylinderische Form
wieder hergestellt. Die keilförmig in das Mark
vorspringenden Holzteile setzen unter rechtem
Winkel nach außen an, so daß an den schmalen
Seiten der ellipsoidischen, in die Dicke wachsen-
den Sprosse von O. tomeutosa Kurven entstehen,
welche an Scharen konfokaler Parabeln erinnern
und den Schmalseiten dieser Stämme besondere
F"estigkeit verleihen (Abb. 6). Bei heftigem Winde
sieht man die Individuen von O. imbricata, wie
Gerten, als Ganzes schwanken, während von den
dicken Bäumen der O. to)iic)itosa nur die jüngeren
Auszweigungen in Bewegung gesetzt werden. —
Ebenso wie bei U. tunicata werden auch bei den
flachsprossigen Arten tief in den Holzkörper vor-
dringende Fäulniswunden möglichst bald und wirk-
sam geschlossen, und zwar durch dicht aufein-
ander folgende, stark verholzte Peridermlagen, die
durch dünne Parenchymschichten voneinander ge-
/
/
.^:
/
M
X-'X
Abb. 6. Querschuilt eines in die Dicke wachsenden , zylindrisch werdenden
Stammes von O. tomeutosa. R. Rinde ; M. Mark. Die (dunkel gehaltenen)
Holzkörper der gegenüberliegenden Seiten bilden je einen Bogen.
trennt sind; nach der Mazeration erscheinen sie
als aus konzentrischen Schichten gebildete Gänge
und Höhlen, welche Rindenparenchym und Holz
durchsetzen. — Der Holzkörper von Ccreus mar-
giiiatiis (Abb. 7), der nun noch zum Vergleiche
herangezogen werden mag, ist ein geschlossener
Zylinder; wenigstens sind die Maschen, in welche
die Blattspurstränge einmünden, so eng und un-
bedeutend, daß sie nicht in Betracht kommen.
Die Standfestigkeit der bis 7 m hohen Säulen,
welche diese nicht oder wenig verzweigten
Stämme (vom Volke „Orgelpfeifen" genannt) dar-
bieten, trotzt den heftigsten Stürmen.
Von der physiologischen Anatomie der Wurzeln
ist nichts besonderes zu berichten; die Verlegung
der festen Elemente nach dem Zentrum zu —
Abnehmen der Markstrahlen, Fehlen des Markes
Goebel, K., Organographie 1S9S, S. 213.
40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
— steht mit den Anforderungen an einen zug-
festen Bau im Einklang. Das Skelett von Cereiis
hamatiis, der mit seinen langen, schlaffen Zweigen
hoch in die Bäume emporsteigt, braucht keinen
biegungsfesten, sondern mehr zugfesten Bau; sein
Holzkörper ist weit nach innen gelagert und, ent-
sprechend den 4 stark vorspringenden Rippen des
Stammes, in 4 durch Parenchym getrennte Einzel-
körper zerlegt. Diese Zwischenstreifen aus Paren-
chym mögen wohl seitliche Verschiebungen der
Holzkörper gestatten, wenn die Biegungen des
kletternden Stammes sie nötig machen.
Abb. 7. Stück aus dem durch Mazeration isolierten Holz-
körper von Cetetis niarglnattis. Bs. die nach den in Ortho-
stichen stehenden Areolen abgehenden Bündel (Blattspuren).
Schließlich mag das Skelett der Opuntien
(und anderer, mit ihnen verglichener Kakteen)
betrachtet werden in seinen Beziehungen zu den
anderen Verrichtungen dienenden Geweben. Die
bisherige Darstellung suchte seine Konstruktion
aus mechanischen Prinzipien verständlich zu
machen; im folgenden soll gezeigt werden, daß
sein Auf- und Ausbau auch von anderen, zumal
durch die gesamten Organisationsverhältnisse ge-
gebenen und den Familiencharakter der Kakteen
ausmachenden Verhältnissen abhängt. Als solche
kommen in Betracht die fleischige Beschaffenheit
der Sprosse, die weitgehende Unterdrückung der
Blätter, die Anordnung der Areolen nach hohen
Divergenzen der Blattspirale, bzw. in dicht be-
setzten Orthostichen. Das Überwiegen des
fleischigen Parenchyms macht die Breite der aus
ihm bestehenden Markstrahlen verständlich ; die
große Anzahl der Areolen, von denen eine jede
über eine IVIasche des Holzstranggewebes fällt,
welche ihrerseits wieder einem Markstrahl den
Durchgang gewährt, erklärt die Notwendigkeit
jener Stränge, bogenförmig um jene umfänglichen
Markstrahlkomplexe herumzulaufen, — ähnlich
wie es im Maserholz mit seinem ebenfalls be-
trächtlich vergrößerten Markstrahlgewebe ') vor-
kommt. Dieser bogige Strangverlauf findet sich
sowohl bei niedrigen, wie bei hohen Opuntien, und
wenn er auch als Skelett für Biegungsfestigkeit sehr
wirksam sein mag, wie der oben gebrauchte Ver-
gleich mit einer Rolle Drahtgitter dartun soll,
so kann er doch nicht als eine diesem Zwecke
dienende Mechanomorphose aufgefaßt werden.
Dagegen würde auch sein Vorkommen bei einer
unter ganz abweichenden Verhältnissen lebenden
Pflanzengruppe sprechen, nämlich in den Stämmen
und Rhizomen zahlreicher Farne;-} dichte Blatt-
stellung und reichliches Parenchym bestimmen
hier ebenfalls seine Entwicklung.
Auch die andere Eigentümlichkeit der Kakteen,
die Unterdrückung der Blätter, weist eine eben-
falls indirekte Beziehung zum Skelettsystem auf.
Das Fehlen der Blätter bringt als Korrelation die
Verlegung des grünen Assimilationsgewebes an
die Oberfläche des Stammes mit sich, und weiter
die Vergrößerung dieser Fläche durch Warzen
{OpHiäia iuibricata, Mamillarid), Rippen {Ccre/ts,
Echinücadits) und Flachsprosse {ü. /omcii/asa).
Von diesen Einrichtungen sind die letzteren, wie
bereits oben dargetan wurde, für die Herstellung
der Biegungs- und Säulenfestigkeit wenig geeignet
und werden daher schließlich durch zylindrische
Achsen ersetzt. Dagegen sind die Warzen und
zumal die Rippen und vorspringenden Kämme
äußerst vorteilhaft zur Erhöhung der Biegungs-
festigkeit, wie es jedes fächerförmig zusammen-
gekniffene im Vergleich zu einem flachen Stück
Papier zeigt, und wie es die höchsten Säulen-
kakteen der Gattungen Qre/is, Piloccrcns usw.
beweisen. Aber auch hier handelt es sich um
Organisationen, die primär unter der Einwirkung
des Lichtes im Dienste der Assimilation hervor-
gerufen wurden, und sich sekundär auch als me-
chanisch nützlich erwiesen haben. Denn es gibt
kugelförmige, sehr niedrige und daher nie auf
Biegungsfestigkeit in Anspruch genommene Kak-
teen (z. B. Ecliinocactus inuUicostatus), welche
außerordentlich tief und scharf gerippt sind. In
der Tatsache, daß die gleiche Organisation ver-
schiedenen Verrichtungen dienstbar gemacht wird,
zeigt sich die Ökonomie eines Organismus, der
ein Maximum von Leistung mit einem Minimum
von Aufwand an Material vollbringt.
Die Kakteen gelten mit Recht als Schulbeispiel
für Organisationen, die bis in die feinsten Einzel-
heiten für das Leben an trockenen, heißen und
windigen Standorten abgestimmt sind. Es ist
dies um so bemerkenswerter, als sie eine relativ
junge Pflanzenfamilie sind, insofern man in dem
Tertiär noch keine, an den Stacheln leicht zu er-
kennende fossilen Reste von ihnen gefunden hat.
Mexico, September 1915.
') Küster, K., Pathologische Pflanzeuanalomie, .Mib. 6g.
'-) De Bary , A., Vergleichende Anatomie, S. 295, Abb. 132,
N. F. XXI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
41
Kritische Betrachtnug über die Grundlagen der Relativitätstheorie Eiusteiu)s.
[Nachdruck verböte
Von Friedr. Dahl.
In einem neueren Vortrag „Geometrie und
Erfahrung" spricht sich Einstein über die er-
kenntnistheoretischen Grundlagen seiner Rela-
tivitätstheorie aus, ') und es ist uns damit die
Möglichkeit gegeben, die Prämissen, auf denen
seine Theorie sich aufbaut, sorgfältig zu prüfen.
Eine solche Prüfung der Grundanschauung und
grundlegenden Tatsachen einer Theorie, die man
allgemein als deren Prämissen bezeichnen kann,
ist äußerst wichtig, da auf einem verfehlten Fun-
dament ein ganzes Gebäude, auch wenn es sonst
formgerecht aufgebaut ist, ins Wanken geraten
kann. Wissenschaftliche Theorien bauen sich, wie
man weiß, auf Prämissen auf, welche nach dem
augenblicklichen Stande der Wissenschaft als
durchaus gesichert erscheinen müssen. Jeder
Fortschritt der Wissenschaft, der an den die Prä-
missen liefernden Tatsachen etwas ändert, muß
eine entsprechende Änderung der Theorie zur
P'olge haben. Ist die Theorie einer entsprechen-
den Änderung nicht fähig, so muß sie fallen.
Eine Theorie, bei deren Aufbau schon unrichtige
Prämissen zur Anwendung gelangt sind, muß
von vornherein als verfehlt bezeichnet werden,
auch wenn der Aufbau durchaus logisch durch-
geführt ist. — Von diesem Standpunkte aus wolle
man meine Ausführungen, die sich lediglich mit
den jetzt von Einstein gegebenen Grundlagen,
nicht mit der Theorie selbst befaßt, beurteilen.
Einstein behauptet, daß die Sätze der
Mathematik und speziell der Geometrie, soweit
es sich um ihre Anwendung auf Gegenstände der
Wirklichkeit, d. h. also auch um ihre Anwendung
auf naturwissenschaftliche Gegenstände handelt,
unsicher seien. Er sagt (S. 124) wörtlich: „Inso-
fern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirk-
lichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und inso-
fern sie sicher sind , beziehen sie sich nicht auf
die Wirklichkeit." — Es ist das eine Behauptung
von ungeheurer Tragweite für jeden Forscher auf
naturwissenschaftlichem Gebiete, der sich bei
seiner Forschung mathematischer Elemente be-
dient.
Wie begründet nun Einstein seine Behaup-
tung? — Er meint, „daß die Mathematik ein von
aller Erfahrung unabhängiges Produkt des mensch-
lichen Denkens" sei. So sollen die Axiome der
Geometrie „freie Schöpfungen des menschlichen
Geistes" sein. Einstein ist also, um es mit
etwas anderen Worten noch einmal klar auszu-
drücken, der Ansicht, daß die Fundamente der
Mathematik nicht der Erfahrung, sondern lediglich
dem Denken des Menschen, unbeeinflußt durch
die Erfahrung, entsprungen sind. -) — Diese An-
sicht muß entschieden als verfehlt bezeichnet wer-
den. — Nehmen wir als Beispiel das von Ein-
stein gewählte Axiom der Geometrie, einerseits
in der Fassung, wie ich es in einem mir vor-
liegenden älteren Lehrbuche ^) finde und anderer-
seits in der von Einstein gewählten Fassung,
so lautet es an der erstgenannten Stelle: „durch
zwei Punkte läßt sich nur eine einzige gerade
Linie ziehen", an der zweiten Stelle: „durch zwei
Punkte des Raumes geht stets eine und nur eine
Gerade". — Schon aus dem verschiedenen Wort-
laut erkennt man klar, daß sich der Mathema-
tiker erst mühsam von den Tatsachen seiner
Sinneswahrnehmung hat freimachen müssen. Bei
dem ersten Wortlaut erscheint uns der Satz noch
deutlich als Ergebnis der Sinneswahrnehmung.
Erst bei dem zweiten Wortlaut hat sich der
Mathematiker von der Sinneswahrnehmung völlig
freigemacht. — Schon aus dieser Tatsache geht
eigentlich klar hervor, daß das Axiom ursprüng-
lich als Produkt der Erfahrung entstanden ist. —
Den allmählichen , unmerklichen Übergang des
gezeichneten Punktes und der gezeichneten geraden
Linie in den nur gedachten mathematischen Punkt
und die nur gedachte Gerade kann man aber
auch genau verfolgen und damit den Beweis
liefern, daß der Satz der Geometrie in gleicher
Weise für das Produkt der Sinneswahrnehmung
und das Produkt des Denkens gilt: — Machen
wir einen sehr kleinen Punkt auf das Papier, so
scheint dieser für unser unbewaffnetes Auge gar
keine Ausdehnung zu besitzen und das ist in der
Praxis, ebenso wie in der Mathematik, für den
Begriff „Punkt" das Maßgebende. Wir haben in
dem gezeichneten Punkt das Produkt der Erfah-
rung vor uns, an welches das mathematische
Denken anknüpft. — Unter dem Mikroskop er-
scheint uns der mit unbewaffnetem Auge kaum
noch sichtbare Punkt noch deutlich als Fläche.
Aber auch unter dem Mikroskop erkennen wir
bei jeder Vergrößerung Punkte, die wieder bei
noch stärkerer Vergrößerung als Flächen erschei-
nen. Es ist klar, daß wir uns durch fortgesetzte
Verkleinerung des Punktes immer mehr einem
Grenzwert nähern, der dem nur gedachten mathe-
matischen Punkt beliebig nahe stehen kann.
Dieser (schließlich auch nur noch zu denkende)
kleinste wirkliche Punkt geht also unmerklich in
den mathematisciien Punkt über. Dasselbe gilt
für den Begriff „Linie" und speziell für den Be-
griff „Gerade". Bei der Linie handelt es sich,
wenn man zum Grenzwert übergeht, um eine
Ausdehnung nur in einer Richtung. — Durch
diese Erwägungen wird jedem Leser klar sein,
daß der mathematische Begriff Punkt nichts an-
') Sitzungsber. d. preufl. .\kad. d. Wissensch. Berlin
1921, V, S. 123 — 130.
') Wie weit die genannten Sätze von Einstein selbst
herrühren oder auch von anderen Forschern vertreten werden,
kann uns hier gleichgültig sein.
'■') A. Wiegand, Erster Kursus der Planimetrie, lo. Aufl.,
S. 9. Halle 1874.
42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. ¥. XXI. Nr. 3
deres ist, als der unendlich klein gedachte
Punkt der sinnlichen Wahrnehmung, der mathe-
matische Begriff Gerade nichts anderes als die
unendlich fein gedachte gerade Linie. Was
also für den mathematischen Punkt und die ma-
thematische Gerade gilt, muß in der Praxis auch
für den Punkt und die gerade Linie der sinnlichen
Wahrnehmung gelten.
Daß die mathematischen Begriffe „Punkt" und
„Gerade" ohne die entsprechenden Begriffe der
praktischen Erfahrung durch unser Denken allein
nicht hätten gewonnen werden können, ergibt
eine einfache Überlegung: Stellen wir uns
einen Menschen vor, der weder einen Gesichts-
sinn noch einen Tastsinn besitzt, wohl aber eine
normal funktionierende Reflextätigkeit, also auch
eine normale Ernährung und eine normal funktio-
nierende Großhirnrinde, also auch ein normales
Denkvermögen, so würde sich dieser Mensch
offenbar weder einen mathematischen Punkt noch
eine mathematische Gerade denken können, weil
ihm eine Vorstellung von Punkt und Linie fehlt.
Er würde allen geometrischen Sätzen völlig ver-
ständnislos gegenüberstehen. — Wer sich über
alle diese Tatsachen völlig klar geworden ist, der
wird zu der Überzeugung gelangen, daß die oben
genannte Behauptung Einsteins unzutreffend
ist. — Nun sagt aber Einstein selbst, daß das,
was er hier behauptet , seiner Relativitätstheorie
als Grundlage dient. Diese Theorie würde dem-
nach der zulässigen Grundlage entbehren und
fallen müssen. Einstein sagt wörtlich (S. 126);
„Dieser geschilderten Auffassung der Geometrie
lege ich deshalb besondere Bedeutung bei, weil
es mir ohne sie unmöglich gewesen wäre, die
Relativitätstheorie aufzustellen."
Ein längst in den weitesten Kreisen der Natur-
forscher allgemein anerkannter Grundsatz bewahr-
heitet sich also auch hier: Der Naturforscher darf
lediglich von Erfahrungstatsachen als der allein
sicheren Grundlage aller Forschung ausgehen.
Weicht er von diesem Grundsatz ab, so verliert
er den allein sicheren Boden unter den Füßen.
— Als Naturforscher muß man also annehmen,
daß das gesamte Wissen des Menschen der Er-
fahrung entstammt, und daß alles Denken nur an
Tatsachen der Erfahrung anknüpfen kann. Bei
der Geburt ist eine „tabula rasa" vorhanden. Nur
Fähigkeiten bringt der Mensch bei der Ge-
burt als ererbte Tätigkeit der Großhirnrinde mit
auf die Welt, nur die Denkfähigkeit, kein
positives Denken, weil erst Sinneseindrücke vor-
handen sein müssen, an welche das Denken an-
knüpfen kann. • — Als geistige Fähigkeiten, deren
Vorhandensein bei der Geburt wir notwendig
annehmen müssen, um alles, was wir vom mensch-
lichen Denken wissen, erklären zu können, sind
folgende zu nennen: i. Die Fähigkeit, Sinnes-
eindrücke als „Wahrnehmungen" ins Bewußtsein
aufnehmen und durch das „Gedächtnis" festhalten
zu können. 2. Die Fähigkeit, Sinneseindrücke
unter Einschaltung eines Bewußtseinsvorganges
auf eine Muskeltätigkeit überführen zu können.
3. Die Fähigkeit, Sinneseindrücke und Muskel-
tätigkeit mit „Gefühlen" bestimmter Art verbinden
und diese Gefühle für die weitere Muskeltätigkeit,
für das bewußte Handeln maßgebend sein lassen
zu können. 4. Die Fähigkeit, frühere und gegen-
wärtige Sinneseindrücke miteinander vergleichen
zu können und das Gemeinschaftliche, — dem
etwas Wirkliches in der Natur entsprechen muß,
— als „Begriffe" herausschälen zu können. 5. Die
Fähigkeit, Teile von Sinneseindrücken im Denken
beliebig kombinieren zu können und von einzelnen
Teilen derselben abstrahieren zu können. 6. Die
Fähigkeit aus Erfahrungstatsachen mittels des
Satzes vom Widerspruch logische Schlüsse ziehen
zu können.
Alles Denken knüpft also an Sinneseindrücke,
an Tatsachen der Erfahrung an. — Zu den All-
gemeinbegriffen, die der Erfahrung entstammen,
gehören auch der Raum-, Zeit- und Kausalitäts-
begriff. Auch sie leiten sich aus Sinneseindrücken
ab, der Raumbegriff aus dem Nebeneinander der
Sinneseindrücke, der Zeitbegriff aus dem Nach-
einander der Sinneseindrücke und der Kausalitäts-
begriff aus dem gesetzmäßigen Nacheinander
bestimmter Erfahrungstatsachen. Daß wir uns
Objekte nur im Raum und Vorgänge nur in der
Zeit denken können, ändert, wie wir noch sehen
werden, an dieser Tatsache nichts und ebenso,
daß Sinneseindrücke und damit Erfahrungen ohne
Kausalität undenkbar sind. — Der Naturforscher
kommt also mit der Annahme, daß alles Wissen
und Denken auf Sinneseindrücke, auf Tatsachen
der Erfahrung zurückzuführen ist, sehr wohl aus.
Was die philosophische Grundlage des Natur-
forschers anbetrifft, so stehen wir noch heute im
wesentlichen auf der von Hume und Kant ge-
schaffenen Basis. — Da Sinnestäuschungen
bekanntlich überall und immer wieder vorkommen,
so mußte sich der Forscher schon früh die F"rage
vorlegen, wieweit wir uns überhaupt auf unsere
Sinneswahrnehmungen verlassen können. und
da machte Kant die — zunächst theoretische —
Annahme, daß allen unseren Sinneswahrnehmungen
ein Etwas in der Natur, d. i. in der Wirklichkeit
zugrunde liegen müsse. F"raglich sei nur, wie
dieses Etwas, das er „das Ding an sich" nannte,
in Wirklichkeit beschaffen sei, und darüber könnten
uns unsere Sinne nur eine auf der Beschaffenheit
der Organe beruhende beschränkte ."Auskunft
geben. — Wenn diese Annahme Kants, welche
bisher in keinem einzigen Falle auf Widersprüche
gestoßen ist, bis in alle Einzelheiten hinein gilt,
wenn sie sich auf alle Eigenschaften der Be-
obachtungsobjekte und die feinsten Einzelheiten
dieser Eigenschaften erstreckt, so muß das, was
uns die Erfahrung über die Beziehungen der Dinge
an sich lehrt, ein durchaus getreues Bild der
Wirklichkeit sein.
Kant ist sehr oft mißverstanden worden, und
in der Tat drückt er sich vielfach sehr dunkel,
fast möchte man sagen, geheimnisvoll aus. — Das
N. F. XXI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
43
logische Denken, der Satz vom Widerspruch ist
für ihn eine metaphysische Erkenntnisquelle a pri-
ori. Als Naturforscher drücken wir das vielleicht
etwas klarer aus, wenn wir diese Erkenntnisquelle,
der wir allerdings sehr viel Wissen verdanken,
und welche allerdings angeboren, also a priori
vorhanden ist, wie oben geschehen, eine „Fähig-
keit", eine psychische Fähigkeit nennen. Kant
will mit seinem Ausdruck „a priori" keineswegs
sagen, daß das Wissen, das wir dem logischen
Denken verdanken, nicht doch letzten Endes aus
der Erfahrung stammt. Das geht aus seinen
Ausführungen hervor. In seinen „Prolegomena"
sagt Kant (§ 2 b): „Eben darum sind auch
alle analytischen Sätze Urteile a priori, wenn-
gleich ihre Begriffe empirisch sind, z. B. Gold
ist ein gelbes Metall . . . ." Das ist offenbar so
zu verstehen: Aus der Erfahrung wissen wir,
daß es ein gelbes Metall gibt. Wir nennen dieses
gelbe Metall Gold. Damit ist unser Begriff „Gold"
festgelegt. Sehen wir nun ein Metall, das nicht
gelb ist, so kann es nach dem Satz vom Wider-
spruch nicht Gold sein. Gold ist eben ein gelbes
Metall. In diesem einfachen Satz, diesem „Urteil",
wie die Philosophen es nennen, kommt also schon
das logische Denken zur Anwendung.
Recht dunkel wird Kant besonders dadurch,
daß er Wahrnehmung, Erfahrung und Anschauung
einander gegenüberstellt, obgleich es sich für den
Naturforscher in allen drei P'ällen um Erfahrung
und nur um verschiedene Grade der Gültigkeit
und Gewißheit handelt. — Für den Naturforscher
ist jeder Sinneseindruck , sobald er als Wahr-
nehmung ins Bewußtsein übergegangen ist, mag
er auch noch so vereinzelt gegeben sein, eine Er-
fahrung. Kant nennt es zunächst nur eine ,, em-
pirische Wahrnehmung" und zwar deshalb, weil
das Wissen , das der ersten Wahrnehmung ent-
stammt, durchaus subjektiv sein kann. Von einer
Erfahrung spricht Kant erst dann, wenn das
Subjektive abgestreift ist und das Urteil Allge-
meingültigkeit erlangt hat. — Beispiel: Ich finde
eine kleine Tierart im Walde. Ich darf diese
Tierart dann noch keineswegs einen Waldbe-
wohner nennen. Das Tier kann vielmehr durch
besondere Umstände in den Wald gelangt sein.
Vielleicht wurde es gar an meiner Kleidung hin-
eingetragen. Erst wenn ich zahlreiche Wahr-
nehmungen vergleiche, wenn ich statistisch fest-
gestellt habe, daß die Tierart normalerweise nur
im Walde und nur ausnahmsweise an anderen
Orten gefunden wird, ist mein Urteil, daß es sich
um einen Waldbewohner handelt, auch für Kant
allgemeingültig und deshalb eine Erfahrung. Es
muß also eine Vergleichung verschiedener Wahr-
nehmungen, d. i. eine Verstandestätigkeit zu der
Sinneswahrnehmung hinzukommen, um nach
Kant die Sinneswahrnehmung in eine Erfahrung
umzuwandeln.
Das Beispiel zeigt zugleich, wie ein „Begriff'
entsteht. Die Begriffe sind nicht etwa etwas
durch menschliches Denken in die Natur Hinein-
gebrachtes, wie vielfach, z. T. auch von Natur-
forschern, falschlich angenommen wird. Es gibt
tatsächlich in der Natur „Waldbewohner", die wir
aber erst durch Vergleichung zahlreicher Wahr-
nehmungen als solche erkennen. Das, was
unseren Begriffen zugrunde liegt, ist also, genau
ebenso wie das Ding an sich, das unserer Sinnes-
wahrnehmung als wirklich vorhandenes Objekt
zugrunde liegt, in der Natur vorhanden. — Es
gilt das für alle Begriffe, auch für die Begriffe des
alltäglichen Lebens. Die letzteren unterscheiden
sich von den wissenschaftlichen Begriffen nur da-
durch, daß ihre Entstehung im menschlichen Be-
wußtsein weit zurückliegt, daß die Statistik unbe-
wußt stattfand, und daß die Kenntnis dieser Be-
griffe dem Kinde durch bewußten oder unbe-
wußten Anschauungsunterricht erleichtert wird.
Daß den von uns „geschaffenen" Begriffen tat-
sächlich Beziehungen der Objekte in der Wirk-
lichkeit zugrunde liegen müssen, mag ein Beispiel
klar zeigen. — Nach der Plankton- Expedition teilte
ich die in dem Material der Expedition befind-
lichen Krebse der Gattung Copilia in Arten ein.
Gleichzeitig arbeitete der Zoologe Giesbrecht
in Neapel an dem Material einer anderen Expe-
dition, welche andere Teile der Ozeane besucht
hatte. Seine Veröffentlichung erschien vor meiner,
und es zeigte sich, daß er genau dieselben Arten
unterschieden hatte wie ich. Nur die Namen, die
er ihnen gab, waren natürlich andere. — Also
auch die Grundlagen für unsere systematischen
Begriffe sind in der Natur, in der Wirklichkeit
vorhanden.
Wie Kant von der „Erfahrung" die „empirische
Wahrnehmung" gewissermaßen als Vorstufe unter-
scheidet, so unterscheidet er als gleichsam höhere
Stufe der Erfahrung die „Anschauung". Von
einer Anschauung spricht Kant nur dann, wenn
Gewißheit vorhanden ist und je nach der Trag-
weite dieser Gewißheit unterscheidet er eine
„empirische Anschauung" und eine „reine An-
schauung a priori". Bei der empirischen An-
schauung erstreckt sich die Gewißheit nur auf
den Einzelfall. Beispiel: Ich sehe ein weißes
Pferd. Daß das Pferd weiß ist, ist für mich ge-
wiß. Es gilt das aber nur für das Pferd, das ich
gerade sehe. Will ich die Gewißheit zum Aus-
druck bringen, so kann ich mit Kant meine
Wahrnehmung „Anschauung" nennen. — Bei Kants
reiner Anschauung a priori tritt schon mit der
ersten Wahrnehmung eine allgemeingültige Ge-
wißheit ein. Ja, schon durch Kombinieren und
Abstrahieren kann aus früheren Wahrnehmungen
eine Vorstellung zustande kommen, die allge-
meingültige, apodiktische Gewißheit besitzt und
deshalb nach Kant eine reine Anschauung a pri-
ori ist, obgleich eine Wahrnehmung mittels unserer
Sinne noch gar nicht vorliegt. Der Fall, daß die
„Gewißheit" der Wahrnehmung mittels unserer
Sinne vorhergeht, tritt besonders bei mathema-
tischen Sätzen ein. Beispiel: „In einem Punkte
können sich nicht mehr als drei Linien senkrecht
44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
schneiden". Es ist dieser Satz für uns gewiß,
mögen wir uns einen Spezialfall durch Ziehen
von Fäden anschaulich machen oder nicht. Der
Naturforscher zählt Kants reine Anschauung a
priori nicht zu den unmittelbaren Erfahrungen. Sie
ist dem Naturforscher vielmehr durch Kombinieren
und Abstrahieren aus vorangegangenen Erfahrungen
entstanden und das setzt lediglich eine ange-
borene Fähigkeit des menschlichen Geistes voraus.
Nur Kants „empirische Anschauung", die dessen
,, empirischer Wahrnehmung" vollkommen ent-
spricht, ist für den Naturforscher eine Erfahrung.
Auch die Mathematik geht lediglich von Ele-
menten der Erfahrung aus: Die Begriffe „Linie",
„Punkt" und „Zahl" entspringen der Erfahrung.
Mit diesen operiert der Mathematiker und gelangt
dabei bisweilen sogar zu imaginären Größen,
denen keine Wirklichkeit entspricht und die des-
halb für den Naturforscher gar nicht existieren.
Es fragt sich nun, ob die Gewißheit, die
bei einer „reinen Anschauung a priori" Kants
vorhanden ist, eine Gewißheit, wie sie namentlich
die Mathematik kennt, uns nötigt, eine besondere
Fähigkeit des menschlichen Geistes, außer den
oben schon genannten, vorauszusetzen. Der
Naturforscher, der sich streng an die Erfahrung
hält, muß diese Frage entschieden verneinen. Es
liegt überhaupt nicht der geringste Grund vor,
die Quelle dieser apodiktischen Gewißheit in dem
Sukjekt, d. i. in dem denkenden Menschen suchen
zu wollen. Der Naturforscher muß vielmehr an-
nehmen, daß diese Gewißheit in der Natur selbst
begründet ist, in der natürlichen Beschaffenheit
des Raumes und der Zeit als Ding an sich, d. h.
in dem, was unseren durch Abstraktion gewonnenen
Begriffen von Raum und Zeit in der Wirklichkeit
zugrunde liegt. — Es gibt manche Eigenschaften,
die wenigen Körpern und wenigen Vorgängen
eigen sind, manche Eigenschaften, die vielen Kör-
pern und vielen Vorgängen eigen sind. Warum
sollte es nicht auch Eigenschaften geben können,
die, wie Ausdehnung und Dauer, allen Körpern
und allen Vorgängen in der Natur zukommen ?
Basiert aber unser Denken ausschließlich auf
Erfahrung, so können wir natürlich einen Körper
ohne Ausdehnung, einen Vorgang ohne Zeitdauer
nicht einmal denken. Das, meine ich, wäre
völlig klar und selbstverständlich. Ja, die Tat-
sache, daß wir uns einen Körper nur von drei
Dimensionen denken können, einen Vorgang nur
in der Zeit, beweist eigentlich, daß unser Den-
ken eng an die Erfahrung gebunden ist. Die
apodiktische Gewißheit bei dem oben genannten
Beispiel liegt dann einfach in den Eigenschaften
des dreidimensionalen Raumes begründet.
Kant verlegt den Grund der apodiktischen
Gewißheit nicht in das Objekt, sondern in das
Subjekt, während er sonst, genau so, wie der
moderne Naturforscher die Grundlage unseres
ganzen Siimeslebens in das Objekt verlegt. Er
nimmt an, daß Raum und Zeit „Anschauungen"
sind, die „als Form der Sinnlichkeit" in unserem
Subjekt allen wirklichen Eindrücken voran-
gehen. — Hier ist einer der Punkte, in denen
der Naturforscher ihm nicht folgen kann. Der
Naturforscher muß diese Annahme Kants als
durchaus willkürliche Hilfshypothese bezeich-
nen, da sich alle Tatsachen auch ohne sie durch
die obige konsequent durchgeführte Annahme,
daß alles Wissen und Denken auf Erfahrung zu-
rückzuführen ist, sehr einfach erklären. Der
Naturforscher bleibt damit in durchaus konsequenter
Weise auf rein empirischem Boden. — Mit Recht
wendet sich Kant (Prol. § 13) gegen die Annahme,
daß Raum und Zeit Eigenschaften sind
und verweist dabei als Beispiel auf die Symmetrie,
welche zeigt, daß zwei der Masse nach genau
gleiche Körper, die gleich ausgedehnt sind, einen
verschiedenen Raum einnehmen können. Nicht
Raum und Zeit, wohl aber Ausdehnung und
Dauer sind für den Naturforscher Eigenschaf-
ten und zwar Eigenschaften, die in einem be-
stimmten Maße allen Körpern und allen Vor-
gängen zukommen.
Auch den Kausalitätsbegriff hat offenbar schon
der Urmensch der Erfahrung entnommen. Der
Regen, der stets den Boden netzt, der Wind, der
stets die Blätter bewegt und dergleichen Erfah-
rungen viele zeigten ihm, daß es eine Kausalität
gäbe. Wie lange aber hat es gedauert, bis der
Mensch zu der Überzeugung gelangte, daß wohl
jeder Vorgang in der Natur eine Ursache haben
möge und noch viel später wurde ihm klar, daß
es ohne Kausalität gar keine Sinneseindrücke,
also auch keine Erfahrung geben könne. Die
letztere Einsicht wurde erst möglich als man er-
kannt hatte, daß auch die Wärme, die Farbe usw.
auf Bewegung kleinster Teile beruhe und daß die
Bewegung es ist, welche in allen Fällen auf
unsere Sinnesorgane einwirkt, die grobe, mecha-
nische Bewegung und die Wärme auf unsere
Tastnervenendigungen, die Luftwellen auf das
Gehörorgan , die Ätherwellen auf das Auge und
die als chemischer Reiz sich zeigende Atom-
bewegung auf das Geruchs- und Geschmacks-
organ. — Der Naturforscher, der mit Kant an-
nimmt, daß jedem Objekt der Wahrnehmung ein
Ding an sich in der Wirklichkeit entspricht, muß
zugleich zugeben, daß der Einwirkung dieser Ob-
jekte auf unsere Sinnesorgane, in welcher die
Kausalität zum Ausdruck gelangt, also der Kausa-
lität selbst ein etwas in der Wirklichkeit ent-
sprechen muß. - Nur einige Philosophen hat es
gegeben, welche die Kausalität leugneten. Diese
mußten denn auch zu der Überzeugung gelangen,
daß außer ihnen nichts existiere, daß die Welt
vielmehr ein Produkt ihrer Phantasie sei. Be-
weisen kann man diesen abnormen Denkern
freilich nicht, daß eine Welt wirklich existiert,
selbst durch Prügel nicht; denn auch diese wür-
den sie, wie jedes andere Leiden für ein unange-
nehmes Produkt ihrer Phantasie halten. — Der
Naturforscher ist, auch ohne weiteren Beweis als
seine Erfahrung, überzeugt, daß die Welt, die er
N. F. XXL Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45
mittels seiner Sinne wahrnimmt, wirklich existiert,
d. h. unter dem von Kant gegebenen Vorbehalt.
— Von den Ursachen scharf unterscheiden
muß der Naturforscher die Bedingungen,
unter denen ein Vorgang verläuft, und die ihn
modifizieren. Der Stoß auf die Billardkugel ist
die Ursache des Rollens. Wie sie rollt, das hängt
von den Bedingungen, von den Wänden des
Billards und von der Stellung der anderen Kugeln
ab. In der Vulgärsprache rechnet man oft auch
die Bedingungen zu den Ursachen. In wissen-
schaftlichen Schriften sollte nur der kinetische
Anlaß des Vorgangs Ursache genannt werden.
Auch von einer ganz anderen Seite aus ge-
langt man zu dem Resultat, daß alles Wissen der
Erfahrung entstammen muß. — Man stelle sich
einen Menschen vor, der aller Sinne bar ist, nicht
nur des Gesichtssinnes und Tastsinnes, sondern
auch des Gehör-, Geruchs- und Geschmackssinnes,
des Tast- oder Gefiihlssinnes nicht nur an der
Körperoberfläche sondern auch im Innern des
Körpers, einen Menschen, der also auch kein
Schmerzgefühl, das infolge einer Überreizung
irgendeines Sinnesorganes eintritt, kennt, der
aber eine normale Reflextätigkeit, Verdauung und
Gehirntätigkeit besitzt. Was sollte denn ein
solcher Mensch wohl denken können ? Wie sollte
er zu einem Raum- und Zeitbegriff oder gar zu
einem Kausalitätsbegriff gelangen können.? Für
ihn würde es höchstens ein „cogito, ergo sum"
geben. Bei Vorstellung eines solchen Menschen
wird uns so recht klar, daß alles, was wir denken,
ausschließlich an die Erfahrung anknüpft.
Man sieht also, daß die von Einstein auf-
gestellten, oben genannten Sätze völlig in nichts
zerfallen. — Auch mit Kant befindet sich Ein-
stein in Widerspruch. Kant sagt allerdings
(Prol. § 6), daß die „Erkenntnis", der wir in der
Mathematik gegenüberstehen, welche „durch und
durch apodiktische Gewißheit, d. i. absolute Not-
wendigkeit bei sich führt, also auf keinen Er-
fahrungsgründen beruht, mithin ein reines Pro-
dukt der Vernunft ist". — Das klingt allerdings
recht ähnlich wie der obige Ausspruch Einsteins,
zumal da Kant hinzufügt: „. . . Setzt dieses
Vermögen, da es nicht auf Erfahrungen fußt
noch fußen kann, nicht einen Erkenntnisgrund
a priori voraus . . ..?" Und doch besagen die
Kant sehen Worte etwas völlig anderes als die
Einsteinschen. — Wie an so vielen anderen
Stellen so drückt sich Kant auch hier etwas
dunkel aus. Durchaus verständlich wird er durch
einige seiner nachfolgenden Sätze. Kant sagt
weiter (§ 7): „Wir finden aber, daß alle mathe-
matische Erkenntnis . . . ihren Begriff vorher i n
der Anschauung . . . a priori . . . darstellen
kann . . ." und (§ 9): „Hieraus folgt . . . daß An-
schauungen, die a priori möglich sind, niemals
andere Dinge, als Gegenstände unserer Sinne
betreffen können." — Aus den letzten Worten
geht hervor, daß nur die „Erkenntnis", nur das
„Vermögen" zu erkennen, dem wir in der Mathe-
matik begegnen, für Kant ein „reines Produkt
der Vernunft" sein kann, nicht die Mathematik
selbst, wie Einstein will. — So muß man
Kants Aussprüche meist erst in die Sprache des
modernen Naturforschers übersetzen, und dabei
sind viele Naturforscher gescheitert.
Was die Zuverlässigkeit unserer Sinneswahr-
nehmungen anbetrifft, so stehen wir übrigens
heute auf einer völlig anderen Basis als unser
großer Denker Kant. — Wissen wir doch, daß
der Mensch, wie alle Lebewesen, durch An-
passung an seine Umgebung entstanden ist.
Freilich pflegt man dieses unser Wissen von der
Entwicklung des Menschen aus der Tierreihe z. Z.
noch eine Theorie zu nennen, weil diese Ent-
wicklung nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern
indirekt aus Erfahrungstatsachen geschlossen wird.
Theorien können aber, wenn alle neu hinzukom-
menden Erfahrungstatsachen sie bestätigen, gleich-
sam zur Gewißheit werden. So ist die Deszen-
denztheorie für uns schon fast eine Gewißheit,
da sie ebenso wie unser Wissen von der Be-
wegung der Himmelskörper, durch ein so unge-
heures Tatsachenmaterial gestützt ist, daß an ihrer
Richtigkeit nicht mehr gezweifelt werden kann.
— Handelt es sich aber beim Menschen um eine
Anpassung an die Umwelt, so dürfen wir an-
nehmen, daß ihm durch seine Sinne eine mög-
lichst gute Kenntnis dieser Umwelt gegeben wird,
da eine selbsttätige Erhaltung nur dann für ein
höheres Lebewesen, wie der Mensch es ist, mög-
lich erscheinen muß, wenn dieses Lebewesen seine
Umwelt möglichst gut kennt. Wir können uns
also im allgemeinen darauf verlassen, daß unsere
Erfahrung uns die Wahrheit sagt. — Nur soweit
werden im allgemeinen Sinnestäuschungen vor-
kommen, als dies nach physikalischen Gesetzen
Naturnotwendigkeit ist. Zu diesen Sinnestäu-
schungen gehören z. B. das scheinbare Schmäler-
werden einer Allee in der Ferne, die scheinbare
Bewegung der Sonne um die Erde, die schein-
bare völlige Starrheit gewisser fester Körper usw.
— Diese Täuschungen können wir durch andere
Erfahrungstatsachen ausschalten, teils leicht, teils
erst durch naturwissenschaftliche Forschung, die
aber wieder lediglich auf Sinneswahrnehmung
basiert.
Der hier gegebene Gedankengang eines Natur-
forschers wird vielleicht auch den Fachphilosophen,
der der Naturforschung weniger nahe steht, inter-
essieren und ihn zum Weiterdenken anregen.
46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
Einzelberichte.
Die Einheit und Isotopie Aer Elemente.
Nachdem Rutherford') aus einem halben
Dutzend Elementen Wasserstoff durch «-Strahlen
abgespalten hat, ist die vor loo Jahren durch
William Prout aufgestellte Hypothese vom
Wasserstoff als Urmaterie wieder sehr wahrschein-
lich geworden. Daß sich jedoch die Atomgewichte
der Elemente nicht stets als ganze Vielfache des
Wasserstoffs erweisen, erklärt sich daraus, daß die
meisten Elemente Gemische von chemisch völlig
identischen aber im Atomgewicht unterschiedenen
Stoffen (= Isotopen) sind. Zum erstenmal lehrte
die Radiochemie einige Elemente kennen, die
chemisch nicht trennbar waren und die doch
nach genauesten Atomgewichtsbestimmungen einen
geringen Unterschied der Atommassen aufwiesen
( Uranblei-Thorblei ; lonium-Thorium).
Im Jahre 191 3 fand J. J. Thomson-) bei
der elektromagnetischen Kanalstrahlenanalyse von
Neon, daß dieses Element eine Mischung zweier
Grundstoffe vom Atomgewicht 20 und 22 dar-
stellt; dies war der i. Fall, daß bei einem nicht-
radioaktiven Stoffe das Vorkommen von Isotopen
nachgewiesen wurde. F. W. A s t o n ^) verbesserte
die Methode der Kanalstrahlenanalyse so, daß die
Beimengung eines Isotopen zu einem Element bei
weniger wie '/loo rng noch völlig sicher nach-
weisbar wird. Die Kanalstrahlenanalyse besteht
darin, daß ein Element im gasförmigen Zustand
in einer Vakuumröhre durch Kathodenstrahlen
stark ionisiert wird; die positiven Gasionen be-
wegen sich dann mit zunehmender Geschwindig-
keit auf die negative Kathode zu und treten durch
einen feinen Kanal in der Kathode als Kanal-
strahlen in den kräftefreien Raum hinter der Ka-
thode. Hier werden die Kanalstrahlen durch ein
starkes magnetisches und elektrisches Feld aus
ihrer geraden Bahn abgelenkt und zwar hängt
die Ablenkungsgröße von der Masse und der
elektrischen Ladung der Kanalstrahlenteilchen ab.
Aston hat mit der elektromagnetischen
Kanalstrahlenanalyse bereits eine große Anzahl
von Elementen daraufhin untersucht, ob sie ein-
heitlich sind oder Isotopengemische darstellen. Im
folgenden sind die neuesten Ergebnisse von Aston
und anderen Forschern für die einzelnen Elemente
angegeben.
Wasserstoff erweist sich als einheitliches Gas
vom A. G. ^) 1,008. In Wasserstoff kanalstrahlen
wurde auch wieder das interessante Molekülion
H3 '') beobachtet und seine Masse genau zu 3,024
bestimmt. Heliumkanalstrahlen werden nur von
Atomen mit der Masse 4 gebildet.
') Nature Nr. 2680 (1921).
*) Naturw. Wochenschr. XVI, S. 699 {1917).
'J Nature Nr. 2689, S. 334 — 338, Vol. 107 (1921)
*) A. G. = Atom-Gewicht.
') Naturw. Wochenschr. XIX, S. 527/8 (1920).
Neon hat das A. G. 20,2 und zeigt bei der
Kanalstrahlenanalyse zwei Linien mit der Masse
20 und 22, außerdem zwei Linien, die dem Ne+'i"
angehören und wegen der doppelten Ladung ge-
radeso stark abgelenkt werden wie die einfach
geladenen Atome eines Elementes mit der Masse
IG und II (Linien 2. Ordnung). Gewöhnliches
Neongas vom A. G. 20,2 besteht aus 90 "/„ Ne 20
und 10 "/„ Ne 22. Aston hat dann auch durch
langwierige mühevolle Diffusion des Neongases
in Tonröhren die Isotopen zu gewinnen versucht.
Tatsächlich ergab sich zwischen der am rasche-
sten und der am langsamsten diffundierenden
Fraktion ein Dichteunterschied von 0,7 "/o- »Der
isotope Bau des Neons ist daher über allen Zweifel
festgestellt."
Argon mit dem A. G. 39,88 sollte nach seiner
Stellung im periodischen System der Elemente
ein geringeres Atomgewicht wie Kalium (39,10)
haben. Die Kanalstrahlenanalyse ergab auch
wirklich eine schwache Linie von der Masse 36
und eine starke bei 40, außerdem noch Linien
2. Ordnung bei 20 und 13,3, die dem A+-i" und
A+ '+ zugehören. Argon enthält etwa 3 ",„ von
dem leichteren Anteil. Krypton und Xenon
zeigten sich aus einer überraschend hohen Zahl
von Isotopen zusammengesetzt. Kr ist ein Ge-
misch von isotopen Gasen mit dem A. G. 78,
So, 83, 84 und 86; X zeigt 5 Hauptlinien bei
129, 131, 132, 134, 136, eine schwächere Kom-
ponente bei 128 und eine zweifelhafte bei 130.
Kr weist den größten numerischen Unterschied
zwischen seinen Isotopen auf, nämlich 8 Einheiten.
Fluor erwies sich einatomig (A. G. 19). Chlor
mit dem A. G. 35,46 weist 2 starke Linien bei
35 und 37 auf, aber keine Spur einer Linie vom
A. G. 35,46; außerdem 2 sehr schwache Linien
bei 39 und 40. Die gleichzeitig auftretenden
Linien 36 und 38 rühren von HCIgr, und HCijj-
her, die Linien 17,5 und 18,5 von Cl.,*r^ und Cl+^".
Im Phosgen COCI., zeigten sich die 2 Linien
des COCig-, und COCL,; bei 63 und 65. Durch
Umladung negativ gewordene Chlorkanalstrahlen
gaben nur die 2 Linien Cl.^ und Cl.^.. Den Grund,
warum bei den vielen A. G. Bestimmungen von
Chlor noch keine abweichenden Werte ') beobachtet
wurden, findet Aston darin, daß alle irdischen
Chlorverbindungen aus dem Meereswasser stam-
men und daß dort eine vollkommene Mischung
der Isotopen stattgefunden hat. Chlor aus anderen
Quellen, etwa aus Meteoriten, könnte leicht ein
abweichendes A. G. haben. Anscheinend erfolg-
reiche Versuche, die Isotopen des Chlors durch
') Neuerdings fand jedoch Irene Curie für Chlor au
einem Salz von Zentralafrika den abweichenden Werl 35,60
welcher nicht durch die .\awesenheit von Brom oder Jod ver
ursacht ist. Chlor aus norwegischem Apatit und aus kanadi
schem Sodalith hatte normales A. G. Nature S. 282, Vol. 100
(1921).
N. F. XXI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
47
fraktionierte Diffusion zu gewinnen, wurden von
Hark ins ^) und Lorenz^) gemacht.
Neuerdings hat das genaue Studium des ultra-
roten -Absorptionsspektrums vom Chlorwasserstoff
einen interessanten Beweis für das Vorkommen
von CI35 und C\.,. geliefert. Die ultraroten Ab-
sorptionslinien stammen zum Teil daher, daß das
positive Wasserstoffion H+ und das negative
Chlorion Cl~ gegeneinander schwingen. Die Fre-
quenz dieser Schwingung hängt von der Masse
des Cl ab; enthält also HCl die Ionen CI...r, und
CI3,, so muß jede Linie von einer Nebenlinie be-
gleitet sein. Tatsächlich finden sich in den sehr
genauen IVIessungen des ultraroten Spektrums von
HCl durch E. S. Im es Nebenlinien, welche die-
ser nicht zu deuten vermochte. Das Intensitäts-
verhältnis der Haupt- und Nebenlinien und deren
Abstand stimmt nach Kratzer und Loomis"')
genau damit überein, wie er sich aus der Annahme
zweier Chlorisotoper, Clg., und CI3-, berechnet.
ßromkanalstrahlen bestehen aus gleichen Teilen
Br+; und Br+. Jod erwies sich bei der Kanal-
strahlenanalyse mit großer Genauigkeit als ein
einatomiges Element. Die Angaben von Kohl-
weiler*) über erfolgreiche Zerlegungsversuche
des Jods in Isotope durch Diffusion sind also
kaum richtig. Sauerstoff und Schwefel sind ein-
atomige Elemente; Selen und Tellur ergaben lei-
der kein Resultat; beide müssen aber Isotopen-
gemische sein. Bor ist ein Gemisch von Atomen
mit der Masse 10 und 1 1 ; Silizium ergibt Linien
bei 28, 29 und möglicherweise auch bei 30. Stick-
stoff, Phosphor und Arsen sind anscheinend ein-
fache Elemente, Antimon und Zinn konnten nicht
gemessen werden.
A s t o n '^) gelang es kürzlich, auch in Alkali-
metalldämpfen Kanalstrahlen zu erzeugen und
diese der elektromagnetischen Analyse zu unter
werfen. Lithiumkanalstrahlen haben die Masse 6
und 7; die Kerne der beiden Lithiumisotopen be-
stehen also, wie Rutherford ") richtig voraus-
sah, wahrscheinlich aus X3X., und X3He4, wobei
die Indexzahlen die Atommassen angeben. Na-
triumionen sind einheitlich und haben die Masse
23. Kalium erweist sich zusammengesetzt aus
2 Isotopen vom A. G. 39 und 41. Rubidium-
kanalstrahlen sind positive Ionen von der Masse
85 und 87. Cäsium ist einheitlich und hat das
A. G. 133.
A. J. Dempster •) gelang der Nachweis der
') Naturw. Wochenschr. XIX, S. 705 (1920).
-) Naturw. Wochenschr. XX, S. 566 — 567 (1921). —
Durch fraktionierte Destillation von CCI4 hat H. Grimm
(München) Chlorisotope gewonnen , deren A. G. zurzeit
Hönigschmid bestimmt. Süddeutsche Apoth.-Ztg. S. 367,
Nr. 61, Bd. 61 (2. VIII. 1921).
^) Zeitschr. f. Phys. Bd. 3, S. 460 und Nw. S. 569 (1921).
*) Zeitschr. f. phys. Chem. Bd. 95, S. 95 — 195 (l92o).
'•) Nature Nr. 2681, S. 72,. Vol. 107 (1921).
*) Baker Vorlesung. Proc. Roy. Soc. 1920. Deutsch von
Norst. Leipzig 1921, S. Hirzel.
■) Phys. Ber. S. 683, Bd. 2 (1921). — G. P.Thomson
fand in Anodenstrahlen von Be nur Ionen mit der Masse
9,0 + 0,1 Nature, S. 395 (1921).
Isotopie des Magnesiums. Es zeigt bei der Kanal-
strahlenanalyse eine sehr starke Komponente von
der Masse 24 und zwei schwächere von der
Masse 25 und 26. Quecksilber ergibt nach
Aston*) ein verwaschenes Band, das Atomen von
der Masse 197 bis 200 entspricht; deutlich wur-
den dann in den Quecksilberkanalstrahlen noch
2 Linien bei 202 und 204 gemessen. Brönsted
und Hevesy-) melden eine teilweise Trennung
der Quecksilberisotopen durch Verdampfung bei
niedrigem Druck und Kondensierung der ver-
dampften Atome auf einer gekühlten Fläche. Die
Möglichkeit dieser Art der Isotopentrennung ^) be-
ruht darauf, daß der Verdampfungsanteil von
Isotopen der Quadratwurzel aus deren A. G. um-
gekehrt proportional ist. Die Dichtebestimmung
der erhaltenen Quecksilberfraktionen wurde mit
großer Genauigkeit ausgeführt. Die Dichte des
unverdampften Quecksilbers als Einheit gesetzt,
wurde für die Dichte des kondensierten Anteils
0,999980 erhalten und für die des nachgebliebenen
Anteils 1^000031.
Folgende Tabelle von Isotopen läßt sich nach
dem heutigen Stand der Kanalstrahlenanalyse auf-
stellen :
Elemente u. A. G. Zahl u. Masse der Isotopen
H 1,008 1,008
He 4 4
Li 6,94 6, 7
Be 9,01 9
B II 10, II
C 1 2 12
N 14,01 14
0 16 16
F 19 19
Ne 20,2 20, 22 (21)
Na 23 23
Mg 24,32 24, 25, 26
Se 28,3 28, 29 (30)
r 31.04 31
S 32,06 32
Cl 35,46 35, 37 (39)
A 39,88 36, 40
K 39,1 39, 41
Ni 58,68 58, 60
As 74,96 75
Br 79,92 79, 81
Kr 82,92 78, 80, 82—84, 86
Rb 85,45 85, 87
1 126,92 127
X 130,2 129,131,132,134,136(128,130)
Cs 132,81 133
Hg 200,6 (197—200) 202, 204
Die Zahlen in Klammern sind noch nicht sicher.
') Kanalstrahlen in Nickelkarbonyldarapf Iiestanden aus
Nickelionen vom A. G. 58 und 60. Nature, S. 520, Vol. 107,
Nr. 2695 (1921).
'') Nature S. 144, Vol. 106 (1920), Phys. Ber. I. c. S. 27.
■') Die gleiche Methode wurde auch bei HCl angewendet;
die gewonnenen Chlorisotopen zeigten einen Unterschied im
A. G. von 0,021. Nature, S. 019, Vol. 107, Nr. 2698 (1921).
48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 3
F.W. Aston') zieht aus seinen Untersuchun-
gen der Elemente in Kanalstrahlenform folgende
Schlüsse: „Das bei weitem wichtigste Ergebnis
dieser Messungen ist, daß mit Ausnahme von
H die Gewichte aller gemessenen Atome und
vielleicht aller Elemente ganze Zahlen sind und
zwar nach den experimentellen Messungen mit
einer Genauigkeit von i "/„„. Ursprünglich wurde
von Prout im Jahre 1815 die Hypothese aus-
gesprochen , daß alle Elemente aus Atomen des
Protyls aufgebaut wären, einem hypothetischen
Element, das Prout mit dem Wasserstofif zu
') Nature Nr. 26!S9, Vol. 107 (1921)
identifizieren suchte. Jetzt ist diese Hypothese
mit der Abänderung wieder aufgelebt, daß wir
2 Arten von Uratomen haben, nämlich die Atome
der positiven und negativen Elektrizität. Letztere
Einheit ist uns seit langem bekannt, es sind die
Elektronen." Die mit Masse begabte Einheit der
positiven Elektrizität und zugleich der Grund-
bestandteil aller Atome ist der positive Wasser-
stoffkern H+, der erst neuerdings erforscht wurde
und der den Namen Proton oder Hydron erhielt.
„Elektronen und Protonen dürfen heute mit Sicher-
heit als die Bausteine betrachtet werden, aus denen
die Atome aller Elemente konstruiert sind."
K. Kuhn.
Bücherbesprechungen.
Gro^mann, H. und Wreschner, M., Die ano-
male Rotationsdispersion. Heft 8/9 von
Band 26 der „Sammlung chemischer und che-
misch-technischer Vorträge"; herausgegeben von
W. Herz. 56 S. mit 11 Abb. Stuttgart 192 1,
F. Enke. 5 M.
Die in der Hauptsache aus jüngster Zeit
stammende Kenntnis der anomalen Rotations-
dispersion erfährt in der vorliegenden Monographie
eine erste vorzügliche Zusammenfassung. Mehr
wie die Drehung der Polarisationsebene des Lichts
an sich ist ihre Abhängigkeit von der Wellen-
länge geeignet, zur Lösung wichtiger Fragen der
Strukturchemie und zur Erforschung der Konsti-
tution der Materie allgemein beizutragen. Möge
die Schrift in dieser Hinsicht zu weiterem Ein-
dringen in das noch wenig bekannte Erscheinungs-
gebiet anregen. Die Verff. geben zunächst eine
kurze historische Einleitung, besprechen dann in
einem allgemeinen Teil den gegenwärtigen Stand
der Theorie und die gebräuchlichen Untersuchungs-
methoden und stellen schließlich in einem
speziellen Teil die experimentellen Ergebnisse für
eine Reihe bisher untersuchter Körper zusammen.
A. Becker.
Abraham, M. , Theorie der Elektrizität.
L Band: Einführung in die Maxwell-
sche Theorie der Elektrizität. Sechste,
umgearbeitete Auflage. 390 S. mit 1 1 Fig. im
Text. Leipzig und Berlin 1921, B. G. Teubner.
Geh. 50,60 M. (einschließlich Teuerungszuschlag).
Der 4. Auflage des 2. Bandes des wohlbe-
kannten Abraham sehen Werkes, auf die wir
kürzlich (20. Band, S. 391, 1921) hinweisen konn-
ten, folgt jetzt der erste Band schon in 6. Auf-
lage. Er enthält die Grundlagen der Max well -
sehen Theorie in der bewährten Darstellung, die
dem Werke einen ständig wachsenden Freundes-
kreis sichert. Da die durcligehend benutzte
Theorie der Vektoren und der Vektorfelder in
seinem ersten Abschnitt eine gesonderte ein-
gehende Behandlung erfährt, bietet der Band
gleichzeitig eine vortreffliche Einführung in die
Vektorentheorie. Gegen früher sind namentlich
diese allgemeineren Betrachtungen etwas schärfer
zusammengefaßt worden, während im übrigen
keine sehr wesentlichen Veränderungen vorge-
nommen worden sind. A. Becker.
Neuburger, M. C, Neuere Ergebnisse der
Forschung über die Radioaktivität des
Kaliums und Rubidiums im letzten
Dezennium. Heft 7 von Bd. 26 der „Samm-
lung chemischer und chemisch-technischer Vor-
träge"; herausgegeben von W. Herz. 10 S.
Stuttgart 192 1, F. Enke.
Die vielfachen Versuche der letzten Zeit, die
lange vermutete Radioaktivität der Alkalimetalle
kritisch zu untersuchen, werden hier unter Bei-
fügung eines Literaturverzeichnisses kurz be-
sprochen. Danach scheint es jetzt festzustehen,
daß Kalium und Rubidium tatsächlich eine für sie
charakteristische /S-Strahlung aussenden, daß sie
also als radioaktiv zu bezeichnen sind, obwohl
bis jetzt weder o-Strahlen noch Umwandlungs-
produkte nachweisbar geworden sind. Daß die
Ausführungen, wie Verf. angibt, keinen Anspruch
auf Vollständigkeit in der Berücksichtigung der
Literatur machen, bleibt zu bedauern ; denn ge-
rade in der Vollständigkeit würde Ref. einen be-
sonderen Wert erblicken. A. Becker.
InbHit: K. Reiche, Zur Kenntnis des Dickenwachstums der Opuntien. (yAbb.i S. 33. Fr. Dahl, Kritische Betrachtung
über die Grundlagen der Relativitätstheorie Einsteins. S. 41. — Einzelberichte: Die Einheit und Isotopie der Elemente.
S. 46. — Bücherbesprechungen: II. Großmann und M. Wreschner, Die anomale Rotationsdispersion. S. 48.
M. Abraham, Theorie der I lektrizität. S. 48. M. C. Neu burger, Neuere Ergebnisse der Forschung über die
Radioaktivität des Kaliums und Rubidiums im letzten Dezennium. S. 48.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Puchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. .S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
T ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 22, Januar 1922.
Nummer 4-
[Nachdruck verboten.]
Geologie und Wünschelrute.
Von Edw. Hennig.
In diesen Blättern wurde kürzlich mit Recht
auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß die
Zeitströmung vom materialistischen Ufer wieder
einmal stark zum entgegengesetzten hinüber-
pendelt und sich auch in allerlei Nebenbewegungen
auswirkt. Die Philosophie kommt endlich auch
in der Naturwissenschaft wieder mehr und mehr
zu Ehren. Die Zeit ist vorbei, in der jemand sich
selbst mit der Behauptung betrügen konnte, er
verlasse sich in Erfahrungswissenschaften nur auf
seine fünf Sinne.
Es ist nicht bloßer Zufall, daß in solcher zum
Rationalen, aber darüber hinaus gleich auch zum
Mystischen neigenden Periode beispielsweise auch
die Wünschelrute wieder stärker in den Vorder-
grund des Interesses rückt. Tatsächlich erlebt sie
eine Art Hochkonjunktur. In Zeitschriften und
Zeitungen jeden Schlages, Broschüren und Büchern,
auf Kongressen wie im Stillen ist sie heiß um-
worben und umstritten. Wären die an sie sich
knüpfenden Probleme mit leidenschaftlichem
Wollen zu erstürmen, wir ständen mit solchem
Aufgebot nicht noch immer weit draußen an den
ersten Forts. Im Kriege hat sie sich neuerdings
Aufmerksamkeit erzwungen und seither die be-
teiligten Kreise nicht wieder losgelassen.
Man kann es nur begrüßen, daß das Stadium
der mehr oder weniger gefühlsmäßigen Partei-
nahme nunmehr überwunden ist. Es wird wirk-
lich untersucht, streng wissenschaftlich, methodisch
erforscht, was der Gegenwart an Fragen nur
irgend zugänglich ist.') Bei der großen Rolle, die
im Kampfe für und wider dem Geologen als einer
der Kontrollstellen zugefallen ist, ist es besonders
dankenswert, daß sich ganz neuerdings auch amt-
liche Fachbehörden der Sache angenommen
haben. Die beiden Landesanstalten in Preußen
und Württemberg sind mit gutem Beispiel voran-
gegangen. Niemand hat ein Recht, den ange-
stellten Versuchen Parteilichkeit, Unzweckmäßig-
keit, mangelnde oder übertriebene Skepsis vorzu-
werfen. Volles Gefühl der Verantwortlichkeit hat
obgewaltet.
Da ist es denn sehr bezeichnend und höchst
interessant, wie auch sonst fast regelmäßig, so
wieder bei diesen offiziellen Veranstaltungen wider-
sprechende Ergebnisse gezeitigt zu finden. Kommt
die preußische Behörde zu einer restlosen Ab-
lehnung, so hat die Tagung des Vereins zur Er-
') Vgl. Graf C. vonKlinckowstrem: Neues von der
Wünschelrute, Theoretisches und Kritisches. 2. Aufl. Tillessen,
Berlin 1919.
forschung der Wünschelrute in Heilbronn (Sep-
tember 1921) im Beisein aller Angehörigen der
geol. Landesaufnahme, anscheinend nicht so ent-
mutigenden Ausgang genommen, nachdem schon
im Vorjahre zu Görlitz die Geologie auf dem
Wünschelrutenkongreß lebhaften Anteil genommen
hatte. Hoffentlich wird man darüber in ähn-
licher Weise unterrichtet, wie das durch eine
Darstellung des Verlaufs der angestellten Ver-
suche von selten der preußischen geologischen
Landesanstalt ') geschehen ist. Auch die hollän-
dische geologische Reichsanstalt ist mit holländi-
schen und deutschen Rutengängern zu sorgsamen
Versuchen geschritten.-)
Daneben gehen die Einzeläußerungen von
geologischen Fachleuten einher. Unter den zu
ganz negativen Ergebnissen gelangenden seien die
betreffenden Veröffentlichungen von Cloos-Bres-
lau ^) und Gü rieh -Hamburg *) als besonders be-
achtenswert hervorgehoben. Den in der einen
oder anderen Form zustimmenden Vertretern hat
sich nach Ax. Schmidt*) und anderen neuer-
dings mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität
in heimatgeologischen Dingen Joh. Walther-
Halle ") beigesellt. Er hat „selbst lange Jahre
den Rutenproblemen ablehnend gegenüber ge-
standen", fühlt sich aber nach sehr umfangreichen
Versuchen mit Hilfe von Rutengängern nunmehr
überzeugt, „daß manche rein wissenschaftliche
geologische Frage sogar mit Hilfe der Wünschel-
rute gelöst werden kann". Selbstverständlich weit
entfernt, ersten überraschenden Eindrücken sich
blindlings hinzugeben, hat er die ganze Proble-
matik des eigenartigen Instrumentes erkennen
und anerkennen gelernt und gibt seine Erfahrungen
in ansprechender Weise wieder.
So ist es ein sehr treffender Vergleich, wenn die
gewöhnliche hydrologische Anschauung des Geo-
logen von der Erdrinde dem Bilde zur Seite gestellt
wird, das der Anatom aus dem vor seinen Augen
') Zur Wünschelrutenfrage (l. Die mit Rutengängern im
Dezember 1920 angestellten Versuche der Preuß. Geol. Landes-
anstalt). Berlin N 4, 1921. 3 M.
*) Zeilschr. f. Wünschelrutenforschung, Okt.-Heft 1921,
s. 38—41-
') H. Cloos: Zur Wünschelrutenfrage. Beobachtungen
und Versuche. Zentr.-Bl. f. Min., Geol., Paläontol. 1918,
Nr. I u. 2.
*) G. Gürich: Die Wünschelrutenfrage in Hamburg,
Untersuchungen und kritische Betrachtungen. Gente-Ham-
burg 1920.
*) Axel Schmidt: Der heutige Stand der Wünschel-
rutenfrage. Jahrb. Ver. f. vaterl. Naturk. Württemberg 1919.
") Joh. Walther: Das unterirdische Wasser und die
Wünschelrute. Gernrode/Harz 1921. 32 S.
so
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 4
liegenden entbluteten Leichnam gewinnt, wogegen
der Rutengänger dem Kliniker entspricht, „der das
Spiel der Nerven, den Puls des Blutkreislaufs und
den Blutdruck der lebenden Gewebe beobachtet".
Daraus läßt sich mancherlei Nichtverstehen auf
beiden Seiten wohl erklären. Walt her scheint
sogar geneigt, in der Erforschung des Problem-
komplexes Aufgaben zu sehen, „die geeignet sind
unser Wirtschaftsleben einer neuen Blüte ent-
gegen zu führen". Ob die Zeit schon reif ist,
ein so gänzlich unerklärtes Phänomen schon der
Praxis zu empfehlen, darüber darf man verschiedener
Meinung sein, wenn schon es mit dem elektrischen
Strom nicht viel anders gewesen ist. ,. Jedenfalls
wird es sich immer lohnen, bei der Wasserver-
sorgung eines größeren Verbrauchsortes zuerst
dem Kenner der Geologie der Heimat das Wort
zu geben." Ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten
der sicherer gegründeten Wissenschaft mit dem
noch geheimnisvollen „Fühlhebel" ist es, dem er
warm und mit guten Gründen das Wort redet. ^)
Ein Widerspruch scheint darin zu liegen, daß
Walt her die Wünschelrute als „ein mechanisches
Hilfsmittel erklärt, um nervöse Reizzustände sicht-
bar zu machen", nur mit Muskelreaktionen gegen
die Reize von außen rechnet, nachdem vorher die
in der Tat immer wieder überraschende Erfahrung
geschildert wurde, daß „zwei kräftige Männer den
Auftrag erhalten, mit je einer Hand die Rute
festzuhalten, und ein stark begabter Rutengänger
durch bloßes Auflegen der Hände die
Rute zu kräftigstem Ausschlag bringt".
Zu den förderndsten Beiträgen über die Frage
dürften die statistischen Erhebungen zu rechnen
') Ein wichtiger Erfolg ernsthafterer Beschäftigung der
Geologenwelt mit dem Rutenproblem ist auch auf der anderen
Seite schon sichtbar: Die Leitsätze Dr. T. Beyers (Zeitschr.
für WünschelrutenforschuDg, November 1921, S. 52 — 53) für
das Zusammenarbeiten untersagen dem Rutengänger die geo-
logische Ausdeutung seiner Beobachtungen. Natürlich fällt
damit die ganze Schwere der Verantwortung auf den Geologen.
Man wird das aber sachlich nur gerechtfertigt nennen dürfen.
sein, die Range*) in zwei getrennten Gebieten
mit aridem Klima und daher ausgeprägterem
Charakter der Grundwasserkörper anzustellen Ge-
legenheit hatte : in Deutsch-Südwestafrika vor und
an der Palästinafront im Weltkriege. Das Ergebnis
sei hier in Kürze wiedergegeben:
Afrika
Orient
Für die Statistik verwert-
bare Bohrungen
435 bzw. 227
27
davon überhaupt wasser-
fundig
347(8o<-/o) „ 184(810/0)
io(37°/o)
praktisch verwertbar
2io(48''/„) „ S2(37»/o)
4U5%)
Tiefenangaben Uslars zu-
treffend bei
62''/„ „ 34 "/o
(Fehlergrenze ges. 10 m).
„Es haben also reichlich dreiviertel aller
Wünschelrutenbohrungen Wasser angefahren, aber
weniger als die Hälfte hat ein praktisch brauch-
bares Ergebnis geliefert." „Ein unsicheres Hilfs-
mittel, Wasser zu finden, wird die Wünschelrute
wohl immer bleiben. Gerade dadurch aber, daß
sie die Bohrtätigkeit anregte, hat sie manchen
Nutzen gestiftet und so mancher Schatz ist ge-
hoben, der ohne sie wohl noch lange ungenutzt
im Schöße der Erde geschlummert hätte." Das
ist ein reichlich indirektes Lob, aber doch auch
keine Verdammung in Bausch und Bogen. Viel-
mehr tut gerade die sehr klare Objektivität der
Rangeschen Darstellung wohl.
Zu welcher Stellungnahme sich immer der
Einzelne im gegenwärtigen Zeitpunkt gedrängt
fühlen mag, in der tatkräftigen Beschäftigung mit
dem reizvollen Wünschelrutenproblem auf allen
Seiten muß jeder, der am Ringen um die Hemm-
nisse der Erkenntnis Freude empfindet, ein gutes
Zeichen für den Geist der so tief aufgerührten
Zeit erblicken.
') P. Range: Die Ergebnisse des Wassersuchens mit der
Wünschelrute in Südwestafrika und im Orient. „Die Wünschel-
rute" 1920. Vgl. Ders. : Das Problem der Wünschelrute.
Diskussion in der Ingenieur-Zeitung Sept. 1921, S. 313 — 315.
[Nachdruck verboten.]
Znr Grnndleguiig der Ganzheitsforderung der Biologie.
Von H. Latzin, Atzgersdorf bei Wien.
Mit I Abbildung im Text.
In Fortsetzung einer in der Zeitschrift für all-
gemeine Physiologie B. XIX H. 1/2 erschienenen
Arbeit des Verfassers über organische Wahrschein-
lichkeitstheoreme haben sich diesem einige merk-
würdige neue Gesichtspunkte ergeben, die er, ob-
wohl die funktionentheoretischen Untersuchungen
über diesen Gegenstand noch nicht abgeschlossen
sind, ihres allgemeinen Interesses halber doch in
vorläufiger Fassung bekanntgeben möchte.
Es betrifft das Postulat der Personalganzheit
der Organismen, wie Driesch das Faktum be-
nannt hat.
Wir können unter Ganzheit dreierlei verstehen.
Einmal Begrifisganzheit, diese kommt für uns als
rein logisch nicht in Betracht. Sodann Wirkungs-
ganzheit, wie es jede Maschine ist und schließlich
Personalganzheit, die durch diesen Begriff zu-
sammengefaßte Funktions- (Handels-) und Form-
wesenheit der Organismen.
Ich glaube von einer näheren Definition dieses
Begrifies um so mehr absehen zu können, als ja in
dieser Zeitschrift oft genug auf ihn hingewiesen
wurde (siehe das Referat über Ungerer, Die Re-
gulationen der Pflanzen.)
I.
Verfasser ging von der uns hier nicht weiter
N. F XXI. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Si
berührenden metaphysischen Hypothese aus, daß
die Ganzheit nur eine andere Form der
Allheit, des Absoluten oder der Ge-
samtwelt sei, derart daß der im Raum
und Zeit beschränkte Organismus die
in seinem Innern sich abspielenden Vor-
gänge auf die Totalität des Raumes und
der Zeit (= Welt) abbilde. Dann muß näm-
lich jedes Lebewesen auch eine Ganzheit sein;
denn ein größerer Abbildungsraum als die Un-
endlichkeit ist nicht mehr möglich und ein klei-
nerer widerspräche der Abbildungsfunktion, die
ein ganz bestimmt definierbarer mathematischer
Begriff ist.
Als Veranschaulichung dieses unanschaulichen
Theorems können wir eine unendliche Ebene
heranziehen, die in unendlich viele kleine Rechtecke
zerlegt ist.
Teilen wir den Punkten dieser Ebene Z die
Menge aller komplexen Zahlen z zu (Z als kom-
plexe Zahlenebene), so wird durch eine gewisse
Funktion f(z) jedes der Rechtecke nach den Regeln
der Funktionentheorie umkehrbar, eindeutig und
konform (=:winkeltreu) auf die gesamte unendliche
Halbebene von Z abgebildet; f(z) ist eine ellip-
tische Funktion spezieller Art. Die Menge
derZahlen z ist ein Koordinatensystem
(ein 2-dimensionalesl =x-(-yi), ihre
Rolle in der Gleichung erfüllen in der
lebenden Substanz die Anschauungs-
formen des betreffenden Organismus. Wir
fassen hier jegliche Anschauungsform, ohne auf ihre
neuere erkenntniskritische Behandlung einzugehen,
als Ordnungsschematischen Begriff auf, deren ein-
zelne Teile die Begriffsganzheit in sich, nicht unter
sich enthält. Für den Organismus sind die An-
schauungsformen scheinbar a priori vorhandene
Ordnungsschemata, mit denen er seine Erlebnisse
auf seine Totalität abbildet (oder begreift ?). Und
während wir jedes Koordinatensystem und die
in ihm ausgeführten Funktionen in unserem In-
tellekte trennen müssen (die „Kurve" Im Koor-
dinatensystem ist eine fortwährende neue Asso-
ziation zwischen Anschauungsform und Funktions-
begriffl), sind in der lebenden Substanz beide innig
verbunden. Mit dem Kategoroid, wie wir diesen
organischen Faktor aus einem gleich näher zu er-
örternden Grunde nennen wollen, ist die Unendlich-
keitsabbildung und das dazugehörige Koordinaten-
system zugleich gegeben, ein Hinweis darauf, daß
Mathematik allein für Biologie ungenügend ist. —
Die Gesetze des logischen Verbindens der er-
füllten Anschauungsformen nannte Kant Kate-
gorien (statt Gesetze ist vielleicht besser zu
sagen Verknüpfungsformen!), und wir dürfen die
Totalitätsfunktion f(z), das Vitalaxiom , als die
den intellektuellen menschlichen Kategorien vor-
hergehende, den Anschauungs formen noch
immanente Kategorie ansehen. Vital-
axiom deswegen, weil es wie ein Axiom einer
Wissenschaft dem handelnden Leben als Richt-
schnur für sein Verhalten dient. Es ist der
mathematische Ausdruck des Instinktes. Seine
wesensheitliche Verbindung mit den Anschauungs-
formen ist eben das Kategoroid.
Soweit das psychoide Element unserer Unter-
suchung.
II.
Jede unendliche Ebene Z läßt sich so in unend-
lich viele gleichgestaltete und gleichgroße Figuren
— Gebiete zerlegen, daß sie gleichmäßig und
lückenlos von diesen überdeckt erscheint.
Aber nur in ganz bestimmt gestalteten solchen
Gebieten F können durch eine Funktion f(z) alle
Punkte im Innern von F eindeutig und umkehrbar
den Punkten der ganzen Ebene Z zugeordnet
werden. So also, daß die ganze Ebene Z auf
jedes seiner Teilstücke abgebildet wird und um-
gekehrt.
V .V
^ & ffi
IV
0 ^ $
III
^ ^ *
^Pole^A
(i> o>
I Doppelperiode
zu jedem Rechtecke (I...) gehören
1 Pol (1..,6)A zweiter Ordnung
Einfachste elliptische Funktion nach Weierslrass.
Eine solche Funktion heißt eine elliptische
(vgl. obenstehende Figur). Der Mathematiker
unterscheidet die unendliche Halbebene Z, auf
die alle F durch f(z) abgebildet werden, von der
Ebene der Gebiete selbst und nennt sie aus nicht
näher zu erörternden Gründen die unendlichblättrige
Riemannsche Fläche f(z). Dieser bei weiterem
Eindringen in unsere Materie sehr wichtige Um-
stand kommt für den momentanen Bedarf zur vor-
läufigen Orientierung nicht in Betracht.
Rein funktionentheoretisch zerfällt jede ellip-
tische Funktion f(z) in eine unendliche Summe von
Teilfunktionen g(z), die selbst wieder von ihren so-
genannten Polen, das sind Stellen in der Ebene Z,
wo die Funktion unendlich wird, abhängig sind.
Die Anzahl dieser Pole und deren
funktionentheoretische Ordnung ist in
jedem der Gebiete gleich. Aus der Lage
der Pole in einem Gebiet kann nach dem Satze
von Mittag Leffler die ganze Funktion f(z) bis auf
einen additiven Bestandteil abgelesen werden.
g(z) sind die sogenannten Hauptteile einer mero-
morphen Funktion.
52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 4
Jeder Pol liefert für den Hauptteil einen be-
stimmten Bestandteil f/)(z), der, wenn nicht mehr als
ein Pol im Gebiet oder allgemeiner der Doppel periode
r (wegen der Periodizität dieser Funktion f(z);
in jedem Gebiet durchläuft sie ja alle ihre Werte,
um im nächsten erneut zu beginnen) vorhanden
ist, selbst zum Hauptteil wird. Wir haben also
oo
f (z) = Konstante + ^ ((rJ^) • • • + yi(z)
a . . . X die verschiedenen Pole in der Periode,
oo
:g ihre gemeinsame Summe über alle F.
1
Die Gesamtfunktion ist also eine bloße Summe
von gleichwertigen Teilen.
Sobald wir nur einmal die allgemeine iVIethode
zur Entwicklung der Funktion g(z) = cpjz) . . .
-j- yi(z) erkannt haben, können die Pole eines F
beliebig angenommen oder ausgetauscht werden,
jedesmal eine andere, aber ebenfalls eine ellip-
tische Funktion ergebend. Ebenso, wie der
Organismus eine ganzheitliche Summe
der Funktionen oder Erbeigenschaften
seiner Gene ist.
Die Gene sind in unserer Theorie diejenigen
Punkte im Organismus, wo das Psychoid, das Kate-
goroid, mit der Materie zum innigsten Zusammen-
wirken gelangt. Materiell entsprechen den Polen
oder Genen eines Gebietes F unserer f(z) die De-
terminanten. Daß hier der Angriffspunkt des
Lebens an der Materie liegt, ergibt sich daraus,
daß die Materie ebenfalls als eine F"unktion des
Absoluten mit diskreten Häufungspunkten ähnlich
den Polen als Unendlichkeitspunkten anzusehen
ist. Die daraus fließende metaphysische Theorie
der Materie wird in dem zusammenfassenden
Werke des Autors nachzulesen sein.
Jedes der Gebiete F einer Doppelperiode mit
X singulären Stellen (oder Polen), die durch f(z)
auf die Totalität abgebildet werden, ist ein Moment-
bild des Lebewesens f(z) in einem bestimmten,
durch die Hauptteile (p{z) festgelegtem Reizzustande.
Diese Reizqualitäten (fiz sind die pri-
mären Sinnesqualitäten der Psycho-
logie! —
Leben ist fortwährendes Fließen. Sein Wesen
ist nicht allein seine Ganzheit, sondern ebensosehr
auch die beständigen stationären Bewegungsvor-
gänge seiner selbst. Eines der Gebiete F nach
dem anderen wird zum Momentanzustand des Or-
ganismus, ohne Rast werden sie vom Leben durch-
laufen, fortdauernd den Reizzustand wechselnd,
soweit die materielle Erfüllung der Gene mit den
Determinanten der Veränderung folgen kann. Von
dieser materiellen Menge, die den Genen koordiniert
ist, hängt die Fassungskraft der primären Quali-
täten, die Mneme ab.
Denn das Kategoroid an sich, diese immer-
währende Setzung von Funktionen in der Totalitäts-
ebene, hat keine Grenzen in seinem Flusse. Ihm
steht die gesamte unendliche Ebene offen. Grenzen
der unendlichen Möglichkeit fordert allein die
Materie, deren Anhäufung oder Verschwinden am
Wirkungsgebiete der Pole, wo die Funktion f(z)
materielle Eigenschaften annimmt. Grenzen, die
einerseits zwar wie alles Grenzhafie Einschränkungen
sind, andererseits aber die Erreichung eines bio-
logisch-zweckdienlichen Gebietes F mit der ge-
forderten Reizzustand cp^{z) . . . ffjz) (oder Polen)
durch Vorhandensein der entsprechenden Deter-
minanten sehr erleichtert. Überhaupt erst das
bedingen, was statt der bisher behandelten statischen
Ganzheit dynamische Ganzheit genannt werden
kann. Das ist aber der eigentliche Inhalt des
Lebens I
Das Gedächtnis als reine Funktion der Materie
ist die Ursache der immerwährenden Verknüpfung
des Lebens an sich, der wirkenden Ganzheitsbe-
ziehung, mit der lebensfremden Materie.
Das Hinausfahren von F über das individuell
mögliche Feld auf der Ebene Z führt zu neuen
Organismen, vorläufig noch gleicher Art, die in
einem konzentrischen Kreise um den Mutter-
organismus gruppiert sind. Je weiter die Kreise
werden, um so unähnlicher die Organismen. Die
ganze Ebene Z repräsentiert die gesamte Lebens-
heit, also ein und dieselbe Totalität f(z) für alle
Lebewesen, nach Driesch's Nomenklatur
eine, und nur eine Entelechie, oder
nicht metaphysisch, Ganzheit für alle
Organismen.
Denn jedes Gebiet F, wo immer in der Ebene
Z, wird durch f(z) auf die gleiche unendliche
Ebene abgebildet.
Die strenge Fassung eines einheitlichen Lebens,
das sich in vielen diskreten Organisationen ob-
jektiviert, und die mathematische Behandlung der
Ganzheitsprobleme eröff'nen der hier kurz skizzierten
Methode exakter biologischer Forschung die Mög-
lichkeit, die zum Fortschritt einer wirklich wissen-
schaftlichen Biologie unumgänglich nötige Philo-
sophie in selbst für Nichtmetaphysiker einwand-
freier Weise einzuführen.
Ein Weg, den zuerst gewiesen und begangen
zu haben, Driesch's Verdienst ist. Denn Bio-
logie ist im tiefsten Grunde ihres Wesens eigent-
lich Philosophie, das Problem der Realität,
die Fragen der Erkenntnistheorie u. a. m.
nur eine andere Formung zur Betrach-
tung des Kategoroids!
Einzelberichte.
Die Homologie der Wirbeltierkiemen.
Die Kiemenspalten der Wirbeltiere entstehen
gewöhnlich zunächst als Ausbuchtungen des
Schlunddarms, denen dann je eine Einbuchtung
der Oberhaut entgegenkommt. Nach erfolgtem
Durchbruch der Spalten bilden sich auf den
N. F. XXI. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
53
stehengebliebenen Kiemenbogen die wagerechten
blutreichen Kiemenblättchen aus, deren Gesamt-
heit auf einem Bogen — die vorderen und die
hinteren — je eine Kieme darstellt. Die bei
dieser Sachlage oft schwer entscheidbare Frage,
ob die Kieme Haut- oder Darmursprung hat, ist
bisher verschieden beantwortet worden. Jacobs-
hagen sucht sie einheitlich zu beantworten.*)
Um das Ergebnis der Klarheit halber vorweg-
zunehmen: er entscheidet sich für den ekto-
der malen Ursprung des Kiemenepithels.
Beim Lanzett fisch gibt es über loo Kiemen-
spalten, aber keine aus Blättchen bestehenden
Kiemen an ihnen. Am komplizierten Blutverlauf
in den Kiemenspalten ist für unsere Frage das
wesentlichste, daß das Blut von unten her an der
Außenseite des Bogens emporgetrieben wird
und nach gewissen Verzweigungen der Gefäße
mehr an der Innenseite nach oben abfließt.
Mithin entsprechen die Außengefäße den Kiemen-
arterien der Wirbeltiere, und gerade über ihnen
liegt besonders ausgebildetes Epithel von breiten,
niedrigen Zellen auf sehr dünner Basalmembran.
Wegen ihrer Außenlage ist kein Zweifel, daß sie
der Haut angehören : „die Kiemenatmung der
Akranier ist eine modifizierte Hautatmung".
Die Kiemenblätter der Fische entstehen
allgemein als je eine vordere und eine hintere
Reihe anfangs knopfartiger Büschel, die zunächst
in kurze Fäden ausgezogen werden, hierauf sich
wagrecht zur Gestalt des Kiemenblattes verbrei-
tern. Stets entstehen sie an der Außenkante
des Kiemenbogens, so bei Lungenfischen (Cera-
todus) nach Greil, beim Stör nach Goette
und bei Selachiern und Knochenfischen nach
übereinstimmenden Angaben. Greil hat zwar
trotzdem für Ceratodus dargelegt, daß nach seiner
Ansicht die Kiemenblätteranlagen seitens dorthin
gewanderter Entodermzellen, die sich durch ihren
großen Dotterreichtum als solche erweisen, ge-
bildet würden. Jacobshagen legt dar, daß er
ebenso wie Marcus dieser Ansicht nicht folgen
könne, der Dottergehalt könne durch physiologi-
sche Zustände innerhalb der Zelle modifiziert
werden und beweise nicht entodermale Herkunft,
zumal Jacobshagen alte Angaben vom Vor-
kommen von Plakoidschuppen auf den Kiemen-
blättern von Rochen oder von Teleostierschuppen
auf denen von Orthagoriscus bestätige, und der
histologische Aufbau der Kiemenblätter sich bei
allen Fischen, einschließlich der Lungenfische, als
homolog erweise.
Die Kiemenblättchen der Zyklostomen
werden vom Verf. für sich abgehandelt : ihr feinerer
Bau entspricht wiederum dem bei Fischen, doch
gilt seit Goette 1901 ihre Entstehung für ento-
dermal, da sie sich nicht auf der Außenkante der
Kiemenbogen, sondern auf deren Vorder- und
Hinterwand ziemlich weit entfernt vom Außen-
rande anlegen, insbesondere einwärts der hier
') E. Jacobshagen, Die Homologie der Wirbeltier-
Wemen. Jenaische Zeitschrift Bd. 57, 1920.
wie immer im Außenrande gelegenen knorpeligen
Kiemenbogenspange. Verf. macht nun darauf
aufmerksam, daß das knorpelige Kiemenbögen-
skelett der Zyklostomen wohl nicht dem ganz
anders gebauten der übrigen Fische gleichzusetzen
sei, ferner daß der die Kiemenblättchen bildende
Fleischteil des Bogens embryonal vorübergehend
fast gänzlich vom Knorpelbogenteil getrennt ist
und daß er wohl dem Außenteil eines Selachier-
kiemenbogens entsprechen könne , endlich daß
nach Scheffer anscheinend ektodermale Epider-
mis in die Kiemenspalten hineingedrungen sei
und im Kiemenblättchen tragenden Bereich das
entodermale Flimmerepithel teilweise verdrängt
habe. Somit würde auch hier der ektodermale
Ursprung des Kiemenepithels wenigstens als eine
Möglichkeit erscheinen, vorbehaltlich erneuter
ontogenetischer Prüfung.
Die oft als „äußere Kiemen" bezeichneten
Fadenkiemen der Embryonen der Sela-
chier und einiger niederer Teleostier
kommen für die hier behandelte Frage nicht in
Betracht, da sie nur aus den Kiemenspalten nach
außen herausragende Verlängerungen von Kiemen-
blättern sind, also denselben Ursprung haben
müssen wie letztere.
Bei den wirklich äußeren Kiemen der
Lungenfisch- und Krossopt ery gierem-
b r y o n e n jedoch, die sich übrigens bei Protopterus
zum Teil bis ins Alter erhalten, und die bei den
genannten beiden Fischgruppen wiederum unter-
einander übereinstimmenden feineren Aufbau
zeigen, ist wesentlich, daß sie den Lungenfischen
wiederum ohne Beteiligung der Entoderms und
zwar als je eine knopfartige Erhebung auf der
Außenkante der Kiemenbogen entstehen. Eine
Art äußerer Kiemen fern von jeder Kiemenspalte,
somit ganz sicher der Haut entsprossen , bildet
übrigens das Männchen des Krossopterygiers Le-
pidosiren vor der Fortpflanzungszeit aus, indem
dann die Medialfläche der hinteren paarigen
Flosse sich mit blutreichen Knöpfchen oder
Fädchen besetzt, was es vermutlich ermöglicht,
der Brutpflege obzuliegen, ohne zu der sonst ja
auch den Krossopterygiern gegebenen Lungen-
atmung greifen zu müssen. — Es ist, beiläufig
bemerkt, klar, daß diese Ausbildung auch in Be-
tracht kommt für die Frage der Ableitung der
Fischflossen von Kiemenbogen.
Bezüglich der embryonal oder dauernd vor-
handenen äußeren Kiemen der geschwänz-
ten Amphibien, die gleichfalls als je ein
Knötchen auf den Außenfläche jedes Kiemenbogens
angelegt werden, liegt die Streitfrage ähnlich wie
bei den inneren Lungenfischkiemen: auch sie
wurden von Greil als Gebilde dorthin gewan-
derten Entoderms angesprochen, was Verf. mit
Marcus nicht anerkennen möchte.*) Ähnlich bei
') Es dürfte auch in Betracht kommen, daß sie nach
Maurer, Morphol. Jahrbuch Bd. 14, 188S, vor Durchbruch
der Kiemenspalten entstehen , nachdem Ektoderm und Ento»
derm sich eben erst berühren. F.
54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 4
den äußeren Kiemen der Froschkaulquappen ; *)
obwohl hier die Teilnahme entodermaler Ele-
mente am Aufbau der Kiemen unumstritten ist:
sie beweise nicht die Bildung der Kiemen durch
das Entoderm. Nach ihrem Schwinden entwickeln
sich bekanntlich an den Kiemenbögen gleichfalls
vorübergehend neue Kiemen, die als innere zu
bezeichnen sind, weil sie unter einer inzwischen
entwickelten kiemendeckelartigen Hautfalte liegen.
Sie entstehen wie Fischkiemen als je eine Knöt-
chenreihe an der Vorder- und Hinterkante der
Außenfläche jedes Kiemenbogens, gelegentlich
auch mehr der Mitte seiner Außenfläche genähert.
Hiernach wägt Verf., da jene Kante mit der
Ektoderm Entodermgrenze zusammenfällt, ab, daß
der ektodermale Ursprung der wahrscheinlichere
sei. Ekman gibt Greil, der auch hier ento-
dermalen Ursprung annimmt, soviel zu, daß
Entodermunterschiebungen auf der Außenfläche
des Kiemenbogens vorkommen, hat aber nur
selten einzelne Entodermzellen in den knötchen-
förmigen Kiemenanlagen beobachtet.
Franz.
Freie Ammonium-Radikale II.
Nachdem W e i t z ^) die Darstellung eines freien
Ammoniumradikals gelungen ist, hat nunmehr
H. H. S c h 1 u b a c h in Gemeinschaft mit F. B a 1 1 -
auf die Existenz des Tetraäthylammoniums und
sogar die des Radikals Ammonium NH^- selbst
wenigstens in Lösung nachweisen können.^) Da-
mit ist also auch das wichtige Ammonradikal
seines nur hypothetischen Charakters entkleidet
worden. Aus früheren Beobachtungen Schlu-
bachs war hervorgegangen, daß die Farbe der
Lösung von freiem Tetraäthylammonium, (C2H5)^N-,
blau ist. In dem Auftreten und dem Bestehen
dieser Farbe hat man also zunächst einmal einen
Anhalt für das Vorhandensein des Radikals. Dessen
Darstellung ist lediglich eine Frage der experi-
mentellen Geschicklichkeit. Wenn bei — 70" eine
Lösung von Tetraäthylammoniumjodid in flüssigem
Ammoniak elektrolysiert wird, so tritt in bekannter
Weise eine Wanderung der Ionen des Salzes ein:
(C,H,\NJ = (QHJ.N- + y
Da das Teiraäthylammonium Ion positiv ge-
laden ist, so scheidet es sich an der Kathode ab.
Die Flüssigkeit um die Kathode wird also tief-
blau. Die tiefblaue Lösung zeigte nun in der
Tat alle Umsetzungen des erwarteten Radikals,
verhielt sich also in hohem Grade ungesättigt.
Mit Jod trat augenblicklich Entfärbung ein (Rück-
bildung des Tetraäihylammoniumjodids) , mit
Schwefel bildete sich alsbald das wasserlösliche
Sulfid. Es ist also außer Zweifel, daß in der
') Sie entstehen unmittelbar nach Durchbruch der
Kiemenspalten. K.
2) Naiurw. Wochenschr. N. F. XXI.
*j Der. d. d. ehem. Gesellsch. 54, S. 281 1 und 2825.
1921.
blauen Lösung wirklich Tetraäthylammonium der
Formel (CjHg^^N- vorhanden ist.
Die beschriebenen blauen Lösungen sind nicht
beständig. Nach einigen Stunden schon sind sie
entfärbt. Trotzdem geben sie auch dann noch
die Reaktionen des freien Radikals. Auf Grund
besonderer Versuche und in Analogie zu ver-
wandten Erscheinungen muß man annehmen, daß
sich alsdann die blaue in eine farblose Form
des Radikals umgewandelt hat. Sie ist ebenfalls
wenig stabil und zersetzt sich schon bei der
Temperatur des siedenden Ammoniaks. Die farb-
lose Form ist ein Dimeres der blauen, d. h. das
hochgradig ungesättigte freie Radikal verkettet
sich mit einem zweiten im Sinne der Beziehung:
2(QH,),N... = (C,H,),N...N(,HJ,
blau farblos
Ganz entsprechende Verhältnisse sind von ande-
ren Radikalen bekannt : *) so z. B. von Stickstofif-
dioxyd.
Nachdem also hiermit der Nachweis der Exi-
stenzmöglichkeit eines weitgehend substituierten
Ammonradikals geliefert ist, kann es nicht ver-
wundern, daß auch dem Ammonium selbst,
d. h. der Gruppe NH^ . . eine gewisse, wenn na-
türlich auch sehr geringe StabiHtät bei gewissen
Bedingungen zukommt. Diesen wichtigen Nach-
weis zu liefern ist Schlubach und Bai lauf
ebenfalls gelungen und damit die Entscheidung
einer chemisch - experimentellen F"rage, die seit
Davys Zeiten die besten Experimentatoren be-
schäftigt hat. Noch Ruff und Moissan ver-
neinten die Existenzmöglichkeit des Ammoniums
ganz. Wenn man nämlich das Ammonium aus
einer Ammoniumchloridlösung in flüssigem Am-
moniak mittels metallischen Kaliums in Freiheit
zu setzen versucht im Sinne der Gleichung
NH.Cl -f K = KCl + NH,-,
so gewinnt man Ammoniak, indem sich das zu-
nächst bildende Ammonium sofort zersetzt nach :
2NH^ =2NH3 + Ho.
Es wird also Wasserstoff frei. Damit hat man
gleichzeitig ein bequemes Mittel, die Zersetzung,
bzw. die Bildung von Ammonium festzustellen.
Wenn nun Schlubach eine sehr verdünnte
Lösung von Kaliummetall in flüssigem Ammoniak
in eine ebenfalls wenig konzentrierte Ammoniak-
lösung von Ammoniumchlorid bei — 70" und unter
Beobachtung größter Vorsicht zutropfen ließ, so
entfärbte sich jeder Tropfen der blauen Kalium-
lösuiig unter lebhafter Reaktion sofort, ohne
daß Wasserstoff entwickelt wurde 1 Hier ist also
zum ersten Male die Darstellung freien Am-
moniums gelungen, und zwar der farblosen Form,
denn an sich müßte analog dem Obigen das
Ammonradikal natürlich blau sein. Der analyti-
sche Nachweis freien Ammoniums ließ sich wie-
der durch den momentanen Umsatz mit Jod
führen. H. Heller.
') Vgl. Anmerkung 2.
N. F. XXL Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
Bücherbesprechungen.
Czapek, Prof. Dr. Fr., Biochemie der Pflan-
zen. 2. umgearbeitete Auflage. Bd. II und III.
Jena, G. Fischer. 66 bzw. iioM.
Der erste Band der 2. Auflage dieses hervor-
ragenden und in den Kreisen der Biologen und
Chemiker wohlbekannten Buches erschien bereits
191 3. Nach verhältnismäßig langer durch den
Wellkrieg bedingter Pause erschien 1920 der 2.
und überraschend kurz darauf der 3. Band, so-
daß jetzt das Buch vollständig vorliegt. Leider
hat der Verfasser sich des vollendeten Werkes
nicht lange freuen können; kaum als Nachfolger
W. Pfeffers nach Leipzig berufen, wurde er
vom Tode ereilt.
Czapeks Werk ist der erste umfassende
Versuch, den Chemismus der Pflanze in seinem
physiologischen Zusammenhange kritisch darzu-
stellen, und bedeutet gewissermaßen die F"ort-
setzung und den Ausbau der berühmten Pflan^.en-
Physiologie seines Lehrers nach der chemischen
Seite hin. Ein ungeheures Tatsachenmaterial ist
hier, geordnet unter pflanzenphysiologische Ge-
sichtspunkte zusammengetragen zu einem Buche,
das, wenn auch gewiß nicht in allen Teilen
gleichmäßig, doch überall in seiner Anlage ori-
ginell ist und noch auf lange Zeit ein un-
entbehrliches Hilfsmittel für physiologische und
biochemische Forschung darstellen wird.
Im zweiten, 541 Seiten starken Bande wird
zunächst die Darstellung der im aufbauenden
pflanzlichen Stoff"wechsel entstehenden Stoffgruppen
fortgesetzt. Es wird der Gewinn der stickstoff-
haltigen organischen Substanzen, namentlich der
Proteide, geschildert, wie er sich bei Bakterien,
Pilzen und grünen Pflanzen vollzieht. Bei letzteren
werden auch die Stoffumsetzungen bei der Keimung,
die Mobilisierungs- und Speicherungsprozesse usw.
ausführlich erörtert. Dann folgt im IV. Teil die
Darstellung der Rolle, die die Mineralstoffe im
pflanzlichen Stoffwechsel spielen, die ebenfalls für
die einzelnen Gruppen der Pflanzen sowie für
einzelne Organe, wie Samen, Knollen, Laubblätter,
Wurzeln gesondert durchgeführt wird.
Der dritte Band von 852 Seiten Umfang ent-
hält den Chemismus des abbauenden Stoffwechsels.
Er beginnt mit den mit Sauerstoffaufnahme ver-
knüpften Vorgängen der Atmung, die zunächst
allgemein physiologisch geschildert werden, und
geht dann über zu den mannigfaltigen weiteren
oxydativen Prozessen, die sowohl nach den
Materialien, die ihnen unterliegen, als auch nach
den gebildeten Stoffen abgehandelt werden. Daran
schließen sich die intramolekularen Atmungs-
vorgänge, zu denen die Reduktions^vorgänge der
Sulfate und Nitrate reduzierenden Bakterien sowie
vitale Reduktionen von Kohlenstoffverbindungen
und der Chemismus der Buttersäuregärung ge-
rechnet werden, während auffallenderweise die
typischen Fäulniserreger und das klassische Ob-
jekt, die Hefe, in diesem Zusammenhange nicht
berücksichtigt werden. Die Alkoholgärung ist
vielmehr im ersten Bande bei der Aufnahme von
Kohlehydraten durch Pilze, die Fäulnis dagegen
im zweiten Bande oben beim Eiweißabbau be-
handelt, was wohl nicht ganz zweckmäßig ist, da
so sinngemäß zusammengehöriges getrennt wird.
Es folgen dann die Produkte, die man gewöhnlich
als Endprodukte auffaßt und die Czapek ge-
radezu als „Ausscheidungsprodukte bezeichnet,
zunächst die N haltigen wie die Senföle, die
Purinderivate , Glukoside , Pyridinbasen usw.
Schließlich finden die außerordentlich mannig-
faltigen stickstoffreien zyklischen Kohlenstoff-
verbindungen, die Farbstoffe, Gerbstoffe, Gluko-
side, Benzolderivate, Terpene, Harze, Kautschuk-
substanzen eine eingehende Behandlung.
Besonders hervorzuheben ist, wie überall auch
die historische Entwicklung der Kenntnisse be-
rücksichtigt wird.
Umfangreiche Nachträge und Ergänzungen
sowie ein ausführliches Inhaltsverzeichnis machen
den Beschluß. Miehe.
Uexküll, J. V., Umwelt und Innenwelt der
Tiere. Zweite, vermehrte und verbesserte
Auflage. Mit 16 Textabbildungen. 224 Seiten.
8°. Berlin 192 1, Julius Springer. Preis 48 M.,
geb. 54 M.
Die Neuauflage des v. Uexküll sehen Buches
ist um anschauliche (nicht originale) Habitusbilder
vermehrt. An Stelle des Kapitels über den Reflex
ist eins über den Funktion^.kreis getreten. Von
sonstigen Änderungen und Verbesserungen sei
erwähnt, daß ein Kapitel über die Pilgermuschel
hinzugekommen ist. Die physiologischen oder,
wie der Verf. sie nennt, biologischen Forschungen
V. Uexkülls an den verschiedensten Wirbellosen,
unter häufigem experimentellem Eingriff in das
Nervensystem, haben stets die verdiente Beachtung
gefunden ; ihr Ziel ist, die Reaktionsweise des Tieres
im Einklang mit seinen Lebenserfordernissen zu
verstehen, und ihr allgemeines Ergebnis besteht
darin, daß das Tier nur auf die ihm vermöge
seiner Sinnesorgane gegebene Umwelt, auf diese
aber vollkommen eingestellt ist. Nehmen wir
einmal als Beispiel die Pilgermuschel. Sie hat
zwei sehr verschieden große Schließmuskeln. Der
kleinere ist der „Sperrmuskel", er schließt die
beiden Klappen fest aufeinander. Reizt man die
linke Kommissur zwischen Zerebral- und Viszeral-
ganglion und durchschneidet dann die Nerven-
verbindung zwischen letzterem und dem Muskel,
so bleibt er dauernd verkürzt oder „gesperrt".
Reizt man aber vor Durchschneidung der Nerven
die rechte Kommissur zwischen jenen beiden
Ganglien, so hebt dies die Sperrung des Muskels
auf. Der große Muskel ist dagegen der Bewegungs-
muskel, der die schwimmende Bewegung der
Muschel durch wiederholten Schalenschlag be-
wirkt. Bei seiner Tätigkeit ist der Sperrmuskel
S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 4
stets schlaff. Er untersteht dem Viszeralganglion
und wird namentlich durch Reizung der bekann-
ten Mantelrandaugen in Bewegung gesetzt. Ver-
dunkelung läßt nämlich die das Auge umgeben-
den Tentakeln auseinanderschlagen; nähert sich
der die Verdunkelung hervorrufende Körper im
Tempo eines Seesterns an, so flattern ihm alsdann
die Tentakeln entgegen. Sobald er sie berührt,
arbeitet der Bewegungsmuskel, und die Muschel
schwimmt eilends davon. „Der Feind wird in
eine Reihe aufeinanderfolgender Merkmale zerlegt,
die eine Reihe von Handlungen auslösen." Der
oft als rudimentär angesprochene Fuß dient in
Wahrheit als Wischtuch, um größere Fremdkörper
von den Kiemen fortzufegen. — Bezüglich der
Manteltiere legt v. Uexküll dar, daß der ziem-
lich einfache Organismus einer Ciona über einen
durch Reizung der Kiemenhöhle hervorgerufenen
Ausspeireflex und einen beide Öffnungen im Falle
von deren Reizung verschließenden Schutzreflex
verfügt, daß das bekannte Gehirnganglion den
Tonus der gesamten Muskulatur dauernd herab-
setzt, denn nach seiner Entfernung verfallen sie
in Konlraktionsstarre oder „Sperrung", daß ferner
nur bei vorhandenem Ganglion Reizung der einen
Öffnung fast gleichzeitigen Verschluß beider be-
wirkt, während bei fehlendem nur energische
Reizung langsam zur gleichen Wirkung führt,
dies augenscheinlich vermöge eines allgemeinen
Nervennetzes, und daß die durch den Schutzreflex
eintretende Steigerung des Wasserdrucks im Innern
die Erregung herabsetzt, also den Reflex bald
wieder aufhebt. Die Merkwelt einer Ciona be-
steht hiernach „bloß aus Schädlichkeiten", wäh-
rend „alle gute Nahrung reizlos in den Körper
wandert", v. Uexküll meint wohl nicht wirk-
lich, daß die Maschine einer Ciona ganz so ein-
fach sei, sondern es handelt sich mehr um das
Prinzip, Tier und Umwelt aufeinander zu beziehen.
Man könnte z. B. in seiner Analyse die positiv
phototropische Lichtreaktion, die auf auch hier
vorhandenen Mantelrand - Lichtsinnesorganen be-
ruht, vermissen. — In ähnlicher Weise werden
mehr als ein Dutzend Tierformen behandelt.
Die Schreibweise des Verf.s im vorliegenden
Buche, wo er den Leser stets vom Alltagswissen
ungezwungen in die Gelehrsamkeit , und zwar
ebensowohl in v. UexküUs eigene Unter-
suchungen wie in einschlägige anderer Forscher,
hineinführt, dient der Verbreitung dieser anziehen-
den Kenntnisse gut. Es ist nicht schwer, sich
mit der manchmal eigenen wissenschaftlichen
Terminologie des Verfs zu befreunden. „In der
Umwelt eines Tieres gibt es nur Dinge, die die-
sem Tier ausschließlich angehören." Dieser Satz
scheint mir der wichtigste von den 2i Schluß-
sätzen des Buches. Offenbar in diesem Gedanken
findet der Verf. denn auch zur Tropismenlehre,
die doch von einer ganz entgegengesetzten Auf-
fassung ausging, eine allerdings nicht ganz klare
Stellungnahme.
Der Verf. steht unter „dem frischen Eindruck,
den der Sturz des Darwinismus in uns allen her-
vorgerufen hat". Daß aber der Darwinismus ge-
stürzt sei und „die Erfolge eines halben Jahrhun-
derts heute unwesentlich" sind, wird vom Verf.
eben nur als seine Meinung hingestellt und keines-
wegs begründet. Es müßte denn sein, daß der
Verf. meint, der Darwinismus sei gleichbedeutend
mit der wenige Zeilen später gleichfalls von ihm
bekämpften „Lehre von der Vervollkommnung
der Lebewesen". Diese ist aber nur ein kleiner
Teil vom Inhalt des Darwinismus, allerdings der-
jenige, den viele Biologen heute als den verfehl-
testen der ganzen Entwicklungslehre betrachten,
zugleich derjenige, der scheinbar durch den
ganzen Inhalt des v. UexküUschen Buches
widerlegt wird. Und doch wird er dadurch
keineswegs widerlegt. Nehmen wir einmal
als Beispiel die Manteltiere: v. Uexküll leitet das
oben referierte Kapitel über diese Tiere mit aus-
zugsweise folgenden Worten ein : „Die freischwim-
menden Larven berechtigen zu den schönsten
Hoffnungen. Und dann dieser Rückschlag ! Ja
sie wirken in dieser moralischen Beleuchtung fast
wie ein warnendes Beispiel. Und doch ist diese
ganze Auffassung lächerlich." Wirklich? Wenn
wir uns, wie es der Verf. in anderem Sinne
für notwendig hält, „zu einem übermomentanen
Standpunkte erheben", so wird man kaum be-
zweifeln, daß die Fische längeren zahlreichen
Bestand im Meere haben werden als die Aszidien,
und jedenfalls sind sie bis heute schon viel zahl-
reicher, und für viele ähnliche Verhältnisse im
Organismenreich ist ganz dasselbe auch aus der
Paläontologie abzulesen, die leider bei den Mantel-
tieren versagt. Der Physiologe täte gut, auch der
Frage nachzugehen, worauf dies beruht. Bei
Jordan, den v. Uexküll oft erwähnt, finden
sich Ansätze dazu.
V. U e X k ü 1 1 s Buch soll daraufhin nicht weni-
ger empfohlen sein. Zweifellos spricht es aber
in diesem Punkte aus einer Zeitströmung, die auf
Unkenntnis der phylogenetischen Tatsachen be-
ruht. V. Franz, Jena.
Literatur.
Nee ff, Friedrich, Prolegoraena zu einer Kosmologie.
Tübingen '21, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 9 M.
Bavink, Bernhard, Ergebnisse und Probleme der Natur-
wissenschaft. 2. Aufl. Leipzig '21, S. Hirzel. 63 M., geb.
75 M-
lubalt: Edw. Hennig, Geologie und Wünschelrute. S. 49. II. Latzin, Zur Grundlegung der Ganzheitsforschung der
Biologie. (I Abb.) S. 50. — Einzelberjcbte Jacobshagen, Die Homologie der Wirbeltierkiemen. S. 52. H. H.
Schlubach und F. BaUauf, Freie Ammonium-Radikale II. S. 54. — Bücberbesprecbungen : Fr. Czapek, Bio-
chemie der Pflanzen. S. 55. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. S. 55. — Literatur: Liste. S. 56.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 43, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Xeue Folfre ci. Band;
der ganzen Reihe 37. Hand.
Sonntag, den 29. Januar 1922.
Nummer 5.
Die logische Stellung der Biologie im System der Wissenschaften.
(über den logischen Charakter der Biologie.)
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Adolf Meyer, Hamburg.
Wie jede Definition oder jedes Theorem in
der Wissenschaft, zu der es gehört, eine ganz be-
stimmte, nur ihm eigentümliche logische Stelle
einnimmt, so behauptet auch jede Wissenschaft
als solche im Systeme aller Wissenschaften einen
ganz bestimmten, nur ihr zukommenden , logisch
eindeutig charakterisierbaren Platz. Das System
der Wissenschaften ist vielleicht am ehesten einer
gewaltigen musikalischen Symphonie vergleichbar.
Die speziellen Wissenschaften sind dann charak-
terisiert durch die verschiedenen Instrumente, aus
deren Zusammenwirken dann eben jenes gewaltige
Symphoniekonzert resultiert, das wir menschliche
Wissenschaft heißen. Wenn es dann auch hin
und wieder nicht an Dissonanzen fehlt, wer wollte
sich darüber wundern, der weiß , wie jeglichem
Menschlichen eine gewisse Unvollkommenheit an-
haftet. Zudem ist die Komposition der Wissen-
schaft ja nie vollendet.
Im Folgenden soll nun versucht werden, den
eigentümlichen Charakter, den das Biologie ge-
nannte Instrument in jene Symphonie hineinträgt,
sauber für sich herauszuarbeiten. Wie der geübte
Musiker in der Lage ist, aus einem Konzert ein
einzelnes Instrument stets deutlich herauszuhören,
auch da, wo es nicht „die erste Geige spielt", so
wollen wir ein gleiches mit der Biologie ver-
suchen. Es handelt sich hier also, wohlverstan-
den, nicht darum, das Verhältnis der Biologie zu
ihren Schwesterwissenschaften genauer zu be-
stimmen, sondern wir wollen zunächst nur das
engere Problem in Angriff nehmen, die logischen
Koordinaten, die die logische Stellung der Biologie
im Systeme der Wissenschaften determinieren
und damit ihren logischen Charakter konstituieren,
genauer festzustellen.
Das, was jede Wissenschaft in ihrem innersten
Gefüge, in ihrer logischen Struktur letzten Endes
konstituiert, ist ihr Ideengehalt. Unter einer
Idee im logischen Sinne soll daher im
folgenden stets ein solches Logisma*)
verstanden werden, das den spezifi-
schen Charakter einer Wissenschaft in
programmatischer Weise beschreibt,
das also auch das Ziel kennzeichnet,
dem eine Wissenschaft mit den ihr
eigentümlichen Logismen zustrebt. In
diesem auf ein besonderes, den derzeitigen Be-
') „Logisma" nenne ich jedes logisch charakterisierbare
Element einer wissenschaftlichen Theorie , z. B. Konstanten,
Gleichungen, Syllogismen usw. Vgl. diese Zeitschrift Nr. 50
1920 und Nr. 25, 1921.
Stand einer Wissenschaft übergreifendes theoreti-
sches Ziel Gerichtetsein erblicke ich das logische
Charakteristikum einer Idee. Nur dadurch unter-
scheiden sich meines Erachtens Ideen von jenen
Logismen, die, wie Theorien, Hypothesen, Empi-
rismen, Prinzipien, Axiome usw., es sich lediglich
angelegen sein lassen, den gegenwärtigen
Bestand einer Wissenschaft möglichst zweck-
mäßig, d. h. benutzbar, darzustellen.
Durchmustert man nun nach solchen beherr-
schenden Ideen das System der Naturwissen-
schaften von der Geometrie bis zur Soziologie,
so heben sich meines Erachtens zwei wohl cha-
rakterisierte, als Gegenpole funktionierende Ideen
ganz besonders deutlich ab. Es sind dies die
Ideen der Mathematik un d der His t orie,
die Mathematisierung und die Historisierung aller
Empirismen, oder metaphysisch gesprochen, der
mathematische und der historische Anblick oder
besser Durchblick durch die Welt. Beiden Ideen
gemeinsam ist das grandiose Bestreben, das Ganze
der Welt und des Lebens in ihre logischen Netze
einzulangen. Dabei stehen sie in fundamentalem
Gegensatz zueinander. Wo die eine von ihnen
unumstritten herrscht, hat die andere ihr Recht
verloren, und wo die eine sich schwach erweist,
fühlt sich die andere unendlich stark. Hätte eine
von ihnen das leidenschaftlich erstrebte Ziel, alles
Wirkliche absolut zu durchdringen, je erreicht, so
würde die andere damit endgültig erledigt sein.
Da aber bei der Unendlichkeit des Universums
und der Begrenztheit alles Menschlichen ein sol-
ches Ziel schwerlich je erreicht wird, so wird der
Kampf beider Ideen um jedes Stück der Wirk-
lichkeit ein ewiger sein. Trotz ihrer Totfeind-
schaft sind sie beide doch voneinander abhängig
und aufeinander angewiesen, ja oft schließen sie
infolgedessen auf Zeit ein friedliches Kompromiß,
indem in noch strittigen Gebieten jede von ihnen
das zu leisten sich bemüht, was den Kräften der
andern versagt geblieben ist. Würde übrigens
eine von ihnen je das absolute Ziel erreichen, so
hätte sie die andere damit nicht nur endgültig
besiegt, sondern in einem höheren Sinne über-
flüssig gemacht und überwunden; denn jede
Frage, die die Überwundene nur hätte stellen
können, müßte in dem angenommenen unwahr-
scheinlichen Falle ja von der Siegerin beantwortet
sein. So würde ein endgültiger Sieg der einen
im Grunde auch eine versöhnende Vollendung
der anderen mit sich bringen. Allein es ist gut,
daß es soweit nie kommen wird, denn was gäbe
58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5
es noch Anziehendes für den Geist des Men-
schen, wenn der Kampf der Ideen fortfieie.
Jede von beiden hat ihre Domäne, in der sie
wurzelt, aus der sie immer aufs neue Kraft
schöpft für ihre stets wiederholten Vorstöße ins
unbekannte Land. So ist die Mathematik in
der sog. Na tur Wissenschaft beheimatet. Das
meint auch Kant, der geniale Schöpfer der
modernen Logik, wenn er einmal sagt, daß in
jeder echten Naturwissenschaft nur soviel wahre,
eigentliche Wissenschaft angetroffen werde, als
sie Mathematik enthalte. Demgegenüber ist die
Historie in den sog. Geisteswissenschaf-
ten verankert. Gleichwohl ist es absolut unzu-
lässig, zwischen beiden Gebieten prinzipiell un-
übersteigbare Grenzen zu ziehen. Denn wie bis-
her wird die Entwicklung der Wissenschaften auch
fernerhin alle prinzipiellen Schranken für nichts
achten. Wer wollte so vermessen sein, der Zu-
kunft unabänderliche Wege vorzuschreiben ? Es
ist infolgedesssen auch nicht zulässig, den hier
geschilderten Ideengegensatz auf eine so einfache
logische Formel wie den Gegensatz des „Nomo-
thetischen" und „Idiographischen", den die Badi-
sche Philosophenschule') herausgearbeitet
hat, zu bringen. Gewiß ist hier ein bedeutsames
Motiv in unserer Ideensymphonie mit bewunderns-
werter Klarheit herausgehört worden, ein Motiv,
welches zudem für die gegenwärtige Situation der
Wissenschaften besonders typisch ist; gleichwohl
ist es, wie ja auch die Diskussion jener geistvollen
These deutlich ergeben hat, unmöglich, den uns
beschäftigenden grandiosen Ideengegensatz in eine
so einfache Formel einzufangen. Man kann eine
Idee eben nicht ohne Gewaltsamkeiten auf eine
so glatte Formel bringen. Man muß sie schon
von verschiedenen Seiten her betrachten. Eine
andere, aber auch wieder für sich allein unzu-
längliche Formulierung unseres Ideengegensatzes
würde es sein, wenn man in der Mathematik und
ihren Abkömmlingen die Welt des Quantitativen
und ihre Ausbreitung, in der Historie dagegen die
des Qualitativen sehen wollte. Auch das be-
schreibt unfehlbar manche Eigentümlichkeiten
unserer Ideen, erschöpft sie aber auch nicht, denn
die Mathematik hat längst aufgehört, eine Wissen-
schaft des nur Quantitativen zu sein. Man denke
doch nur an den Zahlbegriff der Mengenlehre,
der enorm qualitative Eigenschaften hat, oder an
den Logiccaicul überhaupt, der die Synthese zwi-
schen der Mathematik und den Qualitäten der
Logik immer enger zu gestalten im Begriffe ist.
Auch können die Ikgriffspaare intuitiv (Historie.)
— discursiv (Mathematik) oder Welterkenntnis
') Man vergleiche; W. Wind elband , „Geschichte und
Naturwisscnschafi". Rede, Straflburg 1894. — H. Rickert,
Die Grenzen der naturwissenschafilichen Begriffsliildung, 2. Aufl.,
1913; Kulturwissenschaft und Nalurwissrnschaft, 3. Aufl.,
1915 — Zur Kritik: E. Troellsch, ,,Über Maßstäbe zur
Beurteilung historischer Dinge". Rede, Berlin 1016; „Über
den Begrifl" einer historischen Dialektik. I. VVindelband-
Rickeri". = Histor. Zeitschr. Bd. 119, 1919, Heft 3. —
Auf Kroners BUcher komme ich später zurück.
auf den Wegen von „Außen nach Innnen" (Mathe-
matik) und von „Innen nach Außen" (Historie)
unser Problem nicht restlos erschöpfen. Am ehe-
sten wäre dazu vielleicht noch der letztgenannte
Gegensatz ') imstande. Dafür ist er dann aber
auch reichlich unbestimmt gehalten und insofern
für wissenschaftliche Zwecke nicht zu ge-
brauchen. Metaphysisch gibt er ja fraglos gewisse
Perspektiven. Man sieht, es ist nicht möglich,
den Gegensatz Natur — Geist, oder wie das Pro-
blem in logischer Formulierung lautet, den Gel-
tungsbereich von Mathematik und Historie auf
endgültige Formeln zu bringen. Es handelt sich
hier eben nicht um ein für allemal lösbare Pro-
bleme, sondern um „Ziele" der Wissenschaften.
Es gibt also keine prinzipielle Grenze zwischen
Natur- und Geisteswissenschaften. Wer ihr Wesen
kennen lernen will, muß sich nicht an bloßen
Formeln genügen lassen, sondern die in ihnen
wirksamen grandiosen Ideen der Mathematik und
Historie auf ihre Arbeit begleiten und unvorein-
genommen ihr Tun betrachten. Was er dabei
an bequemen, aber inhaltsleeren Definitionen ver-
liert, wird ihm reichlich ersetzt werden „durch
den Zauber der Wirklichkeit, der ihre Scnöpfungen
schmückt", durch die berauschend schönen Per-
spektiven, die sie der Forschung stellen.
Verfolgen wir zunächst einmal in kurzen
Zügen die Idee der Mathematik auf ihrer
Reise durch die Welt. Ihr Ziel ist die immer
mehr fortschreitende Mathe matisierung der
Naturwissenschaften. Dieser logische Prozeß
ist freilich bekannter unter einem anderen Schlag-
wort, der mechanistischen Naturforschung
nämlich. Gleichwohl sind beide Ideen, wie ich
andern Orts ^) nachzuweisen mich bemüht habe,
im Wesen identisch. Wie z. B. die Mathemati-
sierung in den verschiedenen Naturwissenschaften
in logisch verschiedenem Grade aultritt, so auch
die mechanistische Idee. Gewiß ist die Mathe-
matisierung bis zu einem gewissen Grade un-
abhängig von der Verwirklichung des mecha-
nistischen Prinzips. Ist doch Mathematisierung
zunächst, rein als Anwendung aufgefaßt, nur
etwas Formales, während das mechanistische
Postulat stets inhaltliche Bestimmungen mitbringt.
Gleichwohl ist die äußerliche Mathematisierung
als Anwendung nicht die logisch höchst mögliche
Gestalt der Idee der Mathematik. In höchstem
Sinne mathematisiert ist vielmehr eine Wissen-
schaft nicht schon dann, wenn sie mathematische
Rechnungsarten und Gleichungssysteme verwendet,
sondern erst dann, wenn ihr Axiomensystem in
irgendeiner bestimmten Form auf das mathe-
') Dieses BegrifTspaar hat der Verf. in zwei, schon vor
2 Jahren geschriebmen, aber noch unediert beim ,, Archiv
f. syst. Philos." liegenden Aufsätzen: a) „Logik und Natur-
wissenschaft", b) ,,Zur Metaphysik der Wissenschaft" behan-
delt. Metaphysisch interessierte Leser seien darauf hinge-
wiesen.
■■'} Vgl. „Die mechanistische Idee in der modernen Natur-
wissenschaft". Naturw. Wochenschr. Jahrg. 1920, Nr. 50.
N. F. XXI. Nr. 5
Naturwisseiiäctiaftliche Wochenschrift.
59
matische, speziell geometrische Axiomensystem
fest bezogen ist. Diesen Prozeß hat ja erst jüngst,
worauf vor allem Hilbert*) hingewiesen hat,
die moderne Relativitätstheorie für die
Physik geleistet, wodurch diese „eine Wissenschaft
vom Range der Geometrie" geworden ist. Die
Geometrie kann nämlich bekanntlich schon
lange den Anspruch erheben, die im höchsten
Sinne mathematisierte Naturwissenschaft darzu-
stellen. Der Streit, ob die Geometrie eine aprio-
rische oder empirische Wissenschaft ist, ist
nämlich nicht nur völlig müßig, sondern enthält
auch eine ganz falsche Problemstellung. Insofern
als sie im höchsten Sinne — axiomatische Grund-
lage mit mathematischen Deduktionen — mathe-
matisiert ist, ist sie selbstverständlich eine aprio-
rische Disziplin. Insofern aber, als sie Natur-
wissenschaft ist und Empirismen in ihren Axiomen
(Parallelprinzip 1) verwendet — darauf, daß diese
Empirismen nur in den Axiomen verwendet
werden, kommt es hier an ! — , ist die Geometrie
auch eine empirische Disziplin. Denn Em-
pirie und Apriorität schließen sich
durchaus nicht aus. Jede Naturwissenschaft,
und wenn Hilberts Diagnose richtig ist, erleben
wir das zurzeit ja mit der Physik, kann eine apri-
orische Disziplin werden, in dem Augenblick
nämlich, wo sie logisch eine axiomatische Ge-
stalt annimmt. Für diese ist es wesentlich, daß
die fragliche Wissenschaft das, was sie auch an
Empirismen bedarf, nur noch in axiomatischer
Gestalt verwendet, womit natürlich nicht gesagt
sein soll, daß alle Axiome Empirismen sein
müßten. Ein großer Teil ist es jedenfalls. Alles
übrige vollzieht sich in einer apriorischen Wissen-
schaft dann nur noch in F"orm rein logischer
oder mathematischer Ableitungen, zumeist in den
Naturwissenschaften in Gestalt von D i f f e r e n t i a 1 -
gleichungen. Wir haben das geometrische
Problem hier deshalb so eingehend erörtert,
weil es, wie es gegenwärtig für die Physik akut
geworden ist, über kurz oder lang auch einmal
für die Biologie bedeutsam werden kann. Denn
wie alles in der Welt vollzieht sich auch die
logische Entfaltung einer jeden Wissenschaft in
streng gesetzmäßiger Weise, der näher nachzu-
gehen eben ein nicht unwesentliches, obschon
noch nicht genügend beachtetes Problem einer
jeden Logik ist.
Die Entfaltung der „mechanistischen" Idee in
den einzelnen Naturwissenschaften ist nun, wie
gesagt, nichts anderes als die Mathematisierung
in unserem logisch höchsten Sinne, dessen Ziel
eben auf eine Assimilation der Axiome der be-
treffenden Naturwissenschaften an die Axiome
derjenigen Naturwissenschaft, deren Mathemati-
sierung als bereits abgeschlossen gelten kann, der
Geometrie nämlich, hinausläuft. Es ist übrigens
charakteristisch für diesen der Geometrie seit
Euklid eigenen Charakter, daß man es fast ver-
gessen hat, daß die Geometrie trotz ihrer aprio-
risch-demonstrativen Konstitution dennoch eine
Naturwissenschaft, die vom Räume nämlich, ist.
Sonst hätte man den Prozeß der Mathematisierung,
der nach der Geometrie zunächst in der Mecha-
nik gewaltige Eroberungen machte, ja nicht
„Mechanismus", sondern „Geometrisierung" nennen
müssen. Dieser Begriff kommt erst heute, wo
die Physik im Begriffe steht, sich zu einer „Welt-
geometrie" auszugestalten, zu der ihm zukommen-
den logischen Bedeutung.
Von Geometrie und Physik kann man also
oder wird man, wenn nicht alles trügt, bald sagen
können, daß sie den Zustand höchster Mathemati-
sierung erreicht haben. Daß sie damit nicht „reine"
Mathematik geworden sind, braucht wohl nicht
besonders mehr betont zu werden, da sie ja zum
Unterschied von der „reinen" Mathematik in ihren
Axiomen solche von unzweifelhaft empirischer
Dignität stets behalten werden. Das hindert
wieder nicht, daß gleichwohl eine Tendenz in
diesen empirisch fundierten und apriorisch- demon-
strativ konstituierten Wissenschaften wirksam
bleibt, die dahin geht, die Empirismen unter den
Axiomen in ihrer Zahl auf ein Minimum zu be-
schränken. Das folgt ohne weiteres aus dem
Streben nach Apriorität, für das es ja nur einen
anderen, geläufigen Ausdruck bedeutet, wenn man
verlangt, immer mehr Empirismen, die einst-
weilen noch als „unabhängig" voneinander gelten
und darum logisch noch unentbehrlich sind, als
abhängig oder besser ableitbar von anderen auf-
zuweisen. Je weniger unabhängige Empirismen
noch in den Axiomen vorhanden sind, desto
weiter ist eine Wissenschaft fortgeschritten auf
dem Wege der Mathematisierung. Nur muß man
sich dann sehr davor hüten, in diesen wenigen
gebliebenen empirischen Axiomen und den deduk-
tiven Methoden, mit deren Hilfe aus ihnen die
abhängigen Empirismen errechnet werden können,
so etwas wie ein „Abbild", im Sinne der primi-
tiven Abbildtheorie, der wirklichen Zustände und
Vorgänge sehen zu wollen. Das führt letzten
Endes zu jenen gemachten Schwierigkeiten und
Problemen, die der Philosophie Bergson's oder
auch den damit innerlich verwandten Bemühungen
eines Driesch oder Köhler ^) zugrunde liegen.
Besonders Köhler hat in seinem außerordentlich
dankenswerten und gerade für theoretisch inter-
essierte Biologen besonders instruktiven Buche
die sich aus solcher Auffassung vom Wesen der
Naturwissenschaft, der er wohl unbewußt anhängt,
ergebenden Schwierigkeiten für die mathematische
Theoretisierung der Natur wohl am eindringlichsten
aufgespürt. Aber alle diese zurechtgemachten
Probleme fallen, wenn man sich völlig darüber
klar wird, daß es nie und nimmer Aufgabe
') „Die Grundlagen der Physik I." — Nachrichten von
der Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Math.-phys. Kl. 1915.
') „Die physischen Gestallen in Ruhe und im stationären
Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung." Braun-
schweig 1920.
6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5
der Naturwissenschaft ist, die Wirklich-
keit zu beschreiben. Einziges Ziel ist,
sie zu beherrschen. Wenn ich sie nur allen
meinen irgendmöglichen theoretischen und
praktischen Zwecken — das ist also kein Pragma-
tismus! — nutzbar machen kann, dann ist es mir
vollkommen gleichgültig, wie sie „an sich", „im
Innersten", ihrem „Wesen" nach beschaffen ist.
Darüber mehr oder weniger nützliche Betrach-
tungen, deren Wert und Notwendigkeit für die
Ethik wir keineswegs leugnen wollen, anzustellen,
muß den Metaphysikern überlassen bleiben. Für
die Wissenschaft ist die Metaphysik — darin sind
wir völlig Positivisten im Sinne Machs — noch
stets vom Übel gewesen. ^) Es ist daher auch
niemals eine sinnvolle Aufgabe für naturwissen-
schaftliche Deduktionen, z. B. das Resultanten-
gesetz, wirkliche Vorgänge erschöpfend wieder-
zugeben. Wenn sie nur die jeweils verlangten
Empirismen, Konstanten, also zumeist Maß-
zahlen, soweit sie für den bestimmten theo-
retischen oder praktischen Zweck in Frage
kommen, rechnerisch richtig ableiten, haben sie
ihre Schuldigkeit getan. Mehr kann billiger Weise
nicht von ihnen verlangt werden. Darüber hinaus
können sie keine Wirklichkeit wiedergeben oder
abbilden. Die Wirklichkeit selbst ist, das zeigt
die ganze Geschichte ihrer bisherigen logisch-
mathematischen Bewältigung, prinzipiell unaus-
schöpfbar, nicht abbildbar, nicht wiederzugeben
oder an sich zu beschreiben, „irrational", wie die
Metaphysiker sagen, oder kontingent, wie wir
als vorsichtige Logiker dergleichen logische Prozesse
stets nennen wollen. Der Begriff der Kontin-
genz wird leider in den herrschenden logischen
und erkenntnistheoretischen Richtungen mit Aus-
nahme des vortrefflichen Emile Boutroux, der
ihn benutzt hat, um eine sehr interessante, wenn
auch kaum unangreifbare Philosophie darauf auf-
zubauen, über Gebühr vernachlässigt. Wir werden
noch oft Gelegenheit haben, auf das Problem der
Kontingenz und seine große Bedeutung für die
Logik zurückzukommen.
Logisch läßt sich die strukturelle Verschieden-
heit von sogenannter „reiner" Mathematik und
der mathematisierten Naturwissenschaft, von der
inhaltlichen Verschiedenheit der beiderseitigen
Theoreme natürlich eo ipso abgesehen, nunmehr
dahin charakterisieren, daß die Axiome der
Mathematik — und erst recht natürlich die der
„reinen" Logik, die es nämlich auch gibt, obwohl
sich die psychologistischen und metaphysischen
Irrfahrten der nachkantischen Logik in Deutschland
alle Mühe gegeben haben, sie nicht zu sehen —
keine Empirismen enthalten. Daß Logik und
Mathematik darum nicht rein formale Disziplinen
sind, das weiß jeder, der jemals etwas von dem
reichen Inhalt der Mathematik erfahren hat.
Diesen Unterschied hat v. Kries^) sehr treffend
so zu charakterisieren versucht, daß er die Urteile
der Logik und Mathematik „Reflexionsurteile"
nennt. Von der wissenschaftspsychologischen
Terminologie, die uns nicht gefallen kann, ab-
gesehen, trifft das durchaus die Sache. Die Rolle
der empirischen Axiome spielen in der „reinen"
Logik und Mathematik eben die Definitionen.
Was man in den empirischen Disziplinen, soweit
sie noch unmathematisiert sind, also rein des-
kriptiv oder auch experimentell, natürlich mit
Mathematik als Anwendung verfahren, Definitionen
nennt, ist logisch etwas ganz anderes als in den
sog. „reinen" Wissenschaften. Hier ist die Defi-
nition, mit Dedeknid zu sprechen, immer eine
„freie Schöpfung des Geistes", in den noch un-
mathematisierten Wissenschaften dagegen nicht.
Geisteschöpfungen sind sie hier zwar auch, aber
nicht im selben Sinne „frei" und willkürlich.
Allein mit dem Geltungsbereich der bereits
weitgehend mathematisierten Wissenschaften Geo-
metrie und Physik ist der Einfluß der mathe-
matischen Idee auf die Naturwissenschaften
keineswegs erschöpft. Er ist, wenn auch in
anderer Verkleidung bis in die Soziologie hinein
deutlich spürbar, ein Umstand, der uns a. a. O.
geradezu dahin geführt hat, die Naturwissenschaften
zu definieren als diejenigen Wissenschaften, die
entweder bereits mathematisiert sind oder deren
Mathematisierung prinzipiell möglich ist. So tritt
die Idee der Mathematik in der Biologie auf
unter dem typisch biologischen Schlagwort des
Mechanismus, als dessen Widerspiel der
Vitalismus fungiert. Sieht man von miß-
verständlichen und logisch unhaltbaren oder zu
engen Auffassungen, die die mechanistische Idee
in der Biologie besonders von selten der Vita-
listen erfahren hat, ab, so läßt sie sich in der
Biologie als eine fortschreitende Physi-
zierung^) charakterisieren. Analogerweise kann
man dann in der Psychologie von einer
Biologisierung und in der Soziologie von
einer Psychologisierung reden. Alles Nähere
hierüber findet sich in meinem oben zitierten
Mechanismusaufsatz.
Versuchen wir nunmehr das Gesamtergebnis
unserer Reise mit der Idee der Mathematik
durch die Welt der Naturwissenschaften zu-
sammenzufassen, so dürften wir wohl mit einiger
Berechtigung sagen, daß unsere Ausgangsthese,
die Idee der Mathematik sei eine von
den großen Triebkräften im logischen
Aufbau der Wissenschaften, einigermaßen
gerechtfertigt ist.
Begleiten wir nun auch die zweite große
') Das hindert natürlich nicht, dafl die Wissenschaft als
Ganzes auch ein metaphysisches Problem darbietet. Man vgl.
meinen oben zitierten Aulsatz: „Zur Metaphysik der Wissen-
schaft".
•) „Logik, Grundzüge einer kritischen und formalen Ur-
leilslehre." Tübingen 1916.
^) Von Chemie u. Chemisierung braucht hier nicht beson-
ders die Rede zu sein. Denn seit den modernen physikalisch-
chemischen l'orschungen über die Struktur des Atoms hat die
Chemie aufgehört, eine logisch selbständige Wissenschaft neben
der Physik zu sein.
N. F. XXI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6i
konstituierende Idee im Organismus der Wissen-
schaften, die der Historie nämlich, noch ganz
kurz auf ihre Reise. Auch sie ist eine universale
Idee, d. h. auch sie will ihren Geltungsbereich
auf das Ganze der Wissenschaften ausdehnen und
damit auch der Ausschnitte aus der Wirklichkeit,
mit denen die einzelnen Wissenschaften der Natur
und des Geistes sich beschäftigen. Es gibt eben-
sowohl eine historische Auffassung der Mathe-
matik, wie eine mathematische der Geschichte.
Hat doch unlängst nach Oswald Spengler in
seinem sensationellen Buch vom „Untergang des
Abendlandes" u. a. versucht, eine Hisiorisierung
der Mathematik durchzuführen. Man wende nicht
ein, daß es sich hier doch eigentlich viel eher
um eine Naturalisierung der Geschichte handele,
da Spengler doch eine „Morphologie der Welt-
geschichte" liefern wolle. Alle Morphologie ist
vielmehr in ihrem Wesen historisch - genetisch
gerichtet. Infolgedessen trachtet die Biologie
ja auch darnach, alles bloß Morphologische
physiologisch und entwicklungsmechanisch zu
überwinden und damit erst zu einer wirklichen
Naturwissenschaft zu werden. Ferner bedeutet
das a. a. O. zitierte, hochbedeutsame Buch von
Koehler im Grunde eine Historisierung der
Physik, denn alle „Gestalten" sind ja morpho-
logische Dinge. Wieweit diese Historisierung
der Mathematik und der von ihr logisch gespeisten
Wissenschaften sinnvoll und berechtigt ist, das
ist natürlich eine andere Frage. Hier handelt es
sich nur darum, an einigen einleuchtenden Bei-
spielen die Universalität der historischen Idee dar-
zutun.
Wie läßt sich diese nun genauer bestimmen?
Ein solcher Versuch, das Wesen des Historischen
definitorisch zu erfassen, ist natürlich, wie gerade
die Diskussionen mancher Geschichtsphilosophen
vom Range eines Windelband, Rickert oder
Troeltsch beweisen, für einen Nichthistoriker
ein außerordentlich schwieriges Unternehmen.
Gleichwohl kommen wir nicht darum herum, wenn
anders wir an der Rolle, die das Historische in
unserer Wissenschaft spielt, nicht blind vorüber-
gehen wollen. Vielleicht gelingt es uns, die wir
von einer Wissenschaft ausgehen, die den Begriff
des Historischen zwar verwendet, aber immerhin
doch in einer Form , die gegenüber seinen Ge-
staltungen in den sog. Geisteswissenschaften pri-
mitiv genannt werden muß, das Wesen der
Historie schlichter, ursprünglicher zu beschrei-
ben, als es jenen ausgezeichneten Forschern,
die sich einer unendlich komplizierten Lage
gegenübersahen, gelingen konnte. Uns will
es scheinen, als ob jene den beinahe selbstver-
ständlich zu nennenden schlichten Gehalt unserer
Idee allzu wenig beachtet haben. Historie ist
doch wohl letzten Endes Beschreibung
des Werdegangs aller Dinge, oder wie
Ranke sagt, Feststellung, „wie es gewesen ist''.
Alles übrige, ob die historische Beschreibung sich
auf „Individuelles", „Einmaliges", „Besonderes",
„Originales", „Wertbezogenes", „Zweckmäßiges",
„metaphysisch-Sinnvolles", „Ganzes" erstreckt oder
ob den historischen Prozessen mit der Dialektik
Hegels oder einer anderen oder mit der Meta-
physik des Aristoteles am besten beizukommen
ist, sind doch erst, zwar sehr bedeutungsvolle,
aber immerhin doch sekundäre Probleme. Diese
Definition des Historischen als Feststellung, wie
alles gewesen ist, mag es sich nun um politische
Geschichte, Wissenschaftshistorie oder Kosmologie
handeln, ist keineswegs ein Nurbanales. Vielmehr
läßt sich die historische Idee so am besten gegen
die mathematische abgrenzen. Denn man kann
der wirklichen Geschehnisse einmal dadurch Herr
werden, daß man sie alle in chronologischer Folge
einfach aufzählt , das leistet letzten Endes die
Historie ihrer Absicht nach, oder dadurch, daß
man Methoden ersinnt, die es gestatten, jedes
Stück Wirklichkeit, dessen man bedarf, im ge-
wünschten Moment wieder zu erzeugen, das ist
die Idee der mathematischen Beherrschung der
Natur. Von beiden Ideen gilt natürlich , daß sie
nie restlos zu verwirklichen sind. Aber gleich-
wohl ergänzen sich beide in glücklicher Weise.
Die Domäne der Mathematik ist die Natur, die
der Geschichte das Geistesleben, die Kultur.
Immerhin hat sich herausgestellt, daß da, wo die
mathematische in befriedigender Weise arbeitet,
die historische überflüssig geworden ist. Die
Mathematik arbeitet eben exakter, sicherer und
mit einfacheren Mitteln. Die Mathematik gewinnt
so im Kampfe mit der Historie immer mehr an
Boden. Freilich ist dieser logische Prozeß ein
unendlicher, wie bereits hervorgehoben, so daß es
der Mathematik nie gelingen wird, die Historie
sich völlig zu unterwerfen. In den Geisteswissen-
schaften jedoch, in die Mathematik noch nicht
gelangen kann, leistet die historische Methode die
vortrefflichsten Dienste. Gegenwärtig spielt sich
der Hauptkampf beider Ideen in der Biologie
ab, wie wir noch näher zu schildern haben wer-
den, und wenn nicht alles trügt, wird hier in
absehbarer Zeit die Mathematik die Historie auch
völlig verdrängen, wird die Physiologie die Mor-
phologie durchdringen.
Wir haben oben die Formen der mathemati-
schen Idee näher verfolgt und dabei festgestellt,
daß ihre Ausdehnung keine gleichsam lineare
ist, sondern in typischer, wohlunterscheidbarer
Stufenfolge vor sich geht. Um zur Biologie zu
gelangen, mußte die mathematische Idee die Ge-
stalt der Physizierung annehmen. Der Psychologie
konnte sie sich nur in der einstweilen wieder ab-
geschwächten Form einer Biologisierung nähern.
Die Soziologie verlangte endlich eine Psychologi-
sierung, um der Mathematik Raum geben zu
können. Ganz Analoges gilt auch von der all-
mählichen „negativen" Ausdehnung, also Ver-
ringerung des Geltungsbereichs der historischen
Idee. Auch dieser historische Rückzug vollzieht
sich nicht in gerader Linie, sondern stufenförmig,
in Etappen. Die historische Idee hat, soweit sie
&2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5
noch in der Physik Geltung besitzt, eine andere
logische Gestalt als in der Biologie, und hier
zeigt sie wieder ein anderes Gesicht, wie in der
Psychologie. Wieder anders gebärdet sie sich in
der Soziologie, und wieder ganz anders natürlich
in ihrer eigentlichen Domäne, den sog. „histori-
schen Wissenschaften" im engeren Sinne, den
Geistes- oder Kulturwissenschaften. Wir können
hier ebensowenig, wie bei der mathematischen
Idee, die einzelnen Etappen dieses interessanten
logischen Prozesses, der sich strategisch als ein
meisterhaft geführter allmählicher Rückzug charak-
terisieren läßt, näher verfolgen. In einer be-
sonderen Arbeit werden wir demnächst darauf
zurückkommen. Nur zur kurzen Verdeutlichung
des Gemeinten soll es dienen, wenn wir sagen :
In der Physik führt die historische Idee geist-
volle Scheingefechte in Form dessen, was Köhler
a. a. O. „physische Gestalten" nennt, in
der Biologie verschanzt sie sich hinter die
Zweckidee,') und in der Psychologie und
Soziologie fühlt sie sich gar noch so fest im
Sattel, daß sie mitleidig auf die schüchternen Steh-
versuche des feindlichen mathematischen Bruders
herabsieht. In der Psychologie ist das freilich
schon mehr Pose geworden. Wohl ist ihr nicht
mehr dabei. In den eigentlich historischen Wissen-
schaften endlich nimmt sie jene hochkomplizierten
Gestalten an, um deren Fixierung sich die Geschichts-
philosophen seit Hegels genialem Wurf mit
wechselndem Erfolg bemühen. In einem, ich hätte
beinahe gesagt, in ihrem Vorzeichen, unterschei-
den sich unsere beiden logischen Prozesse aber
wesentlich voneinander. Während die Art der
Ausbreitung der Mathematik über die stufenartigen
Gebiete der Wirklichkeit als ein Fortschritt im
Sinne einer ständigen Komplizierung der mathe-
matischen Idee zu charakterisieren ist, müssen die
verschiedenen Stufenbereiche der Historie als um
so größere Vereinfachungen, Primitivierungen be-
zeichnet werden, je weiter sie von der zentralen
Domäne der historischen Idee sich entfernen. Hier
liegt das Höchstkomplexe im Ausgangspunkt.
Nur den Rückzug der historischen Idee kann man
noch als eine fortschreitende Komplizierung deu-
ten. Durch alle Historismen freilich zieht sich
als ein Minimum an historischer Idee hindurch das
Prinzip der Feststellung, „wie es gewesen ist", wie
alles so im Laufe der Zeit zu dem geworden ist,
was es ist.
Ordnen wir nun — und damit ziehen wir das
Fazit unserer Erörterungen — die verschiedenen
Wissenschaften und Gruppen von solchen in eine
Reihe, die den P'ortschritt der mathematischen
und den Rückzug der historischen Idee deutlich
erkennen läßt, so erhalten wir folgendes Bild.
Man erkennt, die Biologie befindet sich zurzeit
im Schnittpunkt beider Ideen und stellt so das
Schlachtfeld dar, auf dem das Rückzugsgefecht
der historischen Idee im gegenwärtigen Moment
der Wissenschaftsgeschichte am intensivsten aus-
gefochten wird. Das ist die logische Signa-
tur der Biologie,-) die ihre augenblickliche
logische Stellung im System der Wissenschaften
am deutlichsten charakterisiert. Das im einzelnen
auszuführen, wird das Thema einer bald vorzu-
legenden größeren Arbeit über die „Logik der
Biologie" sein.
Anhang: Das System der Wissenschaften.
Die Konsequenzen des vorhergehenden Ab-
schnittes für die Gesamteinteilung der Wissen-
schaften seien anhangweise hier noch aufgeführt.
Eine Einteilung der Wissenschaften kann im
wesentlichen nach drei Gesichtspunkten erfolgen :
Nach ihren Gegenständen oder Gebieten, nach
den von ihnen benutzten Methoden der Forschung
und endlich nach den sie konstituierenden und
die Forschung leitenden Ideen. Die historisch ge-
wachsene, besonders im Unterrichtsbetrieb übliche
Einteilung der Wissenschaften pflegt sich in erster
Linie auf die Gegenstände oder Gebiete zu stützen.
Die vollendetste und geistvollste Durchbildung
einer Einteilung auf dieser Basis hat Stum-pf^)
gegeben. Daneben verdient die von W u n d t ^)
gegebene besondere Beachtung. Eine Einteilung
nach den die Wissenschaften beherrschenden
Methoden hat neuerdings M o o g *) zu geben ver-
sucht. So gute Dienste alle diese Einteilungen
der Forschung bisher geleistet haben und noch
weiterhin leisten werden, für unsere Zwecke
kommen sie nicht in Frage. Auf Grund der
vorhergegangenen Ausführungen können wir nur
Idee der Mathematik
Schnittpunkt
I
') Man vergleiche das Buch von Kr oncr, „Das Problem
der historischen Biologie", Berlin 1919, Abh. z. theoret. Bio-
logie, H. 2.
'^) Methodologisch erweist sich die Biologie so zurzeit als
ein „Mischgebiet". Gleichwohl sind ihre Gegenstände, wie
ich gegen Troeltsch (a. a. O. 1919, S. 379) bemerken
möchte, darum nicht auch Mischungen. Wäre das so , dann
wäre das doch von ganz offenbarem Erfolg begleitete Be-
mühen , das Morphologische (Historische) physiologisch (ma-
thematisch-kausal, ,,entwicklungsraechanisch") zu überwinden
und damit alles Historische aus der Biologie zu eliminieren,
gar nicht zu verstehen, unmöglich. Die Gegenstände, wenig-
stens die Organismen, sind niemals Mischungen, sondern ein-
heitliche Gebilde. Mischungen sind höchstens unsere logischen
Methoden, durch die wir sie rationalisieren. Prinzipiell anders
mögen sich natürlich historische Gegenstände, soweit sie ,, freie
Schöpfungen des Geistes", Logismen also, sind, verhalten.
^J Zur Einteilung der Wissenschaften. Abh. d. Berliner
Akademie 1907.
') Über die Einteilung der Wissenschaften. Philos. Stu-
dien V. 1889.
•*) Psychologie und Psychologismus. Halle 1919.
Idee der Geschichte
Mathematik (nometric Physik Biologie Psychologie Soziologie Eigentliche (Jeislcswisscnschaftcn
« ► » >
N. F. XXI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
63
eine Einteilung auf der Basis der die einzelnen
Wissenschaften konstituierenden Ideen akzep-
tieren *).
Alle vorhandenen Wissenschaften gruppieren wir
dann zunächst in die beiden Gruppen der Ideen -
Wissenschaften oder theoretischen
Wissenschaften und der praktischen
Wissenschaften, die natüriich auch Ideen in
ihrem Aufbau verwenden, deren logische Ganz-
struktur aber nicht durch Ideen, sondern durch
die praktischen Bedürfnisse des Menschen konsti-
tuiert wird. Auf diese Weise scheiden als
praktisch im weitesten Sinne orientierte Wissen-
schaften für unsere weiteren Erörterungen aus:
Technik, Medizin, Politik, Ethik, Meta-
physik. Am meisten wird es vielleicht, be-
sonders auf philosophischer Seite, überraschen,
die Metaphysik, die doch im allgemeinen gerade-
zu für einen Ausbund von reiner Theorie gehalten
wird, in dieser Gesellschaft zu finden. Indessen
sachlich ist diese Einstufung, die selbstverständlich
kein Werturteil darstellt, durchaus gerechtfertigt.
Wer die Geschichte der Philosophie kennt, weiß,
daß die vornehmste Aufgabe der Metaphysik stets
gewesen ist, einen Ausgleich zwischen den Er-
fordernissen des Intellekts und den sog. Bedürf-
nissen des Gemüts herzustellen. Dergleichen
Hineinspielenlassen gemütlicher Bedürfnisse in die
rein theoretische Arbeit ist aber nie Sache der
Wissenschaften gewesen. Auch wenn man mit
Wundt die Aufgabe der Metaphysik darin er-
blickt, die sog. Ergebnisse der Einzel Wissenschaften
zu einer einheitlichen „Weltanschauung" zu ver-
arbeiten, so ist, ganz abgesehen davon, daß man
das heute kaum noch für möglich halten wird,
auch dergleichen „Weltanschauung" alles andere
als reine Theorie. In der „Weltanschauung"
spielen bekanntlich wieder die Bedürfnisse des
Gemüts eine nicht geringe Rolle. Reine Wissen-
schaft hält sich von aller „Weltanschauung"
möglichst rein, hat sie doch oft genug gerade im
Kampfe mit dieser Mühe genug gehabt, sich
durchzusetzen.
Nach dieser, im Interesse Mißverständnisse zu
vermeiden, notwendigen kurzen Abschweifung
kehren wir zu unserem Hauptthema zurück. Die
reinen Ideen- oder theoretischen Wis'^enschaften
lassen sich ihrerseits wieder in zwei Gruppen
trennen, deren wesentliche Eigentümlichkeiten
wir uns am besten an zwei typischen Vertretern,
etwa der Physik und der Geologie, klarmachen
können. Wodurch unterscheiden sich beide, von
ihrem veschiedenen Lehrgehalt natürlich abgesehen,
also rein logisch voneinander ? Doch wohl darin,
daß die Physik auf das große Ganze der Wirklich-
keit geht, während die Geologie einen eng be-
grenzten Ausschnitt zum Gegenstand ihrer Unter-
suchungen macht. Dabei ist beiden gemeinsam,
') Auf die auflerordentlich bedeutsame, jüngst erschienene
Arbeit von Becher, ,, Geisteswissenschaften und Naturwissen-
schaften", die mir erst nach Abschluß dieser Arbeit in die
Hände kam, werde ich später zurückkommen.
daß sie theoretische Wissenschaften sind, was
natürlich wieder nicht besagt, wie hier gleich
ein für allemal betont sei, daß sie jeder praktischen
Anwendung, jeder technischen Verwertung bar
sind, sondern womit lediglich gemeint ist, daß sie
nicht um dieses praktischen Nutzens willen betrieben
werden. Wir wollen den hier betonten logischen
Unterschied zwischen den theoretischen Wissen-
schaften, die zum Typus der Physik gehören, und
denen, deren Paradigma die Geologie ist, in den
Terminis „universale" und „partikulare Wissen-
schaften" zum Ausdruck bringen.
Zu den partikularen Wissenschaften
rechnen wir die Astronomie, Geologie,
Geographie, die Medizin als Wissen-
schaft, die Nationalökonomie, die wis-
senschaftliche Politik und die Kultur-
geschichte, sowie die sog. philologisch-
historischenGeisteswissenschaften. Sie
sind, wie leicht ersichtlich, nach der zunehmenden
Spezialisierung und Komplizierung ihrer Gegen-
stände geordnet. Mit dem Wellali beschäftigt
sich die Astronomie, mit dem — bit venia verbo
— Genotypus der Erde die Geologie, während
die Geographie sich für ihren Phänotypus inter-
essiert, während sich alle übrigen partikularen
Wissenschaften irgendwie mit den Problemen, die
der physische oder geistige Mensch bietet, be-
lassen. Aber immer geht die Tendenz auf theo-
retische Bewältigung der Probleme, während man
die Nutzanwendung den in Frage kommenden
praktischen Wissenschaften überläßt.
Die universalen Ideenwissenschaften
lassen sich ihrerseits wieder in zwei Gruppen son-
dern, die ich als originale und kombinierte
Ideenwissenschaften trennen möchte. Zu den
originalen gehören, wie für uns nun wohl ohne
weiteres klar sein dürfte, nur die Mathematik
und die Historie. Die beherrschende Rolle, die
sie im Aufbau aller Wissenschaften und speziell
in unserer Biologie spielen, haben wir ja soeben
erst ausführlich besprochen.
Zu den kombinierten Ideenwissen-
schaften zählen wir die Geometrie, Physik,
Biologie, Psychologie und Soziologie.
Kombinierte heißen sie, weil in jeder von ihnen,
wenn auch in verschiedenem Grade, beide Grund-
ideen eine Rolle spielen; und ihre Reihenfolge
gibt, wo'rauf wir ja auch schon hingewiesen haben,
die Grade der Abschattungen an, in denen die
Ideen der Mathematik und Historie in ihnen wirk-
sam sind. Falsch würde es sein, wenn man
glauben wollte, daß außer der Physik eigentlich
alle von ihnen im Grunde partikularen Charakter
besäßen, insoferne doch die Gegenstände der Bio-
logie, P.-ychologie und Soziologie nicht das Uni-
versum, sondern eng begrenzte Ausschnitte des-
selben seien. Indessen so ist der Begriff des
Universalen von uns nicht gemeint. Auch ein
Ausschnitt des Universums kann uni-
versal sein, dann nämlich, wenn nicht der
Ausschnitt als solcher Ziel der Forschung ist, wie
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. _5
es die Erde für die Geologie ist, sondern wenn
er lediglich ein Mittel darstellt, um
universale Gesetze aufzufinden. Ob das
Organische sich auf der Erde oder wo anders
findet, ist der Biologie einerlei. Sie will die Ge-
setze und Bedingungen kennen lernen, unter
denen sich überall Organisches bilden und dauern
kann. So sind ja auch die Gegenstände, an denen
die Physik ihre Untersuchungen macht, zweifellos
partikular, aber die Ziele, die die Physik dabei
verfolgt, ebenso zweifellos universal. In diesem
Sinne darf man die Biologie wohl die Physik des
Organischen , die Psychologie die Physik des
Seelischen, die Soziologie die Physik der Gesell-
schaft nennen. Damit ist nicht notwendigerweise
gesagt, daß alle diese Wissenschaften einmal wirk-
lich in eine universale Physik zusammenfließen
werden. Man kann, da die Historie ebenso uni-
versal ist, wie die Mathematik, auch das Gegen-
teil annehmen und mit dem gleichen logischen
Recht statt an eine zunehmende Physizierung an
eine solche Historisierung aller kombinierten Ideen-
wissenschaften glauben. Wer indessen offenen
Auges den zunehmenden Siegeszug der Mathe-
matik über die wissenschaftliche Welt seit der
Renaissance beobachtet, dem wird es schwer, im
Historismus, und trete er uns noch so geistvoll
entgegen wie bei Spengler, mehr als ein
langsames Rückzugsgefecht zu sehen.
Am Schlüsse dieses Anhangs sei es gestattet,
seine Ergebnisse in einer kurzen Tabelle über-
sichtlich zusammenzufassen.
Einteilung der Wissenschaften.
A. Reine Ideenwissenschaften
(Theoretische W.).
I. Universale Wissenschaften.
Mathematik
Jl Geometrie
Originale
Ideen-
wissenschaflen
/ 1 Physik
' ■ j Biologie
\ f M Psychologie
ij 1 Soziologie
Historie
!'
Kombinierte
Ideen-
wissenschaften
II. Partikulare Wissenschaften.
Astronomie. Geologie. Geographie. Wissenschaftl. Medizin.
Nationalökonomie. Politik als Wissenschaft u. Rechtswissen-
schaften.
Kulturgeschichte und die eigentlichen Geisteswissenschaften.
B. Praktisch orientierte Wissen-
schaften.
Technik. Medizin. Politik. Kthik. .Metaphysik.
Eine Wissenschaft haben wir nun noch ver-
gessen, die für uns von besonderer Wichtigkeit
ist, sich aber gleichwohl nicht in eine der ge-
nannten Kategorien einfügen läßt. Das ist die
Logik. Sie ist von uns ihrem Wesen nach zu
charakterisieren als allgemeine Wissen-
schaftslehre, d. h. Wissenschaft von der
Wissenschaft selbst. Sie befaßt sich aber nicht
mit dem jeweiligen Lehrgehalt der Einzel-
wissenschaften, sie erforscht nur die logischen
Werkzeuge, deren sich die Einzelwissenschaften
bei ihrer Arbeit bedienen, sie vergleicht die be-
sonderen logischen Strukturen der Einzelwissen-
schaften miteinander mit dem Ziel, allgemeine
logische Gesetzmäßigkeiten zu finden , die das
Werden und Wachsen der Wissenschaften be-
dingen. Die Methode der Vergleichung spielt
eine große Rolle in ihr, ohne daß sie aber des-
halb auf dem logischen Standpunkt einer nur
vergleichenden Wissenschaft stehen bleiben müßte.
Die Vergleichung liefert ihr nur die „empirischen"
Unterlagen, aus denen sie, wie jede andere
Wissenschaft ein deduktives System zu errichten
hat. Am nächsten ist sie so der Mathematik
verwandt, die man cum grano salis als die
Logik des Quantitativen bezeichnen kann. Als
solche hat die Mathematik ihre großen Erfolge
errungen; und wenn man jetzt von ihr sagen kann,
daß sie aufgehört habe, nur noch die Logik des
Quantitativen zu sein, so besagt das doch nur,
daß die bisherige Grenze zwischen
Mathematik und Logik zu verschwinden
beginnt und beide Wissenschaften sich in einer
neuen gemeinsamen Wissenschaft, heiße sie nun
Mengenlehre oder anders, zu verankern im Be-
griffe stehen. Trotzdem bleibt die Mathematik
dann, wenn anders man auf klare Begriffe Wert
legt, vorzugsweise die Logik des Quantitativen.
Bis wir soweit sind, daß die Logik mit ihren
Qualitäten, wie Urteilen, Theorien usw., so exakt
deduktiv operieren kann wie die Mathematik mit
ihren Quantitäten, den Zahlen, wird es immerhin
noch vieler Bemühungen der Logiker und Mathe-
matiker bedürfen. Das Ziel, die „apriorisch-
deduktive Logik", die Schwester der ebenso
apriorisch deduktiven Mathematik, ist schon jetzt
klar. Desgleichen, daß die Logik mit Normen
ebensowenig zu tun hat wie die Mathematik,
und ferner, daß sie ebensowenig eine formale
Disziplin ist wie diese, da sie ja ebenfalls auf
exakte deduktive Sätze gerichtet ist. Dergleichen
Unterstellungen der Philosophen sind hoffentlich
seit Husserl endgültig erledigt.
Segeltliig und fliegende Fische.
[Nachdruck verboten.) Von Dr. med. W. Frölich.
Auf den Aufsatz von G. Lilien thal: „Über schrift) möchte ich folgendes erwidern.^) Ich
den Segelflug der Vögel und das Fliegen •) soweit nichts anderes bemerkt ist, beziehen sich alle
der F'ische" (Heft Nr. 45, 192 1 dieser Zeit- Zitate auf Brehms Tierlebcn 4. Auflage.
N. F. XXI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6S
kann nur auf greifbare, nicht auf die eingangs
gemachten allgemeinen Einwände eingehen. Wie
aus dem ganzen Zusammenhang meiner Arbeit:
„Der Segelflug und verwandte Bewegungen in
Luft und Wasser" Heft 13, 1921 dieser Zeitschrift
hervorgeht, benutzt der fliegende Fisch, der sich
durch riesengroße Brustflossen und eine eben-
solche Schwimmblase (bei 16 cm Körperlänge
9 cm lange, 2,5 cm weite, 44 ccm fassende Schwimm-
blase) auszeichnet, wie ich unten zeigen will,
seine Brustflossen im Wasser gerade eben nur
unter Bedingungen, unter denen eine Beobachtung
des Tieres teilweis unmöglich ist. Der zweite
greifbare Einwand des Herrn L i 1 i e n t h a 1 ist :
„daß die Luft der Schwimmblase sich einseitig
nach der Richtung, wo der Wasserdruck ver-
mindert ist, ausdehnt, widerspricht dem Verhalten
der Gase, welche immer auf alle Teile des ein-
schließenden Gefäßes gleichmäßig drücken." Das
letztere setze ich ja selbst voraus mit den Worten
„daß in einer gasgefüllten Schwimmblase zu einem
gegebenen Zeitpunkt überall derselbe Gasdruck
herrscht". Ein freies Gas dehnt sich doch ge-
gebenenfalls immer nach der Richtung des ge-
ringsten Widerstandes, des geringsten Druckes
aus. Das Gas in der Schwimmblase aber dehnt
sich, da eine Lokomotion des Fisches während
der Ausdehnung stattfindet, als Ganzes in
Räume sich vermindernden Wasserdruckes hinein.
Der bildliche Vergleich mit dem Fortschnellen
eines schlüpfrigen Zitronenkernes, wie ich ihn ge-
brauchte, veranschaulicht den Vorgang. Wie der
segelnde Vogel den Wind, so benutzt das Wasser-
tier die Wellenenergie im Meere vermittels der
Schwimmblase oder Lunge, die durch den Druck
des sich dem Tiere überlagernden Wellenberges
gespannt wird, während unter dem nachfolgenden
Wellental eine Entspannung und Ausdehnung der
Schwimmblase in Räume sich vermindernden
Wasserdruckes hinein erfolgt, so daß eine Phase
der Energieaufnahme aus den Wellen und eine
der Energieabgabe unterschieden werden können.
Für weitgehende Ausnützung der Wellenenergie
spricht z. B. das Verhalten eines Blauwals, der
1850 einem Schiffe 24 Tage nicht von der Seite
wich (Bd. 12 S. 503). Die Bartenwale haben be-
sonders loses Brustkorbgerüst mit guter Schwimm-
blasenwirkung; zu diesen gehören die Langflossen-
wale mit Brustflossen von '/; bis fast '/g der
Körperlänge. Unter diesen ist 1. c. Bd. 12 S. 504 ff.
der Buckelwal eingehender behandelt : bis 1 5 m
lang, Brustflosse je bis 4 m lang; „gewaltige"
Lunge; also Analogie zum Flugfisch. Auch unter
Wasser schwimmend „wirft er sich oft von einer
Seite auf die andere und wiegt sich förmlich in
seinem Element ganz so wie ein Vogel in der
Luft. Das beliebte Rollen von einer Seite auf
die andere wird durch die Brustflossen besorgt,
das gewöhnliche Schwimmen durch die Schwanz-
flosse, während die Brustflossen dann
nur manchmal zur Aufrechterhaltung
des Gleichgewichts etwas bewegt wer-
d e n." Der riesige Buckelwal kann wohl nur durch
Schwimmblasen-Mitwirkung Luftsprünge ausführen,
daß die 4 m spannende Schwanzflosse das Wasser
nicht mehr berührt. Volle Segelwirkung der
Schwimmblase ist offenbar nur bei bewegter See
unter Wasser möglich, also kaum oder nicht
zu beobachten. — Die Pinguine schwimmen
entweder mit den Ruderfüßen oder mit den
P^lügeln. Sie fliegen unter Wasser. Das Fliegen
unter Wasser, das vielleicht bei hohem Seegang
bei manchen Arten in ein Segeln übergeht, wie
es bei den sich ähnlich bewegenden Seeschild-
kröten (vgl. meine Arbeit in Heft 13) statt hat,
gibt einen Fingerzeig auch für die Beurteilung der
Funktion der Brustflossen beim Segeln im
Wasser, die wahrscheinlich der der Flügel der
Vögel beim Segeln in der Luft ähnlich ist. Bei
allen einer aktiven Fortbewegung fähigen Lebe-
wesen dürfen wir wahrscheinlich grundsätzlich
zwei Bewegungsphasen unterscheiden, eine aktive.
Energieabgebende und eine passive, so ist z. B.
beim Gang des Menschen das pendelnde Bein in
der Regel passiv. So scheint auch bei einer ge-
wissen Geschwindigkeit das Heben der Flügel
beim Flug in der Luft durch Luftwirbelbildung
unter der Flügelwölbung, durch die ein nicht
unerheblicher Auftrieb gewonnen wird (vgl. Milla
Bd. 6. S. 22), zu einer mehr oder weniger passiven
Bewegung zu werden. Wahrscheinlich verhält
sich nun auch beim Flügelheben des Pinguins
unter Wasser das Wasser ähnlich zum Flügel wie
dort die Luft unter dem Flügel. Ähnliches dürfte
für die Brustflossen segelnden Wassertiere gelten;
sie verhindern, daß das Tier wegen seiner großen
Schwimmblase ein Spielball der Wellen wird, daß
die ihrer Spannungsvermehrung widerstrebende
Schwimmblase vor dem drückenden Wellenberge
hergetrieben wird und nicht vielmehr stärkere
Spannung der Schwimmblase erfolgt, daß das
Tier in der beabsichtigten Bewegung gegen den
Wellenberg verzögert wird. Die langen Brust-
flossen wirken also Sperrzahnähnlich. Dem durch
den andringenden Tierkörper auseinanderge-
triebenen Wasser wird Beschleunigung erteilt.
Dieses wird nicht ebenso wie der Tierkörper,
der gegen den Wellenberg schwimmt, durch eine
Schwimmblase, gegen die der Wellenberg drückt,
verzögert, behält daher vergleichsweise einen Über-
schuß an Bewegungsenergie, der zu einer rück-
läufigen Bewegung an den Flossen führt, die wohl
der Bewegung des Wassers bei aktiver Brust-
flossenbewegung gerade entgegengesetzt ist. Je
größer die Lunge bzw. Schwimmblase um so größer
auch die Sperrzahn wirkung, die Brustflossenwirkung.
Wenn beim Wassersegeln an den Brustflossen
keine aktive Bewegung in der Phase der Energie-
abgabe der Schwimmblase beobachtet werden
kann, so widerspricht dem keineswegs das Vor-
handensein einer Muskelanspannung, durch die
das Wasser gezwungen wird, seinen Weg nach
dem freien, nachgiebigen und absaugenden Flossen-
saum hin zu nehmen. Der Muskel leistet be-
66
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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kanntlich auch „innere Arbeit", spannt sich ohne
äußerlich unmittelbar sichtbaren mechanischen
Effekt z. B., wenn der Mensch ein schweres Ge-
wicht „heraushält". Wenn die Brustflossen des
Flugfisches bewegungslos sind, so ist das keines-
wegs der Beweis ihrer Inaktivität; sie könnten
sich sehr wohl in einem Spannungszustand be-
finden, der beim Aufhören des Wasserwider-
standes ihre sofortige Ausbeitung veranlaßt. Nach
Analogie des Buckelwals und Pinguins wird aber
der Flugfisch gerade dann von den Brustflossen
keinen sichtbaren Gebrauch machen, wenn er die
Schwanzflossen aktiv bewegt. Der Hauptzweck
der auffälligen Verlängerung des unteren Zipfels
der Schwanzflosse ist offenbar der, zu verhindern,
daß die ungeheure Schwimmblase bei der Fort-
bewegung des Fisches durch die Schwanzflosse
unter Wasser ein Überkippen des Fisches nach
hinten herbeiführt. Ein analoges Verhältnis be-
steht auch bei einem segelnden Vogel zwischen
Luftsack und Schwanzlänge. Welchen Sinn sollte
aber die riesengroße Schwimmblase haben, wenn
nicht den, die Energie der Wellen auszunützen;
sie erleichtert und hilft zwar beim Emporschnellen
aus dem Wasser auch bei spiegelglatter See; der
Fisch muß sie aber doch bei glatter See gerade
erst vorher mit seiner eigenen Schwanzenergie
spannen, weil ihm dann die Wellenenergie nicht
zu Gebote steht. Darum ist er auch bei glatter
See der schwimmblasenlosen Goldmakrele weit
unterlegen (vgl. Bd. 3 S. 523); er würde ausge-
rottet oder nicht entstanden sein, wenn die See
meist glatt und zu einer Beobachtung unter
Wasser geeignet wäre. Die für den Flugfisch
ausnutzbare Wellenenergie ist viel größer als
seine eigene nutzbare IVIuskelenergie. Ist die
Schwanzflosse ihrer Ausdehnung nach als Über-
tragungsmittel der eigenen Muskelenergie auf
das Wasser geeignet, so ist sie ganz gewiß zu
klein, um zu verhindern, daß der Fisch mit seiner
Riesen-Schwimmblase ein Spielball der Wellen
wird. Um vielmehr die Herrschaft über die
Wellenenergie zu behaupten und sie auszunutzen,
sind die Brustflossen notwendig, die gerade
dann in Tätigkeit treten, wenn die Schwanzflosse
von untergeordneter Bedeutung ist. Herr Lilien-
thal dürfte den Flugfisch nicht bei starker
Wellenbewegung unter den Wellenbergen gesehen
haben mit einer Geschwindigkeit, die gelegentlich
ein Emporschnellen bis 5 m über Wasser er-
möglichte. — Gegen Gleichmäßigkeit des Windes
über den Wellen spricht das Verhalten der Brust-
flossen des Flugfisches bei dem Gleiten in der
Luft : die mit der Windgeschwindigkeit wechselnden
von den Wellenphasen nicht unabhängigen passiven
Vibrationen der Brustflossen (Bd. 3 S. 327). Um
schiefen Auffassungen meiner Ansicht über den
Segelflug in der Luft vorzubeugen, muß ich von
vorn herein betonen: die Luftverdünnung unter
dem Gefieder ist an sich gar nicht der springende
Punkt beim Zustandekommen des Segelflugs,
sondern der springende Punkt ist, daß eine Klein-
gefiederwirkung eintritt, die einen Analogievorgang
zur Schwimmblasenwirkung beim Segeln im
Wasser darstellt. Bei Luftsegeln tritt an Stelle
der Schwimmblase das Kleingefieder, das das
Körpervolumen des Vogels vervielfacht , bei
manchen Vögeln sogar verfünffachen oder ver-
sechsfachen soll. Wie die Schwimmblase durch
den Wasserdruck gespannt wird so das Klein-
gefieder durch die an ihm entlang strömende
Luft, mit deren Geschwindigkeit die Gefieder-
spannung zu und abnimmt. Wie sich die Schwimm-
blase in Räume sich vermindernden Wasserdruckes
dehnt so das Kleingefieder in Räume sich relativ
zum Vogelkörper vermindernder Luftgeschwindig-
keit. Dabei verhalten sich die langen schmalen
Flügel analog wie im Wasser die Brustflossen.
Das Kleingefieder ermöglicht (vgl. meine Arbeit
Heft 13) den langphasigen Flug und damit unter
günstigen äußeren Bedingungen auch das Segeln.
Daneben spielen beim Fliegen und Segeln der
Vögeln auch die Luftsäcke der Vögel eine gewisse
Rolle. Kleingefieder und Luftsäcke fehlen den
Fledermäusen, die deshalb auch nicht in der Luft
schweben, die Luft nicht längere Zeit ohne Flügel-
schlag durchschießen und nicht segeln können.
Trotz ihrer langen Flügel hat daher die früh-
fliegende Fledermaus, die an Fluggewandtheit am
Tage mit den Schwalben wetteifert, keinen lang-
phasigen Flug, sondern „umschwirrt mit raschen,
fast zitternden Flügelschlägen geradezu unheimlich
schnell die höchsten Baumkronen" (Bd. 10 S. 459).
Sie entgeht dem Baumfalken, dem die Schwalbe
zum Opfer fällt, weil der Falke wegen seiner
Gefiederwirkung nicht so jäh bremsen kann wie
die Fledermaus. — Der Mechanismus, durch den
die Luftverdünnung unter den Deckfedern herbei-
geführt wird, ist aus meiner Arbeit Heft 13 zu
ersehen. Herr Lilienthal erhebt den Einwand,
daß ja bei diesem Mechanismus auch an der Unter-
fläche der Flügel eine Luftverdünnung entstehen
müsse, die den Vogel nicht heben sondern her-
niederziehen würde. Die selbstverständliche folge-
richtige Anwendung dieses sehr einfachen Me-
chanismus zeigt, daß der Einwand unberechtigt
ist. Durch die an der Unterfläche der Flügel
hinstreichende Luft, die trotz des positiven Über-
druckes nicht nach oben durch das Gefieder
hindurchgetrieben werden kann, weil sie sonst
eben so schädlich wirken würde wie eine Luft-
verdünnung unter den Flügeln, entfaltet bei ihrem
Hinstreichen eine Saugwirkung, die wegen Durch-
lässigkeit des Gefieders für Luft in der Richtung
von oben nach unten geht, mithin den Vogel
nach oben saugt. Die Saugwirkung von oben
nach unten ist aber mindesteus ebenso groß wie
die von unten nach oben; beide Saugwirkungen
halten sich also die Wage. Der zweite Einwand,
daß die Luftverdünnung auch innerhalb des Feder-
balges gar nicht eintreten könne, weil er eine viel
zu lockere, ungeschlossene Masse bilde, läßt wohl
außer Acht, daß die Luft, abgesehen von der
Unterfläche der Flügel, wo die Lultströmung ganz
N. F. XXI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
67
oder teilweise rückläufig sein kann, ohne deshalb
ihre Saugwirkung einzubüßen, überall in der
Strichrichtung abfließt und dabei auf rein dyna-
mischem Wege die Luftverdünnung aufrecht er-
hält, daß die Luftverdünnung sehr gering und
zwar höchstens so groß ist, daß die Geschwindig-
keit der Luft über den Deckfederfahnen gleich ist
der „Ausflußgeschwindigkeit" der freien atmo-
sphärischen Luft in den Raum unter den Deck-
federn, daß die Lockerheit des Gefieders bei
geringer Druckdifferenz gerade zweckmäßig ist,
um ein freies elastisches Spiel des Gefieders zu
ermöglichen, das mit harmonischer Trägheit neben
den Geschwindigkeitsschwankungen der Luft ein-
hergeht, endlich daß das in der Strichrichtung
und seitlich dachziegelartig übereinander schließende
Deckgefieder nicht nach einer solchen Richtung
offen ist, daß eine Wiederaufhebung der Saug-
wirkung durch eindringende Luft bei dem Heft 13
beschriebenen Saugmechanismus wahrscheinlich
wäre. Die allgemeinste Bedeutung des Gefieders
ist die eines Schutzes gegen Wärmeverlust und
Temperaturschwankungen. Es erhält die Tempe-
ratur von 40 — 44" C konstant. Es würde für einen
pfeilschnell fliegenden Kolibri oder für den
kleinsten europäischen Vogel, des nur 5,5 g
wiegenden Goldhähnchen, verhängnisvoll, wenn
die durch ihre eigene Flugbewegung eintretende
Luftbewegung ins Innere ihres Gefieders vordränge.
Dem wird aber schon durch die Glätte des Ge-
fieders vorgebeugt. Durch den Gefiedermechanis-
mus wird eine sonst kaum möglich erscheinende
gleichartige mechanische Beanspruchung des gleich-
artig beschaffenen Gefieders erreicht. Durch ihn
wird die Entstehung von Turbulenz über dem
Gefieder verhindert, wodurch der Luftwiderstand
in der Flugrichtung vermindert wird. E^ ist un-
vermeidlich, daß das umfangreiche elastische Ge-
fieder bei Geschwindigkeitszunahme irgendwie in
stärkere Spannung versetzt wird. Es würde eine
Energievergeudung bedeuten, wenn die zu dieser
stärkeren Spannung erforderliche Energie nicht,
wie bei den beschriebenen Mechanismus, wieder
zugunsten des Vogels ausgenutzt würde. Bei den
Vorstellungen des Herrn Lilienthal vermisse
ich noch eine solche systematische Ausnützung
der Gefiederenergie. Bei dem großen Volumen
des Gefieders wäre ein Obsiegen im Daseinskampfe
gegenüber anderen federlosen Flugtieren der erd-
geschichtlichen Vergangenheit unmöglich gewesen
ohne die zweckmäßigste Einrichtung des Gefieders.
Schon der Archäopteryx hatte echte Federn. Bei
den verschiedensten Vögeln haben sich die Federn
sehr ähnlich gestaltet und erhalten. Auch die
Schwungfedern mit ihren elastischen, nach den
freien Enden hin sich verjüngenden und nach-
giebiger werdenden Kielen werden dazu beitragen,
daß der Vogel im Gegensatz zu angehängten,
passiven künstlichen Modellen den Ablauf der
Luft unmittelbar an seiner Oberfläche und an den
Flächen seiner Flüge! und des Schwanzes, voll-
kommen beherrscht, daß der Luftstrom unter dem
Einfluß des Druckes des harmonisch angemessenen
Vogelkörpergewichts und des feinen Spieles
wechselnder Muskelspannungen den Weg vorwärts
oder rückwärts einschlägt, der durch die Elastizitäts-
verhältnisse und gegebene Führungslinien vor-
geschrieben ist, ohne daß es dabei zu unzweck-
mäßiger Turbulenz kommt. Eine solche Be-
herrschung der Luft, die eine der passiven gleich-
wertige aktive Phase der Flugbewegung zur
Voraussetzung haben dürfte, wird aber auch beim
Segelflug nicht möglich sein ohne Muskeltonus-
schwankungen und unterhalb der Schwelle der
Wahrnehmbarkeit liegende Flügelbewegungen.
Ein Fehlen solcher Schwankungen besonders bei
dauerndem Segeln wie dem der Möven wäre der
physiologischen Ernährung des Muskels nicht
günstig; es würde auch dem lebhaften Atmungs-
bedürfnis des Vogels nicht entsprechen. Denn
die Lungenventilation wird beim Fliegen und
Segeln durch die Luftsäcke des Vogels vermittelt,
die unter den Brustmuskeln, um die Luftröhre, in
Brust und Bauch liegen, deren Füllungsgrad von
Geschwindigkeitsschwankungen abhängt. Wegen
der unvermeidlichen Volumenschwankungen der
Luftsäcke müssen dieselben in einem harmonischen
Abhängigkeitsverhältnis zu den Flugphasen stehen.
Für Wechsel von aktiver und passiver Phase
spricht auch, daß der Segelflug offenbar aus dem
gewöhnlichen, unnachahmlichen Vogelflug phylo-
genetisch hervorgegangen ist. Die Geschwindig-
keitsschwankungen des Segelfluges relativ zur
Luft zu beobachten, wird aber dadurch erschwert,
daß eine Zunahme des Gegenwindes wegen der
Flügelwirkung, die wohl sperrzahnähnlich ist,
nicht zu sichtbaren Verzögerungen zu führen
braucht, während umgekehrt ein Gleitflug durch
beschleunigende Wirkung des Gefieders bei ab-
nehmendem Gegenwind und entsprechender Flügel-
haltung so umgestaltet oder verschleiert werden
kann, daß ein Verlust an äußerer Lageenergie
nicht eintritt oder nicht zur Wahrnehmung kommt.
Über den Abhängen der Meereswellenberge ent-
steht offenbar ein stärkerer Auftrieb als über den
Tälern. Wäre der Auftrieb über Wellenberg und
-Tal gleichmäßig, so wäre nicht einzusehen, warum
ein Vogel nicht relativ zum Meeresgrunde im
Auftriebe über dem Meere ohne zu rütteln still-
stehen kann, wie der Raubvogel über dem Land-
berge; warum große Vögel nicht dicht über den
relativ zu kleinen Wellen größerer Binnenseen
geradlinig segeln. Das Land bietet an seiner
Grenze gegen Gewässer, an Bodenwellen, Sand-
dünen, Bergen reichlich Möglichkeit zu Wechsel
der Auftriebsstärke; bei Mangel daran schafft
Kurvensegeln den erforderlichen Geschwindigkeits-
wechsel relativ zur Luft; Flügelschläge oder ein
Gleitflug werden eingelegt. Ein Gleitflug in be-
deutender Höhe wird oft nicht vom Segeln zu
unterscheiden sein, z. B. beim Baumfalken. Der
künstliche Rhönsegelflug ist auch nach Herrn
Lilien thals Ansicht kein echter Segelflug.
68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5
Einzelberichte.
Die Ursache dei* Eiszeit.
Mannigfache Hypothesen über die Ursache der
Eiszeit sind bereits ausgesprochen worden, ist
doch dieses Problem zweifellos die interessanteste
Aufgabe, die uns die Erdgeschichte stellt. Vielen
solchen Erklärungsversuchen liegen mehr oder
weniger wahrscheinliche bzw. mögliche kosmische
Ursachen zugrunde. Bald soll die Erdachse sich
im Erdkörper verschoben haben, bald sollen
Schwankungen der Exzentrizität der Erdbahn in
periodischem Wechsel wärmere und kältere
Epochen bedingen ; aber keine dieser verschiedenen
Ansichten hat die Mehrzahl der Forscher bis jetzt
zu überzeugen vermocht. Neuerdings vertritt
Nölke^) die Ansicht, die Eiszeiten seien zurück-
zuführen auf Durchquerungen kosmischer Nebel-
massen, denen das Sonnensystem bei seiner mit
rund 20 km Geschwindigkeit stattfindenden Be-
wegung nach dem Sternbilde der Leyer begegnet.
Die Absorption, die dabei die Sonnenstrahlen er-
fahren, könnte nach Nölkes Meinung bei be-
stimmten Dichtigkeitsverhältnissen größer sein als
die durch den Aufprall der Nebelmassen auf die
Himmelskörper entstehende Wärme. Wenn N ö 1 k e
den großen Orionnebel für die diluviale Eiszeit
verantwortlich macht, so übersieht er, daß der
Apex der Sonnenbewegung nach den neuesten
Bestimmungen eine Deklination von +30" bis 35"
hat, während der Orionnebel in — 5" Deklination
liegt, also durchaus nicht mit dem Antiapex zu-
sammenfällt. Auch würde bei der von Berg-
strand für den Orionnebel gefundenen Parallaxe
von nur 0,008", der eine Entfernung von 400
Lichtjahren entspricht, die Eiszeit schon 7 Mil-
lionen Jahre hinter uns liegen, was sicherlich viel
zu viel ist. Uns scheint es auch gar nicht nötig,
daß das kosmische Gebilde, dessen Durchquerung
die Eiszeit bedingte, sichtbar sein muß. Im Gegen-
teil ist es wahrscheinlicher, daß es zur Gruppe
der unsichtbaren, sich eventuell nur durch Ab-
sorption des Lichtes schwächster, dahinter stehen-
der Sterne bemerkbar machender Nebelmassen
gehört, auf deren Existenz jüngst wieder Hagen
aufmerksam gemacht hat.
Die nur auf der südlichen Erdhalbkugel nach-
gewiesene permische Eiszeit könnte verursacht
gewesen sein durch einen Nebel von etwas größerer
Dichte, so daß die bei der Durchquerung in der
Richtung des Apex vorangehende, nördliche Erd-
hälfte infolge des Aufpralls der Nebelmaterie er-
höhte oder wenigstens nicht verminderte Tempe-
ratur angenommen hätte, während auf der Süd-
halbkugel, wo nur die Absorption des Sonnen-
lichts zur Wirkung kam, starke Abkühlung ein-
getreten wäre. Sogar das auffällige, durch Fehlen
der Jahresringe der Ilolzgewächse angezeigte Vor-
kommen tropischer Vegetationen auf Spitzbergen
') Siehe „Die Naturwissenscliaftea" 1921, Hell 42.
in früheren geologischen Epochen könnte mit der
erwärmenden Wirkung dichterer kosmischer
Massen auf der bei der Bewegung des Sonnen-
systems vorangehenden, nördlichen Halbkugel der
Erde in Verbindung gebracht werden.
Die Wasserstoffschicht, die nach unserem
gegenwärtigen Wissen unsere Stickstoffatmosphäre
von etwa 80 km Höhe ab überlagert, könnte nach
Nölkes Meinung sehr wohl aus dem Nebel,
durch den unser Planet einst hindurchgegangen
ist, entnommen sein, ebenso auch die von 230 km
Höhe ab nach Wegen er vorhandene Geo-
coroniumhülle, in der sich gewisse Polarlicht-
erscheinungen abspielen. Kbr.
Ein neues Bnitvorkomnien der Bartnieise in
Beutsclilaud.
Die Bartmeise, Panurus biarmicus L. , deren
Verbreitungsgebiet Reichenow in seinen „Kenn-
zeichen der Vögel Deutschlands" (Neudamm 1902,
116) knapp, aber klar mit den Worten umschreibt:
„Brütet in Holland, England, im südlichen Europa
und Kleinasien", ist früher vereinzelt auch in
Deutschland brütend nachgewiesen worden, in
den letzten Jahrzehnten aber, obwohl ihr Vor-
kommen auch in anderen ausgedehnteren Rohr-
gebieten nicht ganz unwahrscheinlich erschien,
als wahrscheinlicher Brutvogel nur noch bei Danzig
beobachtet worden. Im verflossenen Sommer ist
es dem als zuverlässigen Ornithologen geschätzten
Pfarrer Dr. Fr. Lindner in Quedlinburg ge-
lungen, auf dem Madüsee in Pommern, dem zweit-
größten See dieser Provinz, das zweite Brutvor-
kommen der Art in unserem Vaterlande nachzu-
weisen. Über die Auffindung der Meise an dem
neuen Vorkommen berichtet ihr Entdecker aus-
führlich in der Ornithol. Monatsschrift (46, 1921,
149 — 155), aus der hier das Folgende hervorge-
hoben sei. Nachdem bereits bei einem im ver-
gangenen Jahre erfolgten Besuche des Sees das
Vorkommen des Vogels vermutet worden war,
sein Nachweis aber nicht gelang, war dieser in
einer überraschend glänzenden Weise in der ver-
flossenen Brutsaison möglich. Bei einem Ein-
dringen in das schwer zugängliche Rohr des See-
gebietes am 30. Juni wurden drei jüngere Vögel:
2 $5 und I (J gesichtet und längere Zeit hin-
durch beobachtet; Vögel, die nur an Ort und
Stelle erbrütet sein konnten. Wenige Tage später,
am 10. Juli, wurden durch die Herren Besch
und R ob ien Stettin, die von Dr. Lindner auf
das Vorkommen aufmerksam gemacht worden
waren, neben einem Nest mit 5 Jungen noch zwei
Gesellschaften flügger Junger und mehrere Alte,
im ganzen 30 Vögel, festgestellt. — Die Auffindung
der Bartmeise in Pommern ist zugleich auch die
erste sichere Beobachtung der Art wieder in der Pro-
vinz seit 84 Jahren. Sie wird aus den Jahren 1826
von Greifswald und 1833 aus der Nähe von Müg-
N. F. XXL Nr. §
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69
genhall in -den (ungedruckten) ornithologischen
Tagebüchern des ehemaligen Konservators Dr.
N. Schilling Greifs wald erwähnt und ist dann
in dem von ihm zusammen mit Hornschuch
herausgegebenen „Verzeichnis der in Pommern
vorkommenden Vögel" (Greifswald 1837) nur ganz
allgemein als seltener Zugvogel aufgeführt. In
seiner „Systematischen Übersicht der Vögel Pom-
merns" (Anklam 1837) erwähnt E. F. v. Hoh-
meyer die Beobachtung einer kleinen Gesell-
schaft im Herbst 1835 bei Uckermünde und be-
richtet im I. Nachtrag zu seiner Übersicht (1841)
von der Sichtung einer Familie nochmals an der
gleichen Stelle. Ein von ihm erwähntes Beleg-
stück im Zoologischen Museum zu Greifswald ist
nach dem Katalog des Museums mit noch einem
zweiten, einige Monate später eingegangenen 1829
bei Greifswald selbst erbeutet worden. Ein noch
jetzt im Museum befindliches Stück trägt eben-
falls die Bezeichnung Greifswald, ist aber sonst
mit keinerlei weiteren Angaben über die Herkunft
und die Zeit der Erbeutung versehen.
Rud. Zimmermann.
Zur Biologie der Pfeilwürmer.
P. van Oye^) erwähnt aus dem Javameer vier
Gattungen und 18 Arten von Chätognathen, dar-
unter I Gattung und 6 Arten als neu. Es wur-
den mit großen Planktonnetzen mehr Chäto-
gnathen gefangen als mit kleinen, was in metho-
discher Hinsicht Beachtung verdient und auf
dem Seh- und schnellen Schwimmvermögen der
Tiere beruhen dürfte. Die Ernährung besteht —
was nicht ganz neu ist — meist aus Kopepoden
und aus anderen Chätognathen. Die Beute wird
von den großen, am Kopf stehenden Greifhaken,
deren jeder für sich beweglich ist, ergriffen, von
den Kiefern aber nur mundgerecht gemacht, in
den sich trichterförmig öffnenden Mund hinein-
geschoben und im Magen bis auf die Hartgebilde
verdaut. Ihrerseits dienen die Chätognathen
Medusen und Fischen zur Nahrung. Auf Chäto-
gnathen fanden sich nicht selten peritriche Ciliaten
als Parasiten. V. Franz, Jena.
Die Konstitntion des Cyanwasserstoffs.
Trotz der vielfachen Verwendung, die der
Cyanwasserstoff (Blausäure) zu theoretisch und
praktisch wichtigen Untersuchungen und Arbeiten
findet, trotz der Unzahl von Derivaten, in denen
sein Strukiurbild mehr oder weniger verändert
vorliegt, ist man sich über die Formulierung dieses
Stoffes im Sinne der Strukturchemie nicht emig.
Rein formal besteht die Möglichkeit, die Verbin-
dung HCN in den beiden Formeln H — N = C und
H — C^N wiederzugeben. Nach der ersten wäre
') P. van Oye, Untersuchungen über die Chätognathen
des Javameers. In : Contributions ii la Faune des Indes neer-
landaises. Buitenzorg 1918.
Cyanwasserstoff ein Abkömmling des Ammoniaks,
nämlich Carbylamin oder Iso-nitril. Nach der
zweiten Auffassung wäre er das Nitril der ein-
fachsten Carbonsäure, der Ameisensäure, also
Formonitril. Beide Auffassungen haben ihre ex-
perimentelle Begründung und dementsprechend
ihre Vertreter unter den Chemikern gefunden. So
betrachten, ohne daß dies im einzelnen erläutert
sei, Nef und Lemoult den freien Cyanwasser-
stoff als Isonitril, Gautier und Brühl den
gleichen Stoff als Formonitril. Wade hinwieder-
um erkennt die Nitrilform zwar der freien Blau-
säure, den Salzen jedoch die Isonitrilform zu.
Ähnlich zweideutig erscheint der Stoff auf Grund
der Untersuchungen von Guillemard und von
Auger. Und schon 1885 wandte K. Laar seine
bekannte Oszillationshypothese auf die Blausäure
an, um ihr zwiefaltiges Verhalten zu deuten. In
der freien Säure sollte der Wasserstoff von N
nach C schwingen, so daß je nach den Reaktions-
bedingungen bald die eine, bald die andere Form
die vorherrschend wirksame sein könne. So ein-
fach die Erklärung erscheint, so ist sie, da sie in
den meisten analogen Fällen versagte, doch ver-
lassen worden. Statt dessen hielt man die freie
Säure für ein allelotropes Gemenge beider For-
men, wie in entsprechender Weise zahlreiche
andere Beispiele bekannt wurden. ') Über die
Mengenanteile der miteinander im Gleichgewicht
angenommenen Formen war jedoch nichts aus-
zusagen. In chemischen Umsetzungen war, das
lehrten die genannten Forschungsergebnisse, ein
einwandfreies Kriterium hierfür nicht zu erblicken.
Ja, es entbehrt nicht der Komik, daß aus der
elektrolytischen Leitfähigkeit des wenig disso-
ziierten Quecksilbercyanides Kieseritzki auf
die Isonitril-, Ley im strikten Gegensatz auf die
Nitrilform schließt!
Kurt H. Meyer, dem mehrere für das Ver-
ständnis der tautomeren Stoffe förderliche Arbeiten
zu danken sind, hat nun in Gemeinschaft mit
H. Hop ff die Frage nach der Konstitution des
freien Cyanwasserstoffs erneut angeschnitten. -)
Unter gewissen Vorsichtsmaßregeln gelingt es be-
kanntlich, tautomere Substanzen aus ihrer gegen-
seitigen Mischung zu isolieren und sie so wenig-
stens vorübergehend frei von der anderen Form,
mit der sie in Gleichgewicht stehen, zu erhalten.
Ein Weg hierzu ist die fraktionierte Destillation.
Auf Grund analoger Verhältnisse war zu erwarten,
daß hierbei zunächst das leichter flüchtige Iso-
nitril destillieren würde. Aus einer Änderung
des Brechungsindex der einzelnen übergehenden
Fraktionen hätte sich also eindeutig die An-
reicherung der einen Form erkennen lassen. Der
Versuch ließ aber nicht die geringste Änderung
des Brechungsindex erkennen. Man muß also,
bei der Schärfe dieses Reagenz, schließen, daß
') Vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. XX, S. 672, 1921.
^) Bcr. d. d. Chem. Gesellsch. 54, S. 1709, 1921. Da-
selbst Angabe der sämtlichen bisherigen Arbeiten in der Lite-
ratur.
70
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XXI. Nr. s
Blausäure keinesfalls ein Gemisch zweier
Tautomeren sei, die sich mit meßbarer Geschwin-
digkeit ineinander umlagern. Auch eine sehr
hohe Umlagerungsgeschwindigkeit kommt nicht
in Frage, denn Meyer und Hopff fanden weiter,
daß flüssige und gasförmige Blausäure die gleiche
Molekularrefraktion besitzen, was andernfalls aus-
geschlossen ist. Endlich läßt sich die Molekular-
refraktion der beiden Formen berechnen. Ver-
gleicht man sie mit der experimentell gefundenen
(MD = 6,48), so ergibt sich eine hinreichende
Übereinstimmung nur für die Nitrilform , für die
sich der Wert 6,52 berechnet.
In Übereinstimmung hiermit führt auch eine
thermochemische Betrachtung die beiden Verf.
zu dem Ergebnis, daß freier Cyanwasserstoff im
wesentlichen Formonitril mit einer geringen
Beimengung von Carbylamin ist.
Läßt sich dieser Befund erhärten, so würde
sich die physiologische Wirksamkeit der Blausäure
allerdings in bemerkenswertem Licht darstellen.
H. Heller.
Bücherbesprechuagen.
Helmholtz, H. V., Schriften zur Erkenntnis-
theorie. Hrsg. und erläutert von Paul Hertz
und Moritz Schlick. Berlin 1921, Springer.
Die Herausgabe dieses Werkes, das die Heraus-
geber „dem Andenken an Hermann v. Helmholtz
zur Jahrhundertfeier seines Geburtstags" gewidmet
und womit sie diesem für die Geistesgeschichte der
Menschheit so bedeutsamen Tage das schönste
Denkmal errichtet haben, ist nicht nur in diesem
Sinne ein großes Verdienst, sondern entspricht
wirklich einem wissenschaftlichen Bedürfnis, wenn
ich diesen etwas reichlich mißbrauchten Terminus
auch einmal in wirklich zutreffender Weise an-
wenden darf. Denn dieses Buch bietet zum ersten
Male eine in sich geschlossene Gesamtdarstellung
der Erkenntnistheorie Helmholtz' und zwar
eine keineswegs subjektiv gefärbte Darstellung,
an denen ja gerade kein Mangel herrscht, sondern
eine insofern denkbar objektive, als sie Helm-
holtz' Lehre von diesem selbst darstellen lassen!
Die Herausgeber haben sich eben die Aufgabe
gestellt, Helmholtz' in Frage kommenden Ab-
handlungen in solcher Auswahl vorzulegen, daß
eben dieses einheitliche Gesamtbild entsteht, ein
bei der Zerstreuung zwar nicht der Hauptschriften
Helmholtz' zur Erkenntnistheorie, wohl aber der
vielen wichtigen ebenfalls hierhin gehörigen Be-
merkungen in den anderen Abhandlungen keines-
wegs leichtes Unternehmen. Die Herausgeber
haben aber diese Aufgabe mit großem Geschick
in der Weise gelöst, daß sie dem wörtlichen
Abdruck der Hauptschriften reiche Anmerkungen
haben folgen lassen , die abgesehen von ihrer
kommentariellen Bedeutung eben alle jene ge-
legentlichen Bemerkungen von Helmholtz
gründlich verwerten. Besonders wertvoll an diesen
Anmerkungen ist auch das ständige Fühlung-
bewahren mit den modernen Problemen der Er-
kenntnistheorie der Mathematik und Naturwissen-
schaften.
Hoffentlich hat diese meisterliche redaktionelle
Arbeit nur nicht die Wirkung, daß manche ihrer
Leser die Lektüre der Originalwerke Helmholtz',
besonders der zu den klassischen Hausbüchern
des modernen Gebildeten gehörenden „Vorträge
und Reden", fortan für überflüssig halten. Hoffent-
lich dient diese Neuausgabe vielmehr dazu, die
Kenntnis jener herrlichen Bücher noch mehr zu
verbreiten. Das wäre der schönste Dienst, den
sie der Erinnerung an Helmholtz leisten könnte.
Noch eine weitere Wirkung wünsche ich dem
vorliegenden Buche, die nämlich, daß recht viele,
die Helmholtz' Erkenntnistheorie bisher nur
aus der flüchtigen Darstellung kennen, die sie
in den gebräuchlichen Lehrbüchern der Geschichte
der Philosophie gefunden hat, erkennen möchten,
wie wenig diese Darstellungen, die Helmholtz'
Lehre viel zu psychologisch schildern, in die
Tiefe gegangen sind. Das psychologische, ge-
nauer physiologisch-physikalische Element ist nur
die äußere Form der Helmholtz'schen Lehren,
die sich sehr einfach daraus erklärt, daß Helm-
holtz der bisher bedeutendste Erforscher jener
Probleme war, die mit gleichem Recht in drei
Wissenschaften, Physik, Physiologie und Psycho-
logie grundlegend sind. Im Grunde ist Helm-
holtz' Erkenntnistheorie ebensowenig psycho-
logistisch fundiert wie etwa die Lehre Kants,
deren Problemen Helmholtz wieder einer der
ersten Wegbereiter im Neukantianismus war.
Nicht unwidersprochen möchte ich die Meinung
der Herausgeber lassen, daß Helmholtz in
seinen nicht erkenntnisheoretischen Werken, seinen
Hauptleistungen also, für uns nur noch mehr
historische Bedeutung habe. Mir will es so
scheinen, als ob die modernen Probleme der
Physik, wie sie sich in erster Linie um die Re-
lativitätstheorie gruppieren, zurzeit mehr durch
eine Betonung des Gemeinsamen mit der
„klassischen Physik" gefördert werden können als
durch die reichlich unhistorisch gedachte, ewige
Betonung des Gegensätzlichen. Und dann ist
auch der Physiker Helmholtz auch heute noch
eine keineswegs bloß historische Größe.
A. Meyer.
Lipps, G. F., Grundriß der Psychophy sik.
Mit 6 Zeichnungen. Dritte, neubearbeitete Auf-
lage. Berlin und Leipzig, Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger, Walter de Gruyter & Co.
Sammlung Göschen Nr. 98.
Dieses Buch, das jetzt in 3., weitgehend um-
N. F. XXI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
7*
gearbeiteter Auflage vorliegt, hat sich bereits in
seinen früheren Auflagen als eine ebenso kurze,
wie gründliche Einführung in denjenigen Teil der
Psychologie bewährt, den man mit James als
„naturwissenschaftliche Psychologie" bezeichnen
kann und den Fechner bekanntlich Psychophysik
genannt hatte. Es erübrigt sich daher, der neuen
Auflage besondere Empfehlungen mit auf den
Weg zu geben. Möge sie ebenso wie ihre Vor-
gängerinnen dazu beitragen, klare Begriffe und
gründliche Kenntnisse in demjenigen Teile der
in prinzipieller Hinsicht so viel mißhandelten
Psychologie zu verbreiten, der wegen der Exakt-
heit seiner Methoden und der Objektivität seiner
Ergebnisse noch am ehesten als Wissenschaft in
dem strengen Sinne Kants auftreten kann.
Als ganz besonders klar und lichtvoll sind uns
Lipps kurze Darlegungen erschienen über „das
psychische Maß und die psychophysischen Maß-
methoden", demjenigen Gebiet, auf dem Lipps
ganz besonders als Autorität gelten kann, sowie
seine daraus folgenden Ausführungen über „Ord-
nen und Messen" psychologischer Phänomene,
einem Gebiete , auf dem von Philosophen und
doktrinären Naturforschern bekanntlich sehr viel
Verwirrung angerichtet worden ist.
Wir wünschen dem treflflichen Büchlein auch
weiterhin gute Wirkungen. Adolf Meyer.
Geitler, J., Elektromagnetische Schwin-
gungen und Wellen. „Die Wissenschaft"
Band 6. Zweite, vermehrte Auflage. 2i8 S.
mit HO Abbildungen. Braunschweig 1921,
F. Vieweg & Sohn. — Geh. 30 M.
Es ist sehr zu begrüßen, daß die Herausgabe
der vorliegenden Neuauflage Gelegenheit gibt,
weitere Kreise auf diese erstmalig im Jahre 1905
erschienene vortreffliche Monographie nachdrück-
lichst hinzuweisen. Ein besonderer Vorzug dieser
klaren, alle wesentlichen prinzipiellen Fragen mit
großer Sorgfalt und Vollständigkeit behandelnden
Übersicht über das theoretisch und praktisch be-
deutungsvolle Gebiet der elektromagnetischen
Schwingungen ist die scharfe Hervorhebung der
historischen Entwicklung und die unübertreffliche
Herausarbeitung der großen das Gebiet der Nieder-
frequenzen und die übrige Optik verknüpfenden
allgemeinen physikalischen Gesichtspunkte.
Die Schrift beginnt mit einer kurzen Betrach-
tung der alten Vorstellung einer unmittelbaren
Fernwirkung und zeigt dann sehr eingehend, wie
die Theorie der vermittelten Fernwirkungen von
Far ad ay begründet, von Maxwell vertieft und
schließlich von Hertz experimentell verifiziert
worden ist. Etwa den gleichen Raum nimmt die
systematische Darstellung der weiteren Entwick-
lung ein, die in den drei Abschnitten i. die elek-
tromagnetischen Wellen und die Optik, 2. die
Ausbreitung der elektromagnetischen Strahlung,
3. Verfahren zur Erzeugung und Beobachtung
elektromagnetischer Wellen gegeben wird. Die
Neuauflage berücksichtigt hier in theoretischer
Hinsicht insbesondere die Bedeutung des Quanten-
begriffs in der Strahlungstheorie, und in prakti-
scher Hinsicht sind die wichtigen neuen Verfahren
der Erzeugung und Verwertung ungedämpfter
Schwingungen aufgenommen worden. Im letzteren
Fall wäre vielleicht etwas größere Ausführlichkeit
zu wünschen.
Die mustergültige allgemeinverständliche Dar-
stellung ist in gleicher Weise sowohl zur Ein-
führung in den Gegenstand als zur Vertiefung
früherer Kenntnis bestens geeignet.
A. Becker.
Das Tierreich. IV. Fische. Von Prof. Dr. Max
R a u t h e r , Konservator a. d. Württ. Naturalien-
sammlung. Zweite, umgearbeitete Auflage. Mit
42 Abbildungen. Sammlung Göschen Nr. 356.
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter
de Gruyter & Co. Berlin W 10 und Leipzig
192 1. Preis 6 M.
Ein ausgezeichnetes Nachschlagewerkchen zur
raschen verhältnismäßig genauen Orientierung
über den Körperbau der Fische, über ihr System
— für die Teleostier wurde Boulenger zu-
grunde gelegt — und über die Kennzeichen der
allermeisten bekannteren Arten und selbst Varie-
täten, sowie über die Hauptzüge in ihren Lebens-
verrichtungen. Nur durch ausgiebige Verwendung
von Kleindruck und sehr knappen Stil war es
möglich, diesen umfangreichen Stoff auf 144 Klein-
oktavseiten zu bewältigen. Wie gesagt, wird das
Büchlein als Nachschlagewerk selten versagen,
außer allerdings bei Zierfischen der heutigen
Aquariumliebhaberei; diese kommen sehr kurz
weg, ja bleiben großenteils unerwähnt. Wer also
von dieser Seite den Fischen nähergetreten ist
und weiterhin nähertreten will, kann demnach
an Hand des Rauth ersehen Büchleins seine
Kenntnisse nur in allgemeinere einordnen. Wer
sich über die deutsche oder über die bekannteste
Meeres - Uschfauna unterrichten will, wird das
Büchlein mit Nutzen verwenden. 'J
V. Franz.
Study, E., Denken und Darstellung. Logik
und Werte, Dingliches und Menschliches in
Mathematik und Naturwissenschaft. Sammlung
Vieweg (Tagesfragen aus den Gebieten der
Naturwissenschaft und Technik) Heft 59, 192 1.
43 S. 8». 3 20 M.
Der Verf. wünscht bei allen Lehrern natur-
wissenschaftlicher P'ächer ein gründliches Studium
der Differential- und Integralrechnung, damit das
') Für einen Neudruck sei empfohlen , das Vorderhim
der Fische den neuen Anschauungen entsprechend darzustellen,
sowie Amphioxides zu streichen, da letztere 1905 aufgestellte
Gattung ein Jahr später von ihrem Autor selber zurückgezogen
worden ist. Dagegen wäre die Gattung Asymmetron zu nennen.
Diese Ausstellungen werden dem Ref. nur dadurch nahegelegt,
daß sie in von ihm selber bearbeitete Gebiete fallen. Die
gewünschten Berichtigungen aber würden gerade solche Punkte
betreffen, die der Aufmerksamkeit jedes Lesers sicher sein
würden.
72
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr.
eiforderliche Gefühl erweckt werde für die Not-
wendigkeit genauen Ausdrucks, und das Zutrauen
in die Zuverlässigkeit längerer Schlußketten sich
stärke. Er verurteilt die Abkehr von Theorie und
„Spekulation" ebenso sehr wie oberflächliche,
widerspruchsvolle Theorien. Zu letzteren rechnet
er den Lamarekismus und die Kritik der Selek-
tionstheorie. Er wünscht sich die biologischen
Disziplinen nicht als beschreibende und begrüßt
um so mehr exakte Physiologie und Erblichkeits-
lehre. Darwins Abneigung, zu polemisieren,
habe die Wirkung seiner Gedanken sehr beein-
trächtigt. Der Vitalismus überkleistere Denk-
lücken mit leeren Worten. In zahlreichen Fällen
sei eine Nachprüfung vorhandener Lehren nötig.
Gleichwohl müssen in der Naturwissenschaft eben-
sowenig wie in der Mathematik alle Schlußketten
in ihre letzten Elemente aufgelöst werden.
V. Franz, Jena.
Planck, M., Die Entstehung und bisherige
Entwicklung der Quantentheorie.
Nobel - Vortrag gehalten vor der Königlich
Schwedischen Akad. d. Wiss. zu Stockholm am
2. Juni 1920. 32 Seiten. Leipzig 1920, J. A.
Barth. Geh. 4 M.
Wer sich über das Wesen und die Bedeutung
der Quantentheorie zuverlässig orientieren will,
wird den Abdruck des Planckschen Nobelvor-
trags ganz besonders begrüßen. Der Begründer
dieser Theorie gibt hier einen unübertrefflichen
knappen und doch durchweg klaren Überblick
über die Entwicklung seiner theoretischen Unter-
suchungen, den mühevollen Weg, auf dem er mit
der Einführung des Energiequantums die Grund-
lagen der Quantentheorie gelegt hat, und den ge-
waltigen Einfluß der neuen Erkenntnis auf die
gesamte gegenwärtige physikalische Forschung.
A. Becker.
Anregungen und Antworten.
In Nr. 43 der Naturw. Wochenschrift 1921 erwähnt
H. Kranichfeld in seinem hochinteressanten Aufsatz über
fremddienliche Zweckmäßigkeit die Trunksucht der Grau-
bündner. Ich bin Ostpreuße und lebe seit über 21 Jahren in
Graubünden und habe das Land nach allen Richtungen hin
durchstreift. Ich habe die Bündner als ruhige, nüchtern ab-
wägende, dem Fremden gegenüber etwas verschlossene Men-
schen kennen gelernt. Nie habe ich einen betrunkenen Bündner
gesehen. Man schätzt ganz gewiß den herben und doch feu-
rigen Veltliner Wein, der hier in der Gebirgswelt seine besten
Eigenschaften entfaltet; man trinkt ihn, aber man säuft ihn
nicht. Es wäre gewiß interessant zu erfahren, auf welche
Beobachtungen Herr Kranichfeld seine Behauptung stützt.
Dr. Otto Suchlandt.
Lauterzeugung bei einem Krebs. Ein Geräusch , sehr
ähnlich dem, das bei dem Herausziehen eines Stöpsels aus
einer Flasche entsteht, habe ich an der Küste der Provinz
St. Catharina (Südbrasilien) gehört. Es wurde hervorgebracht
von einem Vertreter der Gattung Alpheus , der dort an den
Felsen unter Schwämmen, Bryozoen usw. verborgen lebte.
Es kam dadurch zustande, daß der bewegliche Finger der
großen Schere einen zylindrischen Fortsatz besaß, der genau
in eine Grube des unbeweglichen Fingers paßte. Wurde die
Schere geöffnet, der Fortsatz aus der Grube gezogen, so ent-
stand das Geräusch, das also ganz in der gleichen Weise zu-
stande kam, wie das beim Offnen einer Flasche.
G. W. Müller.
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holtz, Schriften zur Erkenntnistheorie. S. 70. G. F. Lipps, Grundriß der Psychophysik. S. 70. J. Geitler, Elektro-
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und Antworten : Trunksucht der Graubündner. S. 72. Lauterzeugung bei einem Krebs. S. 72. — Literatur: Liste. S. 72.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 5. Februar 1922.
Nummer 6.
INachdnick verboten.]
Lange Zeit hat die al.s Kontraktions-
theorie bezeichnete Annahme, daß der Erd-
körper als ursprünglich feuriger Glutball einem
Abkühlungsprozeß unterliege und daß die durch
die entstehende Volumverkleinerung ausgelösten
Kräfte, neben den an der Erdoberfläche selbst
wirkenden zerstörenden und aufbauenden Kräften,
in der geologischen Vergangenheit dem Antlitz
der Erde seine Züge eingeprägt habe, in der
Wissenschaft fast allgemeines, unbestrittenes An-
sehen genossen. In den letzten Jahren sind aber,
weil nach der Ansicht mancher Forscher mehrere
Beobachtungstatsachen sich nur schwer mit ihr
in Einklang bringen lassen, Angriffe auf diese
Theorie erfolgt, und man hat versucht, sie durch
andere Annahmen zu ersetzen. Einer ihrer Haupt-
gegner ist A. Wegen er, und seine Argumente
und die seiner Vorgänger sind wohl geeignet,
den der Kontraktionstheorie anhängenden Geo-
logen nachdenklich zu stimmen. Allein wenn
man, diese Argumente anerkennend, versucht, sich
mit Hilfe neuer Annahmen ein Bild von der Ent-
wicklung der Erde zu machen, so stößt man bald
auf andere, nicht weniger große Schwierigkeiten.
Diese Tatsache zwingt zur Vorsicht. Bevor man
das Alte, lange Zeit hindurch Bewährte aufgibt,
empfiehlt es sich jedenfalls, durch eine gründliche
Prüfung festzustellen, ob man Besseres dafür ein-
tauscht. Und zeigt sich, daß die neuen An-
nahmen vor einer strengen Kritik nicht bestehen
können, so ist es natürlich, daß man sich wieder
der alten Erklärung zuwendet, in der stillen Er-
wartung, daß sie doch wohl das richtige treffe.
Wir wollen im folgenden versuchen nachzuweisen,
daß es sich mit der Kontraktionstheorie wirklich
so verhält, daß nur eine falsche Auffassung schuld
daran war, daß Zweifel an ihrer Richtigkeit auf-
tauchen konnten. Für die Wissenschaft ist die
Wanderung auf einem Irrwege immer bedauerlich ;
aber etwas Gutes hat sie doch zur Folge. Nur
durch eine sorgfältige Umschau und Ausschau
gcHngt es vom Irrweg den rechten Weg zurück-
zugewinnen, und dieser Zwang führt in der
Wissenschaft zur Klärung der Vorstellungen und
zur Vertiefung der Einsicht.
Neue Hypothesen.
A. Wegener führt die Entstehung der Ge-
birge nicht auf die Schrumpfung des Erdkörpers
zurück, sondern erklärt sie als die Wirkung eines
doppelten Verschiebungszwanges der Kontinente,
einer Polflucht und einer Ostwesttrift derselben.
Zur Kontraktionstheorie.
Eine Rechtfertigung.
Von Prof, Dr. Fr. Nölke, Bremen.
Die Polflucht ist eine Wirkung der Zentrifugal-
kraft, die dadurch entsteht, daß der Schwerpunkt
der aus den leichteren Sialmassen sich zusammen-
setzenden Kontinentalschollen in einem etwas
höheren Niveau liegt, als der Schwerpunkt des
von ihnen verdrängten schwereren Simas; die
Ostwesttrift ergibt sich aus der Richtungs-
ablenkung, die alle dem Äquator zustrebenden
IVIassen auf der Erdoberfläche erfahren. Daß
Kräfte in dem von Wegener angegebenen Sinne
wirksam sind, steht hiernach fest. Es zeigt sich
aber, daß sie viel zu schwach sind, um die er-
forderliche Wirkung hervorzubringen. Der die
Polflucht bewirkende Verschiebungsdruck beträgt
nämlich, selbst bei Kontinentalschollen von vielen
tausend km Durchmesser, nur i bis 2 Atmo-
sphären auf dem Quadratzentimeter ihrer Stirn-
wand.^) Dieser Druck reicht bei gewissen An-
nahmen über die Zähigkeit der die Kontinen-
talschollen unterlagernden Simamassen nach einer
Rechnung von P. Epstein-) gerade aus, um die
Schollen mit der von Wegener hergeleiteten
Geschwindigkeit wagerecht zu verschieben, vor-
ausgesetzt, daß ihnen kein Hindernis
im Wege steht. Da ihnen aber fast in ihrer
ganzen Dickenerstreckung (100 — 120 km) die den
Boden der Ozeane bildenden Gesteinsschichten
in nur wenig geringerer Dickenerstreckung vor-
gelagert sind, so kann die Verschiebung nicht
erfolgen. Denn ein Druck von 2 Atmosphären
auf dem qcm ruft bei Gesteinen gar keine er-
kennbare Wirkung hervor. Eine Emporstülpung
der Ränder würde nur erfolgen, wenn die dem
Druck unterliegenden Massen flüssig wären, und
auch dann würden nur Hügel von einigen Metern
Höhe entstehen. Bei festen Schollen aber, wie
sie wirklich vorliegen, führt der Druck nur zu
einer geringen molekularen Spannung.
Wegener ist sich des problematischen
Charakters seiner physikalischen Beweisführung
wohl bewußt, will aber, mit Rücksicht darauf,
daß die Beobachtungstatsachen die Anerkennung
der Verschiebungshypothese fordern und im Hin-
blick auf die Möglichkeit einer zukünftigen besseren
Begründung der Hypothese, ihr den wissenschaft-
lichen Wert nicht absprechen lassen. Solange
') Vgl. auch Prof. E. Hennigs gründliche Kritik der
We g enerschen Hypothese in dem Aufsatze „Neue Ansichten
vom Entstehen des Erdbildes", Naturw. Wochenschr. 1921,
Heft 48,
'') Über die Polflucht der Kontinente. Naturwissenschaften,
1921, Heft 25, S. 499.
u
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
ihr das theoretische Fundament fehlt, wird ihr
jedoch nicht leicht jemand vor der Kontraktions-
hypothese, die diesen Mangel nicht besitzt, den
Vorzug geben, vorausgesetzt, daß auch sie die
Beobachtungstatsachen gut zu erklären vermag,
was, wie wir noch zeigen werden, zutrifft.
Ähnlich wie mit der Wegenerschen Er-
klärung steht es mit einer andern, von geologischer
Seite vertretenen Ansicht, nach welcher an den
Stellen der Erde, wo eine Faltung eintrat, diese
durch lokale Verhältnisse in den die gefalteten
Schichten unterlagernden Massen verursacht wurde.
Wenn man versucht, diese Hypothese in ihren
Einzelheiten zu durchdenken , so erkennt man
bald ihre Unzulänglichkeit. Denn man mag un-
gleiche Zusammensetzung des Erdkörpers nicht
nur in senkrechter, sondern auch in wagerechter
Richtung, ungleiche Dichten und Temperaturen
in den einzelnen Gebieten, lokale Kristallisations-
vorgänge, oder was man sonst will, annehmen,
so wird im Grunde damit nur wenig erreicht.
Um z. B. eine Zusammenschiebung der Alpen
bis auf die Hälfte oder gar ein Viertel ihrer ur-
sprünglichen Breitenerstreckung zu erklären, müßte
man einen förmlichen Schwund der in der Tiefe
lagernden Massen annehmen. Es ist aber keine
Möglichkeit vorhanden, eine solche Annahme
physikalisch zu rechtfertigen. Ein vielleicht durch
geringere Dichte bewirktes ursprüngliches Massen-
defizit würde übrigens schon vor dem Einsetzen
der Faltung durch eine Verschiebung der nach
Druckgleichgewicht strebenden benachbarten
Massen und Emporpressung jener weniger dichten
Massen über die Erdoberfläche ausgeglichen
werden; es würde also zu gar keiner Faltung,
sondern zu einer Zerreißung der oberflächlichen
Schichten kommen.
Es soll nicht bestritten werden, daß lokale
Verhältnisse auf die Faltungsvorgänge einen mit-
bestimmenden Einfluß haben. Die Festigkeit der
Erdkruste ist nicht überall dieselbe. Große,
schollenartige Gebiete haben fast während der
ganzen geologischen Vergangenheit nur gering-
fügige Änderungen erlitten, während andere
zwischen den Schollen gürtelartig sich erstreckende
Zonen immer von neuem wieder gefaltet worden
sind. Bei den Faltungen wird das Schweregleich-
gewicht der Faltungszonen gestört. Gestörtes
Gleichgewicht aber strebt einem Ausgleich zu,
und infolge davon treten sekundäre Bewegungen
(größere oder kleinere, durch örtliche Massen-
defizite oder Massenüberschüsse oder durch
Sedimentation von Geosynklinalen verursachte
Hebungen und Senkungen) ein, deren Zeitdauer
um so länger ist, je höher der Grad der Zäh-
flüssigkeit der magmatischen Unterlage und je
weiter der Ausgleich bereits vorgeschritten ist.
Es muß jedoch mit Nachdruck darauf hingewiesen
werden, daß es nicht statthaft ist, in diesen Be-
wegungen, die nur als Folgeerscheinung
eines Faltungsvorgangs zu betrachten sind, um-
gekehrt die Ursache desselben zu sehen. Den
Faltungszonen kommt, worauf besonders auch
F. Koßmat aufmerksam macht,') keine aktive,
sondern nur eine passive Bedeutung zu. Sie sind
nicht selbst der Sitz einer bewegenden Kraft,
sondern nur der Schauplatz ihrer Wirksamkeit.
Ein ßewegungsvorgang, der in sich abgeschlossen
ist, der keine neuen Anstöße von außen empfängt,
muß allmählich abklingen und asymptotisch einem
Ruhezustande zustreben. Versucht man bei den
Faltungen ohne eine äußere Kraft auszukommen,
so ist gar nicht einzusehen, warum die tektonischen
Bewegungen in der Erdkruste nicht längst zum
Stillstand gekommen, warum Perioden großartiger
Faltungserscheinungen solchen verhältnismäßiger
Ruhe immer wieder gefolgt sind. Es geht auch
nicht an , diese äußere Kraft in gewissen kos-
mischen Faktoren, z. B. in der Anziehung durch
Sonne und Mond, oder ähnlich wie Wegener
in der Rotationsbewegung der Erde zu suchen.
Denn die Gezeitenkräfte des Mondes und der
Sonne und die zentrifugalen Kräfte der Erd-
rotation sind viel zu schwach, um die erforderliche
Wirkung zu erzielen. Die Schwierigkeiten, zu
denen die Kontraktionshypothese führen soll, er-
scheinen bei dieser Erklärung vervielfacht; auch
würde die Anerkennung ihrer unbestimmten,
allgemein gehaltenen Voraussetzungen nur als ein
verhülltes Eingeständnis des ignoramus zu be-
werten sein.
Die Kontraktionshypothese.
Nach dem im vorigen Abschnitte Gesagten
steht der problematische Charakter der Hypo-
thesen, die man an die Stelle der Kontraktions-
hypothese gesetzt hat, fest. Erscheinen diese
Hypothesen in einem zweifelhaften Lichte, so ge-
winnt ihnen gegenüber die Kontraktionshypothese
jedoch von selbst wieder an Bedeutung. Verdient
sie es wirklich, zum alten Eisen geworfen zu
werden, oder braucht man sie vielleicht nur von
altem Roste zu säubern, damit sie heller erstrahlt,
als je zuvor? Treffen die Einwendungen, die
man gegen sie erhoben hat, wirklich ihren
eigentlichen Kern? Wäre es nicht denkbar, daß
die Erklärung richtig, aber wegen unvollkommener
Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse nicht
ganz richtig dargestellt worden ist? Könnte sie
den neuen Beobachtungsergebnissen nicht ange-
paßt werden, oder besser, sind erst diese vielleicht
geeignet, der Erklärung das richtige Kleid zu
verleihen, während das frühere gar nicht das ihr
angemessene war? Indem wir die gegen sie er-
hobenen Einwände einzeln durchgehen, werden
wir nachher zeigen, daß es sich tatsächlich so
verhält. Vorher aber sind wir in der Lage,
durch eine Betrachtung allgemeiner Art gleichsam
einen indirekten Beweis für ihre Richtigkeit zu
liefern.
') Die mediterranen Kettengebirge und ihre Beziehung
zum Gleichgewichtszustand der Erdrinde. Abb. d. math.-
phys. Kl. d. Sachs. Akad. d. VViss., Bd. 38, 1921, Nr. 2.
N. l'. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
7S
We gener behauptet, es sei eine unbewiesene
Annahme, daß die Erde zusammenschrumpfen
müsse, weil sie sich abkühle. Es stehe keines-
wegs fest, daß sie Wärme abgebe; es sei sogar
möglich, daß sie sich, z. B. infolge Radiumzerfalls
in ihrem Inneren, erhitze. Um über diesen Punkt
Klarheit zu gewinnen, ist eine kurze kosmogonische
Auseinandersetzung erforderlich.
Niemand wird behaupten, daß die Erde von
Ewigkeit her bestanden habe. Sie hat, wie alle
Weltkörper, ihre Entstehungsgeschichte. Der Ur-
zustand der Erde läßt sich in zweifacher Weise
denken. Den einen Zustand beobachten wir bei
den Sternen, die nach den neueren astronomischen
Forschungsergebnissen ihre Entwicklung als hell-
strahlende Riesensterne beginnen und allmählich,
durch Wärmeausstrahlung ihr Volumen verkleinernd,
in den Zustand der Zwergsterne übergehen, um
dann zu erlöschen. Wenn die Entwicklung der
Erde mit der der Sterne gleichartig, wenn sie
ursprünglich ein gewaltiger Gasball war, so mußte
sie, wie die Sterne, ihr Volumen verkleinern
und allmählich aus dem gasförmigen in den
dichteren flüssigen und festen Zustand übergehen.
In diesem Falle würde die Kontraktionshypothese
zu recht bestehen. Eine andere Beobachtung
weist auf einen anderen Entwicklungsweg. Täglich
fallen Sternschnuppen- und Meteoritenkörperchen,
gelegentlich in großer Zahl, auf die Erde und
vermehren ihre Masse. Es wäre denkbar, daß
die Erde ihre ganze Masse allmählich aus Meteo-
riten aufgebaut habe. In diesem Falle würde sie
von Anfang an ein konglomeratartiger, fester, und
verhältnismäßig kalter Körper gewesen sein, der
sich nicht mehr merklich zusammenziehen konnte,
für den also die Annahme Wegeners, daß er
vielleicht sogar seine Temperatur erhöhe, zuträfe.
Aus zahlreichen Gründen, z. T. rein analytisch-
mechanischen, z. T. physikalischen Charakters,
deren Erörterung hier zu weit führen würde, folgt
aber unwidersprechlich, daß diese zweite Ent-
wicklungsmöglichkeit für die Erde nicht in Frage
kommt, daß die sog. Meteoritenhypothese, nach
welcher sie sich aus einem die Sonne umkreisen-
den Meteorringe allmählich gebildet hätte, un-
richtig ist. ^) Dann bleibt nur die erste Möglich-
keit übrig, und damit ist die Richtigkeit der
Kontraktionshypothese zunächst theoretisch er-
wiesen.
Wir kommen nunmehr zu den Einwänden, die
man gegen die Kontraktionshypothese erhoben hat.
Von keinem Forscher ist sie ernstlicher und gründ-
licher angegriffen worden, als von Wegener. '^j
lici der Erörterung können wir uns daher auf
seine Argumente beschränken; doch werden wir
sie noch etwas schärfer präzisieren, als es von
ihm geschieht.
') Vgl. des Verf.s „Problem der Entwicklung unseres
Planetensystems", eine kritische Studie. 2. Aufl., Julius
Springer, 1919.
^) Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. 2. Aufl.,
Fr. Vieweg, 1920, S. I fl.
1. „Nach der Kontraktionshypothese sind die
Kontinente der einzelnen geologischen Epochen
beim „Zusammenbruch des Erdballs" stehenge-
bliebene, die Ozeane abgesunkene Schollen, die bei
fortschreitender Kontraktion ihre Rolle auch mit-
einander vertauschen können. Aus den neueren
geologischen Forschungen ergibt sich aber, daß
die meisten Sedimente Flachseebildungen sind,
daß die Kontinente also bereits seit den ältesten
Zeiten bestanden und nur ihre Randgebiete ge-
legentliche Senkungen und Hebungen erfahren
haben."
Wenn die neueren Forschungen zeigen , daß
die frühere Annahme, nach welcher beim „Zu-
sammenbruch des Erdballs" die Kontinente teil-
weise oder ganz zu beträchtlichen Meerestiefen
absinken konnten, unrichtig sei, so steht der An-
erkennung dieser Tatsache von selten der Kon-
traktionshypothese nichts im Wege. Man hat
sich nur von der Vorstellung, daß die Erde als
Ganzes zusammenbreche, freizumachen, und
den Zusammenbruch auf die äußerste feste Rinde
zu beschränken, dann fällt jeder Widerspruch fort.
2. „Nach den Lehren der Isostasie herrscht bei
den die oberen Erdschichten bildenden Massen
Druckgleichgewicht. Die Schrumpfungshypothese
führt jedoch das Aufsteigen und Niedersinken der
Kontinente auf den in mehr oder weniger schiefer
Richtung wirkenden Gewölbedruck zurück. Dieser
Gewölbedruck läßt die Entstehung eines Druck-
gleichgewichts nicht zu."
Die Dicke der Kontinentalschollen wird zu
100 bis 120 km geschätzt. Nun zeigt z. B. die
Alpenfaltung, daß nur die oberen Schichten in
einer Dicke von ungefähr 10 km von der Faltung
ergriffen worden sind. Die tieferen Schichten der
Schollen nehmen bei ihrer höheren Temperatur
unter der Einwirkung des Gewichtes der über
ihnen lagernden Massen und der Einwirkung des
seitlichen Druckes, der die oberen Schichten in
Falten legt, plastische Eigenschaften an. Sie wer-
den nicht gefaltet, sondern weichen nach unten
aus und verdicken die Kontinentaltafel unter und
seitlich von den Faltengebirgen. Der Gewölbe-
druck beschränkt sich hiernach, soweit überhaupt
von ihm die Rede sein kann, auf das obere
Zehntel der Kontinentalschollen; er kann daher
das Druckgleichgewicht der ganzen Schollen nur
in unbedeutender Weise modifizieren. Vielleicht
bildet er aber doch die Veranlassung, daß ge-
legentlich eine geringe Senkung oder Hebung der
Schollen und infolge davon eine wechselnde Über-
flutung und Trockenlegung ihrer Randgebiete er-
folgt, was, wenn genaues Druckgleichgewicht be-
stünde, nicht stattfinden könnte. Die Schrump-
fungshypothese wird hiernach den Tatsachen
besser gerecht als die W e g e n e r sehe Hypothese,
die keinen Gewölbedruck kennt.
3. „Durch Glättung der Gebirgsfalten ergibt
sich nach der Kontraktionshypothese der Betrag
der Schrumpfung der Erdkugel seit der Entstehung
der gefalteten Gebirge. Nun ist allein die ter-
;6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
tiäre Faltung so beträchtlich, daß eine Verminde-
rung des Erdumfangs um 3 7o eingetreten sein
müßte um sie hervorzurufen. Eme einfache Rech-
nung zeigt dann aber, daß allein um die tertiäre
Faltung zu erzielen, eine Temperaturerniedrigung
der Erde um 20OO bis 3000", und seit den älte-
sten Zeiten eine solche von ganz unwahrschein-
lich hohem Betrage eingetreten sein müßte."
Der Betrag der Schrumpfung des Erdkörpers
ergibt sich nicht rechnungsmäßig allein aus der
erfolgten Temperaturerniedrigung. Wenn nur
diese in Frage käme, so würde allerdings das
aus der Glättung der Falten resultierende Erd-
volumen für die frühesten geologischen Epochen
die Annahme einer unwahrscheinlich hohen Tem-
peratur des Erdkörpers erfordern. Allein für die
Schrumpfung kommt noch ein anderer Umstand
in Betracht. Der Übergang aus dem flüssigen in
den festen Zustand ist bei fast allen Stoffen mit
einer nicht unbeträchtlichen Volumverkleinerung
verbunden. Beachtet man, daß die Erdmasse
zur Zeit der ersten Krustenbildung und ohne
. Zweifel noch längere Zeit danach größtenteils
flüssigen Charakter besaß, daß aber bei der Ab-
kühlung ihre Zähigkeit allmählich wuchs, und
daß sie jetzt, nach Untersuchungen von W.
Schweydar u. a. , sogar als fester Körper be-
trachtet werden kann, so wird es verständlich,
daß der Betrag ihrer Schrumpfung nicht nur durch
die eingetretene Temperaturerniedrigung, sondern
außerdem durch den Volumverlust, den die Ände-
rung des Aggregatzustandes mit sich bringt, be-
stimmt wurde. Auch die Entgasung des Magmas
konnte zu einer Volumverkleinerung desselben
führen.
4. „Legen sich die oberflächlichen Erdschichten
infolge Schrumpfung des Erdinnern in Falten, so
ist zu erwarten, daß diese Faltung, wie bei einem
austrocknenden Apfel, überall ziemlich gleichmäßig
erfolgt. Die tertiäre Faltung hat aber nur auf
zwei größten Kreisen der Erde stattgefunden."
Dieser Einwand ist der einzige, der einige
Scheinbarkeit besitzt. Die Schlußfolgerung ist
auch ohne Zweifel richtig, solange die das heiße
Innere einhüllende Decke noch dünn ist und den
tangentialen Schubkräften gegenüber keine ge-
nügende Festigkeit besitzt. In der Tat sehen wir,
daß die in frühen geologischen Zeitaltern ge-
bildeten Sedimente stark gefaltet und gefältelt
sind; die devonischen Schiefer z. B. zeigen schon
auf kleinstem Raum, auf Strecken von einigen
Metern, Falten und Doppelfalten. Die Verhält-
nisse ändern sich aber, wenn die Schollen dicker
werden. Zunächst ist zu beachten, daß schon
eine verschwindend kleine Kraft ausreicht, um
eine Kontinentalscholle, die an ihrer Unterseite
keinen Reibungswiderstand zu überwinden und
auf ihrer Vorderseite keine Massen aus dem Wege
zu räumen hat, in Bewegung zu setzen ; denn ihre
Verschiebung erfolgt auf einer Niveaufläche. Nun
ist die Kraft, welche zur Überwindung der wirk-
lich vorhandenen Reibung an der Unterseite der
Scholle erforderlich ist, verhältnismäßig gering.
Nach der schon einmal herangezogenen Rechnung
Epsteins genügt ein Druck von wenigen Atmo-
sphären auf dem Quadratzentimeter, um diese Wir-
kung zu erzielen. Um die Scholle an einer Stelle
aufzuwölben und zu falten, ist aber eine sehr große
Kraft erforderlich. Wir müssen Klarheit darüber
zu gewinnen suchen, ob die Scholle genügende
Festigkeit besitzt, um einen seitlichen Druck von
großer Stärke über tausende von Kilometern
weiterzuleiten.
100 km Schollendicke stehen zu 10 000 km
Schollendurchmesser im Verhältnis i : 100. Man
wähle quadratische Platten aus verschiedenem
Material, Eis, Wachs, Metallen, Gesteinen, von
I m Kantenlänge und i cm Dicke, die in ver-
kleinertem Maßstabe der angenommenen Konti-
nentaltafel entsprechen würden, übe auf ihrer
schmalen Rückseite einen Druck aus und stelle
experimentell fest, wie groß die Stirnwiderstände
sind, welche diese Platten, ohne zu zerbrechen
oder sich zu verbiegen, zu überwinden vermögen.
Diese Widerstände sind erstaunlich, selbst bei der
aus plastischem Material bestehenden und daher
den Erdschollen einigermaßen ähnelnden Wachs-
tafel. Man würde sogar die bei der Gebirgs-
bildung sich abspielenden Vorgänge im kleinen
nachahmen können, wenn man die Wachstafel
mit einer dünnen Metallschicht, z. B. Zinnfolie,
überziehen und die Widerstand leistende Masse
ein wenig erwärmen würde, so daß die Tafel an
ihrer Vorderseite etwas von ihrer Festigkeit ver-
lieren und sich zusammenschieben würde. Jeden-
falls liegt kein Grund vor, zu bestreiten, daß
100 km dicke, fast reibungslos sich verschiebende
Erdschollen in ihrer Längsrichtung, ohne sich auf-
zuwölben, auf Strecken von 10 000 km und mehr
ganz gewaltige Drucke fortzuleiten vermögen.
Wenn der Druck eine gewisse Größe erreicht
hat, so wird das Material der Scholle an einer
besonders schwachen Stelle plastisch werden und
ausweichen; die darüberliegenden oberflächlichen
Schichten aber müssen sich in Falten legen. Hat
der Ausgleich eingesetzt, so erniedrigt sich die
Spannung allmählich bis zu einem gewissen Mini-
mum. In diesem Minimum kann sie längere Zeit
beharren, ohne daß die Schollenbewegung und
der Faltungsvorgang zum Stillstand zu kommen
braucht. Wenn z. B. eine Änderung des Aggregat-
zustandes gewisser Massen des Erdinnern die
Hauptursache der entstandenen Spannung war, so
könnte angenommen werden, daß diese Änderung
nicht überall gleichzeitig^ erfolgt, sondern sich von
der Stelle, wo der erste Spannungsausgleich statt-
fand, durch die benachbarten Gebiete, wo die
Massen , gewissermaßen im Zustande der Unter-
kühlung, erst den Zeitpunkt abwarten müssen,
der ihnen gestattet, ebenfalls in den erstrebten
neuen Zustand überzugehen , langsam fortsetzt.
Ist dieser Zustand bei allen Massen, die ihm zu-
streben, erreicht, so hat die Faltungsperiode ihren
Abschluß gefunden, und es schließt sich ihr eine
N. F. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
11
kürzere oder längere Zeit dauernde Periode der
Ruhe und des Gleichgewichts an. Wenn aber
die Spannung allmählich wieder zunimmt und
einen neuen Ausgleich sucht, so ist es leicht mög-
lich, daß er wieder an derselben Stelle wie vor-
her eintritt, da hier das innere Gefüge der
Schollendecke nicht so fest ist wie an den anderen
von den früheren Faltungsvorgängen nicht be-
rührten Stellen.
Wir waren soeben in der Lage zu erklären,
warum Perioden großartiger Faltungen der Erd-
oberfläche mit längeren Ruheperioden abge-
wechselt haben. Die Spannung in den ober-
flächlichen Schichten muß erst eine gewisse Größe
erreichen, bis der Ausgleich erfolgt. Ist dieser
aber eingetreten, so dauert es längere Zeit, bis
die Druckspannung wieder einen Wert erlangt,
der eine neue Faltung einzuleiten vermag. In
diesem Punkte zeigt sich die Kontraktions-
hypothese der Wegen ersehen Hypothese be-
trächtlich überlegen. Nach Wegener läßt sich
nicht erklären, daß die Kräfte der Gebirgsbildung
nur in gewissen geologischen Perioden wirksam
waren. Denn nach ihm sind es beständig
wirkende Kräfte, welche die Erdteile ver-
schieben, und diese Kräfte vergrößern sich
nicht, wenn sie sich noch nicht in erkennbarer
Weise zu äußern vermögen. Sie summieren sich
nicht wie die Druckspannungen bei fortschreitender
Abkühlung, sondern behalten stets einen kon-
stanten Wert.') Wenn die Erde nach Wegener
ursprünglich möglicherweise kälter war als jetzt,
so fallt es ihm außerdem schwer, für die erste
Entstehung der Kontinentalschollen eine Erklärung
anzugeben, während die Beantwortung dieser
Frage der Kontraktionshypothese keine großen
Schwierigkeiten macht. Er begnügt sich mit
der Behauptung, daß die ursprünglich die ganze
Erde in gleichmäßig dicker Schicht umgebenden
Sialmassen sich zusammengeschoben hätten, bleibt
aber die physikalische Interpretation dieses Vor-
gangs schuldig (a. a. O. S. 58). Die Schilderung
des Faltungsvorganges, die Wegener geliefert
hat (a. a. O. S. 31 — 33), ist einleuchtend und
schön. Sie läßt sich ohne weiteres auf die Kon-
traktionshypothese übertragen, und wir brauchen
') Die Angabe W. Köppens („Ursachen und Wirkungen
der Kontinentenverschiebungen und Polwanderungen", Pet.
Milt. 1921, Juli- Augustheft), daß die die Polflucht bewirkenden
Kräfte mit der Zeit zu beliebig großen Werten anwachsen, ist
unrichtig. Sie sind von der Zeit ganz unabhängig, ebenso
wie z. B. der Gewichtsdruck eines auf einer Tischplatte ruhen-
den Gegenstandes, der sich gleich bleibt, einerlei ob der
Körper eine Minute oder ein Jahrhundert auf der Platte liegt.
Im Gegensatze hierzu nimmt die Druckspannung in der Erd-
rinde mit der Zeit zu, da die Wärmeausstrahlung und die
durch sie bewirkte Volumverminderung ununterbrochen fort-
dauern.
sie weder zu verbessern noch zu ergänzen. Ja
sie wird eigentlich erst ganz verständlich, wenn
man immer die gewaltigen Druckkräfte, welche
die Zusammenziehung der Erde auslöst, vor
Augen hat, während man bei Zugrundelegung
der Wegener sehen Annahmen fast bei jeder
Zeile die Inkongruenz zwischen den vorausgesetzten
geringfügigen Ursachen und den gewaltigen
Wirkungen fühlt.
Daß es wirklich die Volumverminderung des
Erdinnern war, was z. B. die großen tertiären
Faltengebirge schuf, geht aus der Tatsache her-
vor, daß zwei Hauptfaltungen in ungefähr auf-
einander senkrechten Richtungen, die eine in
nordsüdlicher (Kordilleren), die andere in west-
östlicher Richtung (Alpen, Kaukasus, Himalaya)
erfolgte. Denn die entstehende Spannung war
eine allseitige und natürlicherweise bestrebt, in
zwei aufeinander senkrechten Richtungen einen
Ausgleich zu suchen. Bei der Verschiebung
blieben auch die übrigen Gebiete der Kontinen-
taltafeln von dem großen seitlichen Druck nicht
ganz unbeeinflußt. Stellenweise trat eine Stauchung
und Aufwölbung der Schollen ein. Daß auch
noch gegenwärtig ein Spannungszustand in der
Erdkruste vorliegt, zeigen die Erdbeben und die
Hebungen und Senkungen gewisser Küstengebiete.
Wir glauben durch unsere Ausführungen ge-
zeigt zu haben, daß die Kontraktionshypothese,
weit entfernt davon, sich als unzulänglich zu er-
weisen, im Gegenteil die einzige Möglichkeit
bietet, die Züge im Antlitz der Erde verständlich
zu machen. Die Kontraktion ist nicht, wie
Wegener will, ein bedeutungsloser Faktor, oder,
wie andere Geologen annehmen, nur eine mit-
wirkende, sekundäre, sondern die ausschlaggebende,
primäre Ursache bei der tektonischen Umgestaltung
der Erdoberfläche. Zwar wirken viele Faktoren
zusammen, um die Einzelheiten eines Faltungs-
vorganges zu bestimmen. Aber die Kraft, welche
die Großschollen der Erdrinde in einen Spannungs-
zustand versetzt, sie gegeneinander preßt und die
weniger widerstandsfähigen Massen ihrer Rand-
zonen verschiebt , auftürmt und faltet , ist der
tangentiale Druck, der in der starren Rinde zu
immer größeren Werten anwächst, wenn die
Massen des Erdinnern durch Wärmeverlust, Än-
derung ihres Aggregatzustandes oder Entgasung
ihr Volumen verkleinern. Zuzugeben ist , daß
diese Massendislokationen in der Erdrinde Stö-
rungen des Schweregleichgewichts hervorrufen
und dadurch zu neuen, einem Ausgleich zu-
strebenden, sekundären Massenverschiebungen An-
laß geben; doch können sich Umfang und Aus-
maß derselben im allgemeinen mit den unmittel-
bar durch die Kontraktion bewirkten nicht
78
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
[Nachdruck verboten.^
Der Darmkanal des Maikäfers.
(Aus dem Zoolog. Institut der Technischen Hochschule in Stuttgart.)
Von Christian Schweizer.
Mit 4 Textabbildungen.
In der Ordnung der Käfer kommen sehr
mannigfaltige Ernährungsweisen vor, und dement-
sprechend ist auch der Darmkanal verschieden-
artig ausgebildet. Man könnte soweit gehen, jeder
Art von Nahrung einen bestimmten Darmkanal
zuzuschreiben, der sich schon bei äußerlicher Be-
trachtung von einem Darmtraktus mit anderer
Nahrung deutlich unterscheidet. Eine solche Be-
trachtung hat Gorka (1901) angestellt, indem
er für die Käfer sechs Ernährungstypen und dem-
entsprechend sechs
Darmtypen aufstellte.
Diese Betrachtung muß
aber mit Vorsicht an-
gewandt werden.
Selbstverständlich ist
jeder Darmkanal seiner
Nahrung angepaßt,
allein die Art und
Weise dieser Anpas-
sung ist sehr ver-
schieden , und sie
kann eine versteckte
bleiben , d. h. äußer-
lich nicht zu erkennen
sein. In einigen Fa-
milien gibt es Käfer
mit verschiedener Nah-
rung, und sie weisen
doch einen ähnlich
gebauten Darmkanal
auf, so daß man aus
der Betrachung dessel-
ben nicht auf die Art
der Nahrung schließen
kann ; dasselbe gilt
vergleichsweise auch
für die Orthopteren,
welche teils Pflanzen-
fresser (z. B. Locusta),
teils Fleischfresser (z. B.
Mantis), teils Alles-
fresser (z. B. Blatta)
sind, und doch im
Darmkanal eine weit-
gehende Übereinstimmung zeigen.
Die Käfer sind mit den Orthopteren ver-
wandt und waren im Darmkanal ursprünglich
ihnen ähnlich, aber manche Käfer haben sich weit
von dieser Grundform entfernt.
Bekanntlich teilt man den Darmkanal der
Käfer in 3 Abschnitte ein: Vorder-, Mittel- und
Enddarm. Interessant ist zunächst das Verhalten
des Vorderdarms, welcher verschiedene Stufen
der Rückbildung oder Vereinfachung zeigt. Aus-
gangspunkt ist ein hochentwickelter, in Schlund
(Ösophagus), Kropf und Kaumagen gesonderter
Abb. I. Darmkanal des Gold-
laufkäfers, Carabus auratus
(nach Du f cur).
k Kopf mit den Oberkiefern
und den Fühlern , oe Schlund,
in Kropf, pv Kaumagen,
cd Mitteldarm , vm Vasa Mal-
pighii, ed Dünndarm, r Mast-
darm, ad Analdrüsen mit Sekret-
blasen (ab).
Vorderdarm, der sich an denjenigen der Orthopteren
anlehnt (Abb. i). Er kommt vor bei den Ade-
phagen (Raubkäfern) und Rhynchophoren (Rüssel-
und Borkenkäfern). Manche Käfer haben einen
einfachen, nicht gegliederten Vorderdarm, wie
z. B. der Maikäfer (s. Abb. 2). Der Endpunkt der
Reduktionsreihe ist ein vollständig „geschwundener"
Vorderdarm (bei Histeriden, Stutzkäfern).
Abb. 2. Darmkanal des Maikäfers,
vd Vorderdarm, md Mitteldarm, vm Stelle der Einmündung
der Vasa Malpighii, dd Dünndarm, dk Dickdarm, ms Mastdarm.
3 Ebene des Schnittes Abb. 3; 4 Ebene des Schnittes Abb. 4.
Der Mitteldarm der Käfer ist ebenfalls
sehr mannigfaltig gestaltet. Im wesentlichen
kommen folgende Formen vor. Erstens ein kurzer,
großenteils mit Blindschläuchen besetzter Mittel-
darm, wie bei den Raubkäfern (Abb. i), Wasser-
käfern und Aaskäfern, zweitens ein breiter, nicht
langer Mitteldarm (z. B. bei Meloe), ohne Aus-
stülpungen, drittens ein längerer Mitteldarm, etwa
zweimal so lang als das Abdomen, vorne breit,
hinten schmal, wie z. B. bei einzelnen Rüsselkäfern,
viertens ein schmaler und langer Mitteldarm wie
beim Maikäfer (Abb. 2).
N. F. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
79
Der End darm schließHch kann in verschiedener
Weise bei den Käfern ausgebildet sein. Er be-
steht meistens aus Dünndarm und Mastdarm (Abb. i).
Aber bei den Scarabaeiden in der Unterfamilie
der Melolonthinen kommt auch der Dickdarm
vor, ein Organ, das in der Insektenklasse nur eine
beschränkte Verbreitung besitzt. Bei der ver-
wandten Unterfamilie der Coprophaginen (Geo-
trupes) ist dieser Darmabschnitt nicht ausgebildet,
ebenso bei allen übrigen Käfern. Die Entstehung
dieses Organs kann als eine Neubildung innerhalb
der Familie der Scarabaeiden aufgefaßt werden.
Es wäre allerdings auch möglich, den Dickdarm
dieser Gruppe von dem der Orthopteren (etwa
von Periplaneta) abzuleiten, so daß er bei den
Coprophaginen als reduziert anzusehen wäre.
Nach dieser Übersicht über die Käfer komme
ich nun zu dem Darmkanal des Maikäfers.
Der Vorderdarm kann als vereinfacht und reduziert
angesehen werden. Er ist sehr kurz und endet
schon im Anfang des ersten Brustsegmentes
(s. Abb. 2). Er hat eine birnförmige Gestalt und
ist bei seinem Übergang in den Mitteldarm ver-
engt, weshalb man von einer „abgesetzten Speise-
röhre" spricht.
Der auf den Vorderdarm folgende Mitteldarm
ist sehr lang, worin man eine Anpassung an die
Blätternahrung sehen darf. Er geht durch die
Brust und einen Teil des Hinterleibs, wendet sich
oralwärts und zieht in einem großen nach hinten
gerichteten Bogen von der einen Seite zur anderen,
verläuft dann direkt unter der Rückendecke quer
über das Abdomen und bildet, ventralwärts ab-
steigend, einen zweiten nach hinten gerichteten
Bogen. Nun folgt eine Schleife, dann geht der
Mitteldarm wieder analwärts bis zum Beginn des
Enddarms (Abb. 2 bei vm). Der Mitteldarm
ist fast durchweg gleich eng, mit Ausnahme seines
ersten Teils, der etwas breiter ist, eine Erscheinung,
die bei anderen Käfern (z. B. Lamia und Curculio)
deutlicher entwickelt ist. Die sonstigen breiteren
Stellen sind durch gestaute Nahrungsmassen ver-
ursacht. Eine ziemliche Strecke weit besitzt der
Mitteldarm schmale Querwülste, die nach hinten
hin allmählich immer undeutlicher werden (Abb. 2).
Der dritte und letzte Abschnitt, der Enddarm,
beginnt nach Einmündung der vier Malpighischen
Gefäße (Vasa Malpighii) und zerfällt in Dünndarm,
Dickdarm und Mastdarm. Der kurze Dünndarm
geht ohne scharfe Grenze in den Dickdarm über,
der quer durch das Abdomen zieht. Der dünnere
Mastdarm beschreibt einen großen nach vorne
gerichteten Bogen und ist gegen das Ende keulen-
förmig verdickt (Abb. 2). Er erscheint durch die
Ringmuskeln geringelt. An dem keulenförmigen
Teile erkennt man, daß der einheitliche Ring-
muskelmantel auf dem Querschnitt aus sechs Ab-
schnitten besteht (vgl. Abb. 4). — Auf den keulen-
förmigen Teil des Mastdarms folgt noch ein kurzer
schmälerer Endabschnitt (Abb. 2).
Die Topographie des Darmkanals habe ich
bei verschiedenen untersuchten Exemplaren im
Prinzip konstant für beide Geschlechter gefunden.
Beim Männchen bewirkt der mächtige Penis eine
Verschiebung der Darmschlingen nach rechts. —
Auch der Verlauf des Darmkanals beim Junikäfer
und beim Roßkäfer läßt sich auf den des Mai-
käfers zurückführen, so daß in dieser Familie die
Topographie des Darmkanals ein charakteristisches
Merkmal ist.
Ich muß nun noch auf die histologische
Beschaffenheit des Maikäferdarms eingehen.
Bei dem Vorderdarm sind die einzelligen
Speicheldrüsen beachtenswert. Sirodot(i858) hat
dieselben bereits genau beschrieben. Es sind dies
langgezogene Zellen, die außerhalb des eigent-
lichen Epithels liegen; ein schlauchförmiger Gang
verbindet den sezernierenden Teil der Zelle mit dem
Ösophaguslumen. Mingazzini hat gezeigt, daß die
Speicheldrüsenzellen genetisch zum Ösophagus-
epithel gehören. — Sonst ist der Vorderdarm sehr
einfach gebaut. Er zeigt von außen nach innen
Längs- und Ringmuskulatur, Basalmembran, undeut-
liches Epithel, welches schwache, unregelmäßige
Längsfalten aufweist und eine Chitinintima. Der
Vorderdarm ist in den Anfang des Mitteldarms
eingesenkt. Das Lumen wird hierbei sehr eng und
kann sowohl durch eine Ring- als auch durch die
starke Längsmuskulatur geschlossen werden. Das
plötzliche Anschwellen der Längsmuskulatur an
dem eingesenkten Vorderdarm habe ich auch bei
Geotrupes gefunden. Ein Verschluß des Vorder-
darms gegen den Mitteldarm kommt dort aus-
schließlich durch Kontraktion der Längsmuskeln
zustande. Solches Verhalten der Muskulatur darf
als eine Besonderheit der Lamellicornier gelten.
Ebenfalls einfach ist der Mitteldarm des Mai-
käfers gebaut. Seine Histologie ist an allen
Stellen die gleiche; es gibt von außen nach innen
eine schwache Muskulatur (Längs- und Ringmus-
kulatur), eine Basalmembran und ein Epithel, welches
im ruhenden Zustand einen Stäbchensaum besitzt,
dessen Bedeutung nicht ganz geklärt ist. — Bei
genauerem Zusehen bemerkt man an der Basis
des Epithels kleine Ausstülpungen. Sie stehen
mit dem übrigen Epithel in Verbindung, buchten
die Basalmembran etwas aus, treten aber nicht
durch den Muskelmantel hindurch. Diese Blind-
schläuche enthalten in ihrem Fundus diesogenannten
Regenerationszellen, d. h. Zellen, die ihren em-
bryonalen Charakter bewahrt haben und damit
die Fähigkeit der mitotischen Teilung. Die hier
entstehenden Zellen differenzieren sich zu Epithel-
zellen und treten an Stelle von funktionierenden
Epithelzellen, welche durch ihre sezernierende
Tätigkeit dem Untergang verfallen. Diese Re-
generationsherde kommen bei allen Käfern vor
und liegen bei den Raubkäfern (z. B. Carabus)
in den Enden der zahlreichen Blindschläuche,
welche durch die Muskelschichten nach außen
treten und dem ersten Teil des Mitteldarms ein
bürstenartiges Aussehen geben (Abb. i).
Der letzte Abschnitt des Darmkanals, der End-
darm, ist beim Maikäfer ziemlich hoch entwickelt
8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
und deutlich in Dünndarm, Dickdarm und Mast-
darm gegliedert. Am Übergang des Mitteldarms
in den Enddarm erblickt man auf Schnitten zwei
zum Enddarm gehörende Lappen, welche in den
Dünndarm hineinragen. Ihr Epithel unterscheidet
sich nicht wesentlich von dem des darauffolgenden
Abschnittes. Wir haben es hier wieder mit einer
Besonderheit zu tun, denn bei vielen Käfern ist
der Übergang des Mitteldarms in den Enddarm
durch den sogenannten „hinteren Imaginalring" ge-
bildet. Das Epithel dieses Ringes ist hoch, deut-
lich von dem übrigen EpitheJ unterscheidbar und
meist in vier Lappen aufgespalten (z. B. Geotrupes),
in sechs (z. B. bei Carabus) oder in ein Multiplum
von sechs (z. B. Dytiscus). Die Zellen des Imaginal-
ringes müssen in der Metamorphose die nötigen
Elemente zur Vergrößerung des Enddarms liefern,
sie sind also auch embryonale Zellen. Der Imaginal-
ring erhält sich bis ins Imago- Leben, trotzdem er
eigentlich keine Bedeutung mehr besitzt, während
als Verschlußapparat meist der darauf folgende
„Pylorus" gilt, ein durch starke Muskulatur aus-
gezeichnetes Organ, das beim Maikäfer auch vor-
handen, aber vom Dünndarm nicht deutlich zu
unterscheiden ist.
Abb. 3. Querschnitt durch den Dickdarm des Maikäfers,
i Chitinschicht (Intima), ep Epithel, Im Längsmuskeln, rm Ring-
muskeln.
Der Dünndarm ist allgemein bei den Lamelli-
corniern sehr kurz. Das Längenverhältnis des
Dünndarms zum übrigen Enddarm ist hier ein
gerade umgekehrtes wie bei den meisten anderen
Käfern. Beim Maikäfer bildet das Epithel des
Dünndarms zahlreiche unregelmäßige Falten. Dies
ist insofern ein abweichendes Verhalten, als der
Dünndarm bei anderen Käfern im allgemeinen
sechs deutliche Längsfalten besitzt.
fün Teil des Enddarms hat sich beim Mai-
käfer in den Dickdarm umgewandelt, ein ziemlich
voluminöses Organ, dessen Epithel eine große
Anzahl mächtiger Falten aufweist (Abb. 3). Das
Epithel dieser Zotten trägt eine dicke, fein senk-
recht gestreifte Chitinschicht (Intima, i), während
das übrige Epithel nur eine schwache ungestreifte
Chitinschicht hat. Die Muskulatur ist sehr schwach.
Wahrscheinlich ist dieses Organ absorbierend tätig;
ein stenger Nachweis fehlt jedoch, da Steudel
verfütterte Präparate nur in der Chitinschicht, nicht
aber in den Zellen selbst hat nachweisen können.
An den Dickdarm schließt sich der Mastdarm
(das Rektum) an. Er ist ziemlich lang und schwillt
keulenförmig an, wobei seine Ringmuskulatur
sukzessive stärker wird. Die Ringmuskelbündel
ziehen im vorderen und längsten Teil glatt über
die Falten weg; weiterhin macht sich aber die
Abb. 4. Querschnitt durch den Mastdarm des Maikäfers,
i Chitinscbicht (Intima), e Epithel, rm Ringmuskeln.
Tendenz geltend, den Muskelmantel in sechs Ab-
schnitte zerfallen zu lassen (Abb. 4). Der erste
Teil des Mastdarms besitzt im Innern zahlreiche
Längsfalten; diese ordnen sich weiterhin in sechs
Gruppen an; so entstehen sechs große Längsfalten,
welche spitze Winkel miteinander einschließen
(Abb. 4). Deutlich sieht man das eine dünne
Chitinschicht tragende Epithel.
Überall wo mächtige Falten des Epithels sich
entwickeln, zeigt sich die Neigung, den Ring-
muskelmantel in so viel Teilstücke zu zerlegen
als Falten vorhanden sind, natürlich nur dann,
wenn in den Falten keine anderen Muskelelemente
(Längsmuskeln) vorhanden sind. Es wird dadurch
eine größere Wirksamkeit der Muskeln herbei-
geführt und der leere Raum in den F"alten aus-
genutzt.
Die Ausgestaltung und Größe des Mastdarms
beim Maikäfer ist wiederum eine Besonderheit
der Melolonthinen, da dieses Organ in der Ordnung
der Käfer meist keine eigenartige Ausbildung in
histologischer Hinsicht zeigt und oft sehr unschein-
bar ist.
Zum Schluß möchte ich noch die vier Vasa
Malpighii erwähnen, welche am Übergang des
N. F. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
Mitteldarms zum Enddarm einmünden (Abb. 2
bei vm). Zwei derselben sind einfache Schläuche,
die zwei anderen verzweigt, d. h. mit zahlreichen
Seitennästchen versehen '). Die Malpighischen
Gefäße liegen dem Mitteldarm dicht an, alle seine
Windungen mitmachend und gelangen bis zum
Vorderdarm; desgleichen umschließen sie den
Enddarm. Sie erscheinen als ein Gewirre von
Fäden, welches leicht in die Augen fällt, wenn
man den Hinterleib des Käfers aufgeschnitten hat
M Auf der die Anatomie des Maikäfers betreffenden
Wandtafel von Leuckart und Nitsche (Nr. 84), welche
von Prof Eckstein gezeichnet wurde, ist die Histologie der
Vasa Malpighii nach Leydig abgebildet.
und in der üblichen Weise in der Präparierschale
unter Wasser betrachtet.
Literatur.
G o r k a : Beiträge zur Morphologie des Verdauungsappa-
rates der Coleopteren. Allgemeine Zeitschrift für Entomologie
Bd. 6, 1901, S. 339.
Jordan: Vergleichende Physiologie Wirbelloser. Jena
19 13, S. 623.
Mingazzini: Ricerche sul canale digerente dei La-
mellicorni. Mitteilungen der Zoologischen Station zu Neapel
Bd. 9, 18S9.
Sirodot: Recherches sur les secretions chez les insectes.
Annales des Sciences naturelles. Zoologie Vol. 10, 1858,
S. 151 u. 251.
Weitere Literatur ist erwähnt in dem Handbuch der
Entomologie von Schröder (Abschnitt „Darmkanal"). 2. Liefe-
rung, Jena 1913.
Die Kniturpflanzen und Unkräuter der Wikinger.
[Nachdruck verboten.]
Bis vor kurzem waren wir für die Kenntnis
der Kulturpflanzen des germanischen Altertums
ganz auf literarische und linguistische Quellen an-
gewiesen. Diesbezügliche Daten haben für Nor-
wegen Schübeier, 01afsen,Növik, Schnit-
1er, Skappel, Hasund, Bugge, Johnsen
u. a. und für das gesamte germanische Altertum
vor allem Hoops*) zusammengestellt. Da wurde
1903 beim Hof Oseberg im norwegischen Amt
Vestfold (an der IMündung des Kristianiafjords) in
einem Grabhügel aus Torf ein wohlerhaltenes
Wikingerschiff aus der Mitte des 9. Jahrhunderts
entdeckt und im folgenden Jahre sorgfältig aus-
gegraben und wieder zusammengesetzt. Die zahl-
reichen , kulturgeschichtlich hochbedeutsamen
Funde, die in die jüngere Eisenzeit gehören, wer-
den in einem in Kristiania erscheinenden Pracht-
werk „Osebergfundet" beschrieben. Soeben ist
der die Nutzpflanzen und Unkräuter behandelnde
Teil von Prof Jens Holmboe in Bergen er-
schienen. -) Da diese Bearbeitung weit über
Skandinavien hinaus großes Interesse verdient,
sei der Inhalt hier kurz skizziert.
Auf dem prächtig geschnitzten Schiff ist eine
Wikingerkönigin mit ihrer Magd, ihren Pferden,
Ochsen und Hunden und zahlreichen Geräten zur
letzten Ruhe gebettet worden. Höchstwahrschein-
lich war es Aasa, die Gemahlin Halvdan Svartes
und Großmutter König Harald Haarfagres, der
zum erstenmal ganz Norwegen zu einem Reich
vereinigte. Sowohl die Beisetzung der Königin
wie die Geburt ihres Enkels erfolgten zwischen
840 und 850 n. Chr. — Kurz zuvor soll dessen
Mutter folgenden Traum gehabt haben: Sie stand
in ihrem „Grasgarten" und zog einen Dorn aus
') Joh. Hoops, VValdbäume und Kulturpflanzen im
germanischen Altertum. Straflburg 1905.
^) Jens Holmboe, Nytteplanter og ugraes i Oseberg-
fundet. Osebergfundet Bd. V, Kristiania 1921. — Vgl. auch
die vorläufige Mitteilung desselben Verf.s im Nyt Magazin for
Naturvidenskaberne Bd. 44, 1906.
Referat von Dr. H. Garns.
dem Gewand. Dieser erwuchs zu einem mächti-
gen Baum, und seine Äste breiteten sich über
ganz Norwegen und darüber hinaus. — Aus die-
sem königlichen Garten, der wohl bei Borre
2 Stunden von Oseberg lag, dürften also die
meisten der auf dem Schiff gefundenen Pflanzen-
reste stammen. Diese lassen sich auf 5 Gruppen
verteilen :
1. Von im Lande selbst nicht gebauten Pflan-
zen stammende, von auswärts eingeführte Pro-
dukte. Hierher wahrscheinlich nur die Walnuß
(liiglcms regia), von der eine halbe Schale in der
Grabkammer gefunden worden ist. Im Neolithi-
kum wurde der Nußbaum im Mittelmeergebiet
und von Südfrankreich bis in die Schweiz kulti-
viert, seit der Bronzezeit auch im übrigen West-
und Mitteleuropa. Die Hof- und Klostergarten-
inventare des 9. Jahrhunderts nennen ihn iiiicarios,
die ältesten angelsächsischen Glossare hnutbcam.
Nach Skandinavien gelangte der Baum selbst wohl
erst im späteren Mittelalter, doch wurden die
Nüsse schon früher aus Westeuropa (daher valhiwt,
Walnuß = welsche Nuß) geholt, so im 11. und
12. Jahrhundert von den Königen Harald Haar-
drade und Sigurd Jorsalfar aus Miklagard. Der
1 1 39 gestorbene Sigurd Slembedegn soll ein
Feuerzeug in einer Nußschale besessen haben.
Erst aus dem 16. Jahrhundert werden aus Nor-
wegen auch grüne Nußschalen in Hexenurkunden
genannt.
2. Von auswärts eingeführte, aber im Land
selbst gebaute Getreide , Küchen- , Faser- und
P'ärbepflanzen. Von Getreidekörnern enthielten
Kisten der Oseberggrabkammer Hafer {Avena
sativd) und Weizen {Triticum vulgare). Noch
Theophrast nennt den Hafer als halbwilde Kultur-
pflanze, von größerem Haferbau berichten erst
Galen und Plinius. Aus der Bronzezeit liegen
Haferfunde außer aus Savoyen und der Schweiz
auch aus Dänemark und Schweden vor. Hafer-
abdrücke auf vorgeschichtlichen Töpfen aus
82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
Schweden und Norwegen haben Sarauw und
Holmboe wiederholt nachgewiesen, einzelne
schon aus der Eisenzeit. Wie das lateinische
avcna vielleicht mit ovis, so hängt das altnordische
hafri mit hafr = Bock zusammen. Beides scheint
auf die Verwendung als Viehfutter zu deuten.
Wohl schon zur Wikingerzeit ist der nordische
Name auch ins Englische und Finnische {kakra,
kaurd) übergegangen. Daneben findet sich in
der Edda auch korkt, wohl ein keltisches Lehn-
wort. Nächst der Gerste war der Hafer wohl das
wichtigste Getreide der Wikinger. In dem um
goo entstandenen Harbardslied nennt ihn Tor mit
dem Häring zusammen. Ob schon die in alt-
nordischen Gräbern nicht seltenen Bratpfannen
aus Schmiedeeisen zur Herstellung von „Flabröd"
aus Hafer gedient haben, mag dahingestellt blei-
ben. Von alten Ortsnamen leiten sich Hartveit
in Norwegen wie Haverthwaite in Cumberland
vom Hafer ab. Gegen 1300 heißt er in Nor-
wegen und Schweden auch licstakoru (Pferdekorn),
welchen Namen der 1302 bei Bergen hingerichtete
Edelmann Audun Hugleiksson bekommen haben
soll, da er als erster Getreide an Pferde verfüttert
haben soll. Doch haben solches schon früher die
Pferde Olafs des Heiligen und des Bischofs be-
kommen. • — Der gefundene Weizen gehört sicher
zu Triticitm vulgare, da die Spelzen fehlen. Die
Körner sind im Verhältnis zu anderen vorge-
schichtlichen Funden groß. Aus dem mittel-
europäischen Neolithikum sind sowohl Nackt-
weizen {T. vulgare und cotnpachi.ni) wie auch
Spelzweizen [T. monococciim und dicoccuni)
bekannt, aus Oberitalien auch T. iurgidum. Auf
neolithischen Töpfen aus Dänemark fand Sarauw
Abdrücke von vulgare, dicoccuin und nionococcum.
Letztere beide sind in Nordeuropa aus späterer
Zeit nicht bekannt. T. vulgare stellte er auch
für das schwedische Neolithikum, T. compactnni
für die dänische Bronzezeit fest. Holmboe
fand Abdrücke von vulgare an Töpfen aus Nor-
wegen, die wesentlich älter als das Osebergschiff
sind, die Annahme Körn ick es, daß der Weizen
erst im 12. Jahrhundert nach Norwegen gekom-
men sei, ist also unhaltbar. Noch heute wird um
Oseberg reichlich Weizen gebaut. Zur Zeit Haar-
fagres wurde nach der Egilssaga Weizen aus
England importiert, damals war auch bereits
dünnes Weizenbrot bekannt. Neben hveiti findet
sich seit dem 12. Jahrhundert auch Jiainalkynii,
das ursprünglich wohl Weizen und Roggen be-
zeichnete, wogegen im Deutschen, Dänischen und
Englischen Amelkorn vor allem für Emmer {T.
dicoccuin) gebraucht wurde. Jetzt bedeutet es in
den norwegischen Dialekten {hunivulkoii, Iiaiiilc-
konii, Iiunivielkyriie) zumeist Mengfrucht aus Hafer
und Gerste. — Das Hauptgetreide der Wikinger
war wohl die Sommergerste (Hordeum
disficliitni). Das altnordische barlak findet sich
im englischen barlcy wieder. Im Hallingdal ist
daraus harlindbygg geworden , das natürlich mit
der Eibe (norw. barlitid) nichts zu tun hat. Zur
Wikingerzeit ist sicher Getreide auch aus England
eingeführt worden, worauf u. a. die Namen val-
^ySS (welsche Gerste) und valrugr (welscher
Roggen) deuten. Damals scheint der Ackerbau
überhaupt große Ausbreitung und manche Ver-
besserung und Bereicherung erfahren zu haben.
— Vom Roggen (Secalc cereale) soll eine später
verloren gegangene Mehlprobe des Osebergschiffs
stammen ; mit Sicherheit ist er in Norwegen erst
aus dem christlichen Mittelalter, in Schweden
schon aus dem 3. — 4. Jahrh. n. Chr., in Dänemark
aus der späteren Eisenzeit bekannt.
Eine bei einem der Pferdeskelette gefundene
runde Holzschachtel enthielt reichlich Schötchen-
reste und Samen der Gartenkresse {Lepidium
sativum f. typicmn Thell.). Vorgeschichtliche
Kressenfunde waren bisher nur aus Ägypten be-
kannt. *) In England wurde sie schon in angel-
sächsischer Zeit gebaut; in Deutschland nennen
sie zuerst die heilige Hildegard und Albertus
Magnus, in Dänemark, gleichfalls als Heilmittel,
der Kräuterbuchverfasser Henrik Harpestreng (geb.
1164, gest. 1244). Auch für Schweden wird sie
schon in älteren Kräuterbüchern, für Norwegen
erst aus dem 17. Jahrhundert angeführt. Der
Osebergfund lehrt, daß sie auch daselbst zu den
ältesten Bestandteilen des Küchengartens zählte.
— Andere Gewürz- und Gemüsepflanzen der
Wikinger waren Lauch {Allium - Arten, wohl
zuerst sativum , dann scJiocnoprasum und cepa ;
ersteres ist wohl der gcirlaukr der alten Texte,
letzteres unioen bei Harpestreng; die Deu-
tung von hjalmlaukr, itrlaukr und nattlaukr
ist ungewiß), Engelwurz {Angelica Archange-
lica, altnordisch Jivoiin , jetzt kvaini) und Rüben
(Brassica N^apus, altnord. naepa, angelsächs. nacp).
Lauch und Lein werden schon in der Runen-
inschrift eines Fleischmessers von Alversund bei
Bergen genannt, das aus dem 4. Jahrh. stammt
und wohl zu rituellen Zwecken in einem altnor-
dischen Phalluskult diente. Engelwurz schenkte
bereits im Jahre 1000 König Olav Tryggvason
zu Nidaros (Drontheim) seiner Gemahlin, die frei-
lich so gemeine Speise verschmähte. — Auch
Kohl, Erbsen, Bohnen {Vicia Faba) und
Hopfen waren schon in der Sagazeit bekannt,
und Gesetze aus dem 13. Jahrhundert sprechen
von Bohnen-, Erbsen- und Rübenbeeten (batmareitr,
ertrareitr, naepnareitr). — Vielleicht baute man
auch den Leindotter {Camelina safiva), denn
mehrere mit dotJira zusammengesetzte Ortsnamen
müssen älter als die Wikingerzeit sein. Cameliiui
ist aus dem Neolithikum für Ungarn (Aggtelek),
aus der La Tene-Zeit für Schlesien und aus dem
3. — 4. Jahrhundert für Gothland nachgewiesen.
Nach Dioskurides wurde Dotteröl zu Fackeln ge-
braucht, in Osteuropa ist es noch allgemein be-
kannt und in den Kriegsjahren auch in Deutsch-
') Samen einer nicht weiter bestimmten Kressenart hat
Neu weil er vor kurzem in den Pfahlbauten des Zürichsees
gefunden. Anm. d. Referenten.
N. F. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
83
land wieder empfohlen worden. Gunnerus nennt
die Pflanze daadre und liindotter ; heute ist sie
in Norwegen nur noch ein seltenes Unkraut.
Von Gespinnst- und Färbepflanzen hat das
Osebergschiff einzelne Samen von Flachs {Liimm
usitatissimton) und Hanf {Cannabis sativa) und
eine ganze Schachtel voll Schötchenresten vom
Waid (Isaf IS tindorid) aufbewahrt. Die Bestim-
mung der meisten alten Leinreste ist immer noch
umstritten. L. usitafissiinuni ist sicher im alten
Mesopotamien. Ägypten und Italien gebaut wor-
den. Der Pfahlbautenlein wird bald als L. aii-
i;iisti/oliuiii , das sicher die Stammpflanze von
L. usitalissimum ist, bald als L. aiistriaciiin ge-
deutet. (Nach Gentner ist er sicher der zwei-
jährige Wintetflachs, der noch jetzt in einigen
Tälern der Zentral- und Ostalpen gebaut wird.
Ref.) Aus Deutschland stammen die ältesten
Leinfunde aus der älteren Eisenzeit, aus Däne-
mark aus der jüngeren Bronzezeit, aus Schweden
aus der Eisenzeit. Aus Westnorwegen wird liiui
neben laukar (Lauch s. oben) bereits in einer
Runeninschrift aus dem 4. Jahrh. genannt. Alte
Leinhecheln und Spinnräder sind oft gefunden
worden, Leintuch z. B. in einem Grab aus dem
10. Jahrh. Mehrere aus liii- und -vin zusammen-
gesetzte Ortsnamen müssen spätestens aus der
Wikingerzeit stammen, der nördlichste liegt im
Troms-Amt (später soll Flachs sogar bis Skjervö
gebaut worden sein). Neben altnordisch lüi
kommt auch horr vor. In einem leinenen Frauen-
gewand soll Tor seine Fahrt zu den Riesen an-
getreten haben. Noch im 19. Jahrh. war der
Flachsbau bis Drontheim von Bedeutung; 1907
war er auf 8 Ämter beschränkt (am meisten noch
in Opland und Hedmark). Interessanterweise
treten Flachs und Kresse heute oft zusammen
ruderal oder in Äckern auf, wie sie schon auf
dem Osebergschifif beisammen lagen. ■ — Die Hanf-
kultur reicht in Indien bis ins 8. und 9., in China
bis ins 5. Jahrh. v. Chr. zurück, war dagegen im
alten Ägypten, Palästina und Griechenland an-
scheinend unbekannt. Die Skythen bereiteten
nach Herodot aus Hanf Gewebe und Narkotika
(Haschisch 1), und von ihnen ist er wohl zu den
Germanen und Galliern gelangt. Während die
Römer Hanf erst seit dem 2. Jahrh. bauten, ließ
Hiero II. von Syrakus schon im 3. Jahrh. v. Chr.
Hanfseile aus dem Rhonetal kommen. Die Ger-
manen haben den Hanf schon vor der Abtrennung
der Angelsachsen, also wohl schon im 4. oder
5. Jahrh. v.Chr. aus Südosteuropa erhalten. Aus
Deutschland nennt ihn zuerst das Capitulare de
villis. Prähistorische Hanfsamen waren aus Mittel-
und Nordeuropa bisher nicht bekannt, hingegen
ist Segeltuch aus Hanf außer im Osebergschiff
auch in Wikingergräbern der norwegischen West-
küste gefunden worden. Für Hanfkultur mußte
im 12. und 13. Jahrh. in Norwegen und Schwe-
den Zehnten bezahlt werden. Hemden aus Hanf
oder Flachs waren für den Besuch am norwegi-
schen Königshof vorgeschrieben. Für die Gegend
von Oseberg ist Hanfbau fürs 16. Jahrh. nachge-
wiesen, im 18. reichte er bis Surendalen und
Bradsbierg, ging aber schon damals rasch zurück.
Schon im Mittelalter mußte Hanf aus England
und später von den Hansastädten in Preußen und
Livland eingeführt werden, und heute ist der
nordische Hanfbau trotz aller Bestrebungen zu
seiner Wiederbelebung ganz erloschen.
Von besonderem Interesse ist der Waid
[Isafis tindoria), von dem sich eine Menge zer-
fallener Schötchen fand. Die Pflanze ist sicher
nicht in ihrem ganzen heute von Madeira, Nord-
afrika und Indien bis Schweden und Finnland
reichenden Areal urwüchsig. Die ursprüngliche
Westgrenze dürfte kaum über Ungarn hinaus-
gehen. Ihren Gebrauch zum Blaufärben beschreibt
schon Demokrit. Die Römer nannten sie vitruvi
oder glastum^ wohl von keltisch glas = blau.
Die Britannier bemalten sich zu Cäsars Zeit damit
den Körper, daher hatten wohl auch die Picter
ihren Namen. Der schon im Gotischen und Alt-
hochdeutschen nachweisbare Name Waid ist in
verschiedenen Formen ins Spätlateinische, Italieni-
sche , Französische, Tschechische und Russische
übergegangen und ist wohl auch mit dem lateini-
schen und griechischen Namen stammverwandt,
so daß die Pflanze wohl schon vor der Abzweigung
der Hellenen und Italer von den übrigen Indo-
germanen bekannt gewesen sein wird. Sicher
bauten sie die Kelten. In Deutschland wird sie
zuerst aus dem 9. Jahrh. [uiiatsdu im Capitulare
de villis) genannt. Der ausgedehnte Waidbau in
Thüringen und im Languedoc geht mindestens
bis ins 10. Jahrh. zurück, von welchem an bis zur
Einführung des Indigo der Waid den wichtigsten
blauen Farbstoff in Mittel- und Nordeuropa lieferte.
Von Waidhändlern wurde die Universität Erfurt
1392 gestiftet, der dortige Waidbau erreichte
seinen Höhepunkt im 16. Jahrh. Von 1570 an
mußte er aber trotz behördlicher Maßnahmen
dem asiatischen und später dem synthetischen
Indigo weichen. Von den 1616 noch vorhandenen
300 „Waiddörfern" Thüringens waren 1629 nur
noch 30, 1750 noch 17 und 1850 nur noch 9
übrig. Bis gegen 1800 hielt sich der Waidbau
in England und Kärnten und bis heute stellen-
weise in Portugal, Italien und Rumänien. Ver-
gebens suchten Schreber 1752 und F". A.
V. Resch 181 2, ihn wieder emporzubringen. Im
Altertum (z. B. bei Dioskurides) und im Mittel-
alter (z. B. bei der heiligen Hildegard und Macer
floridus) war der Waid auch Heilpflanze. Des
letzteren Werk war die Hauptquelle für Henrik
Harpestreng. In mehreren seiner Handschriften
und selbst in isländischen Arzneibüchern ist von
dem Heilmittel vifrnin gegen Blasensteine die
Rede, wobei aber nicht immer sicher ist, ob die
betreffenden Verff. die Pflanze kannten. Verwil-
derter Waid wird aus der Umgebung eines däni-
schen Klosters 1688 angegeben, und 1761 galt er
bereits als in Dänemark einheimisch, ist aber seit-
her bis auf seltene adventive Vorkommnisse ver-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
schwunden. In Schweden wird der Waid zuerst
1623 als wild und bald darauf auch als Färber-
pflanze {färgvedc) genannt. L i n n e traf ihn am
Strand Von Öland (1741) und einigen Inseln bei
Gotland wie wild. In Schweden, besonders in
Vestergötland , wurde er damals und bis ins
19. Jahrhundert zusammen mit Wau {Reseda
luteola) viel gebaut. Der Waid lieferte die blaue
und der Wau die gelbe Farbe für die schwedi-
schen Uniformen und Fahnen. Jetzt ist der Waid-
bau auch dort verschwunden, die Pflanze hat sich
aber noch hier und da am Strand zu behaupten
vermocht. Aus Norwegen fehlten bisher sichere
Angaben aus älterer Zeit. Gefärbte und nament-
lich blaue Kleider waren schon zur Wikingerzeit
bei den Vornehmen in Gebrauch, nach der Svarf-
doela- und Finnboga-Saga auch auf Island. Dort
wurden blaue Tücher nachweisbar von außen be-
zogen. Als einheimische Farbpflanze kommen
nur Geraniinii silvaticiim , Vaccinium Alyrtillus
und Campaiuda rotundifolia in Betracht. Blaue
Wollfäden aus einem Grab aus dem 5. Jahrh. am
Nordfjord sind nach Hilda Christensen sicher
durch einen Indigofarbstoff, also wohl durch Waid
gefärbt. Ähnlich gefärbte Wolle fand sich in
einem Grab aus dem 10. Jahrh. in Mörkedal.
Erst aus viel späterer Zeit liegen Angaben über
Waidbau in Norwegen vor, er war dort nie von
ähnlicher Bedeutung wie in Schweden. Im
18. Jahrh. wurde z. B. Waid von Bischof Gunnerus
bei Drontheim gepflanzt, etwas später von Sommer-
feit in Toten. Von 1768 bis 1843 wurde der
Waidbau besonders von der Gesellschaft für Nor-
wegens Wohlfahrt wiederholt empfohlen. Reife
Samen wurden noch am Maalselv im nördlichen
Norwegen und in Hallingdal bis 470 m ü. M.
geerntet. Jetzt tritt die Pflanze nur noch selten
als Kulturrelikt oder ruderal auf, so noch in Saiten
und Lavanger im Amte Troms fern von jeder
Kultur, wohl aus verschwemmten Samen.
3. Sammelfrüchte einheimischer Arten. Von
solchen sind in größerer Zahl Haselnüsse
{Corylns avclland) und Holzäpfel {Malus sä-
vestris) auf dem Osebergschiff gefunden worden.
Wie in den Pfahlbauten fanden sich von der
Haselnuß sowohl f. süvestris wie f. oblonga. Die
Hasel wird in der Saga-Literatur oft genannt. —
Die gefundenen Holzäpfel , wovon 54 ganze,
stimmen mit heutigen norwegischen Wildäpfeln
überein. In Süd- Helgeland überschreitet der
Holzapfel heute den 66. Breitegrad. Auf dem
Osebergschiff fanden sich eine mehr fünfseitige,
zugespitzte Form und eine mehr kugelige, da-
gegen nicht der zuerst von Heer beschriebene
„größere Pfalilbauapfel", wohl die älteste Kultur-
sorte in Europa. 1908 wurde diese auch in dem
neolithischen Pfahlbau Alvastra in Vestergötland
gefunden. Die bronzezeitlichen Äpfel von Vam-
drup in Dänemark gleichen dagegen der runden
Form von Oseberg. Sicher haben die alten Ger-
manen einheimische Holzäpfel in Kultur genom-
men. Von dem altnordischen apaldr für den
Baum und epli für die Frucht leiten sich nicht
nur die germanischen, sondern auch slavische und
keltische Namen ab, vielleicht auch der Name der
italienischen Stadt Abella. Bekanntermaßen spielen
Äpfel auch in der nordischen Mythologie (z. B.
bei Idun und Fröi) eine Rolle, wogegen die „Äpfel
des Paradieses" nach Thorild Wulff auf eine
unrichtige Übersetzung zurückgehen. Abgesehen
von dem Alvastrafund kennt man sicher kultivierte
Äpfel in Skandinavien erst aus christlicher Zeit.
Wahrscheinlich wurde der Obstbau hauptsächlich
durch die Mönche gefördert. Von apaldr abge-
leitete Ortsnamen sind bis in die Gegend von
Drontheim (Abelvik) nachweisbar, und aus dem
Mittelalter werden öfter Apfelgärten erwähnt.
4. Unkräuter (altnordisch ülgye^i). Unter den
Getreide- und Kressenamen und zwischen Federn
in der Grabkammer wurden Samen und Frücht-
chen folgender Unkräuter festgestellt: Polygonum
cf. lapatlii/ülüim^ auch aus zahlreichen stein- und
bronzezeitlichen Funden in Mitteleuropa bekannt,
in Großbritannien seit dem Neolithikum, in Däne-
mark in vielen mittelalterlichen Ablagerungen, in
Norwegen heute bis Drontheim und Ostfinnmarken.
— Polygoinim Con-i'olvulus\ in Mitteleuropa seit
dem Neolithikum, stellenweise so reichlich , daß
vielleicht an alten Anbau zu denken ist (vgl.
„wild Baukweite" in Pommern), in Kopenhagen
in den mittelalterlichen Kulturschichten, in Nor-
wegen heute bis Nordland und Ostfinnmarken. —
Chciiopodium albitm ; ebenfalls in alten Ablage-
rungen (z. B. in den Pfahlbauten der Schweiz, in
dänischen Funden, in einem Eisenzeitfund am
Mälarsee) häufig und wohl auch alte Mehlfrucht,
in Norwegen heute bis Finnmarken. — Urtica
uretis ; bisher aus Mittel- und Nordeuropa prä-
historisch nicht nachgewiesen, in Dänemark erst
in den mittelalterlichen Kulturschichten von Kopen-
hagen, aus Deutschland zuerst bei der heiligen
Hildegard und Albertus Magnus, in Norwegen
jetzt bis Finnland verbreitet. — Stellaria media;
in England und Schottland schon in dem prä-
glazialen Cromer forest bed, in der Schweiz in
paläolithischen Pfahlbauten usw. Der altnordische
Name arfi (jetzt vassarv) ist in einigen norwegi-
schen Ortsnamen vermutet worden. Die Art ist
in Norwegen eines der gemeinsten Unkräuter,
wohl auch sicher urwüchsig, und ist von V. B.
Wittrock (Vetenskapsakademiens Arsbok 19 18)
für die am meisten kosmopolitische Phanerogame
überhaupt erklärt worden. — CapseUa Bursa
pastoris ; bisher anscheinend prähistorisch nicht
nachgewiesen , jetzt allgernein verbreitet. — La-
inium cf. purpiirtutii ; in Österreich in den Hall-
statterfunden, in Kopenhagen in den alten Kultur-
schichten nachgewiesen, in Norwegen jetzt bis
Nordland und vereinzelt bis Finnmarken verbreitet.
— Galeopsis tctrahit; in England und Schottland
schon im Spätglazial, in der Schweiz und Deutsch-
land im Neolithikum, in Dänemark (eher G. spe-
eiosa) in den Kulturschichten von Kopenhagen,
in Schweden schon in Torf aus dem Anfang der
N. F. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
85
Tapeszeit, jetzt in ganz Norwegen verbreitet. Auf
diese Pflanze werden altnordisch akrdai und doglia
bezogen , doch wurden darunter jedenfalls auch
aromatische oder narkotische Pflanzen verstanden,
die dem Met und Bier zugesetzt wurden, so auf
den Shetlandsinseln nach dem Hildinalied und in
späterer Zeit in Sogn. — Cirsmm arvense ; in
Norwegen heute bis zum Kvaefjord, bisher prä-
historisch nicht nachgewiesen, wohl aber C. pa-
histre und lanceolatutn aus Großbritannien und
Dänemark. Disteln werden als fJiisfill schon im
Eddalied Skirnismal (etwa um 900 entstanden)
und in einer Übersetzung alttestamentlicher Texte
aus dem 13. Jahrh. genannt. — Daß auch andere
Unkräuter in der Wikingerzeit bekannt waren,
geht aus der Literatur hervor. Der für Matricaria
inodora bis Island gebräuchliche Name balderbraa
muß sehr alt sein, denn schon in der h-dda wird
der Glanz von Haiders Augenbrauen mit „dem
weißesten aller Kräuter" verglichen. Heute ist
die Art in allen nordischen Gegenden mit primi-
tiver Kultur um die Siedlungen gemein , so na-
mentlich bei den Erdkammern der Seelappen des
nördlichen Norwegens und auf Island. — Alt-
nordische Namen besitzen ferner: Lolinvi fenw-
lentum, im Kongespeil als skjathak , schon im
alten Ägypten und in Schweizer Pfahlbauten unter
Getreide, früher ein gefürchtetes Unkraut, jetzt
selten. — Rumex cf. acetosa, als sura oder akr-
sura, u. a. auch als Schlafmittel empfohlen. —
Epilobüim angustifoUimi heißt noch jetzt in ein-
zelnen Dialekten geitskor (Ziegenhufe, nach einer
anderen Deutung Ziegenfell). — Plantago 7najor
wurde als laehnsgras gegen Schlangenbiß emp-
fohlen. — Sonchns arvensis ist wohl dylla und
dyndül der Sagen, auch als Übername und in
Flurnamen. — Taraxacmn ist altnordisch fifiU,
als fivel noch jetzt in einzelnen norwegischen
Dialekten. In den Sagen werden gelbliche Pferde
als fifilbleiker bezeichnet. — Lolmm, Pol)gom<m
Convolvulus, Urtica, Chowpodimn und Lamhim
furpureiim (oder amplcxicaiile) sind sicher mit
Kulturpflanzen eingeschleppt worden, vielleicht
auch Polygoimm lapatla'foluim , Stellar ia media
und Capsella, die heute als einheimisch erscheinen.
Plantago major, Sonc/ms arvensis und Matricaria
inodora sind wohl als Strandpflanzen spontan ein-
gewandert, ähnlich auch Cirsium arvense und
Galeopsis, sowie als Wiesenpflanzen Rumex, Ta-
raxacmn und Epilobiiim. — Um den Gegensatz
zwischen Archaeophyten und Neophyten zu be-
leuchten, seien einige Arten genannt, die erst
zwischen 1700 und 1900 in Norwegen eingewan-
dert sind:') Chrysanthevmm segetwn (1704),
Barbar ea vzdgaris ( 1 790), Senecio viscosus ( 1 804),
Anthenns tinctoria (1807), Bunias orientalis{i%i2),
Gerast ium arvense und Berter oa incana (1826),
Alyssum calyctnum (1857), Co7iringia orietitalis
(1859), Matricaria discoidea (1862), Campanula
patiila (1870), Xantimmi spinosum (1872), Eri-
geron canadensis (1874), Thlaspi alpestre (1876),
Rudbeckia hirta und Galinsoga parvißora (1880)
und Lepidinni virginiciun (1889).
5. Sonstige Reste einheimischer Pflanzen. Aus
Eichenholz war das Schiff gezimmert, aus Birken-
rinde einzelne Geräte gefertigt. Die Flaum-
birke {Betula pubesccns) ist durch zwischen den
Waidschötchen gefundene Kätzchenschuppen und
Flügelfrüchtchen nachgewiesen. — Aus dem
Mageninhalt zweier Ochsen und eines Pferdes
konnten bestimmt werden: Nadeln des Wachol-
ders {Juniperus communis), des ersten in Skan-
dinavien eingewanderten Nadelholzes, Zweigstücke
des erst während des Maximums der postglazialen
Senkung eingewanderten, in Dänemark dagegen
schon interglazial und spätglazial nachgewiesenen
Heidekrauts ( Calliina vulgaris), ein Rosen-
stachel (Rosacf.mollis), Früchtchen von Carex-
Arten, Samen von Luznla campestris (zum ersten-
mal prähistorisch nachgewiesen), Nüßchen und
Kronblätter von Ranmicidus repens in größerer
Zahl und auffallend gut erhalten. Die Art ist in
Großbritannien schon präglazial, in Dänemark
diluvial und interglazial, aus Schweden und Nor-
wegen wie aus Mitteleuropa dagegen erst post-
glazial nachgewiesen. — Zwischen Federn an
einem Teppich der Grabkammer fand sich ein Frucht-
kelch von Agrimonia cnpaforia, die sonst prähisto-
risch nur aus 3 meist neolithischen Pfahlbauten
der Schweiz bekannt ist und in Norwegen heute
bis Drontheim, im Osten noch weiter nördlich
reicht. — Aus dem Torf des Grabhügels konnten
schließlich u. a. Leo7itodon autii^nualis (inter-
glazial in England, aus dem Neolithikum in Schott-
land) und einige gemeine Astmoose bestimmt
werden: Thuidiiim Philiberfi, Acrocladium cus-
pidatnm, Climacium dendroides und Rhytidiadel-
p/iiis sq/iarrosiis, letztere beide auch aus dem Grab-
hügel des schon früher bei Gokstad ausgegrabe-
nen Wikingerschiflfs, von dem sonst keine bemerkens-
werten Pflanzenfunde bekannt geworden sind.
') Nach J. Holmboe, Nogle ugraesplanters indvandring
i Norge. Nyt Mag. for. Naturvidensk. XXXVIII. 1900.
Einzelberichte.
Lichterscheiunngen an fliegenden Yögeln.
In den Sagen der verschiedensten Völker, der
Japaner, Irokesen, Kelten, Polynesier und in den
alten tatarischen und vedischen Heldengesängen
begegnen wir dem Glauben an einen Vogel, der
Feuer vom Himmel holt oder den Blitz hält.
Mehrfach ist dieser Vogel eine Möwe, was insofern
auffallend ist, als an diesem Tier von wissen-
schaftlich einwandfreier Seite wirklich Licht-
86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
erscheinungen gesehen wurden. Es handelt sich
um die von Dr. K. M. Schneider in den „Orni-
thologischen Monatsberichten" 192 1, Heft 12 (Her-
ausgeb. Prof. Reichenow und Dr. S t r e s e -
mann) besprochenen Möwenbeobachtungen des
Prof. Dr. A. Kirschmann auf der Insel Sylt.
An einem heißen Sommerabend fiel Prof.
Kirschmann auf, daß bei einem Unwetter etwa
50 Möwen jeden neuen Gewitterausbruch einige
Minuten vorher durch erregtes Schreien anzeigten.
Bei hereinbrechender Dunkelheit sah er vorm
Fenster, an das die Vögel dicht heranflogen,
Gruppen von 2 — 4 Feuerchen durcheinander
schweben und konnte feststellen, daß die Möwen
an Schnabel, Flügelspitzen und Schwanz diese
Flämmchen trugen. Die Vögel schrien dann
immer sehr erregt und beruhigten sich wieder
etwas, wenn mit neuen heftigen Entladungen
zugleich auch die Flämmchen verschwanden.
Dr. Schneide r erklärt die Erregung der Möwen
mit der, diesen ungewohnten, Lichterscheinung,
meint, das Leuchten könne auch mit einem Zischen
und Knistern verbunden sein, oder die Tiere ver-
spürten das sonderbare Kribbeln in der Haut,
das wir beim Elektrisieren in den Haarwurzeln
wahrnehmen.
Die helle violettrote Flammenfärbung, die der
Feuererscheinung bei einer elektrischen Entladung
gleicht, läßt vermuten, daß es sich hier um etwas
Ähnliches wie ein „Elmsfeuer" gehandelt hat.
Prof. Dr. Wenger, Leiter des Leipziger
geophysikalischen Instituts, erklärt die Erscheinung
folgendermaßen: „Kommt ein Vogel aus einer
Gegend mit hoher Spannung, wo er also stark
elektrisch geladen worden ist, in eine Region
mit wesentlich niedrigerer Spannung, so wird
sich der Unterschied ausgleichen. Derlei Ent-
ladungen vollziehen sich bekanntlich am stärksten
an Spitzen. In unserm Fall ist nun das Aus-
strömen der Elektrizität in der Dunkelheit an den
spitzen Körperteilen in Lichtbüscheln sichtbar
geworden. Eine solch stille langsame Entladung
kann natürlich eintreten, wenn der Vogel eine
Region mit sehr verschieden starker Ladung
gleichnamiger Elektrizität durchfliegt, aber ebenso
dann, wenn er in Luftschichten kommt, die mit
Elektrizitätsmengen ungleichen Vorzeichens (po-
sitiv oder negativ) kräftig geladen sind, wobei
er entweder als Anode oder Kathode wirkt. Die
Flammenerscheinung ist dann ähnlich derjenigen,
welche den Luftschiffern so gefährlich werden
kann, wenn diese mit ihrem leichtentzündlichen
Fahrzeug rasch durch Gebiete mit stark ver-
ändertem Potential kommen." —
W. Sunkel.
Einbryobildung nach Verletzung der Frncht-
kuoteii und SanienanLigen.
Die früher hier besprochenen Arbeiten G.
Haberlandts (vgl. Naturw. Wochenschr. 1921,
S. 592) haben in ihrer weiteren Verfolgung den
Verf. zu Versuchen geführt, die das Ziel hatten,
bei Blütenpflanzen durch Anregung der Bildung
von Wundhormonen künstliche Parthenogenesis
und Entstehung von Adventivembryonen aus dem
Nuzellus der Samenanlagen hervorzurufen. 1910
hatte Bataillon durch Anstechen reifer Frosch-
eier parthenogenetische Larven gezüchtet, und
Anstichversuche mit Eizellen einer Vaucheria sind
1920 von F. v. Wettstein veröffentlicht worden.
Bei den höheren Pflanzen ist das Anstechen der
Eizellen schon wegen ihrer Kleinheit technisch
unmöglich. Nach den Erfahrungen Haber-
landts konnte angenommen werden, daß es
genügen würde, durch mechanische Verletzung
der Samenanlagen oder des Fruchtknotens die
Bildung von Wundhormonen in der Nachbarschaft
der Eizellen zu veranlassen. Verf. benutzte zu
seinen Versuchen die dazu besonders geeignete
Oenothera Lamarckiana. Um Bestäubung auszu-
schließen, wurden die Blütenknospen durch Füh-
rung eines Querschnittes, der Antheren und Narbe
entfernte, kastriert. Die mechanische Verletzung
wurde teils durch Drücken (Quetschen) der Frucht-
knoten zwischen Daumen und Zeigefinger, teils durch
mehrmaliges Anstechen oder Durchstechen der
Fruchtknoten mit einer feinen Stahl- oder Glasnadel
herbeigeführt. Die meisten der so behandelten
Fruchtknoten gingen nach i — 3 Wochen zugrunde,
blieben aber häufig länger grün als nichtverletzte
Vergleichsfruchtknoten in kastrierten Blüten. Eine
Anzahl verletzter Fruchtknoten wuchs aber weiter,
ohne jedoch die Größe der sich normal ent-
wickelnden Fruchtknoten zu erreichen. Einige
Fruchtknoten wurden verletzt, ohne daß die Blüten
kastriert worden waren; sie wuchsen in vielen
Fällen kräftig weiter und wurden fast ebenso
groß wie die normalen.
Durch das Quetschen traten in den Frucht-
knoten Zerreißungen auf. Die Nuzelluszellen der
Samenanlagen zeigten sich vielfach abgestorben
und kollabiert; einige aber hatten sich blasen-
artig abgerundet und stellten mögUcherweise An-
fange von Adventivembryonen dar. Von den
Embryosäcken andererseits entwickelten sich einige
ungestört weiter und wiesen dann einen normalen
Eiapparat auf; andere starben ab oder teilten sich
durch eine Querwand. Am Eiapparat wurde in
ein paar Fällen der Anfang der partheno-
genetischen Entwicklung der'Eizelle
beobachtet. Die Eizelle hatte sich mit einer
zarten Membran umkleidet und eine kopfförmige
Ausstülpung gebildet. Aber nur einmal war eine
Teilung eingetreten, die die kopfförmige Aus-
stülpung von dem übrigen Teil der Eizelle (dem
Suspensor) abgetrennt hatte. Verf. nimmt an,
daß die parthenogenetische Entwicklung deshalb
nicht weiter fortschreitet, weil infolge der Quet-
schung die die Baustoffe zuleitenden Zellen der
Chalaza geschädigt werden und ihre Aufgabe nicht
vollführen können, so daß die jungen Embryonen
verhungern.
Bei angestochenen Fruchtknoten treten
N. F. XXI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
87
Kalluswucherungen auf, die in den Wundkanal
hineinwachsen, aber auch in gewisser Ent-
fernung von diesem an den Innenseiten der
Fruchtknotenwände, an den Scheidewänden und
den Plazenten auftreten können. Sie entstehen
auch an den durch die Nadel verletzten Samen-
anlagen. Wenn sie hier vom Nuzellus oder vom
inneren Integument aus in den Embryosack hin-
einwuchern, so können sie zu monströsen oder
auch typisch geformten Adventivembryo nen
werden oder solche aus sich hervorsprießen lassen.
In einem besonders lehrreichen Fall hatten sich
in einer durch Anstich verletzten Samenanlage
zwei mit Suspensoren versehene, typischen Ei-
embryonen ganz ähnliche Nuzellarembryonen ge-
bildet, die an einander gegenüberliegenden Stellen
in den Embryosack hineinragten. In angestoche-
nen Fruchtknoten nich t kastrierter Blüien wurden
keine Nuzellarembryonen gefunden; vielleicht
wird deren Ausbildung durch die Entwicklung
der Eiembryonen verhindert. Ansätze zur Bildung
parthenogenetischer Eiembryonen konnten in den
angestochenen Fruchtknoten kastrierter Blüten
nicht beobachtet werden. Dagegen entwickelte
sich in den Fällen, wo Kalluswucherungen aus
dem Nuzellus und Adventivembryonen entstanden,
aus dem (haploiden) Polkern des Embryosacks
auf parthenogenetischem Wege Endosperm.
Die Entwicklung von Nuzellarembryonen, die
bei Oenothera Lamarckiana vom Experimentator
durch Nadelstiche bewirkt wird, erreicht die Natur
bei Ficus Roxburghii in viel vollkommenerer
Weise mit Hilfe eines Hymenopters, das die
Fruchtknoten dieser Feige mit seiner Legeröhre
ansticht. Cunningham, der den Vorgang be-
schreibt, führt die Wirkung auf vermehrten Nah-
rungszufluß zurück, während Haberlandt hier
wie bei Oenothera die Ursache der Embryonen -
bildung in der Entstehung von Wundhormonen
(besser „Nekrohormonen") erblickt. Als weitere
Bedingung für die Entwicklung solcher Adventiv-
embryonen nimmt er an, daß die Pflanze eine
erhöhte Neigung zu Kalluswucherungen, auch im
Nuzellargewebe, besitze. (Sitzungsberichte der
preußischen Akademie der Wissenschaften, Physik.-
math. Kl. 1921, Nr. 40, S. 695 — 725).
F. Moewes.
Bücherbesprechungen.
Kahler, Dr. Karl (wissenschaftl. Hilfsarbeiter am
Preußischen Meteorologisch-Magnetischen Obser-
vatorium Potsdam), Luftelektrizität. 2. Aufl.
134 S. mit 19 Abb. Sammlung Göschen Nr. 649.
Berlin W 10 und Leipzig 1921, Vereinigung
wiss. Verleger Walter de Gruyter & Co. 2,10 M.
und 100 "/o Verlegerteuerungszuschlag.
Die neuen Arbeiten in Washington und auf
dem stillen Ozean, sowie in Deutschland, die seit
dem vor 8 Jahren erfolgten Erscheinen der ersten
Auflage unsere Kenntnis über die Luftelektrizität
wesentlich erweiterten, haben ihre Berücksichtigung
erfahren, so daß der Leser durch das sehr emp-
fehlenswerte Büchlein über den neuesten Stand
der Forschung unterrichtet wird. Fricke.
Schau, A., Statik. Aus Natur und Geisteswelt
Bd. 828. 2. Aufl. iioS. 112 Fig. Leipzig 192 1,
B. G. Teubner.
Schau, A., Festigkeitslehre. Aus Natur und
Geisteswelt Bd. 829. 2. Aufl. iii S. 119 Fig.
Leipzig 192 1, B. G. Teubner.
In dem ersten Bändchen werden die grund-
legenden physikalischen Gesetze und ihre An-
wendungen auf die Baukonstruktionen mitgeteilt.
Das zweite Bändchen enthält die Festigkeitslehre ;
sie ist in der neuen Bearbeitung als ein besonderer
Teil abgetrennt, weil dem mehrfach ausge-
sprochenen Wunsche, auch über Anwendungen
für den Maschinenbau unterrichtet zu werden,
Rechnung getragen werden sollte. Dem Verf.,
der Baugewerksschuldirektor in Essen ist, ist die
Auswahl aus dem großen Stoffgebiet vortrefflich
gelungen und wie die erste Auflage draußen im
Schützengraben anregend gewirkt hat, wird diese
neue beim Wiederaufbau vortreffliche Dienste
leisten. PVicke.
Beiträge zur Metallurgie und andere Arbeiten
auf chemischem Gebiet. Festgabe zum 60. Ge-
burtstag für Prof Dr. Dr. ing. e. h. Hans
Goldschmidt. Herausgegeben von Oscar
Neuß, Leiter des wissenschaftlichen Labora-
toriums Prof Dr. Goldschmidt. 80 Seiten
mit II Abbildungen und einem Porträt von
Prof Dr. Goldschmidt. Dresden und Leip-
zig 192 1, Verlag von Theodor Steinkopfif. Preis
geh. 15 M.
Prof Dr. Hans Goldschmidt, der auch
weiteren Kreisen des naturwissenschaftlich und
technisch interessierten Publikums als Erfinder
der Aluminothermie und der autogenen Schweißung
und Mitbegründer der Weltfirma Th. Gold-
schmidt A.-G. in Essen bekannte Chemiker, in
dem sich die Vereinigung von wissenschaftlichem
und technischem Denken zu einem einheitlichen
Ganzen in vorbildlicher Weise vollzogen hat, hat
in diesem Jahre seinen 60. Geburtstag gefeiert.
Aus Anlaß dieses Ereignisses hat Oscar Neuß,
der Leiter des wissenschaftlichen Laboratoriums,
das Hans Goldschmidt nach seinem vor
einiger Zeit vollzogenen Austritt aus der Essener
Firma in Berlin errichtet hat, eine kleine Fest-
schrift herausgegeben, in der Freunde und Schüler
Goldschmidts ihm nach schönem Brauch
durch kleinere Abhandlungen wissenschaftlichen
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 6
Inhaltes ihre Verehrung beweisen. Aus dem
bunten Inhalt des Heftes seien die allgemeinen
Betrachtungen von Max Buchner in Hannover
über Zweck und Wert wissenschaftlicher Vereine
und Kongresse, von Oscar Neuß über das
Aspochin, das Azetylsalizylat des Chininazetyl-
säureesters C2oH23N.,0., -CgH^Oj • CgH^O^ , das
ausgezeichnete Dienste bei gewissen Menstruations-
störungen (Schmerzen und zu großem Blutverlust)
sowie bei Anfällen von Bronchialasthma leistet,
die metalltechnischen Beiträge von Doerinckel,
Stavenhagen, B. Strauß und Tammann,
sowie eine Untersuchung von Prätorius über
Nachweis und angenäherte Bestimmung kleiner
Mengen von Aluminium im Beryllium angeführt.
Die Ausstattung der kleinen Schrift, der ein
recht gutes Bild von Goldschmidt beigegeben
ist, entspricht allen berechtigten Anforderungen.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Driesch, Hans, Philosophie des Organi-
schen. 2. verbesserte und teilweise umge-
arbeitete Auflage. Leipzig 1921, W. Engel-
mann.
Es ist jetzt 12 Jahre her, seit die „Philosophie
des Organischen" erschienen ist, und in diesen
12 Jahren hat sich so manches geändert, einmal
ist die Gegnerschaft gegen den von Driesch
verfochtenen Vitalismus angewachsen, andererseits
ist aber auch so mancher Forscher in das Lager
der Vitalisten übergegangen, sei es, daß er es
ofifen bekennt und daß er es bewußt tut, sei es,
daß er es unwissentlich getan hätte. Aber auch
Driesch hat sich geändert, vom philosophieren-
den Biologen ist. er zum biologisch orientierten
Philosophen geworden. Das merkt der Leser
deutlich, wenn er sich in das Werk vertieft.
Die biologischen Grundlagen, die den Haupt-
teil des Werkes bilden, sind im wesentlichen die
gleichen geblieben. Und doch ist überall zu er-
kennen, daß die Einzeltatsachen und die Probleme
auf den heutigen Stand der Forschung gebracht
sind, denn seit dem Erscheinen der ersten Auf-
lage hat sich die Entwicklungsmechanik die ersten
Kinderschuhe abgelaufen und bewiesen, daß sie
ein selbständiges Gebiet ist, vor allem durch Be-
schaffung eines gewaltigen Tatsachenmaterials
und durch ganz exakte ,, präzise Festlegung be-
stimmter Lehrmeinungen. Hier ist das Werk auf
dem Laufenden erhalten worden, ich nenne nur
die trefflichen Ausführungen über die Welt des
Organischen als Ganzes.
Anders ist es mit dem letzten philosophischen
Teil des Buches. Hier ist etwas völlig Neues ge-
schaffen worden : Der Philosoph von heute hat
das Wort. Hier wird der Naturphilosoph zum
Logiker, aber auch zum Metaphysiken Die
Sprache der vorigen Auflage, die dem flüchtigen
Leser schon schwer faßlich erschien, ist hier da-
durch stärker kompliziert worden, daß Driesch
die Terminologie seiner „Ordnungslehre" einführt.
Mancher Leser mag ihm dies sicherlich verübeln,
aber schließlich dürfte die „Philosophie des Orga-
nischen" nicht für flüchtige Lektüre bestimmt
sein. Einfach mit Schlagworten abtun läßt sich nun
einmal der Vitalismus auf keinen Fall, wenn auch
nicht verhehlt werden soll, daß so manche Theorie
des Vitalismus auf schwachen Stützen steht.
Es ist schwer, etwas über den Inhalt dieses
letzten Teiles zu sagen. Jegliche Kritik daran
wäre gewagt und würde sicherlich von jedem
Leser Widerspruch erfahren , denn sie wäre zu
subjektiv gehalten. So muß es aber jedem gehen,
der sich ernsthaft hineinversenkt und den „Stand-
punkt" Drieschs zu verstehen sucht. Ein jeder
aber, mag er ausgesprochenster Mechanist oder
mag er Vitalist sein, muß Driesch das Verdienst
zuerkennen, ein nachdrücklich strenges und klares
Gedankensystem des Vitalismus geschaffen zu
haben. Die Energie und die Begeisterung, mit
der Driesch hier vorgegangen ist, ist zum min-
desten der Achtung wert, andererseits aber auch
sein heißes Mühen, die Gesamtheit alles mensch-
lichen Wissens in ein „Eines" zu fassen. Das
ist nach Driesch Liebe zur Weisheit, das ist
Philosophie. Collier (Frankfurt).
Literatur.
Lassar-Cohn, Einführung in die Chemie. 6. Aufl.
Leipzig '21, Leopold Voß.
Wissenschaftliche Forschungsberichte. Naturwissenschaft-
liche Reihe. Herausgegeb. von Dr. Raphael Ed. Liesegang.
Band III. Pummerer, Dr. R., Organische Chemie. Dres-
den und Leipzig '21, Theodor SteinkopfT. 36 M.
Kaufmann, H. P., Lehrbuch der Chemie für Mediziner
und Biologen. 1. Anorganischer Teil. Leipzig-Berlin '21, B.
G. Teubner. 30 M., geb. 38 M.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig-Berlin '21 , B. G.
Teubner.
19g: Trömmer, E., Hypnotismus und Suggestion.
4. Aufl.
Planck, Max, Physikalische Rundblicke. Leipzig '21,
S. Hirzel. 20 M., geb. 30 M.
Mathematisch-physikalische Bibliothek. Leipzig '21, B.
G. Teubner.
Band 5: Timme rding, H. E., Die Fallgesetze. 2. Aufl.
Auerbach, Felix, Raum und Zeit. Materie und Ener-
gie. Leipzig '21, Dürrsche Buchhandlung. 14 M., geb. 16 M.
Klaus, Dr. Alfred, Atome- Elektronen -Quanten. Die
Entwicklung der Molekularphysik in elementarer Darstellung.
Berlin '21, Winckelmann & Söhne. 15 M.
Inbalt: Fr. Nölke, Zur Kontraktionstheoric. S. 73. Chr. Schweizer, Der Darmkanal des Maikäfers. (4 Abb.) S. 78.
n. Garns, Die Kulturpflanzen und Unkräuter der Wikinger. S. 81. — Einzelbericbte: K. M. Schneider, Licht-
erscheinungen an fliegenden Vögeln. S. 85. G. Haberlandt, Embryobildung nach Verletzung der Fruchtknoten und
Samenanlagen. S. 86. — BUcbeTbesprecbungen: K. Kahler, Luftelektrizität. S. 87. A. Schau, Statik. Ders.
Festigkeitslehre. S. 87. Beiträge zur Metallurgie. S. 87. H. Driesch, Philosophie des Organischen. S, 88. — Lite-
ratur: Liste. S. 88.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 12. Februar 1922.
Nummer 7.
[Nachdruck verboten.]
Jeder Sturm, der den Seegrund aufwühlt,
bringt Bernstein empor und treibt ihn gegen
unsere Küste. Seit die Ostsee ihre Ufer und
Wellen hat, ist das der Fall gewesen, und aufge-
lesen hat ihn der Mensch, seit er ihn beachtete
und zum Schmuck für geeignet hielt.
Überall an der Südküste der Ostsee findet er
sich als Auswurf des Meeres und im Dünensande
vor. Ans Ufer geworfen, bleibt er dort ruhen, wird
mit Sand bedeckt und bildet Lager. Sein geringes
spez. Gewicht, das höchstens i,o8 beträgt, bringt
ihn schon bei sanfter Strömung zum Schwimmen ;
ist er von Tangmassen umhüllt , so wird seine
Fähigkeit, sich längere Zeit schwebend im Wasser
zu halten, noch größer. Flaut die Strömung an
unterirdischen Sandbänken oder anderen Er-
hebungen ab, so sinkt er zu Boden. Aycke
schildert bereits anschaulich, wie der organische
Auswurf des Meeres, das sog. „Mill" (Müll) an
das flache Ufer geworfen und oft bei zurück-
tretenden Wasser dort zurückbleibt und vertrocknet,
wie die sog. „Reffe" (Riffe, Sandbänke), welche
dem Ufer parallel bis dicht unter die Oberfläche
des Wassers emporsteigen, die Landung des Mills
verhindern, wie gelegentlich aber auch die Wellen
über diese Hindernisse hinweg einen Teil des
Mills nebst dem Bernstein hinüberschleudern
(3, S. 3, 4). — In der früheren Provinz West-
preußen waren allein 26 Abnahmebezirke für am
Strande gefundenen Bernstein eingerichtet; im
Gebiete des jetzigen Freistaats Danzig liegen nur
noch 10 von ihnen (30, S. 53).
Das Niedersinken schwebenden Bernsteins in
ruhigerem Wasser an Erhebungen auf dem Meeres-
boden gab Veranlassung zur Bildung von Legenden,
die von unterirdischen Bernsteinadern erzählen.
Eine solche war nach Aurifaber nahe bei
Danzig in der Putziger Bucht. Dort glaubten sie
die Fischer bisweilen bei ruhiger See auf dem Grunde
des Wassers zu erblicken. Sie besaß die Form eines
Rückens und glänzte von den vielen Bernstein-
stücken. Leider könne man sie — wie es in der
Beschreibung heißt — wegen ihrer Tiefe nicht
ausbeuten. — Eine ähnliche Fabel erzählten freilich
auch die Fischer an den Ufern des Samlands von
ihren Gewässern dem Bischof Wigand. Daß es
sich hier um ein bloßes Erzeugnis der Phantasie
handelt, geht aus der weiteren Angabe hervor,
an diesen Stellen im Wasser fänden sich die Fische
ein, um den noch weichen Bernstein als Speise
oder Arzenei zu verschlucken. Auch im Orzechower
oder Szontag See (Masuren) soll — wie 1841 be-
richtet wurde — 3 bis 4 m unter dem Wasserspiegel
Danzig als Heimat des Bernsteins.
Von Dr. Paul Dalims, Zoppot a. d. Ostsee.
ein ähnlicher Bergrücken liegen. Im Glauben der
Anwohner dieses Gewässers bleiben die Netze an
dem ,, Bernsteinfelsen" oft hängen und bringen dann
und wann größere Stücke von ihm mit glänzenden
Bruchflächen in die Höhe (11). In allen diesen
Fällen handelt es sich um bloße Fabeln, die von
dem glühenden Wunsche beseelt sind, den wert-
vollen Stein zu erbeuten. Sie haben bei den
Schriftstellern viel Nachdenken verursacht und zu
der Auffassung geführt, daß auf dem Boden der
Gewässer Quellen hervorbrächen, aus denen die
Substanz des Bernsteins „wie der Asphalt im
Toten Meere" flösse. Auch Sendel spricht noch
von solchen offenen Bernsteinadern auf dem
Meeresgrunde (28, § 39, S. 274, 275). Einen ge-
wissen Kern finden diese Mutmaßungen in der
Tatsache, daß Bernstein sich am Grunde von Ge-
wässern in großen Mengen ansammeln kann. Auf
sie ist der großartige Erfolg zurückzuführen, den
die Baggerarbeiten in der Fahrrinne von Königs-
berg bis Memel, vorzugsweise bei Schwarzort
aufweisen konnten.
Bemerkenswerte Lager sind auf der Nehrung,
bei Heubude und Weichselmünde vorhanden. Die
ersteren erwähnt bereits Aurifaber (2, S. Cy).
Dagegen beschreibt Aycke solche von Weichsel-
münde nahe der See, 1,7 — 3,3 m unter dem Sand-
boden des angrenzenden Waldes. Er schildert sie
als von recht beträchtlicher Ausdehnung und von
gleicher Beschaffenheit wie bei dem Auswurf mit
Sehr vielen „Sprock" und Holzstücken (3, S. 7).
Wie Bock berichtet, ließen die Danziger Bernstein-
künstler in dem ehemaligen Walde, der dort stand,
graben, wenn der Stein am Strande nur spärlich
gesammelt werden konnte; die Unkosten wurden
ihnen bisweilen reichlich ersetzt (6 II, S. 184).
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
wurde zwischen Heubude und Weichselmünde
auf diese Weise viel Bernstein erbeutet (30, S. 5 1).
Um das Jahr 1890 versuchte die Firma Daniel
Alter auf diesem Gelände das Edelharz zu ge-
winnen. Als durch Bohrungen festgestellt war,
daß unter dem Dünensande Bernstein in Nestern
liege, wurde deren Begrenzung festgestellt und
der Boden bis zum Grundwasserspiegel abgekarrt.
Bagger hoben den Dünensand weiter heraus; das
Material der bernsteinführenden Schicht wurde
durch Siebe geworfen, um das Fossil von dem
Sande zu trennen. Die Bernstein führende Schicht
soll etwa I — 4 m unter dem Wasserspiegel^ ge-
legen haben (22, S. 11). Später wurde die Ge^
winnung hier eingestellt auf Grund einer Abmachung
go
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 7
zwischen dem preußischen Fiskus (Kgl. Bernstein-
werke) und der Stadt Danzig (30, S. 51).
Die älteste Art der Gewinnung des Bernsteins
auf dem Sirandsande der Danziger Nehrung ist
von Aurifaber (2, S. Cy) beschrieben. Nach
ihr benutzten die Arbeiter eine starke Stange, die
vorn ein schaufelähnliches, scharfes Eisen trug.
Mit ihm durchtasteten sie den Boden, der dem
Eindringen bei seinem Gehalt an eingeschlossenen
Seepflanzen und seiner dichten Packung Schwierig-
keiten entgegensetzte. Trafen sie auf Bernstein,
so konnten sie das durch eine eigentümliche Er-
schütterung der Stange mit ihren Händen wahr-
nehmen; dann gruben sie nach und holten ihn
heraus. — Für das Gelände an der Danziger Bucht
(sinus Codanicus) war nach VVigand (35, S. 23, 24)
die Gewinnungsweise eine andere. Auch bei ihr
wurde das Gelände, wie eben besprochen, abgetastet,
der Bernstein aber nur dann durch bloßes Graben
ans Licht geschafft, wenn er tiefer als mannestief lag.
In anderen Fällen legten die Gräber eine Grube
an, stießen von ihr aus zugespitzte Pfähle in den
Boden, bewegten sie gewaltsam nach allen Seiten
und rissen sie dann wieder heraus. Auf diese
Weise trieben sie trichterförmige Löcher in den
Sand, und was in deren Nähe an Bernstein war,
kam hervor. Dann legte man Netze in die Grube,
die sich mehr und mehr mit Wasser gefüllt "hatte,
bewegte sie hin und her und fischte mit ihnen
heraus, was sich von ihm angesammelt hatte. —
Interessant ist ein Vergleich dieses Verfahrens mit
dem, das Daniel Alter 400 Jahre später an-
wandte; das letztere ist dem älteren fast voll-
kommen gleich, nur bediente es sich statt der
hänfenen Netze solcher aus Metalldraht, wie sie
von der Firma Stantien und Becker zuerst
bei der Arbeit mit den Dampf baggern bei
Schwarzort mit Vorteil benutzt wurden.
Unter der Regierung des Markgrafen Georg
Friedrich scheint in Ostpreußen der erste Versuch
gemacht zu sein, nach Bernstein zu graben. Es
war der Danziger Bernsleinschreiber Andreas
Meurer, der am i. Mai 1585 Erlaubnis erhielt,
dort zu graben, wo früher das alte Lochstetter
Tief gewesen war (12, S. 588, 589). Das Datum
liegt zwischen den Jahreszahlen für die Ver-
öffentlichungen von Aurifaber (1551) und
Wigand {1590).
Bei der Gewinnung des Bernsteins mit Dampf-
baggern bei Schwarzort handelte es sich um die
Ausbeutung des großen Lagers, das sich unter
dem Schutze der Nehrung angesammelt hatte
und 4 — 10 m unter dem Haffspiegel lag. Es war
dadurch entstanden, daß alle gegen die Küste ge-
richteten Stürme mit den Wassermassen auch
den durch die aufgeregten Wasser schwebend er-
haltenen Bernstein in den Windschatten zu drängen
streben. Das Haff war ein Klärungsbccken, in
dem sich Sand und Bernstein zu Boden senkten;
beide sanken um so leichter zu Boden, als das
Seewasser im Bereiche des Haffs brakisch ge-
worden und ein niederes spez. Gewicht ange-
nommen hatte. — Bei Brüsterort, wo die Ge-
winnung des Bernsteins durch Taucher etwa
10 Jahre hindurch blühte, hatte sich unter dem
Schutz großer Blöcke ebenfalls eine Art Klär-
becken gebildet. Bei der Zerstörung des Vor-
gebirges durch die Brandung waren diese aus dem
Grundmoränenschutt herausgewaschen und mehrere
hundert Meter weit in der See liegen geblieben.
Dort hielten sie zurück, was an Bernstein aus
dem zerwaschenen Boden oder von anderen Stellen
ans Ufer gebracht wurde (17, S. 42—44). Diese
Tatsachen sind von Bedeutung, wenn man in Be-
tracht zieht, daß gerade das Danziger Ufer als
Fundstelle für Bernstein erwähnt und bis in die
jüngste Zeit hinein au.sgebeutet wurde. Sicherlich
hat Heia einen Einfluß auf die Ansammlung ge-
rade an dieser Stelle, wenn auch nicht in Abrede
gestellt werden soll, daß der Eintritt der Ostsee
in die Danziger Bucht im Vergleich mit den Tiefs
der beiden Haffe eine viel zu große Uffnurg auf-
weist, um einen hinreichenden Schutz gegen das
bewegte Wasser bieten zu können. Der Salzgehalt
ist ferner kaum so erheblich, daß er von irgend
welcher deutlich wahrnehmbaren Wirkung auf das
Niedersinken schwebender Körper sein dürfte,
immerhin ist er vor Heia rund '/i mal so hoch wie
in unserer Bucht.
Ein Einfluß auf die Ansammlung wird aber
keineswegs vollkommen abzulehnen sein, schon
aus dem Grunde nicht, weil jede Ausbuchtung
an den Küsten sammelnd wirkt; außerdem mag
auf die Tatsache hingewiesen werden, daß nach
jedem Sturm am Danziger Strand die Beute an
Bernstein gerade dann als besonders reichlich an-
gesehen wurde, wenn der Wind aus Nordwest
und West blies; so daß dann die Wellen in der
Danziger Bucht eine weniger bewegte Stelle an-
treffen, wo sie das von ihnen mitgeführte Gut ab-
setzen können (3, S. 3).
Der einzige Weg, den Bernstein hier zu ge-
winnen, war der, ihn zu sammeln oder aus dem
Sande herauszugraben ; ein Schöpfen mit Keschern
wurde nie betrieben (35, S. 16; 28, S. 275).
Da der Strand in früheren Zeiten fast der
einzige Ort war, an dem Bernstein gefunden
wurde, so suchte man ihn vor unberufenen Be-
suchern zu sichern. Schon zu Wigands Zeiten
waren am Strande Galgen aufgerichtet, um
Diebe zu hängen, die man bei der Tat antraf
Ebenso wie auf die Anwohner des Strandes wurde
eine strenge Aufsicht über alle geführt, welche
ihres Gewerbes wegen an den Strand kamen.
Der Bernsteineid, ein besonderes Strand- und
Bernsteingericht, zeitweise Einrichtung einer Zivil-
Jurisdiktion an die Strandpächter, körperliche
und Geldstrafen bezweckten, die jährlichen Ein-
nahmen zu vermehren, bis seit ungefähr 100 Jahren
erträglichere Verhältnisse platzgreifen (12, S. 589 ff. ;
30, S. 51, 52 Anm.).
Für unser Gebiet übersteigt die jährliche Aus-
beute der See die an gegrabenem Bernstein, was
die Menge angeht, bei weitem ; dagegen ist der
N. F. XXL Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
91
Wert des letzteren bedeutend höher, weil er
größere Stücke liefert, dann aber auch eine wert-
vollere Beschaffenheit hat. Wie Aycke (1835)
schätzt, ist sie „ungleich höher anzunehmen, . . .
als eine 10 und mehrfache Menge des See-Bern-
steins überhaupt betragen dürfte" (3, S. i).
Im Samlande sind wiederholt Versuche ge-
macht worden, das Gold der Ostseeküste in regel-
rechtem bergmännischen Beirieb zu gewinnen,
doch erst im Jahre 1875 hatte man nach manchem
Mißerfolg damit Gelingen. Für Danzig und seine
Umgegend fallen solche Versuche natürlich fort.
In weiterer und geringerer Entfernung vom Strande,
in geringer Erhebung über dem Meeresspiegel
und auf den Höhen hat man mehr oder weniger
tief im Diluvium und Alluvium nach dem Stein
gegraben. Meist wurde ihm von 5 bis 6 Bauern,
die ohne jede Kenntnis der Verhältnisse und ohne
Führung ihr Glück versuchten, nachgespürt. Je
nachdem sie auf Spuren von fossilem oder sub-
fossilem Holz, Wurzeln und Bernstein trafen, folgten
sie den gegebenen Spuren und gingen der sog.
Ader nach oder sie wiederholten den Versuch an
anderer Stelle (3, S. 12 — 14). Um in eine ge-
nügende Tiefe hinabzukommen, legten sie aus
Brettern in bestimmten Höhen abwech.selnd
Bühnen an, von deren unteren der losgelöste
Boden zu gegenüberliegenden nächst höheren be-
fördert wurde. Bei der Willkür der Anlage ge-
schah es verhältnismäßig oft, daß die Wandungen
der Grube den Halt verloren und die Gräber
verschütteten. Besonders auf den Höhen im Süd-
westen von Danzig waren solche Anlagen früher
in Betrieb bei Klein Kleschkau, Rosenberg, Klem-
pin, im Bankauer Wald (sämtlich im Kreise Danziger
Höhe) und — weiter abgelegen — in der Tucheier
Heide (30, S. 50). Zaddach gibt eine ein-
gehende Beschreibung von den ehemaligen Bern-
steingräbereien beiSteegen und Leba im Alluvium,
bei Gluckau (Danz. Höhe), Karthaus, Treten und
Rohr (nördlich von Rummelsburg), sowie in der
Tucheier Heide im Diluvium (36, S. 3 — 12).
Die bekanntesten primitiven Bernsteingräbereien
stehen mit denen Danzigs in einer gewissen Be-
ziehung. Sie liegen am Südfuße des Uralisch-
Baltischen Höhenzuges in den masurischen Kreisen
Orteisburg und Johannisburg, im alten Sudauen,
dort wo vor dem Rande der einstigen Inlands-
eisdecke der gewaltige Sander beginnt und sich
weit nach Polen hineinzieht: bei Orteisburg,
Willenberg und Johannisburg. Der Stein kommt
hier in zahlreichen Nestern in i — 3 m Tiefe vor;
die Mächtigkeit der Bernstein führenden Schicht
schwankt zwischen 0,3 und i m. Der meiste sog.
„Blaue" oder „Russische Bernstein", der sehr hoch
geschätzt ist, stammt hierher. Sein Abbau reicht
mit Sicherheit bis in die graue Vorzeit zurück
(15, S. 68, 69; 17, S. 41, 42). — Caspar Schütz
(1592) erzählt, daß nicht weit von dort, wo jetzt
Danzig steht, der Ort Wike gelegen hätte; in
ihm hätten Fischer und Krüger in ziemlicher
Anzahl gewohnt. Diese tauschten mit den „Su
dawischen Preußen" seit alters Fische gegen Bern-
stein aus (25, S. 7, 8). Es ist verhältnismäßig
schwer zu verstehen, wie diese Handelsbeziehung
zu denken ist, besonders wenn man sich vorstellt,
daß der Transport wohl ausschließlich zur See
erfolgen mußte, und dann für die Sudauer nichts
näher lag, als von den nächsten Küstenbewohnern
die Fische zu beziehen. Eine Aufklärung erfährt
die gemachte Angabe dadurch, daß an der sam-
ländischen Küste Danziger Fischer beschäftigt
waren. Der Orden hatte ihnen nach der Erobe-
rung des Landes das Sammelrecht im Jahre 1312
abgetreten, später ging dieses (1342) an das
Kloster Oliva über (33, S. 8), doch werden die
mit dem Sammeln betrauten Leute von den Be-
wohnern des Innenlandes wohl auch weiterhin als
Danziger bezeichnet worden sein. Von Beruf
Fischer, gaben sich diese dem Fischfang mit Eifer
außer zu ihrer Ernähung hin, wenn in ruhiger
Sommer- oder Winterzeit die See keinen Bernstein
auswarf. Dann benutzten sie die gemachte Beute
zu Handelszwecken und tauschten sie gegen den
Bernstein der Sudauer im Binnenlande aus. Die
Erträge der dortigen Gräbereien waren nicht un-
bedeutend; sie betrugen noch zwischen 1812 und
1838 durchschnittlich für eine Grube, an der
6 Mann 5 Tage lang gearbeitet hatten, etwa
45—100 Reichstaler (17, S. 42).
Es muß hier bemerkt werden, daß man etwa
2^/3 Jahrhunderte später bereits das Samland
^Sambia) als den Sudauern gehörig ansah. Auri-
faber (2, S. Cuj) gibt 155 1 an, daß an diesem
Strande 7 Buchten (Wicken) seien. Je nach Ge-
legenheit wehten die Stürme in die eine oder
andere hinein und brächten Bernstein mit; eine
Windrichtung allein käme nicht für alle in Be-
tracht. Auch Wigand erwähnt (1590) das
sudanische Gestade im Samland.
Daß Bernstein als eine Harzbildung anzusehen
ist, wurde bereits von Aristoteles, Plinius
und Tacitus ausgesprochen. Die vielen bis ins
feinste erhaltenen Einschlüsse weisen auf seine
ursprünglich flüssige Beschaffenheit hin. Nadeln
von Fichten, bzw. Tannen, Holzsplitter und andere
Reste von diesen und von Laubbäumen, sowie
weitere Reste aus dem Pflanzenreich sprechen
dafür, daß er sich an der Luft und nicht im Boden
bildete, besonders auch der Umstand, daß man
Holz- und Rindenreste von ihm durchdrungen
fand. — Dieser Auffassung gegenüber machte sich
später um das Jahr 1563 eine andere geltend.
Sie behauptete den mineralischen Ursprung und
stützte sich darauf, daß Bäume, die den Bernstein
hervorbrächten, nirgends anzutreffen seien und
seine wahre Heimat im Schoß der Erde zu suchen
wäre. Die Fabeln von den unterirdischen Höhen-
rücken, die man in der Tiefe des Wassers zu
sehen meinte, gaben dieser Ansicht eine gewisse
Stütze. Man übersah dabei, daß das fossile Harz
Körper umschloß, die sich nicht in der Erde oder
im Meere, wohl aber in Wäldern mit Nadelhölzern
bilden konnten.
^^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr.
Die Einschlüsse von Insekten sollten dadurch
zustande gekommen sein, daß diese Tiere bei ein-
tretender Kälte sich in den Boden verkröchen
und während des langen Winterschlafes hier von
einer Art Erdöl umflossen würden. In solche
Tiefen, wo der Bernstein gefunden wird, vermögen
aber die Insekten oft nicht vorzudringen. Bei dem
trefflichen Erhaltungszustande dieser Einschlüsse
muß man wegen ihrer Lage, Ausbildung und
anderer Umstände ferner annehmen, daß sie nicht
schlafend von der konservierenden Flüssigkeit um-
sponnen wurden. Eine Erklärung für die voll-
kommene Nichtachtung der Inklusen liegt darin,
daß man sie lange Zeit als bloße Naturspiele ansah.
Diese Auffassung wäre zu verstehen gewesen,
hätte man andererseits nicht auf solche Einschlüsse
Gewicht gelegt, die tatsächlich als Naturspiele be-
zeichnet werden können: Es sind das Sprünge,
die durch Spannungsunterschiede im Inneren des
Bernsteins zustande kommen, meist goldig glänzen
und bald wie Pflanzenreste, besonders wie Moose
und Tange aussehen, bald an Federn erinnern
oder die Form von Rosetten haben. Wo sie
kreisrund sind, meinte man Schuppchen und
Blättchen, sogar Münzen von Gold, wo sich ihnen
Markasit infiltriert hatte, Erze in ihnen zu sehen
(lo, S. 194, 217). Metall- und Erzproben konnten
nur im Boden entstehen, und damit meinte man
festgestellt zu haben, daß der Ursprung des Bern-
steins nur dort gewesen sein könne.
Weiteres Beweismaterial dafür, daß Bernstein
nicht durch ausgeschwitztes Erdharz oder flüssiges
Erdöl gebildet wurde, liefern die unzähligen Tropf-
stücke, sowie die zapfenförmigen und schlaubigen
Stücke; sie verlangen zu ihrer Entstehung, daß
das Material, das sie bildete, sich — hängend oder
aus einer Unterlage fließend — von oben nach
unten bewegte. Die Möglichkeit zu derartigen
Bildungen liegt in der Erde nicht vor.
Später hat Linne in seiner „Reise durch
Schonen" (6 II, S. 256) die Möglichkeit der Ent-
stehung des Bernsteins aus Harz angedeutet, doch
erst der Russe Lomonossow konnte in einer
zu Petersburg vor der Akademie gehaltenen Rede
(1757) klar und überzeugend zum Ausdruck bringen,
daß Bernstein allein als fossiles Harz aufgefaßt
werden könne. Erst hiermit kam es zu einem
abermaligen Umschwung in der Auffassung von
der Entstehung des Bernsteins, zurück zu der, wie
sie vor fast 2 Jahrtausenden bereits von den Alten
zum Ausdruck gebracht war. Auch hinsichtlich der
Mutterpflanze kehrte man schließlich zu der An-
nahme des Plinius zurück, daß Nadelhölzer allein
in Frage kämen, nachdem man vorher an Eichen,
Erlen, Ölbäume, Palmen, Pappeln, Weiden, Rham -
n US- Arten und andere Gewächse gedacht hatte.
Die Heimat des Bernsteins suchte man in
Norwegen, Schweden, auf f)land, Gotland und
anderen Inseln; man nahm sogar an, daß seine
Mutterpflanze noch gedeihe. Dieser Auffassung
war mit dem Zweifel zu begegnen, ob die Nadel-
hölzer an den nördlichen Gestaden so viel Harz
auszuschwitzen vermöchten, als von der preußischen
See ausgeworfen würde. Ebensowenig war zu
verstehen, wie der schwedische Bernstein in die
Berge und über das ganze Land gekommen sei
(6, S. 256). Auch Preußen, besonders das Sam-
land, und unsere Ufer hat man als Entstehungs-
stätte des Bernsteins angesprochen. Dort wo man
keine Wälder fand , wies man sie aus früherer
Zeit nach und gab auch den Grund für ihr Ver-
schwinden an. Diesen Annahmen gegenüber
sprachen sich Bock und John dahin aus, daß
solche Wälder nur in der Einbildung beständen,
daß Bernstein nicht überall dort gebildet werde,
wo Nadelhölzer am Meeresufer gediehen, daß er
aus Pflanzen hervorgegangen, die nicht mehr
existierten, und daß seine Entstehung in die älteste
Zeit zurückzuverlegen sei (6 II, S. 256, 257, 282,
283, 295, 256; 14, S. 159).
Vergleicht man den Charakter der Wälder
allein in verschiedenen Teilen Deutschlands, so
findet man, daß in den einen ein bestimmtes
Nadelholz vorherrscht, in anderen je nach den
äußeren Umständen wieder ein anderes; auch der
Bernsteinwald muß eine örtliche Verbreitung ge-
habt haben. Sein Boden bestand viele Jahrtausende
hindurch, und sein durch Krankheitserscheinungen
gesteigerter Harzerguß häufte von zahlreichen
Baumgenerationen große Massen künftigen Bern-
steins an. Er versank im Laufe der Zeit in die
Fluten des Meeres und setzte während der Tertiär-
zeit aus seinen Bestandteilen und den Harzmassen
die Bernsteinerde ab.
Die Lage des Bernsteinwaldes hat man fest-
zulegen versucht. Nach Berendt und Klebs
grünte er auf einem Festland, das sich südlich von
Skandinavien etwa bis zum 55" nördlicher Breite
hinzog und auch über das Gebiet der heutigen
Ostsee erstreckte; teilweise lag er nördlich vom
heutigen Samland. — Die hauptsächlichste Ab-
lagerungsslelle für die Trümmer dieses Waldes
ist die Blaue Erde des Samiandes, und dieses hat
lange Zeit für die einzige Stätte gegolten, an der
Bernstein auf primärer Lagerstätte abgesetzt war.
Später konnte man die Tatsache feststellen, daß
der nordische Bernstein sehr weit verbreitet ist,
vorzugsweise in den Ländern, die der Ost- und
auch der Nordsee benachbart sind; dabei gilt
Norfolk in England als Westgrenze überhaupt,
die Ostgrenze liegt nahe am Ural bei Kaltsche-
dansk unweit Kamensk. .Auf Jütland und fast
allen dänischen Inseln, einschließlich Bornholm,
findet er sich im Diluvium, ferner kommt er auch
in den schwedischen Provinzen Schonen und
Halland, sowie auf der Insel Öland vor. Man hat
ihn also wunderbarer Weise später dort antreffen
können, wo man früher seine Heimat vermutete.
Die weite Verbreitung und das massenhafte
Vorkommen in manchen Gegenden lassen sich
nicht allein durch einen längeren oder kürzeren
Transport während der Eiszeit erklären, obgleich
an mehreren Stücken deutliche Spuren einer solchen
Wanderung in Form von Schrammen zu erkennen
N. F. XXI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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sind. Man muß annehmen , daß die bernstein-
führenden Schichten früher eine größere Ver-
breitung hatten. Grünsandschollen mit Bernstein,
Grünsande, die nach ihrer Beschaffenheit mit dem
Material des samländischen Oligocäns durchaus
übereinstimmen, Anhäufungen von Bernstein an
verschiedenen Orten in zentnerschweren Massen
weisen darauf hin, daß sie einer Ablagerung ihren
Ursprung verdanken, die nicht weit von ihrem
Fundorte entfernt lag (9, S. 175, 176; 17, S. 41).
Von den ursprünglichen Ablagerungen zur Tertiär-
zeit sind später vom Inlandeise während des
Diluviums mächtige Schollen aufgenommen, ver-
schleppt und in die Grundmoräne übergegangen,
aus der sie stellenweise hervorragen. Sie und
zerstörte Schichten des vordiluvialen Untergrundes
liegen dort vor, wo man mit Vorteil mittels
Gruben Bernstein erbeutet. — Unteroligocäne
Bildungen finden sich nahe bei Danzig in Nenkau
und Schüddelkau (30, S. 42).
Aus dem Gebiete der Pommerellischen Herzöge
wissen wir, daß bereits vor der Ankunft des
Ordens in Preußen eine Art Bernsteinregal aus-
gebildet war. Sie erkannten, daß die Nachfrage
nach ihm größer war als sein Bestand, und daß
er damit ein bedeutender Handelsgegenstand
werden würde. Deshalb verliehen sie an einzelne
Untertanen das Recht des Bernsteinsammeins,
während sie für sich selbst das Recht des Kaufs
des gewonnenen Bernsteins ausbedungen hatten.
Es waren das die ältesten F'ormen des Regals und
Monopols, die sich mit geringen Abweichungen
bis in die jüngste Zeit erhalten haben. — Die
Schenkungsurkunde Conrads von Masovien (1230)
und die kulmische Handfeste erwähnen Bernstein
nicht, dagegen führen sie Gold und Silber, jede
Art Erz oder Metalle und Edelsteine auf. Es war
dem Orden, bevor er an die Eroberung Preußens
ging, ohne Zweifel ganz unbekannt, ob sich im
Lande Metalle auffinden ließen oder Bergwerke
anzulegen seien. Er hatte sich deshalb von
Kaiser Friedrich II. das Bergwerksrecht erteilen
lassen und machte Kraft dieser kaiserlichen Ver-
leihung in der Kulmer Handfeste die Auffindung
der Metalle und Bergwerke als sein Regal geltend.
Wo irgendwelche Funde an Metallen gemacht
wurden, betrachtete der Orden deren Gewinn als
sein gutes Recht. Deshalb behielten sich auch
die Ordensgebietiger sowohl wie die Bischöfe in
ländlichen Verschreibungen die Auffindung aller
Metalle immer ausschließlich als Regal vor (34,
S. 629). Die Eroberung der einzelnen Gaue des
neuen Landes nahm vorläufig die ganze Tätigkeit
des Ordens in Anspruch. Doch gleich nach der
Erwerbung des Samlandes trat er in gleicher
Weise, wie früher die Pommerellischen Herzöge,
das Sammelrecht an einzelne seiner Untertanen
ab, zuerst 1264 an den Bischof von Samland;
13 12 kam das Vorkaufsrecht des Ordens hinzu. —
Eigentümlich ist es, daß auch in den Schenkungs-,
Verkaufs- und Verleihungsurkunden Pommerellens
von den Herzögen Mestwin und Sambor von
Pommern und Markgraf Waldemar von Brandeif-
bürg aus der Zeit von 1266 — 13 10 der Bernstein
nirgends ausdrücklich erwähnt wird. Man sicherte
sich freilich die Bodenschätze, indem man sie aus-
drücklich in solche unterschied, die über oder
unter der Erde und im Wasser gefunden würden,
und in solche, die jetzt oder in Zukunft gefunden
würden (21, S. 176, 274, 282, 308, 353, 372, 373,
388, 603).
Die Geschichte des Bernsteinregals in Preußen
ist von W. von Brünneck, H. L. Elditt
und W. Tesdorpf behandelt worden. Auf das
große Gebiet irgendwie näher einzugehen, ist hier
nicht möglich. Soweit Beziehungen zu Danzig vor-
liegen, sei erwähnt, daß Markgraf Albrecht 15 18
mit Kauf leuten aus Königsberg, Danzig und Lübeck
einen Vertrag abschloß, der von den Lieferungen
des rohen Bernsteins an sie handelte (12, S. 585).
Bemerkenswerter ist ferner der Kontrakt mit den
Kaufleuten Jasky in Danzig und Genossen, der
vom 18. Dez. 1533 bis zum 21. Febr. 1647 dauerte
(12, S. 586—592). — Bei seinem Abschluß hatte
man sich gedacht, daß er ewig währen sollte,
doch stellten sich bald Schwierigkeiten heraus.
Als nämlich die Ausbreitung der Reformation
durch den verminderten Absatz des sog. geringen
Steins zu Räucherwerk und zu Rosenkränzen die
Pächter schädigte, scheinen sie trotz ihres Pfandes
von 1000 Mark den Vertrag gekündigt zu haben.
Der Markgraf schloß darauf einen anderen, setzte
die Preise fest und versprach, daß diese fallen
sollten, wenn die Kauflust noch mehr abnähme.
Es war aber nicht vorgesehen, daß die Pächter
eine größere Summe zu zahlen hätten, wenn der
Bernstein im Preise stiege. Diese Unvorsichtigkeit
rächte sich, als die in Peru entdeckten Silber-
Minen Europa mit diesem Edelmetall überschütteten
und dadurch den Wert des Geldes und die Preise
der Waren sich änderten. Schließlich konnten
die Unkosten der Verwaltung kaum gedeckt
werden, und Markgraf Georg Friedrich behielt
deshalb zuerst den groben, dann allen Bernstein
zurück, um ihn an den Meistbietenden zu verkaufen.
Die Jasken hatten aber vorsichtigerweise ihren
Kontrakt vom König von Polen bestätigen lassen
und kamen mit großer Beschwerde bei ihm ein.
Von dem Kontrakt wollten sie nicht zurücktreten,
da sie im Voraus bezahlt hatten und wegen ihres
Bernsteinhandels, den sie bis in die Türkei, Persien
und sogar bis Indien ausgebreitet und mit großen
Kosten in vielen Städten eingerichtet hatten. Es
kam zu einer neuen Vereinbarung, doch auch
diese brachte nicht den gewünschten Vorteil für
die Preußischen Fürsten. Der oft erwähnte Kon-
trakt war Schuld daran, daß die Einnahmen sich
von Jahr zu Jahr verschlechterten; in einigen
Jahren überstiegen die Verwaltungskosten sogar
die Einnahmen. Endlich gelang es dem Großen
Kurfürsten unter Zahlung von 40000 Talern ihn
zu lösen. Später kam es unter seiner Regierung
bereits zu einem Kontrakt mit den Bernsteindrehern ■
in Danzig, die während der Zeit des Pachtvertrages
94
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 7
mit den Jaskis von diesen ständig und hart ge-
drückt waren. —
Früh setzte auch das Suchen nach der Heimat
des Bernsteins ein. Die alte, von vielen Dichtern
behandelte Fabel von Phaeton, der den Wagen
mit den Sonnenrossen seines Vaters nicht zu
lenken vermag und, von Jupiter mit dem Blitz
erschlagen, in den Eridanus geschleudert wird,
bot einen geeigneten Ausgangspunkt für Mut-
maßungen der verschiedensten Art. IVIan hoffte
den Ort ausfindig zu machen, wo die in Bäume
verwandelten Nymphen den Tod ihres Bruders
beweinten und Tränen aus Bernstein in den Fluß
fallen ließen.
Woher der Name dieses Flusses stammt, ist
unbekannt. Vielleicht handelt es sich um eine
phönizische und karthagische Bezeichnung, die
übersetzt wurde. Als die Griechen sich mit ihrer
Schiffahrt noch in den Anfängen befanden
und sie nur in dem östlichen Teil des Mittel-
ländischen Meeres betrieben, vermuteten sie den
Eridanus im Westen, wohin die Schiffe der unter-
nehmungslustigen östlichen Völker fuhren. Zuerst
sah man ihn hauptsächlich im Po, dann im Rhone-
strom. Hierher kam der Bernstein auf Handelsstraßen
längs der größeren Flußläufe von Norden her.
Später waren auch andere Gegenden im Norden
des östlichen Miitelmeeres Ausmündungsstellen
solcher Handelsstraßen (i6, S. 17, 18), auf denen
Güter von Volk zu Volk südwärts weitergegeben
wurden. Als man am Mittelmeer vergeblich nach
Bernsteinbäumen Umschau gehalten hatte, die
Griechen ihre Fahrten über das ganze Gebiet
dieses Gewässers erstreckten und Carthager und
Massilier sich über die Säulen des Herkules hinaus-
wagten, verlegte man den rätselhaften Fluß in
die nördlichen Teile von Europa. Von dem Eri-
danus bei Athen um den ganzen Erdteil herum
bis zur Düna hat man nach ihm gesucht. • — Was
von der Geheimnistuerei phönizischer Seefahrer
erzählt wird , ist nur mit Vorsicht zu glauben ;
wahrscheinlich ist mit dem Namen gar keine be-
stimmte Stelle gemeint, sondern nur ein Ort, an
dem man je nach den Verhältnissen die Ware
gewinnen konnte und dessen Bezeichnung sich
auch auf andere weitererbte.
Mehr Glück hatte man beim Suchen der
gläßarischen Inseln oder Elektriden, die Britannien
gegenüber im germanischen Meere liegen sollten.
Nach vielen Bemühungen, bei denen man nicht
davor zurückschreckte, sogar in Halbinseln diese
Inseln wiederzuerkennen, fand man sie schließlich
in denen , die sich längs der ganzen Westküste
der jütischen Halbinsel hinziehen (19, S. 9, lO).
Bei diesen Betrachlungen drängt sich immer stö-
rend die Annahme in den Weg, daß Preußen
allein das Bernsteinland sein könne; wenn seine
geographische Lage den gestellten Forderungen
nicht entsprach, so nahm man einfach an, daß sie
in früheren Zeiten eine andere gewesen sei (13,
S. 17, 18), und gab sich dem Glauben hin, daß
die Phönizier auf ihren Fahrten trotzdem bis nach
Preußen gekommen seien.
Der Begründer der historischen Erdkunde und
erste große Geograph vom alten Deutschland
Philipp Clüver (Cluverius), geb. 1 580 in Danzig,
dem ein anderes Vaterland des Bernsteins noch
nicht bekannt war, sah die Werder in der Weichsel-
mündung für die Elektriden der Alten und die
kleine Radaune bei seiner Vaterstadt für den Eri-
danus an. Die späteren stützten sich zum Teil
auf seine Angaben, während andere sie zu wider-
legen trachteten (7, S. 128, 137; 13, S. 18 — 24;
19, S. 8, 9). Tatsächlich hatte seine Theorie sehr
viel für sich : Die Werder werden im Lateinischen
als „insulae" bezeichnet, vor ihrer Eindeichung
während der Jahre 1283 — 1299 (6 1, S. 418. 419)
bildeten sie ein „aestuarium", d. i. ein flaches Ge-
lände, das zeitweise überspült wurde, dann wieder
trocken lag; hier fand das Sinken und Steigen des
Wassers freilich nicht täglich, sondern nur im
Wechsel der Jahreszeiten statt. Hatte man bereits
in der Weichsel den Eridanus vermutet, so lag
es nahe, durch die Übereinstimmung in den Na-
men Eridanus und Radaune eine Bestätigung für
die Annahme zu sehen. Sicher haben die Fund-
stellen für Bernstein gerade an der Mündung der
Weichsel dazu beigetragen, in ihr und ihren Zu-
flüssen den Bernsteinstrom der Fabel zu sehen.
Man konnte vermuten, daß der Strom das kost-
bare Material der See zuführte, die es dann an
den Strand warf. Daß aber die Weichsel Bern-
stein mit sich führt, wird von verschiedenen Schrift-
stellern angegeben, so von Hartmann 1677
(13, S. 26), Biörn 1803 (5, S. 32) und Aycke
1835 (3, S. 12). Als Ort seiner Herkunft wird
Polen genannt; doch auch das linke Stromufer
könnte ihn geliefert haben, wo er reichlich im
Boden verteilt ist und darauf hinweist, daß im
nordwestlichen Teil Westpreußens tertiäre bernstein-
führende Bildungen vorhanden gewesen sind oder
noch vorhanden sein müssen. Durch die Diluvial-
gletscher sind ungeheure Mengen von Tertiär auf-
gewühlt, den Moränen einverleibt und durch die
Schmelzwasser fortgeführt. Bernstein ist deshalb
durch das ganze norddeutsche Diluvium verbreitet
und kann überall in kleinen Mengen angetroffen
werden.
Noch ein anderer Danziger, der Sekretär des
Rates Reinhold Curicke, versuchte in seiner
Chronik (1687; S. 3, 34, 35) den Ruhm seiner
Vaterstadt auf griechische und römische Schrift-
steller zurückzuführen; wie Clüver in der Ra-
daune, so wollte er in der Weichsel und der Ra-
daune den Eridanus der Alten wiedererkennen.
Einen Schritt weiter ging der Danziger Schöppen-
meister Joh. Uphagen. Er griff die Fabel von
der Fahrt der Phönizier bis nach Preußen auf und
spann sie weiter aus. In seinen „Parerga historica"
(1782) spricht er mit Stolz von seiner Vaterstadt;
auch für ihn ist die Radaune zweifellos der sagen-
hafte Eridanus, und eine angebliche Kolonie der
Phönizier, Scurgon, verlegt er nach Heia. Diese
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Auffassung ist deshalb von Bedeutung;, weil sie
zeigt, daß die Bernsteininseln für ihn nicht mehr
in den künstlich umhegten Weichsel werdern ge
sehen wurden, vielmehr in der Inselreihe, in welche
die Halbinsel Heia wiederholt auf kurze Zeit zer-
fallen ist. Durch Unterbrechungen, welche teils
die Natur bei Überspülungen (Sturmfluten) und
andererseits der Mensch hervorriefen, stellte sie
sich gelegentlich als aus mehreren Einzelinseln
zusammengesetzt dar. — Nordstürme füllen die
Durchlässe zwischen ihnen mit Wasser, bei ruhiger
See sind sie mit Sand gefüllt. Der Sandstrom,
der im Wasser an der Küste entlang läuft, und
Flugsand schließen solche Durchbrüche jedesmal
kurz nach ihrer Entstehung.
P. Sonntag führt 20 ältere Karten von Heia
an; von ihnen stellen 6 Heia als Inselreihe dar,
und von diesen weisen 4 je 5 und 2 je 6 Durch-
lässe auf. Er berichtet sogar über einen Plan, der
von Großendorf bis Putziger Heisternest 45 Unter-
brechungen aufweist und aus dem Jahre 1694
stammt (19, S. 17; 29, S. 36, 37, 39, 40 ; 3i,S. I2b*).
Es ist wohl anzunehmen, daß die Teilstücke, die
sich bei Nordwinden immer wieder zeigen, bei
Uphagen den Gedanken wachriefen, in ihnen
lägen die Elektriden vor.
Der Elbinger Arzt Nath. Sendel vertritt
ebenfalls die Meinung, daß Preußen das alte Bern-
steinland sei. Aus seinen Schriften zeigt sich, daß
•er noch vollständig unter dem Banne der Auto-
rität von Albertus Magnus steht, der die
Entstehung des Bernsteins unter der Erde sich
abspielen läßt. —
In dem Zeitraum seit den ältesten Zeiten bis
zum Einfall der Sarazenen in Europa (642) haben
mehr als 33 Schriftsteller über die Entstehung
dieses Minerals Angaben gemacht. Von ihnen
sind 25 für seine Herkunft aus dem Pflanzenreich,
3 aus dem Tierreiche; 5 lassen ihn auf andere
Weise gebildet werden: aus dem Meeresschaum,
durch Einwirkung der Sonne auf das Meer oder
dessen Schlamm oder als ein Produkt der Erde
(Plato). Die Auffassung von seiner vegetativen
Natur überwiegt also die anderen um mehr als
das Dreifache.
Im Jahre 1563 sprach Albertus Magnus
in seinem Werke „De rebus mineralibus et rebus
metallicis" die Ansicht aus, daß das Succinum
eine Art Gagat oder Katabre sei. Es werde an
das Meeresufer Libiens oder Britanniens und Teu-
toniens angespült; vorzugsweise finde er sich in
England. Diese Meinung des großen Gelehrten,
daß Bernstein eine Art Gagat sei, wurde für die
Folge herrschend; sie gab u. a. zu dem Glauben
Veranlassung, daß es auch schwarzen Bernstein
gebe (14, S. 45, 46, 188, 199). — Bis zur Rede
des Mineralogen Lomonossow im Jahre 1757
und Bocks eingehenden „Versuch einer kurzen
Naturgeschichte des preußischen Bernsteins und
einer neuen wahrscheinlichen Erklärung seines
Ursprungs" im Jahre 1767, die überzeugend für
die Herkunft des Bernsteins aus dem Pflanzen-
reiche eintraten , zähle ich 48 weitere Arbeiten,
die Angaben über seinen Ursprung machen. Der
Persönlichkeit des Albertus Magnus ist es
wohl zuzuschreiben, daß sich seit dem Mauren-
einfall nur 13 Schriftsteller für den vegetativen,
dagegen 29 für den fossilen Ursprung entscheiden,
während die 6 anderen ihn aus dem Meeres-
schaum, der Fettigkeit der See, aus dem Schaum
von Walen und Seehunden, in Fischen und aus
dem Honig entstehen lassen. Sieht man von
diesen zuletzt genannten vereinzelten Hypothesen
ab, so findet man, daß die Zahl der Anhänger
einer mineralogischen Entstehungsart um das
Doppelte die für eine pflanzliche überwiegt.
Sendel kam durch eigenartige Umstände
dazu, von seiner ursprünglichen Auffassung abzu-
weichen. Er wurde mit der Beschreibung der
großen Bernsteiijsammlung betraut, die August
der Starke im Dresdner „Grünen Gewölbe" auf-
bewahrte, und die später ein Raub der Flammen
wurde. In seinem berühmten Werke „Historia
succinorum Corpora aliena involventium" beschreibt
er sie nach dem Stande des damaligen Wissens
(1742) und bildet viele Stücke ab (17. S. 48; 18,
S. 218). Für uns ist es von besonderem Inter-
esse, daß die Sammlung wohl ausschließlich aus
Danziger Erwerbungen hervorgegangen ist und
daß Sendel sich bei der Abfassung seines Werkes
vielfach mit Danziger Gelehrten in Verbindung
setzte und auf ihre Ansichten Bezug nahm.
Der Orden hatte das Verbot erlassen, daß kein
Bernsteindreher oder Ankäufer sich am Strande
blicken lassen dürfe; dieses wurde später auf alle
herumziehenden Geweibetreibenden, ja sogar auf
Spaziergänger ohne Paß ausgedehnt und mit
Strafen belegt. Um Diebstahl und Betrügereien
zu unterbinden, suchten der Orden und die ersten
deutschen Herzöge die Bernsteinzünfte möglichst
weit vom Fundorte des Materials fern zu hallen.
Es ist deshalb kein bloßer Zufall, wenn sie erst
langsam mit der Zeit von Westen nach Osten
vorrückten. Von der ältesten in Brügge schritt
ihre Entstehung über Lübeck weiter nach Siolp,
Kolberg, Danzig, Elbing nach Königsberg. —
Erst nach dem Niedergang der Blüte des Ordens
ertrotzte die Stadt Danzig etwa um 1477 sich das
Recht, eine eigene Bernsteindreherzunft zu haben.
In Königsberg wurde erst etwa 200 Jahre später,
1641 , eine solche vom Großen Kurfürsten ins
Leben gerufen. Trotzdem nahe bei Königsberg
das eigentliche Bernsteinland ist und trotz seiner
Universität trat es erst später in den Vordergrund
(33. S. 9, 21, 23, 24, 35, 36). Danzig besaß in
früherer Zeit außerdem dadurch hohe Bedeutung,
daß es eine Zeillang Vorort für die Zünfte Stolp,
Kolberg und Elbing war.
Als Sendel das Dresdener Bernsteinkabinett
beschrieb, ließ er sich besonders von dem Dan-
ziger Stadtsekretär Klein teils Originalstücke,
teils Zeichnungen nach Dresden schicken. Ferner
benutzte er Stücke von verschiedenen anderen
Danziger und von Königsberger Naturforschern.
96
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXL Nr. 7
Die seinem Werke auf Tafeln beigegebenen Kupfer-
stiche stellen die seltensten Stücke aus dem
Dresdener Schatz in natürlicher Größe dar; die
Zeichnungen für sie stammen von der Hand eines
Danziger Schulmanns (6 II, S. 630 — 632). — Wie
sehr er davon überzeugt ist, daß das Material zu
seiner Arbeit am Strande Preußens oder bei
Danzig selbst entstanden ist, geht aus verschie-
denen Angaben, besonders solchen für die Pflanzen,
hervor. Diese konnten — wie er meint — nur
dann eingeschlossen werden, wenn sie in größter
Nähe des Meeres, zum wenigsten auf preußischem
Boden gedeihen; fremdländische oder auch nur
wenig vom Ufer entfernte seien nur selten einge-
schlossen gefunden; sie müssen von den Wogen
ans Ufer geworfen oder von heftig wehenden
Winden aus der Nähe herangetrieben sein. Dabei
sei es nicht immer notwendig, daß die weiche
Bernsteinmasse auf sie falle; die Pflanzenteile
könnten auch auf sie hinaufgeweht und von neu
hinzukommender Substanz eingebettet werden. —
Bei den eingeschlossenen Pflanzenresten ist von
Buchsbaum die Rede, der in Preußen häufig vor-
kommt, von Coronilla herbacea, die in den Hecken
oft angetroffen wird (satis familiaris), oder von
Onobrychis secunda, die auch in Preußen daheim
sei. In einem anderen Stück sieht er ein Laser-
kraut {LaserpUium dancoldcs pniloüctini), das
von seinem Mitarbeiter, dem Arzte Dr. Joh.
Philipp Breyn in Danzig, zuerst beschrieben
wurde und bei dem Dorfe Zoppot, in der Nähe
von Danzig, vorkommen sollte. Einen anderen
Einschluß hielt er mit Klein für einen Rest des
am Ufer gedeihenden Mauerpfeffers (28).
Wie früher bereits Hartmann hielt Sende 1
den Bernstein und das oft mit ihm zusammen
auftretende fossile Holz für mineralischen Ursprungs
und glaubte, daß es noch jetzt wie von Anfang
der Welt an entstehe. Gebildet sollte der Bern-
stein werden aus Vitriol, Schwefel und Erdharzen,
wie sie in Gängen und Klüften der Erde vorhan-
den seien ; den Anstoß zu seiner Bildung sollten
feine Dünste, Geister, Rauch und Ausdünstungen
geben, die, von der Luft oder den Sonnenstrahlen
in Bewegung gesetzt, sich mit dem Samen ver-
dichteten, der zur Bildung erforderlich und in der
Erde enthalten sei. — Statt der früher geäußerten
Auffassung, daß Insekten in die Erde kriechen
müßten, um vom Bernstein umhüllt zu werden,
äußert Sendel sich bereits dahin, daß sie — wie
auch Pflanzen und ihre Teile — in zutage tretende
harzige Adern geweht wurden. Hatte er durch
diese Annahme den Gegensatz und die Schwierig-
keit beseitigt, der bisher zwischen der Bildung
von Tier- und Pflanzeninklusen bestand , so
machte ihm nun die Bildung der Tropfen und
Schlauben des Bernsteins weitere Mühe. Um
sie zu deuten, mußte er annehmen, daß eine
Bewegung der Bernsteinsubstanz von oben nach
unten möglich sei, und, um ihre ungehemmte
Ausbildung zu erklären, daß die Berge, in denen
sie entstanden, durch Risse geborsten seien. Diese
Annahmen sind um so interessanter, als sie in der
Zeit eines Lomonossow (1727) gemacht wur-
den und es nur noch eines kleinen Schrittes be-
durfte, um zur Auffassung der Alten zurückzu-
kehren. Der an einem Nadelbaum hernieder-
fließende und tropfende Balsam bot bequem die
Möglichkeit, alle Fragen zu beantworten, die sich
auf die Bildung von tierischen und pflanzlichen
Einschlüssen, von Tropfen und schlaubigen Flüssen
bezogen.
Im Jahre 1803 brachte der Königl. preuß.
Kammer - Kommissionsrat und Oberplantagen-
Inspektor Sören Biörn in Danzig ejne weitere
Erklärung für die Entstehung des Bernsteins, die
von Wäldern mit Nadelbäumen ihren Ausgang
nahm. Von der See aus stieg nach ihm bis zu
den Gebirgsketten der Karpathen das Land lang-
sam empor. Frühzeitig bedeckten sich die oberen
Teile mit Waldungen, vorzugsweise mit Nadel-
hölzern; von ihnen wurden ganze Strecken zu
Siedelungszwecken und aus anderen Gründen
niedergebrannt. Dabei träufelte sehr viel Harz
aus den Bäumen; die zur Ostsee führenden Ge-
wässer, die noch keine eingeengten Flußbetten
hatten , rissen Waldboden und Bäume mit Harz
zeitweise los und führten das letztere mit sich
fort. In der See wurde es von dem aufgewühlten
Sande verschüttet und von heftigen Stürmen mit
dem zerbröckelten Holz an die Küste geworfen,
bei umspringendem Wind aber wieder fortgeführt.
So gelangte es mit Holz, Erde und Sand in
früheren Zeiten durch die Mündungen der Flüsse
in die damals mehr landeinwärts gelegenen
Meeresbuchten der Ostsee. Die Ströme, die vor-
zugsweise in Frage kommen, „fließen bei Danzig
herab, nämlich die Weichsel, und die sich kurz
vor dem Ausflusse derselben darin ergießende
Radaune (der sog. Eridanus)" (5, S. 52).
Auf diese Weise erklärt Biörn die Bildungs-
möglichkeit des Seebernsteins und des gegrabenen
Steins. Da er nach Überschwemmungen an den
Ufern Stücke von diesem Material gefunden hat,
ist für ihn die Richtigkeit seiner Annahme be-
wiesen. Interessant ist es, wie er der Schwierig-
keit ausweicht, das Fehlen der Stämme von den
Bernsteinbäumen zu erklären. Er läßt sie an
ihrem Entstehungsoft verbrennen , den Rest der
See zuführen und hier durch die Brandung zer-
bröckeln. Die schwarze Farbe der ausgeworfenen
Holzstücke stützt seine Auffassung. Durch den
Waldbrand vermag er ferner zu erklären, wie es
möglich war, daß Bernsteinstücke von oft so er-
heblicher Größe entstanden, wie sie heute aus
Harz in unseren Waldungen nicht angetroffen
werden. Aus „historisch- geographischen" Gründen
spricht sich bereits Joh. Gottfr. Haße in den
letzten Jahren des i8. Jahrhunderts für die Mit-
wirkung von Bränden aus ; ausschlaggebend war
für ihn freilich die Phaeton-Sage, nach der der
Sonnen wagen den Erdkreis in Flammen setzte.
13 Jahre nach Biörn veröffentlichte der Le
gationsrat von Struve in Leonhards Jahrbuch
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'^7
(14, S. 122, 123) eine weitere Ansicht über die
Entstehungsart des Bernsteins. Er lebte in Danzig
und wandte hier der Entstehungsart des Natur-
körpers sein Interesse zu. In Anlehnung an die
Auffassung des Jenenser Professors John war er
der Meinung, daß Bernstein aus Tannenharz ent-
stehe; es war ihm das hinreichend dadurch er-
wiesen , daß in ihm „Tannenzapfen und Tannen-
haar" gefunden würden. — Seine Theorie knüpft
an die großen Waldungen von Tannen an , die
sich am Danziger Strande fänden. Das Harz aus
ihnen bahne sich mittels seiner Schwere auf den
schwach geneigten Ufergelände seinen Weg ins
Meer. Diese Bewegung gehe besonders im Som-
mer gut von statten, wenn der Sand heiß und
deshalb trocken sei. Gelangte er ins Meer, so forme
er sich dort nach verschiedenen Zufälligkeiten
und erhalte unter der Wirkung des reibenden
Sandes mit der Zeit seine Glätte, bleibe er unter-
wegs hängen, so erhalte er im Boden eine Kruste.
Es ist von S t r u V e entgegnet, daß dieser Auf-
fassung verschiedenes entgegengehalten werden
könne, u. a., daß der Bernstein sich noch heute
auf diesem Wege erzeugen müsse, wie er es vor
langen Zeiten getan hätte. Entstände er aber
noch heute so , dann müßten sich an ihm alle
möglichen Übergänge nachweisen lassen, von der
Weichheit des ausgeflossenen Harzes bis zur
Härte des fertigen Bernsteins. — Dieser Einwurf
ist unberechtigt, wenn man daran denkt, daß in
früheren Zeiten das Vorhandensein von weichem
Bernstein mit Sicherheit angenommen wurde.
Sendel widmet ihm in seiner 2. Abhandlung
(missus secundus) eine eingehende Besprechung,
als er die ursprünglich weiche Beschaffenheit
des Bernsteins beleuchtet (27, S. i — 20). Er
berichtet, daß er ihn häufig genau betrachtet und
verschiedene Grade der Härte an ihm wahrge-
nommen habe. Auch John behandelt den flüssi-
gen und teigigen Bernstein eingehend (14, S. 268
bis 278) und gibt gleiche Resultate, ebenso Bock
(6 II, S. 187 — 195). Nach ihm kann man an ein
und demselben größeren Stück verschiedene Härte-
stufen wahrnehmen (6 II, S. 192, 193). Eine Er-
klärung hierfür ergibt sich durch die Betrachtung,
daß mit dem Fortschreiten der Verwitterung die
Härte zunimmt; selbstverständlich ist hierbei von
keinem Mineral teigiger Beschaffenheit die Rede.
Auch Pfannenschmidt in Danzig gibt noch
vor 30 Jahren an, daß hin und wieder unter dem
Bernstein Stücke gefunden wurden, die eine ziem-
lich weiche, fast gummiartig elastische Beschaffen-
heit besäßen, während ihre chemische Beschaffen-
heit der des Edelharzes sehr nahe käme (22, S. 67).
Kopal- und Harzstücke werden nun aber am
Ufer, besonders an Strommündungen öfter auf-
gelesen und als Bernstein angesehen ; sie stammen
wohl aus Schiffsladungen her. Auch Bock weiß
von derartig kolophonähnlicher Substanz zu be-
richten (611, S. 258, 259).
Die ersten Mitteilungen von solchem weichen
Bernstein sind recht alt. Von dem ersten Bern-
steinherrn, der an der Küste für den Orden die
Aufsicht über den Stein führte, Hermann von
Arsenberg, wird erzählt, daß er in der Zeit,
als Herzog Luderus von Braunschweig
Hochmeister war, einen Versuch mit solchem
weichen Material anstellte. Er drückte einen
Zettel mit näheren Angaben hinein und warf es
wieder in die See. Das Stück soll, wie die Fabel
erzählt, im Jahre 1498, zu vollkommenem Bern-
stein erhärtet, wieder aufgefischt sein (12, S. 579).
— Wie sehr man sich mit dieser Angelegenheit
beschäftigte, geht aus einer anderen Legende her-
vor, in der man die weiche Harzmasse mit dem
Danziger Sternkundigen Hevelius in Beziehung
bringt. Am Strande zwischen Danzig und Königs-
berg soll er ein wachsweiches Stück Bernstein
gefunden und seinen Siegelring darin abgedrückt
haben. Das Stück diente ihm später als Beweis-
stück dafür, daß der Stoff des Bernsteins ehemals
weich gewesen sei; dann soll das Stück nach
England geschickt und dort Neugierigen als große
Seltenheit gezeigt worden sein (24, S. 177). —
Von größerer Bedeutung ist eine Notiz, nach der
eine Gesellschaft junger Leute von Danzig nach
Heia fuhr und unterwegs neben ihrem Boote eine
klebrige Masse schwimmend fand, die für weichen
Bernstein gehalten wurde (6 II, S. 192). Von be-
sonderem Interesse hierbei ist der Umstand, daß
der angetroffene Körper schwamm , also ein ge-
ringeres spez. Gewicht als das Meerwasser hatte.
In dieser Hinsicht würde er mit dem sog. unreifen
Bernstein übereinstimmen, der von G. Berendt
und H. Spirgatis (4; 32) untersucht und als
gleich mit der als Krantzit bezeichneten Bernstein-
art ermittelt wurde.
Über die Entstehung unseres Edelharzes be-
richtet im Jahre 1835 auch Aycke in seinen
„F'ragmenten zur Naturgeschichte des Bernsteins",
nachdem er 14 Jahre vorher die Pacht des Bern-
steinsammelns am Danziger Seestrande übernom-
men und eine reiche Sammlung von typischem
Belegmaterial zusammengebracht hatte. Er knüpft
an die Beobachtung der Landleute und Bernstein-
gräber an, daß Nester von Bernstein unter den
Wurzeln umgerissener Fichtenstämme angetroffen
sein sollen. Er selbst hat an ausgegrabenen
Wurzelstöcken und in den Gruben, aus denen
sie geholt waren, Bernstein nicht wahrnehmen
können, dagegen aus anderen Gruben des Berna-
dower Forstbezirks, unweit Gr. Katz bei Danzig,
Bernsteinnester mit Wurzelfasern erhalten, ohne
ihre Abstammung erkennen zu können. — Nach
Phil. Jac. Hartmann berichtet Agricola
von ähnlichen Bildungen aus der Nähe des Klosters
Oliva ; er bezeichnet das Material der Stücke frei-
lich als Bitumen (13, S. 39, 40).
In den Bernsteinwäldern sonderte sich — nach
Aycke — Stammharz ab, der Überfluß wurde
der Wurzel zugeführt. Eine Erdrevolution zer-
störte sie, wühlte ihre Wurzeln aus dem Boden
und zerstreute sie nebst Stämmen und Harz i«
dem neu aufgeschütteten Lande. Die tieferliegen-.
98
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 7
den Wurzelfasern blieben mit ihren Produkten in
dem teilweise unberührten Boden zurück, über
den sich neue Schichten ablagerten. Die fossilen
Holztrümmer und vereinzelte Bernsteinstöcke fin-
den sich deshalb nur zerstreut in den obersten
Erdschichten der jüngsten Formation und enthalten
oft Spuren ihres vegetativen Ursprungs. Wo die
Wurzeln in größerer Tiefe vorkommen, sind ,, Holz-
splitter und Insekten nie, wohl aber Wurzelreste,
festere Erdteile, Sumpfeisen und Kiesel-Konglo-
merate" (! 1) in dem fossilen Harz eingeschlossen.
Von dem gegrabenen Bernstein ist ein Teil unter
der Erde ausgeflossen und erhärtet und beim
öffnen der Grube zum erstenmal ans Tageslicht
gelangt. Man sollte annehmen dürfen, daß heftige
Winde gewöhnlich nur den Bernstein ans der
See hervorbrächten, der früher an den Stämmen
und Ästen der Bäume ausgeflossen ist oder in
ihrem Inneren sich ansammelte. Die stärksten
Stürme griffen dagegen bis in die tieferliegenden
Wurzeln und den unter ihnen liegenden Stein
herunter und brächten ihn ans Ufer (3, S. 25, 31,
32, 33, 60). Nach dieser Auffassung müßten die
Stämme der ursprünglichen Bernsteinbäume heute
noch auf dem Boden der See vorhanden sein.
Doch sind sie freilich bis heute noch nicht nach-
gewiesen worden. Schon früher ließ man sie
durch Waldbrände zugrunde gehen oder später
— sogar noch 1889 — beim Untergang des
Bernsteinwaldes ins offene Meer hinaustreiben und
verschwinden (16, S. 12), während der Bernstein
sich in der Nähe des fortgespülten Landes ab-
setzte.
Conwentz hat schließlich in seiner „Mono-
graphie der Baltischen Bernsteinbäume" (1890)
gezeigt, weshalb man die Stämme aus jenen
Wäldern der Vorwelt nicht aufzufinden vermöchte
(8, S. 143): Durch allmähliches Zusammentrocknen
entstehen im toten Holz Risse. Saprophyten be-
wirken in Gemeinschaft mit atmosphärischen
Niederschlägen und mit Wärme eine immer
stärkere Zersetzung und Zerstörung, so daß
schließlich ein Nährboden entstand, auf dem an-
dere Pflanzen zu keimen und sich zu entwickeln
vermochten. Hinzu kam die Tätigkeit von Insekten,
die das Holz annagten, ihre Gänge darin anlegten
und darin verbreiteten. Auf physikalischem und
chemischem Wege wurde die Zerstörung des
Holzes so immer weiter geführt, bis es in größere
und kleinere Teilchen zerlegt war. die mit tieri-
schen und pflanzlichen Resten den Mulm des
Waldbodens ausmachten.
Tropfte Bernsteinbalsam auf ihn hernieder, so
durchtränkte er ihn und bildete Stücke, die mit
Verunreinigungen erfüllt und deshalb wenig an-
sehnlich sind. Diese Bildung ergibt den sog.
Firniß des Handels, der nur zur Herstellung von
Lacken Verwendung findet.
Die bis hier erwähnten Schriften sind nicht
die einzigen, welche die Heimat, die Entstehung
und das Vorkommen des Bernsteins bei Danzig
behandeln ; viele andere Autoren kommen bei
der einen oder anderen Gelegenheit auf diese
Frage zu sprechen, aber die aufgeführten sind die
wichtigsten. Mit dem Jahre 1845, als Georg
Carl Berendt sein Werk über „die im Bern-
stein befindlichen organischen Reste der Vorwelt"
herauszugeben begann, hat man den einen oder
anderen bisher zweifelhaften Punkt näher beleuchtet
und manche noch vorhandene Lücke zu füllen
gewußt. Dies gelang immer mehr und in um-
fassenderem Maße, als die Phys. Ökonom. Gesell-
schaft in Königsberg wissenschaftlich zu sammeln
und auf weite Kreise anregend zu wirken begann.
In edlem Wettstreit mit Ostpreußen hat West-
preußen und besonders Danzig das Wissen vom
Bernstein weiterzuführen und abzuschließen ge-
sucht und dabei die Erkenntnis gewonnen, daß
jede gelöste Frage zu vielen weiteren Veranlassung
gibt, die der Beantwortung harren.
Beuutxte Literatur.
I. Abel, Olhenio, Die Tiere der Vorwelt. Aus Natur
und Geisteswrlt, Bd. 399; 1914.
2 Aurifaber, Andreas, Succini historia. Ein kurtzer
gründlicher Bericht, woher der Agisiein oder Börnstein vr-
sprünglich komme usw. Königsberg 1551.
3 Aycke, Joh. Chr., Fragmente zur Naturgeschichte
des Bernsteins. Danzig 1835.
4. Berendt, G., Unreifer Bernstein. Schrift, d. phys.-
ökun. Ges. zu Königsberg i. Pr,, Bd. 13, 1872, S. 133—135.
5. Biörn, Sören, Bemerkungen über die vormalige und
gegenwärtige Lage und Beschaffenheit der preufiischec und
danziger südbaltischen Ufer usw. Danzig 1803.
6. Bock, Friedrich Samuel, Versuch einer wissen-
schaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und
VVestpreuSen. Dessau; Bd. i, 1782; Bd. 2, 1783.
7. Clüver, Philipp, Germaniae antiquae libri tres.
Lugduni Batavorum 1616.
8 Conwentz, H., Monographie der Baltischen Bern-
steinbäume. Danzig 1890.
9. Conwentz, H., Über die Verbreitung des Succinits,
besonders in Schweden und Dänemark. Schrift, d. Naturf.
Ges. in Danzig. N. F. Bd. 7, Heft 3. Danzig 1890, S. 165
bis 176.
10. Dahms,Faul, Verwitterungsvorgänge am Bernstein.
Min. Unters, über Bernstein XI. Schrift, der Naturf Ges. in
Danzig. N. F. Bd. 13, Heft 3/4. Danzig 1914, S. 175 243.
II. Dcwischeit, F., Bericht über einen Brrnsteirfund-
ort in Masuren. Preuß. Prov.-Bl. Königsberg i. Pr., Bd. 26,
184I, S. 195 - 300.
12. Elditt, H. L., Das Bernsteinregal in Preu8en. Alt-
preuß. Monatsschrift. Königsberg i. Pr., Bd. 5, 1868, S. 577
bis 611, 673— bqS; Bd. 6, 1869, S. 432—462; Bd. 8, 1871,
S. 385-426.
13. Hartiuann, Phil, jac, Succini prussici physica et
civilis hisioria etc. Francofuni 1677.
14. John, J. F., Naturgeschichte des Succins, oder des
sog. Bernsteins. I. Teil. Köln 1S16.
15. Kaunhowen, F., Der Bernstein in Ostpreußen.
Jahrb. d. Königl. Preuß. Geol. Landesanstalt für 1913, Bd. 34,
Teil 2, Heft 1. Berlin 1913, S. 1 — 80.
16. Klcbs, Richard, Aufstellung und Katalog des
Bernsteinmuseums von Stantien und Becker, Königsberg i. Pr.
Nehsl einer kurzen Geschichte des Bernsteins. Königsberg
1889.
17. Klebs, Richard, Der Bernstein und seine Bedeu-
tung für Ostpreußen. Königsberg in der Naiurforschung und
Medizin. Königsberg i. Pr. 1910, S. 38 — 52.
iS. Klebs, Richard, Über Bernsieineinscblüsse im
allgemeinen und die Colcoptcren meiner Bernsteinsammlung.
Schrift, d. phys.-ökon. Ges. zu Königsberg i. Pr. Jahrg. 51,
Heft I. Leipzig und Berlin 191 1, S. 217 — 242.
19. 1-ohmeyer, Karl, Ist Preußen das Bernsteinland
N. F. XXI. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
99
der Alten gewesen? Altpreuß. Monatsschrift Bd. 9. Königs-
berg i Pr. 1872, S. I — 17.
20. Perlbach, M., Preußische Regesten bis zum Aus-
gang des 13. Jahrhunderts. Alipreuß. Monatsschrift. — 1874,
Bd. II, S. 1—32, 97—128, 326—348, 385—432, 546—572,
609—624 und 1875, Bd. 12, S. 1—26, 97 — 144, 193 — 216,
3>9— 344. 385— 42S, 577—645. Königsberg 1876.
21. Perlbach, M. , Pommerellisches Urkundenbuch.
Danzig 1882.
22. Pf annenschrai d t, Ed., Über Bernstein usw. Mün-
chen (ohne Jahreszahl).
23. Roy, C. VV. van, Ansichten über Entstehung und
Vorkommen des Bernsleins, sowie praktische Miuheilungen über
den Werth und die Behandlung desselben als Handelswaare.
Danzig 1S40.
24. Rzaczynski, Gabr. , Historia naturalis curiosa
regni Poloniae, magniducatus Lituaniae, annexarumque provin
ciarum etc. Sandomiriae 1721.
25. Schütz, Caspar, Historia rerum prussicarum etc
Zerbst 1592.
26. Schuster, Julius, Hundert Jahre Phytopaläonto
logie in Deutschland. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 20
Nr. 21, S. 305—310.
27. Sendel, Nathan, Electrologiae per varia tenta
mina faistorica et physica cnntinuandae missus secundus etc
Elbingae 1726.
28. Sendel, Nathan, Historia soccinorum corppra
aliena involventium. Lipsiae 1742. Pars II, Cap. I, S. 264
bis 277.
29. Sonntag, P., Heia, die Frische Nehrung und das
Haff. Schliff, d. Naturf. Ges. in Danzig. N. F. Bd. 14,
Heft I. Danzig 1915, S. 32 — 59.
30. Sonntag, P. , Geologie von Westpreußen. Berlin
1919.
31. Spiegel, V., Heia. 26. und 27. Ber. des Westpr.
Bot.-zool. Vereins. Danzig 1905. S. 126* — 143*.
32. Spirgatis, H., Über die Identität des sog. unreifen
Bernsteins mit dem Krantzit. Schrift, der phys.ökon. Ges.
zu Königsberg i. Pr. Bd. 13, 1872, S. 136—137.
33. Tesdorpf, W., Gewmnung, Verarbeitung und Han-
del des Bernsteins in Preußen usw. Staatswissenschafiliche
Studien. Bd. i, Heft 6. Jena 1887.
34. Voigt, Johannes, Geschichte Preußens, von den
ältesten Zeiten bis zum Untergänge der Herrschaft des deut-
schen Ordens. Bd. 6. Königsberg 1834.
35. Wigand, Joh., Vera historia de succino bonissico
etc. Jrnae 1590.
36. Zaddach, E. G. , Beobachtungen über das Vor-
kommen des Bernsteins und die Ausdehnung des Tertiär-
gebirges in Westpreußen und Pommern. Schrift, d. Königl.
phys.-ökon. Ges. zu Königsberg, Jahrg. 10; Königsberg 1869,
S. 1-82.
Einzelberichte.
Die Ursachen der diluvialen Anischotteniiig
und Erosion.
Als Ausgangspunkt für die Untersuchungen
W. Soergels') über die Ursachen der diluvialen
Aufschotterung und Erosion wurde das im Dilu-
vium nicht vereiste Thüringen gewählt. Doch
sind die für Thüringen durch seine Untersuchungen
als gültig erwiesenen Tatsachen auch für weite
Gebiete Mittel- und Westeuropas zutreffend.
Die diluviale Aufschotterung steht als ganz
besondere, bisher kaum richtig in ihrer Bedeutung
für das Eiszeitproblem gewürdigte Erscheinung
im zeitlichen Rahmen zwischen Pliozän und Allu-
vium.
Die diluviale Aufschotterung ist eine
durchaus regionale, erstens, weil sie in großen
und kleinen Flußtälern wirksam war, nicht aber
an bestimmte, durch ihre Wasserführung oder
Talrichtung ausgezeichnete Wasserläufe gebunden
ist, zweitens im Hinblick auf ihre weite Erstrek-
kung im Talgebiete des gleichen Flusses. Regio-
nale Verbreitung und petrographische Zusammen-
setzung der diluvialen Aufschotterung beweisen nun,
daß, — man könnte zu ihrer Erklärung tektonische
und klimatische (Ab- und Zunahme der Nieder-
schläge) Ursachen heranziehen — es vor allem
klimatische Ursachen waren, die die Bildung
der diluvialen Schottermassen beherrschen. Weder
kontinentale noch orogenetische Bewegungen
können als Ursachen der Aufschotterung ange-
sehen werden. Sie ist rein klimatisch bedingt.
Das gleiche gilt für die Erosion insofern, als
ihr Einsetzen ohne Klimaänderung nicht möglich
') Verlag (iebr. Borntracger, Berlin 1921.
war, mag das Ausmaß auch durch kontinentale
Bewegungen beeinflußt sein. Während ein kal-
tes, halbarides Klima, das regional in Mittel-
und Westeuropa herrschte, die Zeiten der Auf-
schotterung kennzeichnet und ihre unbedingte
Voraussetzung ist, zeichnet ein humides die
Zeiten der Erosion aus. Im wiederholten, durch
die Schotterterrassen bewiesenen Wech-^el dieser
beiden Klimate ist zugleich der Wechsel von Eis-
zeiten und Zwischeneiszeiten zu erkennen — wie
er in anderen Gebieten als Thüringen und auf
Grund anderer Beobachtungen nachgewiesen wurde.
Wie in dem zur Diluvialzeit vergletschert ge-
wesenen Alpengebiete jeder Glazialzeit eine Auf-
schotterung der aus ihm führenden Flüsse, resp.
eine Schotterterrasse zugehört, so muß sich auch
in Thüringen die Anzahl der Eiszeiten und der
Schotterterrassen entsprechen.
Der Aufschotterungsvorgang selbst ist auf die
glazial beeinflußte und die glaziale Übergangszeit
vom interglazialen zum hochglazialen Klima im
wesentlichen beschränkt.
In den regionalen Schotterterrassen unvereister
Gebiete ist ein sehr wertvolles Mittel vorhanden,
die in diluvial vereisten Gebieten festgestellte
Reihe von Glazial- und Interglazialzeiten gegen-
seitig zu kontrollieren.
Mit der endgültigen Ausschaltung interglazialer
regionaler (lokale mögen vorhanden sein) Schotter-
terrassen, an denen die Monoglazialisten bis heute
festhallen, tritt der bedeutsame Gegensatz von
Glazial- und Interglazialzeiten von neuem in
schärferes Licht. Beiden gemeinsam ist allein
eine regionale Verwitterung; diese aber ist
in Glazialzeiten eine mechanische, in Inter-
glazialzeiten eine chemische. Neben diesem
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 7
Unterschiede in der Verwitterung tritt als ein
weiterer durchgreifender zwischen beiden Zeiten
die Gesteinsbildung ein. Es bildeten sich
in Glazialzeiten die regional verbreiteten Geschiebe-
mergel und ihre Auswaschungsprodukte, Schotter
und Löß. In den Intergiazialzeiten bildeten sich
jedoch nur lokal beschränkte Schotterlagen, Ton-
lagen, Kalktuffe und Torfmoore.
Soergel betont auf Grund seiner Unter-
suchungen besonders, daß, wenn durch Prüfung
von Tatsachen ein Fragenkomplex der Diluvial -
geologie kritisch beleuchtet wird, das Ergebnis
stets eine Verschärfung des Gegen-
satzes zwischen glazialen und inter-
glazialen Verhältnissen ist, im vollen
Widerspruche zur monoglazialistischen Auffassung.
Krenkel.
Elephas C'oluuibi Falc.
Während die diluvialen Elefanten Europas be
reits ausgiebig von verschiedenen Autoren bear-
beitet worden sind, fehlte bisher eine entsprechende
Zusammenfassung der nordamerikanischen Arten.
Einen sehr wesentlichen Beitrag in dieser Richtung
liefern die Untersuchungen W. Soergels über
Elefhas coliimbi Falconer.\) Das der Arbeit zu-
grundeliegende Material wurde 1906/07 von Doren -
berg aus einer inzwischen wohl völlig abgebauten
diluvialen Kalktuffiafel nordöstlich der Stadt P u eb 1 a
gesammelt, und befindet sich gegenwärtig im Frei-
burger Geol. Institut. Es umfaßt neben einem
wohlerhaltenen Unterkiefer ein Kieferbruchstück,
verschiedene Zähne und Zahnbruchstücke, sowie
einige Extremitätenknochen und Teile des Rumpf-
skelelts, insgesamt Reste von 8 Elefanten.
Den ersten Teil der Arbeit bildet eine sehr ein-
gehende Beschreibung der Fundstücke. Wertvoll
ist die eingehende Vermessung, deren Resultate, in
Tabellenform mit entsprechenden Maßen europäi-
scher Elefanten zusammengestellt, deutlich die Be-
ziehungen zu denselben erkennen lassen. Die Ver-
hältnisse des Metacarpale III, des Unterkiefers und
der Molaren trennen EL. coliunbi von der hysitdriciis-
indicus- und der aitti(]iiiis-^€\\\z und fügen ihn der
trogont}icrii-primige)niis-^€\\\& an. Ausgiebig wird
die Dentition der amerikanischen Art behandelt,
welche eine eigentümliche Verquickung trogon-
theroider und primigenoider Merkmale aufweist, in-
sofern als der erste Molar stark, der zweite schwach
trogontheroid, der dritte ganz primigenoid ist.
Von allgemeinerem Interesse sind die Resultate
über Stammesgeschichte und Entwicklungsmecha-
nik, denen der zweite Teil der Arbeit gewidmet
ist. Die Unterscheidung des EL coliunbi von dem
älteren El. imperator l.eidy wird auf der geringeren
Größe.größeren Lamellenzahl und dünnerem Schmelz
') Soergel, W., Elcphas Columbi Falconer. Kin Bei-
ürag zur Slammesgeschichte der Elefanten und zum Enlwick-
lungsmechanismus des Elefantengebisses. Geol. u. paläonl.
Abbandl., N.F. bd. 14, Heft 1/2, 1921, qg S. mit 15 .Abb. im
Text und 8 Tafeln. (Preis 150 M.)
basiert, doch wird eiri fließerider Übergang beideV
Arten postuliert. Das Mammut des nördlicheren
Nordamerika wird als eingewanderte eurasiatische
Form angesehen, nicht als Endform der uiiperator-
(uliivibiYLe\\\c. Diese selbst dürfte sich von El.
iiuridionalis Nesti ableiten.
Die Entstehung des Elefantengebisses wird auf
entwicklungsmechanischer Basis zu klären versucht.
Bolks Dimerentheorie wird als unwahrscheinlich
abgelehnt; ebenso wird gegen A ich eis Ansichten
die Theorie vom „mobilen Gebiß" verteidigt. Ent-
scheidend für die Genese des Elefantengebisses
war die Entwicklung der Incisiven. Durch ihre
Vergrößerung erforderten sie eine Kieferverkürzung,
und diese bedingte die Besonderheiten in Zahn-
form und Zahnwechsel. Steigender Druck führte
zu steigender Wellenzahl des Schmelzes; vielleicht
ist aber nicht gesteigerte F"altenbildung direkt
durch den Druck, sondern vielmehr stärkere Ent-
wicklung des Schmelzorganes unter dem Einfluß
des Druckreizes als bestimmend anzunehmen. Das
Vorkommen „tortuoser" Molaren besonders bei
jüngeren Elefanten {triinigcnitis, iudicns) wird als
Beleg für die unmittelbar wirkende entwicklungs-
mechanische Bedeutung des Druckes herangezogen,
dürfte aber auch in dem vom Ref. berührten
Sinne indirekter Beeinflussung ausgelegt werden
können. Die Korrelation zwischen Incisivengröße
einerseits und Molarengröße, Lamellenzahl und
Tortuosität andererseits ist mit einiger Wahrschein-
lichkeit auf ein Kausalverhältnis zurückzuführen,
bei welchem die Incisivenvergrößerung die anderen
Wandlungen veranlaßte. Weiter wird dann die Kor-
relation zwischen Incisivenvergrößerung und Milieu
betont. Ob hier auch ein Kausalverhältnis vorliegt,
mag dahingestellt bleiben. Moderne Erblichkeits-
forschung hat noch keineswegs erweisen können,
daß jede Entwicklung durchaus zwangsläufig von
vornherein vom Milieu bedingt sei, und hat fast nur
dagegen sprechende Tatsachen ergeben. Die An-
sichten über die Bestimmung der Molarenfaltung
durch die Natur der Nahrung werden ja auch vom
Verf. in diesem Sinne durch Hinweis auf das Ver-
halten der pla>iifn'/!s - hysitdricus iudicns - Reihe
bekämpft. Prell (Tübingen).
Schallgefscbwiudigkeit uud ihre Messiiug.
Wie eine dem Fizeau sehen Versuch nach-
gebildete Methode zur Messung der Schallge-
schwindigkeit in gasförmigen, flüssigen
und festen Körpern dienen kann, führte in der
letzten Sitzung des Naturwissenschaftlichen Ver-
eins in Hamburg Dr. J. Brockmüller, Ham-
burg, aus. Die von dem Vortragenden gegebenen
Darlegungen wurden erläutert durch die Demon-
stration einer Versuchsanordnung, die über die
Einzelheiten der Methode sehr gut unterrichtete.
Einleitend wurden die Beziehungen des Fizeau -
sehen Versuchs zu dem des Vortragenden er-
wähnt. Das Prinzip der Methode besteht darin:
Die Zeit, welche der Schall benötigt , sich längs
N. F. XXI. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
eines vorgeschriebenen , kleinen Weges fortzu-
pflanzen , wird durch eine rotierende Walze von
bekannter sekundlicher Umdrehung gemessen.
Diese Hartgummiwalze trägt auf ihrem Umfange,
parallel der Achse, zwei voneinander getrennte,
mit zwei Schleifringen verbundene Lamellen, die
mit zwei Schleiffedern elektrischen Kontakt geben.
Der eine Kontakt wird zur Erzeugung des Schalles,
der andere zum Empfang desselben verwandt.
Der vom Schall zu durchlaufende Weg wird durch
ein Rohrsystem von bekannter Länge dargestellt.
Zu Anfang des Rohrsystems befindet sich ein
dem ersten Kontakt angeschlossenes Telephon zur
Lautangabe, am Ende ein Mikrophon zur Laut-
aufnahme. Dem Mikrophon angeschlossen ist ein
lautsprechendes Telephon, dessen Stromkreis über
den zweiten verstellbaren Kontakt geht. Die
Einstellung dieses Kontaktes wird registriert durch
einen Gradzeiger; die sekundlichen Umdrehungen
der durch einen Motor getriebenen Walze be-
stimmten Zählwerk und Uhr. — Das Ansprechen
des lautsprechenden Telephons erfordert die
Schließung des über den zweiten Kontakt laufen-
den Stromkreises durch Wirken desselben Kon-
taktes in dem Moment, da der Schall das Mikro-
phon trifft. Aus der entsprechenden Einstellung
des Gradzeigers, dem Drehungswinkel et, der Um-
drehungszahl u, der rotierenden Walze pro Sekunde
und dem Schallweg s folgt die Schallgeschwindig-
keit V nach der Gleichung:
360- u-s
V = —
a
Als Mittelwert ergab sich für v in der Luft
bei etwa 15" Temperatur 333,5 m. Für andere
Gase werden die Werte gleicherweise ermittelt,
indem das betreffende Gas durch das Röhren-
system langsam hindurchgeleitet wird, wobei die
Strömungsgeschwindigkeit des Gases der Schall-
geschwindigkeit gegenüber vernachlässigt werden
kann. Für Kohlensäure ergab sich so der Mittel-
wert V =^ 269 m, für Wasserstoff v = 1258 m.
Das lautsprechende Telephon kann ersetzt
werden durch einen Oszillographen, der die rich-
tige Stellung des Gradzeigers für den zweiten
verstellbaren Kontakt zu erkennen gibt durch das
Auftreten von Schwingungen des Lichtzeigers.
Eine weitere Möglichkeit, den Drehungswinkel «
mit Hilfe des Auges einzustellen, bietet die Flam-
menkapsel von König. Man verbindet sie sinn-
gemäß mit dem lautsprechenden Telephon und
beobachtet im rotierenden Spiegel die Flammen-
bilder.
Bei der Bestimmung der Schallgeschwindigkeit
in festen und flüssigen Körpern ist das laut-
sprechende Telephon dicht ans Ohr zu bringen,
damit der verstellbare Kontakt richtig eingestellt
werden kann. Der in dem lautsprechenden Tele-
phon den Schall erzeugende Wechselstromimpuls
ist hier schwächer als bei Gasen, das die richtige
Stellung des zweiten Kontakts anzeigende An-
sprechen demzufolge auch schwächer. Zur
Ausführung einer derartigen Bestimmung ist ferner
nötig, das zu untersuchende Mittel an Stelle des
Röhrensystems einzuschalten, sei es in Form eines
runden, ■ massiven Stabes, der an einem Ende
dicht aufsitzend das Telephon und am anderen
Ende das Mikrophon trägt, oder sei es, wie z. B.
bei Wasser, daß man das Telephon mit einem
Schalltrichter versieht, der ins Wasser taucht und
das Mikroplion auf einem Holzbrettchen, Membran
parallel der Wasseroberfläche und ihr zugekehrt,
schwimmen läßt. Auch in Röhren lassen sich
Flüssigkeit einschließen und zweckentsprechend
zwischen Telephon und Mikrophon bringen. Als
Schallwege für feste Körper eignen sich gespannte
Drähte oder Fäden. Schließlich braucht man nur
Telephon und Mikrophon mit schwachem Druck
gegen die Zimmerwand zu halten oder auf den
Tisch zu setzen, Membran parallel der Oberfläche,
um die Schallgeschwindigkeit in der Wand (Mauer-
werk) und im Tische (Holz) zu ermitteln.
Ohne Schwierigkeit läßt sich mit dem Zeit-
bestimmungsapparat eine sekundliche Umdrehungs-
zahl gleich 60 erzielen. Wird der verstellbare
Kontakt demgemäß auf 30" eingestellt, so ergibt
sich V720 Sekunde, so daß der Schallweg bei
Wasser etwa 2 m wäre, eine relativ kleine Weg-
länge. Bei. Metallen ist die Weglänge etwa 8 m
unter gleichen Umständen.
Vortragender hat seine Versuche in bezug auf
flüssige und feste Körper noch nicht abgeschlossen,
hält aber jetzt schon eine weitere Verminderung
des Schallwegs für möglich. Da der Versuch
als Schulversuch gedacht ist, so ist auf etwaige
Korrektionen des Versuchsresultats keine Rück-
sicht genommen, da sie das Resultat nicht wesent-
lich ändern würden. Petersen.
Bücherbesprechungen.
Jungklaus, Fr., Der kleine Münsterländer
Vorstehhund (Westfälischer Wachtelhund,
Heidewachtel, Spion, Stöber, Vogelhund, Ha-
bichtshund) als Jagd- und Haushund, unter Be-
rücksichtigung der verwandten Schoßhundformen
in historischer und zoologischer Beleuchtung.
112 Seiten. Mit Titelbild, 4 Vollbildern und
54 Abbildungen im Text. Neudamm 1921,
Verlag J. Neumann.
Mit Freude begrüßen wir alle diejenigen Be-
strebungen, welche dahin zielen, die alten heimi-
schen Hunderassen wieder zu Ehren und erneuter
Geltung zu bringen. Einer der bewährtesten
Vorkämpfer auf diesem Gebiet ist der Verf des
oben genannten Büchleins, der mit diesem die
Aufmerksamkeit auf eine der interessantesten
deutschen Rassen, den Münsterländer Vorstehhund,
lenkt. Nachdem er uns mit dem Wesen und der
Verbreitung der hierhin gehörenden Hundeformen_
bekannt gemacht hat, erfahren wir von der in früherer'
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 7
Zeit scharf durchgeführten Unterscheidung zwi-
schen Bracke und Vogelhund, wobei unter letz-
terem ein Hund zu verstehen ist, welcher nicht
etwa den Vogel zu erbeuten, sondern ihn nur
aufzustöbern hat, während das Fangen der Beute
damals mit Hilfe des Beizvogels ausgeübt wurde.
Mit großem Geschick und außerordentlicher Um-
sicht hat Dr. Jungklaus alles ausfindig gemacht,
was sich auf diese in früherer Zeit so wichtige
Form von Hunden bezieht; besonders sind es
hierbei Abbildungen und Gemälde aus mittel-
alterlicher Zeit, die ihm als Wegweiser dienen
konnten und wertvolle Aufschlüsse gegeben haben.
Dieser historische mit vielen interessanten Bildern
geschmückte Teil ist unseres Erachtens einer der
wichtigsten und bemerkenswertesten Abschnitte
des Büchleins, ein Teil, der weit über den -engeren
Kreis der Kynologen hinaus Beachtung und Auf-
merksamkeit verdient. Dasselbe gilt übrigens
auch für den folgenden Abschnitt, in dem von
dem Namen der Rasse die Rede ist, und welcher
viel Anregendes auf etymologischem Gebiet ent-
hält. Jagdfreunde werden mit besonderem Inter-
esse die folgenden Kapitel lesen , in denen die
alten Jagdbräuche und die Eigentümlichkeiten der
bei den Jagden verwendeten Hunde geschildert
werden. Eine genaue Kennzeichnung der Rasse
und ihrer Unterschiede im Vergleich zu anderen
Jagdhunden sowie Mitteilungen über Zucht und
Züchter schließen sich an. Der letzte Abschnitt
behandelt die Stellung der Rasse im zoologischen
System. Hier urteilt der Verf. wohl allzu ein-
seitig. Seine Ansichten über die zoologische Be-
nennung der Hunde dürften da schwerlich ohne
weiteres den Beifall der Fachzoologen finden.
Welchen Standpunkt man aber auch immer ein-
nehmen mag, auf jeden Fall sind die Darlegungen
des Verfs in vieler Hinsicht anregend, und wir
hoffen auch, daß seine Schrift zu weiteren erfolg-
reichen Forschungen ähnlicher Art Anstoß geben
wird. R. Heymons.
Wahnschaffe, Felix, Geologie und Ober-
flächengestaltung des norddeutschen
Flachlandes. 4. Aufl., neu bearbeitet von
Friedrich Schucht. 472 S., 82 Texibilder,
29 Beilagen. Stuttgart 1921, J. Engelhorns Nachf.
Unter den Büchern über das Diluvium, ins-
besondere das Diluvium des norddeutschen Flach-
landes, war dasjenige von Felix Wahnschaffe,
dem verstorbenen Leiter der F'lachlandsabteilung
der Preuß. geol. Landesanstalt, von seinem ersten
Erscheinen an das bestgenannte und meistgelesene.
Diesen Vorzug verdankte es seiner klaren, leicht
faßlichen Darstellungsweise, seinem erschöpfenden,
sorgsam durchgearbeiteten Inhalt und seiner guten
Illustrierung. Wahn schaffe suchte seinen Ruhm
in vollständiger und gerecht abwägender Bericht-
erstattung über die Ergebnisse der geologischen
Forschung. In theoretischen Dingen war er zu-
rückhaltend; der kühne Wurf war nicht seine
Sache, er wartete als guter Beobachter, bis die
Dinge ausreiften, und verzichtete auf geistreiche
Spekulationen, zu denen gerade die phantasie-
geslüizte Diluvialgeologie nur zu leicht verführt.
Sein Buch war vor allen Dingen durch und durch
solide.
Die dritte Auflage ging zur Neige , und
Wahnschaffe hatte mit den ersten Vorberei-
tungen für die vierte begonnen, als Ende 1913
der Tod den noch rüstigen Mann zu früh von
seinem Werk abrief Sein Flachlandsbuch aber
lebt fort und hat in Friedrich Schucht
einen neuen Bearbeiter gefunden, der es in reiner
sachlicher Hingabe verstanden hat, ihm die Ge-
diegenheit des Gehaltes und die faßliche Form zu
wahren. Wir kennen F. Schucht bereits als
verdienstvollen Mitarbeiter Wahnschaffes an
dessen „Anleitung zur wissenschaftlichen Boden-
untersuchung". Als Landesgeologe im Flachlande
vielseitig erfahren und als Bodentorscher bekannt
geworden, war Schucht ohne Zweifel der ge-
eignetste Adoptivvater dieses Werkes. Er hat
die mühevolle Arbeit geleistet, die in den letzten
12 Jahren gewaltig angewachsenen Kartierungs-
ergebnisse extensiver wie intensiver Art in Nord-
deutschland der neuen Auflage einzufügen, ohne
das Buch aus der bewährten Richtung zu drängen.
Veraltetes und Entbehrliches ist entfernt, mancher
Satz und Abschnitt durch wenige geschickte Ab-
striche und Zusätze zeilgemäß gemacht, das Ganze
wesentlich bereichert und vermehrt. Insbesondere
ist auch die Zahl der Abbildungen, nicht zum
wenigsten durch vorzügliche Aufnahmen von Frau
Therese Wahnschaffe, sehr vergrößert wor-
den. Ausführlicher als früher finden wir jetzt den
Rahmen und den Gebirgsuntergrund des nord-
deutschen Tieflandes dargestellt, wogegen die
Tabellen der Tiefbohrungen im Quartär nicht
mehr fortgeführt, sondern als zu einseitige Material-
sammlung auf einen ganz kurzen Auszug einge-
schränkt sind. Überhaupt ist die innere Struktur,
der geologische Bau des Flachlandes neben den
Oberflächenformen und ihrer Deutung entschie-
dener zur Geltung gebracht und dadurch die Er-
weiterung des Werktitels durch den Ausdruck
„Geologie" gerechtfertigt.
Nach gründlicher Darstellung der Struktur- und
Formelemente des Flachlandes kommt Wahn-
schaffe-Seh ucht dann auf die zeitliche Glie-
derung des Diluviums zu sprechen. In dieser
Frage hält er offensichtlich den Augenblick für
eine kritisch durchgreifende Grenzziehung der
verschiedenen Vereisungen und Einstufung der
nichtglazialen Bildungen noch nicht für gekommen,
sondern verhält sich vorwiegend referierend und
behutsam sichtend. So kommt es, daß die auf
diesem sehr schwierigen, noch große neue Ent-
deckungen versprechenden Gebiet vorhandenen
Auffassungsverschiedenheiten der einzelnen Autoren
nicht selten in sein Buch unausgeglichen über-
gehen. Es ist in der Tat unmöglich, gewisse
Dinge, wie z. B. die Alters- und Höhenbeziehun-
gen der Terrassensysteme der mitteldeutschen
N. F. XXI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
103
Randflüsse von Schlesien bis zum Rheinland auf
Grund der Spezialliteratur einheitlich darzustellen,
und es werden noch viele Jahre vergehen, bis die
Möglichkeit näher rückt. Hier versagt die refe-
rierende Darstellungsmethode in gewisser Hin-
sicht, hier muß wissenschaftlich befruchtete Intui-
tion, Kritik und schöpferische Forschung sich her-
vorwagen, um die hinheit zu schaffen. Dies ist
ein Wunsch, den wir für eine künftige Auflage
des Baches hegen, und der eine kräftige Entwick-
lung der F'lachlandsgeologie nach dieser Richtung
einschließt. W. Wolff.
Meisenheimer, J. , Geschlecht und Ge-
schlechter im Tierreiche. I. Die natür-
lichen Beziehungen. 8g6 S. mit 737 Abb. im
Text. Jena 1921, G. Fischer. Preis brosch.
180 M., geb. 2io M.
Ein monumentales Werk, welches das Riesen-
gebiet der Sexualität und der Sexualprobleme
in unifassender Weise behandelt. Ausgehend von
den niedersten Organismen, den Einzelligen, bei
denen schon geschlechtliche Vorgänge einfachster
Form sich abspielen , führt uns der Verf weiter
zu den mehrzelligen Pflanzen und Tieren , deren
Körper als Gametozytenträger die spezifischen
Geschlechtszellen hervorzubringen hat. Hier wird
uns dann die ungeheure Mannigfaltigkeit aller
Einrichtungen vor Augen geführt, die in Be-
ziehung zum Geschlechtsleben stehen. Zwittertum
und getrenntes Geschlecht, die Eigenart zwittriger
Organismen, die Begattungsformen und Begattungs-
apparaie mit allen ihren Nebeneinrichtungen sind
ebenso wie die verschiedenen Formen der ge-
schlechtlichen Annäherung, die sexuellen Waffen,
Eiablage und Brutpflege, Geschlechtsmerkmale
und deren Übertragung von Geschlecht zu Ge-
schlecht, nebst vielen anderen das Geschlechts-
leben betreffenden Einrichtungen und Vorgängen
in vergleichender Form behandelt. Auf Einzel-
heiten einzugehen würde den Raum dieses Refe-
rates weit überschreiten. Nur soviel sei gesagt,
daß der Verf es mit großem Geschick fertig ge-
bracht hat, den gewaltigen Stoff zu meistern.
Wir erhalten auf diese Weise ein Gesamtbild, das
in solcher Vollständigkeit noch nirgends existiert
und uns einen einheitlichen Überblick über das
ganze Gebiet des Geschlechtslebens und der ge-
schlechtlichen Einrichtungen von den niedersten
Tieren bis einschließlich zum Menschen hinauf
verschafft. In einer Zeit, in der notgedrungen die
Spezialisierung in allen Zweigen der Wissenschaft
immer weiter fortschreitet, und der Einzelne längst
nicht mehr die Fülle der Veröffentlichungen zu
übersehen vermag, sind zusammenfassende Werke,
wie das hier in Rede stehende Buch über Ge-
schlecht und Geschlechter von unschätzbarem
Werte; sie sind um so bedeutungsvoller, wenn,
wie dies im vorliegenden Falle zutrifft, der Verf,
selbst forschend auf dem betreffenden Gebiete
tätig war, und sich nicht begnügt, Tatsachen zu
registrieren, sondern überall kritisch sichtet und
selbst zu wichtigen Fragen und Problemen Stel-
lung nimmt. So hat in dem vorliegenden Werk
der Autor z. B. bei der Beurteilung des Herma-
phrodiiismus, bei der Deutung der Geschlechts-
verhältnisse inneihalb der Gruppe der Wirbel-
tiere und an vielen anderen Stellen seine eigene
Meinung begründet. Das M eisen he im ersehe
Buch darf als eine der wichtigsten neueren Er-
scheinungen begrüßt werden, es ist ein Werk, auf
das der Zoologe immer wieder zurückgreifen
wird, ebenso wie es für den auf dem Gebiete der
Sexualforschung tätigen Mediziner von großem
Interesse ist. Die Ausstattung und der reiche
Schmuck mit Abbildungen verdienen in der gegen-
wärtigen Zeit alle Anerkennung.
R. Heymons.
Roth, Dr. W. A., Physikalisch- c hemische
Übungen. 3. vermehrte und verbesserte Auf-
lage. VllI u. 278 Seiten mit 75 Abbildungen
im Text. Leipzig 1921, Verlag von Leopold
Voß. Preis geb. 30 M.
Die physikalisch ■ chemischen Übungen von
Dr. W. A. Roth, ordentl. Prof an der Techni-
schen Hochschule in Braunschweig, die nunmehr
in der dritten, erheblich vermehrten und ver-
besserten Auflage erschienen sind, stellen ein für
den praktischen Gebrauch im Laboratorium be-
stimmtes Buch dar und haben den Zweck, Stu-
dierende auf experimentellem Wege in die Grund-
lehren und Grundtatsachen der physikalischen
Chemie einzuführen. Dichtebestimmungen, Mole-
kulargewichtsbestimmungen in Lösungen, thermo-
chemische Untersuchungen, Bestimmung optischer
Konstanten, Versuche zur chemischen Statik und
Kinetik, elektrische Messungen aller Art und
kolloidchemische Versuche sind der Gegenstand
der wichtigsten Abschnitte. Das ganze Buch ist
sehr sorgfältig und gewissenhaft durchgearbeitet,
die Darstellung ist hinsichtlich der Besprechung
sowohl der theoretischen Grundlagen als auch der
praktischen Ausführung der Versuche sachlich
einwandfrei, klar und verständlich, die Beurteilung
der Versuchsergebnisse wird durch Diskussion der
Fehlerquellen, ihre rechnerische Verwertung durch
zahlreiche Zahlenbeispiele einfacherer und schwie-
rigerer Art gründlich erläutert. Die nötigen Ta-
bellen sind beigefügt. Kurz, es ist ein Werk, aus
dem wissenschaftlichen Laboratorium geboren und
für die Praxis wissenschaftlicher Versuche gemacht.
Um den Preis des Buches möglichst niedrig
zu halten, ist die dritte Auflage nicht neu gesetzt,
die zweite Auflage ist vielmehr photomechanisch
vervielfältigt worden. Die erforderlichen Zusätze
und Ergänzungen — diese behandeln besonders
die Kolloidchemie — sind als Zusätze gedruckt
worden.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Nernst, Walther, Theoretische Chemie
vom Standpunkte der Avogadroschen Regel
und der Thermodynamik. 8. — 10. Auflage.
t'04
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XXI. Nr. 7
XVI und 896 Seiten mit 58 Abbildungen im
Text. Stuttgart 1921, Verlag von Ferdinand
Enke. Preis geh. 141 M.
Von allen Lehrbüchern der theoretischen
Chemie ist das von Walther Nernst das be-
kannteste und verbreitetsle. Das ist nicht erstaun-
lich. Einerseits ist Nernst, der als ordentlicher
Professor und Direktor des Instituts für physika-
lische Chemie an der Universität Berlin wirkt,
wohl unbestritten der erste physikalische Che-
miker der Gegenwart, seine Theorie des galvani-
schen Elements und die Entdeckung des dritten
Hauptsatzes der Thermodynamik sind Leistungen
allerersten Ranges, und wenn Nernst jetzt den
Nobelpreis erhalten hat, so wundert sich der Fach-
mann nur, daß er ihn erst jetzt erhalten hat.
Andererseits ist sein Lehrbuch dank der über-
legenen Art der Darstellung, dank seiner Einfach-
heit und Klarheit tatsächlich ein Meisterwerk, wie
es eben nur ein Nernst schaffen konnte. Die
lange erwartete und nunmehr endlich vorliegende
Neuauflage ist von ganz besonderem Interesse,
weil die physikalische Chemie in den letzten
Jahren eine große Reihe ungemein wesentlicher
Fortschritte gemacht hat, die ihren Ausgangs-
punkt einerseits in der Quantentheorie, anderer-
seits in der Lehre von der Radioaktivität haben.
Alle diese Fortschritte, an denen Nernst zum
Teil selbst mit größtem Erfolge mitgearbeitet hat,
sind mit großer Sorgfalt in das Lehrbuch hinein-
gearbeitet worden, so daß sich dem Leser wieder
ein dem neuesten Stande der Wissenschaft ent-
sprechendes Bild entrollt. Daher ist auch für
alle Besitzer der älteren Auflagen des Nernst-
schen Lehrbuches die Beschaffung der neuen
Ausgabe eine dringende Notwendigkeit.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Citron, J. , Die Methoden der 1mm uno-
diagnostik und Immunotherapie und
ihre praktische Verwertung. Leipzig
1919, Georg Thieme.
In vorliegendem Buche sind die wichtigsten
Methoden der Immunitätsforschung in einer Weise
dargestellt, die es auch dem wenig erfahrenen
Biologen, der ja auch immer mehr die Arbeits-
mittel und Errungenschaften der Immunitäts-
wissenschaft benötigt, möglich macht, diese in
seinem Sonderfach mit gutem Erfolg anzuwenden.
Jede Wissenschaft hat ja ihr Fundament in ihrer
speziellen Arbeitsmethodik, und diese gibt zugleich
eine Vorstellung davon, wie weit sich Tatsachen
und Theorien die Wage halten. Wenn man nun
die Methodik von diesem Gesichtspunkte aus be-
trachtet, so weist sie zugleich einen Weg zu den
Ergebnissen ihres Wissensgebietes.
Dies ist in dem Citronschen Werke erreicht.
Dem praktisch arbeitenden Biologen gibt es eine
Reihe guter und erprobter Arbeitsmethoden zur
Hand, nicht nur allgemeiner Natur, sondern auch
unter Berücksichtigung speziellster und neuester
Forschung. So sind die Abschnitte über die Par-
tigene, die Ausfällungsreaktionen, die Meiostagmin-
reaktion und den Nachweis der Abderhalden-
schen Abwehrfermente ganz vorzüglich ausgear-
beitet. Das Kapitel über Chemotherapie hätte
vielleicht etwas mehr ausgebaut werden körmen.
Allein auch demjenigen, der sich nur rein theo-
retisch mit dem Gebiete der Immunitätsforschung
befassen will, ist das Buch ein vortrefflicher
Führer in dieses Gebiet, umsomehr als gerade
hier äußerste Vorsicht an Verallgemeinerungen
und kein Theoretisieren geboten ist. Die sichere
Hand des als erfahrenen Praktikers bekannten
Verfs vermeidet aber, den Boden sicherer Tat-
sachen zu verlassen. Collier (Frankfurt).
Literatur.
Kayser, Dr. H., Lehrbuch der Physik für Studierende.
n. Aufl. Stuttgart '21, Ferdinand Enke. 72 M.
Wien, W., Aus der Welt der Wissenschaft. Leipzig '21,
Joh. Ambr. Barth. 60 M.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig-Berlin '21, B. (J.
Teubner.
20: Wedding, W., Das Eisenhüttenwesen, ö. Aufl.
541 : Fischer, P. B., Darstellende Geometrie.
558: Schmitt, N. , Aufgaben aus der technischen
Mechanik. 1. Bewegungslehre, Statik und Festig-
keitslehre. 2. Aufl.
601 : Köhler, F., Friedrich Nietzsche.
Sammlung Göschen. Fans er, Oberbaurat Otto, Melio-
rationen. Berlin '21, Vereinigung wissenschaftl. Verleger.
0 M.
Teubners Untenichtsbücher für maschinenlcchnische Lehr-
anstalten.
Band 3: Wiegner-Stephan, Lehr- und Aufgaben-
buch der Physik. 111. Teil: Elektrizität. Leipzig-
Berlin, B. G. Teubner. Kart. 26 M.
Band 2: Wiegner-Stephan, Lehr- und Aufgaben-
buch der Physik. II. Teil: Lehre von der Wärme,
Lehre vom Licht, Wellenlehre. Kart. 22 M.
Bibliothek für Philosophie, herausgeg. von Ludwig Stein.
20. Band: Auerbach, Mathias, Mitleid und Charakter.
Berlin '21, Leonhard Simion Nachf.
Henze und Meyer, Führer in die Arbeitsschule. Bd. 2 :
Grupe, Heinrich, Natur und Unterricht. Frankfurt a. M. '21 ,
Moritz Diesterweg. 10 M., geb. 12 M. und 100 %■
Landsberg-Günthart-Schmidt, Streifzüge durch
Wald und Flur. Leipzig-Berlin '21, B. G. Teubner. Geb.
34 M.
Lebensvoller Unterricht. Band 7: Forker, Prof. Dr.
Georg, Chemie und Mineralogie. Leipzig '22, Dürrsche Buch-
handlung.
InllHlt: P. Dahms, Danzig als Heimat des Bernsteins. S. S9. — Einzelberichte: \V. So er gel, Die Ursachen der dilu-
vialen Aufscholterung und Erosion. S. 99. W. Soergel, Elcphas Columbi Falc. S. 100. J. Brockmüller, Schall-
geschwindigkeit und ihre Messung. S. 100. — Bücherbesprechungen: Fr. Jungklaus, Der kleine Münsterländer
Vorstehhund. S. 101. F. Wahnschaffe, Geologie und Oberflächengeslahung des norddeutschen Flachlandes. S. 102.
J. Meisenheimer, Geschlecht und Geschlechter im Tierreiche. S. 103 W. A. Roth, Physikalisch-chemische
Übungen. S. 103. W. Nernst, Theoretische Chemie. S. 103. J. Citron, Die Methoden der Immunodiagnostik und
Immunotherapie und ihre praktische Verwertung. S. 104. — Literatur: Liste. S. 104
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidcnstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Hand.
Sonntag, den 19. Februar 1922.
Nummer 8.
Reste eines alten Höhlenflusses.
[Nachdruck verboten.!
In Nr. 8 1920 der Naturwissenschaftlichen
Wochenschrift berichtet Herr Dr. L i n d n e r über
unterirdische Flüsse und Bäche, wobei er auch
einige Überreste in der fränkischen Schweiz er-
wähnt, ohne dabei auf ein klassisches Beispiel der
Reste eines nachweisbaren Höhlenflusses in jener
Gegend einzugehen. Da ich mich mit der Frage
der geologisch chemischen Tätigkeit des Wassers
befasse, möchte ich nicht verfehlen, dieses schöne
Schulbeispiel näher zu behandeln. Ich meine
hierbei den oberen Teil des Oberailsbachtales in
der Gegend zwischen Oberailsfeld und Kirchahorn.
Um meine Ausführungen verständlich zu machen,
muß ich zuerst auf die grundsätzlichen Faktoren
dieses Problems eingehen. Im allgemeinen sind
uns unterirdische Flüsse zurzeit nur aus dem Ge-
biet des Karstes bekannt. Diesen zu besuchen
ist in der Jetztzeit für die Bewohner Deutschlands
und Österreichs fast zur Unmöglichkeit geworden,
wodurch meine Aufgabe mitten im Deutschen
Reiche einen derartigen Höhlenfluß, wenn auch
nur in Überresten, nachzuweisen, besonders dankbar
geworden ist. Stellen wir uns zunächst einmal die
für einen Höhlenfluß charakteristischen Einzelteile
seines Laufes vor, so haben wir folgende Gliederung
vorzunehmen.
Die Stelle, wo der an der Oberfläche fließende
Bach in dem Untergrund oder in einer senkrecht
vor ihm aufsteigenden Wand verschwindet, nennen
wir das Ponor. Öfter ist diesem Ponor ein weites
muldenartiges Tal vorgelagert, welches zu Zeiten
besonders starker Wasseranschwellung von diesem
erfüllt ist und einen See bilden kann. Dieses Tal
wird dann Polje genannt, wobei ich an das be-
rühmteste derartige Versickerungstal, das Popovo-
polje erinnern möchte. In diesem Tal können
nun schon eine Anzahl Versickerungslöcher ver-
teilt sein, die wir in diesem Falle als Vorponore
bezeichnen können. In Deutschland können wir
derartige Ponore sehr gut an der Donauversickerung
bei Immendingen beobachten. Wir sehen hier zu
manchen Zeiten des Jahres vor allem im Hoch-
sommer zuerst in dem Wasserspiegel Strudel, die
deutlich zeigen, wie das Wasser hier nach unten
versickert und zu Zeiten gänzlicher Trockenheit
können wir diese Löcher selbst am Boden in
großer Anzahl beobachten. Verschwindet das
Wasser direkt in der Felswand, so können wir
entweder wie bei der Recka eine Höhle oder
Grotte sehen (Mahorcicgrotte), oder das Wasser
verschwindet in der P^elswand durch ein kaum
dem Auge sichtbares Loch, welches an die Mün-
dung einer Kanalöffnung erinnert. Letzteres können
Von Dr. H. K, Becker.
wir besonders deutlich bei der „Pegnitz" bei der
Stadt Pegnitz beobachten, wo dieser Fluß bei der
Wassermühle in dem Wasserberg verschwindet.
Einen Übergang zwischen diesen beiden Arten von
Ponoren war mir vergönnt während des Krieges
bei der belgischen Grotte von Han sur Lesse zu
beobachten, welche ich als Heeresgeologe zu durch-
forschen hatte. Der sog. Perte de la Lesse oder
das Gouffre de Belveaux stellte eine kleine Grotte
dar, in welcher das Wasser der Lesse plötzlich
nach unten verschwindet, ohne daß es möglich
wäre, den Lauf weiter zu verfolgen. Der sog. alte
Eingang zu den oben erwähnten Grotten, der
heute nur noch in ganz seltenen Fällen besonderer
Wasseranschwellung von der Lesse erreicht wird,
ist als ein ganzes System horizontal in den Berg
eindringender Kanäle aufzufassen. Dem Höhlen-
forscher ist auch reichlich der Grund bekannt,
warum es so oft unmöglich ist, an der eigent-
lichen Einbruchsteile des Flusses, diesem zu folgen.
Die Ursache hierfür ist ein Deckensturz, der den
Kanal derartig abschließt, daß das Wasser ihn nur
nach Art kommunizierender Röhren durchfließt.
Sehr oft ist es unmöglich auf seitlichen Spalten
diesen „Siphon" zu umgehen, wie es so bei der
Peuck im Karste der Fall ist. Der P'luß durcheilt
dann, mehr oder weniger verzweigt, das Gebirge,
wobei das Wasser gar oft durch Strudellöcher in
tieferen Höhlengängen verschwindet, zu denen wir
uns wieder mühsam den Zugang erkämpfen müssen,
um dann bei dem Austritt des Flusses die über-
raschende Beobachtung zu machen, daß wir in
einem ganz anderen Flußsystem angelangt sind,
als dasjenige war, aus welchem der Höhlenfluß
vor seinem Eintritt in das Gebirge entstanden ist.
So treffen wir die bei Immendingen verschwinden-
den Wasser der Donau in der Aachquelle wieder,
die dem Rhein ihre Wasser zufließen läßt. Über
die Art wie man derartige Höhlenflüsse durch
Färben des Wassers oder durch Salzlösungen ver-
folgen kann, auch wenn ein Befahren des Laufes
selbst ausgeschlossen ist, kann ich an dieser Stelle
nicht weiter eingehen. Nicht verfehlen möchte
ich aber darauf hinzuweisen, daß unter Umstän-
den durch derartig verschwindende oder an unge-
eigneten Stellen wieder auftauchende Höhlen-
flüsse wirtschaftliche Folgen hervorgerufen werden
können, die von katastrophaler Bedeutung sind.
Denken wir z. B. an den Fall, daß der obere Lauf
der Donau einst sein ganzes Wasser an den Rhein
abgibt, so wird eine ganze Anzahl von Industrien,
die ihr Wasser aus diesem Lauf nehmen, vernichtet.
Als typisches Beispiel möchte ich noch den Zirk-
io6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 8
nitzersee erwähnen, über den im Mittelalter der
Ausspruch im Umgang war, man könne nach der
jeweiligen Zeit in ihm pflügen, säen, ernten, fischen
und Wasservögel jagen. Wenn auch dieser Aus-
spruch selbstverständlich übertrieben ist, so wurden
doch im Laufe der Jahrhunderte wiederholt Fälle
beobachtet, wo der See vollständig trocken lag,
oder wo er plötzlich wieder von Wasser angefüllt
wurde, nachdem die umwohnenden Bauern in ihm
Äcker angelegt und Häuser gebaut hatten. Dies
alles sind Fragen, die den Geologen des Karst-
gebietes eingehend zu beschäftigen haben und ihm
die P'rage vorlegen, ob es möglich ist, derartige
Höhlenflüsse und ihr Zutagetreten durch eventuelle
Vermauerung ihres Austrittes zu beeinflussen.
Dieses Austreten des Höhlenflusses aus dem
Gebirge kann nun wieder in verschiedener Weise
zur Geltung kommen. Im schon erwähnten Fall
der Aach, haben wir einen sog. Quelltopf vor
uns, d. h. den Fall, daß das Wasser in Form einer
sehr starken Quelle anscheinend senkrecht aus
der Erde hervortritt. Als weiteres Beispiel hierfür
möchte ich die drei Quellen der Wiesent bei der
Stempfermühle erwähnen. Der Unterschied ist
der, daß ein ganzer Fluß d. h. also nicht der
dünne Wasserstrahl einer Quelle aus dem Gebirge
hervortritt; diesen Fall nennen wir nach dem
klassischen Beispiel in Frankreich Vauclusequelle.
Die Frage, ob der Fluß zwischen seinem Ponor
und seiner Vauclusequelle in ununterbrochenem
Lauf das Gebirge durchströmt, oder ob er sich
zwischendurch erst einmal auf die Grundwasser
verteilt hat, und somit aus der Vauclusequelle
nicht der ursprüngliche Höhlenfluß sondern das
Grundwasser zutage tritt, können wir auch an
dieser Stelle nicht behandeln. Kraus und
Knebel haben diese Frage an dem Beispiel der
Recka, des Timavo, der Peuck, der Donau und
anderer Flüsse eingehend behandelt, ohne zu
einem definitiven und für alle Fälle zu verallge-
meinernden Schluß zu kommen. Für unser klas-
sisches Beispiel des alten Höhlenflusses im Ober-
ailsbachtal kommt diese Frage nicht in Betracht.
Ohne auf die Bildung von Höhlen im allge-
meinen an dieser Stelle einzugehen, möchte ich
doch darauf hinweisen, daß wir bei Betrachtung
dieser Frage wesentlich mehr die Bildungen durch
einen Höhenfluß berücksichtigen sollten, als es
seither geschah. In vielen Fällen, wo zuerst nur
das versickernde Regenwasser den Weg durch
Korrosion von Spalten anbahnte, ist in späterer
Zeit ein Fluß eingebrochen und hat diesen kleinen
Kanal durch Erosion mechanisch erweitert. Diese
Spalten können sich zu regelrechten Strudellöchern
vergrößern, was noch ganz besonders begünstigt
wird, wenn das Wasser in der Lage ist, ganze
Geröllstücke mitzureißen und die Spalten nach
Art einer Gletschermühle zu vertiefen. Wir sehen
derartige Strudellöcher im Verlauf des Oberails-
bachtales und auch an dem Wege durch das
Püttlachtal in großer Anzahl. Den Besuchern der
Schweiz ist wohl der wunderbare Trömmelbachfall
bekannt, der ja aus einem solchen Strudelloch in
dickem starkem Strahl mit solcher Kraft herab-
stürzt, daß er an manchen Stellen sofort wieder
den Untergrund aufstrudelt und in ihm ver-
schwindet. Was wir hier zutage sehen, kann
natürlich auch in den unterirdischen Räumen eines
Höhlenflusses geschehen. Wenn dann einmal die
Decke eines solchen Tales einbricht, ein Fall, auf
den wir am Schlüsse unserer Betrachtung einzu-
gehen haben werden, so sehen wir ein enges,
schluchtenartiges Tal, dessen Wände muschelartig
vertieft, die Reste einer fortgesetzten Bildung und
Aufarbeitung von Strudellöchern zeigen. Ich er-
innere hierbei an die Aaretalschlucht bei Meiringen,
die Partnachklamm und einige von Flüssen durch-
strömte Schluchten. Besonders deutlich sehen
wir die Reste des alten Höhlenflusses, am Quacken-
schloß und an der Riesenburg bei Doos.
Wenn wir das seither Ausgeführte auf das
Oberailsbachtal anwenden wollen, so müssen wir
im Interesse der klaren Übersicht einen Augen-
blick die Frage, woher dieser Bach kam, zurück-
stellen. Deutliche Beispiele für die von allen
Seiten hervorbrechenden und in die Haupthöhle
(deren Verlauf wir uns ungefähr von der Schweins-
mühle an der Ruine Rabenstein vorbei bis an das
Gasthaus zum Oberailsbachtal vorstellen müssen)
verschwindenden Wasserstrahlen sehen wir ganz
besonders in der Nähe des großen und des kleinen
Schneiderloches, wie ja auch die Ludwigshöhle
in ihrem hinteren Teile einzelne Läufe erkennen
läßt, die in einem domartigen Hauptraume, der
heutigen eigentlichen Höhle zusammenströmen.
Daß neben dieser Flußhöhle auch die sonst
üblichen nur durch Sickerwasser und Deckensturz
entstandenen Höhlen auftreten konnten, beweist
die heute neben dem Tale, früher neben der
Flußhöhle befindliche Klausstein Sophiengrotte.
Erstere, die Klaussteinhöhle, gehört unbedingt noch
in das Gebiet des Höhlenflusses hinein, wurde
ich doch bei ihrem Anblick äußerst stark an das
eingangs erwähnte Ponor der Lesse erinnert. Die
Sophiengrotte ist indessen lediglich eine Sicker-
wasser-Einsturzhöhle, die mit dem Flusse nichts
zu tun hat, vielleicht sogar erst später entstanden
ist. Selbstverständlich kann das Wasser eines
solchen Höhlenflusses sich durch Strudellöcher
immer tiefer bohrend, auch ein altes früher ent-
standenes Höhlensystem in Besitz nehmen und
somit nachträglich dieses zu dem System eines
Höhlenflusses umwandeln. Ohne einen in sehr
vielen Phallen anwendbaren Satz nun unbedingt
verallgemeinern zu wollen, möchte ich annehmen,
daß bei allen Höhlengebieten, die zwischen Ponor
und Vauclusequelle eines Höhlenflusses liegen, ohne
daß zwischen Eintreten und Austreten aus dem
Gebirge ein nennenswertes Gefälle besteht, eine
reine Höhlenflußbildung vorliegt. Besteht aber
zwischen l'onor und Austritt des Flusses ein sehr
starker Niveauunterschied, so liegt der Verdacht
nahe, daß der einmal in das Gebirge eingetretene
Fluß nunmehr mit seinen Strudellöchern sich in
N. F. XXI. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
107
vorhandene Höhlensysteme eingebohrt und sie
dann durchflössen hat. Hierher möchte ich das
Beispiel der Maximiliansgrotte bei Krottensee
stellen. Das immer tieferbohren eines solchen
Flusses und sein damit verbundenes Herabsinken
in tiefere Stockwerke können wir ebensowohl an
bekannten Höhlenflüssen wie an dem Fluß des
Oberailsbachtales beobachten. Als derartig be-
kanntes Beispiel möchte ich die Schwindlöcher
der Peuck erwähnen die übereinanderliegen, ebenso
wie es bei der Eishöhle im Tämnengebirge der
Fall ist, einem unterirdischen Flußsystem, das
mein Kollege Herr Dr. H a u s e r auf 26 km Länge
durchforscht hat. Im Oberailsbachtal beobachten
wir wieder die untereinanderliegenden Strudel-
löcher, am schönsten an der Flußpartie gegenüber
der Rabensteiner Burg, zwischen der Ludwigs-
höhle und dem Komplex der Schneiderlöcher.
VieUeicht hat uns die Natur auch noch ein
bisher unbekanntes Stück des alten Flußlaufes
aufbewahrt. Unterhalb der Sophienhöhle befindet
sich nämlich ein seither noch nicht durchforschtes
Höhlensystem, welches wegen seiner schwierigen
Befahrbarkeit die Verzweiflungshöhle genannt
wurde und deren Durchforschung ich mir noch
vorbehalten habe. Daß eine Verbindung zwischen
ihr und dem System der Klaussteinhöhle besteht,
ist an letzterer erwiesen.
Sind die Gesteinsschichten, die von dem Fluß
durcheilt werden, von einem flachen, geringen
Einfall nach der Talsole zu geneigt, so finden wir
oft die Decke dieses unterirdischen Laufes in der
Nähe des Tales eingebrochen und können uns
sodann Bildungen erklären, wie sie in der Riesen-
burg bei Doos vorliegen. Wir haben, wie ich in
anderer Arbeit ausführen werde, hier einen unter-
irdischen Lauf der ehemaligen Wiesent vor uns,
der mit ziemlich starkem Gefälle von der Höhe
des Gebirges nach der Talsole herabstürzt. In
der Mitte der Riesenburg stehend, haben wir nach
oben blickend das unzerstörte Höhlenflußsystem
vor uns, während wir in der Richtung nach dem
Tale zuschauend, d. h. nach unten zu, nur noch
die Reste einzelner Brücken und schroffe Wände
sehen.
Wie kommt es nun, daß wir heute den Ails-
bach mit sehr mäßigem Gefälle aus der Gegend
von Kirchahorn kommend, sich nach der Wiesent
zu ergießen sehen, wobei er zwischen der Schweins-
mühle und Oberailsfeld wohl ein schluchtartiges
Tal durchfließt, nicht aber eine tunnelartige
Höhle? Neischl, der Vater der Höhlenforschung
in der fränkischen Schweiz, erklärt die Bildung
der meisten derartigen Täler durch Einsturz ehe-
maliger Höhlensysteme, indem er schildert, wie
allmählich durch Abbruch der Höhlendecke diese
immer dünner wird, und schließlich die über-
ragende Gesteinsmasse nicht mehr getragen wer-
den kann und so einstürzt. In dieser Anschauung
stimme ich mit Neischl fast vollständig überein,
wobei ich allerdings diejenigen, die bei dem
bloßen Lesen dieser Theorie Zweifel hegen, bitten
möchte, sich erst an Ort und Stelle die typischen
und handgreifbaren Beweise dieser Theorie anzu-
sehen. Nur in dem einen weiche ich etwas von
Neischls Ansicht ab, nämlich darin, daß ich
nicht diese Talbildung auf Einsturz von einfachen
Sickerwasserhöhlen zurückführen, sondern hierbei
unbedingt die Mithilfe alter Höhlenflüsse zu Hilfe
nehmen und einschließen möchte. Meines Er-
achtens haben alle diese Flüßchen und Bäche der
fränkischen Schweiz einen Vorfahren aus der Eis-
zeit oder der ihr nachfolgenden Zeit gehabt, der
das Kalkgebirge ähnlich durchhöhlt und durch-
strudelt hat, wie es heute die Bäche und Flüsse
des Karstgebietes tun. Bei dem schon wiederholt
erwähnten Beispiel der Donauversickerung dürfen
wir ohne weiteres ein derartig unterirdisches
Höhlensystem annehmen, und haben sogar die
Gelegenheit, den Beweis für die eben erwähnte
Theorie zu studieren. Wenige hundert Meter
oberhalb der Aachquelle ist nämlich bereits ein
langgestrecktes dolinenartiges Tälchen zu sehen,
welches nur dadurch entstanden sein kann, daß
das untere Höhlensystem des Donau-Rhein-Höhlen-
flusses hier bereits eingebrochen ist. Von dem
Laufe der Recka kennen wir ja auf der Strecke
zwischen der Marinitschgrotte und der darauf-
folgenden Gebirgswand eine Strecke von 300 m,
auf der sie in einer tiefen Talschlucht fließt, wäh-
rend sie vorher und nachher in unterirdischen
Tunnellen dahineilt. Wir haben hier also ein
derartiges Beispiel, daß ein Teil der Decke ein-
gebrochen ist. Ein ganzes System solcher, bald
überirdisch, bald unterirdisch verlaufender Wasser,
ist das Gebiet der Peuck-Unz-Laibach.
Die Zuhilfenahme unterirdischer Flüsse bei
der Erklärung durch Einbruch entstandener Täler
erscheint mir vor allen Dingen deshalb notwendig,
weil wir doch immerhin mit Wasser von einer
gewissen Wirkungskraft rechnen müssen, um uns
die Entfernung des durch den Deckensturz ent-
standenen mächtigen Schuttes erklären zu können.
Bei unserem Beispiel des Ailsbachtales glaube ich
auch in der glücklichen Lage zu sein, nachweisen
zu können, wo dieser Schutt hingekommen ist.
In dem Dorf Oberailsfeld befindet sich eine Stelle
von Sand, welcher in der Literatur als eine Art
Meeressand bezeichnet wird. Nachdem ich seiner-
zeit reichlich Gelegenheit hatte, rezenten und
fossilen Meeressand zu studieren, glaube ich ein-
wandfrei einen Meeressand von einfachem Fluß-
sand unterscheiden zu können. Ganz besonders
auffallend ist nun an dieser Stelle die gänzliche
Fossilleerheit dieser Sande, obwohl sie derartig
feinkörnig sind, daß selbst ganz zarte Reste in
ihnen hätten erhalten bleiben müssen. Selbst in
den stark ausgelaugten Meeressanden des Mainzer
Beckens ließen sich doch immerhin die Reste von
besonders widerstandsfähigen Fossilen nachweisen,
d. h. von solchen, deren Schalen von kohlen-
saurem Kalk in der Form des widerstandsfähigen
Kalkspates statt des leicht zerstörbaren Aragonites
vorlagen. In den Sanden des Oberailsbaches
I08
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 8
konnte ich in der mir zur Verfügung stehenden
Zeit keine Fossilien nachweisen. Hierbei möchte
ich sogar noch die geringe Wahrscheinlichkeit,
daß sich hier ganz lokal in den Resten des Jura-
meeres eine Insel von Strandsand erhalten hätte,
nicht weiter ausführen. An der Stelle, wo das
heutige Gasthaus zum Oberailsbachtal steht, d. h.
an der Stelle, wo sich auch die Vauclusequelle
des Ailsbaches aus der das Tal steil abschließen-
den Felswand ergoß, verbreitert sich das heutige
Tal des Baches und bildet etwa an der Stelle,
wo der Sandrücken zu sehen ist, eine Kurve , in
die an dieser Stelle der mitgerissene Schutt ab-
gelagert wurde. Lediglich die Feinkörnigkeit des
Sandes deutet auf längeren Transport.
Der Einbruch des Tales und damit das Fest-
legen des Ailsbaches in seinem heutigen Bette ist
erst später erfolgt, sonst würde sich dieser Bach
wahrscheinlich an der Stelle der heutigen Gais-
kirche weiter in der Tiefe in ein schon vorhan-
denes oder von ihm zu schaffendes Höhlensystem
ergossen haben. Das ganze Äußere der Gais-
kirche zwingt uns, in ihr ein Ponor mit mehreren
Sauglöchern zu sehen, so daß wir also von dem
Ailsbach nunmehr aus oberen Stockwerken nach
unten, d. h. nach der heutigen Talsole gerichtete
Sauglöcher erblicken, daß wir ein unter der Tal-
sole gelagertes Höhlensystem annehmen dürfen,
und daß uns auch wahrscheinlich der Austritt,
d. h. die Vauclusequelle bekannt ist.
Es bleibt uns also nunmehr nur noch die
Frage zu lösen, woher dieser Fluß kam. Bei der
Kürze des Laufes und seiner Kraftentfaltung dürfen
wir ihm nicht als nur aus Niederschlägen ent-
standen annehmen. Wesentlich wahrscheinlicher
ist wohl die Annahme, daß eine große Wasser-
menge, in die das Tal damals noch bei der
heutigen Schweinsmühle abschließenden Felswand
durch ein Ponor eindrang und somit das spätere
Höhlental schuf. Daß gerade die Felswand an
dieser Stelle abschnitt, erklärt sich dem Geologen
dadurch, daß die Doggerschichten in die Höhe
der Malmschichten verworfen sind, derart, daß die
unteren Doggerschichten etwa in Höhe des heu-
tigen Talbodens lagern , während das Tal selbst
in den obersten Malmschichten, d. h. im fränki-
schen Dolomit eingeschnitten ist. Wieso die einst
über dem Dogger lagernden Malmschichten ver-
schwunden sind, kann uns an dieser Stelle nicht
näher beschäftigen. Tatsache ist, daß wir nach
Abtragung dieser Malmschichten hier ein weites
Tal vor uns hatten , welches sehr wohl mit den
großen Wassermassen der Nacheiszeit angefüllt
war und das seinen Verlauf durch die eben be-
zeichneten Malmwände suchen mußte. Hierbei
dürfen wir dann annehmen, daß bei dem ursprüng-
lichen höchsten Wasserstand dieser Eintritt durch
hochgelegene Sauglöcher erfolgte (etwas höher
als die Schneiderlöcher), während bei späterem
Absinken des Wasserlaufes sehr wohl ein torartiges
Ponor wenig höher als der heutige Talboden be-
standen haben kann.
Daß ursprünglich derartige Wassermassen vor-
handen waren, dürfte aus dem Umstände hervor-
gehen, daß der Ort Kirchahorn in seinem Namen
auf das Wort Sumpf hinweist. Kirchahorn soll
nämlich, wie mir ein dortiger Lehrer liebenswürdig
erklärte, Kirchahora, d. h. die Kirche arn Sumpf
bedeuten. Daß dieser Sumpf als alter Überrest
des alten Sees aufzufassen ist, erscheint mir sehr
glaublich. Als heutiges Beispiel für einen der-
artigen See , der seinen Abfluß in einer vorge-
lagerten Felswand nimmt, möchte ich nochmals
den Zirknitzersee erwähnen. Wir haben somit
den Eintritt, den Austritt des Ailsbachhöhlen-
flusses kennen gelernt und wissen ebensowohl wo
er sein Wasser hergenommen und wo er seinen
Schutt abgelagert hat. Nicht ebenso vollständig
läßt sich das Bild des vorgeschichtlichen Wiesent-
höhlenflusses rekonstruieren. Einzelne Teile von
ihm kennen wir indessen. Ich erinnere hier an
die Oswaldhöhle und das Quackenschloß mit
ihren typischen Strudellöchern, erwähne die
Riesenburg bei Doos, die vielleicht den Zufluß
eines unterirdischen Nebenflusses darstellt und
möchte zum Schluß nur noch anführen, daß es
mir auch noch gelungen ist, bei einer ganzen
Anzahl der anderen auf dem Plateau gelegenen
Höhlen, wie der Schönstein - Brumsteinhöhle —
und im Schwingbogen deutliche Reste ehemaliger
Flußwirkungen festzustellen, möchte aber auf
Einzelheiten an dieser Stelle nicht näher eingehen.
Alle diese Betrachtungen zusammenfassend, möchte
ich die PVänkische Schweiz als ein Deutsches
Karstgebiet bezeichnen, das uns allerdings infolge
von Klimaveränderung heute nur noch als nicht
mehr in diesem Sinne fortschreitende Endbildung
vorliegt.
Gar manchmal steht der Geologe vor einer
1 albildung, die er nicht ohne weiteres zu erklären
imstande ist. Sollten da meine Ausführungen die
Möglichkeit geben, durch die Annahme einge-
stürzter Höhlenflußsysteme Aufklärungen zu
schaffen, so wäre die Aufgabe meiner Ausführun-
gen erfüllt.
[Nachdruck verboten.]
Mit dem vor einem Jahre {25. XII. 1920) von
uns geschiedenen Prof. Dr. Helmut Bruch-
mann in Gotha ist der Botanik ein Forscher
Helmut Bruchmanu.
Von K. Goebel.
entrissen worden, der aus mehr als einem Grunde
verdient, daß wir uns dankbar seiner erinnern.
Es ist nicht nur der Glanz seiner Entdeckungen,
N. F. XXI. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
109
sondern auch seine ganze Persönlichkeit eine
Ehre für die deutsche Wissenschaft. Wir sind
gewöhnt, daß die wissenschaftliche Tätigkeit in
den Instituten der Hochschulen und den wenigen
Forschungsinstituten, die wir besitzen, sich ab-
spielt. Unsere jungen Botaniker sind unglücklich,
wenn sie nicht ein „den Anforderungen der Neu-
zeit" entsprechendes Laboratorium zur Verfügung
haben und glauben nur in einem solchen mit
Erfolg wissenschaftlich tätig sein zu können.
Bruchmann hat gezeigt, daß man ohne ein
Institut mit den einfachsten Hilfsmitteln noch
ungemein viel leisten kann und wenn wir seine
Lebensarbeit überblicken, so werden wir zugeben
müssen, daß sie an Bedeutung die nicht weniger
Universitätsprofessoren seiner Zeit recht erheblich
übertroffen hat.
Sein Lebensgang war ein sehr einfacher.
Geboren am 13. November 1847 in Pollow in
Pommern als Sohn eines Ackerbürgers widmete
er sich zunächst der Vorbereitung für den Lehrer-
beruf. Aber bald ging er zur Universität über.
Er studierte in Jena, wo Strasburger, damals
auf der Höhe seiner Tätigkeit, sein Lehrer war.
Er legte im Jahre 1874 das Doktorexamen ab
und erhielt 1877 eine Lehrstelle in Gotha, wo er
bis zu seiner im Jahre 1906 erfolgten Pensionie-
rung wirkte. Seine wissenschaftliche Tätigkeit
fiel in die Periode der Botanik, welcher das Genie
Wilhelm Hofmeisters den Stempel aufge-
drückt hatte.
In Hofmeister feierte die entwicklungs-
geschichtliche Richtung, die namentlich durch
S c h 1 e i d e n und N ä g e 1 i eingeleitet worden war,
ihre höchsten Triumphe. Ihm gelang es, durch
Auffindung des Generationswechsels die Homo-
logien zwischen Moosen und Farnen aufzufinden
und die Kluft zu überbrücken, welche zwischen
„Kryptogamen" und „Phanerogamen" zu bestehen
schien. Die Pteridophyten oder Gefäßkrypto-
gamen boten den Schlüssel zum Verständnis der
Lebensgeschichte der Samenpflanzen. Sie rückten
demgemäß für längere Zeit in den Mittelpunkt
des wissenschaftlichen Interesses. Ihnen gehörte
auch die Lebensarbeit Bruchmanns an. Schon
seine auf Strasburgers Veranlassung ausge-
führte Dissertation „Über Anlage und Wachstum
der Wurzeln von Lycopodium und Isoetes" (1874)
beschäftigte sich mit den Pflanzen, mit welchen
Bruchmanns Name jetzt für immer verbun-
den ist.
Schon diese Erstlingsarbeit zeigt eine vortreff-
liche Beobachtungsgabe und ein ungewöhnliches
Geschick in der Anfertigung mikroskopischer
Präparate.
Damals war eine Streitfrage vor allem das
Vorhandensein einer „Scheitelzelle". Unter dem
Einflüsse Nägel is glaubte man eine solche an
den Vegetationspunkten allgemein voraussetzen
zu müssen. Der Verf. dieser Zeilen erinnert sich,
daß noch im Jahre 1876 der verstorbene bekannte
Botaniker Schwendener ihm erklärte, er halte
das Wachstum eines Vegetationspunktes ohne
Scheitelzelle „mechanisch für unmöglich". Bruch-
manns Untersuchungen aber hatten (mit anderen)
dieses Dogma (denn weiter war es nichts) aber
schon als unhaltbar erwiesen und die eigenartige
Verzweigung der Wurzeln — sie weicht von den
aller anderen Pflanzen ab — bei den Lycopodien
aufgehellt.
Die Gattung Lycopodium war die, deren Ent-
wicklungsgang auch von Hofmeister nicht er-
mittelt werden konnte. Zwar bilden die Lyco-
podien unserer Wälder so massenhaft Sporen aus,
daß diese einen Handelsartikel (Sporae Lycopodii)
(für Apotheken u. a.) bildeten. Aber alle Ver-
suche, diese Sporen zur Keimung zu bringen,
schlugen fehl — nur de Bary war es gelungen,
von Lycopodium inundatum einmal wenigzellige
Körper aus Sporen zu erziehen — sie gingen
durch einen Zufall zugrunde und konnten später
nicht mehr erhalten werden. Man wußte nicht
einmal sicher, ob Lycopodium zu den isosporen
oder heterosporen Pteridophyten gehöre — im
letzteren Falle wären die Sporen als Mikrosporen
zu betrachten gewesen. Diese Frage wurde ent-
schieden als Fankhauser in der Schweiz 1872
Prothallien von Lycop. annotinum mit Keim-
pflanzen fand. Es waren unterirdische chlorophyl-
lose Knöllchen, die offenbar als Saprophyten
lebten. Aber der Entdecker wußte mit seinem
Fund nicht eben viel anzufangen und die wichtig-
sten Bauverhältnisse der Prothallien blieben im
Dunkeln. 1884 fand der Verf. bei Rostock chloro-
phyllhaltige Prothallien von Lycopodium inunda-
tum, da aber T r e u b seine javanischen Funde im
selben Jahre veröffentlichte, unterblieb zunächst
eine Beschreibung. Treub und Bruchmann
sind es gewesen, welche die große Lücke in
unseren Kenntnissen über Lycopodium ausgefüllt
und uns die merkwürdigen Gestaltungs- und
Lebensverhältnisse der Geschlechtsgeneration er-
schlossen haben. Diese ist nicht nur biologisch
höchst interessant — bei den meisten Arten lebt
sie als Saprophyt im Boden mit einem Pilz ver-
gesellschaftet — sondern auch für die systematische
Gliederung der Gattung wichtig.
Bruchmann gelang es , bei fast allen deut-
schen Arten die Entwicklungsgeschichte des Pro-
thalliums und des Embryos lückenlos festzustellen.
Das war nur möglich durch zielbewußte, rastlose
Arbeit, bei der er durch seine Frau aufs beste
unterstützt wurde, und durch eine ganz seltene
Beobachtungsgabe. Die Arbeiten, in denen Bruch-
mann seine Funde beschrieben hat, sind Muster
der Exaktheit und mit schönen, lehrreichen Ab-
bildungen geschmückt. Es gelang ihm schließ-
lich auch die Sporen zur Keimung zu bringen.
Wir kennen jetzt die Lebensverhältnisse dieser
Prothallien ebensogut wie die der anderen Pteri-
dophyten.
Außer den Lycopodien war Bruchmanns
Tätigkeit namentlich den Selaginellen gewidmet.
Ihre gesamte Morphologie hat durch ihn die
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 8
größte Förderung erfahren. Er lehrte uns die
verschiedenen Keimungstypen der Makro-Prothal-
lien kennen, wies für einige Formen Zeugungs-
verlust (Apogamie) nach, erforschte die Embryo-
entwicklung, die Bildung der merkwürdigen Wurzel-
träger, deren Regeneration und Umbildung. Die
technischen Schwierigkeiten, die namentlich bei
der Untersuchung der Prothallien zu überwinden
waren, sind sehr große. Bruchmann besiegte
sie auch ohne Mikrotom. Seine Abbildungen
zieren unsere Lehr- und Handbücher. Auch die
merkwürdige Formengruppe der Ophioglosseen
(bei uns vertreten durch Ophioglossum und Botr-
ychium) verdankt iKm eine wesentliche Förderung
unserer Kenntnisse. Die Geschlechtsgeneration
dieser Formen zeigt merkwürdige Konvergenz-
erscheinungen zu der der meisten Lycopodien.
Auch sie lebt als Holosaprophyt unterirdisch und
hat sich deshalb lange der Nachforschung ent-
zogen. Bruchmanns Scharfsinn hat auch hier
Erfolge gefeiert. Er behielt seine Schätze aber
nicht für sieht. Zahlreiche botanische Institute
verdanken ihm sorgfältig montierte Sammlungen
von Prothallien und Keimpflanzen von Lycopodium,
Ophioglossum u. a.
Er hat gezeigt, was ein Naturforscher, der ganz
auf sich allein gestellt ist, leisten kann, wenn er
sich auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert und
wenn er der rechte Mann dazu ist, es auszubeuten.
Es wird für alle Zeiten unter den Botanikern der
Hof meist ersehen Ära einen Ehrenplatz ein-
nehmen.
Einzelberichte.
tiber die eigentümliche Naliruiigsgewinuuuj
einer Schlupfwespe (Habrocytus cionicita).
(Mit 1 Abbildung.)
In den Cpt. rend. hebdom. des seances de
l'acad. des sciences Bd. 173, Nr. 17, 192 1 berichtet
Jean L. Lichtenstein über die Biologie einer
Schlupfwespe (Chalcidide) und weist besonders
auf die ganz eigentümliche Art ihrer Nahrungs-
gewinnung hin. Da die von L. beschriebenen
und abgebildeten Verhältnisse bis jetzt wohl einzig
dastehen, so seien sie hier wiedergegeben unter
Benutzung der L.schen Abbildung. Einige Be-
merkungen füge ich hinzu. Zunächst ist voraus-
zuschicken, daß die von L. neu beschriebene
Schlupfwespe Habrocytus cionicita im Jugend-
stadium parasitiert, und zwar an den Larven und
Puppen des Käfers Cionus thaspi (Familie Curcu-
lionidae). Das legreife Wespenweibchen sucht
sich Körner aus, in denen die Käferlarve lebt und
sticht durch die Schale hindurch die Käferlarve
an: einmal um sie zu lähmen und zweitens um
ihre Eier — sie schlüpfen nach 2 bis 3 Tagen
aus — unterzubringen. Die schlüpfende Wespen-
larve saugt, wie viele ektoparasitäre Larven dieser
Art, die Käferlarve aus. Ganz eigentümlich ist
nun die Art, wie das Weibchen die Käferlarven
derselben Art zur eigenen Ernährung auswertet.
Hierzu schicken wir voraus, daß eine ganze Reihe
von Schlupfwespen Raupen oder Eier anstechen
und durch die mit dem Stachel gesetzte Stich-
stelle diese Nahrungsobjekte aussaugen. Ich selbst
bearbeite zurzeit eine Braconide (Habrobracon
brevicornis Wesm.), welche genau in der gleichen
Weise verfährt. Darüber wird an anderer Stelle
berichtet werden. Diese Eigentümlichkeit scheint
bei den Schlupfwespen und ihren Verwandten
weiter verbreitet zu sein als man bisher annahm.
In derselben Art und Weise verfährt auch die
durch L. bekannt gewordene Art Habrocytus. —
Da aber die Käfcrlarve, von welcher sich die
• 'i^t( Wespe ernährt, in einem Samenkorn lebt, und da
.|' ein Zwischenraum zwischen Käferlarve und Samen-
, schale bleibt, so kann die Wespe nicht ihren
Mund auf die von ihr gesetzte Stichstelle in der
Käferlarvenhaut anpressen. In der Abbildung sind
die Verhältnisse wiedergegeben. Die Wespe muß
den Zwischenraum (in der Abbildung schwarz
gehalten) auf irgendeine Art und Weise über-
brücken. Sie verfährt folgendermaßen. Der Lege-
stachel ist so lang, daß er durch die Samenschale
über den Zwischenraum hinweg bis in die Käfer-
larve reicht. Diesen Umstand benutzt die Wespe
wie folgt. Das Weibchen sticht durch die Schale
die Larve an und läßt seinen Legestachel bis zu
einer halben Stunde in dieser Lage stecken. Dabei
tritt ein eigentümliches Sekret, über dessen Natur
L. keine weiteren Angaben macht, längs des
Stachels aus; es gerinnt und umschließt den Stachel
schließlich wie eine feste Scheide. Ist dies ge-
schehen, so zieht die Wespe den Stachel heraus,
und nun hat sie sich selbst mit Hilfe ihres Lege-
stachels eine feine kapillare Röhre gebildet, die
vom Inneren der Käferlarve durch die Samenschale
nach außen geht. Die L.sche Abbildung gibt
N. F. XXI. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
diese höchst sonderbaren Verhältnisse sehr an-
schaulich wieder. Der Außenöffnung der selbst
geschaffenen Steigröhre preßt jetzt die Wespe den
Mund auf und saugt nun durch dieses Rohr die
Käferlarve von außen her mit aus, so wie in
der Samenschale die Larve der Wespe die Käfer-
larve aussaugt. — Die Richtigkeit der L. sehen
Beobachtungen vorausgesetzt, hätten wir hier die
sehr eigentümlichen Verhältnisse, daß der Lege-
stachel, bzw. Wehrstachel, zu bestimmter Ver-
wendung bei der Nahrungsaufnahme kommt. In
dieser Hinsicht sind die L.schen Beobachtungen
völlig neu. Daß die mütterlichen Tiere bei Schlupf-
wespen zugleich mit ihren Nachkommen an ein
und demselben Objekt saugen wie Habrocytus, ist
auch von anderen Formen bekannt. Genau die
gleichen Verhältnisse habe ich jetzt bei der an
Mehlmotten parasitierenden Braconide Habr. brev.
(s. o.) festgestellt. Die erwachsenen Tiere (Weibchen)
leben von der gleichen Nahrung (auch am gleichen
Stück) wie die Larven. Für die Deutung be-
stimmter sozialer Erscheinungen bei Wespen er-
scheinen mir diese Beobachtungen wichtig.
A. Hase (Berlin-Dahlem).
Innervation und Inkretbildung.
In einem Aufsatz „Über das Wesen der Inner-
vation und ihre Beziehungen zur Inkretbildung" ')
stellt Abderhalden Befunde zusammen, die
uns in beachtlichem Maße weitergebracht haben
in der Behandlung der Frage, ob die Einwirkung
der Nerven auf die Erfolgsorgane eine direkte
oder indirekte ist. Es handelt sich hier darum,
ob die innervierten Organe etwa durch einen Stoß
beeinflußt werden, dessen Bildung durch die in
Frage kommenden Nerven bewirkt wird.
Schon vor längerer Zeit beobachtete H o w e 1 1 ,
daß der Kaliumgehalt der Herzflüssigkeit zunimmt,
wenn der Nervus vagus gereizt wird. Es liegt
also nahe, die hemmende Wirkung, die bei Reizung
•) Klinische Wochenschrift, i. Jahrg., Nr. i, 1922.
des Nervus vagus am Herzen zu beobachten ist,
auf das Kalium oder überhaupt auf eine Gruppe
von Stoffen zurückzuführen, die infolge der Reizung
in der Durchspülungsflüssigkeit des Herzens ver-
mehrt auftreten. Abderhalden geht in seinem
Aufsatz besonders auf Versuche von O. Loewi
(1921) ein, der diese bedeutsame Frage in der ge-
schilderten Richtung weiter aufrollt und der neuen
Theorie von der Beziehung der Inkrete zur Inner-
vation eine festere Basis verschafft. Im Nach-
stehenden folge ich den Ausführungen Abder-
haldens, der die Methode und die Ergebnisse
der Loe wischen Versuche der besseren Ver-
ständlichkeit halber in vereinfachter Form dar-
stellt. Loewi beobachtete, daß die Herzflüssig-
keit (Ring ersehe Lösung) eines von Reizen un-
beeinflußten Herzens auf ein ebensolches ohne
Einfluß bleibt. Reizte Loewi dagegen den Nervus
parasympathicus, wobei eine Verlangsamung der
Herzschlagfolge eintritt, so konnte er nach Über-
tragung des Herzinhaltes feststellen, daß auch das
von Reizen unbeeinflußte Herz langsamer schlägt,
also ebenso reagiert wie das Herz, dem die Flüssig-
keit entnommen wurde. Der Inhalt eines Heraens,
das unter dem Einfluß des Nervus sympathicus
steht, auf ein unbeeinflußtes Herz übertragen, be-
wirkt raschere Schlagfolge und stärkere Zusammen-
ziehungen. Es scheint also durch die Reizung
der erwähnten Nerven eine Inkretbildung verur-
sacht zu werden. Die Inkrete bewirken dann erst
Hemmung oder Steigerung der Herztätigkeit.
Wie aus einer Mitteilung ') von Loewi selbst
hervorgeht, entstehen die Inkrete nicht etwa i n -
folge der gehemmten oder gesteigerten Tätigkeit
des Herzens, sondern „unmittelbar unter dem Ein-
fluß der Nervreizung vor aller Tätigkeitsänderung
des Herzmuskels". Die entstehenden chemischen
Stoffe bezeichnet Loewi als „lokal gebildete und
wirksame Hormone". Nach allen Befunden scheint
also der Herzmuskel mit den endokrinen Organen
auf einer Stufe zu stehen. Schließlich weisen auch
die neuen Ergebnisse auf einen nahen Zusammen-
hang zwischen Nervensystem und Inkretion hin.
Gustav Zeuner.
Kirchner, O. v. , Di
ihre Erkennung und Bekämpfung.
4. Auflage. 44 Seiten. Mit über loo farbigen
Abbildungen auf 2 Tafeln und 21 Textfiguren.
Stuttgart 1921, Verlag E. Ulmer.
Das treffliche Büchlein ist für weitere Kreise
bestimmt und dürfte sich in der Hand von Obst-
züchtern und Gartenfreunden als treuer Ratgeber
bewähren, indem es nicht allein zuverlässige Aus-
kunft über die vielen tierischen und pflanzlichen
Schädlinge gibt, die den Obstbau bedrohen, son-
dern auch gleich den richtigen Weg zeigt, wie
den Schädlingen erfolgreich zu begegnen ist. Die
Bücherbesprechungen.
Obstbaum feinde, Benutzung gestaltet sich dem Zweck entsprechend
so einfach wie möglich. Ein langwieriges Be-
stimmen oder Vergleichen mit mehr oder minder
passenden Beschreibungen, Dinge, die erfahrungs-
mäßig dem Anfänger immer viel Schwierigkeiten
bereiten, sind unnötig, weil wohl in fast allen
Fällen schon ein Blick auf die bunten, im allge-
meinen trefflich gelungenen farbigen Bilder ge-
nügen wird, um festzustellen, welcher Feind ge-
rade in Frage kommt. Nähere Angaben und
namentlich die Vorschriften zur Bekämpfung sind
dann leicht im Text zu finden. Letzterer ist
sachgemäß durchgearbeitet und in der neuen
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 8
Apf läge dem Stande der Wissenschaft entsprechend.
Den praktischen Bedürfnissen kommt ein beson-
deres Kapitel entgegen, in dem die verschiedenen
Maßnahmen zur Bekämpfung, wie Leimringe,
Fanggürtel und deren Anwendung, sowie die
Herstellung und Benutzung der wichtigsten pilz-
tötenden und insektentötenden IVIittel geschildert
werden. Eine Anzahl der bewährtesten als Be-
zugsquellen in Betracht kommenden Firmen ist
genannt, ebenso sind auch die wichtigsten Gerät-
schaften und Apparate abgebildet worden. Für
eine etwaige Neuauflage möchten wir empfehlen,
den Apfelsauger (Psylla mali), der in manchen
Jahren sich als ungemein lästig erweist, möglichst
auch mit Larve bildlich darzustellen. Es könnte
dafür die in Fig. 30 gegebene und nicht beson-
ders gelungene Abbildung des Birnsaugers aus-
gemerzt werden. R. Heymons.
Dannemann, Friedrich, Plinius und seine
Naturgeschichte in ihrer Bedeutung
für die Gegenwart (Klassiker der Natur-
wissenschaften und der Technik, herausgegeben
von Fr. Strunz). 250 S. Jena 1921, Eugen
Diederichs. Preis brosch. 30 M., geb. 40 M.
Bei dem erfreulicherweise immer mehr er-
starkenden Interesse für die Geschichte der Natur-
wissenschaften ist es sehr begrüßenswert, daß
sich Dannemann entschloß, die berühmte
„Naturgeschichte" (Naturalis historia) des
Römers Plinius, die das ganze IMittelalter hin-
durch das höchste Ansehen genoß, auszugsweise
in guter deutscher Übersetzung herauszugeben.
Die bereits vorhandenen Übersetzungen sind z. T.
recht schwerfällig und oft auch nicht leicht zu-
gänglich. Außerdem sind sie für den, der nicht
iVIuße hat, sich eingehender mit Plinius zu be-
fassen, zu umfangreich, da sie den ganzen Text
enthalten. Dannemann hat sich bemüht aus
den 37 Büchern des Plinius das auszuwählen,
„was heute noch in hohem Grade fesselnd und
von Wert ist und daher die Beachtung der ge-
bildeten Kreise im weitesten Sinn des Wortes
verdient". Im großen und ganzen dürfte ihm
diese Auswahl gelungen sein. Sehr wünschens-
wert wäre es aber gewesen, wenn der Heraus-
geber bei seinen Auszügen die betr. Pliniusstelle
angegeben hätte, was doch leicht durch Rand-
noten hätte gemacht .werden können. Die Ein-
leitung bringt einen kurzen Überblick über die
antike Naturwissenschaft und einiges über das
Leben und die Quellen des Plinius. Wer sich,
ohne zeitraubende Studien machen zu können,
über die naturwissenschaftlichen Kenntnisse des
klassischen Altertums unterrichten will, dem sei
das Buch bestens empfohlen. Die Ausstattung
ist, wie beim Diederichsschen Verlag nicht
anders zu erwarten, recht gut. Marzell.
Müller, Dr. Max, Anfangsgründe der Che-
mie. Ein Leitfaden für Haushaltungs- und
Gewerbeseminare, höhere Mädchen- und Fort-
bildungsschulen, Chemieschulen und ähnliche
Anstalten. Zweite durchgesehene und vermehrte
Auflage. IV und 273 Seiten mit 41 Abbil-
dungen im Text. Berlin 192 1, Verlag von
Julius Springer. Preis geh. 20 M.
Ein ganz elementar gehaltenes, recht geschickt
abgefaßtes, nur auf das Praktische gerichtetes, die
wissenschaftliche Seite der Chemie absichtlich
ganz unberücksichtigt lassendes, mit vielen lehr-
reichen Abbildungen ausgestattetes Büchlein. Der
vom Verf. ins Auge gefaßte Leserkreis, für den
das Buch in seiner ganzen Anlage zweifellos recht
geeignet ist — in gut geleiteten Chemieschulen
wird man an die Schülerinnen allerdings auch
einige Anforderungen in theoretischer Chemie
stellen — geht aus dem Untertitel mit genügen-
der Deutlichkeit hervor.
Die Ausstattung ist einfach, aber durchaus
ausreichend, der Preis ist als niedrig zu bezeichnen.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Kossei, Dr. W. , Valenzkräfte und Rönt-
genspektren. Mit II Abb. Berlin 192 1,
Julius Springer. 12 M.
Zwei gut stilisierte Aufsätze des bekannten
Physikers über das Elektronengebäude des Atoms
in der heute herrschenden Vorstellung. Einige
Sachkenntnis vorausgesetzt, ist die Schrift eine
sehr gute Zusammenfassung und Diskussion aller
neueren , selbst neuesten experimentellen und
spekulativen Ergebnisse. Die Einwände gegen
die geschilderte Vorstellung des Atomgebäudes
treten bei der ausgesprochenen Stellung des Verf.s
naturgemäß zurück. Zur Ergänzung in dieser
Beziehung sei auf die Arbeit von J. Starck im
Jahrbuch der Radioaktivität 17, Heft 2, 1920 ver-
wiesen. — S. 48 ist der Wert für E„ versehent-
lich negativ gesetzt. H. H.
Literatur.
Abbandlungen und Vorträge aus dem Gebiet der Mathe-
matik, Naturwissenschaft und Technik. Heftö: Hochmuth,
Dr. Kurt, Der Kreiselkompaß. Leipzig- Berlin '21, B. G.
Teubner. 12 M.
Lebensvoller Unterricht. Band 8: Walt her, Prof.
Ernst, Tierkunde. Leipzig '21, Dürrsche Buchhandlung.
Kraepelin, K., Einführung in die Biologie. Grofle
Ausgabe. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner. Geb. 35 M.
Inhalt: H. K. Becker, Reste eines alten Höhlenflusses. S. 105. K. Goebel, Helmut Bruchmann. S. 108. — Einzel-
berichte: J. L. Lichtenstein, Über die eigentümliche Nahrungsgewinnung einer Schlupfwespe (Habrocytus cionicita).
(I Abb.) S. iio. Abderhalden, Innervation und Inkretbildung. S. III. — Bücberbesprechungen: O. v. Kirch-
ner, Die Obstbaumfeinde, ihre Erkennung und Bekämpfung. S. Iil. Fr. Dannemann, Plinius und seine Natur-
geschichte in ihrer Bedeutung für die (Jegenwart. S. 112. M. Müller, Anfangsgründe der Chemie. S. 112. W.
Kos sei, Valenzkräfte und Röntgenspektren. S. 112. — Literatur: Liste. S. 112.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Reihe 37. Band.
Sonntag, den 26. Februar 1922.
Nummer 9.
tNachdruck verboten.]
Auf zahllosen Wegen arbeitet sich die F"orschung
an die Rätsel des Lebens heran; je näher dem
Ziele, um so schwerer gangbar werden die Wege ;
bisher enden sie alle vor unüberwindlichen Hinder-
nissen. Daher wird immer wieder Ausschau ge-
halten nach neuen Wegen, neuen Methoden, die
neue Fortschritte versprechen.
Als man zuerst im Mikroskop in viel hundert-
facher Größe die lebendige Substanz unmittelbar
vor Augen sah und endlich erkannte, an welchen
Teil der Lebenseinheit, der Zelle, das Leben selbst
wirklich und wesentlich gebunden ist, da mochte
begeisterte Hoffnung entstehen, nunmehr die
letzten Geheimnisse zu ergründen; es galt ja nur
noch die Eigenschaften des Lebenssubstrates zu
erforschen und zu analysieren. Doch vor diesem
neuen, scheinbar so nahen Ziele türmten und
türmen sich gewaltig immer neue Hindernisse.
Das Mikroskop gestattete in stetig gesteigerter
Vollkommenheit das Studium der Morphologie
der lebenden Substanz; einen wie reichen Inhalt
aber auch allmählich der morphologische Begriff
des Protoplasmas gewann, es waren damit kaum
Lösungen irgendwelcher nach dem Wesen der
Lebenserscheinungen gerichteter Fragen gewonnen.
Auch die Chemie — selbst in der ungeahnten
Verfeinerung ihrer Methodik als Mikrochemie —
kann wohl das Leben nicht restlos erfassen ; sie
arbeitet meist nur mit tödlich wirkenden Mitteln;
aber im Tode verrät die Zelle nur wenig von
den Vorgängen und Kräften, die ihrem Wesen
eigen waren, eben dem Leben, das sie verlor.
Wesentlich mildere, wenn auch immer noch
rohe Methoden stehen der physikalischen
Chemie zu Gebote; diese völlig neuartige, ge-
waltig aufstrebende Wissenschaft ist wohl berufen,
auch das direkte Studium der lebendigen Substanz
ganz wesentlich zu fördern.
Schon der Entdecker der lebenden Substanz
der Pflanzenzelle, derjenige der zuerst in völliger
Klarheit ihre wahre Bedeutung erkannte, der
Schöpfer des Protoplasmabegriffes Hugo von
Mo hl hat in der ersten Beschreibung dieser ge-
heimnisreichen Materie (1846) eine physikalische
Eigenschaft derselben als besonders charakteristisch
hervorgehoben : er nennt sie eine „zähflüssige
Masse", eine „zähe Flüssigkeit". Die relativ hohe
Zähigkeit oder Viskosität ist also das-
jenige Merkmal des Protoplasmas, das zunächst
Erwähnung fand. Das Studium dieser Eigenschaft,
lange Zeit hindurch vernachlässigt, ist erst in den
letzten Jahren zu erhöhter Bedeutung gelangt.
Wir wollen sehen, welche Methoden dieses
Die Viskosität des Protoplasmas.
Von Dr. Friedl Weber, Graz.
Studium ermöglichen und welche Ergebnisse hier-
mit bisher erzielt worden sind.
Die Viskosität oder innere Reibung
einer F"lüssigkeit ist der Widerstand, der sich der
Bewegung ihrer Teile gegeneinander entgegen-
setzt. Ihre Messung ist bei Flüssigkeiten im all-
gemeinen nicht schwierig. Die einfachste und
gebräuchlichste Methode ist die Auslauf-
methode. Sie beruht darauf, daß die Ausfluß-
menge einer in bestimmter Zeit aus einer Kapillar-
röhre ausströmenden Flüssigkeit abhängig ist von
der Viskosität der Flüssigkeit. Die Messung wird
so vorgenommen, daß man eine bestimmte Menge
Flüssigkeit durch eine Glaskapillare „das Viskosi-
meter" strömen läßt und die Durchfließzeit bzw.
Auslaufzeit bestimmt. Durch ein derartiges Vis-
kosimeter läßt sich aber das lebende Protoplasma
nicht pressen. Allerdings finden sich auch in der
Natur Verhältnisse realisiert, unter denen lebendes
Protoplasma in analoger Weise durch Kapillaren
strömt, wie eine Flüssigkeit in einem Viskosi-
meter. Es sind dies die zarten Strenge der Plas-
modien der Myxomyceten, die in wechselndem
Rhythmus vom Endoplasma durchflössen werden.
Wäre der Druck oder die Kraft bekannt, welche
diesen Strom in dauender Bewegung hält, so ließe
sich wohl in diesem Falle nach dem Poiseuil le-
schen Gesetz die Viskosität des Protoplasmas be-
rechnen. Dies ist aber derzeit nicht der Fall, und
so ist es heute nicht möglich, mit Hilfe der Aus-
laufmethode die Viskosität des Protoplasmas zu
ermitteln.
Die beschriebene Auslaufmethode wird in der
physikalischen Chemie verwendet zur Viskositäts-
messung leicht beweglicher Flüssigkeiten; soll die
innere Reibung zähflüssiger Lösungen gemessen
werden, so leistet eine andere die sog. Fall-
m et ho de bessere Dienste (vgl. neuestens Gibson
1920).
Diese Methode beruht darauf, daß die Sink-
geschwindigkeit von Kugeln, die in einer Flüssig-
keit unter dem Einflüsse der Schwerkraft fallen,
abhängig ist von der Zähigkeit der Flüssigkeit.
Die Messung der Zähigkeit nach diesem Prinzipe
ist höchst einfach. Man füllt einen Glaszylinder
mit der Flüssigkeit, läßt darin eine Glaskugel
sinken und mißt die Zeit, die sie braucht, um
eine bestimmte von zwei Marken begrenzte Strecke
zu durchfallen. Will man die Messung, um Mittel-
werte zu erhalten, wiederholen, so braucht der
Glaszylinder nur um 180" gedreht zu werden.
Bestimmte Pflanzenzellen stellen nun selbst
nach obigem Prinzipe gebaute Viskosimeter dar.
114
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 9
Es ist das Verdienst Heilbronns (1912, 1914),
dies erkannt und damit als erster das aktuelle
Interesse auf die Viskositätsverhältnisse des Proto-
plasmas gelenkt zu haben.
Die Zellwand entspricht der Wand des Glas-
zylinders; sie schließt die Flüssigkeit: das Proto-
plasma ein und in dieser eingebettet liegen die
zur Fallzeitmessung benötigten „Kugeln", nämlich
bewegliche Stärkekörner. Wie bekannt, haben
Haberlandt und Nemec gezeigt, daß manche
Zellen, z. B. die Stärkescheidenzellen der Stengel
höherer Pflanzen mit beweglichen Stärkekörnern
ausgestattet sind, die dem Zuge der Schwerkraft
folgend sich stets an die physikalisch untere Zell-
wand anlegen. Dreht man einen derartigen Stengel
um 180", so wandern die Stärkekörner der gegen-
überliegenden nunmehr unteren Wand zu und
treffen dort nach bestimmter „Wanderzeit" ein,
wie sich an nachher angefertigten Schnitten ohne
weiteres mikroskopisch feststellen läßt. Heil-
bronn hat nun gefunden, daß bei geeigneten
Versuchspflanzen (Stengel von Phascolus vidgaris)
das Sinken der Stärkekörner an Schnitten direkt
in der lebenden Zelle verfolgt werden kann. Die
Schnitte kommen zu diesem Behufe in einem
Tropfen Wasser auf dem Objektträger auf das
horizontal umgelegte Mikroskop ; um die Drehung
um 180" durchzuführen wird entweder der Objekt-
tisch gedreht oder das ganze Mikroskop an einer
Drehscheibe. Um die Fallzeit der Stärkekörner
stets längs der gleichen Wegstrecke zu messen,
schaltet man in das Okular ein Mikrometer ein
und wählt die Entfernung zweier beliebiger Teil-
striche als Fallhöhe.
Nach dem gleichen Prinzipe läßt sich auch
die Viskosität des Zellsaftes lebender Pflanzen-
zellen messen (Weber 1921). Man beobachtet
auch hier das Sinken spezifisch schwererer
Körperchen, z. B. von Calciumoxalatkristallen, die
sich nicht selten im zentralen Zellsaftraum vor-
finden. (Vgl. auch Prankerd 1920.)
Auch in tierischen Zellen gibt es bisweilen
spezifisch schwerere Inhaltskörper, die unter dem
Einflüsse der Schwerkraft innerhalb des Cyto-
plasmas absinken. Froscheier,überhaupt Amphibien-
eier besitzen eine weiße und eine dunkle Hemisphäre.
Der weiße Pol, der vegetative, ist dotterreich und
stets nach unten gekehrt, da die weißen Dotter-
plättchen ein größeres spezifisches Gewicht be-
sitzen als das leichtere Eiprotoplasma. In den
noch unreifen Hierstockseiern finden sich die
Dotterkörperchen, obwohl sie schon schwerer sind
als das Cytoplasma noch nicht nach der physika-
lisch unteren Eihälfte verlagert; erst in einem
späteren Entwicklungsstadium des Eies sinkt der
weiße Dotter im Eiinnern nach unten. Es muß
sich also wohl — was gewiß von Interesse ist • —
in diesem Entwicklungsstadium der Widerstand,
der sich der Sinkbewegung entgegensetzt, das ist
eben die Zähigkeit des Cytoplasmas, verringert
haben. Aber noch vor diesem Stadium der
Viskositätsverringerung lassen sich die Dotter-
plättchen verlagern, wenn man sie nicht dem
schwachen Zuge der Schwerkraft überläßt, sondern
bei raschem Zentrifugieren hohen Schleuderkräften
aussetzt. Dann wird auch bei höherer Plasma-
viskosität, die unter natürlichen Verhältnissen ein
Absinken der Inhaltsbestandteile nicht mehr ge-
stattet, eine Umlagerung erzwungen werden.
Diese Zentrifugierungsmethode mit
ihren abstufbaren Kräften ist daher ein ganz vor-
zügliches Mittel, um Viskositätsänderungen des
lebenden Protoplasmas auf die Spur zu kommen.
Aus den von verschiedensten Gesichtspunkten aus
schon lange ausgeführten Zentrifugierungsversuchen
lassen sich daher auch manche Schlüsse auf die
innere Reibung des Cytoplasmas ziehen. Doch
erst Heilbrunn in Amerika hat die Zentri-
fugierungsmethode zu diesem Zwecke eigens an-
gewendet (191 3 und später) und zwar an tierischen
Eiern. Ebenso verspricht diese Methode mit
Pflanzenzellen Erfolge, wie aus früheren Versuchen
von Szücs 191 3 und neuen von Weber 192 1
mit Spirogyren hervorgeht.
Auch auf andere Weise nicht nur durch
Schwer- und Zentrifugalkraft lassen sich im Cyto-
plasma eingebettete Körper vor allem der Zell-
kern zur Verlagerung bringen. Es hat jüngst
Meier (1921) erwiesen, daß beim Hindurchsenden
eines elektrischen Stromes durch Wurzelspitzen
(von Pisnm sativiiiii) eine Verlagerung des Zell-
inhaltes und zwar im wesentlichen ein Wandern
nach der -\- Elektrode erfolgt. Dieses Wandern
geschieht nach dem Prinzipe der Kataphorese.
Taucht man Elektroden in eine Suspension und
schaltet einen Strom ein, so wandern die suspen-
dierten Teilchen nach einer der Elektroden. Diese
Bewegung, Überführung der Teilchen unter der
Einwirkung des elektrischen Stromes heißt Kata-
phorese. Auch lebende Einzelzellen wie Blut-
körperchen, Hefe, Bakterien lassen sich elektrisch
transportieren. Dagegen war bisher kaum etwas
bekannt, ob auch innerhalb der von der Membran
umschlossenen Pflanzenzelle eine kataphoretische
Wanderung einzelner Bestandteile und Organe des
lebenden Inhaltes vor sich zu gehen vermag. Die
Geschwindigkeit der elektrischen Überführung ist
nun begreiflicherweise abhängig vom Widerstände
der sich ihr entgegensetzt, d. i. von der inneren
Reibung des Suspensionsmittels. Es gilt die Formel
V = vt f wo V die Geschwindigkeit der kata-
phoretisch bewegten Teilchen, H das Potential-
gefälle, D die Dielektrizitätskonstante der Flüssig-
keit, e der Potentialsprung zwischen dem suspen-
dierten Teilchen und der Flüssigkeit und // die
Viskositätskonstante bedeutet. Wird letzterer Wert
allzu groß, so muß natürlich die kataphoretische
Fortführung schließlich ganz unterbleiben. Daher
schließt auch Meier (1921) aus dem Unterbleiben
der kataphoretischen Umlagerung des Kerns in
den Zellen bestimmter Regionen der Wurzelspitze,
daß in diesen die Suspensionsflüssigkeit, das ist
eben das Cytoplasma, eine starke Viskositäts-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
"5
erhöhung erfahren habe, aus dem Sol- in den
Gelzustand übergegangen sei. Es ist anzunehmen,
daß auch diese Kataphoresemethode sich
in Zukunft zu quantitativer Viskositätsbestimmung
als brauchbar erweisen wird.
Doch damit sind die Möglichkeiten der Me-
thoden, welche am lebenden Cytoplasma den
Zähigkeitsgrad und seine Änderungen zu erkennen
gestatten, noch nicht erschöpft. In vielen tieri-
schen und pflanzlichen Protoplasten lassen sich
mit starker oder stärkster Vergrößerung, beson-
ders schön aber bei Dunkelfeldbeleuchtung im
Ultramikroskop, kleinste Körnchen oder tröpfchen-
artige Körperchen unterscheiden. Sie mögen
ohne Rücksicht auf ihre mannigfache chemische
Natur und physiologische Wertigkeit mit dem
Sammelnamen „Mikrosomen" bezeichnet werden.
Diese Mikrosomen sind nun nicht selten auch im
an und für sich ruhigen, keinerlei Strömungen
aufweisenden Cytoplasma keineswegs regungs-
und bewegungslos. In nie endender Unrast, in
endlosem Tanze führen sie ruckweise zitternde
Bewegungen aus. Diese Zitterbewegung vom
englischen Botaniker Brown zuerst beobachtet,
wird als Brown sehe Molekularbewegung be-
zeichnet, weil man annimmt, die Mikrosomen
werden durch die in ewigen Schwingungen be-
findlichen Flüssigkeitsmoleküle, die an sie stoßen,
zu diesem rastlosen Tanze getrieben. Man hat
es dabei keineswegs mit einer der lebenden Sub-
stanz spezifischen Eigentümlichkeit zu tun; in
jeder auch leblosen Flüssigkeit tanzen kleinste
suspendierte Körperchen, die eine Größe von
wenigen // nicht übersteigen, diesen ewigen Tanz;
aber nur solange die Flüssigkeit den Charakter
ihres Aggregatzustandes typisch bewahrt, ihre
Fluidität nicht allzu geringen, ihre Zähigkeit nicht
allzu großen Wert erreicht. Die Intensität
der Brownschen Molekularbewegung ist näm-
lich abhängig vom Viskositätsgrade der Flüssig-
keit. Die Beziehung der mittleren Geschwindig-
keit (Weglänge, Amplitude) A zu der Viskosität /;
der Flüssigkeit ist ausgedrückt durch die Glei-
chung: A ■ jj = konstant. Die Weglänge in der
Zeiteinheit ist also umgekehrt proportional der
Viskosität. Die genaue Bestimmung der Ampli-
tude der B. M. B. erfordert eine komplizierte
Apparatur; an der lebenden Substanz sind solche
Messungen noch nicht angestellt und eine quanti-
tative Ermittlung von Viskositätsänderungen ist
auf diesem Wege bisher nicht durchgeführt wor-
den; doch führt schon die gewissermaßen quali-
tative Prüfung, ob unter bestimmten Verhältnissen
die Mikrosomen im Cytoplasma in B. M. B. sich
hefinden oder nicht zu interessanten Aufschlüssen :
Erweisen sie sich in Bewegung, so läßt dies er-
kennen, das Protoplasma befindet sich in einem
dem Solzustande der Kolloide entsprechendem
Stadium; zeigen sie sich aber unbeweglich, so ist
das Protoplasma in den Gelzustand übergegangen.
Mit Hilfe dieser Methode der Brown-
schen Molekularbewegung konnte sich
Bayliss (1920) an Amöben von der reversiblen
Gelbildung des lebenden Protoplasmas überzeugen ;
die Beobachtung der B. M. B. geschah bei Dunkel-
feldbeleuchtung mit Hilfe eines Paraboloidkonden-
sors, nachdem ein Modellversuch von der Zulässig-
keit des Verfahrens überzeugte : Ein Stück Gummi-
gutt wird in einem Tropfen 5 proz. Gelatinelösung
auf einem erwärmten Objektträger verrieben; so-
fort unter dem Mikroskope untersucht zeigen die
Partikel lebhafte B. M. B. Kühlt aber der Objekt-
träger aus, beginnt die Lösung zu einer Gallerte
zu erstarren, so werden die Bewegungen der
Teilchen träge und träger und hören schließlich
auf. Bei neuerlichem Erwärmen erscheint die
Bewegung wieder. Auch andere Autoren haben
sich der B. M. B. , dieses Kriteriums des flüssigen
Aggregatzustandes zur Beurteilung des Plasma-
viskositätsgrades bedient, so u. a. Chifflot et
Gautier 1905, Russo 1910, Leblond 1919,
Seifriz 1920.
Ein weiterer neuer Weg, auf dem die For-
schung die Viskositätsverhältnisse der lebenden
Substanz aufzuklären strebt, ist die Methode
der Mikrodissektion.
Die Mikrodissektion, auch Mikrovivisektion
genannt, das Operieren, Sezieren, Zerschneiden
unter dem Mikroskop an der makroskopisch un-
sichtbaren Einzelzelle ist eine in Amerika zu er-
staunlicher Vollkommenheit ausgebildete Methodik.
An und für sich mit den gewaltsamen, rohen
Mitteln des Operateurs arbeitend, gelingt es durch
eine wunderbare Verfeinerung der Instrumente
der geübten Hand an Mikroorganismen operative
Eingrifi'e zu vollführen, die man bei der Winzig-
keit, der Empfindlichkeit, ja der „Unfaßbarkeit"
dieser kleinsten Individuen kaum für möglich
halten sollte. Die in der Hand amerikanischer
Forscher in den letzten Jahren zu wahrer Virtuo-
sität ausgebildete Methode der Mikrodissektion ver-
spricht Erfolge nicht nur auf dem Gebiete der
physikalischen Analyse der lebenden Substanz.
Zu ihrer modernen Form wurde die Methode zu-
erst von K i t e ausgestaltet, bald darauf von seinem
Schüler Chambers (191 7) weiter ausgearbeitet
und neuestens auch von Seifriz (1920) mit
Meisterschaft und Kritik geübt.
Das Prinzip der Methode ist einfach. Sie
sucht aus dem Verhalten des Protoplasmas ins-
besondere aus Strömungserscheinungen und Form-
veränderungen während des operativen Eingriffes
auf den Fluiditätszustand der lebenden Substanz
Schlüsse zu ziehen. Das Instrument des Mikro-
dissektionisten ist meist nicht das Messer, sondern
■ eine Glasnadel; diese ist so fein, daß sie an ihrer
Spitze im Durchmesser weniger als i Mikron
(0,001 mm) mißt; zu diesem feinen Ende wird
ein Röhrchen aus Spezial- Jena -Glas ausgezogen.
Die Nadel ist befestigt an einem eigenen Halter
(Stativ), der Bewegungen nach 3 facher Richtung
zuläßt. Die Zelle, an der die Operation vorge-
nommen werden soll, befindet sich in einer
feuchten Kammer [die aber an einer Seite offen
und so der Nadel zugänglich sein muß] und zwar
in einem hängenden Tropfen an der Unterseite
ii6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 9
des Deckglases, das die feuchte Kammer oben
abschließt. Die Operationsnadel, der mittels der
Mikrometerschrauben des Stativs minimalste Be-
wegungsimpulse in gewünschter Richtung erteilt
werden können, arbeitet also nicht zwischen Ob-
jektiv und Objektträger, wobei immer nur schwache
Vergrößerungen anwendbar wären; sie arbeitet
vielmehr unterhalb des Deckglases, das hier zu-
gleich als Objektträger fungiert, da auf dessen
Unterseite sich das Objekt im hängenden Tropfen
suspendiert befindet. Es kann daher selbst das
stärkste Immersionsobjektiv, ohne die Bewegungs-
freiheit der Nadel zu behindern, in unmittelbarste
Nähe an das Objekt heran.
Einen Begriff von der Leistungsfähigkeit der
Methode geben die Angaben von Kite, der be-
reits 191 3 mit seiner Seziernadel an sich teilen-
den Zellen einzelne Chromosomen herausschneiden
konnte und ihre Viskositätsverhältnisse sowie die-
jenigen der Spindelfasern zu prüfen imstande war.
Man könnte glauben, das Protoplasma erfährt
unmittelbar während der mechanischen Eingriffe
und Verletzungen weitgehende Veränderungen;
dies würde die Brauchbarkeit der Methode in
Frage stellen, denn eine Ermittlung des Zustan-
des, wie er normalerweise zu Lebzeiten besteht,
ließe sich dann damit ja überhaupt nicht durch-
führen. In der Regel treten nun aber derartige
irreführende Veränderungen noch während der
operativen Eingriffe keineswegs auf und bei ge-
nügender Vertrautheit mit den Untersuchungs-
objekten und kritischer Deutung des Geschehenen,
lassen sich zuverlässige Einblicke in die normalen
Verhältnisse des lebenden Zelleibes gewinnen
(siehe insb. Seifriz 1. c.).')
Was nun dabei die Ermittlung des jeweiligen
Viskositätsgrades der lebenden Substanz betrifft,
so begnügt man sich neuestens keineswegs damit,
zu eruieren, ob das Protoplasma flüssig oder fest,
schwach oder stark viskos, dünn- oder zähflüssig
sei. Es hat Seifriz (1920) vielmehr eine Viskosi-
tätsskala mit 10 verschiedenen Graden aufgestellt;
diese Skala wird ähnlich gute Dienste tun wie
die allbekannte Härteskala der Minerale. Die
„Standard"-Werte lassen sich durch verschieden-
prozentige Lösungen gewöhnlicher Gelatine jeder-
zeit leicht herstellen. Einige Grade dieser Skala
seien angeführt:
Viskosi-
tätsgrad
Bezeichnung
»/o-Gehalt der
Gelatine
Substanzen,
die einen ent-
sprechenden
V.-G. besitzen
I
wässerig
0,0
Wasser
3
flüssig
0,2
5
ziemlich viskos
°.5
Paraftinöl
7
sehr viskos
o,7
Glyzerin
9
gelartig
I
Vaseline
10
starres Gel
2
feste Gelatine
') Eine Kritik dieser Methode gibt Ileilbrunn 1921.
Es spricht jedenfalls sehr für die Leistungs-
fähigkeit der Dissektionsmethode , daß es mit
ihrer Hilfe möglich ist, die einzelnen 10 Grade
voneinander zu unterscheiden. Natürlich vermag
die Methode Aufschluß zu geben über physikali-
sche Eigenschaften auch spezieller Bestandteile
und Organe des lebenden Zelleibes, so des Zell-
kerns, der Piastiden, der Plasmamenbran (über
letztere macht insbesondere Seifriz 1921 be-
achtenswerte Angaben).
Schließlich sei noch einer Methode gedacht,
die an Genialität keiner anderen nachsteht. Leider
ist bisher nur eine vorläufige Mitteilung darüber
erschienen, Heilbronn hat 1918 kurz davon
berichtet. In der Wahl des Untersuchungsobjektes
ist hier eine Beschränkung nötig; es lassen sich
nämlich nur Protoplasten verwenden, welche nackt,
d. h. von keiner dauernd verfestigten Membran
umschlossen sind und daher auch ungelöste Par-
tikel in sich aufzunehmen vermögen. Daraus geht
schon hervor, daß das geeignete Objekt die Plas-
modien der Schleimpilze abgeben. Diesen nackten
Protoplasmamassen werden mikroskopisch kleine
Eisenstäbchen zur Aufnahme dargeboten. Sobald
diese von der lebenden Substanz umflossen sind,
wird das einzelne Eisenstäbchen mittels eines
Elektromagneten um 90" gedreht, bzw. das Eisen-
teilchen vom Magneten in seiner Lage fixiert,
während der umschließende Protoplast mit seiner
Unterlage eine Drehung erfährt. Die zur Drehung
des Eisenstäbchens resp. zur Verhinderung der-
selben aufgewendete Stromstärke an einem Gal-
vanometer abgelesen, gibt ein Maß für die Größe
der Reibungswiderstände (also der Viskosität),
welche das Protoplasma der Bewegung der Eisen-
teilchen entgegensetzt. Auf den ausführlichen
Bericht über diese Galvanometermethode
und die mit ihr erzielten Ergebnisse darf man
äußerst gespannt sein.
Damit schließen wir den Bericht über die
Methoden der Plasmaviskositätsmessung und
-Schätzung. Fragen wir uns nun, was wurde bis-
her mit diesen Methoden geleistet; inwieweit
wurden Aufschlüsse über die Zähigkeitsverhältnisse
und -Veränderungen der lebenden Substanz ge-
wonnen. Bei der Beurteilung der Ergebnisse
dürfen wir nicht vergessen, daß die Forschung
hier an einem Anfange steht. Die Methoden sind
alle neu, ja meist ganz neu und nur wenige haben
bisher damit gearbeitet. Trotzdem verspricht der
Anfang viel.
Hugo von Mo hl selbst , der Schöpfer des
Protoplasmabegriffes, war wohl auch der erste,
der Änderungen der Plasmaviskosität beobachtet
hat; er war der erste Mikrodissektionist, wenn
auch mit noch roher Methodik. In der so oft
zitierten aber so selten mehr gelesenen Schrift,
„Über die Saftbewegung im Innern der Zellen"
(1846) beschreibt er, wie das Protoplasma häufig
in rascher strömender Bewegung anzutreffen ist;
dabei muß es von relativ leichtflüssiger wenig
zäher Beschaffenheit sein ; in zarten feinsten Ström-
N. F. XXI. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
117
chen fließt es mitten durch den Zellsaftraum. Je
älter aber die Zelle wird, um so mehr scheint die
Substanz der Strömchen zu erhärten , ja in ge-
wissen Fällen werden die Strömchen zu festen
F"äden. Im Fleische der Frucht von Rhanuius
fraiignla liegen vereinzelt auffallend große Zellen;
in ihrer Mitte ist der Zellkern an feinen Plasma-
fäden aufgehängt. Werden solche Zellen , wenn
sie altern, mit einem scharfen Messer quer durch-
schnitten, so strömt das Protoplasma dieser Fäd-
chen keineswegs aus oder kugelt sich ab, wie es
dies im jugendlichen leichtflüssigen Zustande ge-
tan hätte; die Plasmafäden haben vielmehr im
Alter eine solche Festigkeit erlangt, daß sie
auch im durchschnittenen Zustande steif in ihrer
Lage verbleiben.
Damit ist eine interessante Tatsache festgestellt:
Die lebende Substanz büßt mit dem Alter an
Beweglichkeit allmählich ein; es verhält sich mit
ihr, sagt de Vries, genau so wie mit unserem
Körper, der auch mit jedem Jahr an Beweglich-
keit verliert. Mit dem Alter nimmt die
Viskosität des Protoplasmas zu so wie
auch in leblosen Kolloiden beim „Altern" Ände-
rungen im Grade ihrer inneren Reibung sich ein-
stellen können. *)
Aber nicht nur beim Altern auch sonst gehen
während des natürlichen normalen Ablaufes des
Zellebens Viskositätsänderung der lebenden Sub-
stanz vor sich. Nach Lebion ds Untersuchungen
an Algen (1919) zeigt sich der Solzustand, also
das Stadium geringer Viskosität im Protoplasma
keineswegs permanent, ja es ist bisweilen nötig,
um überhaupt sein an lebhafter Brownscher
Molekularbewegung erkenntliches Auftreten zu
beobachten, lange Zeit hindurch die individuelle
Entwicklung zu verfolgen. Im allgemeinen gilt
die Regel: Die Umwandlung aus dem relativ
starren Gelzustand in den Solzustand geht nur
dann vor sich, wenn die Zelle aus einer Periode
der Ruhe übergeht in eine Periode funktio-
neller Aktivität, so während des Wachs-
tums, der Teilung, der sexuellen und asexuellen
Reproduktion. '-) An jungen Sporenkeimlingen
von Oedogoiiiuin z. B., die erst aus einigen Aell-
elementen bestehen und in lebhaftem Wachstum
begriffen sind, findet man das Cytoplasma zur
Gänze im Solzustand und die winzigen Mikrosomen
darin in lebhaftester Brownscher Bewegung.
Bei anderen Algen, bei denen sonst keine B. M. B.
innerhalb der lebenden Substanz zu sehen ist,
tritt sie auf in den Oogonien oder im Moment
') Wenn Miehe (1901) findet, daß in alleren Mono-
kotylenblättern der Kern durch Zentrifugierung in den Zellen
schwerer verlagert wird als in jüngeren, so beruht dies viel-
leicht auch auf Viskositätszunahme des einbettenden Plasmas
mit dem Alter. Über Verschiedenheiten des Plasmazustandes
in alten und jungen Zellen vgl. besonders Chifflot und
Gautier (1905) sowie Russo (1910).
^) Ebenso gaben Chifflot und Gau tier (1905) an:
„Ces mouvements sont visibles chez des organismes jeunes en
voie de croissancc (cellules de Spirogyra en voie de cloisonne-
ment, zygospore de Cosmarium germant, usw.)."
der Bildung ungeschlechtlicher Sporen. Bei den
Konjugaten repräsentiert die Umwandlung aus
dem Gel- in das Solstadium eines der ersten An-
zeichen beginnender Reproduktionsaktivität; sie
tritt ein noch vor der Bildung der Kopulations-
schläuche. Lebion d versucht auch eine Erklä-
rung der Viskositätsherabsetzung zu geben : Wenn
sich Spirogyren zur Kopulation entschließen,
werden die vorher parallel zueinander stehenden
Längswände bogig nach außen vorgewölbt. Die
Zellen nehmen tönnchenförmige Gestalt an. Dies
geht zurück auf ein Ansteigen des Innendruckes,
das seinerseits wieder bedingt ist durch Anreiche-
rung von Ionen im Innern der Zelle. Gleich-
zeitig bewirken diese Ionen aber den Übergang
kolloider Substanz aus dem Gel- in das Sol-
stadium.
In vollkommener Übereinstimmung mit den
Befunden Leblonds stehen die mit Hilfe der
Mikrodissektion von Seifriz (1920) ermittelten
Tatsachen. Auch Seifriz gibt Belege für weit-
gehende Viskositätsänderungen des Protoplasmas
während der verschiedenen Lebensphasen; dabei
ist der Spielraum dieser Schwankungen ein auf-
fallend großer. Die Viskosität kann abnehmen
bis zu einem Grade, der nur wenig höher ist als
der des Wassers und wieder ansteigen bis zur
Festigkeit eines gänzlich starren Gels. Auch
Seifriz findet einen Zusammenhang zwischen
der Änderung der Protoplasmakonsistenz und den
Schwankungen der physiologischen Aktivität.
Besonders eingehend wurden die Verhältnisse
bei den Myxomycetenplasmodien studiert. Im
aktiven vegetativen Stadium ist ihr Protoplasma
flüssig (Viskositätsgrad = V.G. = 3) ; im ruhen-
den Zustand dagegen sind die Plasmodien sehr
zähe (V.G. 8), klebrig und elastisch oft von ganz
plastischer Qualität, ähnlich wie Brotteig. Ganz
analoge Beobachtungen liegen für Amöben vor.
Im aktiven Zustand, dem ein flüssiges Protoplasma
zukommt, herrscht allgemein im Inneren äußerst
lebhafte Brownsche Bewegung; wenn aber zu-
gleich mit der Abnahme der Aktivität die Zähig-
keit zunimmt, dann wird sowohl die Zahl der
tanzenden Teilchen geringer (weil die größeren
unbeweglich werden) als auch die Amplitude der
Bewegung. Von Interesse sind fernerhin die
Zähigkeitsänderungen während der aufeinander-
folgenden Entwicklungsstadien der Oogonien, z. B.
von Fucus. Das junge einkernige Oogon weist
den Viskositätsgrad 3 auf, vielleicht sogar nur
2 = sehr flüssig. Im beinahe reifen Oogon, nach-
dem die Teilung in 8 Eier eben vollendet er-
scheint, ist die Viskosität auf 4 gestiegen. Sind
dann die Eier selbst fast reif geworden, so haben
sie das Viskositätsstadium 5 erreicht und die
Vollreifen freiwerdenden Eier sind „entschieden zäh"
(V.G. 6). Diese Zunahme der Konsistenz fällt
zusammen mit einer Abnahme der physiologischen
Aktivität. „Das junge Oogon mit dem Proto-
plasma von flüssiger Konsistenz befindet sich im
Stadium lebhaften Wachstums, während das ganz
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und gar zähe reife Ei in einem mehr oder weniger
ruhendem Stadium die Befruchtung erwartet."
Noch größeres, ganz allgemeines Interesse
verdient die Beobachtung der Änderung der
Cy toplasmavisko sität während der
Zellteilung. Die Befunde sind wenigstens in
ihren Grundzügen völlig gesichert, da sie an ver-
schiedenen Objekten von verschiedenen Autoren
mit verschiedenen Methoden gewonnen wurden.
Heilbrunn 1917, Chambers 1919, Seifriz
1920.
Heilbrunn experimentierte mit Seeigeleiern;
in kurzen Intervallen wurde nach erfolgter Be-
fruchtung die Viskosität des Eicytoplasmas mittels
der Zentrifugierungsmethode bestimmt. Werden
unbefruchtete Ardaaa-Eier kräftig zentrifugiert, so
wird alsbald im Cytoplasma eine Scheidung in
vier Zonen sichtbar. An dem zentrifugalen Pole
sammeln sich die Pigment granula; dies ist die
Pigmentzone; ihr zunächst folgt eine zweite
granuläre Zone, dann eine hyaline und an dem
der Pigmentzone gegenüberliegenden Pol, bildet
sich die ihrer Farbe entsprechend „gray cap" ge-
nannte Schicht. Wenn ein Ei nach der Zentri-
fugierung alle diese Zonen typisch aufweist, wird
es als geschichtet („stratified") bezeichnet. Nimmt
nun die Viskosität des Protoplasmas zu, dann ist
eine derartige Schichtung immer schwieriger zu
erzielen oder (bei gleicher Zentrifugalkraft) immer
undeutlicher ausgebildet und in einem ganz ver-
festigten Ei wird eine solche künstliche Schichtung
überhaupt unmöglich.
Es ergab sich nun folgendes; Nach der Be-
fruchtung nimmt die Plasmaviskosität allmählich
zu bis zu einem Maximum, das in 20 — 25 Minuten
erreicht wird. Durch Zentrifugalkräfte selbst der
doppelten Intensität, die vorher leicht die Schichtung
im Ei bewirkte, läßt sich nunmehr keine Scheidung
in eine granuläre und hyaline, glasige Zone er-
zielen. Ist dann aber bei beginnender Furchung
die Teilungsspindel erschienen, dann folgt eine
stetige Abnahme der Zähigkeit; das Eicytoplasma
kehrt wieder zurück zu seinem ursprünglichen
Fluiditätszustande. Bei den mitotischen Vor-
gängen, die zum 2. Teilungsschritt des sich
furchenden Eies führen, spielt sich ähnlicher
Viskositätswechsel ab.
Noch eingehender verfolgt wurden die Ände-
rungen der Protoplasmakonsistenz in ihrer Be-
ziehung zur Zellteilung von Chambers (1917,
1919) durch Mikrodissektionsstudien, insbesondere
am Ei von Ccrebratitlus. Die wichtigen Ergeb-
nisse seien ausführlicher, zum Teil in der eigenen
Schilderung des Autors wiedergegeben :
Die Konsistenz, die das Cytoplasma in den
Perioden vom Moment der Befruchtung bis zur
Beendigung der ersten F"urchungsteilung zeigt,
wurde ermittelt durch sorgfältige Prüfung mit der
Mikrodissektionsnadel. Unmittelbar nach der Be-
fruchtung werden die Granula durch die Nadel
leicht in ausweichende, fließende Bewegung ge-
setzt. Nachdem das Sperma in das Ei einge-
drungen ist, bildet sich die bekannte Sperma-
strahlung aus in unmittelbarer Nachbarschaft des
Spermakopfes. Zugleich mit dem Spermakern
wandert die Strahlung dem Eikerne entgegen und
nimmt allmählich an Größe zu, je mehr sie sich
dem Eizentrum nähert. Wenn die Spermastrahlung
in voller Entwicklung steht, zeigt die operierende
Nadel den hoch viskosen Zustand des Cytoplasmas
an. Anstatt daß die Granula wie früher durch
die Bewegungen der Nadel im Innern des Eies
leicht aus ihrer Lage gebracht werden könnten,
erweisen sie sich als festgehalten, an Ort und
Stelle fixiert wie in einer Gallerte, und die Be-
wegungen der Nadel bewirken nunmehr Torsionen
der gesamten Eisubstanz. Dieser Starrezustand
erreicht seinen Höhepunkt ungefähr 15 Minuten
nach der Befruchtung (Übereinstimmung mit dem
Viskositätsmaximum H e i 1 b r u n n s). Gleichzeitig
mit dieser Verdichtung der strahligen Cytoplasma-
region vergrößert sich die im Zentrum der
Strahlung gelegene Hyaloplasmasphäre. Diese Ver-
größerung ist bedingt durch Ansammlung hyaliner
Flüssigkeit, letztere aber scheidet sich ab aus den
sich verdichtenden Plasmapartien und strömt in
feinsten konvergierenden Strömchen dem Strahlen-
zentrum zu. Dadurch ist wohl auch das charakte-
ristische Aussehen der Sperma-„Strahlung" erklärt.
Einige Minuten später beginnt diese Strahlung zu
verblassen und gleichzeitig kehrt das Cytoplasma
zurück vom halbfesten zu einem mehr flüssigen
Zustand. Die Granula sind jetzt wieder leichter
verschiebbar durch die Bewegungen der Nadel.
Das Verschwinden der Spermastrahlung bedeutet
also einen Prozeß der Verflüssigung.
Die flüssige Substanz des vergrößerten hyalinen
Areals strömt nun am Teilungskern vorbei an
dessen beide Pole; dabei kommen die für dieses
Stadium bezeichnenden hyalinen Streifen zustande,
die sich klar abheben von dem sonst granulären
Cytoplasma des Eies. Gegen Ende dieses Stadiums,
das ca. 20 — 30 Minuten dauert, sammelt sich das
Hyaloplasma schließlich in zwei halbkugeligen
Massen an den Polen des Nukleus. Kurz vor der
eigentlichen Zellteilung also etwa 40 — 50 Minuten
nach der Befruchtung bildet sich in jeder dieser
flüssigen Halbkugeln ein Zentrum, von dem aus
das Cytoplasma sich neuerdings zu verfestigen
beginnt. Die Verdichtung breitet sich von jedem
der beiden Polzentren aus, so kommt der „Amphi-
aster", die Gegenpolstellung der Astrophären zu-
stande. Nun verlängert sich das Ei; die Längs-
achse geht durch die Zentren des Amphiasters.
Jetzt erst erscheint die Teilungsfurche und nun
ca. 10 Minuten nach dem Erscheinen der beiden
.'\strospharen wird die Teilung rasch beendigt.
In den neu entstandenen Blastomeren persistiert
die Starrheit des Cytoplasmas aber nur, solange
sie noch + kugelig sind. Später drängen sich
die Blastomeren gegeneinander und jede nimmt
halbkugelige P'orm an. In diesem Stadium ist
das Cytoplasma wieder ganz flüssig.
Es besteht also eine ausgeprägte Perio-
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dizität im physikalischen Zustand des
Eies nach erfolgter Befruchtung und
während des Zellteilungsprozesses: Im
unreifen Ei ist die Viskosität hoch,
nach der Reifung nimmt sie ab, nach
der Befruchtung beginnt sie neuerdings
anzusteigen und erreicht das Maximum
zur Zeit des Höhepunkts der Sperma-
strahlung. Dann sinkt die Zähigkeit
neuerdings, bleibt gering bis die
Teilung naht, steigt hierauf aufs Neue
und sinkt erst wieder nach Beendigung
der ersten Furchungsteilung. Dasselbe
Spiel wickelt sich wohl bei der 2. Furchungs-
teilung ab.
Chambers sieht daher das Wesen des
Furchungsprozesses in einer Änderung des physi-
kalischen Zustandes des Cytoplasmas, wobei sich
zwei halbfeste Massen, die Astrosphären bilden,
die heranwachsen auf Kosten der flüssigen Plasma-
teile; damit ist eine neue Vorstellung gewonnen
über den Mechanismus der Zellteilung.') Es ist
schon lange bekannt, daß die Eier verschiedener
Tiere zur Zeit der Teilung eine Längsstreckung
erfahren und die Teilungsfurche in einer Ebene
senkrecht zur Längsachse sich einstellt. Eine be-
friedigende Erklärung dieser Längsstreckung konnte
nicht gegeben werden. Die neuen Feststellungen
sollen nun aber ein Verständnis vermitteln: Die
beiden verfestigten kugeligen Massen wachsen auf
Kosten der sie umgebenden flüssigen Teile so
lange, bis alles flüssige Cytoplasma aufgenommen
ist; da nun aber die beiden Durchmesser dieser
Kugeln zusammen größer sind als der ursprüng-
liche Durchmesser des Eies, so muß sich dieses
in die Länge strecken.
Wenn man bedenkt, wie viel Arbeit, vor allem
auch theoretische Spekulation, schon darauf ver-
wendet wurde, um die Vorgänge im Cytoplasma
während der Teilung dem Verständnis näher zu
bringen, und zwar ohne besonderen Erfolg, so
bedeuten diese exakten Feststellungen einen ge-
waltigen Fortschritt und eine Bestätigung theo-
retischer Vermutungen. Es ist daher von großer
Wichtigkeit, daß auch von anderer Seite Gleiches
gefunden wurde.
S eifriz hat, ebenfalls am Seeigelei, nach seiner
Skala die verschiedenen Viskositätsgrade noch
genauer zu charakterisieren vermocht: das reife
unbefruchtete Ei besitzt den Viskositätsgrad 7.
Beim Erscheinen der Spermastrahlung steigt im
peripheren Cytoplasmateil die Viskosität auf 8.
Im Amphiaster bestehen die polaren Hyaloplasma-
sphären sowie die Strahlen der Astrosphären selbst
aus stark verflüssigtem Plasma (V.G. 3). Be-
sonders der Nachweis des flüssigen Charakters
der hyalinen Strahlen ist von hohem Interesse, da
er schon vielfach theoretisch postuliert worden
war, andererseits aber auch eine verfestigte Kon-
sistenz behauptet wurde. Dagegen sind das
periphere Protoplasma sowie die keilförmigen
Plasmateile, die mit den hyalinen Strahlen ab-
wechseln und die eben das sternförmige Aus-
sehen der mitotischen Figuren bedingen von
extrem hoher Viskosität (7 — 8).
S eifriz hat auch an pflanzlichen Eiern (Fucus)
die nach der Befruchtung sich einstellenden
Viskositätsänderungen studiert; es ergaben sich
analoge Verhältnisse, doch ist hier die Beobachtung
durch die dunkle Färbung der Chromatophoren
erschwert.
Abgesehen von den genannten amerikanischen
Forschern haben sich auch andere Autoren, zum
Teil schon früher, eine Vorstellung über die
Viskositätsverhältnisse während der Zellteilung zu
machen gesucht. Als erster hat wohl Albrecht
(1898) auf Grund primitiver Kompressionsversuche
angenommen, daß nach der Befruchtung tierischer
Eier eine Viskositätszunahme im Plasma erfolgt.
191 8 hat Speck bei seinen Studien über die
Ursache der Zellteilungen beobachtet, wie bei
Nematoden-Eiern sich das periphere Cytoplasma
in ständiger amöboider Bewegung befindet;
in dem Moment nun, in dem zu Beginn der
Teilung die Spindel sichtbar wird, steht diese
Bewegung ganz plötzlich still. Wahrscheinlich,
meint Speck, ist dies auf eine Viskositätszunahme
zurückzuführen.
Es sei ferner daran erinnert, daß Nemec(i9i5)
auf Grund von Studien an zentrifugierten Wurzel-
spitzen, wobei die ruhenden Zellkerne aber auch
die Teilungsfiguren als Ganzes in bestimmter
Weise verlagert befunden wurden, sich folgende
Vorstellung gebildet hat : „Wenn sich die Figuren
wie einheitliche Gebilde verhalten, an denen es
nicht möglich ist durch das Zentrifugieren irgend-
einen Teil herauszureißen, und wenn sie sich aus
einer labilen in eine stabile, standfeste Lage heraus-
drehen, so kann man dies so deuten, daß sie im
ganzen ein starres, einheitliches Gebilde vor-
stellen. Sie verhalten sich so, wie wenn sie aus
einer festen Substanz bestünden, oder wie wenn
sie wenigstens ein festes Gerüst besäßen." Er
hat auch erkannt, daß die achromatische Spindel
ein starres System darstelle.^) Da es nun nach
Nemecs Erfahrungen gelingt, ohne die Zelle zu
töten, durch Einwirkung bestimmter Substanzen —
er verwendete ^4 "io Chloralhydratlösung — die
achromatische Spindel „aufzulösen", so müßten
sich die Teilungsfiguren bei Zentrifugierung nach
solcher Narkose anders verhalten. Dies war tat-
sächlich der Fall. Die Chromosomen erschienen
nunmehr ganz an die Wand gedrückt und man
sah zahlreiche Zellen, in denen sich die Chromo-
somengruppen wie freibewegliche spezifisch
') Betreffs anderer Theorien und bisheriger Modellver-
suche vgl. Rhumbler 1921.
') Andrews (igis) hat ähnliches konstatiert: Wenn die
Chromosomen sich an den Polen befanden, wurde die Spindel
bei Zentrifugierung nicht zerquetscht. ,,Dies zeigt, daß sie
eine starrere Struktur besitzt, als man voraussetzen möchte."
Befanden sich die Chromosomen jedoch an der Äquatorial-
platte, dann wurden die Spindeln platt gedrückt.
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schwerere Körperchen verhalten hatten. Die
„erweichte" Spindel leistete der Bewegung der
Chromosomen keinen Widerstand mehr.
Damit kommen wir zur Erörterung der
künstlichen Beeinflussung der Proto-
plasmaviskosität. Auch hier stehen wir vor
einem aussichtsreichen Forschungsgebiet, dessen
Bearbeitung eben erst in Angriff genommen wurde.
Daß die lebende kolloide Substanz so wie die im
kolloiden Zustande befindliche Materie überhaupt
unter der Einwirkung der verschiedensten Außen-
faktoren chemischer und physikalischer Art Vis-
kositätsänderungen erleiden und erkennen lassen
würde, war von vornherein zu erwarten (Weber
191 7). Damit soll aber keineswegs gesagt sein,
das lebende Protoplasma verhalte sich in jeder
Beziehung ganz wie ein lebloses Kolloid; ja bei
Heilbronns Versuchen an Plasmodien (191 8)
zeigte es sich, daß die Beeinflußbarkeit der Plasma-
viskosität „keineswegs rein den für Kolloide
geltenden Gesetzen der physikalischen Chemie
folgte, sondern daß vielmehr ein innerer vitaler
Faktor regulierend eingriff". Aber gerade diese
Inkongruenzen werden besonderer Ansporn sein
zum Studium am lebenden Objekt.
Es seien zunächst Versuche Heilbrunns
(1915, 1920) besprochen. Er ging von der Vor-
stellung aus, die von ihm bewiesene Viskositäts-
steigerung, die Gelbildung zu Beginn der Zell-
teilung sei keine nebensächliche sekundäre Er-
scheinung, sie sei vielmehr vorherbestimmend und
maßgebend für die Ausbilduug der Spindel; ist
diese Annahme richtig, so muß es gelingen durch
Verhinderung der Gelbildung auch die Entstehung
der Teilungsfigur sowie die Zellteilung überhaupt
zu verhindern und umgekehrt muß es sich nach-
weisen lassen, daß äußere Einflüsse, die die Zell-
teilung hemmen, der Viskositätssteigerung des
Cytoplasmas entgegenwirken. Diese Vermutung
fand in glänzender Weise volle Bestätigung.
Heilbrunn untersuchte den Einfluß einer
Reihe lipoidlöslicher Substanzen. Dabei wurde
die Lösung eines der grundlegenden Probleme
der Zellphysiologie gefördert, der P'rage nach der
Wirkungsweise der Narkotika auf die
lebende Substanz. Heilbrunn stellte sich
die P'rage: Welches ist der Effekt der Narkotika
auf die Protoplasmaviskosität der Seeigeleier ? Die
Anästhetika wurden zunächst in Konzentrationen
verwendet, bei welchen typische narkotische Wir-
kung zur Gehung kommt, d. h. die Zellfunktion
(in diesem F'alle die Teilung) eine reversible Läh-
mung erfährt. Werden solche narkotisierte Eier
gleichzeitig mit normalen Kontrollobjekten zen-
trifugiert und zwar mit einer Geschwindigkeit
und Dauer, die nicht ausreicht um die Granula
in den normalen Eiern zu verlagern, so zeigen
sich in den narkotisieren Eiern die Granula gänz-
lich verlagert, in die zentrifugale Hälfte des Eies
geschleudert; hier hatte also der Widerstand des
Cytoplasmas beträchtlich abgenommen: Die Vis-
kosität des narkotisierten Cytoplasmas war zweifel-
los viel geringer als die der normalen Eier. Die
Konzentration der Narkotika, die diese Herab-
setzung der Plasmaviskosität bewirkt, war nun
genau dieselbe, die auch die Zellteilung verhindert.
Dagegen verursachen höhere Narkotikakonzentra-
tionen, die eine dauernde, schließlich zum Tode
führende Schädigung der Eier hervorrufen, eine
irreversible Zunahme der Plasmazähigkeit.
Diese Versuche und Ergebnisse sind in zwei-
facher Hinsicht von großem Interesse. Erstens
lassen sie es verständlich erscheinen, warum die
Narkose die Zellteilung hemmt; es wird nämlich
die für die ersten Teilungsstadien maßgebende
Viskositätszunahme verhindert, ja rückgängig ge-
macht und in das Gegenteil verkehrt. Zweitens
bilden sie einen bedeutungsvollen Fortschritt in
dem langumstrittenen Problem der Narkose-
theorie überhaupt. (Über die Theorien der
Narkose vgl. Winterstein 1919.) Gerade in
letzterer Beziehung ist es daher besonders erfreu-
lich, daß die Befunde Heilbrunns über die
Viskositätsänderung unter dem Einfluß der Nar-
kotika keineswegs allein stehen. 1914 hatte Heil-
b r o n n 1) mit Hilfe der Fallmethode den Nach-
weis erbracht, daß verdünnte Ätherlösungen die
Plasmaviskosität pflanzlicher Zellen herabsetzen.
Größere Bedeutung mißt Heilbronn allerdings
der durch stärkere Narkotikadosen hervorgerufenen
reversiblen „Plasmastarre" bei, die er für den
Ausdruck der eigentlich , .narkotischen" Wirkung
hält. Einen vermittelnden Standpunkt nimmt
neuestens Weber (1922) ein, der an ätherisierten
Spirogyrcii, je nach der Konzentration des Nar-
kotikums durch Zentrifugierung eine Erleichterung
bzw. Erschwerung der Verlagerungsfähigkeit des
Chloroplastenbandes feststellte, was er als Ernie-
drigung bzw. Erhöhung der Cytopiasmazähigkeit
deutet. „Die Frage, ob der Zustand des Plasmas,
bei welchem eine Herabsetzung der Plasmavisko-
sität erfolgt, dem Erregungs- oder dem Lähmungs-
stadium der Narkose entspricht, muß für Spiro-
gyra verschieden beantwortet werden, je nach
der Zellfunktion, die als Maß des Narkosegrades
verwendet wird. Für die Funktion der Proto-
plasmaströmung scheint es sich dabei um das
Erregungs-, für die Zellteilung um das Lähmungs-
stadium zu handeln."
Doch kehren wir nochmals zurück zu den
Versuchen Heilbrunns. V.x faßt den Begriff
der Anästhesie relativ weit; er nennt Anästhetika
alle Substanzen, welche einen vitalen Prozeß zum
Stillstand bringen, ohne daß die Zelle, in der sich
der Prozeß abspielt, getötet wird. Dazu gehören
dann natürlich nicht nur die lipoidlöslichen Nar-
kotika. Heilbrunn fand nun: Nicht alle
Anästhetika verursachen eine Abnahme der Plasma-
viskosität, einige vielmehr gerade den gegenteiligen
Effekt (Magnesium-Narkose). „Es gibt zwei Typen
') Die Namensähnlichkeit der Autoren, die Identität des
bearbeiteten Problems, sowie die Gleichzeitigkeit der For-
schungen dürfte für die, welche an das „Gesetz der Serie"
(Kamm er er 1919) glauben, von Interesse sein.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
der Narkose beim Seeigelei; in dem einen ist die
Viskosität des Cytoplasmas verringrert, in dem
anderen ist sie erhöht." Aber beide Typen hem-
men die Zellteilung; der eine hält das Cytoplasma
dauernd im flüssigen, der andere dauernd im
starren Zustand, aber gerade der periodische
Wechsel im Viskositätszustand, der für die Mitose
von Bedeutung ist, kann bei beiden Narkosetypen
nicht normal ablaufen : das Ei ist auf jedem Fall
narkotisch an der Teilung gehemmt.
Überhaupt ist es wohl verständlich, daß ein
und dieselben Außenfaktoren recht verschieden
auf die Zellteilung einwirken können, je nachdem
sie in ein oder das andere durch die bestimmten
Viskositätsgrade charakterisiertes Stadium des
Teilungsprozesses eingreifen. In rebus biologicis
ist eben alles viel komplizierter, als man zunächst
annehmen zu dürfen glaubt, und hier gilt wohl
selten der Satz, die erste Erklärung sei auch
gleich immer die beste und zutreffende. Wenn
nach Heilbrunn die Hemmungswirkung auf
die Zellteilung sowohl durch Mittel ausgeübt
werden kann, die die Gelbildung befördern als
auch durch solche, die sie verhindern, dann kann
es uns andererseits auch nicht verwundern, wenn
sich anscheinend widersprechende Angaben vor-
liegen über diejenigen Stoffgruppen, welche för-
dernd auf die Zellteilung einwirken.
In seinen Studien über künstliche Par-
thenogenese hat Heilbrunn schon 191 5 ge-
zeigt, daß alle künstlichen Parthenogenetika vis-
kositätserhöhend wirken, Gelbildung oder Koagu-
lation innerhalb des Eicytoplasmas hervorrufen. *)
Eine derartige die Viskosität steigernde Wirkung
kann sowohl von hypertonischen Lösungen aus-
gehen, die Wasseraustritt (Exosmose) bedingen,
als auch von hypotonischen, die Eintritt von
Wasser in die Zelle ermöglichen. Eine gering-
fügige Änderung der Salzkonzentration im Innern
des Eies reicht eben aus um die Gelbildung aus-
zulösen und dadurch entwicklungserregend zu
wirken. Die Viskositätserhöhung tritt fast un-
mittelbar ein nach erfolgter natürlicher oder
künstlicher Befruchtung, bevor noch irgendein
anderes Anzeichen der beginnenden Entwicklung
zu sehen ist. Es ist daher anzunehmen, daß man
es dabei mit einem der primärsten Glieder der
Kette von Prozessen zu tun hat, die zur Zellteilung
führen.
Von anderen Versuchen und Gedankengängen
') Bereits 1905 versuchten Fischer und Üstwald den
Nachweis zu erbringen, „daß sämtliche Mittel , durch welche
eine Astrosphärenbildung im Ei oder eine Befruchtung hervor-
gerufen werden kann, Mittel sind, durch welche ein Sol von
der ungefähren Beschaffenheit des Eiplasmas zur Gelbildung
veranlaßt werden kann". Erst 10 Jahre später ist die Vis-
kositätssteigerung im Ei selbst fnach der Befruchtung) kon-
statiert worden. Über die künstliche Nachbildung der Astro-
sphären, Kernteilungsspindeln, Spermastrahlung usw. siehe
die neue zusammenfassende Darstellung Rhumblers (1921);
hierzu auch Buscalioni 1920 und über die Mechanik der
Mitose überhaupt die eben erscheinende große „Allgemeine
Pflanzenkaryologie" von Tischler 1921/22.
ausgehend hat Spek (1920) experimentelle Bei-
träge zur Kolloidchemie der Zellteilung
geliefert. Seine Fragestellung war die: Kann
man durch Erhöhung des Wassergehaltes der
Zelle dieselbe zu Teilungen anregen. Spek hält
die Wasserentziehungstheorie für verfehlt und
vermutet für den Beginn der Zellteilung eine
„Verflüssigung der Zellkolloide". Sollte diese
aber nicht nur sekundäre Begleiterscheinung, son-
dern auslösende Ursache sein, dann müßte eine
geeignete Behandlung der Zellen mit quellungs-
fördernden Substanzen die Teilung stimulieren.
Damit war das Arbeitsprogramm gegeben. Die
Zellen mußten unter dem Einfluß quellungs-
fördernder und quellungshemmender Substanzen
gebracht werden. Das Hauptversuchsobjekt war
Paramaeciiim caudatnm, die geprüften Substanzen
verschiedene Salzlösungen. Die Salze wurden der
Kulturflüssigkeit beigegeben. Das Ergebnis ent-
sprach der Erwartung. „Stark quellende Salze,
d. h. Salze, bei denen Ionen stark quellungs-
fördernd wirken, oder aber nur eins, ohne daß
das andere entgegengesetzt wirkt, fördern die Zell-
teilung ganz bedeutend. LiBr, LiCl und KSCN
wirken auf diese Weise. Daß diese Salze auch
auf die Plasmakolloide der Paramäcien quellungs-
fördernd wirken, geht aus einer Volumszunahme
der Tiere hervor. — Entquellend wirkende Salze
wie CaCl., oder Sulfate hemmen die Zellteilungen
im hohen Maße."
Spek stellt auf Grund seiner glänzenden
Versuchsergebnisse eine „Quellungstheorie
der Entwicklung" auf, nach der Substanzen,
welche das Quellen befördern und Kolloide ver-
flüssigen, zur Entwicklung anregen. Er sieht
sich daher genötigt zu der anscheinend entgegen-
gesetzten „Koagulationstheorie der Entwicklung"
Stellung zu nehmen. Letztere war 1905 von
Fischer und Ostwald aufgestellt worden und
hat in den erörterten neuen amerikanischen Ar-
beiten nunmehr experimentelle Stütze gefunden.
Auf die interessante Diskussion kann nur ver-
wiesen werden. Spek erkennt an, daß in be-
stimmten Partien des Eies nämlich den Astro-
sphären lokale Koagulationsprozesse stattfinden
können; dies muß nunmehr durch die Unter-
suchungen von Chambers als feststehend be-
trachtet werden. Dagegen können andere Bezirke
des Zelleibes gleichzeitig verflüssigt werden. Auch
diese Annahme hat ja durch Chambers Be-
stätigung gefunden. Eine solche Verflüssigung
nimmt Spek insbesondere für die Äquatorzone
der sich teilenden Zelle an; sie soll unter natür-
lichen Verhältnissen verursacht werden durch das
Auftreten einer Base, die als Nebenprodukt der
Nukleinsynthese entsteht und in die Äquatorregion
der Zelle diffundiert.
Viskositätsänderungen des Cytoplasmas spielen
aber gewiß nicht ausschließlich während der Zell-
teilung eine bedeutungsvolle Rolle. Mit der Zeit
wird sich vielmehr gewiß herausstellen, daß die
Zähigkeitsverhältnisse auch in anderen Lebens-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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lagen der Zelle von Bedeutung sind; doch ist
darüber noch wenig bekannt und noch weniger
kann hier Erwähnung finden.
G. u. F. Weber haben 19 16 zu erweisen ge-
sucht, daß in gewissen Pflanzenzellen unter dem
Einfluß des Schwerkraftsreizes, der die
Orientierung der Pflanzenteile im Räume ermög-
licht, eine Änderung der Plasmaviskosität als
primäre Wirkung sich einstellt; dieser „geovisko-
sische Effekt" sollte eines der ersten Glieder sein
in der Reiz- und Reaktionskette, die mit der Aus-
führung der geotropischen Krümmung endigt. Der
geoviskosische Effekt wurde ermittelt durch Messung
der Fallgeschwindigkeit der Statolithenstärkekörner
in den Stärkescheidenzellen der Stengel von Bohnen-
keimlingen. Bei einer eingehenden Nachprüfung
konnte Zollikofer (191 8) das Eintreten eines
geoviskosischen Effektes in vielen Fällen nicht
bestätigen. Die Autorin glaubt daher, der ur-
sprüngliche positive Befund (nach dem durch
Schwerkraftsreiz eine Änderung der Plasmavisko-
sität bewirkt wurde) sei durch in der Versuchs-
methodik gelegenen Fehlerquellen vorgetäuscht
worden. Leider hat sich seitdem niemand mehr
entschlossen, die zeitraubenden Versuche erneut
in Angriff zu nehmen. Im allgemeinen muß man
sagen, daß heute die Konstatierung eines geovis-
kosischen Effektes keineswegs so überraschend
erscheinen würde als zur Zeit des Beginnes der
Plasmaviskositätsstudien. Die geotropische Krüm-
mung als deren Vorläufer die Änderung der
Plasmaviskosität angesehen wurde, beruht in Unter-
schieden der Wachstumsintensität an den antago-
nistischen P'lanken des Organs. Bei einem negativ
geotropischen Keimstengel wächst nach geotro-
pischer Reizung die Unterseite stärker als die
Oberseite. Daß aber bei Wachstums Vorgängen
Plasmaviskositäts-Änderungen beteiligt sind, muß
heute als höchstwahrscheinlich bezeichnet werden,')
und so kann auch mit einer Verschiedenheit der
Plasmazähigkeit an den entgegengesetzten Stengel-
tlanken nach geotropischer Reizung gerechnet
werden. Zudem sind heute andere Fälle bekannt,
wo die lebende Substanz auf einen äußeren
Reiz hin mit reversibler Änderung der Zähigkeit
reagiert.')
Bayliß, der Autor der vorbildlichen „Prin-
ciples of General Physiology", hat das Verhalten
der Pseudopodien lebender Amöben im Dunkel-
feld beobachtet vor, während und nach elek-
') Nach Borowikow (1913) fördert die Quellung der
Kolloide der Zelle den Wachstumsprozeß (Streckungswachs-
tum). Vgl. hiezu ferner Lloyd (1916/17) sowie dessen aus-
gezeichnetes Praktikum der allgemeinen Physiologie 1921. üin
analoges Praktikum fehlt in der deutschen Literatur; zu ver-
gleichen sind nur die neuen Praktika der Kolloidchemie bzw.
physikalischen Chemie von Üstwald und Michaelis, die
aber naturgemäß die Verbältnisse der „lebenden Substanz"
nicht so eingehend berücksichtigen.
") Gräfe hat igig Gedanken über den Zusammenhang
zwischen Quellung und Kntquellung und den Reizreaktionen
im allgemeinen publiziert. Mittel die fjuellungsfördernd wirken,
fördern die Erregungsleitung.
trischer Reizung. Im ungereizten hyalinen
Pseudopodium-Protoplasma werden durch ihre
glänzenden Beugungsbilder eine immense Anzahl
winzigster Mikrosomen sichtbar; sie befinden sich
in lebhaftester Brownscher Molekularbewegung.
Der allgemeine Eindruck ist der einer schimmernden
zitternden Unruhe im Gesichtsfelde. Schon Kühne
hatte festgestellt, daß bei elektrischer Reizung
einer derartigen Amöbe die Protoplasmaströmung
in ihr momentan stillsteht. Bayliß nahm nun
an, daß diese Strömungssistierung bedingt sei
durch eine plötzliche Viskositätserhöhung, durch
den Übergang aus dem Sol- in den Gelzustand. ^)
Dies konnte nur bewiesen werden durch Beob-
achtung der Brownschen Bewegung; so lange
sie lebhaft ist, manifestiert sich dadurch die
Flüssigkeitsnatur, der Solzustand des Systems. Bei
richtig abgestimmtem elektrischen Reiz ist der
Effekt ungemein auffallend. Die kontinuierliche
zitternde Bewegung der glänzenden Punkte, die
auf die B. B. zurückzuführen ist, hört fast momentan
auf, als wäre das Protoplasma erstarrt. Sobald
dies erfolgt, wird der Reiz unterbrochen und fast
zur selben Zeit beginnt die Brown sehe Bewegung
aufs neue".") Ist der elektrische Shok aber zu
stark, so daß der Organismus getötet wird, dann
bleibt das starre Gelstadium, die Totenstarre bis
zur autolytischen Auflösung der Leiche erhalten,
das Solstadium und mit ihm das Leben kehrt
nicht mehr zurück.^)
Osterhout hat 1916 die Frage diskutiert,
ob zwischen Permeabilität und Viskosität
eine direkte Beziehung besteht, ohne zunächst
dabei zu endgültigen Ergebnissen zu gelangen.
Nach den Erörterungen Trau bes (1914) müssen
wir jedenfalls annehmen, daß die Reibungskonstante
auch bei osmotischen Prozessen zur Geltung
kommt. Traube gelangte dazu ein „osmotisches
Gesetz" aufzustellen, „ganz analog demjenigen,
welches für andere Energien besteht und für die
elektrischen Vorgänge von Ohm formuliert wurde.
Ist G die osmotische Geschwindigkeit, d. h. die
in der Zeiteinheit osmotisch fortgeführte Menge
eines Stoffes, K die durch die Oberflächenaktivität
gemessene osmotische Kraft und R die Reibungs-
]^
konstante, so ist G^ „, d. h. die osmotische Ge-
K
schwindigkeit ist proportional der osmotischen
Kraft und umgekehrt proportional der Reibungs-
konstante" (vgl. auch Girard 1914). Änderungen
der Zähigkeit besonders an den peripheren Plasma-
') Auf den Zusammenhang zwischen Protoplasma-Visko-
sität und -Strömung wurde schon von zahlreichen Autoren
hingewiesen, vgl. insbes. Ewart 1903.
'-) In diesem Zusammenhange ist die neue Theorie
A. Meyers (192t, S. 638) von Interesse, nach der die Proto-
plasmaströmung verursacht ist durch eine geordnete Wärme-
bewegung der Moleküle.
') Über die zahlreichen Beobachtungen verschiedener
Autoren (Gaidukow 1914, Russo 1910, Chambers 1917,
Seifriz 1920/21 u.a.) über die Viskositätsverhältnisse während
der Nekrobiose und beim Eintritt des Todes kann hier nicht
referiert werden.
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schichten müssen daher für die Geschwindigkeit
des osmotischen Stoffaustausches mit verantwort-
lich sein.
Zum Schluß sei noch auf die Beziehung zwischen
Z e 1 1 f o r m und Protoplasmaviskosität ver-
wiesen. Eine solche wurde schon wiederholt ge-
legentlich angenommen u. a. von Spiro (1910),
Gräper (1919).') Hier sei jedoch nur der
speziellere Fall erörtert, wobei die Konsistenz des
Protoplasmas maßgebend ist für die Art und Weise
der Pseudopodienbildung einzelner Zellen. Schon
1910 hat Leo Loeb gezeigt, daß die Pseudo-
podienbildung der Blutzellen von L i m u 1 u s ") von
denjenigen Ionen des umgebenden Mediums be-
günstigt wird, die einer Quellung von Gelatine
oder einer Verflüssigung von Eiweiß entgegen-
wirken; umgekehrt hemmen diejenigen Ionen die
Pseudopodienbildung, welche die Ouellung und
Verflüssigung gewisser Kolloide fördern. 1921
hat Loeb diese Versuche wieder aufgenommen.
Beim Austreten des Limulus-Blutes bildet sich
ein Klumpen künstlichen Gewebes, welches aus-
schließlich aus Amöbocyten besteht. Dies Gewebe
wird im hohlgeschliffenen Objektträger kultiviert
und sein Verhalten insbesondere der Grad des
„Auswachsens" und die Form der Pseudopodien
in den verschiedensten Kulturmedien und -be-
dingungen studiert.^) Durch Änderung im osmo-
tischen Druck des umgebenden Mediums ist es
möglich die Konsistenz der Zellen zu verändern
und zugleich auch den Charakter der amöboiden
Bewegung. Die Pseudopodien können die mannig-
fachste Gestalt annehmen. Die normalerweise im
Innern des Tieres zirkulierenden Blutzellen sind
flache Scheiben; nach Verlassen des Körpers
kugeln sie sich ab; in hypertonischen Lösungen
bilden sie fadendünne Pseudopodien oder spitz-
zungenförmige, in isotonischen können breitzungige
entstehen, in schwach hypotonischen überwiegen
die letzteren, bei stärkerer Hypotonie bildet sich
das „Ballonpseudopodium" aus. Vereinigen sich
diese verschiedengestalteten Zellen, so entstehen
Gewebe mit Strukturen analog dem Nerven- resp.
Gliagewebe. Alle diese verschiedenen Pseudo-
podienformen stehen in Zusammenhang mit be-
stimmten Viskositätsgraden des Protoplasmas. Die
Änderungen der Konsistenz sind der primäre
Faktor bei der amöboiden Bewegung und Ge-
staltung der Amöbocyten sowie der Leukocyten
überhaupt und ebenso auch der Protozoen. Die
Änderung der Oberflächenspannung, der man bisher
allzuhohe Bedeutung beigemessen hat, folgt erst
sekundär nach. Auch ein prinzipielles Verständnis
dieser ständig wechselnden reversiblen Konsistenz-
änderungen ist ermöglicht (insbesondere nach den
kolloidchemischen Forschungen eines Wo. Pauli
') Über die Bedeutung von Viskositätsänderungen für
Fragen der Biochemie siehe Richter (1921).
-) Limulus, der Molukkenkrebs gehört zu den l'feil-
scliwänzen (Xiphosuren).
■') Vgl. auch die inhaltsreiche Studie von Levi (1919)
über Kulturen tierischer Zellen in vitro.
(1920) und eines J. Loeb (1918, 1920) ') durch
die kombinierte Einwirkung von Säuren, Alkali
und Neutralsalzen auf die Proteine. Schwach hypo-
tonische KCl-Lösungen führen z. B. zu einer deut-
lichen Erweichung der ganzen Zelle und zu merk-
würdigen „Zirkus-Bewegungen".
Aber nicht nur chemische Veränderungen der
umgebenden Flüssigkeit, sondern ebenso die physi-
kalischen, vor allem die Temperatur-Verhält-
nisse beeinflussen die Form der Pseudopodien-
bildung. Geringe Temperaturerhöhung begünstigt
das Einziehen der Fortsätze und eine Abrundung
und Kontraktion der ßlutzellen. Bei etwas stärkerem
Temperaturanstieg gehen ganz spezifische Form-
änderungen vor sich, die am ausgeprägtesten sich
äußern in der Bildung von multiplen Tropfen-
pseudopodien, wodurch eigenartige „Maulbeer-
zellen" zustande kommen. Die Erklärung, sagt
Loeb, ist gegeben in einer zunehmenden Ver-
flüssigung des Protoplasmas infolge der Tempe-
raturerhöhung. Die Viskositätsabnahme, welche
reversibel ist, äußert sich bei den Blutzellen im
Auftreten von Brown scher Bewegung von vorher
unbeweglichen Mikrosomen.
[Eine eingehende messende Verfolgung der
Temperaturabhängigkeit der Plasmaviskosität hatten
im übrigen an pflanzlichen Zellen mit Hilfe der
Fallmethode bereits 191 7 F. u. G. Weber ge-
geben. Dabei wurde ebenfalls Viskositätsabnahme
bei steigender Temperatur konstatiert und der
Temperaturkoeffizient (Qk,) mit durchschnittlich
I — 2 bestimmt.]
Von ganz besonders schöner Ausbildung sind
die Pseudopodien der Foraminiferen; sie können
anwachsen bis zu einer Länge von mehreren mm
ja selbst von Zentimetern und doch überschreitet
ihr Breitendurchmesser einige tausendstel Milli-
meter nicht. Dies schien mit den physikalischen
Gesetzen der Flüssigkeiten unvereinbar. Die Kräfte
der Oberflächenspannung zerreißen einen Faden,
wenn er über eine gewisse Länge hinaus ausge-
dehnt wird. Man nahm daher zur Erklärung der
langen fadenförmigen Rhizopoden-Pseudopodien
an, daß in deren Achse ein fester Faden, ein
Achsenfaden eingelagert sei. Doflein hat nun
1916 die Entstehung der Foraminiferen-Pseudo-
podien eingehend studiert. Bei Dunkelfeldbeleuch-
tung konnte er tatsächlich sehen, daß diese Pseudo-
podien aus zwei verschiedenen Substanzen be-
stehen : Ein gerader fast wie ein Telegraphendraht
aussehender fester Achsenfaden das „Stereo -
plasma" wird außen vom flüssigen Protoplasma,
dem „Rheoplasma" wie von einem Mantel
umhüllt. Auf welche Weise stretkt sich solch
ein Pseudopodium aus.? Man sieht „einen feinen
Strahl stark leuchtender Substanz sich vollkommen
geradlinig vorschieben. Manchmal geht dies ziem-
lich langsam vor sich. . . . Nicht selten streckt
sich der Faden aber auch sehr rasch vor, man
hat geradezu den Eindruck eines Aufschießens."
') Siehe auch McDougal und Spoehr (1920).
124
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 9
Sofort, oder erst später sieht man dann den
Achsenfaden von Rheoplasma umflossen. Dieser
ganze Prozeß läßt sich an Modellversuchen nach-
ahmen. „Schiebt man z. B. ein sehr feines Haar
durch einen auf einem Objektträger ausgebreiteten
Wassertropfen, so läßt sich ein langer pseudo-
podienähnlicher Fortsatz des Tropfens erzeugen;
das Wasser bildet einen Mantel um das Haar";
dieser Überzug hat die Tendenz sich zu kugeligen
Tropfen zusammenzuziehen. Dieser Tendenz wirkt
aber die Adhäsion an das Haar entgegen; infolge-
dessen entsteht ein „Unduloid". Dieses hält sich
relativ lange, noch länger bei Flüssigkeiten von
größerer Viskosität. So lassen sich derartige
„künstliche Pseudopodien" besonders schön er-
zielen aus Canadabalsam mit Hilfe eines Haares
in Glyzerin.
Für unsere Betrachtung ist es von besonderem
Interesse, daß in diesem stereoplasmatischen
Achsenfaden ein Protoplasma vorliegt, das einen
ganz besonderen Grad von Zähigkeit, ja Festig-
keit erlangt hat; die Achsenfäden können sich
elastisch biegen und zurückschnellen, ja knicken
und brechen. Der Übergang aus der normal
flüssigen in diese feste Phase vollzieht sich rasch
und ebenso rasch der entgegengesetzte Prozeß
der Verflüssigung. Wie so oft in der lebenden
Substanz bestehen Teile flüssiger und fester Kon-
sistenz nebeneinander und können ineinander
übergehen, verbunden durch alle Grade der Vis-
kosität.
Doflein schließt seine Pseudopodienstudien
mit den Worten: „Das Rätsel des Protoplasmas,
welches das Rätsel des Lebens ist, wird jeden
Naturforscher immer wieder anziehen. Wo wir
eine Möglichkeit sehen, ihm näher zu kommen,
müssen wir sie ergreifen. Ich glaube, daß die
hier von mir verzeichneten Beobachtungen uns
manche bisher nicht erklärbaren Besonderheiten
des Protoplasmas auf bekannte Gesetzmäßigkeiten
zurückzuführen erlauben. Sie zeigen, welche neue
Gesichtspunkte uns oft eine neue Methodik an
viel untersuchten, alt bekannten Objekten anzu-
wenden erlaubt. Ich hoffe, daß eine Verfolgung
der hier berührten Probleme uns ein Stück dem
Ziel näher bringen wird, die Besonderheiten des
Protoplasmas, der lebenden Substanz auf Gesetze
der Chemie und Physik zurückzuführen" — oder
aber wir. werden so erkennen, daß es doch vitale
Besonderheiten gibt, die sich nicht „erklären"
lassen, daß wir das Ziel nicht erreichen werden.
Und nur das unerreichte Ziel scheint uns er-
strebenswert und schön.
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[Nachdruck verboten.]
Der neue zentralafrikanische fossile Menschenfund.
Von Hans Reck,
Geolog. -paläontolog. Institut der Universität Berlin.
Durch die Zeitschriften und Zeitungen der
letzten Wochen gingen — besonders in England
aber auch bei uns — zahlreiche Artikel über einen
neuen Fund vorzüglich erhaltener Reste eines
Menschen in einer Höhle in Broken-Hill-JVIine in
Nord-Rhodesien. Die Erhaltung der Einzelteile
läßt darauf schließen, daß ein ganzes Skelet vor-
gelegen haben dürfte, von dem jedoch nur Teile
gerettet wurden.
Es ist eine immer wiederkehrende Erscheinung,
daß bei solchen Funden der Sensation des Neuen,
Seltenen sofort das Aufeinanderplatzen der ab-
weichendsten Meinungen folgt und die weitest-
gehenden Hypothesen auf ganz unsicherem Grunde
wie Pilze aus der Erde schießen.
So sieht A. Keith verschiedene Merkmale des
Schädels als primitiver an, als die des deutschen
Neandertalers, sucht und findet viel Vergleichbares
mit dem Gibraltarschädel und möchte nun das
Ursprungsland dieses ganzen Menschentypus so-
gleich nach Südafrika verlegen, von wo dann auch
unser deutscher Neandertaler seine Wanderung
begonnen hätte.
Wood ward dagegen spricht den Schädel als
im ganzen weniger primitiv und daher jünger als
den Neandertaltyp an, obwohl auch er noch Spuren
eines affenartigen Vorfahren in ihm zu entdecken
glaubt. Moderner Gehirnschädel und primitives
Gesicht erscheinen in merkwürdigem Gegensatz.
Nun hat schon Prof Martin in einem Auf-
satz in den Münchener Neuesten Nachrichten all
diese Behauptungen einer sehr nötigen abwägenden
Kritik unterzogen. Ich will daher auf das anthro-
pologische Moment der Frage hier nicht .mehr
eingehen, kurz beleuchten möchte ich dagegen die
geologischen Begleitumstände des Fundes.
Man kann wohl sagen, daß nicht nur anthro-
pologisch sondern auch geologisch bisher nichts
Beweisendes für das Alter des Fundes beigebracht
ist. Die geringe Fossilisation der Knochen spricht
eher gegen wie für ein hohes Alter der Funde,
denn der Fossilisationsprozeß kann in den Tropen
erstaunlich schnell und intensiv vor sich gehen,
während andererseits der restlose Zerfall sehr
rasch sich zu vollziehen pflegt, wo keine guten
Fossilisationsbedingungen vorliegen — man wird
aber nicht sagen dürfen, daß dem in allen Fällen
so sein muß. Auf diesem Wege allein ist kaum
ein entscheidender Beweis möglich.
Geologisch höchst uncharakteristisch ist auch
der Fundort. Eine Höhle kann jeden Alters sein.
Und selbst wenn die Höhlenbildung eines be-
grenzten Gebietes ihrem Alter nach geologisch
bestimmt werden kann, was hier meines Wissens
noch nicht der Fall ist, so wird dies immer nur
eine generelle Bestimmung sein, ohne für die
Bildungszeit der Einzelhöhlen eine scharfe Grenz-
ziehung zu ermöglichen, außerhalb der nach oben
oder unten keine Höhle mehr entstanden oder
weiter gebildet worden sein könnte.
Außerordentlich wichtig dagegen sind für die
Altersdeutung die den Menschenfund begleitenden
tierischen fossilen Reste. Von diesen wird aber
allseits hervorgehoben, daß sie völlig rezent seien.
Das spricht sehr gegen ein auch nur jung- bis
mitteldiluviales Alter, denn wir wissen von einigen
anderen zentralafrikanischen Fundpunkten heute
bereits sicher, daß die jung-mitteldiluviale Fauna
Afrikas wesentlich abweichend von der heutigen
zusammengesetzt war. Das gilt in erster Linie
von den Elefanten. Den heutigen afrikanischen
Elefant kennt man im Diluvium Afrikas noch
nicht, wohl aber bildet eine ganz und gar ab-
weichende Elefantenrasse, ein Elephas antiquus,
einen überaus charakteristischen Bestandteil dilu-
vialer afrikanischer Säugetierfaunen.
Ist also — und das muß auch noch festgestellt
werden — der Mensch gleichzeitig mit der heute
mit ihm vereinten Fauna in die Höhle geraten —
wobei die Massenanhäufung verschiedenartiger
Knochenreste nichts geologisch Seltenes ist, wenn
auch die Genese solcher Lagerstätten ein noch
nicht befriedigend gelöstes Problem darstellt —
und ist diese Fauna in der Tat rezent, dann ver-
ringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß hier ein
diluvialer Menschenfund vorliegt, noch um ein
Beträchtliches.
Doch ist auch hier Vorsicht nötig. Bei den
Tausenden von Tierknochen der Höhle bedarf es
einer sehr eingehenden Untersuchung, um be-
stimmt sagen zu können, ob die Fauna rezent
oder prärezent ist. Eine solche genaue Unter-
suchung scheint aber noch nicht geschehen zu
sein. Denn nicht alle Tierformen haben sich seit
126
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 9
diluvialer Zeit gleichmäßig geändert. Manche gar
nicht. Viele nur in bestimmten Skeletteilen.
Andere ältere Formen dagegen fehlen der heutigen
Fauna vollständig.
Trotz unserer geringen Kenntnis der diluvialen
zentralafrikanischen Fauna können wir doch heute
schon mit Sicherheit sagen, daß sie in vielem
(und das gilt besonders für wenig charakteristische
Einzelknochen) der heutigen zwar gleich oder ähn-
lich ist, daß sie aber auch zahlreiche Abweichungen
von heutigen Formen und vor allem zahlreiche
ausgestorbene Typen und selbst Genera hat, welche
ihren Gesamthabitus von dem heutigen Bild ganz
wesentlich verschieden erscheinen lassen.
Und noch einen Funkt möchte ich in die Dis-
kussion des neuen Fundes tragen. Vor dem
rhodesischen Fund bereits hat eine deutsche Expe-
dition in deutsch-afrikanischer Erde einen fossilen
zentralafrikanischen Menschen gefunden und ge-
borgen. Es war die 191 3 von Berlin ausgegangene
Oldoway Expedition, welche mit den ersten reichen
Funden einer jung-mitteldiluvialen zentralafrika-
nischen Säugetierfauna auch ein vollständiges
fossiles Menschenskelet mit nach Hause brachte,
das heute im Berliner Museum für Naturkunde
aufbewahrt wird.
Die Ungunst der Verhältnisse und der Zeit
hat die Bearbeitung und Veröffentlichung der
Resultate dieser Expedition immer wieder ver-
zögert. Außer der teilweisen Bearbeitung des
Elefantenmaterials konnten bisher nur vorläufige
Mitteilungen darüber publiziert werden. Über
den Menschenfund ist das letzte Wort noch
nicht gesprochen. Die Fauna, mit der er zu-
sammenliegend in festen gebankten Tuffen längst
erloschener Vulkane gefunden wurde, ist sicher
jung- bis mitteldiluvial. Das hat besonders
die Bearbeitung der Elefanten gelehrt. Das
Menschenskelet selbst jedoch, dessen fossiler
Habitus ebenso wie seine Vollständigkeit auffällt,
gehört sicher einem hoch entwickelten Typ an.
Wohin er zu stellen ist, ist noch fraglich. Meist
sprechen ihm die Anthropologen negroide Eigen-
schaften ab, und sehen Hinweise auf eine indisch-
asiatische Heimat, was mit dem Bild der Fauna
in gutem Einklang stehen würde. — Ist der Mensch
nun in der Tat gleichzeitig mit dieser ihm nicht
fremd gegenüberstehenden Fauna in die Tuffe ein-
gebettet worden, so haben wir hier einen geologisch
fixierbaren diluvialen afrikanischen Menschenfund
vor uns, der bei dem neuen rhodesischen Vor-
kommen an erster Stelle zum Vergleich heranzu-
ziehen wäre, was meines Wissens bisher noch
nicht geschehen ist.
Bücherbesprechungen.
Bölsche, Wilhelm, Vom Bazillus zum
Affenmenschen. Naturwissenschaftliche
Plaudereien. 11. — 15. Tausend. Vollständig
umgearbeitete und erweiterte Neuausgabe. 320 S.
Jena 192 1, Eugen Diederichs. 40 M., geb. 55 M.
Es ist eine wahre Erquickung — auch für
den Fachmann — sich in den jetzigen Zeiten in
ein Werk wie das vorliegende versenken zu können.
Der Titel verleitet zu der Vorstellung, als ob wir
es hier mit einer mehr oder weniger streng
durchgeführten entwicklungsgeschichtlichen Dar-
legung zu tun hätten, wie sie sich etwa in dem
Werke Konrad Guenthers: „Vom Urtier
zum Menschen" findet. Wie sich aber schon aus
dem Untertitel und aus den Kapitelüberschriften
ergibt, liegt hier doch etwas ganz anderes vor
und der Titel deckt nicht den vielseitigen Inhalt.
Die einzelnen Abschnitte lauten : Bazillusgedanken ;
Vom klassischen Boden des Ichthyosaurus (dieses
Kapitel wurde ganz neu niedergeschrieben) ; Wenn
der Komet kommt; Ein lebendes Tier aus der
Urwelt; Das Geheimnis des Südkontinents; Der
Affenmensch von Java; Vom dicken Vogt; Das
Märchem des Mars.
Wir wollen doch sehr dankbar sein, daß wir
einen Bölsche haben, der die Resultate der
wissenschaftlichen Arbeit, wie sie in unseren
Laboratorien, Museen, Sternwarten und Studier-
stuben in mühsamer, tiefgründiger Forscherarbeit
heranreiften, in weite Kreise hinausträgt und sie
meist erst auf diese Weise der Allgemeinheit nahe
bringt und sie dem Verständnis der Laien er-
schließt. Freilich kommt es hierbei alles auf das
wie an und da ist der Leser bei Bölsche
unter gewissenhafter und sachkundiger Führung.
Allein schon das hier zur Besprechung stehende
Buch ergibt ein erstaunlich umfassendes Studium,
oft bis in kleinste Einzelheiten hinein, sowohl
nach der literarischen, geschichtlichen, philosophi-
schen als auch vor allem nach der naturwissen-
schaftlichen Seite hin, ferner eine verblüffende
Übersicht über die Bewertung der einschlägigen
Forschungen. Bei dieser glänzenden Beherrschung
der Spezialgebiete und bei der hinzutretenden
geistreichen künstlerisch gewandten Behandlung
baut sich ein Ganzes von bestrickendem Reiz
auf, dessen Fundamente, wie gesagt, immer
auf dem Boden der Wissenschaft ruhen. Und
dort wo die Wissenschaft selbst noch tastet und
Zuflucht nehmen muß zu Hypothesen, und wie
oft ist das der Fall, da sehen wir nicht selten
bei Bölsche eine vorsichtige und zurückhaltende
Weiterführung in oft wundervollen Entwicklungs-
gängen, die den Wert oder Unwert dieser oder
jener Hypothese durch diese Gesamtschau in eine
neue Beleuchtung rückt.
Seit langem ist die Fähigkeit Bölsches an-
erkannt, auch die trockenste und schwierigste
Materie dem Laien schmackhaft und mundgerecht
zu machen. Sein Stil ist einfacher und schlichter
N. F. XXI. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
127
geworden, aber, wie mir scheint, um so eindrucks-
voller.
Auf die einzelnen Kapitel kann hier nicht ein-
gegangen werden. Es sei nur bemerkt, daß die
geistvolle Skizze: „Vom dicken Vogt" wohl das
Beste sein dürfte, was je über Karl Vogt ge-
schrieben worden ist mit warmer Anerkennung,
humorvoller Satyre und „mit feiner Bonhomie,
aber doch mit einem Stich in die Karikatur".
V. Büttel-Reepen.
Mayer, Adolf, Lehrbuch der Agrikultur-
chemie in Vorlesungen. 7. neubearb.
Aufl. Bd. I. Die Ernährung der grünen Ge-
wächse in 27 Vorlesungen zum Gebrauch an
Universitäten und höheren landwirtschaftlichen
Lehranstalten, sowie zum Selbststudium. 8 ".
VIII und 460 S. 40 Textabbild, und i Tafel.
Heidelberg 1920, Carl Winters Universitäts-
buchhandlung. Geb. 54 IVI. u. Sortim.- Zuschlag.
Wenn man die Zahl der Auflagen als Maßstab
für die Güte eines Buches anlegt, so erscheint es
überflüssig, dem May er sehen Lehrbuch noch
eine besondere Empfehlung mit auf den Weg zu
geben. Im Jahre 1870 zum ersten Male erschienen,
hat es bisher 6 Auflagen erlebt und das große
Interesse, das sowohl von Seiten der Studieren-
den als auch Lehrer und Forscher für dieses Buch
besteht, hat eine Neuauflage notwendig gemacht.
Wieder auf den neuesten Stand unseres Wissens
gebracht, gibt das vorliegende Buch ein klares,
übersichtliches und vollständiges Bild von der
Pflanzenernährungslehre; dabei hat deren histori-
sche Entwicklung soweit Erwähnung gefunden, als
zum Verständnis des Gegenwärtigen notwendig
ist. Gerade darin besteht ein besonderer Vor-
zug dieses Lehrbuches. Denn nichts ist mehr
geeignet, ein vollständiges Verständnis für eine
Sache zu erzeugen, als sie werden zu sehen. Der
Umstand, daß Adolf Mayer als Nestor der
Agrikulturchemiker die Entwicklung miterlebt und
außerdem selbsttätig mit gefördert hat, verleiht
ihm die Lebhaftigkeit der Schilderung, die Gründ-
lichkeit und Klarheit der Darstellung.
Der Stoff ist in Form von Vorlesungen dar-
gelegt und folgendermaßen eingeteilt:
I. Abschnitt: Die stickstoffreien organischen
Bestandteile der Pflanzen.
Vorlesung i — 5: Die Produktion von orga-
nischer Substanz.
Vorlesung 6: Wanderung der organischen
Substanz.
Vorlesung 7: Die Pflanzenatmung.
Vorlesung 8 — 10: Die stickstoffreien orga-
nischen Bestandteile der Pflanze.
II. Abschnitt: Die stickstoffhaltigen Bestand-
teile der Pflanze.
Vorlesung ii — 15.
III. Abschnitt: Die unverbrennlichen Bestand-
teile der Pflanze.
Vorlesung 16 — 20.
IV. Abschnitt: Die Gesetze der Stoffaufnahme.
Vorlesung 21 — 25.
V. Abschnitt: Sonstige Vegetationsbedingungen.
Vorlesung 26 — 27.
Am Ende jedes Abschnittes sind die wichtig-
sten Ergebnisse in kurzen Sätzen zusammen-
gefaßt. Auf diese Weise ist die ganze Lehre der
Pflanzenernährung auf 99 Thesen zusammenge-
drängt. Diese Zusammenfassung nützt dem Lehrer
zur schnellen Orientierung über den Inhalt der
einzelnen Abschnitte; dem Studierenden aber
bietet diese Vereinheitlichung des reichen und
mannigfaltigen Stoffes eine klare Übersicht, die
ihm bei Wiederholung wertvolle Dienste leistet.
Da das May er sehe Lehrbuch hauptsächlich
die rein pflanzenphysiologischen Momente hervor-
hebt, bietet es eine willkommene Ergänzung zu
dem Lehrbuch von Schneidewind, welches in
erster Linie die praktische Seite der Pflanzen-
ernährung beleuchtet. Es ist für den Bota-
niker, der sich über die Ernährung der Pflanzen
eingehender unterrichten will, ebenso wertvoll
wie für den Agrikulturchemiker, wenn dieser be-
absichtigt, nach der theoretischen Seite hin sich
zu vervollkommnen.
Die Ausstattung des Buches ist eine sehr gute.
Wießmann (Berlin).
Kühn, Alfred, Morphologie der Tiere in
Bildern, i. Heft: Protozoen; i.Teil: Flagel-
laten. 106 S. Berlin 1921, Gebr. Borntraeger.
21 M.
Das erste Heft eines groß angelegten Werkes
liegt vor uns. Der Verf. beabsichtigt in einer
großen Anzahl von Einzelheften eine vollständige
Bildersammlung des gesamten Tierreiches zu
geben, um dadurch das Verständnis der tierischen
Baupläne zu erleichtern. Das erste Heft, welches
die Klasse der Flagellaten behandelt, ist erschienen.
Mit sehr großem Fleiß sind die Abbildungen der
wichtigsten Formen und Typen dieser Protozoen-
gruppe aus den Originalarbeiten zusammengesucht
und in einheitlicher Darstellung wiedergegeben.
Der kurze zu den Bildern gehörige Text bringt
eine ganz kurze, aber klare Übersicht über die
wichtigsten, charakteristischen Eigenschaften und
Bauverhältnisse des betreffenden Tieres. Sämt-
liche Abbildungen sind als Federzeichnungen um-
gezeichnet und als Zinkätzungen wiedergegeben.
Gerade diese einheitliche Ausführung der Figuren
ermöglicht eine Vergleichung der verschiedenen
Formen und damit eine Ableitung der einzelnen
Typen voneinander und die Klärung ihrer ver-
wandtschaftlichen Verhältnisse. Die außerordent-
lich klaren und sauberen Zeichnungen sind teils
vom Verf. selbst, teils von Fräulein Else Arm-
bruster hergestellt. Daß allein die Darstellung
der Klasse der Flagellaten über lOO Seiten Raum
einnimmt, zeigt, daß die getroffene Auswahl der
P'ormen sehr reichhaltig ist und, daß man in dem
Heft sehr viel mehr Typen vertreten findet als
etwa in den üblichen Lehrbüchern.
128
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 9
Diese neue Bildersammlung wird daher sowohl
dem Forscher, der die Verwandtschaftsverhältnisse
der Formen untersucht, eine reiche Materialsamm-
lung an die Hand geben, als auch dem Lernen-
den, der die Bauverhältnisse der Tiere kennen
lernen will, mühseliges Einzelstudium erleichtern;
und besonders der Unterrichtende, sei es in der
Schule oder im Kolleg, findet in diesem Werke
eine übersichtliche Auswahl brauchbarer Abbil-
dungen aller wichtigeren Typen. IVIögen weitere
Hefte diesem ersten recht bald folgen und das
Werk die ihm gebührende Verbreitung finden.
A. Pratje, Halle a. S.
Schoenichen, W., Praktik um der Insekten-
kunde nach biologisch ökologischen Gesichts-
punkten. Zweite, vermehrte und verbesserte
Auflage. 227 S. mit 261 Abb. im Text. Jena
1921, G. Fischer. Preis brosch. 34 M., geb.
40 IVI.
Wer den Körperbau der Insekten in seiner
unerschöpflichen Mannigfaltigkeit und Zweck-
mäßigkeit seiner einzelnen Teile näher kennen
gelernt hat, wird mit dem Verf darin überein-
stimmen, daß sich die Insekten wie kaum eine
andere Tiergruppe als Studienobjekte für mikro-
skopische Untersuchungen und zur Einführung in
biologisch- ökologische Betrachtungen eignen. Von
diesem Gesichtspunkt aus ist das Schoenichen-
sche Praktikum entstanden, das jetzt in zweiter
Auflage vor uns liegt. In erster Linie für den
Unterricht an Schulen und zur Ausbildung von
Lehramtskandidaten bestimmt, hat es auch rasch
an den Hochschulen Verbreitung gefunden. Bei der
Darstellung ist grundsätzlich nur das Chitinskelett
berücksichtigt worden, dessen Teile sich ohne
Mühe für mikroskopische Studien herrichten lassen,
ohne daß wie bei den inneren Organen kompli-
ziertere Methoden, wie Färben, Schneiden u. a.
nötig werden. In den Kreis der Betrachtungen
sind Vertreter aus den verschiedensten Insekten-
gruppen gezogen, vorzugsweise solche, die aus
biologischen Gründen unser Interesse beanspruchen
dürfen. Neu hinzugefügt wurden in der vorliegen-
den Auflage Abschnitte über die niedersten In-
sekten, die Thysanuroidea , und über blüten-
besuchende Hautflügler, Käfer und Fliegen. Sehr
zu begrüßen ist, daß auch weiter mehrere wirt-
schaftlich oder hygienisch wichtige Insekten, wie
die Kleiderlaus, der Hundefloh, Borkenkäfer u. a.
aufgenommen worden sind. Bemerkenswert sind
die vielen gut gelungenen Textfiguren, die den
Gebrauch des Buches wesentlich unterstützen.
Die Zahl dieser Abbildungen wurde in der vor-
liegenden Auflage noch um 60 vermehrt.
R. Heymons.
Arrhenius, Svante, Der Lebenslauf der
Planeten. 35 Abb. 166 S. Leipzig 1921,
Akadem. Verlagsgesellschaft m. b. H.
Der Verf. gibt hier eine Ergänzung seiner
Kosmogonie im „Werden der Welten". Er be-
spricht zunächst ausführlich die Ergebnisse der
neueren Forschungen über Wesen, Form und
Ausdehnung der Milchstraße, der Grundlage des
Sternsystems und erörtert dann die Frage nach
der Stellung der Nebel und kugeligen Sternhaufen
zur Milchstraße, wieweit man annehmen darf, es
hier mit selbständigen Systemen zu tun zu haben,
wobei die Untersuchungen Shapleys die ge-
bührende Würdigung finden. Aus den nächsten
drei Kapiteln spricht ganz der Physiker, wenn er
die klimatische Bedeutung des Wasserdampfes
höchst anschaulich schildert und die physikalische
und chemische Bedeutung der Atmosphären, ihrer
Zusammensetzung und chemischen Veränderung
in geologischen Zeiten hervorhebt. Mars verdient
ein besonderes Kapitel, wenig bekannte Einzel-
heiten aus der Marsforschung, wie die Feststellung
des Wassergehaltes der Marsatmosphäre, finden
wir hier, und auf sie sich aufbauend eine Mars-
meteorologie, die viel für sich hat, wenn sie auch
andern Arbeiten, vor allem der sonst ansprechend-
sten von Baumann widerspricht. Hier wird die
nächste Marsopposition neues Material herbei-
schaffen müssen. Das letzte Kapitel ist der zu-
sammengehörigen Gruppe von Merkur, Venus
und Mond gewidmet, je mehr wir vom Monde
wissen, um so mehr muß das überaus dürftige
Beobachtungsmaterial der beiden anderen Planeten
mit Hilfe von Analogien ausgewertet werden, so
daß ein einigermaßen brauchbares Ergebnis erzielt
werden kann. Die Darstellung ist, wie immer bei
Arrhenius, sehr klar und flüssig, man merkt
dem Text nicht an, daß es sich um eine Über-
setzung aus dem Schwedischen handelt.
Riem.
Literatur.
Karny, Dr. Heinrich, Der Insektenkörper und seine
Terminologie. Wien '21, A. Pichlers Witwe & Sohn. 7 M.
Süßwasserflora Heft 7: Heering, W. , Chlorophyceaue
IV. Siphonoclodiales, Siphonales. Jena '21, Gustav Fischer.
15 M., geb. 20 M.
Teubners naturwissenschaftliche Bibliothek Heft 5 : R u s c h ,
Himmelsbeobachtungen. Leipzig und Berlin '21, B. G. Teubner.
Geb. 20 M.
Collier, Dr. W. A., Einführung in die Variationsstatislik.
Berlin '21, Julius Springer. 33 M.
Pringsheim, Peter, Kluoreszenz und Phosphoreszenz
im Lichte der neueren Atomtheorie. Berlin '21, Julius Springer.
4S M.
Laue, Prof. M. v., Das physikalische Weltbild. Karls-
ruhe i. B. '21, C. F. MüUerschc Hofbuchhandlung m.b.H.
Inbftlt: l'riedl Weber, Die Viskositiit des Protoplasmas. S. 113. H. Reck, Der neue zentralafrikanische fossile
Menschenfund. S. 125. — Bücberbesprechungen: W. Bölsche, Vom Bazillus zum Affenmenschen. S. 126.
A. Mayer, Lehrbuch der Agrikulturchemie in Vorlesungen. S. 127. A. Kühn, Morphologie der Tiere in Bildern.
S. 127. W. Schoenichen, Praktikum der Insektenkunde. S. 128. Sv. Arrhenius, Der Lebenslauf der Planeten.
S. 128. — Literatur: Liste. S. 128.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Patz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Ba
T ganzen Reihe .^7.
Sonntag, den 5. März 1922.
Nummer 10.
[Nachdruck verbotea.)
Der schlimmste Vorwurf, der einen Chemiker
treffen kann, ist die Behauptung, daß die Verbin-
dung, die er dargestellt und sogar mit einer For-
mel bezeichnet hat, nicht rein sei. Denn diese
Formel will ja nicht nur der Garantieschein sein
für die in ihr ausgedrückte qualitative und quan-
titative Zusammensetzung des neuen Körpers,
sondern auch die konzentrierteste Beschreibung
seiner Eigenschaften. Eine stoffliche Unreinheit
läßt mithin sofort in Zweifel ziehen, ob die be-
obachteten Eigenschaften dem definierten Körper
oder nicht vielmehr seinen Verunreinigungen zu-
gerechnet werden müssen. Erst einem analysen-
reinen Produkt ordnen wir die Mannigfaltigkeit
seiner Eigenschaften bei und erwarten, sie in ihrer
Gesamtheit immer dann wiederzufinden, wenn der
gleiche Stoff vorliegt. Es soll nicht nur der Stoff,
auf verschiedene Art hergestellt, immer die näm-
lichen Umsetzungsreaktionen geben, sondern auch
die physikalischen Merkmale sollen konstant sein;
ja gerade an ihnen, z. B. an Kristallform und
Lichtbrechung, an Schmelzpunkt und Siedepunkt,
an Dichte und Löslichkeit erkennt der Chemiker
die stoffliche Individualität. Und doch, wie häufig
kommt es vor, daß zwei bisher als identisch er-
achtete Stoffe bei einer neuen, verfeinerten Unter-
suchung voneinander abweichen, vielleicht nur in
einer, ganz untergeordneten, Richtung. Ist diese
geringfügige Unterschiedlichkeit die Folge einer
gleichfalls sehr feinen, materiellen Andersartigkeit?
Zeigt schon ein neuer Körper seine Existenz an 1
Wie eng sind überhaupt stoffliche Zusammen-
setzung und Eigenschaften miteinander gekoppelt ?
Ein künstlicher Rubin und der natürliche Edel-
stein-Rubin sind für einen Chemiker dasselbe,
nämlich Aluminiumoxyd, das durch Chrom ange-
färbt ist; auch der Physiker und der Mineraloge
werden in Kristallform und Lichtbrechung beide
als identisch erkennen. Der Juwelier dagegen
wird den nachgemachten vom echten scharf
sondern, für ihn ist die Entstehungsart ein wesent-
liches Merkmal. Welche Unterschiede in den
Sorten sieht der Kenner, der Maurer in den Kalk-
steinen, der Gerber in dem Leder, die einem Laien
alle als gleich erscheinen! Von der Gründlichkeit
unserer Untersuchung hängt es ab, ob wir zwei
Stoffe für ungleich, ähnlich oder identisch erklären.
Auch unser Urteil ist maßgebend, je nach dem
Wert, den wir einer Eigenschaft zugestehen, richtet
sich die stoffliche Klassifizierung. So manche
Polemik in der Chemie erklärt sich daraus, daß
dem einen Forscher die Merkmale seiner von ihm
hergestellten Verbindung schon reichen, um die
Stoff und Eigenschaft.
Von Ernst Fischer, Leipzig.
Existenz eines neuen Stoffes zu behaupten, während
sie dem anderen nicht genügen.
Vor einigen Jahren gab es in den Apotheken
das echte Aspirin von Bayer & Co., und daneben,
zum halben Preise, das Äcidum acetosalicylicum.
Chemisch und auch therapeutisch waren beide
identisch, die Verschiedenheit des Herstellungs-
ortes war dem orientierten Käufer nicht wesent-
lich genug, dem teureren Produkte den Vorzug
zu geben. So sind die vielen künstlichen Pro-
dukte der chemischen Großindustrie nicht mehr
verschieden voneinander: der Alkohol, der bei der
Gärung der Kartoffel erhalten wird, ist nicht reiner
oder besser als derjenige, den die Verzuckerung
des Holzes liefert. Der Stoff, welcher die Eigen-
schaften, auf die es uns ankommt, in stärkstem
und reinstem Maße besitzt, wird als höchstpro-
zentiger gewertet, und deshalb geben wir bei
Riechstoffen und Düngemitteln und Farben dem
Fabrikprodukte vor dem natürlichen den Vorzug.
Nur auf einem Gebiete sind uns die „Surrogate"
in schlechter Erinnerung : bei den Genußmitteln.
Künstlicher Honig ist eben doch kein Bienenhonig,
trotzdem er süß und gelb und klebrig ist. Die
Übereinstimmung der echten und der Ersatznähr-
mittel erstreckt sich nur auf die sekundären Merk-
male. Der stoffliche Aufbau ist nicht nachge-
macht worden, und gerade mit ihm ist der Nähr-
wert verknüpft. Und wie wenig bekannt selbst
die Zusammensetzung der Nahrungsmittel ist, lernt
die physiologische Chemie erst in neuester Zeit
kennen. Bis vor kurzem hielt man außer den
anorganischen Salzen drei Klassen organischer
Verbindungen zur Ernährung für notwendig: Die
Fette, die Kohlehydrate und die Eiweiiästoffe.
Nach dieser vermeintlich restlosen qualitativen
Feststellung war man bereits zu quantitativen Ver-
suchen übergegangen und bemühte sich, eine
rationelle Ernährung auf grund des Energiebedarfes
des Menschen und des durch Verbrennung fest-
stellbaren Energiegehaltes der Nahrungsmittel zu
begründen. Bis sich plötzlich zeigte, daß diese
Speisekarte noch unvollständig war, und daß zu
den klassischen Nahrungsmitteln noch weitere Zu-
taten kommen müssen. Diese neuen Bestandteile
finden sich in den Schalen der Hülsenfrüchte, im
Salat usw. Werden sie dem Organismus vorent-
halten, so stellen sich Stoffwechselkrankheiten ein,
z. B. Skorbut oder Beri-Beri. Diese Ergänzungs-
stoffe erhielten den bezeichnenden Namen: Vita-
mine, aber ihre stoffliche Natur ist noch durch-
aus unbekannt. Ihre Menge steht in keinem Ver-
hältnis zu ihrer Wirkung, so daß sie eher den
ISO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. R XXI. Nr. 10
Katalysatoren verglichen, denn als energieliefernde
Nahrungsmittel bezeichnet werden können. Der
biologische Wert unserer 'Nahrungsmittel geht
noch weit über die chemische Charakteristik
hinaus, noch immer hat die Küche der Hausfrau
ihr Recht. Es ist ein weiter Weg, bis den biolo-
gischen Eigenschaften Geschmack oder Verdau-
lichkeit ein stofflich chemisches Verhalten zuge-
ordnet werden kann : in der Erkennung des alt-
backenen Brotes, des schaumigen Bieres, des glasigen
Fisches, des brotigen Fleisches ist der Fein-
schmecker dem Physiko-Chemiker noch immer
überlegen, und der Weinkenner wird noch lange
Blume und Aroma ohne die Umwege des Ana-
lytikers prüfen.
Sogar in seinem eigensten Gebiete läßt sich
der Chemiker von dem Biologen helfen : er borgt
sich von ihm die Ausdrucksweise für die Charakteri-
sierung des stofflich chemischen Verhaltens. Wenn
ein Katalysator, der einen chemischen Prozeß be-
schleunigt, mit Zyankali oder Quecksilbersalzen
versetzt wird, so stellt er seine Wirkung ein, er
ist „vergiftet". Wird die gleiche Giftmenge in
homöopathischen Dosen zugegeben, so „gewöhnt"
sich der Katalysator daran. „Gesundes" Zinn, das
unterhalb -j- 20^ mit einem Bröckchen des grauen,
pulvrigen Zinnes, einer anderen Modifikation, „ge-
impft" wird, verfällt der „Ansteckung" und der
„Zinnpest". Oft finden solche Reaktionen nicht
sofort nach der Berührung der „trägen" Kompo-
nenten statt, sondern es bedarf einer „Inkubations-
zeit" bis sie ihre ,, Verwandtschaft" betätigen.
Unterbleibt aber jede Umsetzung, dann zeigt das
Metall eine „Passivität", weil es sich vielleicht mit
einer „Haut" seines Oxydes überzogen hat.
In vorliegenden Beispielen kann der Fachmann
anstelle des lebendigen Ausdruckes die farblosere
Beschreibung geben, die das Verhalten auf die
zugrunde liegenden Substanzen und Kräfte zurück-
führt, und er wird es sogar bevorzugen, weil die
biologische Terminologie eine Reihe von Neben-
vorsiellungen erweckt, die der Prozeß nicht be-
stätigt. Sonst bliebe verwunderlich, daß Gips, der
einmal „totgebrannt" worden ist, nach genügend
langer Berührung mit Wasser wieder reagiert und
die festesten Stuckaturen liefert.
Aber in sehr vielen Fällen ist es noch gar
nicht möglich, den lebendigen Ausdruck für das
Totalverhalten in eine Summe von Reaktionen
zwischen bestimmten Umwandlungsprodukten auf-
zulösen. Das „Umschlagen" der Farbe eines Indi-
kators beim Überschreiten des Neutralisations-
punktes zwar läßt sich erklären, aber die Er-
scheinung, daß ein Farbstoff bei wiederholtem
Umfallen oder Umkristallisieren „leidet", hat noch
nicht immer ein chemisches Korrelat gefunden.
Die Periodizität, mit der gewisse Metalle von
Säuren angegriffen werden, ist ebenso rätselhaft,
wie die „rhythmische" Fällung mancher Nieder-
schläge, wie sie z. B. die Bänderung der Achate
bewirkt hat. Der „Reifungsprozeß" der photo-
graphischen Schicht läßt das Bromsilber dichter
und empfindlicher werden, aber der gleiche End-
zustand kann auch durch eine Vorbelichtung er-
zielt werden, ohne daß bekannt wäre, ob die
stofflichen Veränderungen beidemal die gleichen
sind. Die „aktiven" Formen der Elemente zeichnen
sich durch eine erhöhte Reaktionsfähigkeit aus.
Beim Ozon, dem dreiatomigen Sauerstoff, ist die
starke Affinität die Folge einer lockeren Bindung
der drei Atome, die noch Teile jener Energie frei
haben, welche im gewöhnlichen Sauerstoff je zwei
Atome fester aneinander kettet. Auch die stärker
reduzierende Wirkung des Wasserstoffs im ,, Status
nascens" ist auf den größeren Energieinhalt der
gerade entstehenden freien, einzelnen Wasserstoff-
atome zurückzuführen, der beim gewöhnlichen,
zweiatomigen Wasserstoff teilweise schon zur Bil-
dung des Moleküls verbraucht ist. Die Reaktions-
fähigkeit vieler Wasserstoffverbindungen, z. B. die
leichte Ersetzbarkeit des darin gebundenen Wasser-
stoffs durch Metalle, läßt sich meistens begründen
durch den besonderen Zustand, in dem sich dieser
Wasserstoff befindet: er ist gelrennt von den
anderen Atomen der Verbindung und bewegt
sich, mit einer elektrischen Ladung begabt, frei
in der Lösung. Ist denn aber nicht dieses Wasser-
stofflon damit als ein neuer Stoff anerkannt, als
ein Bestandteil aller Säuren, dem wir die Sauer-
keit zuordnen f In organischen Verbindungen ist
der Verband im Molekül viel fester, es ist nicht
angängig, gemeinsame Eigenschaften der Sonder-
existenz eines gemeinsamen Bestandteiles zuzu-
schreiben, und man muß sich damit begnügen,
die Gruppen, deren Einführung in das Molekül
eine solche Eigenschaft in stärkerem Maße hervor-
treten läßt, als „reaktivierende" zu bezeichnen, ohne
diese Wirkung energetisch oder valenzchemisch
bis auf die Elemente verfolgen zu können.
Die rationelle Beschreibung und Erklärung
einer Erscheinung steht immer vor den schwieri-
gen Fragen : liegt der neuen Eigenschaft ein neuer
Stoff zugrunde, ist sie nur die Folge eines be-
sonderen, aber ihm eigentümlichen Zustandes,
oder wird die Eigenartigkeit des Verhaltens über-
haupt erst durch die Prüfungen verursacht, die
wir mit ihm vornehmen ? Oft sind die Opera-
tionen, die wir zur Erkennung der Merkmale be-
benutzen, schon Eingriffe, die das Untersuchungs-
objekt tiefgehend verändern. Die neutralsten
Lösungsmittel können zersetzend wirken. Um-
kristallisationen oder Destillationen den Stoff zer-
stören, und bei besonders empfindlichen Substan-
zen kann keine Identifizierung zart genug sein, um
d i e Eigenschaften festzustellen, die ihnen eigent-
lich zukommen.
Kalkspat, der aus seiner wässerigen Lösung in
Rhomboedern kristallisiert, kommt bei Zusatz
eines Fremdkörpers, z. B. von Magnesiumsalzen,
in rhombischen Säulen, dem Aragonit, heraus.
Nicht die Spur einer fremden Beimengung ist
im letzten Niederschlag erkennbar, beide Aus-
scheidungen sind reines Kalziumkarbonat, und
nur gegen Kobaltsalzlösungen zeigen sie einen
N. F. XXt. Nr. lö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
tjt
Unterschied: der Aragonit wird beim Betupfen
damit violett, der Kalkspat nicht. Wie hier die
bloße Anwesenheit eines „Lösungsgenossen" sich
in den Eigenschaften, und sogar in einer, wenn
auch nicht sehr wesentlichen, stofflichen wieder-
spiegelt, so zeigt auch die „Vorgeschichte" oft
einen Einfluß auf das Verhalten einer Verbindung.
Chemisch reines Berylliumhydroxyd wird von
Lösungsmitteln ganz verschieden aufgenommen,
je nachdem es vor kürzerer oder längerer Zeit
hergestellt worden ist. Aus einer „Jugendform"
geht es in einen Zustand über, in dem es weniger
schnell reagiert; doch analytisch ist auch der
„gealterte" Stofif noch immer Berylliumhydroxyd.
Ist denn aber die stoffliche Charakterisierung,
welche man aus den analytischen Fällungen er-
schließt, die „feinste" stoffliche Beschreibung?
Der rote Phosphor ist doch stofflich etwas ande-
res als der weiße, trotzdem der Chemiker bei
beiden dieselben analytischen Reaktionen be-
kommt. Denn die beiden allotropen Modifika-
tionen unterscheiden sich nicht nur physikalisch
hinsichtlich Farbe und Dichte, sondern auch
chemisch physiologisch: der weiße ist giftig, der
rote nicht. Sind nun diese verschiedenen Eigen-
schaften zwangsläufig miteinander verbunden, ver-
schwinden die chemischen Verschiedenheiten, so-
bald die physikalischen aufgehoben sind, oder
gehen sie darüber hinaus? Es gibt ein gelbes
und ein rotes Ouecksilberjodid, beide von der
Zusammensetzung HgJ,. Sie lösen sich in ver-
schiedenem Maße in Wasser auf, aber beide Lö-
sungen sind farblos. Trotzdem zeigt die Lösung
Eigenschaften, die je nach den äußeren Bedingun-
gen, den gelösten Stoff, bald der roten, bald der
gelben Form ähnlicher, auch in der Lösung noch
als weiter existierend erscheinen lassen. Eine
Lösung, die durch Auflösen der gelben Form
entstanden ist, scheidet beim Impfen nur mit
einem Körnchen der roten, nicht der gelben Mo-
difikation rotes Ouecksilberjodid aus. Die Lösung
war also „übersättigt" an roter Form, aber ist
diese Bezeichnungsweise nur eine philologische
Bequemlichkeit.'' Wäre denn die Ausscheidung
überhaupt erklärlich, wenn wir nicht die Präexi-
stenz oder zum mindesten die Prästabilisierung
des roten Jodides in der Lösung annehmen wür-
den, dessen Moleküle eben nur durch gleichartigen
Stoff zur Sammelkristallisation veranlaßt werden
können? Wir sind auf einem Gebiete zwischen
Physik und Chemie, und unsere Erkenntnis sucht
vergeblich die ineinander verfließenden Grenzen.
Daß eine kolloide Silberlösung, deren Teilchen
sehr klein sind, eine hellere Farbe besitzt, als
eine solche mit größeren Teilen, scheint nicht
befremdlich: einen physikalischen Efifekt führt
man leicht auf eine nur morphologische Ver-
schiedenheit zurück. Wenn aber Salpetersäure,
die kompaktes Silber sofort auflöst, das latente
Bild auf einer photographischen Platte nicht an-
greift, so sind wir doch schon sehr im Zweifel,
I ob wir dem feinverteilten Silber, aus dem das
latente Bild bestehen soll, so ganz andere Eigen-
schaften als dem gewöhnlichen Metall zugestehen
dürfen, oder ob wir nicht für dieses neuartige
Verhalten auch einen neuartigen Stoff verantwort-
lich machen müssen. Einen Stofif, der mangels
einer schärferen Charakterisierung nur als „Photo-
haloid" bezeichnet werden kann. Ein Katalysator
wird eine chemische Reaktion zwischen zwei
Stoffen vermutlich nur deshalb „auslösen", weil,
wenigstens als Zwischenstufen, Produkte entstehen,
an deren Aufbau er sich beteiligt. Bei einer
Oxydation kann ein „O.xydator" nur „übertragend"
wirken , wenn er sich in erster Phase mit dem
Sauerstoffe belädt, den er dann an den zu oxy-
dierenden Körper abgibt.
Es war das gedankliche Leitmotiv der Chemie,
bei jeder neu beobachteten Eigenschaft auch nach
einem neuen Träger zu fahnden. Je geringer
sich die Eigenschaftsverschiedenheiten zweier
Stoffe erwiesen, desto feinere stoffliche Differenzen
wurden erwartet. In den Isomeren bedingt schon
nicht mehr die Art und Zahl der Atome, sondern
die Variation ihrer Verkettung die unterschied-
lichen Substanzen. Strukturelle und dann räum-
liche Verschiedenheit sollte durch einen immer
diffiziler werdenden Feinbau die minimalsten Ab-
weichungen im Verhalten erklären, aber jetzt ver-
mag die Formulierung nicht mehr die immer
wachsende Zahl der Isomeren abzubilden. Oft
muß sich die organische Chemie damit behelfen,
die verschiedenfarbigen Erscheinungsformen eines
Stoffes als „Chromoisomere" zu registrieren, einem
anderen Stoff eine „Pseudoform" beizuordnen,
oder neben einer „«Modifikation" eine „/?■ Modi-
fikation" bestehen zu lassen. Substanzen endlich,
deren Merkmale sich nicht scharf genug mit denen
der einen oder der anderen Form decken, werden
als Gleichgewichte, als Gemische jener reinen
Extreme angesprochen. Selbst in der anorgani-
schen Chemie, in der sich wegen der Einfachheit
der Verbindungen eine solche Variation nicht
entwickeln konnte, hat sich durch die radioaktiven
Forschungen eine Differenzierung sogar der
Stoffe als notwendig erwiesen, die bisher als die
einheitlichsten und einfachsten galten: der Ele-
mente. Das gewöhnliche Element Chlor wurde
in zwei Chlorarten gespalten, nicht auf chemischen,
sondern auf kompliziertem , elektrodynamischen
Wege. Die neuen „wahren" beiden Elemente
Chlor sind chemisch vollkommen gleichartig, nur
in ihrem Atomgewicht unterscheiden sie sich,
und nur dieses ermöglichte ihre Trennung. Da-
mit hat das Atomgewicht, das bisher als das
schärfste Charakteristikum eines Elementes an-
gesehen wurde und als Grundlage der Klassifi-
kation im periodischen System galt, seine Be-
deutung verloren. Es gibt Elemente, die ein ver-
schiedenes Atomgewicht besitzen und trotzdem
sich chemisch und weitgehend physikalisch, z. B.
bis zum gleichen Licht- und Röntgenemissions-
spektrum nicht unterscheiden: die Isotopen. Ein
solches Paar bilden auch Blei und das Endprodukt
132
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. P. XXt. Nr. 10
des Radiumzerfalls RaF. Will man solche Sub-
stanzen doch noch als verschiedene Stoffe erklären,
dann hat man kein chemisches Kriterium mehr,
sie unterscheiden sich nur durch elektrische Ein-
heiten, und damit sind diese als die einstweilen
feinsten Bauelemente als Registrierungsmerkmale
an Stelle des Atomgewichtes getreten.
Die Erforschung der Materie ist eine immer
tiefer gehende Spaltung des Stofies. Je gründ-
licher diese Zerlegung, desto mehr Eigenschaften
werden uns bekannt; und nur die Eigenschaften
überhaupt sind es, die wir vom Wesen des Stoffes
begreifen. Für Dalton waren Wärme und Licht
noch Stoffe, die mit der wägbaren Materie so
verbunden waren, wie heute in unseren Ionen
Atome und Elektrizität. Und wie jene Hüllen
ohne materiellen Inhalt befunden wurden, so
spaltet die gründlichste Analyse auch weiterhin
die Substanz in Kräfte und . . . einen immer
kleiner werdenden Rest. In den Schalen der
Elektronen ist der Sitz der physikalischen und
chemischen Eigenschaften, aus ihnen werden Lös-
lichkeiten und Affinitäten abgeleitet, die einst die
Eigenschaften der Materie waren. Diese selbst
nimmt heute tief im Inneren des beinahe leeren
Atoms den kleinsten und noch unzugänglichen
Platz ein.
Die Kräfte sind es, die wir in den Eigen-
schaften beobachten, der Stoff wird immer mehr
zum untergeordneten Begriff und tritt, so sinnlich
anschaulich er erst auch erschien, als Subjekt
hinter seinen Prädikaten zurück.
Ein Vorschlag zur genauen Festlegung des Fundorts.
[Nachdruck verboten.] Von Leouhai'd Liniliiiger, Hamburg.
(Mitteilung aus dem Institut für angewandte Botanik zu Hamburg; Direktor;
Prof. Dr. A. Voigt.)
Ein Mangel in den Faunen und Floren ist die
Ungenauigkeit der Fundortsangabe. Mit der
bloßen Angabe einer Ortschaft, in deren Nähe
eine Feststellung gemacht worden ist, kann man
wenig anfangen; das wird jeder wissen, der ein-
mal den Versuch gemacht hat, daraufhin z. B.
eine Pflanze aufzufinden. Will man aber die
Fundstelle näher bezeichnen , so ist eine lang-
atmige Beschreibung nötig, welche die in Betracht
kommende Veröffentlichung unübersichtlich macht
und außerdem große Druckkosten verursacht.
Eine Vereinfachung, die zugleich eine Verbesse-
rung bedeutet, ist deshalb gerade unter den
heutigen Verhältnissen wünschenswert.
IMun sind zwar viele Leute Gegner einer ge-
nauen Fundortsbezeichnung, weil sie fürchten, daß
dann die Ausrottung seltener Tiere und Pflanzen
noch schneller vor sich gehen werde als sie es
heute annehmen. Ich stehe einer solchen „Aus-
rottung" im allgemeinen sehr skeptisch gegen-
über. Daß streng lokal eine Ausrottung möglich
und auch schon erfolgt ist, das abzuleugnen, wäre
angesichts der tatsächlichen Feststellungen töricht.
Soweit es sich aber nicht um Plätze handelt, die
durch städtische Bebauimg für immer dem Pflan-
zenwuchs entzogen sind, kann es sich bei kleinen
Tierformen z. B. aber ebensogut nur um eine
zeitliche Verschiebung im Vorkommen handeln.
Von den großen Tierformen ist hierbei durchaus
abzusehen. Solche zeitlichen Verschiebungen
können auch ohne jedes menschliche Zutun in
der Natur vorkommen, ja die Regel sein, ohne
daß man das bisher hat nachweisen können, weil
man eben die Fundstellen zu ungenau bezeichnet
hatte und aus diesem Grund ein etwaiges Ver-
schwinden und anderweitiges Auftauchen nicht
bemerkte, auch nicht bemerken konnte.
Als ich vor einiger Zeit meinen Aufsatz über
einen neuen Weg der Schädlingsforschung ver-
öffentlichte, war ich mir hinsichtlich der darin
aufgestellten Forderungen der Unzulänglichkeit
der Fundortsbezeichnungen klar; ich konnte aber
noch nichts Besseres vorschlagen. Unterdessen
habe ich eine neue, kurze Bezeichnungsart ausge-
dacht, die ich hiermit der Öffentlichkeit über-,
geben will.
Wie bisher verwende ich als Anhaltspunkte,
die Namen der Ortschaften, die Himmelsrichtungen,
Flüsse, Seen, Kanäle, Wege und Eisenbahnen.
Auch die Entfernungsangaben und die Begriffe
„links" und „rechts" sind allgemein verständlich.
Es handelt sich nur noch darum, alles in eine
kurze, jede Mißdeutung ausschließende Formel
zu bringen. Dazu verwende ich einige im Druck
gebräuchliche Zeichen, die also in jeder Druckerei
vorhanden sind, den senkrechten und wagrechten
Strich, den doppelten wagrechten Strich, den
Doppelpunkt und den einfachen und doppelten
Pfeil. Indem ich diese Zeichen mit dem oder den
Ortsnamen in Verbindung bringe, erhalte ich einen
kurzen Ausdruck. Der Sinn dieser Zeichen ist
folgender:
I bedeutet Luftlinie;
— „ Fahrweg, Straße;
: „ P'ußweg (gewissermaßen die
Schritte andeutend);
^= „ Eisenbahn;
<- bzw. -> „ einen Flußlauf, wenn nötig in
Verbindung mit dem Namen
des Flusses, Baches usw.; gibt
zugleich auch die Richtung an,
indem •e- flußaufwärts, -=» fluß-
abwärts bedeutet;
^ -> „ ein Gewässer ohne Strömung,
also je nach der Örtlichkeit
einen Kanal oder See ; Namen
nur zu gebrauchen, wenn nötig.
Die Abkürzungen der Himmelsrichtungen N,
N. R XXL Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
133
S, O, W und ihre Verbindungen werden als be-
kannt vorausgesetzt. Der kleine Buchstabe 1 be-
deutet „links", ein r „rechts". Böschungen können
bei Straßen, Eisenbahnen und Kanälen sowohl in
Einschnitten als an Dämmen auftreten, sie werden
mit den kleinen Buchstaben a (aufwärts) und n
(niederwärts), von der Straße usw. aus gerechnet,
bezeichnet, a kann auch bei Seen und Flüssen
gebraucht werden.
Die Entfernungen gebe ich auf zweifache Art
wieder. Einmal größere in bezug auf die Ort-
schaften in km, wobei die Buchstaben „km" weg-
gelassen, Bruchteile als solche geschrieben werden.
0,263 bedeutet also 263 m. Kleinere Entfernun-
gen in der Art , wie sie aus den Beispielen her-
vorgehen wird, werden in m angegeben, z. B.
10 m usw.
Zum besseren Verständnis lasse ich nun Bei-
spiele mit Erklärung folgen :
Ortschaft A | NO 2,3 Heide will heißen:
Im Nordosten von Ortschaft A auf einer in einer
Entfernung von 2,3 km gelegenen Heide.
Ortschaft A : W 0,24 1 n Wiese 12 m be-
sagt : auf einer Wiese links am Abhang an einem
nach Westen führenden Fußweg in 240 m Ent-
fernung von Ortschaft A, und zwar 12 m die
Wiese einwärts.
Ortschaft A — Ortschaft B 3,2 r Kiefern-
wald r 200 m, an der Straße von A nach B bei
Kilometer 3,2 rechts im Kiefernwald und zwar
200 m rechts am Waldrand.
OrtschaftA^OrtschaftB 5,9 IlLaub-
wald r 25 m, bei Kilometer 5,9 an der Bahn
von A nach B links dem Fußweg folgend 25 m
im Laubwald zur rechten Seite.
Ortschaft A ^- 0,230 r a, 230 m fluß-
abwärts von A rechts am Abhang.
Ortschaft A «^ 0,12 r. 1., 120 m flußauf-
wärts von A rechts und links.
Ortschaft A < — =» B r. 1., am Kanal (See;
je nachdem) zwischen A und B, rechts und links.
Die hier vorgeschlagene Formel läßt sich mit
Vorteil auch bei der Festlegung von mineralogi-
schen und heimatkundlichen Beobachtungen ver-
wenden. Bei ihrer Anwendung ist darauf zu
achten, die kürzeste unter mehreren möglichen
Formeln zu wählen. Gehen z. B. von einer Ort-
schaft nur wenige Straßen aus, so genügt ein
Ortsnamen und die Himmelsrichtung. Kommt
nur ein Fluß in Betracht, so erübrigt sich sein
Namen, ijsw.
Einzelberichte.
Kalktulfstudieu aus dem zentralen Norwegen
(mit 3 Abb.).
Die Stratigraphie der Quelltuffe in dem
trockenen Gudbrandsdal im zentralen Norwegen
bildete für Axel Blytt eine Hauptstütze für
seine bekannte, zuerst 1876 ausgesprochene Theorie
von einem mehrmaligen Wechsel feuchter und
trockener Klimate in postglazialer Zeit. Diese
Theorie, zuerst auf einem vorwiegend pflanzen-
geographischen und nur zum kleineren Teil palä-
ontologischen Beobachtungsmaterial aufgebaut, hat
mit der fortschreitenden Erforschung der Moore
und Kalktufie besonders in Skandinavien zu äußerst
lebhaften Kontroversen geführt. Während die
einen Forscher wie Sernander (vgl. vor allem
die Darstellung in „Postglaziale Klimaverände-
rungen", Stockholm 1910) für Blytt eingetreten
sind und seine Theorie weiter ausgebaut haben,
haben sie andere besonders wegen ihrer „Kompli-
ziertheit" in z. T. schroffer Form abgelehnt, nicht
zuletzt auch in Norwegen. Sie ist so zu einem
wahren „Sturmzentrum nordischer Quartärgeologie"
geworden, und es ist daher lebhaft zu begrüßen,
daß die wichtigen Ablagerungen im Gudbrandsdal
in Rolf Nordhagen einen überaus gewissen-
haften und gründlichen Bearbeiter gefunden haben
(Kalktufstudier i Gudbrandsdalen. Videnskaps-
selskapets Skrifter. L Mat.naturv. Klasse 1921,
No. 9, Kristiania). Die in den Jahren 1914 bis
1920 zunächst auf Sernanders Anregung unter-
nommenen Untersuchungen haben sowohl für den
Bearbeiter, wie u. a. auch für den Referenten, die
beide der Blyttschen Auffassung sehr skeptisch
gegenüberstanden, zu ganz überraschenden und
für manche paläoklimatologischen Fragen ent-
scheidenden Ergebnissen geführt. Da diese auch
für Mitteleuropa von weittragender Bedeutung
sind, wie Verf. und Referent demnächst zeigen
werden, wird ein ausführliches Referat über die
norwegische Originalarbeit wohl manchem er-
wünscht sein. Hoffentlich wird diese auch eine
gründliche Neuuntersuchung der mitteleuropäischen
Ablagerungen (z. B. der von N e u w e i 1 e r in der
Schweiz und von Schreiber und Zailer in
den Ostalpen mit so abweichenden Ergebnissen
untersuchten Torfmoore) nach modernen Methoden
(u.a. der pollenanalytischen Methode von L. von
Post und für die Tuffe der Kollodiummethode
von Nathorst und Halle) zur Folge haben.
I. Spezielle Beschreibung der ein-
zelnen Tufflager im Gudbrandsdal (vgl.
Fig- i)- .
I. Leine in Kvam. Wo die Veikia in den
Hauptfluß Laagen mündet, liegen um die alten
Höfe von Leine gewaltige Moränenmassen aus
kalkhaltigem Geschiebelehm. In diesen haben
wiederholt — in besonders katastrophaler Form
1876 — große Erdrutsche stattgefunden, so daß
der Moränenlehm vielfach in steilen, besonders
an den trockenen Südhängen stellenweise völlig
nackten Böschungen ansteht. Die ganze Masse
134
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 10
wird durch viele, großenteils sicher ganz junge
Erosionsrinnen durchfurcht. Die heute unbe-
deutende Quelle, die die schon von Blytt und
Öyen untersuchten Tuffmassen gebildet hat, ver-
dankt ihren Kalkgehalt namentlich auch dem
darüber anstehenden Kalksandstein. Die Haupt-
fundstelle liegt etwa 520 m ü. M., inmitten von
JemHand
-300
■ kOO \ ]solntjel"en
Abb. I. Übersichtskarte (nach R. Nordhagen).
der Kultur freilich stark beeinflußter Gehölze aus
Grauerlen {Alii/ts iiicana und Birken [Befida
piibcscrns = odorata und B. pendula = lurnicosa).
Letztere und Lomccra Xylustcmn sind heute die
einzigen etwas höhere Wärme fordernden Holz-
arten der Örtlichkeit. Von thermophilen Kräutern
seien vor allem Brachypodinui piimatum, das hier
an seiner absoluten Nordgrenze noch Bestände
bildet, Origamon vulgare, Dracocephaluju Ruy-
siliia?ia, Trifolium medium und ]'iola collina ge-
nannt. In den recht trockenen Wiesen, die in
ihrer Zusammensetzung z. T. an mitteleuropäische
Bromus t77(/«.r- Wiesen erinnern, dominiert Festuca
oviiia, auf den offenen Rutschhalden Calamagrostis
Epigeios. Dazu kommen aber auch eine ganze
Reihe Gebirgspflanzen wie ^Isfragalus alpiiius,
Oxytropis lappoi/ica, Draba iiicana, Saxifraga
ai::oides, Primula scotica u. a., an Schieferfelsen
höher oben (in ca. 700 m) u. a. auch A)itennaria
alpiiia, Ceraslium alpiiium, Draba hirta, Gen/iatia
nivalis und tenella, Phyllodoce caerulea, Juncus
trißdus und Poa cacsia, also Arten, die sonst
vorzugsweise in der alpinen Stufe auftreten, oft
in Gesellschaft von Dryas, die heute der Gegend
vollständig zu fehlen scheint. In 850 m Höhe
kommen dazu noch Betula nana, Salix glauca,
lappoiiica, herbacea, reticulafa, Juncus biglumis u. a.
Der Leinetuff bedeckt eine 15 — 20*' geneigte,
mindestens 20 m breite und über 30 m lange
Halde. Es glückte dem Verfasser, die genaue
Lage der beiden 1891 von Blytt untersuchten
Profile festzustellen. Neben Blytts Hauptprofil,
links (südlich) vom Quellbach, legte er eine Serie
von 8 Profilen, längs dem Bach einen 20 m langen
und I */., — 2 m tiefen Profilgraben und rechts da-
von 8 mit ersteren parallele Profile an, ferner
eine Querserie von 3 Profilen und 2 Profile weiter
unten (ca. 25 m vom obersten Profil entfernt)
unterhalb dem das Tufflager überquerenden Fahr-
weg. Das I. von Blytt untersuchte Profil weist
von unten nach oben folgende Schichten auf:
I. Geschiebelehm.
II. Eisenschüssiger Lehm ohne Fossilien bis 3 cm.
III. und IV. Moostuff und darüber gelbgrauer,
schiefriger Birkentuff ohne Föhrenreste 45 cm.
V. Gelbgrauer, z. T. erdiger Dryastuff (mit Föhre)
bis zu 3 cm.
VI. Grauweißer Föhrentuff 58—68 cm.
VII. iVIuUerde 10—15 cm.
Es würde zu weit führen, hier die Schilderung
aller 23 Profile wiederzugeben, trotzdem manche
durch die zunächst schwer verständlichen Ab»
weichungen viel Interessantes bieten. Die auf
Grund aller Profile konstruierten Profile der Fig. 2
mögen hier genügen, um das Gesamtbild darzu-
stellen, das die mühevollen Einzeluntersuchungen
gezeitigt haben. Es lassen sich folgende Schicht-
glieder unterscheiden :
I. Blauer, unverwitterter Moränenlehm,
wohl aus der letzten Periode mit Lokalver-
gletscherung stammend. Zu oberst 3 heute all-
gemein verbreitete Schnecken { 1 Y/rina pellucida,
Conulus fulvus, Limnaca tnotcalula).
II. In allen Profilen etwa 3 — 4 cm lebhaft
roter, fossilleerer Ton, der sicher ein Ver-
witterungsprodukt des Moränenlehms darstellt. Es
scheint sich dabei um eine wirklich aride Boden-
bildung zu handeln, was insofern nicht verwundern
N. F. XXI. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
135
I<ann, als im obersten Gudbrandsdal (Dovre und
Lesje) und in dem in dasselbe oberhalb Leine
einmündenden Ottadal (Vaage und Skjaak) noch
heute eine solche vorkommt (vgl. Fig. i). Es
handelt sich um die von J. Five (Om saltbitter-
jorden i Nordre Gudbrandsdalen. Kristiania 191 1)
beschriebene Salzbittererde. Sie ist in
Skandinavien auf die 4 genannten Talstrecken, die
sämtlich unter 300 (Skjaak nur 254) mm jährliche
Niederschläge aufweisen, beschränkt und besteht
hauptsächlich aus Gips mit reichlich Magnesium-
sulfat und Spuren anderer Alkalisulfate und Chloride.
Bei trockener Witterung entstehen regelrechte Salz-
ausblühungen.
So erscheint es verständlich, daß in einem
vielleicht noch etwas kontinentaleren Klima eine
geradezu an Terra rossa erinnernde Ferrettobildung
eintreten konnte, wie wir sie ähnlich in größerem
Maßstab erst in den Südalpen wiederfinden.
III. Der Mo ostu ff komplex, dessen unterer
Teil in allen Profilen wiederkehrt. Ein poröser,
unreiner, bald schlacken- und bald korallenartiger,
dunkler, wohl aus Hypjhnccit gebildeter Tuff von
etwa 3 — 25 cm Mächtigkeit. Der unterste Teil
ist wie der liegende Ton stark durch pj'sen ge-
rötet und enthält schlecht erhaltene J^'(?//.i-Reste.
Im ganzen Moostuffe treten Röhrchen von Ütaracccii
auf, ferner in großer Menge im unteren Teil
Equisctuiii varifgafiiiii, außerdem vereinzelt Mar-
chautia polyniorp/ia und Coiiulus fidvits. Darüber
folgt öfier eine hauptsächlich von Craiouciiron
fakatiiiii gebildete Lage, die also ebenfalls
sedentär, d. h. durch fortwachsende Pflanzen
erzeugt ist, wogegen zu oberst stellenweise eine
mehr sedimentäre Lage mit eingeschwemmten
Blaltresten von Bcfiila puhescciis, Pupultis tronitla
und Saliccs folgt. Die zuerst von Sernander
1916 eingeführte Unterscheidung von „sedentären"
und „sedimentären" Lagen (Ref. hat hierfür „bion-
togen" und „nekrogen" vorgeschlagen, vgl. Naturw.
Wochenschr. 1921 S. 569) ist bei allen Kalktuff-
untersuchungen sehr wichtig. — In einem großen
Teil der Profile (dagegen z. B. nicht in denen von
Blytt und in den untersten) wird der Moostufif-
komplex durch eine dünne, sedentäre Lage abge-
schlossen, die neben Resten der genannten Sträucher,
von Eqnisctiiiii varicgaliiiii und einem Lebermoos
(Pcllia sp.^ reichlich Dryas octopctahi und Salix
arbusciila enthält, also einen unteren Dryas-
horizont darstellt. Blylts Angabe, daß alpine
und subalpine Arten im untersten Teil des Tuffes
fehlen, ist also irrig, und weiter lehrt dieser
Horizont, daß vor der Absetzung der folgenden,
ausgesprochen sedimentären Schicht eine Unter-
brechung der Sedimentation, also wohl eine
vorübergehende Versiegung der Quelle stattge-
funden hat.
IV. Der Blättertuff. Ein meist regelmäßig
geschichteter Tuff von 8 — 25 (zu unterst bis 30) cm
Mächtigkeit mit übereinander liegenden Blättern
von Betula pubescens, Populus tremula, Salix
caprea, glaiica, hastata u. a. {nigricans und pky-
lici/olia?) in großer Menge. Blytt fand auch
Ribes rubrum, dagegen ist seine Bestimmung von
Alniis wohl irrtümlich. Von der Föhre ist nur
Pollen nachgewiesen, so daß der Baum vielleicht
erst in größerer Entfernung gewachsen ist. In
der rechten und in der Querserie zeigt sich ein
Auskeilen des Blättertuffs, ebenso wie auch der
folgenden Lagen ; an ihre Stelle tritt Verwitterungs-
schutt, in dem aber Reste des Blättertuffs dessen
früheres Vorhandensein auch hier beweisen.
Weder gegen den liegenden Moostuff noch gegen
den hangenden Dryastuff bestehen scharfe Grenzen.
ms
Humus mit Erlen,
tuff
Erlentuff (oben ab-
gewittert)
Föhrentulf
Verwitterungsreste
von Föhren-, Dryas-
und Blättertuff
t-'berer Dryastuff
Blättertuffbank
Moostuff mit unterem
Dryashorizont
Roter Lehm unterm
Moostuff
Blauer Geschiebe-
lehm
Höhenmaßstab
J_
Längenmafistab
Abb. 2. Längsprofil (A) und Querprofil (B) durch das
Tufflager von Leine (nach R. Nordhagen).
V. Der Dryastuff. Eine bald nur ange-
deutete oder durch Verwitterung entfernte, bald
(besonders in den oberen Profilen) bis 15 cm
mächtige, oft aus mehreren verschiedenen Lagen
zusammengesetzte, meist graugrüne, seltener röt-
liche Schicht voll von prächtig erhaltenen Resten,
auch zahlreichen Blüten und Früchten von Dryas
ocfopitala, dazu mit Salix rcticnlata und herbacea,
136
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 10
Pyrola cf. minor, spärlichen Resten von Birken und
Espen, Carex sp., Equisdum varirgatuvi, Hypna-
cecji und Cyäiiopliyccoi ; in den oberen Lagen
reichlich zarte, wohl stark verwitterte Föhren-
nadeln. Als zweifelhaft führt Blytt auch Co/o-
ncastcr vulgaris, Bctula nana und infcnncdia und
ArcfosfapJiylos uva ursi an. Von Landschnecken
treten Cochlicopa liibrica , Conulus fiihiis, Hya-
linia radiafula und Pyravüdula riidfraia auf.
Die Silberwurz muß damals den ganzen Hügel
und jedenfalls auch die darüber gelegenen Schiefer-
felsen bekleidet haben , wo heute noch einige
Gebirgspflanzen vorkommen. Der Baumwuchs
muß damals sehr gering gewesen sein, da die
ausgeprägt xerophile Dryas Beschattung sehr
schlecht erträgt. Dasselbe gilt von Salix rdicii-
lafa, heute einem der treuesten Begleiter der nor-
dischen Dryas ■ Heiden (ebenso wie Carex rit-
pcs/ris^ Tlialictriim alpinuin u. a.). Die Quelle war
offenbar die meiste Zeit versiegt und überzog nur
von Zeit zu Zeit die Heidevegetation mit einer
Kalkkruste. In den obersten Lagen werden
Föhrennadeln immer häufiger, ihre Kleinheit und
die kleienartige Beschaffenheit der Ablagerung
deuten auf starke Zersetzung. An einzelnen Orten
ist nicht nur der Dryastuff, sondern auch der
darunterliegende Blättertuff gänzlich abgewittert.
Der überhandnehmende Föhrenwald hat offenbar
die Dryas vollkommen vernichtet.
VI. Der Föhrentuff. Ein etwa 20—70 cm
mächtiger Tuffkomplex voll von Resten (großen
Nadeln, Zapfen, Rindenstücken usw.) von Piniis
silvcstris, dazu mit Preißelbeere {Vacciuiuin viiis
idaca) und spärlicher auch Moorbeere (f. ulii^i-
nosiivi). Im oberen Teil treten da und dort Reste
von Kräutern auf {Cirsii/m hctcrophyUitm mit
wohlerhaltenen Körben und Blättern, ein Blatt
von Fragaria vesca, Pyrola minor und Tofiddia
palustris), dazu einzelne Laubbäume [Bdula p/i-
bcsccns und verrucosa , Popiilus trcmula, Salix
caprea, Sorbits aiiciiparid), sowie auf den Bäumen
gewachsene Flechten [Partiidia pliysodes , Pelti-
gcra canind) und ein Moos (Älniiim pitnctatmii
nach Blytt), von Schnecken Conuliis fulviis,
Ilyalinia radiafula und / ^ilrina pdlucida. Die
reichliche Tuffbildung und der üppige Pflanzen-
wuchs sprechen für reichliche Bewässerung, das
Auftreten der Warzenbirke und der Erdbeere für
eine entschiedene Temperaturerhöhung gegenüber
den vorhergehenden Zeiten. Erstere steigt heute
im mittleren Norwegen selten über 400 — 500 und
letztere selten über lOOO m. Der Föhrentuff ist
stets von dem Hangenden und oft auch von
dem Liegenden durch eine deutliche Diskordanz
mit Verwitterungsprodukten getrennt. Da und
dort tritt Holzkohle auf, wohl Anzeichen für durch
Blitz verursachte Waldbrände. Da die obere
Diskordanz sicher auf langdauernde Verwitterung
zurückzuführen ist, dürfte die ursprüngliche Mäch-
tigkeit des Föhrentuiifs an den meisten Stellen
größer gewesen sein.
VI. Der Erlentuff. Schon kleine Bruchstücke
können an dem reichlichen Vorkommen von
Blättern und Kätzchen der noch heute am Fund-
ort wachsenden Aliius incana erkannt werden.
Nur stellenweise ist der Erlentufif in größerer
Mächtigkeit (in der rechten Serie bis zu 95 cm)
erhalten , in den meisten anderen Profilen aber
bis auf geringe Bruchstücke in der 10 — 30 cm
mächtigen Humusdecke abgewittert und daher
auch von Blytt übersehen worden. Er enthält
weiter Bdula pubesccns, Populus trcmula, Salix
caprea, Piiius silvcstris (spärliche NadeJn), Equi-
sdum hicmalc, Reste von Gramineen, Cyperaceeti,
Moosen, Cyanopliyccen und Schnecken [Coc/ilicopa
lubrica, Hyalinia radiatula, Pyramidula ruderata,
J "crtigo alpestris, Hydrobia Stcini). Der Tuff ist
jedenfalls, wie der Mangel einer deutlichen Schich-
tung zeigt, recht rasch gebildet worden, stimmt
also darin mit manchen jungen Tuffen Schwedens
überein. Die Fichte hat sich auch nicht durch
Pollen nachweisen lassen. Ob sie zur Zeit des
Absatzes noch nicht so weit vorgedrungen war,
kann aus dem negativen Befund nicht mit Sicher-
heit geschlossen werden. Jedenfalls bildet der
Erlentuff den Übergang zur Gegenwart, in welcher
der Tuffabsatz freilich wieder geringer ist. Es
ist wiederum eine Verwitterungsphase eingetreten,
die aber an Intensität derjenigen zwischen dem
Föhrentuff und dem Erlentuff nachsteht.
Insgesamt haben wir also zwei stärkere Ver-
witterungszeiten (oberer Dryastuff und nach dem
Föhrentuff) und zwei schwächere (unterer Dryastuff
und nach dem Erlentufi"). Daß es sich dabei wirklich
nicht nur um lokale Veränderungen , etwa Ver-
schiebungen des Quellmundes, handelt, lehrt der
Vergleich mit den anderen Tuffvorkommnissen.
2. Der Kalktuff von Gillebu und der
Schwemmkegel von Tingvold in ( )ier (etwa
60 km südöstlich von Leine). Von dem ursprüng-
lich zusammenhängenden Tufflager, das in etwa
240 m ü. M. liegt, haben sich 2 Platten zu beiden
Seiten eines Baches erhalten, der etwa 50 m tiefer
bei Tingvold einen großen Schwemmkegel ange-
häuft hat. Beide Vorkommnisse sind erst 1917
von Oyen und Holme entdeckt worden. In
der heutigen Vegetation herrschen Fichten und
Föhren, in der Bodendecke Preißelbeere und Ast-
moose. Das Tälchen ist trotz der heute geringen
Wasserführung recht feucht. Das Tufflager dürfte
ursprünglich etwa 90 m lang und 30 m breit ge-
wesen sein. Aus einem Profil an der Ostseite
und dreien an der Westseite ergibt sich folgende
Schichtfolge von unten nach oben (Abb. 3):
I. Grober, stark oxydierter Moränenschutt mit
großen Blöcken.
II. Der Blättertuffkomplex von 20 bis •
50 cm Mächtigkeit. Die unterste Lage ist durch
Eisenverbindungen rostig bis schokpladenbraun
oder selbst etwas bläulich gefärbt und stellt einen
koksschlackenähnlichen, stellenweise bis 30 cm
mächtigen „Eisentuff" dar. Er ist deutlich ge-
schichtet , aber entsprechend der Unterlage sehr
uneben. Schon die untere Fläche zeigt massen-
hafte Abdrücke von Blättern des Sanddorns
{dlippopkacs rhavDwides), dazu von Birken {Bdula
N. F. XXI. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'37
fjibcscciis) und Weiden (wohl hauptsächlich Salix
pliylüifolia und caf^rca, doch meist kaum sicher
bestimmbar). Einige fasrige Strukturen scheinen
von Moosen oder Blaualgen herzurühren, doch
fehlt eine durchgängige sedentäre Schicht. Die
oberen Schichten sind mehr graugelb und ent-
halten Laubblätter in allen möglichen Lagen, die
also nicht wie bei Leine schön geschichtet, son-
dern sehr rasch eingebettet worden sind. Da
und dort ist Moostuff eingelagert. Die oberste,
oft sehr dünne Schicht ist deutlicher geschichtet,
neben den genannten Arten enthält sie auch
Poptdus frevnila ; die früheren Bestimmungen von
Preißelbeere und Grauerle scheinen nicht haltbar
zu sein. Als eine besondere Ausbildungsform ist
ein Tuffkonglomerat bemerkenswert mit durch
regelmäßig geschichteten Sinter verkitteten Ge-
rollen, die wohl aus der Rinne stärkster Strömung
stammen , ferner eine mehr breccienartige Form
des Eisentuffes.
kegel, in dem über 80 cm Kies eine doppelte,
20 — 25 cm mächtige Lage voll Kalktuffstücken
liegt. Zu oberst folgt Gehängeschutt, in dem
stellenweise ein ortsteinartiger Horizont bemerkbar
ist. O y e n und Holme fanden darin auch einen
Kohlenmeiler, der möglicherweise aus der Eisen-
zeit stammt. Aus der Beschaffenheit des Schwemm-
kegels ergibt sich, daß auf die Bildung des Föhren-
tuffs eine Erosions- und Akkumulationsperiode mit
reichlicher Wasserführung gefolgt ist. Der Bach
war also ebenso wie die Leinequelle intermittie-
rend: Blätter- und Föhrentuff sind durch eine
Trockenheit andeutende Verwitterungsschicht ge-
trennt, und auch hier folgte vor der heutigen
Verwitterungsphase eine feuchtere Periode, aus
der freilich kein neuer Tuffhorizont, sondern ein
Schwemmkegel stammt. Vielleicht ist das gänz-
liche Aufhören der Tuffbildung dadurch zu er-
klären, daß sich der Bach bis unter die den Kalk
liefernden Schichten eingeschnitten hat. Sicher
ist der Kegel nicht einer
i ün geren Hoch wasserkata-
strophe zuzuschreiben,
denn der uralte „Königs-
weg" führt über ihn hin-
weg, und auch der ge-
Abb. 3. Halbschematisches, doppelt überhöhtes Profil durch den Gillebu-Tuff.
(Nach R. Nordhagen).
III. Der Erdstreifen. Eine S bis 20 cm
mächtige Verwitterungsschicht, die nur an der
Oslseite des Baches gut erhalten, dagegen in den
westlichen Profilen gleich dem hangenden Föhren-
tuff durch spätere Verwitterung größtenteils ab-
getragen ist. Dryas fehlt hier im Gegensatz zu
Leine ganz, auch Öyens Angabe vox\ Salix nii-
culafa scheint sehr zweifelhaft.
IV. Der Föhrentuff. An der Ostseite noch
etwa 30 cm mächtig, an der Westseite bis auf
spärliche Reste abgewittert. Die unterste Schicht
ist sehr brüchig und fossilfrei, auch der eigent-
liche Föhrentuff ist sehr locker, stellenweise zu
einer konglomeratartigen Masse verbacken. Neben
der Waldföhre kommen Birken, Espe, Ulme (durch
Pollen nachgewiesen), Weiden und Preißelbeere
vor; der Sanddorn fehlt dagegen vollständig, ist
also wohl ebenso wie Dryas bei Leine der Be-
schattung durch den Föhrenwald erlegen. Ur-
sprünglich scheint der Föhrentuff mindestens so
ausgebreitet und mächtig wie der Blätlertuff ge-
wesen zu sein, die obersten Schichten sind aber
überall abgewittert, und eine jüngere Tuffbildung
scheint hier möglicherweise nie bestanden zu haben.
Der Schwemmkegel von Tingvold, den der
das Tufflager durchsägende Bach gebildet hat,
erreicht eine Mächtigkeit von 3 m. Über Grund-
moräne folgt fluvioglazialer Kies mit Überguß-
schichtung, darüber der eigentliche Schwemm-
nannte Kohlenmeiler und
das Fehlen der Fichte
in der ganzen Ablagerung
sprechen für vorge-
schichtliches Alter.
3. Der Kalktuff bei
Nedre Dal in Faaberg.
Dieser liegt unterhalb dem
vorigen in 225 m ü. M. und ist schon von Blytt 1892
eingehend beschrieben worden. Im Gegensatz zu den
vorigen Vorkommnissen handelt es sich hier nicht
um ein geschichtetes Lager, sondern um einzelne
Tuffblöcke im Boden unterhalb einer steilen Halde.
Die meisten sind heute entfernt. Auch hier sind
deutlich ein Blättertuff mit Birke, Espe, Weiden
und ohne makroskopische Föhrenreste und ein
völlig mit den vorbesprochenen übereinstimmen-
der Föhrentuff zu unterscheiden. Übergangs-
bildungen und Dryastuff fehlen. Blytt schrieb
beiderlei, heute nebeneinander liegende Tuffarten
verschiedenen Zeiten zu, glaubte aber, daß sie
doch an Ort und Stelle entstanden seien, wogegen
die Neuuntersuchung ergab, daß die Blöcke an
sekundärer Lagerstätte liegen. Sicher handelt es
sich um Reste eines größeren, abgerutschten Tuff-
lagers. Im Blättertuff fand Blytt u. a. auch
Prunus Padiis, Salix )iigricaiis und die Schnek-
ken Vitriiia pellucida, Pupilla iiiuscor/nn und
Arianta arbuslonuii, im Föhrentuff u. a. Liiitiaca
borcalis. Auf jeden Fall entsprechen die beiden
Tuffe denen von Gillebu und Leine.
4. Kalktuffe bei O n s e t in Biri am Mjösensee.
Blytt hat 1S92 ein dortiges Tuffvorkommnis
untersucht, seine Befunde aber bis auf eine kurze
Notiz in seinem Nachlaß, worin er Föhren- und
Birkentuff in getrennten Blöcken nennt, nicht
publiziert. In seiner Sammlung von Biri liegt
138
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 10
nach seiner eigenen Aufzeichnung nur ein Stück
Föhrentuff von Undset (Onset) und mehrere von
Eriksrud, sowie Blättertuff von Undset. Auf Grund
dieses Materials hat Öyen eine ganze Schicht-
folge zu rekonstruieren versucht, dabei aber un-
statthafterweise auch die wohl viel jüngeren Stücke
von Eriksrud mitverwandt, und außerdem die
ganze Bildung für autochthon gehalten , was
ebensowenig wie bei Nedre Dal zutrifft. Es han-
delt sich sicher um lauter lose, oberflächlich an-
gewitterte Brocken. Die Blattreste, die Öyen
als Dryas deutete, stellten sich als Fragment
eines Erlenblattes heraus. Die Fundstelle selber
(in etwa 250 m ü. M.) bietet keine Aufschlüsse
mehr, aber darüber lagen im Boden einzelne Tuff-
brocken, die, wie Abdrücke von Fichtennadeln
zeigen, wohl ganz jungen Alters sind. Irgend-
welche sichere Schichtfolge ist nicht nachweisbar.
Noch höher oben finden sich an den Felswänden
halbrezente Tuffausscheidungen mit zahlreichen
lebenden Moosen (vor allem Gyiiniosfoiiimii ni-
pi'sfn) und Blaualgen (Scyfoiifiiia )iiirabilc, Pctalo-
iicma ala/iiin, C/iroocow^/s-Arttn u. a.). Als re-
zente Tuffbildner waren aus Skandinavien bisher
nur CrnfoncK ?-a - \ricn, Distichium capillaccion,
Rivnlaria liacinatiics und wenig andere Blaualgen
bekannt. Von diesen jungen Ausscheidungen
sind jedenfalls die fraglichen Bruchstücke minde-
stens zur Hauptsache abgestürzt. —
Auch einige kleinere Tuffvorkommnisse im
oberen Gudbrandsdal (Kringen, Sorem, Pillarviken,
Mysuholet) erwiesen sich als zu unbedeutend oder
unzugänglich, um stratigraphische Untersuchungen
zu ermöglichen.
IL Allgemeiner Teil.
I. Der Gletscherrückzug im Gud-
brandsdal. In diesem Abschnitt gibt der Verf.
einen — bisher in der Quartärliteratur noch fehlen-
den — Überblick über den Rückzug der Vereisung
in Norwegen, hauptsächlich auf Grund der zahl-
reichen Arbeiten von Konservator Öyen. Dieser
unterscheidet für das Gebiet des Kristianiafjords
folgende Rückzugsstadien, die auffallend an solche
der Alpengletscher (Penck und Brückner,
Hug) erinnern (vgl. auch das Kärtchen Abb. i):
„ „ ,. I Smaalenene-Jarlsberg-Stufe
Ra-Stadium \ Moss Horten-Stufe
j Aas-Stufe
1 SkiStufe
(Nydals Stufe
IMaridals-Stufe
„ ., „, ,. fSkedsmo-Stufe
Romer.k-Stadium IßergerStufe.
Die unbekannte Zeitdauer der diesen Rück-
zugsstadien zugrunde liegenden Gletscherschwan-
kungen bildet eine ganz bedeutende Fehlerquelle
für die quartäre Chronologie. Ganz besonders
gilt das für die innerhalb des Romerikstadiums
folgende ,, epiglaziale" oder „Seenstufe", so genannt
nach der Lage ihrer Moränen vor den Seen Mjö-
sen, Hurdalsvand, Randsfjord, Spirillen und Krö-
Aas-Stadium
Aker- Stadium
deren, die ebenso wie das ihr möglicherweise
entsprechende „Bühlstadium" der Alpen sehr um-
stritten ist. Nach Öyen ist der Gletscher hier
über marine Ablagerungen wiederum vorgestoßen.
Es handelt sich um die in Romerike und weiter
bis Elverum gefundenen Lehme mit der „jüngeren
Poitlaiidia {= \ 'oldia) arciica-YaMna.". Die Eis-
meermuschel tritt hier in einer kleineren Varietät
auf, welches Vorkommen De Geer als Relikt
zu deuten versuchte. Dagegen spricht, daß diese
Fauna eine ziemliche Ausbreitung besitzt und
ihrer ganzen Zusammensetzung nach eine tiefere
Wassertemperatur anzeigt als die des vorangehen-
den , J/)'//7//.y-Stadiums" (mit J^Iytiliis cdulis, Mya
tniiicala, Saxicava p>ioladis u. a.), das bei Kristi-
ania in 221 m Höhe, etwas höher als die Purt-
Icuidia-FdiUndL von Romeiike liegt. Auch Blytt
hatte bereits einen jüngeren Gletschervorstoß in
manchen Gebirgstälern zu finden geglaubt. Nach
Öyen entspricht das „J/j/Ä^i' - Niveau" sowohl
der wärmeren „arktischen Zeit" Blytts, wie der
Achenschwankung Pencks, das jüngere „PivA
landia-^iwtdiU" Blytts „subglazialer Zeit", Pencks
„Bühlvorstoß" und der „Post- Wisconsin-Periode"
der Amerikaner. Auch die neueren Beobachtun-
gen von Rekstad, Holme, Björlykke u. a.
stimmen gut mit dieser Erklärung. Ähnliche Be-
obachtungen haben Kaldhol und Kolderup
auch an der norwegischen Westküste gemacht.
Andere nordische Geologen verhalten sich dieser
Auffassung gegenüber noch skeptisch. Viele
Fragen bedürfen weiterer Untersuchungen, z. B.
die, wieweit sich das Eis im J/j/Z/^i'-Stadium
zurückgezogen hat, welche Zeitdauer und welche
horizontale Verbreitung diesem zukommt. Jeden-
falls muß die Ansicht schwedischer Geologen ab-
gelehnt werden, daß eine größere Gletscherzunge
im Gudbrandsdal überdauert habe.
Für die Auffassung Öyens sprechen auch
einige Beobachtungen in Dänemark („Alleröd-
Schwankung" zwischen der älteren und der jüngeren
D/yas-Zt\i, die wohl den beiden Purtlaiidia-
Zeiten entsprechen) und Schweden (lokale Gletscher
nach Enquist).
Der Verlauf der Rückzugsmoränen im Gud-
brandsdal zwischen Lillehammer und Olta spricht
auch für eine nochmalige Gletscherbewegung tal-
abwärts. Die Eisscheide lag zwischen Dovre und
Sei. Die letzten großen PJndmoränen entsprechen
der jüngeren Portlainiia Zeit oder aber • — für die
eine eine solche nicht anerkennenden Geologen —
dem letzten Rückzugsstadium des Inlandseises.
Zu diesen Moränen gehören die mächtigen Auf-
füllungsmassen von Leine, deren Material sicher
von Norden und Nordosten stammt. Endmoränen
finden sich auch noch höher, bis 700 m ü. M.,
eine genaue Altersbestimmung ist aber noch nicht
durchgeführt.
2. Bemerkungen über die erste Flora
und Vegetation nach dem Eisrückzug.
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß von
einer einheitlichen, für ganz Skandinavien geltenden
N. F. XXI. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
139
„DrjasZeh" nicht die Rede sein kann, wenn
diese Annahme auch für manche Gebiete wie
Südschweden zutreffen mag. Anderwärts findet
man oft neben arktischen Arten (z. B. Salix
polaris bei Kristiania) viele subarktische. Die
Herkunft der Gebirgspflanzen ist recht umstritten.
Mehrere Forscher wie schon Blytt und Ser-
nander und neuerdings Hansen, Wille,
Th. C. E. Fries und Tengwall nehmen ein
Überdauern der letzten Vereisung sowohl auf
Nunatakkern im Gebirge, wie auch auf einem eis-
freien Küstenstreifen an. Für letztere Annahme
spricht der Fund arktischer Pflanzenreste an der
Westküste und weiter Öyens Parallelisierung der
„Örlandsbank" an der Mündung des Trondhjemfjords
mit den äußersten Endmoränen der letzten Eis-
zeit. Daselbst wurden seit 1900 wiederholt auch
Reste von Sa/u polaris und niiciilafa und von
Dryas gefunden, die aber aus späterer Zeit als
die genannte Moräne stammen. Sehr zu Unrecht
stellte Enquist alle Funde arktischer Pflanzen
in eine einzige Periode. Eine sichere Altersbe-
stimmung ist leider auch für die wohl recht alten
Reste arktischer Pflanzen, die H. Smith kürzlich
im oberen Jemtland und Herjedalen entdeckt hat,
kaum möglich. Daß zahlreiche Arten von der
Westküste ins Hochgebirge eingewandert sind,
scheint immerhin gesichert.
Andererseits muß man bei der Annahme von
Überdauerung sehr vorsichtig sein. Fries und
Tengwall sind sicher zu weit gegangen, wenn
sie eine solche z. B. für Carc.x scirpuidea und
Saxifraga Aizoon annehmen. Erstere hat in ganz
Europa nur zwei Standorte im Solvaaggebirge
beim Junkerdal, die sicherlich unter Eis begraben
lagen. Hingegen war das rauhe Klima einem
Überdauern der postglazialen Wärmezeit, die ander-
wärts durch die starke Erhöhung der Waldgrenze
viele Gebirgspflanzen vernichtet hat, unzweifelhaft
günstig. Ähnliches gilt für das kleine Areal der
Saxifraga Aizooii um das Balvand südlich vom
Sulitjelrna. Woher und wann beide Arten zu
diesen Örtlichkeiten gekommen sind, wissen wir
einstweilen nicht. iVIanche Gebirgspflanzen sind
sicher von Süden und von Osten gekommen, von
Süden z. B. Kobresia bipartita, NigritcUa nigra,
Ranunciilus platanifolius , Gentiana piirpurea,
Pedicularis Oederi und Cainpaiiula barbata.
In solchen Schwankungsperioden, wie der des
„il^'/Z/z/j^-Niveaus" und der „AUeröd-Gyttja" kann
die alpine Vegetation eine sehr große Ausdehnung
erlangt haben, wir wissen jedoch auch hiervon
noch sehr wenig.
3. Die Kalktuffe von Gudbrandsdal
und Blytts Theorie. Blytts Theorie, die
sich u. a. auf einzelne Torf- und Tuffprofile stützte,
ist heftig angegriffen worden, ist aber doch auch
durch die neuesten Untersuchungen immer wieder
in einzelnen Punkten bestätigt worden. Mindestens
die obere („subboreale") Stubbenlage hat sich in
den skandinavischen wie in den nordeuropäischen
Torfmooren überhaupt ganz allgemein nachweisen
lassen. Selbst so skeptische Forscher wie C. A.
Weber und G. Andersson nehmen für diese
Bildung eine trockene Periode an. Die neuen
Untersuchungen von Sernander, L. von Post
und ihrer Schüler in Schweden, von Holmsen
in Norwegen und Jessen in Dänemark haben
weiter auch den tiefer liegenden „borealen Aus-
trocknungshorizont" Blytts bestätigt, wogegen
die Schichtfolge unter diesem noch stärker um-
stritten ist. Seinen „subarktischen Torf" teilte
Blytt später in einen „infraborealen Torf und
eine weitere „subarktische Stubbenlage". Diese
Zweiteilung hat sich jedoch bisher an den meisten
Orten nicht nachweisen lassen, weshalb die meisten
Forscher mit Sernander die ganze Folge zwischen
dem Glazial und dem borealen Horizont als „sub-
arktisch" bezeichnen.
Wie schon 1882 Blytt, so suchte neuerdings
Öyen die Ergebnisse der Torfmoorforschung und
derStrandterrassenuntersuchungen zu parallelisieren.
Dabei zeigt sich, daß bei letzteren die den „sub-
arktischen Torfschichten" entsprechenden Ablage-
rungen zwischen der „marinen Grenze" und dem
„7';?/i('v-Niveau" gerade die am besten bekannten
sind (Brögger, Öyen). Auf das „jüngere y-'f/'-A
/«//•(//rf-Niveau" folgt das durch kräftige Muschel-
bänke, aber geringe Akkumulation eine relativ
trockene Zeit andeutende ,Jjtturiiia-Wi.v^sxi!' (nicht
zu verwechseln mit der erst viel späteren „Lifforii/a-
Zeit" in den Ostseeländern), darauf das durch große
Lehmterrassen ausgezeichnete und somit starke
Akkumulation und Feuchtigkeit anzeigende „Pholas-
Niveau" und schließlich das „J7(/r//'fl'-Niveau" mit
fehlender Akkumulation und reichen Schalenbänken
mit wärmeliebender Fauna. Auf dieses folgte
nach den vorangegangenen Hebungen wieder eine
Senkung (die Z/Mv/'z/^/Senkung der Ostseeländer),
die zum eigentlichen „7)?/(\f- Niveau" mit seiner
starken Akkumulation überleitet. Diese Folge
scheint also Blytts spätere Auffassung durchaus
zu bestätigen. Die meisten norwegischen Geo-
logen anerkennen sie, weniger dagegen die folgen-
den Stufen, von denen Öyen zunächst ein durch
ausgesprochen wärmeliebende, südliche Arten wie
Trivia enropaca, Lima loscoutbi und Couitlus
i/iilltgraiiiis charakterisiertes „TyvT^rt-Niveau", ein
unteres, gleichfalls Wärme und Trockenheit an-
zeigendes „ (Jsfraca-Kiwt&u" (einen Wasserstand von
II — 22 m über dem heutigen entsprechend) und
ein „jüngeres Osfraca-H'wtaM" unterscheidet, auf
welches das „il/jw-Niveau" der Gegenwart folgt.
Offenbar entsprechen sich:
il/)'//7/«-Niveau arktisch
jüngeres/'(7;-/'/(?//(?'^rt-Niveau subglazial
Lifforiiia-Kiwea.\i subarktisch sensu stricto
P/wlas-H\vt2L\i infraboreal
Macfra-'H\wtAü boreal
Tapcs-Kive&w atlantisch.
Weniger einleuchtend ist, daß Öyen nur das
ältere Osfraca-KivtAM mit subboreal und das
jüngere mit subatlantisch parallelisiert, dagegen
das 7>7i7'«-Niveau als „neoboreal" vor die subboreale
140
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 10
Periode einschiebt. Vielleicht gehört es als die
Zeit mit der am meisten wärmefordernden Fauna
doch auch in die subboreale Zeit. Auf jeden Fall
ist beachtenswert, daß nach Öyen wie nach den
schwedischen Moorforschern nicht die atlantische,
sondern die darauf folgende Zeit das postglaziale
Wärmemaximum gebracht hat. Andererseits hat
z. B. die Parallelisierung mit den archäologischen
Perioden (nach S e r n a n d e r z. B. subboreal =
jüngeres Neolithikum und Bronzezeit, subatlan-
tisch = Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit)
noch zu keiner Einigung geführt. Auf jeden Fall
sind wir nicht berechtigt, die B 1 y 1 1 sehe Theorie
nur deswegen abzulehnen, weil sie einen so kom-
plizierten Verlauf annimmt.
Einen solchen bestätigen durchaus auch die
Kalktufifuntersuchungen, wie solche besonders in
Schweden (Benestad in Schonen, Skultorp in
Västergötland , mehrere Tuffe in Jemtland) von
Hulth, Kurck, Sernander, Halle, Kjell-
mark u. a. durchgeführt worden sind. Besonders
instruktiv ist der Tuff von Skultorp, dessen ver-
schiedene Lagen Sernander 1916 unter Be-
nutzung der De Geerschen Datierung folgender-
maßen bestimmt:
Unter der rezenten Humuslage loser Tuff:
subatlantisch, bis 500 v. Chr.
Humuslage und dichter Tuff mit Weiden-
blättern: subboreal, 500—3500 v. Chr.
Rasch gebildeter, loser Tuff: atlantisch,
3500 — 5500 V. Chr.
Dichter, wenig mächtiger Föhrentuff zwi-
schen zwei Humuslagen: boreal, 5500
bis 6500 V. Chr.
MoostufT und Seekreide mit Zwergweiden,
darunter Sand: subarktisch, 6500 bis
7500 V. Chr.
Darunter Eisseebildungen und Moräne.
Auch im Benestadtuff zeigen sich deutlich eine
„subboröale" und eine „boreale" Unterbrechung,
und mindestens eine solche zeigt auch der floristisch
bemerkenswerte Tuff von Botarfve auf Gotland
(nach Halle 1906).
Bei der Neuuntersuchung der Tuffe von Gud-
brandsdalen hat sich überraschenderweise heraus-
gestellt, daß diese besser zu Blytts Theorie
stimmen, als dieser selbst ahnen konnte. Er
kannte nämlich bei Leine weder den unteren
Dryashorizont noch den Erlentuff. Zunächst hielt
er deshalb den Blättertuff („Birkentuff") für atlan-
tisch, den Dryastuff und begleitenden Kalklehm
für subboreal und den Föhrentuff für subatlantisch,
später, nach der Untersuchung des tieferen Vor-
kommnisses bei Nedre Dal, den Birkentuff für
infraboreal, den Dryastuff für boreal und den
Föhrentuff für atlantisch. Subboreale und sub-
atlantische Schichten konnte er also nicht finden,
erklärte aber ausdrücklich, daß er deren Vor-
handensein sowohl bei Leine wie bei Nedre Dal
für möglich, wenn auch nicht besonders wahr-
scheinlich erachte. Beides hat sich nun 30 Jahre
später bei Leine tatsächlich nachweisen lassen:
der subboreale Verwitterungshorizont und der sub-
atlantische Erlentuff. Damit ist auch die Ver-
bindung mit der Gegenwart hergestellt. Daß es
sich nicht um eine bloß lokale Sukzession handelt,
lehren die Ablagerungen von Gillebu-Tingvold und
Nedre Dal, sowie die schwedischen Kalktuffe.
Die Blyttsche Deutung zwingt sich mit Not-
wendigkeit auf, ohne sie reiht sich Rätsel an
Rätsel. Ganz vor kurzem ist übrigens durch
Henrik Printz ein Klimawechsel im heutigen
Sibirien mit Vordringen der Steppe auf Kosten des
Waldes direkt beobachtet worden.
Aus allem ergibt, sich folgende Korrelation :
(Siehe Seite 141.)
4. Bemerkungen Über die Vegetations-
entwicklung im Gudbrandsdal. A. Die
subarktische Zeit. Eine scharfe Trennung
in eine subarktische und eine infraboreale Periode
scheint vorerst nicht angängig. Unter der Ab-
schmelzung der letzten Gletscher war das Klima
sicher ausgeprägt kontinental, wie die starken
Oxydations- und sonstigen Verwitterungsvorgänge
beweisen. Daß sich die Tufflager infolge des
durch die Schmelzwässer erhöhten Grundwasser-
standes in wenigen Jahrhunderten gebildet haben
sollen, wie Andersson und Birger 1912 be-
haupteten, ist sicher falsch. Die Tuffbildung hat
erst nach einer längeren Unterbrechung einge-
setzt. Die genannten Autoren haben auch die
Eisscheide fälschlich zwischen Leine und Gillebu
verlegt, während sie viel höher als Leine lag
(vgl. Abb. i).
Da das Klima noch heute in Gudbrandsdalen
ausgeprägt kontinental ist, brauchen wir nicht
anzunehmen, daß auch Gebiete mit heute ozeani-
schem Klima ebenso starke Klimawechsel durch-
gemacht haben. Daß aber ein Klimawechsel auch
in der Umgebung von Kristania und Drontheim
stattgefunden hat, lehren die Strandablagerungen.
Über die erste Vegetation wissen wir sehr wenig.
Als der Tuffabsatz begann, herrschte eine sub-
alpine Laubholzvegetation. Mindestens bei Leine
fanden sich auch Alpenpflanzen. Der Fund von
vereinzeltem F'öhrenpollen kann auf Ferntransport
talaufwärts beruhen. Da die Föhre heute neben
der Fichte bei Gillebu dominiert und auch noch
vereinzelt in der weiteren Umgebung von Leine
auftritt und an beiden Orten in der atlantischen
Periode absolut dominierte , müssen besondere
Gründe vorliegen, die sie in früherer Zeit auf
Kosten der Laubhölzer fernhielten. Wir müssen
eine Birken - Espenperiode annehmen, mit einer
Vegetation ähnlich derjenigen in der heutigen
subalpinen Stufe. Diese schon 1842 von Steen-
strup geäußerte Annahme scheint nicht überall
in Skandinavien zuzutreffen. Auf Gotland, in
Südschweden und auf Seeland, nach Holms en
auch im südöstlichsten Norwegen scheint die
P'öhre gleichzeitig mit den Laubhölzern aufgetreten
zu sein. Wohl aber scheint die Steenstrup-
sche Auffassung für das zentrale und westliche
N. P. XXt. Nr. lö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
141
Klimaperiode
Leinetuff
Gillebu-Tingvold ' Nedre Dal
Strandzonen
Gegenwart
(relativ trocken)
VerwUierung,
schwache Moostuff-
bildung
Verwitterung Verwitterung
^/yrt-Niveau
Subatlantisch
(feucht und ziemlich warm)
Krlentuff
Erosion, Bildung
eines Schwemm-
kegels mit Tuff in
sekundärer Lager-
stätte
Rutschungen?
Jüngeres Ostraea-
Niveau
Subboreal
(trocken und sehr, warm)
Verwitterungs-
horizont
Verwitterung
}
Älteres Ostraea-
Niveau (und Trivia-
Niveau?)
Atlantisch
(feucht, mäßig warm)
Föhrentuff
Föhrentuff
Föhrentuff
Tß/fj-Niveau
Boreal
(trocken, kontinental)
Dryas-Tuff und
Diskordanz
Humusstreifen
Diskordanz
Mactra-^vitaXi
Subarktisch
infraboreal
(feucht)
Blältertuflf
und Moostuff
Blättertuff
Blättertuff
P/w/as-Niveixi
s. lat. (kühl)
subarktisch
s. sir.
(trocken ,
kontinental)
Roter Lehm
(Verwitterungsschichl
unter dem Tuff)
Stark verwitterte
Moräne mit Eisen-
anreicherung
•
?
Li/ioriria-Niveau
Letzte Vergletscherung: | Blauer Moränenlehm
Subglazial (sehr kalt) | mit Blöcken | Moränenschutt
Moräne
Jüngeres Portlandia-
Niveau,
Arktisch (et
vas wärmer)
yJ/c^/Äij-Niveau
Norwegen zuzutreffen. Die Föhrengrenze lag
wohl wesentlich tiefer als heute. Andererseits
waren aber die Gletscher schon stark zurückge-
wichen. Auf dem offenen Gelände konnten sich
lichtbedürftige Arten wie Hippopliacs und höher
oben Dryas ausbreiten. Es können nur lichte
Birkenhaine bestanden haben, denn sobald sich
geschlossener Nadelwald einstellte, starben die
beiden genannten Arten aus.
B. Die boreale Zeit. Diese bedeutet eine
völlige Unterbrechung der Tuffbiidung. Das Klima
wurde nicht nur trockener, sondern wenigstens
im Sommer auch wärmer. Von Wäldern können
nur ganz lichte Birken -Föhrenhaine bestanden
haben, denn sonst wären die geschlossenen Dryas-
Teppiche von Leine unverständlich. Ein solcher
bedeckte zweifellos auch die Schieferfelsen höher
oben, wo heute Dryas fehlt. Von ihren Beglei-
tern haben sich daselbst folgende bis heute zu
behaupten vermocht: Cetraria nivalis, Selaginella
spinulosa, Poa alpiiia und caesia, Carex capillaris
und sjiarsiflora, Junais Irifidus, Polygonum vivi-
parum, Cerastium alfinurn, Draba Jiirta und
incana, Parnassia palustris, Potei/tilla Crantzii,
Astragalus alpinus, Giiitiaua nivalis und tenella,
Veronica saxatilis und Aiitouiaria alpiiui. Ein-
zelne davon können natürlich auch später einge-
wandert sein. Auf j'eden Fall war in der borealen
Zeit die alpine Stufe ausgedehnter als heute. Die
Schneegrenze lag kaum tiefer, wohl aber die
Waldgrenze. Über deren Beschaffenheit sind die
Meinungen geteilt. In der postglazialen Wärme-
zeit, deren Höhepunkt sicher in die subboreale
■ Periode fällt, lag die Föhrengrenze im mittleren
Skandinavien 1 50 bis 300 m als heute, es ist aber
sehr fraglich, ob auch die Birkengrenze eine ähn-
liche Verschiebung durchgemacht hat. Die Föhre
verlangt eine wesentlich höhere Sommertemperatur
als die Birke, für welche dafür die Länge der
Vegetationsperiode von ausschlaggebender Be-
deutung ist (Fries, Tengwall, Smith). Es
muß daher für jede Periode besonders untersucht
werden, ob ein „subalpiner Birkengürtel" bestan-
den hat oder nicht. Für die subarktische Periode
scheint dies für das mittlere und westliche Nor-
wegen sicherzustehen, für die nachfolgenden
kontinentalen Perioden dagegen nicht. Sernander
will keine größere Ausdehnung der alpinen Stufe
in subarktischer und borealer Zeit annehmen, wo-
mit aber die neuen Befunde in Widerspruch stehen.
Eine Parallelisierung zwischen den Tuffen von
Gudbrandsdalen und Jemtland ist nur schwer
durchführbar, doch stimmen sie wenigstens soweit
überein, daß in den untersten Schichten die Föhre
fehlt oder doch nur ganz vereinzelt auftritt, dafür
Dryas und Hippoplia'cs in Menge erscheinen, um
später mit dem Überhandnehmen des Föhren-
waldes ganz zu verschwinden. Ein Blättertuff
142
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 10
fehlt dagegen in Jemtland, wahrscheinlich deshalb,
weil sich dorten das Eis erst später zurückgezogen
hat als im zentralen Norwegen. Die Zweiteilung
des Eisrestes im schwedischen Gebirge hat nach
De Geer und Sernander wohl in borealer
Zeit stattgefunden. Jedenfalls war aber Gudbrands-
dalen damals schon eisfrei. Sowohl dort wie in
Jemtland bestanden günstige Bedingungen für
Alpenpflanzen, bis zu ihrer Verdrängung durch
den aufrückenden Föhrenwald.
Ganz besonders interessant ist das Auftreten
des Sanddorns, J/ippopIiai's rliaiinioidcs , dessen
Ausbreitung in Fennoskandinavien der Verf. ein-
gehend schildert und auch kartographisch dar-
stellt. Heute ist er in Skandinavien mit Aus-
nahme vereinzelter Vorkommnisse an dem
Trondhjemsfjord und in Saiten streng an die
Küsten gebunden, namentlich an diejenigen Strek-
ken, wo durch stärkere Landhebung ständig Neu-
land erzeugt wird. Fossil ist die Art außer bei
Gillebu an 7 Stellen in Jemtland und an je einer
in Äsele- Lappmark, in ^edelpad und auf Got-
land nachgewiesen, sie war also sicher in sub-
arktischer und borealer Zeit viel weiter verbreitet,
hat aber dann an den meisten Orten der Kon-
kurrenz der Föhre und wohl auch der Laubhölzer
weichen müssen. Die lichtbedürftige Art hat nur
ein sehr geringes Konkurrenzvermögen und zieht
sich daher auf schwer besiedelbare Felsen, Geröll-
halden (so im Junkerdal in Saiten), auf Allu- .
vionen und Dünen zurück. Klimatisch ist sie in
hohem Grad indififerent, dagegen deutlich etwas
kalkhold, namentlich im nördüchen Teil ihres
Areals. Ihre Gesamtverbreitung, die vom zentral-
asiatischen Hochland bis Westeuropa reicht, und
ihr Massenauftreten auf den Alandsinseln hat
Palmgren eingehend geschildert. Oyen ist
sicher im Unrecht, wenn er die Verbreitung dieser
Art allein auf klimatische Ursachen zurückführen
wül.
Ähnlich verhalten sich wohl auch manche
andere Arten, so die im Gegensatz zu Hipf>op1ia'h
noch heute in Gudbrandsdalen vorkommende
Myricaria germanica, die sowohl in Mitteleuropa
wie in Hochtibet oft den Sanddorn begleitet.
Aster subintcgirrinius (= Sibiriens L.) reicht von
Sibirien bis Pinnland und hat dann ein ganz iso-
liertes kleines Areal am . offenen Kies- und Sand-
strand des Aursundsees bei Röros. Auch Carcx
bicolor zeigt solch disj unkte Areale, die vielleicht
ähnlich zu erklären sind. Einige östliche Arten
haben ein ganz unvermitteltes Areal im Gud-
brandsdal selbst, wo sie wohl kaum (wie Wille
für Atragcnc sihirica annahm) erst in neuerer Zeit
eingewandert sind, sondern sich dank günstiger
Umstände bis heute erhalten konnten. Von diesen
reicht Alhyrium crciiaf/an von Nordasien bis Nord-
und Mittelfinnland (fehlt im übrigen Europa),
Cystopteri?. sudctica von Rußland bis in die Kar-
pathen und Atragenc sihirica von Nord- und Mittel-
asien nur bis Rußland und Südostfinnland. Eine
befriedigende Erklärung für das Auftreten dieser
Arten im Gudbrandsdal steht zurzeit noch aus.
C. Die atlantische Zeit. In dieser Zeit
herrschten dichte Föhrenwälder. Wahrscheinlich
waren auch einzelne wärmeliebende Laubhölzer
weiter verbreitet als heute, so Corylns Avcllana,
Uliniis ))io)üaiia (reicht heute bis Faaberg, durch
Pollen im Föhrentuff von Gillebu nachgewiesen),
Acer plafaiioides und liehila Terriicosa (im Leine-
tuff). Das Klima war also wohl mindestens so
warm wie heute. Für den Rückgang von Ilippo-
pJiaes, Dryas und anderen lichtliebenden Arten ist
hauptsächlich das Vordringen des geschlossenen
Waldes verantwortlich zu machen.
D. Die subboreale Zeit. Über deren
Vegetation wissen wir aus den Tufifablagerungen
nicht mehr, als daß es sich um eine trockene Zeit
mit intensiver Verwitterung handelte. Nach den
Befunden in den Mooren und an der Küste war
es die wärmste Periode der ganzen postglazialen
Folge. Der Verf. fand z. B. neben Trivia enropaca
die Muschel Solecurtiis eaiididns, die heute nicht
über die Irische See nach Norden reicht, noch
auf den Froöern vor dem Trondhjemsfjord. In
diese Zeit fällt wohl die Einwanderung und maxi-
male Ausbreitung zahlreicher südlicher Arten, u. a.
Trapa iiataiis, Dracocephaluiii Rnyscltiaiia und
Brnc/iypodiJini pinnafum.
E. Die subatlantische Zeit. Die starke
Erosion und Akkumulation bei Gillebu-Tingvold
und das Überhandnehmen der aus früheren
Schichten nicht mit Sicherheit nachgewiesenen
Grauerle bei Leine deutet auf zunehmende
Feuchtigkeit. Wahrscheinlich ist damals auch die
Fichte (Picea excelsa) in Norwegen eingewandert,
vielleicht aber noch nicht bis Leine, wo der
negative Befund freilich nicht beweisend ist. Die
obersten Schichten sind eben auch dorten stark
verwittert. Die Waldgrenze rückte abermals
herab, und durch Erdrutschungen wurde manchen
Alpenpflanzen auch eine Ansiedlung in tieferen
Lagen ermöglicht. Andererseits scheint das
milde , ozeanische Klima auch manchen wärme-
liebenden Arten ein Verbleiben gestattet zu haben,
namentlich in so begünstigten Tälern wie Gud-
brandsdalen. Die letzte Entwicklungsphase kenn-
zeichnen die Ausbreitung des F'ichtenwaldes und
schließlich die zunehmende Umgestaltung von Ge-
lände und Vegetation durch den Menschen.
Die geschilderte Entwicklung gilt natürlich zu-
nächst nur für das untersuchte Gebiet. Ähnliche
Untersuchungen müssen in anderen Gegenden erst
durchgeführt werden.
Verzeichnisse der gefundenen Pflanzen- und
Schneckenarten, der benutzten umfangreichen Lite-
ratur und 5 Tafeln mit wohlgelungenen Wieder-
gaben der wichtigsten Funde von Leine und Gillebu
beschließen die gehaltvolle Arbeit, der größte Be-
achtung nicht nur in Skandinavien, sondern auch
in Mitteleuropa zu wünschen ist. H. Gams,
N. F. XXI. Nr. lö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
143
Bücherbesprechungen.
Diener, K., Paläontologie und Abstam-
mungslehre. Sammlung Göschen, Nr. 460,
2. Aufl. 137 S. mit 9 Abb. Berlin-Leipzig 1920,
Vereinigung wissensch. Verleger. 4,20 M.
Die Erforschung der vorweltlichen Tiere und
Pflanzen hat uns ein biologisches Material zur
Verfügung gestellt, das in manchem hinter d^n
Lebewesen der Gegenwart an Wert zurückstehen
muß, mindestens aber quantitativ unvergleichlich
viel vollständiger ist und durch die historische
Aufeinanderfolge vor allem für entwicklungstheo-
retische Probleme von ganz überragender Be-
deutung ist. Die Frage nach der Umwandelbar-
keit der organischen Formen steht nicht mehr
zur Diskussion. Die ganze Paläontologie ist eine
einzige Bejahung, der es freilich kaum mehr be-
durft hätte. Dagegen sind die Gesetzmäßigkeiten,
nach denen sich die Wandlung vollzieht, ein schier
unübersehbares Feld wissenschaftlichen Suchens
geworden. Die Antworten früherer Zeit, allen
voran diejenigen Lamarcks und Darwins
haben an Wert wenig eingebüßt, genügen aber
längst nicht mehr für die Fülle neuer Beob-
achtungstatsachen.
Die Paläontologie hat ein gewaltiges Material
beigebracht, durch das früher erkannte Gesetz-
mäßigkeiten von neuer Seite her beleuchtet und
bestätigt wurden. Darüber hinaus haben sich
nun Erkenntnisse gewinnen lassen, durch welche
frühere ergänzt, erweitert, bereichert wurden. So-
dann haben sich doch auch an älteren Ergebnissen
der Wissenschaft sehr bedeutsame Abänderungen
vollzogen durch das, was der Überblick über die
Vergangenheit an neuen Gesichtspunkten hervor-
treten ließ. Umformungen, zum Teil sehr durch-
greifender Art (es sei nur an das Vergleichsschema
des „Stammbaums" erinnert) waren erforderlich,
grundlegende Anschauungen (z. B. der Zweck-
mäßigkeitsgedanke) mußten fallen oder erheblich
eingeschränkt werden. Viele neu aufgeworfene,
noch ganz ungelöste Probleme (Aussterben der
Gruppen u. a. m.) haben frische Impulse verliehen.
Über alles das ist ein sehr großer Teil der
Gebildeten, selbst in akademischen Kreisen un-
bmittelar benachbarter und bewährter Wissens-
zweige allzu wenig unterrichtet. Verf. hat sich
dankenswerterweise der Aufgabe unterzogen, eine
Fülle von Material zu solchen Fragen zusammen-
zutragen und kurz übersichtlich einem größeren
Leserkreise zugänglich zu machen. Jedes der zahl-
reichen Einzelkapitel behandelt einheitlich ein be-
stimmtes Problem oder einen Problemkomplex
mit äußerst zahlreichen und mannigfaltigen Belegen
aus der Paläozoologie. Die Paläobotanik bleibt
leider völlig aus dem Spiel, obwohl auch ihr für
den Stoff viel zu entnehmen wäre. In der An-
ordnung der Kapitel wird eine Gesamtdisposition
nicht recht ersichtlich, so daß der Eindruck eines
Mosaiks entsteht. Doch tut das dem sachlichen
Wert des Heftchens keinen Abbruch.
Die Zuverlässigkeit der Behandlung des Stoffes
braucht nicht erst hervorgehoben zu werden.
Wenn von dem verschiedenen Tempo der Ent-
wicklung tertiärer Wirbellosen und Wirbeltiere die
Rede ist (S. 69), so bleibt anscheinend unbeachtet,
daß unsere Artbegriffe in beiden Fällen gänzlich
abweichend geartet sind und nicht einfach als ver-
gleichbare Werte einander gegenübergestellt wer-
den dürfen. Zu Ausstellungen inhaltlicher Art
ist im übrigen kein Anlaß, es sei denn, daß auf
S. 51 der „Urschildkröte" Eunnotosaurus hätte
Erwähnung getan werden sollen und Belodon
unmöglich als „ältestes Krokodil" hingestellt wer-
den kann. Dem Werke kann nur weiteste Ver-
breitung gewünscht werden, da es in deutscher
Literatur ziemlich vereinzelt dasteht.
Edw. Hennig.
Buchner, Paul, Tier und Pflanze in intra-
zellulärer Symbiose. 462 S., 103 Abb.
und 2 Taf. Berlin 1921, Gebr. Bornträger.
Das Buchn ersehe Werk eröffnet eine neue
Disziplin zwischen Zoologie und Botanik. Im
wesentlichen im letzten Jahrzehnt einen ungeahnten
Aufschwung nehmend, zeigt heute die Lehre von
der Symbiose ganze große Gruppen des Tierreichs
in engstem und notwendigen Zusammenleben mit
verschiedenen Klassen niederer Pflanzen. Zum
Teil (Algen) waren Erscheinungen dieser Art
schon länger bekannt, im volleren Umfang er-
kannt und geklärt sind sie erst durch die Arbeiten
eines Pieranto nie, Sulc, nicht zum wenigsten
durch Buchn er selbst, der hier zuerst eine ein-
heitliche erschöpfende und klare Darstellung gibt.
Das Buch schildert die Algensymbiose der
Protozoen, Schwämme und Cölenteraten, Sym-
biosen bei Würmern mit Algen und Bakterien,
bei Bryozoen, Echinodermen, Mollusken und Turii-
katen, endlich die intrazelluläre Pilz- oder Bakterien-
Symbiose bei Insekten und die Leuchtsymbiosen
bei Coleopteren, Pyrosomen und Cephalopoden.
Es erscheint unmöglich, auch in einem längeren
Referat dem Inhalt der einzelnen Kapitel auch
nur annähernd gerecht zu werden. Die meiste
Förderung erfuhr durch Buchners eigene Ar-
beiten der Teil, der die Insektensymbiose und die
Leuchtsymbiosen behandelt. Man liest von den ent-
wicklungsgeschichtlich merkwürdigen Zusammen-
hängen zwischen Symbionten und den tierischen
Organen in denen sie wohnen; von ihren Be-
ziehungen zum Fortpflanzungsprozeß, der Über-
tragung der Symbionten auf die Eier, die wie
bei den Aleurodiden in ganzen Zellen — Myceto-
zyten — des mütterlichen Organismus erfolgt, die
im jungen Tier eine freilich begrenzte Rolle
spielen; endlich von den ungewöhnlich kompli-
zierten Verhältnissen bei den Cikaden — die
Buchner entwicklungsgeschichtlich zu deuten
versucht — und hört die Lösung des alten Problems
vom tierischen Leuchten.
144
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 10
Eine große Anzahl von Originalen und anderen
Abbildungen ermöglicht auch dem Nichtzoologen
die Verfolgung der Schicksale der Symbionten
im tierischen Organismus, bei der nur gelegentlich
der Mangel von Angaben über die verwandte Ver-'
größerung störend empfunden wird.
Die physiologische Seite des Problems steckt
freilich noch in den Anfängen. Buchner hat
sorgsam alle Theorien über die mögliche Be-
deutung der Symbionten für den Stoffwechsel
und das biologische Verhalten des Tiers gesammelt
und selbst neue Wege und Möglichkeiten aufge-
wiesen.
Botaniker haben sich mit der Sache erst in
sehr geringem Umfang beschäftigt. Und doch
ist die Lösung der physiologischen Fragen erst
nach Identifizierung, Isolierung und Reinkultur
der betreffenden Symbionten möglich, die mehr-
fach versucht wurde und in einigen Fällen ge-
lungen sein soll.
Die Einsicht in die betreffenden Original-
arbeiten läßt aber bereits erkennen, daß es sich
hier um zum Teil mit ganz unzureichenden
Methoden unternommene Versuche handelt und
daß positiven Resultaten gegenüber — mit sehr
wenigen Ausnahmen — die größte Skepsis am
Platze ist. Burgeff.
Stra^burger, E. , Das Botanische Prakti-
kum. Anleitung zum Selbststudium der mi-
kroskopischen Botanik für Anfänger und Ge-
übtere. Zugleich ein Handbuch der mikrosko-
pischen Technik. Sechste Auflage, bearbeitet
von M. Ko ernicke. XXVI und 873 S. mit
247 Holzschnitten und 3 farbigen Bildern im
Text. Gr. S". Jena 1921, Gustav Fischer. —
Brosch. 120 M., geb. 135 M.
Das große botanische Praktikum erscheint zum
zweiten Male seit Straßburgers Tod, ganz in
seinem Sinne von Koernicke weiter geführt.
Es ist seit langem nicht nur das Vademekum des
mikroskopierenden Botanikers, sondern auch man-
cher Zoologe hat seine Technik im Fixieren,
Schneiden, Färben und Mikroskopieren an der
Hand des Altmeisters der botanischen Cytologie
ausgebildet. Es gibt auch sicherlich kein modernes
Buch, das so klar und umfassend die Grundlagen
der mikroskopischen Technik darstellt, wie der
Straßburger- Koernicke. Die altbewährte Anord-
nung ist dieselbe geblieben, dabei wurde aber der
Stoff vollkommen durchgearbeitet und mit dem
Stand des heutigen Wissens in Einklang gebracht.
Eingehender noch als in den früheren Auflagen
wurden die Literaturbelege angegeben, und vor
allem eine möglichste Lückenlosigkeit auf mikro-
skopisch-technischem Gebiete angestrebt. Das ist
bis zu einem überraschend hohem Grade gelungen
und dabei auch die ausländische Literatur benutzt,
soweit das unter den heutigen Umständen mög-
lich ist. Erreicht wird das wie in den früheren
Auflagen durch ein besonderes umfangreiches
Register, in dem für die Vertreter aller Abteilungen
des Pflanzenreichs die empfehlenswertesten Fixie-
rungs- und Färbungsverfahren, für die niederen
zudem noch in möglichster Vollständigkeit die
besten Kulturmethoden angegeben sind. Zu er-
wägen wäre vielleicht gewesen, ob die im Text
angeführten Preisangaben für mikroskopische
Utensilien, die sich noch durchweg auf der Basis
der Vorkriegszeiten halten, besser fortgelassen
wären. Bei der nächsten Auflage müßten wohl
auch einige der zarteren Klischees erneuert werden.
Nienburg.
Wolff, Dr. Hans, Die Harze, Kunstharze,
Firnisse und Lacke. Berlin und Leipzig
1921, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger
W. de Gruyter & Co. 6 M.
Eine vorzügliche Übersicht aus der Feder des
bekannten Fachmannes in diesem analytisch wie
konstitutionschemisch gleich unübersichtlichen
Gebiete I Dem Anfänger wird eine gute Vor-
stellung von der Mannigfaltigkeit des Themas
gegeben, — beinahe freilich ist zu viel des Guten
an Stoff geboten. Bei den dankenswerterweise
häufigen Literaturhinweisen könnte manches Pro-
blematische zugunsten des Grundsätzlichen gekürzt
werden. Viele ebenso gute wie knapp dargestellte
analytische Hinweise werden dem Büchlein im
Kreise der Fachgenossen Eingang verschaffen, und
Berichterstatter bestätigt, daß man wirklich danach
„arbeiten" kann. Eine Bereicherung des Schrift-
tums, der Verbreitung dringend zu wünschen ist!
H. H.
Literatur.
Vaerting, Dr. M., Die weibliche Eigenart im Männer-
staat und die männliche Eigenart im Frauenstaat. Karlsruhe
i. B. '21, G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag. 25 M.
V. Frisch, Karl, Über den Sitz des Geruchssinnes bei
Insekten. Jena '21, Gustav Fischer. 18 M.
Tschulok, Dr. S., Deszendenzlehre. Jena '22, Gustav
Fischer. 48 M., geb. 58 M.
Das Ftlanzenreich, herausgeg. von A. Engler, IV, 252.
A.Brand, Borraginaceae-Borraginoideae Cynoglosseae. Leip-
zig '21, W. Engelmann. 144 M.
Vegetation der Erde , herausgeg. von A. Engler und O.
Drude. IX.: A. Engler, Die Pflanzenwelt Afrikas, insbe-
sondere seiner tropischen Gebiete. III. Band, 2. Heft. Leip-
zig, W. Engclmann. 340 M., geb. 375 M,
— — , XIV.: L. Cockayne, The Vegetation of New
Zealand. 210 M., geb. 250 M.
InbBlt: E. Fischer, Stoff und Eigenschaft. S. 129. L. Lindinger, Ein Vorschlag zur genauen Festlegung des Kund-
orts. S. 132. — Einzelberichte: R. Nordhagen, Kulktuffstudien aus dem zentralen Norwegen. (3 Abb.) S. 133. —
BUcberbesprecbungen : K. Diener, Paläontologie und Abstammungslehre. S. 143. P. Büchner, Tier und Pflanze
in intrazellulärer Symbiose. S. 143. E. Straßburger, Das Botanische Praktikum. S. 144. H. Wolff, Die Harze,
Kunstharze, Firnisse und Lacke. S. 144. ^ Literatur: Liste. S. 144.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der gaDzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 12. März 1922.
Nummer 11.
Eine elementare Theorie der Gravitation.
oder:
Von Stjepan Mohorovifcli-
[Nachdruck verboten.] Mit 2 Abbildurigen.
I. Es ist bekannt/) daß A. Einstein zuerst
das Gravitationsfeld mit Hilfe seines Coupes er-
klären wollte, in welchem sich eingesperrt ein
Beobachter (x', y', z', t') befindet; dieses Coupe
bewegt sich gegen einen „ruhigen" Beobachter
(x, y, z, t) mit einer variablen Geschwindigkeit.
Ein konstantes Gravitationsfeld wird der Beob-
achter im Coupe nur dann konstatieren, wenn sich
sein Coupe mit einer gleichmäßig beschleunigten
Geschwindigkeit (mit konstanter Beschleunigung g)
bewegt. Diesen Fall werden wir hier etwas näher
betrachten und wir nehmen in erster An-
näherung an, daß die beiden Systeme S' und S
mittels der Galilei sehen Transformationsglei-
chungen gebunden sind:
x' = X — vt, y' = y, z' = z, t' = t; (i)
in unserem Falle müssen wir anstatt der Ge-
schwindigkeit V die mittlere Geschwindigkeit v
annehmen, wo
^•=.V = ^^, (2)
X = o, y ^ + w t,
und mit Rücksicht auf (3):
X^= t ,
2
I e
= + wt
— -,.T72y
p
O'
(4)
(5)
(6)
und mit Rücksicht auf (i):
z, i' = t.
(3)
^' — ■a—t'', y' = y,
2
In der Zeit t' = t = o fallen die beiden Systeme
zusammen, so auch die Anfangspunkte O' und O
[siehe Abb. i], und wir werden annehmen, daß in
diesem Augenblicke der eingesperrte Beobachter
2 w-
Der eingesperrte Beobachter in O' wird sich
denken, daß er sich in einem konstanten Gravi-
tationsfelde befindet, und daß der Körper P in
einer Parabel p hinunterfällt; dies zeigt uns,
daß die Beschleunigung und die Gravitation nur
von mathematischer Seite gleichwertig sind, wie
ich dies schon in einer anderen Arbeit betont habe.')
2. Dieses Ergebnis der Newtonschen IVIechanik
müssen wir hier etwas umändern, da sich in der
Tat die Geschwindigkeit v nach einem anderen
Gesetze als in der klassischen Mechanik ändert;
sie darf nie größer als die Lichtgeschwindigkeit c
werden, d. h. für t ^ co ist v == c. Wir können
sehr leicht finden, daß:-)
1/
1 +
g-i'
Um den zurückgelegten Weg in der Richtung der
negativen x'- Achse zu finden (Abb. i), müssen wir
das Integral berechnen:
x' = — ,/' V dt.
(II)
wo wir für v den Wert aus (7) einsetzen müssen,
und wir finden für den zurückgelegten Weg sofort :
im Coupe einen Körper P längs der y-Achse mit
einer konstanten Geschwindigkeit w geworfen hat;
d. h. wir haben
') S. Mohorovicic, Die Folgerungen der allgemeinen
Relativitätstheorie und die Newtonsche Physik. Diese Zeitschr.
20, 1921, 737—739, Nr. 52.
Dieses Beispiel habe ich deshalb hier so ausführlich be-
trachtet, um zu zeigen, daß wir auch in der klassischen Me-
chanik auf diese Weise das Gravitationsfeld „erzeugen", und
die Erscheinungen, welche sich in ihm abspielen, mathematisch
beschreiben können. Die Stärke dieses Gravitations-
feldes wird hier von der Zeit unabhängig.
'-| Um das Gesetz über die Änderung der Geschwindig-
keit mit der Zeit abzuleiten, können wir aus der Formel (Sg)
in dem Buch von M. v. Laue, Die Relativitätstheorie I. Bd.
S. 90 (4. Aufl.), nachdem wir sie etwas vereinfacht haben,
ausgehen:
X- — c-t''= \,. (8)
Wenn
oder
') Wegen leichteren Verständnisses und gröflerer Klarheit
der Theorie sind wir genötigt in den §§ I — 5 einige vorbe-
reitende Ausführungen durchzuführen, welche ganz elementarer
Natur sind.
vir diese Gleichung diflferentieren, bekommen wir:
xdx — c-tdt = o (9)
v = ^'. lio)
X
Setzen wir den Wert von x aus (8) in (10) ein, so haben wir
unmittelbar das gesuchte Gesetz (7).
146
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. II
Da nach der Voraussetzung
y= + wt,
so finden wir, wegen y' := y, aus (12):
oder:
(-11
x'-^ =^.+
— 2 — x' :^ — 5 y'
(12)
(13)
(14)
(14»'^)
und dies ist eine Hyperbel, welche einen
Scheitelpunkt in dem Koordinatenursprung O'
hat (siehe Abb. 2), und uns wird nur dieser Ast
interessieren, für welchen x' < o ist. Wir haben
im voraus eiije hyperbciartige Kurve erwartet, da
nach einiger Zeit der Körper P annähernd längs
der Gerade (Asymptote) MMoo sich bewegen
möchte, weil seine Geschwindigkeit, mit welcher
wir ihn längs der y-Achse geworlen haben, konstant
ist und die Geschwindigkeit längs der negativen
x'- Achse wird nach einiger Zeit schon fast ihr
Maximum c erreichen.
Wir können noch zeigen, daß die Parabel p
der klassischen Mechanik nur die erste An-
näherung unserer Hyperbel h ist. Suchen wir
im Koordinatenursprung O' die Näherungskurve
unserer Hyperbel h, so finden wir mit Hilfe des
analytischen Dreiecks, daß dafür nur die Glieder
mit x' und y'-' in Betracht kommen; somit finden
wir als Nährungskurve die Parabel p (6) der
klassischen Mechanik, wo immer g <C c sein muß.
Dieselbe bekommen wir aus (m*"'^), wenn wir sie
mit c" dividieren und dann c = ^c einsetzen.')
') Für c = 00 nimmt (12) unbestimmten Wert an; wir
werden auch später zeigen, daß in diesem Spezialfall x' den
Wert (i) annehmen wird. Jetzt können wir in erster An-
näherung (12) in der Form schreiben:
'^ gl' r"*"2cVj 2'
und dies ist das Gesetz (5) der klassischen Mechanik.
Wir werden noch die große und kleine Achse
a und b unserer Hyperbel h (m*"'') berechnen;
dafür finden wir:
Ma=a = '^, MN=b = '^*^; (15)
g g
die große Achse und die Lage des Hyperbel-
mittelpunktes M sind unabhängig von der Ge-
schwindigkeit w des Körpers P.
3. Wenn der eingesperrte Beobachter im Coupe
den Körper P mit der Lichtgeschwindigkeit c
längs der y- Achse geworfen hätte, so wäre dann
b^ -== a; d. h. unsere Hyperbel h wäre eine
g
gleichseitige Hyperbel, und gerade dieselbe,
welche Born in der xt- Ebene bekommen hat.')
Diese gleichseitige Hyperbel möchte auch ein
Lichtsignal beschreiben, wenn es der Beobachter
im Coupe längs der y- Achse abgesendet hätte, in
dem Augenblick t = o. Da das Licht die Energie,
dann auch die schwere Masse hat, so wird es
für den Beobachter im Coupe, welcher glaubt in
einem „konstanten" Gravitationsfelde sich zu be-
finden (welches Feld in der Wirklichkeit immer
schwächer und schwächer wird), dieselbe gleich-
seitige Hyperbel beschreiben:
x'" — 2 — x' — y'- = o. (16)
g
Wenn das Coupe ein Fenster hätte, so möchte
der eingesperrte Beobachter den Siern Moo, bzw.
M'oo (Fig. 2) in der Richtung der positiven, bzw.
negativen, y'- Achse sehen; er möchte die Hyperbel
(16) als seine y'- Achse bezeichnen, und wir möchten
sagen, daß dieser Beobachter „natürlich" mißt, da
er die Krümmung des Lichtstrahles nicht kon-
statieren könnte; für ihn pflanzt sich das Licht
geradlinig fort, gerade so, wie auch für den
„ruhigen" Beobachter in O, für welchen kein
Gravitationsfeld besteht. Auf diese Weise sind
wir gekommen zu dem Satz der Relativität des
Gravitationspotential, bzw. der Gravitationswir-
kung.-) Daraus folgt, daß wir alle diese Erschei-
nungen behandeln können, als wenn kein Gravi-
tationsfeld vorhanden wäre, und wir können auch
die Loren tzschen Transformationsgleichungen
benützen. Da wir gerade die Unterschiede finden
wollen, welche im „konstanten" Gravhationsfelde
bestehen, so müssen wir einige Korrekturen durch-
führen, d. h. wir müssen „rationell" messen.
4. Wenn der Beobachter im Coupe ein Licht-
signal nach allen Seiten im Augenblicke t' ^ t = o
aus O' sendet, dann wird es ihm scheinen, falls
') M.V.Laue, I.e.; siehe auch M.Abraham, Theorie
d. Klektr. 11. Bd., 4. Aufl., 1920, S. 376—377. Dort steht es,
daß die Geschwindigkeit v deshalb nicht großer als die Licht-
geschwindigkeit c werden kann, weil die Beschleunigung mit
wachsender Zeit beständig abnimmt. Die Stärke des
Gravitationsleides wird deshalb, für den Be-
obachter im Coupe, mit der Zeit beständig ab-
nehmen.
2) Vgl. z. B. G. Mie, Die Einsteinscbe Gravitations-
Iheorie. Leipzig 1921; S. 37— 38 und 46—47. So sagt er
(S. 38) : „Ks scheint, als ob eine brauchbare Gravitations-
theorie ohne ihn wohl nicht zu machen ist, . . . ."
N. F. XXI. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
147
er „natürlich" mißt, daß sich das Licht als Kugel-
welle nach allen Seiten ausbreitet:
X'- + y'- + z'- = c-t'-, (17)
welche für den „ruhigen" Beobachter in S alle
innerhalb des Asymptotenkegels
Ax- + y- + z- = Ac-t- (18)
sich befinden werden. Setzen wir jetzt:
(19)
wo V mit der Relation (7) gegeben ist, dann
müssen wir v, welche wir als mittlere Geschwin-
digkeit bezeichnen werden, so bestimmen, daß
(18) gerade den gesuchten Asymptotenkegel dar-
stellen wird. Mit anderen Worten, wir haben hier
folgende Transformationsgleichungen benützt :
X — vt
y-
-y, z' = z, t':
t iX
y^:'
(20)
d.h., daß wir bei den bekannten Loren tzschen
Transformationen eine kleine Korrektur durchge-
führt haben.
Anderseits wird v auch folgende Bedingung
erfüllen müssen :
x' + vt'
t'+-,x'
y = y', z ^ z', t =
f
(21)
Auf den ersten Blick könnte jemand behaupten,
daß die Transformationsgleichungen (21) den
Transformaiionsgleichungen (20) widersprechen,
aber wir dürfen nicht vergessen, daß für einen
Beobachter ein Gravitationsfeld existiert und für
den anderen nicht; oder umgekehrt, für den ersten
Beobachter existiert kein Gravitationsfeld, sondern
nur für den zweiten und das noch entgegen-
gesetzter Richtung.
Um die mittlere Geschwindigkeit v abzuleiten,
gehen wir von der Relation (7) aus, welche wir, da
1/
1 +
r^=f-^' (")
in der Form schreiben können:
oder mit Rücksicht auf (21):
v=-gt' + 4,x'v.
Setzen wir jetzt:
v= 2v-j-k
in (23) ein, dann bekommen wir:
*(2 -^ix') = gt'-
oder mit Rücksicht auf (21):
(7bi,)
(23)
(24)
(25)
|/,_y:_^,.v-i
f c- c-
(26)
Da wir aus (26) und aus (24) denselben Wert für
V bekommen müssen, werden wir annehmen:
k== — 4x'v,
und dann wird:
gt
Y'
2 — -., x'
(27)
(26),
bzw. mit Rücksicht auf (22) und (7), oder direkt
aus (27) und (24):
(26),
^,x'
In der klassischen IVlechanik war die mittlere Ge-
schwindigkeit bei der gleichmäßig beschleunigten
V
Bewegung v = , welche wir aus (26)3 bekommen
können, indem wir c = 00 einsetzen, d. h. in erster
Annäherung.
5. Wir werden wieder unseren horizontalen
Wurf betrachten, um ihn mit Hilfe der neuen
Transformationsgleichungen (20) mathematisch zu
beschreiben. Da der Körper P in der Richtung
der y- Achse geworfen ist, so muß für den ,, ruhigen"
Beobachter, lür welchen kein Gravitationsfeld
existiert, fortwährend sein:
X := o, y = + w t. (4)
Setzen wir (4) in (20) ein, dann bekommen wir:
gl'
4x'
')
(28)j
(28),
y = + wt
und aus (28)1 folgt, mit Rücksicht auf (28).,, die
gesuchte mathematische Beschreibung des hori-
zontalen Wurfes:
=^'y
w
(14'''^)
') Daraus folgt für c = oo das Gesetz für den zurück-
gelegten Weg der klassischen Mechanik (5I. — Vergleichen
wir (,28)1 mit 112), so könnte jemand behaupten, daß wir ein
anderes Resultat bekommen haben. Aber das kommt nur auf
den ersten Blick so vor, da wir (28), in der Form schreiben
können ;
• c'^
x''^ — 2 — x' = c-t-, (29)
S
und wenn wir diese quadratische Gleichung nach x' lösen,
haben wir sofort:
-t^
+ C-t2
(30)
und dies stimmt für das negative Vorzeichen genau mit der
Relation (12) überein, welche wir dort mittels der Integration
gewonnen haben.
148
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1 1
und dies ist unsere, schon bekannte Hyperbel h.
Zu demselben Resultat sind wir auf zwei ganz
verschiedenen Wegen angelangt.
6. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des
Lichtes längs der gleichseitigen Hyperbel (i6)
für den Beobachter im Coupe, welcher glaubt in
einem „konstanten" Gravitationsfelde sich zu be-
finden, wird gegeben durch :
r
c^ +
g-l-
1+^
1 1
2S <■
g^l^
(31)
1+'
(32)
oder mit großer Annäherung:
g-t-_5 S*l\
2c- 8 c* '■
Betrachten wir jetzt das Licht, welches sich
von dem Stern IVFoo (Abb. 2) längs der Hyperbel h
ausbreitet; ein Beobachter — welcher sich gegen
den Koordinatenanfang O' längs der negativen
x'- Achse mit der beschleunigten Geschwindigkeit
(33)
g't^
so bewegt, daß er den Fokus F, erreicht, wenn
das Licht in O' ankommt — , wird nicht nur be-
merken, daß das Licht die Hyperbel h beschrieben
hat, sondern daß es seine mmimale Geschwindig-
keit in O' erreicht hat. Für diesen Beobachter
wird die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes
längs der Hyperbel h gegeben durch
(34)
"^2c'' 8 c*
oder
l-S + iO (3*'
Dieser Beobachter wird jetzt denken, daß er im
Zentrum eines zentrisch- symmetrischen Gravi-
tationsfeldes sich befindet, welches zwingt das
Licht eine Hyperbel zu beschreiben, gerade so,
wie wenn dieses ,, Lichtquantum" ein Komet wäre,
welcher „zu große" Anfangsgeschwindigkeit hätte.
Für diesen Beobachter ist c^ die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit des Lichtes in unendlich großer
Entfernung, wo kein Gravitationsfeld existiert. Die
Relation (34'''') wird deshalb mit Rücksicht auf
(34) folgende Form übernehmen:
Die Lichtgeschwindigkeit c wird eine Funktion
der Entfernung r von Fj und eine Funktion der
IVIasse M, welche um Fj gerade das betrachtete
Gravitationsfeld verursacht hat,') und wir können
einsetzen : '-')
^^^'^"(■-c^-^r-^c^r^ (35)
wo wir die Konstante ^ nachträglich bestimmen
müssen. Setzen wir
? = 2 - q, (36)
ein, dann bekommen wir aus (34)1 und (35):
g-t- kM , / , i\ k-M- , ,
__2c„-c„-^r+(^ + 3)c„V-- (37)
Für t- können wir den Wert aus (28)1 einsetzen,
wo wir anstatt x' x' -[- f nehmen müssen, da
jetzt der Koordinatenanfang in dem Brennpunkte
Fl (Abb. 2) sich befindet, und { = 0'b\. So
haben wir:
g-^C^ -. _ g (x' + f) ^2 - ^^,. (X' + f)| , (38)
wo wir c„ anstatt c eingesetzt haben, da jetzt
Co die Lichtgeschwindigkeit im leeren Räume
(unendlicher Entfernung) bedeutet. Da
r -=- — x' - f (39)
ist, (weil wir hier x' < O betrachtet haben), so
bekommen wir aus (37), mit Rücksicht auf (38)
und (39),
2kMco
r + 2^!
. / , i\2k-M- , ,
und daraus, wenn wir wie bis jetzt das negative
Vorzeichen der zweiten Wurzel beibehalten,
Co- f I , 2kM . / , i\2k-M-|, ,
oder : ^)
kM , k-M-'
.■2 +q„-o .■
(42)
Diese Formel unterscheidet sich von der Formel
(43) der Newtonschen Mechanik dadurch, daß
in ihr noch ein sehr kleines Glied vorkommt.
Für Co = 00 geht (42) über in :
') Auf diese Weise haben wir nicht nur das zentrisch-
symmetrische Gravitationsfeld , sondern auch die Masse M
„erzeugt", da die beiden untrennbar sind.
kM
') Das zweite Glied „ in (35) haben wir deshalb
genommen, um in erster Annäherung die Newton sehe Theorie
zu bekommen (k ist die bekannte Gravitationskonstante). Des-
halb darf dieses Glied keine andere Konstante besitzen, wie
dies bei der E. Wie eher t sehen Theorie der Fall ist.
^) Aus (34bis), mit Rücksicht auf. (28)1, folgt:
2 + 2
g^f
(32)'
(32)"
Wenn wir hier den Werl für g aus (42) einsetzen, so bekom-
men wir sofort die Formel (35). Behalten wir in (32)" nur
das zweite Glied, dann haben wir, mit Rücksicht auf (43),
c = Co(x-^^g (44)
und dies ist die Kortpllanzungsgeschwindigkeit des Lichtes in
transversaler Richtung, welche uns in erster Annäherung die
K in st einsehe Gravuationstheorie gibt.
N. F. XXI. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
149
und dies ist die bekannte Formel ') der klassischen
Mechanik für die Beschleunigung g, welche ein
Himmelskörper einer Masse in der Entfernung r
erteilt. Wir müssen aber die genauere
Formel (42) bei der Berechnung der
Planetenbahn verwenden.
7. Bei unserer ganzen Betrachtung ist sehr
wichtig, daß wir den relativen Zeitbegrifif und die
vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit über-
haupt nicht gebraucht haben, da wir die §§ 4
und 5 auch weglassen könnten. Deshalb werden
wir unser Problem nur in dem Räume weiter
betrachten. Da die Planetenbahnen einige Be-
dingungen erfüllen, welche bereits auch in der
klassischen Mechanik für die zentralen Kräfte F
ganz allgemein untersucht sind, so werden wir
bei der Berechnung der Planetenbahn von der
bekannten B inet sehen Formel'-) ausgehen:
F = —
f(7 +
dfp-'
(45)
wo r und (p die Polarkoordinaten sind, und die
Konstante B erfüllt die Bedingung
dt
B.
(46)
Hier ist - B die Flächengeschwindigkeit und des-
halb ist:
B=:=
2?rao-yi — «^
(47)
wo T die Umlaufzeit, a^ die große Achse der
Bahnellipse und £ die nummerische Exzentrizität
bedeutet :
]/■
(48)
(b„ ist die kleine Achse der Bahnellipse).
Die zentrale Kraft wird mit Rücksicht auf (42):
„ /kM , k'M-\ , ^
F .-m(^,+q^,^J, (49)
und die Binetsche Formel (45) wird die Form
übernehmen:
kjl k-M-
B- "'"^B^c --r
^ - +
üff"-
(50)
Diese Differentialgleichung werden wir versuchen
zu lösea durch
I -j-«cosA.f/'
^5U
und
P = ao(i — «')
(52)
') O. D. Chwolson, Lehrbuch d. Physik. Bd. 1, S. 206;
Braunschweig 1902.
^) P. Appel et .S. Dautheville, Prfcis de mecaniquc
rationelle. S. 267 ; Paris 1910.
ß=const. (53)
und ihren Wert werden wir später bestimmen.
Wenn wir (51) in (50) einsetzen, geben uns
die Koefizienten von cos Ay:
k-^M^
/■-=i-q.
(54)
Co'-B-"
und das Absolutglied wird gleich Null; daraus:
k'-'M-
Mkp — Mkp + q ^- ^ B-. (55)
Hier werden wir zuerst den Wert für p und B
aus (52) und (47) einsetzen, und da wir annehmen
dürfen:
47C-ao^
so folgt aus (55)
kM = ^^^, (56)
? -- q 7 o . (53''")
worauf wir noch zurückkommen werden.
Setzen wir aus (56) und (47) die Werte für
kM und B in (54) ein, so bekommen wir:
45T-ao-
/.-= I — q
Co'T'^i— f^)
und daraus:
I— q
(57)
(58)
Die Perihelverschiebung nach jedem Umlauf wird:*)
^1=1 —2 71, (59)
und, mit Rücksicht auf (58):
4 7r=*ao-
^1
(60)
Co'^T-(i — £-)■
Bezeichnen wir mit J die Dauer eines Erd-
jahres, dann werden wir, für die Perihelverschiebung
nach 100 Erdjahren, bekommen:
47r»a(," 100 J .- ,
und dies ist gerade die Formel, welche E. W i e -
chert'-) als T isser and sehe Formel bezeichnet
hat. Jetzt stellt sich von selbst die Frage auf,
was für einen Wert wird q übernehmen, und
diesbezüglich mache ich aufmerksam auf die
zitierte Arbeit von E. Wiechert. Hier werden
wir nur betrachten, zu welchem Resultat uns
unsere Theorie führen wird, wenn wir voraus-
setzen, daß die Relation
c = Co(i+^J (62)
genau erfüllt ist, wo </> das Gravitationspotential
ist, welches wir, mit Rücksicht auf (35), in der
Form schreiben können :
') Vgl. z.B. E. Reichenbächer, Grundzuge zu einer
Theorie der Elektrizität und der Gravitation. Ann. d. Physik
(4) 52. 1917; S. 161.
^) E. Wiechert, Die Gravitation als elektrodynamische
Erscheinung. Ann. d. Physik (4) 63, 1920; S. 311. Diese
Arbeit gibt uns auch eine schöne Darstellung der älteren
Versuche.
ISO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. II
^ _ _ kM _ k^j^a
(63)
Wir können aber <1> noch aus (42) berechnen,
und wir bekommen:
kM qk-M2
* = —
r 2 Co^i^
und daraus sehr wichtige Relation:
(63)'
(36)'
(64),
(64),
Vergleichen wir (36J' mit (36), so folgt:
q = f = i.33,
- 2 ,
C = = 0,67.
' 3 '
Wir haben auf Grund der Voraussetzung
(62) den Wert von q bestimmt, und aus (61) folgt
für die Perihelbewegung des Planeten Merkur für
100 Erdjahre:
'/'ioo = ll.5", (65)
während der wahrscheinlichste Wert — wenn wir
auch die Andi n gsche Drehung des empirischen
Koordinatensystems von ca. 8" im Jahrhundert
berücksichtigen — ist i/^jog = 34" + 5", welcher
dreimal so groß ist als der Wert (65). Den Rest
von 23" können wir leicht mittels Newcomb')-
S ee liger sehen ^) intramerkurialen Massen er-
klären, welche im Zusammenbang mit Zodiakal-
licht sein dürfen. Hier muß ich aber betonen,
daß die Relation (62) vielleicht in keinem Zu-
sammenhang mit der hier entwickelten Theorie
ist; ihre Schönheit besteht darin, daß sie den
relativen Zeitbegriff und die vierdimensionale Raum-
Zeit-Mannigfaltigkeit nicht notwendig braucht, da
wir die §§ 4 u. 5 auch weglassen können. Es
genügt nur den Satz zu behalten, daß sich ein
Körper mit größerer Geschwindigkeit als Licht-
geschwindigkeit nicht bewegen kann. Da wir die
§§ 4 u. 5 weglassen könnten, so sehen wir, daß
die Relativitätstheorie im besten Falle
nur einen heuristischen Wert hat.
8. Uns wird nicht nur die Perihelbewegung
interessieren, sondern wir wollen auch die Planeten-
bahn um den zentralen Körper M näher be-
stimmen. Die Gleichung der Planetenbahn ist
durch (51) gegeben, welche wir noch in der Form
schreiben können:
r + R =
R
I -{- £ COS A (p'
(5, bis)
(66)
I -\- £ COi).<f
ist. Daraus sehen wir, daß die Planeten etwas
näher von der Sonne kreisen werden (wegen
größerer zentraler Krafi) als in der klassischen
') F. Tisserand, Traitt; de mecanique Celeste. T. IV,
pag. 539-
«) Vgl. 7.. R K. Wiechert, 1. c. S. 308.
■') E, Wiechert, 1. c. S, 31S,
Mechanik. Alle diese Entfernungen, wieviel die
Planeten sich jetzt der Sonne näher befinden, sind
Radiusvektoren einer Ellipse; die Sonne befindet
sich in einem Brennpunkte und der Parameter q
ist durch die Relation (53'''^) gegeben. Da für
kM
unsere Sonne — 5= 1,448 km ^) ist, so haben wir:
Co"
(. = 1,448 q km; _ (53^=)
auch für den extremen Wert q = 6 ist der Unter-
schied gegen die klassische Mechanik sehr klein.
Die Ellipse (66) hat dieselbe numerische Ex-
zentrizität wie die Ellipse (si*"'^) der klassischen
Mechanik, wo p = o ist. Wenn wir mit aj und
bj die große und kleine Achse der Ellipse (66)
bezeichnen, dann ist:
e = a](i — «'). (67)
und daraus, mit Rücksicht auf (48) und (52):
a -^a
l (68)
Der Parameter p ist unabhängig von
der Entfernung des Planeten von der
Sonne, d. h. alle Ellipsen (66) für verschiedene
Planeten werden konfokal sein und sie möchten
gehen durch zwei feste Punkte R = ?, (f ^
■1
und R = — Q, (p = 7t, wenn sich auch ihrer
Perihel nicht bewegen möchte. R wird alle Werte
zwischen . und — - — annehmen, wo immer
1 -f- f I — £
o <; £ <C I ist.
9. Unsere Theorie führt auch zur Ablenkung
des Lichtes in der Nähe der zentralen Masse M.
Man kann sehr leicht zeigen, daß hier nur das
erste Glied in (63), bzw. das erste und das zweite
Glied in (35) in Betracht kommen, welche ganz
unabhängig von jeder Voraussetzung sind; (das
zweite Glied in (63) ist gegen dem ersten ca.
millionmal kleiner), so daß wir für die Lichtab-
lenkung in der Entfernung r von dem Mittel-
punkte der Masse M bekommen werden:
T^ 2kM ,, .
K= -, , (69)
Cfl-r
d.h. wir bekommen nur dieHälfte desjenigen
Betrages, welchen uns die allgemeine Relativitäts-
theorie von A. Einstein gibt.') Diesen Betrag
(69) haben schon viele andere Autoren auf Grund
der Newton sehen Theorie gewonnen.''') Dieser
Wert ist auch wahrscheinlicher als der
zweifache von A. Einstein,^) wenn wir
noch die jährliche Refraktion von Courvoisier*)
') Da bei uns die Verzerrung des Raumes nicht in Be-
tracht kommt.
') Vgl. z. B. S. Mohorovicic, 1. c.
') Vgl. 2. B. A. Koppf, Grundzüge der Einsteinschen
KelalivitStstheorie. S. 178 ff. Leipzig 1921.
*) Th. Banachiewicz, Deflexione de radios de luce
per Sole. Circul. de rObservatoire de Cracovie. Nr. 10, 1921.
N. F. XXI. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
151
berücksichtigen, welche in der Nähe der Sonne
am größten ist. Es scheint, daß der Einst einsehe
Wert zu groß ist,') aber darüber kann man heute
noch nicht entscheiden; wir müssen die nächste
totale Sonnenfinsternis abwarten und was sehr
wichtig ist, solange die Frage der jähr-
lichen Refraktion nicht endgültig ge-
löst ist.-)
10. Unsere Theorie führt uns auch zur Rot-
verschiebung der Spektrallinien. Es genügt, wenn
wir von der Formel (35) für die Fortpflanzung
des Lichtes im Gravitationsfelde ausgehen, welche
wir in erster Annäherung in der Form schreiben
können:
^ = '^°(;-c7^r) (44)
und dies ist, wie wir 'schon betont haben, die
Einst einsehe Formel für die Fortpflanzung des
Lichtes in transversaler Richtung. Die Formel
(44) ist genügend, um auch ohne Relativisierung
der Zeit die Rotverschiebung der Spektrallinien
abzuleiten, wie ich dies auf eine sehr einfache
Weise in der zitierten Arbeit gezeigt habe. Auf
dieselbe Weise bekommen wir hier:
Jl kM
T--c~^7 (70)
d. h. dieselbe Verschiebung wie in der Ein-
st einschen Theorie. Hier ist l die Wellenlänge
und Jl die Differenz der Wellenlängen im Gravi-
tationsfeld und in unendlich großer Entfernung
(z. B. auf der Sonne und auf der Erde usw.).
11. Die hier entwickelte elementare Gravi-
tationstheorie führt uns noch zu einem sehr wich-
tigen Satz, welcher uns zuerst sehr überraschen
wird; aber er ist auch in einigen anderen Gravi-
tationstheorien enthalten. Die Beschleunigung,
welche die zentrale Masse (Sonne) M dem Planeten
m erteilt, ist durch (42) gegeben:
kM , k^VI^ , ^. ^
&M = -^ + q -T73 (42*"^)
r "-O '
daraus folgt, daß die zentrale Masse M den Planeten
m mit der Kraft
es ist:
/kM , k-M'n
FM = -m(^+q^ (49"
anzieht. Dagegen wird der Planet m der zentralen
Masse M in der Entfernung r die Beschleunigung
erteilen :
km
+ q
k-^r
(71)
d. h. der Planet m zieht die zentrale Masse M mit
der Kraft an:
„ -,/km , k-m'\ , ,
Fn. = -M(-^+q^^-^^,). (72)
Vergleichen wir die beiden Kräfte (72) und (49'''='),
so sehen wir, daß sie nicht gleich sind, sondern
') Vgl. z, B. E. Wiechert, 1. c. S. 319.
^) Vgl. z. B. B. Wanach, Die Polhöhenschwankungen.
Die Naturwissensch. 1919; Heft «6 u. 27.
FM-F„| = q
k-Mi
(M-m)=5; (73)
d. h. die Sonne M zieht den Planeten m
mit größerer Kraft, als der Planet die
Sonne (vorausgesetzt, daß M > m). In
unserer Theorie gilt das dritte New-
tonsche Gesetz von der Gleichheit der
Wirkung und Gegenwirkung nicht
mehr.') Ü wird zweimal den Wert Null über-
nehmen, und zwar für m = o und m = M; der
Wert von 2 ist aber sehr klein. Setzen wir
C|, = 00, so bekommen wir ä = o, d. h. das N e w-
tonsche Gesetz von der Gleichheit der Wirkung
und Gegenwirkung gilt erst in erster Annäherung,
da auch alle Formel unserer Theorie für c„ = 00
sich auf die Formel der klassischen Mechanik
reduzieren. Dieses Resultat (73) darf uns nicht
überraschen, da gerade das zweite Glied in der
Formel (49^'^) die Perihelbewegung verursacht.
Es wird nicht nur der Planet um den mit der
Sonne gemeinsamen Schwerpunkt kreisen, sondern
auch die Sonne, und der Perizenter ihrer Bahn
wird mit derselben Winkelgeschwindigkeit rotieren.
Wenn im Gegenteil das Aitraktionsgesetz gelten
möchte :
kmM , k-m'-^M" , ,
F' = --r-+q^27^. (74)
dann hätte auch das dritte Newtonsche Gesetz
seine Gültigkeit, aber die Perihelbewegung wäre
noch von der Planetenmasse abhängig, worüber
wir uns sehr leicht mittels Binetscher funda-
mentalen Relation (45) überzeugen könnten. Und
gerade deshalb können wir die Formel (74) nicht
übernehmen, sondern nur (49'''^) und (72), welche
gleichzeitig bestehen. Wir könnten noch sehr
leicht zeigen,-) daß ß ihr Maximum erreichen
wird, wenn
m = ^- M. (75)
Zu dem erwähnten Resultat führt auch die
Wiechertsche elektrodynamische Theorie der
Gravitation, da sein Potential (80) ^) wird, mit
Rücksicht auf seine Relation (95), die Form über-
nehmen:
kM . r- + 2£ k'-M- , ^,
-^ + -^ — ^rT72' (76)
<?v
wo wir eine additive Konstante nicht berück-
sichtigen werden. .Aus (70) und (63)' folgt:
q = — 2^
(77)
Das unsere und das Wiechertsche Potential
sind ganz ähnlich, und da
g=-,7' (78)
') Vielleicht ist dies die Ursarhe der An dingschen
Drehung des erwähnten eropiiischcn Koordinatensysti ms.
*) Wir brauchen nur (73) derivieren nach m und der
Null gleichsetzen.
^) E. Wiechert, L c.
152
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1 1
so besteht auch in seiner Theorie das dritte
Newtonsche Gesetz nicht mehr. Damit werde
ich mich nicht weiter befassen, aber es wäre sehr
wichtig darüber auch die anderen Gravitations-
theorien genau zu prüfen. In der neuesten Zeit
hat O. Wiener ') seine groß angelegte Kinematik
des Äther entwickelt, und er hebt bei seinen
positiven und negativen Massen hervor, daß dort
auch das dritte Newtonsche Gesetz von der
Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung viel-
leicht seine Gültigkeit verliert.
12. Die hier entwickelte elementare Theorie
der Gravitation erklärt uns nicht die Gravitation
und ihre Ursache, sondern sie beschreibt uns nur
die Vorgänge im Gravitationsfelde ähnlich wie
auch die Einst einsehe Theorie; sie zeichnet
sich aber durch ihre Einfachheit und Durch-
sichtigkeit aus. Sie führt uns zur Perihelbewegung
der Planeten, welche wahrscheinlich bei dem
Planeten Merkur nicht so groß ist, wie dies die
Einst einsehe Theorie verlangt. Und gerade
wurde dieses Resultat von den Relativitätstheo-
retikern am meisten hervorgehoben als besondere
experimentelle Bestätigung ihrer Theorie,'-) obwohl
die erhaltenen Werte für die Erde und Mars nicht
stimmten. Seinerzeit hat A. Hall eine Hypothese^)
hervorgebracht, welche man fast vergessen hat.
Er versuchte die Perihelbewegung der vier inneren
Planeten dadurch erklären, indem er folgendes
Attraktionsgesetz vorausgesetzt hat:
^ kMm , ,
^=^^' (79)
N = 2 + ff, (8o),
und für
<7 = o,ooo ooo 1 5 1 (8o).,
hat er folgende Perihelverschiebungen im Jahr-
hundert bekommen: Merkur 41", Venus 16", Erde
10" und Mars 5"; für die Verschiebung des
Perigeums unseres Mondes 140". Wir können
ganz offen sagen, daß diese Resultate mit der
Beobachtung vorzüglich übereinstimmen. Trotz-
dem bin ich überzeugt, daß uns solche Versuche
nicht befriedigen können, da sie nicht imstande
sind auch einige andere Vorgänge im Gravitations-
felde zu beschreiben oder eventuell erklären, so-
lange wir nicht berücksichtigen, daß
auch dem Licht Energie und schwere
Masse zukommt. Jetzt könnten wir auch die
') O. Wiener, Das Grundgesetz der Natur und die
Erhaltung der absoluten Geschwindigkeiten im Äther. Ab-
handl. d. math.phys. Kl. d. sächs. Akad. d. Wiss. XXXVIII. Bd.
Nr. IV, S. 42; Leipzig 1921.
-) In neuerer Zeit strüuben sich viele dagegen; so- sagt
z. H. F. Nölke (Das Pioblem der Entwicklung unseres Pla-
netensystems. S 3^q, Berlin 1919), wenn er über das Zodiakal-
licht spricht, wörtlich: ,,Ob die auf die Relativitätstheorie
sich giündende Einsteinsche Erklärung der Vorwärts-
bewegung des Merkurperihels zulässig ist, kann wegen des
problematischen Charakters, den die Theorie selbst noch be-
sitzt, vorläufig nicht entschieden werden."
') Vgl. z. K. V. Tisserand, 1. c. T. IV, S. 539.
Lichtablenkung wie in der Newton sehen Physik ')
ableiten, sowie die Verschiebung der Spektral-
linien.-) Solche Theorie ist aber nicht durch-
sichtig und wir sehen nicht die Ursache, warum
wir ein anderes Attraktionsgesetz annehmen müssen.
Aber auch unsere Theorie kann uns
vorläufig nicht ganz befriedigen, da
sie uns nicht die Gravitation erklärt.")
Sie sagt uns gar nichts darüber, mit welcher Ge-
schwindigkeit sich die Gravitation ausbreitet. In
der allerletzten Zeit sind darüber wichtige Fort-
schritte zu bezeichnen. Die Gravitation selbst
haben versucht P. Lenard,^) E. Wiechert'')
und O. Wiener") zu erklären. Schließlich dürfen
wir nicht den interessanten Versuch vonH. Fricke")
verschweigen, welche eine originelle Idee vorge-
bracht hat, „daß die Gravitationsfelder den gravi-
tierenden Massen dauernd Energie zuführen" und
diese Energie wird von der Materie in Form von
Wärme und Licht wieder ausgestrahlt. Aus allen
diesen Bemühungen tritt eines klar hervor, daß,
wie auch sich die Physik weiter ent-
wickeln wird und in irgendwelcher
Richtung ihre Entwicklung gehen wird,
wir ohne den Begriff des Weltäthers
kaum auskommen werden können. So
hat P. L e n a r d schon den Uräther **) eingeführt.
Solange G. Mie den Äther fast negiert") und
will die Materie als Knotenstellen der Energie
erklären, negiert H. Poincare*") die Materie und
nicht den Äther ; dagegen trachten O. Wiener")
mittels Wirbel zweiter Ordnung im Äther die
Materie zu konstruieren, welche dazu belebt wäre.
') Vgl. E. L i h o t z k y , Zur Frage der Verschiebung der
scheinbaren Fixsternorte in Sonnennähe. Physik. ZS. 1921,
S. 69 — 71 und dazu die Berichtigung von A. Koppf (ebenda
S. 495-496).
'-) S. Mohoroviöic, Die Rotverschiebung der Spektral-
linieü vom Standpunkte der Newtonschen Physik. Ann. d.
Physik (4) 66, 1921, 227—228. Siehe dann die zitierte Arbeit
in Naturwiss. Wochenschrift, wo ich dies ganz einfach ohne
jede Voraussetzung abgeleitet habe.
') Nach dem Abschluß der vorliegenden Arbeit habe ich
eine mechanische Erklärung der Gravitation gefunden.
*) P. Lenard: Über Äther und Materie. Heidelberg
191 1 ; dann, Über Relalivitätsprinzip, Äther, Gravitation. 3. Aufl.
Leipzig 1921.
■') E. Wiechert, 1. c.
") O. Wiener, 1. c.
') H. Fricke, Eine neue und einfache Deutung der
Schwerkraft und eine anschauliche Erklärung der Physik des
Raumes. Wolfenbüttel 1919.
*) P. Lenard, Über Äther und Uräther. Leipzig 1921.
") G. Mie, Die Einsteinsche Gravitationstheorie. Leipzig
1921. Er sagt (S. 27); ,,Auch in einem leeren, d. h. atom-
freien, Raum sind physikalische Ereignisse denkbar, d. h.;
Störungen seiner Homogenität . . ." und weiter; ,, Insofern das
Leere physikalisch existiert und Obj<-kt der Naturforschung
sein kann, nennen wir es auch noch heutigentags den Äther."
"*} H. Poincare, Die neue Mechanik. Leipzig und
Berlin 191S (3. Aufl.), wo er sagt (S. 21): ,,Man kann beinahe
sagen, es gibt keine Materie mehr, es gibt nur noch Löcher
im Äther; und soweit diese Löcher eine aktive Rolle zu
spielen scheinen, besteht sie darin, daß diese Locher ihren
Ort nicht verändern können, ohne den umgebenden .\ther zu
beeinflussen, der gegen dergleichen Veränderungen eine Reak-
tion ausübt."
"1 1. r.
N. F. XXI. Nr 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
153
Die Gravitation wäre eine Eigenschaft, welche
der Materie innewohnt, und welche sich unendlich
rasch fortpflanzt; es ist ihm auch gelungen das
Newtonsche Attraktionsgesetz mathematisch ab-
zuleiten. Seine groß angelegte Kinematik des
Äthers scheint mir als der bisher wichtigste Ver-
such einer einheitlichen Weltanschauung ') ; wenn
uns ihre weitere Entwicklung und Resultate be-
friedigen würden, so möchte sie das ganze Ge-
bäude der heutigen absoluten Theorie der Rela-
tivität zusammenstürzen. Der heutige Stand der
Entwicklung der Physik ist nur ein Übergang, es
ist wieder die Zeit der Skepsis -') und Solipsismus
gekommen; was sich aber aus allen diesen Be-
mühungen auskristallisieren wird ist uns noch
unbekannt. Wir können jetzt nur sagen, daß
jede Theorie, welche uns die anziehende, bzw.
abstoßende Kraft, und speziell die Gravitation
nicht erklärt — wie dies auch unsere Theorie,
sowie auch von rein physikalischem Standpunkte
die Einst einsehe Theorie nicht tat — , nur
einen vorübergehenden Charakter besitzt; ihr
Wert ist nur heuristischer und erkenntnistheore-
tischer Natur.^) Je einfacher solche Theorie
') Was z.B. O.Wiener von der Einsteinschen Rela-
tivitätstheorie hält, zeigen uns klar seine folgenden Worte (1. c.
S. 36): ,,Man stellt die Relativitätstheorie in ein ungünstiges
Licht, wenn man behauptet, sie begründe eine neue Welt-
anschauung. Denn gerade diese Behauptung ist es, die ihre
wahre Bedeutung verkennen läßt und ihr Verständnis er-
schwert hat."
^) Vgl. z.B. H. Dingler, Physik und Hypothese. Berlin
und Leipzig 1921, wo er fragt (S. 196): ,,Wie stehen wir
nach dem Resultat, daß keinerlei geformte P'.rkenntnis aus der
Realität entnommen werden kann, zu der Realität?" und er
antwortet: „Die Realität selbst hat keinerlei System in sich,
sie ist das unendlich vielgestaltige unaussprechliche Sein, das
durchaus in seiner Eigenart mir gegeben ist, mit dem ich un-
mittelbar verknüpft bin als ein Teil desselben."
**) In einer folgenden Arbeit gedenke ich eine elementare
Theorie des Äthers und eine mechanische Erklärung der
Gravitation mathematisch durchzuführen.
ist, um so willkommener ist sie uns, da mit Recht
E. Gehrcke') sagt: „Die Wahrheit über das
Wirkliche in der Natur kann nur eine sein,
während es logisch denkbare, d. h. widerspruch-
freie Möglichkeiten einer Natur viele gibt."
Zusammenfassung. Hier haben wir eine
elementare Theorie der Gravitation durchgeführt,
indem wir angenommen haben, daß vom mathe-
matischen Standpunkte die Beschleunigung und
Gravitation gleichwertig sind. Zuerst haben wir
den horizontalen Wurf im „konstanten" Gravi-
tationsfelde betrachtet, dann sind wir übergegangen
auf das zentrischsymmetrische Gravitationsfeld,
wo wir ein neues Attraktionsgesetz gefunden
haben. Folgerungen unserer Theorie: Perihel-
bewegung, Lichtablenkung, Rotverschiebung und
die Ungültigkeit des Gesetzes von der Gleichheit
der Wirkung und Gegenwirkung. Alle Bewegungs-
gesetze dieser Erscheinungen in der Newtonschen
Mechanik können wir aus den neuen Bewegungs-
gesetzen in erster Annäherung ableiten, indem wir
für die Lichtgeschwindigkeit einen unendlich
großen Wert annehmen. Um die Rechnung durch-
sichtig zu machen, sind wir ganz elementar vor-
gegangen, ohne den Zeitbegriff relativisieren zu
brauchen und die vierdimensionale Raum-Zeit-
Mannigfaltigkeit einzuführen, da wir die §§ 4 u. 5
auch weglassen könnten. Die einzige Voraus-
setzung war gerade, daß sich ein Körper im Räume
mit größerer Geschwindigkeit als Lichtgeschwindig-
keit nicht bewegen kann. Die hier entwickelte
Theorie hat vorläufig rein formalen Charakter, da
sie uns noch nicht die Gravitation erklärt — was
aber in der nächsten Arbeit gezeigt wird — ,
sondern sie beschreibt nur die Vorgänge, welche
sich im Gravitationsfelde abspielen.
') E. Gehrcke, Physik und Erkenntnistheorie. S. 3.
Leipzig und Berlin IQ2I. Gerade dieser Verfasser hat sehr
oft betont, daß jede Relativitätstheorie uns notwendig zu phy-
sikalischem Solipsismus führt.
Einzelberichte.
Treffsicherheit.
(Mit 2 Abbildungen.)
Der Augenblick zwischen Zielen und Treffen
gehört zu den verhängnisvollsten des menschlichen
Lebens. Tod oder Leben können, wie beim be-
rühmten Tellschuß, im Kriege, auf der Jagd von
ihm abhängen. Aber auch für zahlreiche lierufe,
für Feinmechaniker, Gravierer, Bildhauer, Maler
und Zeichner, ja Schreiber, ferner beim Nähen,
Sticken, Stricken, kurz bei fast allen Handarbeiten
ist gute Treffsicherheit das erste Mittel zum Er-
folge. Und doch sind wir über ihr Wesen und
ihre Art, ob und bis zu welchem Grade sie von dem
oder jenen überhaupt zu erreichen ist, ferner über
die günstigste Zeit und die Dauer des Treffen-
könnens noch sehr wenig unterrichtet. Jeder
Fortschritt, jede Erkenntnis auf diesem wichtigen
Arbeitsgebiet ist daher dankbar zu begrüßen. Der
Mensch ist nun einmal keine Maschine , sein
Arm, seine Hand keine Präzisionshebel, die nur
gehörig geschmiert, d. h. ernährt und fleißig geübt
werden, höchstens Nachts noch ihre ausreichende
Ruhe zur Beseitigung der giftigen Ermüdungs-
stoffe haben müssen. Wohl hat uns die Wissen-
schaft durch Erfindung von Ergographen- und
Plethysmographenapparaten bereits instand ge-
setzt, die Größe der Muskeltätigkeit und -ermüdung
während einer bestimmten Anstrengung zu prüfen,
aber zur Erforschung der Treffsicherheit genügte
das nicht. Immerhin lieferten die mit jenen
Apparaten von A. Mosso, E. Weber, Blix,
Weichard t und Hugo Lindner gemachten
Erfahrungen dem Erforscher der Treffsicherheit,
154
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1 1
Prof. Ernst Bresina in Wien, die unentbehr-
lichen Unterlagen. E. Weber fand, daß die vom
Plethysmographen gezeichnete absteigende Kurve
nach großer Ermüdung eines Körpergliedes viel
größere und gedrängter stehende Zacken als sonst
lieferte. Ferner fand er, daß, wenn nun z. B.
nach einem Dauerlauf kräftige Armbewegungen
vorgenommen wurden, die Kurve wieder normal
ward, d. h. daß die frisch zu arbeiten beginnenden
und reichlich blutdurchströmten Armmuskeln die
durch die Ermiidungsstoffe zusammengezogenen
Blutgefäße der Beinmuskeln " erweiterten , mit
frischem Blut füllten und so belebten, daß die
Ermüdungsstofife hinweggespült wurden. Beim
Ersinnen seines neuen Apparates ging nun Bre-
sina von der durch Pelnär, Piper u. a. er-
Abb. I. Der Palmograph von Ernst Bresina.
(Aus dem Archiv für Hygiene, Bd. Sg, 1920.)
In dem Holzbrett a das Zielloch b, c der Zielstift, d der
Rahmen, e das Stativ, f die vier Befestigungs-itellen des Draht-
kreuzes h, g der Aluminiumring darin, i die Befesligungsösen,
von denen aus der Faden k über Rollen zum Schreibhebel 1 führt.
wiesenen Tatsache aus, daß jene Zackenkurven
der Ausdruck von Zitterbewegungen sind, in denen
die Arme und Beine des Menschen acht bis drei-
zehnmal in der Sekunde in sehr kleinen Weilen
schwingen. Wodurch dieses Zittern der Muskeln
hervorgebracht wird, ist noch nicht ganz erforscht,
doch scheinen nicht nur die Beuge- und Streck-
muskelnerven daran beteiligt zu sein, sondern
hauptsächlich eine im Gehirn oder Rückenmark
liegende Zentralstelle. Bresina ging ferner da-
von aus, daß sein Apparat unter Benutzung jener
ZitterkurvenSchreibmethode nicht nur die gegen-
wärtige Ziel- und Treffsicherheit der geprüften
Personen selbst zeigen, sondern daß gleichzeitig
und umgekehrt durch die Art und Weise des
Zielens und Treffens die veränderten Zacken-
kurven verraten sollten, ob und wie sehr den
Prüfling eine kurze Zeit vorher getane Arbeit er-
müdet hatte.
Prof Bresina taufte seinen Apparat Palmo-
graph, zu deutsch etwa Zitterschreiber. Er be-
stand aus einem quadratischen, fensterrahmen-
artigen Holzgestell von 20 cm Seitenlänge mit
einem das Treffziel bedeutenden Loch in der
Mitte. An den vier Ecken des Rahmens waren
Haken zum Einhängen eines sonst freischweben-
den spiralfedernden Drahtkreuzes, dessen Mittel-
punkt, genau dem Rahmenloch gegenüber, 4 cm
von diesem entfernt war. In diese mittlere Draht-
kreuzungsstelle war ein Aluminiumring eingelassen,
durch den hindurch man das Loch zu treffen
suchen mußte. Als Zielinstrument diente ein
Hartgummistift, dessen Spitze genau in das Loch,
dessen Stielrund genau in den Aluminiumring
hineinpaßte. Hatte man gut gezielt, so traf der
Stift glatt in das Loch hinein, der Ring wurde
dabei in völlig gerader Richtung dem Loch ge-
nähert. Hatte man schlecht gezielt, so mußte die
Stiftspitze sich erst ihren Weg zu dem Loch
suchen, wobei der Ring des federnden Draht-
kreuzes mehr oder weniger zur Seite gedrückt
wurde, um nach Herausziehen des Stiftes wieder
in seine zentrale Lage zurückzuschnellen. Diese
vorübergehende Verschiebung ergab nach den
angestellten Versuchen einen vorzüglichen Grad-
messer der Treffsicherheit eines Stoßes und des
dabei von der betreffenden Person bekundeten
Ermüdungszitterns. Um letzteres graphisch durch
eine Zackenkurve auszudrücken, war oben an dem
Aluminiumring eine Schnur befestigt, die über
Rollen zu einem Schreibhebel führte, welch letz-
terer die Bewegungen des Ringes in vergrößertem
Maßstab auf einer Drehtrommel verzeichnete.
Damit das mehr oder weniger sichere Treffen
auch zeitlich wahrgenommen und geschätzt wer-
den konnte, führte von dem einen Pol eines
Akkumulators ein Kupferdraht von hinten in das
Zielloch, während von dem anderen Pol ein Draht
ausging, der über einen Leitungswiderstand durch
den Hartgummistift hindurch bis zu dessen Spitze
reichte. Bei jedem Treffversuch wurde so der
Stromkreis geschlossen und dies auf der Dreh-
trommel durch eine entsprechende Zacke ver-
zeichnet, die, ins Zeitliche übersetzt, von einer
Uhr mit Fünftelsekunden - Einteilung abgelesen
werden konnte. Der ganze Apparat stand , von
einem Stativ gehalten, so auf dem Tisch, daß der
Prüfling das Ziel etwas links in Augenhöhe vor
sich hatte, so daß die Rechte aus 2 cm Entfer-
nung mit dem Stift völlig frei und ungezwungen
nach dem vom Ring, wie gesagt, noch 4 cm ent-
fernten Loche zielen und stoßen konnte.
Die sechs Personen, vier männliche und zwei
weibliche, die Prof. Bresina für seine ersten
Versuche zur Verfügung hatte, standen im Alter
N. F. XXI. Nr. u
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»55
von i8 bis 44 Jahren. Jeder Versuch bestand
aus 10 bis 25 in ununterbrochener Reihenfolge
ausgeführten Stößen. Jeder konnte dabei das ihm
zusagende Tempo selbst wählen. Aus den vom
Apparat geschriebenen Kurven war nun deutlich
folgendes zu ersehen und zu vergleichen: die
Zeitdauer jedes Einzelstoßes, seine etwaige Rich-
tungsänderung, kenntlich an der Zahl seiner Zitter-
zacken, die Länge des Weges, den die Stiftspitze
vom Ring bis zum Loch zurückgelegt hatte, ferner
die Lage und Anordnung der Zacken zueinander
und im Vergleich zu einer durch ihre Mitte ge-
legten Kurvenlinie, endlich die Zahl der Zacken
und die Länge ihres Weges in je einer Sekunde.
Diese sieben IMerkmale und besonders die mittlere
Kurvenlinie waren nicht nur
bei jeder Person verschieden,
sondern von einer für letz-
tere charakteristischen Art
der Zusammensetzung und
Richtung. Da aber die Einzel-
stöße doch auch erhebliche
Schwankungen in der Treff-
sicherheit zeigten, wurde zur
summarischen Beurteilung
stets die Durchschnittszahl
je eines, wie gesagt, nur
aus 10 bis 25 Stößen be-
stehenden Versuches genom-
men. Bei dieser bescheide-
nen Anzahl war auch eine
Ermüdung der Personen
durch das leichte Zielen und
Stoßen selbst ausgeschlossen ;
die gewonnenen Resultate
geben daher ein getreues
Abbild der inneren Muskel-
und Nervenermüdung, aus-
gedrückt in der Größe und
Art der Treffsicherheit je
nach der kurz zuvor ge-
leisteten Größe und Art der
Arbeit. Als solche wurden
verrichtet Beugen und Strek-
ken bald leichter, bald
schwerer belasteter Arme,
Beugung des Schulter- und
Ellbogengelenkes durch Ge-
wichtsziehen mittels Schnur
über eine Rolle, Dynamo-
meterübungen und Holz-
sägen.
Ein Beispiel zeige, wie bei einem 44jährigen
mittelkräftigen Arzt das Gewichtheben auf die
Treffsicherheit wirkte. Vor Beginn betrug die,
immer aus je 8 bis 13 Stoßserien gewonnene Durch-
schnittszahl der Fehlstoßabweichungen 66,7, nach
400 maligem Gewichtheben von 4 kg 63,8, nach
Verdopplung der Hubanzahl 66,3, nach Verdrei-
fachung 63,7. Nach 10 Minuten Ruhe wurde die
Treffunsicherheit noch größer und stieg auf 72,5
Fehler, aber nach weiteren 60 Minnten Ruhe wurde
sogar die Anfangszahl mit 63,6 Fehlern unter-
boten: es hatte also eine Einarbeitung, eine innere
Festigung stattgefunden. Jetzt wurde das Gewicht
auf 5 kg erhöht, und hier vermehrten sich die
Fehler nach den ersten 400 Hebungen auf 77,8,
nach den zweiten auf 84,1, nach den dritten auf
92,6 Fehler. Aber, merkwürdig, nach weiteren
300 Hebungen von 6 kg stieg diese Zahl nicht
weiter, sondern sank auf 90,7. An einem anderen
Tage betrugen bei demselben Herrn die Fehl-
stöße vor dem Heben 69,1, nach den ersten 400
n^i*- 5 ^S 54.6> nach den zweiten 400 = 62,4 und
nach weiteren 200 mit 6 kg 69,8, d. h. fast genau
so viel wie vor Beginn des ganzen Hebens. Nach
ihm völlig ungewohnten Holzsägen stieg die Zahl
Abb. 2.
Charakteristische Kurven des Ermüdungszilterns und der dadurch bedingten Treffsicher-
heit am Palmographen, links vor der Arbeit, rechts nach der Arbeit; oben von einem
44jährigen mittelkräftigen Arzt, mitten von einem sehr kräftigen 18jährigen Studenten,
unten von einem 54 jährigen Schmied.
(Aus dem Archiv für Hygiene, Bd. Hg, 1920, R. Oldenbourg in München.)
der Fehler um 122, sie überstieg auch nach 10
Minuten Ruhe die Anfangsziffer noch um 69. Bei
jeder Person läßt sich so für jede Arbeit am
Palmographen das zusagende spezielle Durch-
schnittsgewicht der zu bewegenden Last ermitteln
aus der Zahl der gemachten Treffer oder Nieten.
Erhöhung des Tempos einer Arbeit wirkt genau
so, als wäre das Gewicht entsprechend erhöht
worden. In einzelnen Fällen wurden merkwürdiger-
weise die Treffer nicht sofort nach Beendigung
156
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. II
der Arbeit weniger, sondern erst nach lO Minuten.
Ferner kann man beobachten, daß die nach Ruhe
von einer schweren Arbeit auf das normale Maß
gesunkenen Treffehler sogleich sich unverhältnis-
mäßig zu häufen beginnen, wenn zwischendrein
eine kleine leichte Arbeit verrichtet wird, eine
Erscheinung, die besonders deutlich eine tiefere,
innerlich nicht überwundene und daher ernstlich
durch ungestörtes Ausruhen zu berücksichtigende
Übermüdung verrät. Sie zeigte sich z. B. einmal
an zwei jungen Versuchspersonen, die dann trotz
der ganz leichten Zwischenbeschäftigung plötzlich
erklärten, sie jetzt unter keinen Umständen weiter
fortsetzen zu können. Ferner, wenn die nach
Muskelarbeit gestiegene Zahl der Nieten in der
Ruhezeit sinkt, so sinkt sie nicht selten unter die
vor der Muskelarbeit erreichte Zahl. Da nun in
solchen Fällen gerade die meisten und besten
überhaupt beobachteten Treffer vorkamen, so dürfte
hier eine von B r e s i n a noch nicht näher erforschte
wichtige gesetzmäßige Erscheinung körperlicher
Erholung verborgen sein. Die Treffsicherheit der
rechten Hand wurde andererseits ganz im gleichen
Maße vermindert, mochte sie selbst die Arbeit,
oder mochte die Linke oder die Füße z. B. durch
Marschieren oder Treppensteigen sie verrichtet
haben. Die an i6 Arbeitern und Arbeiterinnen
einer Floridsdorfer Maschinenfabrik vor und nach
der Arbeit beobachteten Treffversuche bestätigten
durchaus die bisher gewonnenen Erfahrungen.
Was die Beschäftigungsart betrifft, so lieferten an
Durchschnittsnieten vor der Arbeit die Schmiede
und Schlosser 73,7, nach der Arbeit 86,3, die
Former und Gießer 78,6 bzw. 80,7, andere Arbeiter
86,5 bzw. 80,8. Auch das Alter drückte sich im
Ermüdungszittern und dadurch bedingten Treffen
des Zieles aus: vor der Arbeit leisteten an Nicht-
treffern die über 45 Jahre alten Arbeiter 88,7,
nach der Arbeit 102,0, die zwischen 38 und 45
Jahren stehenden 79,5 bzw. 75,0, die unter 38 Jah-
ren 75,4 bzw. 79,0 Nieten.
Der Palmograph belehrt uns also, wie wir
gesehen haben, im negativen Sinne darüber, welche
Mengen einer bestimmten Arbeit unser Ermüdungs-
zittern mehr oder weniger steigern; im positiven
Sinne darüber, wie wir die Grenzen unserer Treff-
sicherheit im allgemeinen erkennen, ferner die
günstigste Zeit für unser persönliches treffsicheres
Arbeiten ermitteln und wie wir unsere erworbene
Treffsicherheit durch ein bestimmtes Maß gewisser
Muskelarbeiten für einen gerade beabsichtigten
einmaligen Zweck oder dauernd, wenn auch nicht
immer steigern, so doch auf einer notwendigen
Höhe erhalten können.
Beim Prüfen durch den Palmograph war, wie
gesagt, das Zielen und Treffen selbst mit fast
keiner Anstrengung verbunden: außer den wenig
beanspruchten Muskeln des rechten Armes waren
nur die der Augen beschäftigt. Das ist im prak-
tischen Leben oft anders, hier kommt durch die
Art und Länge der augenblicklichen Arbeit meistens
eine sich stetig vergrößernde, die Treffsicherheit
allmählich herabsetzende Anstrengung und Er-
müdung aller möglichen Muskeln hinzu. Nun
wissen wir ja wohl, daß es ganz gleichgültig ist,
durch welchen Körperteil das Ermüdungszittern
hervorgerufen wird, da es sich stets sehr bald
dem ganzen Körper mitteilt. Aber da die Muskeln
durch ihre Eigenschaft als Hebel physikalischen
Gesetzen unterworfen sind, so werden natürlich
größere Neigungswinkel beim Bewegen z. B. der
großen Halsmuskeln auch größere Ermüdung und
Treffunsicherheit hervorrufen, als wenn sich nur
kleinere Muskeln anstrengen. Ein lehrreiches Bei-
spiel lieferte Ernst Haase, das er kürzlich in
der Zeitschrift für pädagogische Psychologie be-
schrieb, durch sein Studium an 373 zehn- bis
vierzehnjährigen Schülern und Schülerinnen über
deren Treffsicherheit im Abzeichnen verschie-
dener Winkel von der Wandtafel. Die Kinder
sollten von ihren Bankplätzen aus zwölf mit
der Schenkelöffnung bald nach oben, bald nach
unten, bald schräg nach rechts, bald nach
links gerichtete Winkel von 45 bis 90 Grad
mit Lineal und Bleistift nachzeichnen. Bei der
Beurteilung der 4398 gezeichneten Winkelbilder
auf ihre richtige Schenkelöffnung hin wurden die
gemachten Treffehler gruppenweise in leichtere,
mittlere und schwerere geteilt und die Entfernung
der Zeichenplätze von der Wandtafel berücksich-
tigt. Diese betrug für die Abteilung der Vorder-
plätze höchstens 4,20 m, für die der Hinterplätze
mindestens 5,75 m. Die Treffsicherheit im ganzen
war bei den auf den vorderen und hinteren Bän-
ken sitzenden Knaben gleich groß, nämlich 38 %;
bei den Mädchen erzielten die auf den vorderen
3i"/(,, die auf den hinteren 32 "/q Treffer. Be-
trachtet man aber nur die schweren Verschätz-
ungen, so schnitten Knaben und Mädchen auf
den Hinterbänken wesentlich besser ab: diese
Knaben hatten nur 7 "Z^, die Mädchen nur 9 "/(,
Treffehler, während die auf den vorderen 9 "j^
bzw. 12 "/o zeigten. Es stellte sich heraus, daß
beim Abzeichnen von den Hinterplätzen aus die
Bewegung der größeren Muskeln des Nackens und
Halses z. T. ganz bedeutend kleiner zu sein
brauchte als vorn. Die Quelle des Ermüdungs-
zitterns und der Treffunsicherheit war also einerseits
die , daß jene Großmuskeln verschieden lange
Wege zurückzulegen hatten. Gegen Ende der
Stunde mußten jedoch die auf den Hinterplätzen
andererseits ihre kleinen Augenmuskeln mehr an-
strengen, wodurch ihnen ihr Vorsprung vor den
Kameraden der Vorderplätze geraubt wurde.
H. Radestock.
Sprun^hnt'te Vergrößerung der geographischen
Breite.
In der zweiten Hälfte des Jahres 192 1 hat eine
solche in Mitteleuropa nach übereinstimmenden Be-
obachtungen von Schnauder in Potsdam, Cour-
voisier in Neubabelsberg und Boccardi in
Pino Torinese um nahezu eine halbe Bogensekunde
N. F. XXI. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
stattgefunden. Sollte auf dem gegenüberliegenden
Meridian eine ebensogroße Verminderung der
Breite festgestellt werden, so würde damit eine
Verlagerung der Erdachse um rund 15 m erwiesen
sein, für die vorläufig eine Ursache nicht ange-
geben werden kann. Jedenfalls wird eine Neu-
bestimmung der Breiten in verschiedenen Längen
zunächst volle Klarheit darüber bringen müssen,
ob diese von der Theorie nicht vorausgesehene
Verlagerung der Erdachse wirklich stattgefunden
hat, oder ob andere Ursachen für die in Mittel-
europa beobachtete Breitenzunahme zu suchen
sind. F. Kbr.
tiber die Mächtigkeit des uordischeu Inland-
eises in Sclilesien.
Auf dem letzten internationalen geologischen
Kongreß zu Stockholm im Jahre 1910 wurde auch
über die Mächtigkeit des europäischen Inlandeises
verhandelt. F. Frech führte damals aus, daß
die vereinzelten nordischen Geschiebe, die sich
am Rande der Sudeten mitunter noch in Höhen
von 555 m, z. B. bei Gottesberg im Waldenburger
Gebirge finden, uns durchaus noch nicht berech-
tigen, diese Höhenlage ohne weiteres der Dicke
des nordischen Inlandeises gleichzusetzen.') Für
die Bestimmung der Mächtigkeit des einstigen In-
landeises sind vielmehr vor allem die sog. Nuna-
takkar maßgebend. Nach den Untersuchungen
von Frech sollte nun neben dem Zobten auch
die ungefähr 60 m hohe Gipfelkuppe des Rum-
melsberges südlich von Strehlen als Nunatak die
Inlandeisdecke überragt haben. P"rech konnte
nämlich auf dem stark verwitterten Gipfel dieses
fast 400 m hohen Berges keine nordischen Ge-
schiebe mehr feststellen, wohl aber eine aus Quar-
zitgeröUen bestehende Lokalmoräne. Auch die
eigenartige, nach Norden ziemlich steil abfallende
Bergspitze sollte dafür sprechen, daß der Gipfel
vom Eisstrom nicht mehr erreicht wurde. Auf
Grund dieser Erscheinungen schätzte Frech die
Mächtigkeit des nordischen Landeises im mittelsten
Schlesien auf höchstens 200 m.
Nun ist in den letzten Jahren das Rummels-
berggebiet geologisch aufgenommen worden und
es verdient hervorgehoben zu werden, daß Landes-
geologe J. Behr der im vorstehenden dargelegten
Ansicht von Frech nicht beipflichten kann.-)
Nordische Geschiebe beobachtete Behr noch in
einer Höhe von 320 m und große Quarzitbiöcke
kommen selbst noch auf dem aus Granit be-
stehenden Gipfel vor, wohin sie nur durch das
nordische Eis gebracht worden sein können.
Außerdem konnte B. in dem am Ostabhange des
') Vgl. F. Frech, Über die Mächtigkeit des europäischen
Inlandeises und das Klima der Interglazialzeilen. Congres
geologique intern. Stockholm 1910. — Vgl. auch Frech u.
Kampers, Schlesische Landeskunde I. Bd., S. 86.
'-) Vgl. J. Behr, Erläuterungen zur Geolog. Karte von
Preuflen. Blatt Strehlen. Berlin 1921.
Berges anstehenden Ouarzit in 230 m Höhe einen
ganz vorzüglich ausgebildeten Gletschertopf fest-
stellen, dessen Bildung bei einem Durchmesser
von 12 m und einer größten Tiefe von 4 1/, m
eine ganz gewaltige Kraft des Eises voraussetzt. *)
Da im übrigen am benachbarten Zobten die Ober-
kante des Eises sicher bis 500 m heraufging,
so wäre es auch zum mindesten sehr unwahr-
scheinlich, wenn das Eis am Rummelsberg nie-
driger gestanden hätte. Behr kommt nach diesen
Beobachtungen und Erwägungen zu folgendem
Ergebnis : „Wenn also auch die Tätigkeit des In-
landeises unmittelbar auf der höchsten Erhebung
nicht nachzuweisen ist, so liegen doch Zeugen in
so geringer Entfernung davon, daß kein stich-
haltiger Grund zur Annahme eines Nunatakers
besteht."
Tiergeographische Tatsachen, die z. B. für den
Zobten den Nunatakcharakter bezeugen, wie das
vereinzehe Vorkommen von Patula solaria-)
sind vom Rummelsberg nicht bekannt, auch kaum
zu erhoffen. So ist nur von der weiteren geo-
logischen Aufnahme des Vorlandes der Sudeten
eine endgültige Klärung dieser nicht unwichtigen
hVage zu erwarten.
E. Schalow (Breslau).
Epithelkörpei'verplianzung bei postoperativer
Tetanie.
Bekanntlich sind die nach Kropfoperationen
manchmal zu beobachtenden krampfartigen Zu-
stände — die sog. postoperative Tetanie — auf
den Verlust der Epithelkörperchen zurückzuführen,
die mit der Schilddrüse zusammen entfernt wor-
den sind. Gelegentlich treten nach der Exstir-
pation Spannungsgefühle in den Händen oder
auch in den Füßen auf, die mit großen Schmer-
zen verbunden sein können und bis zum Starr-
krampf führen. Die Anfälle wiederholen sich oft
nicht wieder, können aber auch in rascher Folge
auftreten und schließlich den Tod herbeiführen.
Da man die Ursache dieser postoperativen Er-
scheinungen kennt, sucht man möglichst den
Verlust der Epithelkörperchen zu vermeiden.
Doch stehen dabei dem Kropfoperateur große
Schwierigkeiten im Wege. Zunächst sind die
Epithelkörperchen sehr schwer aufzufinden; ferner
sind die winzigen Drüsen während der Operation
leicht Schädigungen ausgesetzt, vor allem durch
die Unterbindung der Arteria thyreoidea inferior,
die zur Verringerung der Blutung vorgenommen
werden muß. Schließlich aber ist die Entfernung
der Epithelkörperchen bei Radikaloperationen gar
nicht zu vermeiden. So kommt es, daß die post-
operative Tetanie immer noch hier und da auf-
tritt. Durch die Kenntnis der Ursache ist man
') Vgl. J. Behr, Über Glazialerscheinungen am Rum-
melsberg in Schlesien. Jahrb. Preuß. Geol. Landesanstalt.
Berlin 1911.
-) Vgl. F. Fax, Tierwelt Schlesiens. Jena 1921.
158
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1 1
jedoch in die Lage versetzt, entsprechende Gegen-
maßregeln zu ergreifen.
Immer mehr macht sich als wirksames Mittel
die Verpflanzung der Epithelkörperchen geltend.
Mit neuen Erfahrungen ausgerüstet empfiehlt
E. Borchers in einer dieses wichtige Gebiet
der modernen Chirurgie eingehend behandelnden
Arbeit über „Epiihelkörperverpflanzung bei post-
operativer Tetanie" '] die Methode der Organ-
transplantation. Borchers stützt sich vor allem
auf fünf Fälle von postoperativer Tetanie aus den
letzten Jahren in der Tübinger Chirurgischen
Klinik (Prof Perthes). Es wurden darunter ein
Mißerfolg, zwei teilweise Erfolge und zwei Dauer-
erfolge beobachtet. Im ersten F"all stellten sich
in Zwischenräumen von ca. i Jahr schwere Rück-
fälle ein; in den beiden weiteren Fällen waren
nur noch leichte Spannungsgefühle in den Finger-
muskeln und Trübung der Augenlinsen, nur wäh-
rend der Menses leichte Krampferscheinungen zu
beobachten. In den beiden letzten Fällen wurden
die Patienten als geheilt betrachtet. Wenn die
Verpflanzung auch nicht von unbedingtem Erfolg
ist, so ist doch das zeitweilige Gelingen der Me-
thode dankbar zu begrüßen, zumal man mit an-
deren Methoden ähnliche Ergebnisse nicht fest-
stellen konnte. Gegenüber dem Versagen der
') Münchener Medizinische Wochenschrift Nr. 50, 68. Jahrg.
Substitutionstherapie bezeichnet Borchers die
Epithelkörpertransplantation „als das
Normal verfahren in der Behandlung
der postoperativen Tetanie". Die bis-
herigen Mißerfolge anderer Autoren können auf
Irrtümer in der Bestimmung der Epithelkörper-
chen zurückzuführen sein, die zur Transplantation
verwendet wurden. Borchers weist deshalb
darauf hin, daß nur eine genaue histologische
Untersuchung der Epithelkörperchen vor Ver-
wechslungen schützen kann. Um die bei Men-
struation und Gravidität leicht auftretenden Rück-
fälle zu vermeiden, empfiehlt Borchers die
Sterilisation aller Frauen mit chronisch exazerbie-
render postoperativer Tetanie.
Trotz mancher Schwierigkeiten , die sich bei
der Organverpflanzung nicht vermeiden lassen, ist
gegen die große Bedeutung der Epithelkörper-
transplantation nichts einzuwenden. Sehr treffend
sagt E. Frank in einer Übersicht über „das
Tetaniesyndrom und seine Pathogenese":*) „Die
neuerdings von Borchers und Eiseisberg
gemeldeten Erfolge, die wenigstens die Tetanie
auf den Zustand der latenten, nur selten und dann
milde aufflackernden Diathese zurückbrachten,
warnen vor übertriebener Skepsis."
Gustav Zeuner.
') Klinische Wochenschrift Nr. 7, l. Jahrg., 1922,
Bücherbesprechungen.
Nippoldt, A., Erdmagnetismus, Erdstrom
und Polarlicht. Sammlung Göschen Nr. 175.
Dritte, verbesserte Aufl. 135 S. mit 7 Tafeln
und 18 I'^g. im Text. Berlin und Leipzig 1921,
Vereinigung wissenschaftl. Verleger. — Preis 6 M.
Das vorliegende Bändchen gibt einen vor-
trefflichen Einblick in die außerordentlich inter-
essanten, allerdings großenteils noch wenig
gelösten Fragen der elektromagnetischen solar-
terrestrischen Vorgänge, die für uns im Erd-
magnetismus und den verschiedenen Arten seiner
Variation, in den Erdströmen der festen Rinde
und der Atmosphäre und im Polarlicht in die
Erscheinung treten.
Als Lamont im Jahre 1851 das erste volks-
tümliche Werk über den Erdmagnetismus schrieb,
mußte er sich auf die Mitteilung von Beobachtungs-
ergebnissen beschränken und die P'rage nach
deren physikalischen Ursachen und etwaigem
inneren Zusammenhang völlig offen lassen. Auch
die I. Auflage dieses Bändchens aus dem Jahre
1903 ließ nur in Bezug auf das Polarlicht eine
merkliche Förderung unseres Verständnisses des
Erscheinungsgebiets erkennen. Das in der neuesten
gegenwärtigen Auflage gezeichnete Bild ist un-
verkennbar vollständiger. Als wesentliche Ur-
sachen der geophysikalischen Vorgänge kennen
wir jetzt nach den Untersuchungen von Birke-
land und Störmer die elektrische Strahlung
der Sonne und den von Haie entdeckten Sonnen-
magnetismus. Damit ist allerdings erst eine
breitere Grundlage für weiteres Eindringen ge-
schaffen, das noch der Zukunft vorbehalten ist.
A. Becker.
Kayser, E., Lehrbuch der Geologie. All-
gemeine Geologie, i. u. 2. Bd., 6. vermehrte Aufl.
Stuttgart 192 1, F. Enke.
Vor nicht langer Zeit erst wurde die fünfte
Auflage dieses umfangreichen und allbekannten
Werkes hier besprochen. Dem damals Gesagten
ist nicht viel nachzutragen. Das äußerliche Ge-
wand des „Großen Kayser" hat sich erheblich
geändert; der ständig anwachsende Stoff gab
den Anlaß, ihn nun in vier Bänden erscheinen zu
lassen an Stelle der bisherigen zwei. Die „Allge-
meine Geologie", die jetzt in sechster Auflage vor-
liegt, ist behandelt im ersten Bande, der Physio-
graphische Geologie und Äußere Dynamik, und
im zweiten Bande, der die Innere Dynamik bringt.
Der Umfang ist wiederum angeschwollen, damit
auch der Preis, der nur für diese ersten beiden
Bände schon über 200 M. beträgt.
Verbesserungen zeigen der petrographische Ab-
schnitt, der eine den modernen Anschauungen
entsprechende Umarbeitung erfuhr; die geologische
N. F. XXI. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
159
Bedeutung der Klimate, Tiefeneruptionen und Erd-
beben wurden ausführlicher behandelt; als neues
Kapitel wurde die Bodenbildung zugefügt.
Bei einer weiteren Auflage wäre zu erwägen,
ob nicht an Stelle der bei einigen Kapiteln einge-
streuten Referate über neuere Arbeiten, die sich
nicht immer recht harmonisch dem übrigen Texte
einfügen, einheitlich gegossene Durcharbeitungen
nach umfassenden Gesichtspunkten eintreten sollten.
Dann könnten auch manche Ausführungen, die
die moderne Geologie überholt hat, erbarmungslos
ausgeschaltet werden. Nicht nur Fülle der Einzel-
heiten ist erstrebenswert, sondern vor allem Hervor-
hebung der großen, für die Zukunft weiterführen-
den Gedankengänge in der Geologie. Krenkel.
Hansen, Adolf (f), Die Pflanzendecke der
Erde. Eine allgemeine Pflanzengeographie.
Mit I Karte und 24 Abbildungen. 276 S.
Bibliographisches Institut 1920.
Das Buch stellt einen Auszug aus dem 3. Bande
des von ihm neubearbeiteten Kern ersehen
„Pflanzenlebens" dar, dazu bestimmt, die allge-
mein interessierende Pflanzengeographie in kurzer
handlicher Form weiteren Kreisen von Bildungs-
bedürftigen zugänglich zu machen.
In einem 50 Seiten umfassenden einleitenden
Teil, der neu für diese Ausgabe geschrieben ist,
werden allgemeine pflanzengeographische Gesichts-
punkte in sehr anziehender Weise erörtert. Nach
einem kurzen historischen Abriß werden die Ent-
stehung der Flora, ihre Veränderungen im J^aufe
der Zeiten, ihre Beeinflussung durch den Boden,
das Klima, den Menschen besprochen — den Un-
kräutern, der Herkunft und Verbreitung der Kultur-
pflanzen ist ein besonderes Kapitel gewidmet.
Der spezielle Teil schildert die einzelnen
Florengebiete, beschreibt die ihnen eigentümlichen
Verhältnisse, ihre Charakierpflanzen, wobei die
anschauliche Schilderung von einer Anzahl guter
Vegetationsbilder unterstützt wird. In einem
2 Seiten umfassenden Verzeichnis ist zum Schluß
die wichtigste pflanzengeographische Literatur
zusammengestellt.
Einen kurzen Abriß der Pflanzengeographie
für weitere Kreise wollte der Verf. schaffen, diese
Aufgabe ist ihm glänzend gelungen. Ihm selbst
war es nicht mehr vergönnt, das Erscheinen des
Buches zu erleben, so hat denn G. Funk nach
dem am 24. Juli 1920 erfolgten Tode Hansens
die letzte Feile angelegt. Burret (Berlin).
Scherzer, Hans, Erd- und pflanzenge-
schichtliche Wanderungen durchs
F' ranken land. i. Teil: Die Keuper- und
Muschelkalklandschaft. Mit zahlreichen Natur-
aufnahmen, Profilen und einer geologischen
Tabelle. 184 S. Wunsiedel 1920, Gg. Kohler.
Geb. 42 M.
Ein prächtiger „Naturführer" durch die Keuper-
und Muschelkalklandschaft des bayrischen Fran-
kens, der allerdings nur die botanischen und geo-
logischen Verhältnisse berücksichtigt. Besonders
eingehend werden geschildert die Gegend um
Nürnberg, um Erlangen, der Zenn- und Bibert-
grund, der Aischgrund, die F"rankenhöhe, der
Schwanberg bei Iphofen, der Maingau (Grett-
stadter Wiesen !), die Gegend um Rothenburg o. T.
Überall wird der enge Zusammenhang zwischen
geologischer Unterlage und Pflanzenwelt hervor-
gehoben. Gut ausgewählte Skizzen von geologi-
schen Profilen, sowie Naturaufnahmen ergänzen
den flüssig geschriebenen Text aufs beste. Dem
Botaniker, insbesondere dem Pflanzengeographen,
werden die langen, ausführlichen Pflanzenlisten
viel Freude machen, wenn auch ab und zu die
lateinischen Pflanzennamen nicht ganz korrekt
wiedergegeben sind. Schade ist, daß der Verf.
die wichtigen Arbeiten von Süßenguth (Ideen
zur Pflanzengeographie Unterfrankens in Ber.
Bayr. Botan. Gesellsch. 15 [191 5]. 255—294) und
E. Pritzel (Die Grettstadter Wiesen in Ber. d.
freien Vereinig, f. Pflanzengeogr. u. System. Botanik,
1919, 83 — lOö) nicht benutzt hat bzw. nicht mehr
benutzen konnte. Hoffentlich erscheint der 2. Teil,
der die jurassischen und nachjurassischen Bildun-
gen behandeln soll, in nicht allzu ferner Zeit.
Marzell.
Cloos, H. und Meister, E., Bau und Boden-
schätze Osteuropas. Veröffentlichungen
des Osteuropa-Instituts in Breslau. Leipzig 1921,
B. G. Teubner.
Die Beschäftigung mit der Geologie Rußlands
war für den Geologen, der der russischen Sprache
nicht mächtig war, bisher mit den größten
Schwierigkeiten verknüpft. Vieles aus der reichen
russischen geologischen Literatur mußte ungenutzt
bleiben. Es ist deshalb mit F"reude zu begrüßen,
daß in dem vorliegenden Werke diesem sehr fühl-
baren Mangel abgeholfen wird, das nicht nur Ruß-
land, sondern auch Galizien, Rumänien und Ungarn,
wenn diese letzteren drei auch in kürzester Form,
behandelt.
Nach einem erdgeschichtlichen Überblick wer-
den die größeren geologischen Regionen (z. B.
Finnland, Donetzgebiet, Ural, Kaukas-is) nach ihrem
Bau und mit ihren Bodenschätzen an Erzen, Kohlen,
Salz, Erdöl dargestellt. Vor allem diese praktischen
Angaben machen das Werk zu einem unentbehr-
lichen Hilfsmittel für die Beschäftigung mit den
geologischen Verhältnissen Osteuropas. Es zeigt
so recht, wie reich an natürlichen Hilfsquellen
gerade Rußland ist, und welche Möglichkeiten
zu einer geologischen und bergmännischen Auf-
schließung hier noch vorliegen. Eine von
S. V. Bubnoff bearbeitete schöne Strukturenkarte
von Osteuropa ist beigefügt. Krenkel.
Walte, Wilhelm, Einstein, Michelson,
Newton, Die Relativitätstheorie,
Wahrheit und Irrtum. 47 S. Hamburg
192 1, W. Gente.
Der Verf. bemüht sich zu zeigen, daß Ein-
i6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1 1
Steins Formeln der Wirklichkeit nicht ent-
sprechen, daß man vielmehr zu New tons Licht-
theorie zurückkehren müsse, da unsere Elektronen
dasselbe sind, wie Newtons Lichtpartikeln. Der
Äther ist demnach nichts anderes als ein den
Raum füllendes IVleer von Elektronen, deren Druck
auch die Gravitation hervorbringt. Die von der
Sonne ausgehenden, die Erde treffenden Elektronen
üben aber keine solche Stoßwirkung aus, sondern
werden in Wärme umgesetzt, so daß also diese
Erwärmung der Erde die Erde an die Sonne
kettet, indem nur die von außen kommenden
Elektronen die Gravitationswirkung ausüben. Es
läßt sich auch so die Entstehung und Lage der
Kometenschweife erklären. Es erscheint das
Gravitationsgesetz in der Form, daß die Anziehung
des ersten Körpers von der Masse des zweiten
abhängt. Hieraus vermag der Verf. auch die Er-
scheinungen der Gravitationsfelder zu erklären,
und zeigt, daß diese in der Nähe glühender Massen
besondere Eigenschaften haben, die sich z. B. in
der Bewegung des Merkurperihels äußern. Das
Heft ist ein geistvoller Versuch zur Lösung des
Äther- und Gravitationsproblems in einer dem
Einst einschen entgegengesetzten Sinne.
Riem.
Schwassmann, Arnold, Relativitätstheorie
und Astronomie. 34 S. mit 15 Fig. Ham-
burg 192 1, Henri Grand. Geh. 4 M.
^ ^Das Heft ist ein Sonderabdruck aus der neuen
24. Auflage von Diesterwegs populärer
Himmelskunde und behandelt darum die wichtigen
Beziehungen der Theorie zur Astronomie, aus-
gehend von der Deutung des Michelsonschen
Versuches durch Loren tz und dem daraus
folgenden Einst einschen Prinzip der Konstanz
der Lichtgeschwindigkeit in bewegten oder ruhen-
den Systemen, und weiterhin dem Äquivalenz-
prinzip. Die Darstellung ist sehr klar. Der Verf.
hält diese Theorie für erwiesen auf Grund der
Beobachtungen an der Sonnenfinsternis und der
Rotverschiebung, sowie der Perihelbewegung des
Merkur, ein Material, das man jetzt anders be-
wertet; besonders die von Schwaßmann ange-
führten Messungen von Grebe sind als falsch
von Lenard und Glaser erwiesen. Sehr an-
schaulich sind die Darlegungen des Einflusses der
Rel. Th. auf die Raumanschauung, auf die Gravi-
tationslheorie und die Kosmologie, so daß sich
das kleine Heft sehr vorteilhaft von den zahllosen
Arbeiten anderer über dies Thema abhebt.
Riem.
Anregungen und Antworten.
Homöopathie und allgemeine Physiologie. In Heft 44
der Naturw. Wochenschr. 1921 bricht Herr Dr. med. Tisch -
ner eine Lanze für die wissenschaftliche Berechtigung der
Homöopathie. Seine Worte sind aber seitens der Physiologie
nicht stichhaltig — von Therapie und ,, Heilerfolgen" will ich
nicht reden. T. beruft sich auf das ,, biologische Grund-
gesetz", dafl schwache Reize förderlich, starke schädlich wir-
ken. In der Mehrzahl der Fälle wird es sich dann aber wohl
um die Häufung bzw. die Übertreibung der Wirkung handeln,
nicht um die von der Homöopathie behauptete ,, Umkehr der
Wirkung". Essen ist notwendig, Zuvielessen ist ungesund —
aber das ist keine Stütze iür den Grundlehrsatz der Homöo-
pathie. Nach diesem müßte es kein besseres Schlafmittel
geben als Kaffee oder Tee in äußerster Verdünnung, kein
besseres Mittel gegen die Wirkungen des Alkoholismus als
stark verdünnten Alkohol. Die Physiologie lehrt ja gerade,
daß die Giftwirkung streng quantitativ verläuft: x mg
Gift töten I kg Lebendgewicht. Darum ist es im höchsten
Grade zweifelhaft, ob die , .homöopathischen" Dosen auf einen
Menschen überhaupt wirken. Die Homöopathie verwendet
(ob heute noch ?) Kochsalz in starker Verdünnung. Nun
frage ich : da der Mensch täglich in Speisen und Getränken
etliche Gramm Chlornatrium zu sich nimmt, was soll es hel-
fen, wenn er überdies noch 0,0000001 mg davon verschluckt-
Und weiter; I g Kochsalz hat gar keine zu verspürende Wir.
kung — wovon soll denn die ,, homöopathische" Dosis das
Gegenteil bewirken? Die Erfahrungen der Bakteriologie und
Schutzimpfung passen gar nicht zum homöopathischen Um-
kehrsatz; denn auch die Wirkung der Impfung ist quantitativ.
ebenso ist es bei Einführung von Antiserum, und eingeführte
Bakterien wirken im Körper nur, wenn sie sich dort ver-
mehren können. — Im Anschluß daran möchte ich auf ein
überaus gefährliches Schlagwort der Neuzeit hinweisen:
die „(jleichberechtigung der Heilmethoden". Das klingt recht
harmlos, kommt aber praktisch darauf hinaus, den gewissen-
haften Arzt, der sein Fach gründlich studiert und der ein
Herz für seine Kranken hat, auf eine Stufe zu stellen mit dem
gewissenlosesten Kurpfuscher. Deutschland ist z. Zt. gesund-
heitlich nicht stark genug, um für solche Zwecke als Ver-
suchskaninchen zu dienen! Wenn Schiller mit seinem
Wort: „Verstand ist stets bei Wenigen gewesen" nicht gar
so sehr recht hätte, die Deutschen müßten wie ein Mann
aufstehen und verlangen, daß nur d er Arzt sein darf, der das
Fach in ordnungsmäßigem Unterricht studiert hat, und sie
würden die ,, Gleichberechtigung der Heilmethoden" zum
Teufel jagen. — Beiläufig bemerkt: auch in der Politik!
Dr. phil. Hugo Fischer.
Literatur.
Zur Wünschelrutenfrage I, herausgegeb. von der preußi-
schen geologischen Landesanslalt. Berlin '21.
Wing, Easton, Jr. N., The Billitonites. Amsterdam '21,
Koninklijke Akademie van Wetenschappen.
Kofoid, Charles Atwood and Sezy, Olive, The free-
living unarmored Dino flagellata. Berkeley '21, University of
California Press.
Inlinit: St. MohoroviOii-, Eine elementare Theorie der Gravitation. (2 Abb.) S. 145. — Einzelberlcbte: 15resina,
Treffsicherheit. (2 Abb.) S. 153. Sprunghafte Vergrößerung der geographischen Breite. S. 15Ö. J. Behr, Über die
Mächtigkeit des nordischen Inlandeises in Schlesien. S. 157. E. Borchers, Epithelkörperverpflanzung bei postopera-
tiver Tetanie, S. 157. — Bücherbesprecbungen: A. Nippoldt, Erdmagnetismus, Erdstrom und Polarlicht. S. 158.
E. Kayser, Lehrbuch der Geologie. S. 158. A. Hansen (j), Die Pflanzendecke der Erde. S. 159. H. Scherzer,
Erd- und pflanzengeschichtliche Wanderungen durchs Frankenland. S. 159. H. Cloos und E. Meister, Bau und
Bodenschätze Osteuropas. S. 159. W. Walle, Einstein, Michelson, Newton, Die Relativitätstheorie, Wahrheit und
Irrtum. S. 159. A. Schwassmann, Relativitätstheorie und Astronomie. S. 160. — Anregungen und Antworten:
Homöopathie und allgemeine Physiologie. S. 160. — Literatur: Liste. S. 160.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band:
der ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 19. März 1922.
Nummer 12.
Das Problem der Wünschelrute.
Von Ferd. Sehemin/ky, Wien.
[Nachdruck verboten.]
Mit 2 Abbildungen.
In den letzten Jahren, besonders in der Kriegs-
zeit hat sich eine lebhafte Diskussion über die
Wünschelrutenfrage entwickelt. Die an der
deutschen und österreichischen Front von der
Heeresverwaltung verwendeten Rutengänger haben
immerhin eine ganz ansehnliche Zahl von Treffern
aufzuweisen gehabt, so daß wohl an der Tatsäch-
lichkeit des Phänomenes nicht mehr zu zweifeln
ist. Eine ganz andere Frage aber ist die, ob es
zweckmäßig ist, bei Bohrungen und ähnlichen
Anlässen einen Rutengänger zu Rate zu ziehen,
mit anderen Worten, ob das als tatsächlich zu-
gegebene Problem auch einer praktischen Ver-
wertung fähig ist. Das theoretische Problem, das
allein den Physiologen interessiert, kann ja be-
stehen bleiben, auch wenn es sich herausstellen
sollte, daß die Wünschelrute für Terrainunter-
suchungen nicht brauchbar ist.
Unter Wünschelrutengängern versteht man
bekanntlich Individuen, welche die merkwürdige
Eigenschaft besitzen, daß sie von unterirdischen
Substanzen, wie Wasser, Kohle, Erze, Erdgas und
dergleichen mehr in einer eigenartigen Weise be-
einflußt werden. Diese Beeinflussung zeigt sich
entweder darin, daß gewisse in den Händen ge-
tragene und allgemein als Wünschelruten be-
zeichnete Apparate durch eine reflexartige Muskel-
bewegung eine Drehung ausführen — die Wünschel-
rute schlägt aus — oder daß diese besonders
sensitiven Individuen eine charakteristische, meist
unangenehme Empfindung erhalten. Die Eigen-
schaft der Wünschelrutenfähigkeit ist nicht gerade
sehr häufig. Immerhin dürften wohl 4 — 6 Proz.
zu brauchen sein.
Die Wünschelrutenfähigkeit scheint sich beim
gleichen Individuum nicht stets in der gleichen
Stärke zu offenbaren. So sehen wir, daß abnorme
Witterungsverhältnisse, ja schon bedeckter Himmel,
Ermüdung, freudige und traurige Erregungen
hemmend einwirken können. ' Dies ist natürlich
begreiflich, da ja der Rutengänger kein physika-
lischer Apparat ist, sondern ein lebendes Indi-
viduum. Die Tatsache, daß der Rutengänger von
unterirdischen Objekten beeinflußt wird, und daß
seine Empfindsamkeit von den Witterungsverhält-
nissen abhängig ist, zeigt uns nun, daß wir das
Phänomen bei den geopsychischen Erscheinungen
einreihen müssen, jenen Erscheinungen unter
denen Hellpach^) die psychischen Wirkungen
von Wetter, Klima und Landschaft versteht.
Die einfachste Form der Wünschelrute ist eine
Astgabel, deren Zinken einfach mit der Hand er-
griffen werden. Die einen halten sie so, wie man
einen Turnstab oder ein Hantel erfaßt, also von
oben her, andere umgreifen die beiden Äste von
unten, wieder andere halten sie bloß mit einer
Hand, entweder an einem Aste oder am gemein-
samen Stiele. Den gebrechlichen Holzruten werden
oft nachgeahmte Formen aus Metall vorgezogen.
So zeigt uns die Abb. i eine sog. Schiingenrute,
Abb. I. Schiingenrute aus Metall.
wie sie bei Wiener Rutengängern häufig im Ge-
brauche ist. Ihre Dimensionen sind meistens so
bemessen, daß die Höhe (b in Abb. i) etwa 10
bis 20 cm beträgt, die Breite hingegen etwa 15
bis 25 cm (a). Wenn nun einzelne Rutengänger
angeben, daß sie zum Aufsuchen bestimmter Ob-
jekte verschiedene, auf diese jeweils abgestimmte
Ruten haben müssen, so stellt der unparteiische
Statistiker dem bloß die Tatsache gegenüber, daß
es Rutengänger gibt, die für die gleichen Sub-
stanzen gerade die entgegengesetztesten Formen,
Materialien und Haltungen verwenden, ja, daß
viele auf spezielle Wünschelruten ganz verzichten,
und entweder stets mit dem gleichen Instrument
arbeiten, oder erst an Ort und Stelle sich eine
Rute vom nächstbesten Baume schneiden, daß
endlich einige wenige die Rute vollständig ent-
behren können, und sich bei ihren Mutungen
lediglich auf ihre subjektiven Gefühle verlassen.
Aus der Fülle der sich oft widersprechenden An-
gaben zieht der Statistiker nur den Schluß, daß
die F"orm, das Material und die Haltung
der Wünschelrute ganz belanglos sind.
Hat auch so mancher Rutengänger seine Lieblings-
rute, so leistet doch jeder von ihnen das gleiche
mit ihr, soferne er eines besitzt: hinreichende
Wünschelrutenfähigkeit.
Zwischen dem wirkenden Objekt und der
Reaktion des Rutengängers besteht nun, wie die
Erfahrung gelehrt hat ein Zusammenhang, derart,
>) W. Hell p ach, Die geopsychischen Erscheinungen.
Leipzig 191 ", 2. Aufl., Kngelmann.
l62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i^
daß der Rutengänger aus der Art seiner Reaktion
auf die Natur des wirkenden Körperss schließen
kann. Der Rutengänger weiß, ob er sich über
Wasser, Kohle, Kupfer oder Eisenerze befindet.
Die Hochempfindlichen, das sind jene, die auf die
Rutenbewegung ganz verzichten, und sich ihren
Gefühlen überlassen, haben auch charakteristische
Empfindungen: so spürt der eine über Wasser
ein Stechen in den Schläfen, der andere über
Kali krampfartige Schmerzen in der Magengegend,
über Kohle mehr Herzschmerzen und so fort. Es
sei von vornherein darauf hingewiesen, daß es
sich in den zuletzt genannten Fällen wahrschein-
lich auch nicht um eine direkte Wirkung handeln
wird, sondern um eine Projektion allgemeiner
Empfindungen in bestimmte Körperregionen, eine
Erscheinung, welche wir bei hysterischen Indi-
viduen und anderweitig erkrankten Personen
wiederholt vorfinden.
Für die Drehung der Wünschelrute sind noch
bis vor ganz kurzer Zeit, und in minder kritischen
Köpfen auch heute noch, die verschiedensten
mehr oder minder mystische Energien verant-
wortlich gemacht worden. Dank der Arbeiten
von H ä n e 1 ') einerseits, von P o 1 1 a k - R u d i n -)
andererseits wissen wir heute, daß die wiederholt
ausgesprochene Vermutung, daß die Rutendrehung
einfach ein Ergebnis der IVIuskeltätigkeit des
Sensitiven sei, zu Recht besteht. Wir werden
also sagen, daß der Rutengänger über unter-
irdischen Objekten unbewußt seine Rute dreht,
und daß diese Bewegung ihn erst selbst von der
Anwesenheit der wirkenden Substanzen unter-
richtet. Diese Rutendrehung wird als Ausschlag
bezeichnet.
Nun ergeben sich für uns zwei wichtige Fragen :
1. Welcher Natur ist die Fernwirkung, welche
die Objekte ausüben?
2. Welche Vorgänge spielen sich dabei im
Körper des Rutengängers ab ?
Zunächst sei auf das Phänomen der Abbildung
der Flußläufe in den Wolken verwiesen, eine Tat-
sache, welche zur Erklärung des Wünschelruten-
phänomens zuerst von Blacher herangezogen
wurde. ^) Es wurde nämlich von Astronomen
wiederholt die Beobachtung gemacht, daß an
windstillen Tagen gewisse Wolkenlücken direkt
ein Spiegelbild der darunter liegenden Wasser-
läufe sind. Man führt diese Erscheinung darauf
zurück, daß aus dem Erdinneren kurzwellige
Strahlen, den ;■ Strahlen des Radiums ähnlich,
austreten, welche ihrer großen Reichweite wegen
auch als durchdringende Strahlung bezeichnet
werden. Da nun diese Strahlen in der Luft Ionen
erzeugen und diese wiederum als Kondensations-
kerne für den Wasserdampf dienen, so wäre es
') Zur physiologischen Mechanik der Wünschelrute.
.Schriften des deutschen Verbandes zur Klärung der Wünschel-
ruteufrage. München.
'') Uraniavortrag Wien, 1919.
') Zur Kliirung des Problemcs der Wünschelrute. Um-
schau der Chcmikerztg. Cöthcn 1914.
ganz verständlich, wenn nur dort eine Wolken-
bildung auftritt, wo diese Strahlen die Erdrinde
ungehindert verlassen und in die Lufthülle ein-
dringen können. Nun wissen wir aber, daß die
einzelnen Körper diese Strahlen nur in ganz ver-
schiedener Weise durchlassen. Wasser absorbiert
sie gänzlich. Über Flüssen müßten daher Wolken-
lücken sein. Wenn dieses Phänomen der Ab-
bildung der Wasserläufe trotzdem nur selten rein
zur Beobachtung gelangt, so liegt es daran, daß
ja die gebildeten Wolken durch Luftbewegungen
von ihrer Geburtsstätte weggeführt werden, und
andererseits die Luftionen ja nicht die ausschließ-
lichen Kondensationskerne darstellen. Als solche
können sie nur in absolut reiner Luft wirken, da
ja sonst sich auch die Staubteilchen an dieser
Aufgabe beteiligen. Wenn wir nun die Annahme
machen, daß der Rutengänger auf solche durch-
dringende Strahlen empfindsam sei, und daß er
quantitative und qualitative Änderungen wahr-
nehmen kann, so haben wir eine ganz plausible
und brauchbare Arbeitshypothese gewonnen, die
auch noch durch andere Tatsachen gestützt wird.
Es ist ja bereits früher darauf hingewiesen worden,
daß der Rutengänger auch die chemische Natur
der unterirdischen Körper feststellen kann. Es
ist nun interessant, daß diese durchdringenden
Strahlen von den verschiedensten Körpern in
ihrer Wellenlänge verändert werden, wenn sie den
Körper auf ihrem Wege zur Erdoberfläche durch-
dringen müssen. Es treten nämlich Sekundär-
strahlen auf, welche den charakteristischen Stempel
des durchdrungenen Objektes in ihrer Wellenlänge
aufgeprägt haben. Mosely hat auf Grund dieser
Tatsache im Jahre 1914 die Elemente nach diesen
Atomspektren neu gruppiert. Wir hätten also in
dieser zweiten Tatsache auch eine Möglichkeit,
uns das Erkennen der chemischen Natur des Ob-
jektes seitens des Rutengängers zu erklären.
Aber auch eine Reihe anderer Feststellungen
spricht zugunsten dieser Hypothese. So hat
Ambronn') vergleichende Feststellungen über
Wünschelrutenreaktionspunkte und sonstigen phy-
sikalischen Änderungen gemacht. Es hat sich
dabei gezeigt, daß die Rutenreaktionen immer an
geologisch merkwürdigen Punkten auftreten und
daß an solchen Stellen auch die radioaktiven
Zustandsgrößen eine ausgiebige Veränderung er-
fahren. Trägt man beides untereinander in gra-
phischer Form auf, so erhält man in den beider-
seitigen Schwankungen eine sehr schöne Überein-
stimmung. Auch das würde auf die Strahlungs-
hypothese hinweisen.
Vor ganz kurzer Zeit sind nun von H a s c h e k -)
im II. physikalischen Institut der Wiener Uni-
versität eine Reihe interessanter Versuche mit
dem Rutengänger Waagen, Chefgeologe der
Geologischen Reichsanstalt zu Wien durchgeführt
') Objektives von der Wünschelrute. Die Umschau, 1920,
Heft 13.
-) Kin Beitrag zur physikalischen Erklärung des Wünschel-
rutenproblems. Die Naturwissenschaften, 1921, Heft 51.
N. F. XXI. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
163
worden. Die mit den nötigen Kontrollmaßnahmen
versehenen Experimente zeigten, daß der Ruten-
gänger auf Änderungen des elektrischen Feldes
der Erde reagiert. Dort wo die Stromlinien ver-
dichtet würden, trete die Reaktion ein; das ist
aber nur dort der Fall, wo in einem Gebiete
schl'echterer Leitfähigkeit ein besserer Leiter ein-
geschlossen ist. Auch diese Angaben würden mit
den Befunden von Ambron n übereinstimmen,
da ja die radioaktiven Zustandsgrößen mit dem
elektrischen Verhalten des betreffenden Erdpunktes
in einem innigen Zusammenhange stehen.
Es ist auch interessant, daß die eigentliche
Rutenreaktion schon vor den Grenzen des wirken-
den Körpers erfolgt. Die beigegebene Abb. 2
soll dies illustrieren. A B sei eine unterirdische
Wassermenge. Die Linie C A' B' D stelle den
Erdboden vor. Der Rutengänger gehe in der
Richtung des Pfeiles von links nach rechts. Die
Rute befinde sich in der Höhe der Linie i, 2, 3,
... 8, und die Zahlen mögen verschiedene Mo-
mente der Begehung darstellen, mit den jeweiligen
%^^
7
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Abb. 2. Schema zur Wünschelrutenreaklion.
Momentphotographien der Rutendrehung. Bei i
ist die Rute noch horizontal, d. h. sie ist noch
in der Ausgangsstellung, der Rutengänger hat
noch keine Reaktion erhalten. Bei 2 kommt er
bereits in den Wirkungsbereich des Wassers, die
Rute beginnt ihre Aufwärtsdrehung. Diese schreitet
fort, eine Mittelstellung ist 3 und endlich bleibt
sie stehen. Nun weiß der Rutengänger, daß er
über der Grenze des Objektes steht. Die Rute
hat dabei eine Drehung von 90" gemacht; aus
der Größe dieses Winkels schließt der Sensitive,
daß er z. B. über Wasser ist. Die vertikale
Stellung wird von der Rute so lange beibehalten,
d. h. der Rutengänger hält die Rute so lange ruhig,
bis er wieder aus dem Bereich des Wassers kommt.
Erst dort, in unserer Figur Punkt 5 beginnt wieder
die Bewegung.
Es sei im Anhange erwähnt, daß der Ruten-
gänger auch Tiefenangaben machen kann. Diese
beruhen vielfach darauf, daß der Schwellenwert
der Erregung bei einer bestimmten Einfallsrichtung
der Strahlen — etwa bei 60 " — liegen dürfte,
wie eine Reihe gelungener und richtiger Be-
stimmungen zu zeigen scheinen. Dadurch kann
die Entfernung, die vom Beginn der Ruten-
reaktion bis zu ihrer Vollendung durchschritten
wurde, zu der Tiefe in eine bestimmte Relation
gesetzt werden. Wir sehen auch hier theoretisch
noch nicht ganz klar, wenn auch die Tatsachen
nicht mehr geleugnet werden können.
Den Ausschlag, welchen die Rutengänger über
den unterirdischen Objekten erhalten, nennt man
auch natürlichen Ausschlag, im Gegensatze
zum suggestiven, der auftritt, wenn sich der
Rutengänger einbildet über einem solchen zu sein.
Dieser suggestive Ausschlag tritt gerne bei minder
geübten und sehr unkritischen Rutengängern auf.
Und diese Erscheinung lenkt unsere Aufmerksam-
keit auf die psychischen Einflüsse hin. Suggestive
Einflüsse sind es auch, welche dem Rutengänger
ein bestimmtes Material, eine bestimmte Ruten-
form und eine bestimmte Haltung vorschreiben.
_ Wenn er glaubt, nur mit einer Holz-
g rute, an der eine Kugel hängt, und
-•-— 0-- nur bei Haltung im Untergriff Wasser
■ zu finden, so wird er auf dieses nicht
reagieren, wenn er sie anders erfaßt,
oder die Kugel fehlt. Und so wie eine
Hysterische unter dem Einflüsse ihrer
Suggestionen die unglaublichsten Krank-
heitserscheinungen produziert, so kann
auch der Rutengänger allerlei aufführen,
wenn er einer entsprechenden Vorstel-
lung gegenübersteht.
Wir haben früher festgestellt, daß es
unter der Einwirkung der Substanzen
beim Rutengänger zu einer charakte-
ristischen Muskelbewegung kommt.
Die Verknüpfung des unbewußt bleiben-
den Reizes mit der Muskelbewegung
ist schon ein psychischer Akt. Dies
erkennen wir daraus, daß der Sensi-
tive nicht alle Substanzen erkennen kann, son-
dern nur solche, über denen er geübt. Mit
anderen Worten : soll ein Rutengänger zum
Wassersucher ausgebildet werden, so muß er vor-
her öfters über Wasser gegangen sein und den
Ausschlag probiert haben. Die wiederholte Be-
einflussung hat endlich in irgendwelchen Nerven-
zellen eine Veränderung zurückgelassen — ein
Engramm im Sinne S e m o n s — welches zusam-
men mit dem Bilde der Muskelbewegung fixiert
wird. Kommt der so vorbereitete Rutengänger
neuerlich über Wasser, tritt also ein für ihn be-
reits bekannter Reiz auf, so tritt auch die zuge-
ordnete Muskelbewegung in Erscheinung. Ob
diese das erstemal zufällig bestimmt war, oder
aber eine bewußte oder unbewußte Nachahmung
der Bewegung anderer war, mag wohl in jedem
einzelnen Fall speziell zu untersuchen sein. Übt
sich der Sensitive so auf verschiedene Substanzen
ein, so wird er sie im Terrain unterscheiden
i64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 12
können. Und so wie etwa ein Hund dressiert
werden kann auf einen bestimmten Ton durch
einen Reifen zu springen, auf einen anderen aber
eine Leiter zu ersteigen, so dressiert sich der
Rutengänger durch Übung auf verschiedene, aller-
dings meist unbewußt bleibende Reize mit ver-
schiedenen Bewegungen zu antworten.
Da nun diese mit dem Reiz in keinem ursäch-
lichen Zusammenhang stehen, sondern mit diesem
nur durch Assoziation künstlich verknüpft erschei-
nen, so wird es uns verständlich, daß die Drehung
auch realisiert werden kann, wenn der Original-
reiz fehlt. Wird eben durch die Erwartung das
Engramm ekphoriert, so kommt auch die Zu-
ordnung zum Vorschein.
Eine weitere Stütze dieser Auffassung ist es,
daß der Ausschlag in seiner Größe willkürlich
geändert werden kann. Wenn der Sensitive sich
vornimmt, bei Wassernähe eine andere Bewegung
auszuführen, die frühere dafür zu unterlassen, und
dieses über Wasser einübt, so kommt eine neue
Assoziation zustande, welche dazu führt, daß in
Hinkunft nur mehr die neue Bewegung realisiert
wird.
Gerade aber die psychischen Komponenten
zeigen uns Fehlerquellen, die in der Praxis schwer
zu meiden sind. Und die Tatsachen bestätigen
diese Skepsis. Speziell die im vergangenen Jahre
vom internationalen Verein der Wünschelruten-
forscher in Bad Pyrmont veranstaltete Tagung
hat für die Rutenverwendung ein Fiasko ergeben.
Es gibt bestimmt einzelne sehr verläßliche Ruten-
gänger, aber im allgemeinen können wir schließen,
daß die Rutenfrage wohl ein den Theoretiker,
nicht aber den Praktiker interessierendes Gebiet
darstellt.
Rekapitulieren wir, was wir momentan von
der Wünschelrute eigentlich wissen, so ergibt sich
herzlich wenig. Es existieren einzelne
Individuen, welche von unterirdischen
Objekten in einer eigenartigen W eise
beeinflußt werden. Diese Tatsache ist
uns heute nicht mehr wunderbar. Hat
uns doch die Forschung der letzten
Jahre gezeigt, daß unser Leben viel
mehr unter dem Einfluß von Wetter,
Klima und Boden steht, als wir es bis
jetzt glauben wollten. Diese Beein-
flussung äußert sich in einer assoziativ
verknüpften Muskelbewegung, oder
bei Hochsensitiven in einer Empfin-
dung. Ein Ausschlag kann aber auch
durch Suggestion seitens des Ruten-
gängers entstehen und dieser sugges-
tive Ausschlag bildet eine der schwer-
sten Fehlerquellen für die Praxis. Die
Natur, die Art, und der Ort der Beein-
flussung des Rutengängers ist aber
noch unbekannt.
Über «las Vorkonnnen von Trypauosonieu bei unsereu heiinischeu Wirbeltiereu und etwas
über ihre Kultur auf küustliclien Nährböden.
Von cand. zool. Otto Nleschlllz.
Mit 4 Abbildungen.
Fast allgemein trifft man, vielfach auch in
zoologischen Kreisen, auf die Ansicht, daß die
Trypanosomen fast ausschließlich Blutparasiten
tropischer und subtropischer Tiere sind und bei
uns nur ganz ausnahmsweise auftreten. Für die
pathogenen, wirtschaftlich wichtigen Arten (Er-
reger der Schlafkrankheit, Ngana, Surra, des Mal
de Caderas usw.) trifft dies zwar zu, aber neben
diesen findet man noch nicht- pathogene Vertreter
der Gattung auch bei unseren Wirbeltieren in
weiter Verbreitung. Auf das Vorkommen dieser
interessanten Parasiten in unserer Heimat auf-
merksam zu machen und etwas über die neueren
Ergebnisse der Züchtung mitzuteilen, soll der
Zweck dieser Zeilen sein.
Aus Deutschland selbst liegen bisher nur wenige
Beobachtungen über Trypanosomen vor, aus anderen
europäischen Ländern teilweise erheblich mehr.
Aber auch unter Berücksichtigung dieser Befunde
läßt sich nur ein sehr lückenhaftes Bild von ihrer
wirklichen Verbreitung gewinnen, da noch kaum
systematische Untersuchungen an einem größeren
Material unternommen sind, sondern es sich meist
nur um Gelegcnheitsbeobachtungen handelt. Immer-
hin werden auch schon die angeführten Beispiele
zeigen, daß bei uns diese Parasiten recht häufig
vorkommen.
Wie bereits erwähnt, sind die pathogenen
Trypanosomen meist auf die wärmeren Gegenden
beschränkt. Die einzige Ausnahme bildet das
'l^rypaiiosonia r(j/iipcniin/i Doflein, der Er-
reger der Beschälseuche oder Dourine der Pferde.
Durch die großen Pferdeverschiebungen der Kriegs-
und Nachkriegszeit wurde diese Krankheit auch
in unsere Heimat und einige Nachbarländer ver-
schleppt, wo sie zurzeit glücklicherweise nur
regional verbreitet ist. Da die Übertragung nur
durch den Koitus ohne Vermittlung eines Zwischen-
wirts geschieht, so läßt sich die Seuche, wenn sie
richtig erkannt ist, durch Ausschluß der erkrankten
Tiere von der Zucht verhältnismäßig leicht unter-
drücken.
Die nicht-pathogenen Trypanosomen treten im
Blut ihrer Wirte nie in solcher Menge auf wie
die pathogenen Arten, meist lassen sie sich über-
haupt nur schwer nachweisen. Im Nativpräparat
kann man die lebenden I'^lagellaten durch ihre
schlängelnde Bewegung und die Unruhe, die sie
N. F. XXI. Nr. i:
Naturwissenschaftliche Wochenschritt.
165
unter den Blutkörperchen hervorrufen, noch ver-
hältnismäßig leicht erkennen; man muß aber trotz-
dem häufig eine ganze Anzahl Präparate durch-
sehen, bevor man einen Parasiten zu Gesichte
bekommt. Gewöhnliche Blutausstriche, bei denen
ein Tropfen Blut in dünner Schicht auf einen
ganzen Objektträger verteilt wird, sind bei der
Suche nach Trypanosomen im allgemeinen recht
ungeeignet, während bei der sog. Dickentropfen-
methode, nach welcher man einen großen Tropfen
Blut einfach auf einem Objektträger gut antrocknen
läßt und das Hämoglobin der Blutkörperchen vor
dem Färben mit destilliertem Wasser auszieht, die
Wahrscheinlichkeit, Parasiten zu finden, natürlich
bedeutend größer ist. Die günstigsten Erfolge
werden zweifelsohne erzielt, indem man ähnlich
wie in der Bakteriologie von dem Blute auf ge-
eigneten Nährböden Kulturen anlegt; doch hier-
von unten Näheres.
Von unseren Haustieren sind mit nicht- patho-
genen Trypanosomen Rind und Schaf recht häufig
infiziert, dieses mit dem Trypaiivsoina uiclophagium
Flu, jenes mit T. tJicikri Bruce; von den
kleinen Säugern besonders die Nagetiere und unter
diesen vor allem die Haus- und Wanderratten —
mit Tryp. Icnusi Kent — , bei denen sie fast
überall und meist in beträchtlicher Anzahl vor-
kommen. Ferner sind als Wirtstiere bekannt ge-
worden: Feld- und Waldmäuse, Garten- und Sieben-
schläfer, Hamster, Kaninchen, Ziesel, dann noch
Dachs und Maulwurf und schließlich verschiedene
Fledermausarten.
Die Vögel scheinen noch häufiger infiziert zu
sein als die Säugetiere. Über 1 50 Arten sind bis-
lang als Wirtstiere bekannt, aber trotzdem stellt
diese Zahl sicher nur einen kleinen Prozentsatz
der wirklich infizierten Vögel dar, wie sich schon
daraus ersehen läßt, daß von neun Vogelarten,
bei denen ich während eines Studienaufenthaltes auf
der Biologischen Anstalt Helgoland diese Parasiten
fand, sechs als Trypanosomenträger noch nicht
bekannt waren (Nieschulz, O., Tijdschr. v.
Diergeneeskd., Bd. 48, 1921).
Unter den Vögeln hat man bei den Sängern
die meisten Trypanosomen gefunden, in Europa bis-
her bei etwa 40 Arten. So bei einer Anzahl F"inken,
Drosseln, Rotschwänzen, Rotkehlchen, Würgern,
Meisen, Bachstelzen, Grasmücken, Fliegenfängern,
Schwalben, Zaunkönig, Steinschmätzer, Sperling,
Häher, Rabe u. a. m. Aus anderen Ordnungen
z. B. ferner noch bei Eulen, Falken, bei der Nacht-
schwalbe, dem Wiedehopf und der Schnepfe. Im
Blut unseres Hausgeflügels hat man noch keine
Trypanosomen angetroffen, obwohl sie in tro-
pischen Gegenden mehrfach beobachtet wurden.
Unsere heimischen Reptilien haben sich, wie
bereits erwähnt, bis jetzt noch als trypanosomen-
frei erwiesen. Bei ihnen ist allerdings auch in
den Tropen nur vereinzelt eine Infektion vorge-
funden worden.
Von den Amphibien findet man beim braunen
Grasfrosch seltener, beim grünen Grasfrosch fast
immer Trypanosomen. In manchen Gegenden
ist es überhaupt kaum möglich, von diesem
parasitenfreie Exemplare für Infektionsversuche
zu erlangen. Sonst hat man noch beim Laub-
frosch — in Portugal — Trypanosomen nachge-
wiesen.
Die Fische endlich beherbergen wieder recht
häufig Trypanosomen. Diese sind im Gegensatz
zu denen der Vögel und mancher Säugetiere
wegen ihrer verhältnismäßig großen Anzahl im
Blut im allgemeinen leicht aufzufinden.
Bei Untersuchungen im Hamburger Hafen fand
ich dort ungefähr die Hälfte der Flußbarsche, die
meisten Aale, eine Anzahl Flundern und zwei von
drei Hechten infiziert. Außer diesen sind noch als
Trypanosomenträger bekannt geworden : Karpfen,
Goldfisch, Karausche, Schleie, verschiedene Weiß-
fische, Schlammpeitzger, Bartgrundel, Quappe u. a. m.
Aus Meeresfischen sind ebenfalls zahlreiche
Trypanosomen beschrieben worden. Merkwürdiger-
weise habe ich auf Helgoland bei einem großen
Material von Pleuronektiden, Rochen und Haien,
das mir dort zur Verfügung stand und bei denen
sonst recht häufig Trypanosomen gefunden sind,
kein einziges infiziertes Exemplar angetroffen.
Bereits oben ist schon darauf hingewiesen, daß
sich die Trypanosomen, ähnlich wie es von den
Bakterien bekannt ist, auf künstlichen Nährböden
leicht züchten lassen. Dies gilt jedoch nur für
die nicht-pathogenen Arten, während man bei
den pathogenen Formen hierbei auf große
Schwierigkeiten stößt. Immerhin liegen auch für
diese schon einige günstige Resultate vor.
Als Nährmedium benutzt man zunächst meist
entweder sog. Blutbouillon, ein Gemisch von etwa
gleichen Teilen einer Nährbouillon und defibri-
nierten Blutes, oder Blutschrägagarkulturen, bei
denen zu der Nährbouillon noch ungefähr 2 Proz.
Agar-Agar hinzugefügt sind. Um den Agar zu
lösen, wird dieser letzte Nährboden, bevor man
das Blut dazu gießt, erwärmt. Das Ganze läßt
man dann in schräger Schicht in einem Reagenz-
glas erstarren und wartet mit dem Impfen, bis
sich reichlich Kondenswasser ausgeschieden hat.
Hierin wachsen dann die Trypanosomen. Bei
den Blutbouillonkulturen vermehren sich die
Flagellaten auf der Oberfläche der Blutkörperchen-
schicht und zwar so schnell, daß man sie bereits
nach einer Woche vielfach schon makroskopisch
als feinen, weißlichen Belag erkennen kann.
Nöller gebührt der Verdienst, durch Ein-
führen des sog. Plattenverfahrens die Züchtungs-
technik erheblich vervoUkomnuiet zu haben
(Nöller, W., Arch. für Schiffs- und Trop.-Hyg.
Bd. 21, 1917). Er verwandte einen festen Nähr-
boden von ähnlicher Zusammensetzung wie bei
den erwähnten Blutschrägagarkulturen, mit wel-
chem der Boden einer hohen Petrischale bedeckt
wird, während in die Deckelschale, nachdem das
Gefäß natürlich vorher umgekehrt ist, eine Subli-
matlösung gegossen wird , welche die Kultur
gegen Verdunsten schützt und zugleich ein Ein-
166
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 12
dringen von Keimen verhindert. Auf der Unter-
fläche des Nährmediums wird eine dünne Schicht
Kondenswasser ausgeschieden , in der die Trypa-
nosomen günstige Wachstumsbedingungen vor-
finden. Wenn man für ein rechtzeitiges Über-
impfen der allmählich degenerierenden Kultur auf
eine neue Platte sorgt, kann man die Trypano-
somen auf diese Weise unbegrenzt halten; ich
selbst züchte einige Stämme so schon beinahe
zwei Jahre lang fort.
Wenn man die Trypanosomenmasse in Form
eines geraden Striches auf die Kulturplatte auf-
trägt, so sieht man bei vielen Arten bald Aus-
läufer von dieser Mittellinie hervortreten, die, da
ihre Gestalt konstant ist, für die systematische
Abbildungen die IVIannigfaltigkeit der Wachstums-
formen demonstrieren.
Manche Trypanosomen wachsen überhaupt
ohne jede Ausläuferbildung, so z. B. das aus dem
Frosch und vom Hühnerhabicht (Stamm Mayer).
Auch einige Fischtrypanosomen , deren Platten-
kultur mir bei Verwendung einer leichten Modi-
fikation des Po n seileschen Nährbodens ge-
lungen ist, bilden keine Ausläufer.
Die Ausläufer selbst können nun ihrerseits
beim Rindertrypanosom {'fryp. fkdkri) beispiels-
weise sehr fein, dichtstehend und verhältnismäßig
kurz sein (Abb. i), beim Kreuzschnabeltrypanosom
(Stamm Nöller) sind sie auch kurz, dafür aber
ganz plump. Das Singdrossel- und das Ring-
Abb. I.
Kultur des Tyypanosoina theikri.
-';',-, nat. Gr. Orig.
Abb. 2.
Kultur des Kreuzschnabeltrypanosomas.
% nat. Gr. Nach Nieschulz (1921).
Abb. 3.
Kultur des Singdrosseltrypanosomas.
'-/.; nat. Gr. Nach Nieschulz (1921),
Abb. 4. Kultur des Kingdrossellrypanosomas.
-/.r, nat. Gr. Nach Nieschulz (1921).
Unterscheidung verschiedener Spezies von großer
Bedeutung sind und dies um so mehr, als mor-
phologische Unterschiede nur selten vorhanden
sind. An anderer Stelle habe ich dies für einige
Vogeltrypanosomen dargelegt (Arch. f. Protisten-
kunde; im Druck), hier möchte ich nur ^n einigen
drosseltrypanosom (Abb. 3 und 4) zeigen lange
schlanke Ausläufer in verschiedener Gestalt.
Nöller hat bereits von der Wachstumsform
Gebrauch gemacht, um zwei Trypanosomen zu
identifizieren. Es gelang ihm nämlich, aus Ta-
baiii/s glaiicopis ein IVypanosom zu züchten,
dessen Kulturform der des nicht - pathogenen
Rindertrypanosoms völlig glich. Hieraus folgerte
er, daß die Tabanide der Überträger des Para-
siten sei, ein Schluß, der um so berechtigter war,
als die beiden Flagellaten auch morphologisch in
der für das Iryp. tlicilcri typischen knöpfchen-
förmigen Verdickung des freien (jeißelendes über-
einstimmten.
Ich habe hier nur die Bedeutung des Plattcn-
züchtungsverfahrens für die Trypanosomensyste-
matik hervorgehoben. Durch die Möglichkeit, reine
P'lagellatensubstanz fast ohne Beimengung von
Sera zu gewinnen, wird ihm eine große vielseitige
Bedeutung zukommen. Doch hierüber liegen bis-
lang noch kaum Untersuchungen vor.
Bücherbesprechungen.
Laue, Dr. M. v., Die Relativitätstheorie.
2. Band, 276 S. Braunschweig 1921, Fr. Vie-
weg & Sohn. Preis geb. 23 M. und Tcucrungs-
zuschlag.
Dieser zweite Band behandelt die all ge-
rn eineRelativitätstheorie und Einsteins
Lehre von der Schwerkraft. Er will eine
streng wissenschaftliche Darstellung des Themas
N. F. XXI. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
167
vom Standpunkte des Physikers aus geben,
denn der Verf. glaubt mit Recht, daß nur dieser
die Schwierigkeiten ganz nachempfinden kann,
die die große Mehrzahl seiner Fachgenossen zur-
zeit noch von der allgemeinen Relativitätstheorie
fernhält. Besonderer Wert ist auf die Zusammen-
stellung der mathematischen Hilfsmittel gelegt,
da die Ursache für die zögernde Haltung der
Physiker vor allem in der ungenügenden Bekannt-
schaft mit nichteuklidischer Geometrie und der
zugehörigen Tensorrechnung erblickt wird. Sollte
sie aber nicht viel mehr in der unzureichen-
den Begründung der dem normalen Denken zu-
widerlaufenden Prinzipien und Postulate Ein-
steins, insbesondere seiner allzu kühnen Deutung
des Michelsonschen Versuchs zu suchen sein?
Was v. Laue an einer Stelle über Gerber sagt
(der bekanntlich die auch von Einstein benutzte
Formel für die Perihelbewegung des IVIerkurs be-
reits lange vorher aufgestellt hat), daß nämlich
„die physikalischen Vorstellungen, mit denen
Gerber seinen Potentialansatz begründen will,
soweit sie nicht überhaupt gänzlich verschwom-
men sind, vollständig falsch angewandt sind", ist
ein Urteil, das der Physiker m. E. vor allem über
Einstein selbst fällen müßte. Denn die sog.
allgemeine Relativitätstheorie Einsteins ist
durchaus nicht als systematische Weiterentwick-
lung der speziellen Relativitätstheorie aufzufassen.
Sie bedeutet vielmehr die Erkenntnis der Un-
durchführbarkeit der letzteren und einen Rückzug
ins Unfaßbare und Verschwommene. — Sehr ge-
ring denkt v. Laue über die älteren mechani-
schen Deutungen der Schwere. „Seit freilich die
Relativitätstheorie uns gelehrt hat, daß der leere
Raum von allem Substantiellen, auch vom „Äther",
völlig frei ist, müssen alle diese mechanischen
Theorien als überholt gelten." Wie ein Physiker
so etwas schreiben kann, ist mir nicht recht faß-
lich. In Wirklichkeit ist der Zusammenhang doch
wohl ein gänzlich anderer. Die Relativitätstheorie,
namentlich das etwas voreilig aufgestellte „Prinzip
von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit relativ
zu beliebig bewegten Beobachtern", das lediglich
mathematisch, aber nicht physikalisch denkbar ist,
war allerdings mit dem Äther nicht vereinbar.
Da der substantielle Charakter des „leeren"
Raumes sich aber doch in allerlei Kraftwirkungen
offenbarte, die sich nicht gut wegleugnen ließen
— man denke nur an den Versuch von Sagnac
— führte Einstein das Schwerkraft - Trägheits-
feld ein. Hierbei scheint ihm nun allerdings eine
wirklich wertvolle Entdeckung gelungen zu sein,
die jedoch im Grunde mit der Relativität nichts
zu tun hat und die die etwas dunkle Bezeichnung
des „Äquivalenzprinzips" erhalten hat. „Es ist
dieselbe Eigenschaft der Körper, welche sich ent-
weder als Trägheit oder als Schwere äußert."
Dieser Satz enthält einen gewiß recht wertvollen
Gedanken, der aber mit der Relativität nichts zu
tun hat. Wenn v. Laue nun weiter sagt : „Darin
besteht Einsteins Lösung für das „Rätsel von
der Schwerkraft", so erkennt man darin doch
wohl eine allzu große formalistische Genügsam-
keit. Mir scheint die Ein st einsehe Idee über-
haupt erst fruchtbar zu werden, wenn man sie
nicht aus abstrakten, relativistischen Ideen über
Beobachterstandpunkt und Betrachtungsart ab-
leitet, sondern anschaulich aus der verachteten
Ätherwirbeltheorie deutet. Die Masse als Zentrum
einer wirbelartigen Ätherströmung kann man dann
nämlich als einen in den Fluß des Äthers einge-
schalteten Widerstand auffassen. Ist nun die
Schwere (wie ich auf dem Jenaer Physikertage
näher ausgeführt habe, vgl. die Physikalische
Zeitschrift 1921, S. 636) eine irgendwie geartete
Strömung im Äther, so wird sie durch den Wider-
stand der Masse merkbar; umgekehrt ist bei Be-
wegung der Masse der Ätherwiderstand als Träg-
heitswiderstand fühlbar. Trägheit und Schwere
haben also tatsächlich die gleiche Ursache: den
Widerstand der Masse im Äther. So vermag
gerade der von v. Laue verachtete substantielle
Äther das neue Prinzip Einsteins anschaulich
zu deuten. Man erkennt auch, warum die neue
Schwerkrafttheorie Einstein etwas aus der Ver-
legenheit helfen konnte. Er hatte in der spezi-
ellen Relativitätstheorie den Äther einfach ver-
gessen und konnte ihn nun unter dem Namen
„Schwerkraft-Trägheitsfeld" wieder einführen, ohne
einen Fehler eingestehen zu müssen. Die neue
Schwerkrafttheorie Einsteins scheint sich dabei
an die Äthertheorie viel besser anschließen zu
lassen, als die alte Schwerkrafttheorie New-
tons, die der Äthervorstellung geradezu wider-
spricht; sie scheint Newton gegenüber also
vielleicht einen Fortschritt zu enthalten. Nur
die falschen Grundpostulate der beschränkten
Relativitätstheorie hindern Einstein noch an
der Anerkennung des substantiellen Äthers. —
In dieser Weise müßte ein Physiker m. E.
Einsteins Schwerkrafttheorie behandeln. In
der Darstellung v. Laues dagegen vermag ich
nichts Physikalisches zu erkennen. Der Physiker
hat vor dem Mathematiker und F"ormalisten die
Waffen gestreckt. Ich vermute daher, daß der
Verf. mit diesem Werke sein Ziel, die noch
zögernden Physiker der Relativitätstheorie zu ge-
winnen, nicht erreichen wird. Fricke.
Lehmann, Ernst, Experimentelle Abstam-
mungs- und Vererbungslehre. Zweite
Auflage. 1 22 S. mit 27 Abb. im Text. (379. Band
der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt".)
Leipzig und Berlin 192 1, B. G. Teubner.
Lehmanns vor dem Kriege erschienene
kleineEinführung in die experimentelle Vererbungs-
lehre liegt in zweiter Auflage vor. Die großen,
in den letzten Jahren trotz des Krieges auf dem
Gebiete erzielten Fortschritte bringen es mit sich,
daß das Büchlein in völlig neuem Gewände er-
scheint. Auf wenig mehr als 100 Seiten das im
Titel genannte umfangreiche Thema in allgemein
verständlicher Form zur Darstellung zu bringen,
i68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 12
ist nicht leicht. IVIan darf behaupten, daß es dem
Verf. treffHch gelungen ist. Das Büchlein kann
als erste Einführung bestens empfohlen werden.
In einer leicht faßlichen, sehr ansprechenden Form
werden wir in großen Zügen mit der modernen
Genetik bekannt gemacht^ Daß der Verf. fast
immer da, wo eine Frage besonders interessant
wird, die Darstellung abbrechen muß, ist bei dem
beschränkten zur Verfügung stehenden Räume
nicht anders möglich. Das Gebiet ist heute be-
reits so umfangreich, daß es sich wohl verlohnen
würde, einzelne Teilgebiete, wie z. B. den Mechanis-
mus der Vererbung oder die Bestimmung des
Geschlechtes, in der viel gelesenen Sammlung
gesondert zu behandeln. Mancher, der Leh-
manns Büchlein zur ersten Einführung benutzt
hat, wird freilich, davon bin ich überzeugt, gleich
zu einem unserer bewährten Lehrbücher, zu dem
von B a u r oder Goldschmidt, greifen, um sich
mit den fesselnden Problemen weiter zu be-
schäftigen. Nachtsheim.
Wien. W., Die Relativitätstheorie vom
Standpunkte derPhysik undErkennt-
nis lehre. Vortrag gehalten im Verwaltungs-
gebäude der P'irma Siemens u. Halske, Siemens-
stadt. 36 S. Leipzig 192 1, Johann Ambrosius
Barth. 6 M.
Das Buch ist ein erfreuliches Zeichen dafür,
daß die Kritik an der Relativitätstheorie auch in
den führenden Kreisen der F'achphysiker immer
weitere Fortschritte macht. So wendet sich der
Verf. u. a. gegen die voreilige Abschaffung des
Äthers. „Der Äther, welcher als Träger der
elektromagnetischen Wellen zu gelten hatte, er-
scheint ausgeschaltet. Es sollen sich abstrakte
Größen, wie elektrische oder magnetische Kräfte
mit Lichtgeschwindigkeit im Räume fortbewegen.
Es scheint mir sehr fraglich, ob hiermit das letzte
Wort gesprochen wurde. Die Neigung, den Äther
wieder einzuführen, ist durch die Theorie der
Strahlung wieder wachgerufen. Ist aber einmal
der Äther wieder da, so werden die Zweifel, ob
nicht doch eine Bewegung relativ zu ihm eine
physikalische Bedeutung hat , nicht zum Ver-
schwinden zu bringen sein." Die Bedenken des
Verf.s richten sich allerdings zunächst haupt-
sächlich gegen die allgemeine Relativitätstheorie,
während die spezielle Relativitätstheorie noch
wohlwollend besprochen wird. Auf einem ähn-
lichen Standpunkt befand sich auch ursprünglich
Lenard; er hat ihn jedoch neuerdings zugunsten
einer völligen Zurückweisung der Relativitäts-
theorie aufgegeben. In der Tat scheint mir der
Grundgedanke Einsteins mit der Äthervor-
stellung nicht vereinbar. Vielleicht nimmt der
Verf. in einer späteren Auflage seines Buches zu
dieser Kernfrage noch etwas schärfer Stellung.
Fricke.
Warburg, Prof. Dr. O., Die Pflanzenwelt.
3. Bd. Mit 10 farbigen, 18 schwarzen Tafeln
und 278 Textabbildungen. Leipzig 1922, Biblio-
graphisches Institut.
Mit diesem Bande hat Warburg sein Werk
beendet. Er enthält den Rest der Dikotyledonen,
von den Myrtifloren bis zu den Kampanulaten,
und die Monokotylen. Die systematischen Zu-
sammenhänge sind überall durch knappe Kenn-
zeichnungen der Reihen und Familien hervorge-
hoben. Innerhalb der Familien sind, meist wieder-
um nach ihren Unterabteilungen gesondert, die
wichtigsten Gattungen herausgehoben und an
wichtigen Arten charakterisiert. Dabei ist für die
Auswahl das allgemeine Interesse in biologischer,
pflanzengeographischer und vor allem wirtschaft-
licher Hinsicht maßgebend gewesen. Eine große
Zahl von Bildern, die die vegetativen Teile, den
Blüten- und Fruchtbau und die Samen wieder-
geben, sowie zahlreiche Habitusdarstellungen und
Standortsaufnahmen, darunter prächtige farbige,
unterstützen das eingehende Studium und ergän-
zen den Text. Das Werk, das nunmehr fertig
vorliegt, reiht sich würdig an die übrigen allbe-
kannten Sammelwerke des Verlages an und ist
auf das wärmste zu begrüßen, da es die einzige,
für einen großen gebildeten Leserkreis berechnete
Schilderung der gesamten Pflanzenwelt ist.
Miehe.
Rusch, F., Himmelsbeobachtungen mit
bloßem Auge. 2. Aufl. mit 30 Textabb.
und einer Sternkarte. Leipzig und Berlin 1921,
B. G. Teubner. 20 M.
Die F'reunde der Astronomie, die keine Ge-
legenheit haben, den gestirnten Himmel mit einem
guten Instrument zu studieren — und das ist ja
die große Mehrzahl — , finden in diesem Büchlein
eine Anleitung, wie man die Sternenwelt mit
bloßem Auge beobachten kann. Der Verf. führt
dabei auf bequemem Wege — nur die mathema-
tischen Kenntnisse eines Primaners werden voraus-
gesetzt — in die Himmelskunde überhaupt hinein
und gibt namentlich eine Vorstellung von den
Methoden der Astronomie. Gute Abbildungen
und eine Sternkarte erhöhen den Wert des faßlich
und anziehend geschriebenen Buches. Miehe.
Inhalt: r. ScheminsUy, Das Problem der Wünschelrute. (2 Abb.) S. 161. O. Nieschulz, Über das Vorkommen von
Tryp.^nosomcn bei unseren heimischen Wirbeltieren und etwas über ihre Kultur auf künstlichen Nährböden. (4 Abb.)
S. 164. — BUcberbesprecbungen : M. v. Laue, Die Relativitätstheorie. S. 166. E. Lehmann, Experimentelle Ab-
stammungs- und Vererbungslehre. S. 167. W. Wien, Die Relativitätstheorie vom Standpunkte der Physik und Er-
bcnntnislehre. S. 168. O. Warburg, Die Pflanzenwelt. S. 168. F. Rusch, Himmelsbeobachtungen mit bloßem
Auge. S. 16S.
Manuskripti- und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21
der ganzen Reihe
Band;
37. Band.
Sonntag, den 26. März 1922.
Nummer 13»
[Nachdruck verboten.;
Zur Klärung des Ätherproblems.
Von Dr. phil. H. Fricke.
Mit I Abbildung.
Der große Streit um die sog. Relativitäts-
theorie Einsteins hat in immer weiteren Kreisen
das Interesse für das Problem des Weltäthers
erweckt. Einstein wollte diesen bekanntlich
kurzerhand abschaffen, ist dabei aber doch auf
einen allmählich stärker werdenden Widerstand
gestoßen. Die Schwierigkeiten der alten Äther-
theorie, die in der Einsteinliteratur meist in
sehr einseitiger Weise übertrieben dargestellt
werden, haben mich nun bereits vor 17 Jahren auf
einen neuen Weg zur Behandlung des Problems
geführt, der sich bisher aufs beste bewährt hat
und überall den einfachsten Überlegungen des
gesunden Menschenverstandes entspricht. Nach-
dem ich auf dem Physikertage in Jena 1921 einen
für engere Fachkreise bestimmten Überblick über
meine Arbeiten gegeben habe (Physikalische Zeit-
schrift 192 1, S. 6361—639), sollen hier die ein-
fachen leitenden Gedanken in ganz allgemeinver-
ständlicher Form kurz dargelegt und ein bisher
noch wenig beachteter aber allgemein gangbarer
Weg zur Lösung des Problems vom Weltäther
gezeigt werden.
Um eine Reihe von physikalischen Erschei-
nungen, wie Licht, elektrische und magnetische
Fernkräfte zu erklären, hat man bekanntlich die
Annahme gemacht, auch der scheinbar leere Raum
sei mit einer wirksamen Substanz, die man den
„Äther" nannte, erfüllt. Diese Substanz tritt uns
also bald fühlbar als „Kraftfeld", bald unfühlbar
als „leerer Raum" entgegen, und dieser Umstand
war die Veranlassung dafür, daß man dem Äther
in der Theorie widersprechende Eigenschaften
gab. Man führte zwar den Äther als Substanz
— etwa als Flüssigkeit, gelegentlich auch als
elastischen festen Körper — in die Physik ein,
behauptete aber von ihm, er müsse „reibungslos"
sein, denn er setze den Bewegungen der Massen
im Räume keinen Widerstand entgegen. Auf
dieser Annahme beruht ja bekanntlich die New-
tonsche Himmelsmechanik. Der Äther sollte
also gleichzeitig Substanz und leerer Raum, Stoff
und unfühlbares Nichts sein. Darin aber steckt
von vorne herein ein Widerspruch, an dem die
Physik seit den Tagen Newtons krankt.
Man muß also die Frage aufwerfen, ob man
nicht mit einer der beiden Eigenschaften für den
Äther auskommen kann. Nun liest man allge-
mein, selbst bei den Vorkämpfern der Äihertheorie,
man dürfe dem Äther natürlich nicht die gewöhn-
lichen Eigenschaften eines Stoffes zuschreiben.
Aber gerade hier scheint die Quelle aller Miß-
verständnisse zu liegen. Der Äther zeigt nämlich
offenbar alle Eigenschaften einer ganz gewöhn-
lichen Substanz, besonders diejenigen einer nor-
malen Flüssigkeit mit innerer Reibung. Man
braucht nur einmal die Veranschaulichung der
magnetischen Kraftlinie um einen elektrischen
Strom zu betrachten (jeder Magnet ist ja ein
Wirbel elektrischer Kraft), wie es die Abbildung
zeigt, um zu erkennen, daß der geheimnisvolle
Zusammenhang zwischen „elektrischer" und „mag-
netischer" Kraft, der angeblich jeder mechanischen
Deutung spottet und dessen Verständnis sich nur
dem Mathematiker mit Hilfe der „Maxwell-
Lorentzschen Grundgleichungen" erschließen
soll, offenbar nichts anderes ist, als die allgemein
bei Flüssigkeiten bekannte innere Reibung, Zähig-
keit oder Viskosität. Denn man kann die zur
Veranschaulichung der magnetischen Kraftlinie
Magnetische Kraftlinie um einen elektrischen Strom.
(Nach Ebert.)
verwendete Figur mit gleichem Recht auch zur
Veranschaulichung von Rauchringen oder von
Wellenkreisen um einen ins Wasser fallenden
Stein benutzen. In der Tat hat Maxwell seine
Gleichungen ursprünglich vermittels eines aus
lauter Friktionsrädern, also Reibungskuppelungen,
bestehenden Modells abgeleitet. Die mathematische
Physik hat diese einfachen Zusammenhänge jedoch
verdunkelt, da ihr nichts unsympathischer ist, als
die Beschäftigung mit der Reibung. Diese wird
gewohnheitsmäßig vernachlässigt, obgleich in ihr
im Grunde nichts anderes als der stoffliche Zu-
sammenhang, die Kontinuität, der Widerstand der
Substanz, also allgemein die Eigenschaft des
„Substantiellen" zum Ausdruck kommt. Nicht
170
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XXI. Nr. 13
ganz mit Unrecht meint R i e d 1 e r (Wirklichkeits-
blinde; Berlin 1919): „Richtige Erkenntnis der
Reibung muß in ein Urbrachfeld eindringen,
das seit IVIenschengedenken kein Forscher betreten
hat. Die Physiker betreten dieses Riesenfeld über-
haupt nicht, weil ihnen der schwankende, ver-
änderliche Boden nicht paßt, der mit ihren ver-
meintlich „strengen" Verfahren unfruchtbar scheint."
Neuerdings hat aber doch ein Theoretiker das
Problem in der hier angedeuteten Weise in An-
griff genommen. Fr. Sla-te (California Univer-
sity) hat in den Philos. Mag. 1920 und 1921 eine
Reihe von Untersuchungen veröffentlicht. Er
zeigt darin (vgl. auch Phys. Ber. 1921), daß ein
weitgehender Parallelismus besteht zwischen den
Gleichungen der Elektronentheorie von Loren tz
und der Relativitätstheorie einerseits und den
Gleichungen der klassischen Mechanik, nach wel-
chen die Bewegung einer Masse unter dem Ein-
fluß einer konstanten äußeren Kraft und einer dem
Quadrat der Geschwindigkeit proportionalen
Reibungskraft erfolgt. Hier sind also die
Grundlagen einer Reibungstheorie des Elektro-
magnetismus gegeben. Bemerkenswert ist, daß
die quadratische Funktion der Geschwindigkeit
sowohl bei der Flüssigkeitsreibung wie bei der
Trägheitsenergie auftritt.
Außer der Reibung muß man dem Äther aber
noch eine zweite Eigenschaft zuschreiben, die die
Grundlage zum Verständnis der ganzen Physik
bildet, nämlich eine innere ewige, unzerstörbare
Eigenbewegung. Diese Bewegung ist nur zu einem
Teil fühlbar und sichtbar, zum größten Teil ver-
läuft sie unsichtbar in feinen und feinsten Wirbel-
bildungen. Fortwährend verwandelt sich sicht-
bare Bewegung in unsichtbare, grobe in feine,
und umgekehrt unsichtbare in sichtbare zurück.
Newton lehrte, die Ursache der Bewegung sei
die „Kraft"; jetzt sehen wir, daß die Bewegung
offenbar nur ihre Form ändert, die Kraft nicht
die „Ursache" der Bewegung an sich sein kann.
Wir können uns den Raum stetig mit dem dem
fließenden Wasser vergleichbaren Äther erfüllt
denken, die gröberen Strömungsfiguren mit ver-
wickelter atomistischer Struktur erscheinen uns
dann als Stoff und Materie, die feineren bei ober-
flächlicher Betrachtung zunächst als leerer Raum.
Das ist die berühmte Ätherwirbeltheorie des
Lord Kelvin, dargestellt u. a. in dem Buche
von Lodge, der Weltäther (Braunschweig 191 1),
hier aber noch mit einer wesentlichen Erweiterung.
Indem man nämlich die allen physikalischen Er-
scheinungen zugrunde liegende Ätherbewegung
als unveränderlich betrachtet, gelangt man zu
einer viel einfacheren Ätherkinematik, als bei An-
wendung der Newtonschen Mechanik, in der
die Bewegungsgröße noch für veränderlich ge-
halten wird. I3as einfachste ist offenbar, einem
jeden punktförmigen Teilchen des Äthers die
gleiche absolute Eigenbewegung, die von der
Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit sein muß,
zuzuschreiben, und man erhält so eine Anschauung,
aus der man alle diejenigen Erscheinungen ab-
leiten kann, zu deren Begründung Einstein das
logisch unhaltbare Gesetz von der Konstanz der
Lichtgeschwindigkeit relativ zu beliebig bewegten
Beobachtern und Minkowski das vierdimensio-
nale Raumzeitkontinuum erfunden hat. Daß es
sich bei dem Gedanken, die Physik aus einer
gleichartigen unzerstörbaren und unveränderlichen
Urbewegung des Äthers oder aller Raumpunkte
abzuleiten, um einen gangbaren Weg handelt,
zeigt eine neue Arbeit O. Wieners über „Das
Grundgesetz der Natur und die Erhaltung der
absoluten Geschwindigkeiten im Äther", die kürz-
lich in den „Abhandlungen der sächs. Akademie
d. Wissenschaften" Bd. 38, H. 4 erschienen ist. —
Eine sehr interessante und ausbaufähige anschau-
liche Ableitung der elektromagnetischen Erschei-
nungen aus der Ätherwirbeltheorie hat neuerdings
C. Westphal in einer kleinen Schrift „Wirbel-
kristall und elektromagnetischer Mechanismus",
Braunschweig 1921, gegeben.
Wir schreiben der Ursubstanz der Welt also
zwei Eigenschaften zu. Erstens soll sie eine
ewige unzerstörbare innere Bewegung be-
sitzen, also die kinetische Energie eines jeden
Raumpunktes soll konstant bleiben. Zweitens
soll sie einen inneren Zusammenhang, eine Art
Zähigkeit, Viskosität oder innere Reibung be-
sitzen. Wie hier im einzelnen nicht weiter aus-
geführt werden kann (ich verweise zur eingehen-
den Begründung auf meine älteren, vor allem die
bei Heckner in Wolfenbüttel erschienenen Ar-
beiten über Äther und Schwerkraft, besprochen
u. a. in dieser Zeitschrift, Jahrg. 1920, S. 158),
genügen diese beiden Grundannahmen tatsäch-
lich, ein anschauliches Bild der ganzen Äther-
physik einschließlich der als Ätherwirbel aufge-
faßten wägbaren Atome und Substanzen zu geben.
Es scheint aber in der ganzen theoretischen
Physik das Vorurteil zu bestehen, Reibung und
Erhaltung der Geschwindigkeit seien nicht mit-
einander vereinbar. Und doch lehrt schon das
Energieprinzip das Gegenteil. Wir beobachten
allerdings, daß beispielsweise beim Bremsen
durch Reibung Bewegung großer sichtbarer Kör-
per verzögert oder vernichtet wird. Wir wissen
aber längst, daß in demselben Umfang die innere
Bewegung der Atome wächst. Wenn also die
Reibung eine Eigenschaft der ewig bewegten
Weltsubstanz ist, so bedeutet das nichts weiter,
als daß diese Bewegung ständig ihre Form wech-
selt. Haben sich also größere sichtbare Strömungs-
figuren, Wirbel od. dgl. gebildet, so werden diese
sich allmählich in immer feinere Bewegungs-
formen auflösen, die sich nach allen Seiten im
Räume ausbreiten oder wie man sagt „ausge-
strahlt" werden. Das ergibt dann die allmähliche
Entwertung der Energie, die die Entropielehre
behauptet, und die wir auch tatsächlich in vielen
Fällen beobachten können. Wenn nun aber der
Äther wirklich eine kontinuierliche Substanz mit
überall unveränderlicher Bewegung ist, so ergibt
N. F. XXI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
171
sich ganz von selbst, daß diese Entwicklung nicht
so einseitig vor sich gehen kann, wie es meist
dargestellt wird. In demselben Maße, wie die
Strömungsfiguren zerfließen, müssen sich auch
wieder neue bilden. Diese energiesammelnden,
aufbauenden Kräfte oder Ätherströmungen sind
im physikalischen Weltbilde bisher unbeachtet
geblieben. Nun scheint aber die Schwerkraft
nichts weiter zu sein, als eine feine durchdringende
Ätherströmung, die an einzelnen Stellen im Räume
zusammenfließt und dort scheinbare Quellpunkte,
die Massen, bildet. Sowohl die atomistische
Schwerkraftlehre des Le Sage wie auch die An-
schauung des gerade von den Relativitätstheore-
tikern besonders geschätzten Mathematikers R i e -
mann stimmen mit dieser Auffassung überein.
Man erhält so das Weltbild nicht als reibungslose
Bewegung von unwandelbaren, ewigen Massen,
sondern als ein fortgesetztes Entstehen, Umwan-
deln und Vergehen von Strömungsgebilden, die
uns als Massen erscheinen. Wir beobachten einen
ewigen Kreislauf der Dinge, bei dem das Einzelne
vergeht, das Ganze aber bleibt. Diese Anschau-
ung knüpft die Physik der Materie in viel natür-
licherer Weise an die Lebenserscheinungen an,
als die alte mechanistische Auffassung. Aber auch
die unhaltbare Lehre von der fortwährenden Er-
kaltung aller Gestirne findet endlich ihre Wider-
legung. Schon 1869 hatte Leray die Konstanz
der Sonnenwärme aus der Schwerkrafttheorie des
Le Sage abgeleitet. Neuerdings ist auch E. Wi e^-
chert auf dem Potsdamer Astionomentage für
eine Erwärmung der Massen durch den Äther
eingetreten (Vierteljahrsschrift der Astronomen-
Gesellschaft, 1921, S. 187 — 191). Er nimmt an,
daß die Gestirne mit zunehmender Masse nicht
kälter, sondern immer heißer werden, nach ihm
erfolgt die Entwicklung der Weltkörper gerade
im umgekehrten Sinne, als wie man bisher an-
nahm.
Die „Kräfte" sind also nicht die Ursachen
eines Entstehens und Vergehens, sondern nur der
Umformung der Bewegungen. Es gibt im
Grunde nur noch eine formende und zerstörende
Kraft, die sich aus dem „Zusammenhange" des
Weltganzen, aus seiner „inneren Reibung" ergibt.
Daß die magnetischen Kräfte als Reibung zu
deuten sind, war schon erwähnt. Aber auch die
Trägheit kann als Reibungswiderstand des Äthers
gedeutet werden. Geht man zum hinteren Aus-
gang eines Straßenbahnwagens, während dieser
seine Bewegung verzögert, so hat man deutlich
das Gefühl, sich durch ein widerstehendes Mittel
zu bewegen — oder der Schwerkraft entgegen,
„bergauf" zu gehen. Denn auch die Schwerkraft
läßt sich ohne weiteres als eine feine, sehr durch-
dringende Strömung im Äther auffassen, die uns
durch eine Art von Reibung mitzureißen , gegen
die Erde zu pressen sucht. So lassen sich alle
Kraftlinien in Strömungslinien des zusammen-
hängenden Äthers auflösen, alle Kraftfelder wer-
den Ätherströmungs- und Wirbelfelder.
Die Quelle aller Mißverständnisse ist aber die
Idee der Theoretiker, der Vorgang der Reibung
sei mit dem der ewigen Bewegung nicht verein-
bar, obgleich wir beide Erscheinungen doch un-
mittelbar in der Natur beobachten, und ihre Ver-
bindung auch der Vorstellung bei näherer Über-
legung keine Schwierigkeit bereitet.
Die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts hat
uns, auf Newton fußend, die seltsame Welt-
anschauung des Materialismus beschert, die die
Welt als ein reibungsloses mechanisches Uhrwerk,
von Trägheit und Schwere gelenkt, auffaßt. Un-
veränderlich sollen die Massen sein, deren uner-
bittliche Gesetze die Welt regieren und sich in
mathematische Formeln fassen lassen. Für Geist
und Leben war kein Raum mehr in der Welt.
Jetzt sehen wir, daß jene Anschauung von der
Materie und ihren mechanischen Gesetzen nur
als ein erster Versuch zu bewerten ist. Den
leeren, reibungslosen Raum, auf dessen Vorhan-
densein die mathematischen Formulierungen
Newtons beruhten, kann es gar nicht geben,
wir müssen die Erscheinungen anders erklären.
Die einfache Lösung ist die, daß ein „leerer"
Raum dort vermutet wird, wo Bewegungen von
Massen keinen Widerstand finden. Diese Er-
scheinung kann man nun aber auch dadurch er-
klären, daß man um die bewegte Materie herum
ein feines Strömungs- und Wirbelfeld annimmt,
in dem gleichviel hemmende wie beschleunigende
Bewegungen vorhanden sind. Zu jedem Körper
gehört daher noch eine besondere Ätherströmung,
sein „Kraftfeld". Jede Änderung der Bewegung
bedingt eine Umformung dieses F"eldes und seiner
Strömungen, die wir als Arbeitsleistung und Träg-
heitswiderstand empfinden. Die Atome der Ma-
terie sind, dabei als Wirbel im Äther, richtiger
als Zentren der Wirbelfelder, aufzufassen. Von
den Luftwirbeln wissen wir, daß sie durch eine
scheinbar ruhende Umgebung fortschreiten, so
daß eine Windhose oft auf der einen Seite eines
Baumes die stärksten Zweige zerbricht, auf der
anderen Seite alles unberührt läßt. Gleichwohl
ist in der umgebenden Luft eine „Spannung", die
dem Wirbel die Kraftströme zuführt, die ihn
scheinbar widerstandslos durch die Luft fort-
schreiten läßt. In ähnlicher Weise bleibt auch
der größte Teil des Äthers in der Umgebung
der Wirbelatome in Ruhe, nur ein feines Kraft-
oder Spannungsfeld begleitet sie, erst im Zentrum,
im „Wirbel", von fühlbarer Gewalt.
Der Äther ist als Trägheitswiderstand also
überall im Räume fühlbar, der „leere" Raum ist
nirgends vorhanden. Der Eindruck der Leere
entsteht dort, wo sich die beschleunigenden und
hemmenden Kräfte im Äther das Gleichge-
wicht halten. Es ist eben ein naiver Irrtum,
daß der Äther stets nur als Widerstand fühlbar
sein müßte. Er kann uns ja auch Kraft zuführen,
uns beschleunigen. Dann muß es aber auch
einen Zwischenzustand geben, wo wir den Äther
nicht mehr fühlen und er uns als leerer Raum
172
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
erscheint. Das sind die besonderen Fälle, an die
die Theoretiker von Newton bis Einstein
anknüpfen, wenn sie ihre Theorien unter Ver-
nachlässigung oder Ableugnung des substantiellen,
realen, fühlbaren Äthers aufbauen. Äther und
Materie sind in Wirklichkeit gar keine getrennten
Substanzen, sondern stehen in engster Verbindung
miteinander, so daß es gar nicht ohne weiteres
möglich ist, eine Relativbewegung gegen den
Äther willkürlich zu erzeugen. Alle angeblichen
Experimente über den Äther enthalten willkür-
liche Annahmen — wie z. B. diejenigen von
Lorentz, wonach der Äther in absoluter Ruhe
verharren soll — und entbehren daher der Be-
weiskraft. Wer den Äther nicht im Licht, in
Elektrizität und Magnetismus, in Schwerkraft und
Trägheitswiderstand unmittelbar zu fühlen vermag,
dem ist auch mit dem Mich eis onschen Ver-
such nicht zu helfen, dem wird er ewig „hypo-
thetisch" bleiben.
Die Gegner des Äthers haben eben alle fühl-
baren Ätherwirkungen mit anderen Namen belegt;
so hat Einstein ihn vor allem als Schwerkraft-
Trägheitsfeld eingeführt. Bei Newton waren
Schwerkraft und Trägheit unveränderliche Eigen-
schaften der Materie, auf denen sich seine ab-
strakte, ätherlose Himmelsmechanik gründete.
Seine Ansichten über die Schwerkraft widerstrebten
dem gesunden Menschenverstände, aber der
mathematische Erfolg war zunächst auf seiner
Seite. Man überschätzt aber dessen Beweiskraft;
eine Rechnung kann nämlich auch dann ein
richtiges Ergebnis liefern, wenn in ihr derselbe
Fehler zweimal mit entgegengesetztem Vorzeichen
gemacht wird. Das scheint nun bei Newton
tatsächlich geschehen zu sein. Bekanntlich wird
bei allen astronomischen Bewegungen die Wir-
kung der Schwerkraft durch die Trägheit ausge-
glichen. Newton hat nun einerseits die Träg-
heitsenergie als unveränderliche, also zeitlose
Masseneigenschaft angenommen, die nirgends auf
Widerstand (Reibung) stoßen soll, zweitens auch
die Ausbreitung der Schwerkraft als widerstands-
und zeitlos betrachtet. Beides muß vom Stand-
punkt der Ätherphysik aus falsch sein, aber der
Fehler hebt sich ungefähr heraus. Ich habe den
grundsätzlichen F"ehler der abstrakten Newton-
schen Betrachtungsweise kürzlich in der „Astro-
nomischen Zeitschrift" (Hamburg; Märzheft 1921)
systematisch aufzudecken versucht. In der Tat
geben die Newt onschen Annahmen nur ein
ganz unvollständiges Bild, es ist eben nur ein
mathematisches Gerippe, dem die substantielle
Ausfüllung durch den Äther fehlt, und das uns
die auffallendsten Wirkungen übersehen läßt, wie
ich in dieser Zeitschrift (Jahrg. 1921 , S. 97) in
dem Aufsatz „Wind und Wetter als Feldwirkungen
der Schwerkraft" zu zeigen versucht habe. Die
Idee der Relativitätsthcoretiker, ein dem elektro-
magnetischen Krafifelde nachgebildetes „Schwer-
kraft-Trägheitsfeld" einzuführen, scheint mir
Newton gegenüber einen Fortschritt zu bedeuten.
ist aber noch längst keine Lösung des Schwer-
kraftproblems.
Die Frage, ob der Formalismus Newtons
oder derjenige Einsteins richtiger ist, braucht
hier also vorläufig nicht entschieden zu werden.
Beide befinden sich mit der Äthervorstellung im
Widerspruch. Es liegt vielleicht in der Natur der
Sache, daß eine mathematische Theorie vor allem
an diejenigen Erscheinungen anknüpft, bei denen
sich die Ätherwirkungen das Gleichgewicht halten
und herausheben. Und da die Welt als Ganzes
im Gleichgewicht ist, müssen sich schließlich alle
Ätherwirkungen herausheben. Der Theoretiker
ist somit der geborene Feind des Äthers, dessen
Einflüsse seine Gesetze dauernd stören. Man hat
die Ätherphysik daher frühzeitig als unbequeme
Störung aus der Mechanik ausgeschieden und sie
in das Sondergebiet der Elektrizitätslehre ver-
wiesen, ein Verfahren, das für den Formalismus
bequem, aber doch wohl nicht allzu befriedigend ist.
Wie verhält es sich nun mit dem Hauptein-
wand gegen den Weltäther, den auch Möller in
seinem Überblick „Vom hypothetischen Weltäther"
(Naturw. Wochenschr. Jg. 192 1, S. 577) hervor-
hebt, daß nämlich die Lichtschwingungen trans-
versaler Natur seien, solche aber nur in fest-
elastischen Körpern möglich wären. Hier handelt
es sich ganz einfach um ein durch einseitige
theoretische Betrachtungsweise entstandenes Miß-
verständnis. Transversale Schwingungen sind in
allen Flüssigkeiten und Gasen möglich, wenn
diese nur innere Reibung besitzen. (Vgl. Schäfer,
Theoretische Physik i. Bd., S. 893—894.) Indem
man dem Äther die Reibung nahm, nahm man
ihm alle Widerstandskraft gegen seitliche Ver-
schiebung, alle Festigkeit. Mit dem unglück-
seligen Begriff der „reibungslosen" Flüssigkeit
konnte man natürlich nichts anfangen. Zwischen
einem festen Körper und einer Flüssigkeit mit
innerer Reibung bestehen aber gar keine grund-
sätzlichen Unterschiede. Festigkeit ist nichts anderes
als sehr große innere Reibung. So schnellen Kraft-
wirkungen gegenüber, wie sie bei den elektromagne-
tischen Schwingungen auftreten, verhält sich jede
Substanz wie ein fester Körper. Hier liegt also
ein vollständiges Mißverständnis vor. Im übrigen
behauptet die Ätherwirbeltheorie auch gar nicht,
daß es sich beim Licht um elastische Schwingungen
handelt. Vielmehr nimmt man eine aus der un-
zerstörbaren Eigenbewegung folgende innere
Wirbelstruktur der Ätherströmungen an, die rhyth-
misch wechselt und die — wie man schon beim
fließenden Wasser beobachten kann , mit den
Schwingungen eines festelastischen Körpers die
größte Ähnlichkeit besitzt. Wahrscheinlich beruht
die ganze Elastizität festerKörper auf einer Bewegung
der Wirbelatome in ihren scheinbar elastischen
Strömungsfeldern. Daher erscheinen auch die
Kraftfelder und Kraftlinien, obgleich sie als
Strömungs- und Wirbelfclder und -fäden des
Äthers aufgefaßt werden, uns als elastisch ge-
spannte und tordierte feste Körper. Die Ein-
N. F. XXI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»73
führung besonderer „elektrischer" Kräfte ist im
Gegensatz zu den mechanischen offenbar über-
flüssig. Das ist alles bei ruhiger Überlegung ganz
selbstverständlich und es ist nicht recht einzu-
sehen, warum immer wieder in der ganzen deut-
schen physikalischen Literatur die Legende von
den unlösbaren Widersprüchen in den Annahmen
über die substantielle Beschaffenheit des Äthers
aufgewärmt wird. Der Äther ist eben keine
ideale, theoretische, mathematische, sondern eine
ganz gewöhnliche wirkliche Substanz. Was wir
als Substanz in der Welt fühlen, ist stets ein Teil
des Äthers.
Die größte Verwirrung ist nun neuerdings
durch die mathematische Theorie von Loren tz
hervorgerufen, die den Äther als absolut ruhenden
festen Körper betrachtete und den — an sich
ganz interessanten — Versuch machte, ihn dem
absoluten Räume Newto ns gleichzusetzen. Von
dieser Theorie ging Einstein aus, sie scheint
das einzige gewesen zu sein, was er von der
Physik gekannt hat. Indem er nun — vielleicht
mit Recht — den absoluten Raum Newtons
bekämpfte, schüttete er das Kind mit dem Bade
aus, und wollte den Äther überhaupt abschaffen.
Daß man dem Äther nur die ihm von Loren tz
unberechtigterweise genommene Beweglichkeit
zurückgeben muß, um die Widersprüche in den
Ergebnissen der optischen Versuche von Fizeau
und Michelson zu beseitigen, scheint den Ver-
tretern der Relativitätstheorie bis zum heutigen
Tage nicht klar geworden zu sein. Sonst würden
sie längst erkannt haben, daß der alte substantielle
Äther dasselbe und viel mehr leistet, als das an
seine Stelle gesetzte ,,Raum-Zeitkontinuum".
Denn die Behauptung von Lorentz, der
Äther müsse im Weltraum als absolut ruhend be-
trachtet werden, entbehrt jedes Beweises. Aller-
dings hat Lorentz unter dieser Voraussetzung
brauchbare Formeln • für die Aberration ent-
wickelt; er hat aber, worauf vor allem Gehrcke
hingewiesen hat, gar nicht behauptet, daß eine
Erklärung der Aberration bei Annahme eines teil-
weise mit der Erde bewegten Äthers nicht auch
möglich sei. Andere — z.B. Stokes, Lenard,
Devantier, Silberstein, neuerdings auch
Vogtherr in dieser Zeitschr. Jg. 1922, S. 20
— haben die Erscheinung auch unter dieser Vor-
aussetzung abgeleitet. Der Umstand, daß die
Formeln von Lorentz vielleicht einfacher sind,
beweist natürlich nicht das Geringste für ihre
Richtigkeit. Die Aberration scheidet als Beweis
für die absolute Ruhe des Äthers daher aus.
Was Lorentz für den absolut ruhenden
Äther gehalten hat, ist wahrscheinlich das Schwer-
kraft-Trägheitsfeld der Erde, das mit seinen
feinsten inneren Gegen- und Wirbelströmungen
die scheinbar fest elastische Struktur des Äthers
darstellt. Da sich dieses Feld einerseits mit der
Erde bewegt, andererseits an den Bewegungen
der Massen auf der Erde nur in geringem Maße
teilnimmt, klärt sich der angebliche Widerspruch
in den Versuchen von Michelson und Fizeau
sehr einfach auf.
Die Einführung des Schwerkraft - Trägheits-
feldes in die Optik erfolgt daher viel besser im
Anschluß an die Äthertheorie als auf Grund der
problematischen, in sich widerspruchsvollen Rela-
tivitätspostulate Einsteins.
Es war der Zweck meiner Darlegungen, da-
rauf hinzuweisen, daß die angeblichen Wider-
sprüche in der Lehre vom substantiellen, realen,
fühlbaren Weltäther nur in der Einbildung der
Theoretiker vorhanden sind und einer ruhigen
sachlichen Kritik auf der Grundlage des gesunden
Menschenverstandes nirgends standhalten. Es
wäre wichtig, wenn diese Auffassung in immer
weiteren Kreisen bekannt würde, denn das Äther-
problem ist keine Spezialfrage der mathematischen
Physik, sondern gehört allen Wissenschaften, be-
sonders auch der Philosophie, der Biologie, der
Medizin und der Theologie an. Der Streit zwischen
Ätherphysik und Relativitätstheorie beleuchtet
nicht nur eine einmalige gelegentliche Entgleisung
der theoretischen Physik, sondern er zeigt, wie
diese beim Ätherproblem seit Jahrhunderten ver-
sagt hat, wie sie mit unhaltbaren Prinzipien
arbeitet. Sobald man sich darüber klar wird, daß
der Satz der Theoretiker : „Die Weltsubstanz muß
reibungslos sein, da sie sich in ewiger Bewegung
befindet" ein verhängnisvoller Trugschluß ist, ist
auch die einfache Lösung des scheinbar so ver-
wickelten Ätherproblems klar gegeben.
[Nachdruck verbotea.]
PflanzenTerbreitung und vorgeschichtliche Besiedlung.
Von E. Schalow, Breslau.
Das Vorkommen von steppenähnlichen Pflan-
zengemeinschaften in Deutschland hat von jeher
die Aufmerksamkeit der Pflanzengeographen auf
sich gelenkt. Obwohl diese charakteristischen
Pflanzenverbände in ihrem Aussehen, ihrer Zu-
sammensetzung und in ihren Ansprüchen an Bo-
den und Klima eine große Übereinstimmung
zeigen, sind sie in der Literatur doch mit den
verschiedensten Namen belegt worden, von denen
ich hier nur die bekanntesten anführen möchte:
Heidewiese (Südbayern), Steppenheide (Schwäbi-
sche Alb), trockene Hügelformation (Mitteldeutsch-
land), Grastrift (Eibhügelgebiet), Formation der
pontischen Hügel (Norddeutschland), Federgrasflur
(Niederösterreich) u. a. ^) Allen diesen Pflanzen -
beständen ist vor allem gemeinsam, daß ihre
') Vgl. J. Eichlei, R. Gradmann und W.Meigen,
Die pflanzengeographische Durchforschung von Württemberg.
Jahreshefte des Ver. f. vaterländische Naturkunde in Württem-
berg. 70. Jahrg., 1914.
iT4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
eigentlichen Leitpflanzen ganz vorwiegend eine
im allgemeinen südöstliche, also mehr kontinen-
tale Gesamtverbreitung besitzen ; es sind sog.
„Steppenpflanzen" oder pontische Gewächse. Auf
die schwierige Frage nach der Einwanderung
unserer Steppenpflanzen kann hier nur ganz kurz
eingegangen werden. Nach den Untersuchungen
von K. Bertsch^) sind die zahlreichen Wärme-
pflanzen des oberen Donaugebietes als Relikte
der letzten Interglazialzeit aufzufassen. Dagegen
muß die Besiedlung Norddeutschlands mit Steppen-
pflanzen in eine postglaziale Trockenzeit verlegt
werden, die durch die gründlichen Moorunter-
suchungen C. A. Webers*) mit einiger Sicher-
heit erwiesen ist. Während dieser Zeit fanden
die Steppenpflanzen selbst noch im norddeutschen
Flachlande geeignete Wohnplätze. Einige von
ihnen konnten selbst noch bis Südschweden vor-
dringen. Es soll damit jedoch keineswegs gesagt
sein, daß das gesamte deutsche Tiefland während
dieser Trockenzeit einen allgemeinen Steppen-
charakter angenommen hatte. Weite Strecken
deutschen Bodens waren auch damals mit dichten
Wäldern bedeckt und in den Niederungen wird
es an Sümpfen und Mooren nicht gefehlt haben.
Die Steppenpflanzen hatten sich namentlich auf
kalkreicheren Böden, in den Lößlandschaften, im
niederen Berglande und an den steilen Ufern der
Hauptströme zu eigenartigen Pflanzenverbänden
zusammengefunden , die an die weiten Steppen-
fluren Südrußlands erinnerten.
Von besonderer Wichtigkeit erscheint nun die
Frage nach der PLrhaltung der licht- und wärme-
bedürftigen Steppenpflanzen während der Folge-
zeit mit ihrem kühleren und feuchteren Klima,
durch welches vor allem der Waldwuchs noch
mehr begünstigt wurde. Der Wald ergriff nun
stellenweise auch von den bisher freien und offe-
nen Landstrichen Besitz und drängte die Steppen-
pflanzen zurück. In diesem Kampfe mit dem er-
folgreich vordringenden Walde erhielten nun die
Steppenpflanzen an vielen Orten eine wirksame
Unterstützung durch den vorgeschichtlichen Men-
schen, der nach der übereinstimmenden Ansicht
zahlreicher Forscher ■') während der Trockenzeit
als Neolithiker eingewandert war und sich auf
offenem und waldfreiem Gelände niedergelassen
hatte. Durch die Tätigkeit der vorgeschichtlichen
Bevölkerung blieben diese Landstriche selbst wäh-
rend der feuchteren Zeit vor einer allgemeinen
Waldbedeckung bewahrt, so daß sich hier zahl-
reiche Steppenpflanzen bis auf die Gegenwart er-
halten konnten. Im folgenden soll nun näher
geprüft werden, inwieweit auch der vorgeschicht-
') Vgl. K. liertsch, Wärmepflanzen im oberen Donau-
tal. Engl. bot. Jahrb. 55. lid., 1919.
') Vgl. C.A.Weber, Aufbau und Vegetation der Moore
Norddeutschlands. Engl. bot. Jahrb. 40. Bd., 1908.
') Vgl. A. Penck in Kirchhoffs Länderkunde von Euro-
pa 1, 1887, S. 441. — M. C. Jerosch, Geschichte und
Herkunft der Schweizerischen Alpenflora. Leipzig 1903. —
H. Hausrath, Pflanzengeographische Wandlungen der deut-
schen Landschaft. Leipzig u. Berlin 191 1.
liehen Bevölkerung ein Anteil in der Erhaltung
unserer Steppenpflanzen zuerkannt werden muß.
R. Gradmann ^) hat m. W. zuerst einen
deutlichen Zusammenhang zwischen der Verbrei-
tung unserer Steppenpflanzen und den ältesten
menschlichen Siedlungsstätten angenommen. Ein-
gehende Arealstudien im Gebiete der Schwäbischen
Alb lehrten ihn, „daß die Verbreitungsbezirke der
südosteuropäischen Steppenheidegenossenschaften
zugleich die Stätten uralter Kultur sind" (S. 355).
Ausgesprochene .Steppenpflanzen wie : Allmm fal-
lax, Alyssuni montaniim, Anemone silvestris, As-
perula glauca, A. tincloria, Aster Amellus , A.
Ltnosyris, Rosa gallica, *) Inula hirta , Libanotis
moniana, Melica ciliata, Orobanche cervartae,
Seseli Hippomarathrum, Stipa capillafa, SL pennata,
Thesium intermedium u. a. bilden den Haupt-
bestandteil dieser Pflanzengemeinschaft, welche die
sonnigen Hänge und Lehnen der Schwäbischen
Alb wie mit einem bunten Teppich überzieht.
Nach Gradmanns Auffassung haben diese
steppenähnlichen Fluren noch niemals Wald ge-
tragen, „weil die menschliche Kultur, Karst und
Pflug, die Sense und der Zahn der Weidetiere
ihn daselbst nie hat aufkommen lassen" (S. 358).
An anderer Stelle') kennzeichnet Gradmann
die Einwirkung des vorgeschichtlichen Menschen
auf das heimatliche Landschaftsbild folgender-
maßen : „Die erste Bevölkerung Mitteleuropas hat
sich daselbst niedergelassen zu einer Zeit, als die
alten Steppenbezirke mindestens noch sehr wald-
arm waren; sie hat diese Bezirke bald so dicht
besetzt, daß auch unter dem später wieder feuchter
werdenden Klima der Waldwuchs daselbst nie-
mals überhand nehmen konnte. . . . Indem jede
nachfolgende Bevölkerung sich der waldfreien
Bezirke bemächtigte und sie allein besiedelte,
konnte es geschehen, daß die Züge der alten
Steppenlandschaft ... bis zum Beginn des Mittel-
alters erhalten blieben" (S. -nd). „Die Herden
des vorgeschichtlichen Menschen sorgten schon
von selbst dafür, daß auf den Weideplätzen kein
Waldwuchs aufkam; dann und wann mag auch
die Axt nachgeholfen haben, um etwaigen Wald-
anflug wieder zu beseitigen, er diente ja zugleich
zur Feuerung." „Die alte Ursteppe wurde so
ganz unmerklich zur Kultursteppe" (S. 436). Auf
diesem lichten und freien Gelände inmitten dich-
ten Urwaldes soll nun die südosteuropäische
Steppenheidegenossenschaft eine Zufluchtsstätte
gefunden haben. Um diesen Zusammenhang im
einzelnen beurteilen zu können, ist vor allem auch
eine eingehende Kenntnis der örtlichen Verhältnisse
notwendig; doch auch dann bliebe der Anteil,
') Vgl. K. Gradmann, Das Pflanzenlcben der Schwä-
bischen Alb. 1. Bd., 1900.
-) Nach J. Seh Werts c hl ager (Die Rosen des Franken-
jura. München 1910) ist diese Rose durchaus den pontischen
Gewächsen zuzurechnen.
") Vgl. R. Gradmann, Das mitteleuropäische Land-
schaftsbild nach seiner geschichtlichen Entwicklung. Geogr.
Zcitschr. VII (1901).
N. F. XXI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»75
den die vorgeschichtliche Bevölkerung an der
Erhaltung der Steppenheidegenossenschaft haben
soll, recht schwer einzuschätzen in einem Gelände,
das schon von Natur aus das Vorkommen von
Steppenpflanzen ungemein begünstigt. Außerdem
ist stets zu bedenken, daß sich an geeigneten
Örtlichkeiten Steppenpflanzen auch ganz selb-
ständig ohne jedes Zutun des Menschen erhalten
haben. Ich erinnere z. B. an das märkische
Oderbruchgebiet, für das E. Wähle i) keine
dichtere neolithische Besiedlung angibt. An den
mergeligen Steilufern des märkischen Oderbruches
hat sich eine reichhaltige Steppenflora bis auf
den heutigen Tag erhalten können, ohne daß
man eine Mitwirkung des prähistorischen Men-
schen anzunehmen braucht. -) Deshalb wird es
in vielen Fällen recht schwer halten, den erhal-
tenden Einfluß der frühesten Bevölkerung auf die
einstige Pflanzendecke überzeugend nachzuweisen.
In einer späteren Arbeit^) hat Gradmann
noch andere Landstriche namhaft gemacht, die
sich nicht nur durch einen reichen Flor von
Steppenpflanzen, sondern auch durch eine frühe
und dicht gedrängte dauernde vorgeschichtliche
Bevölkerung auszeichnen, nämlich: das Wiener
Becken, das Marchfeld, die Wachau, die Welser
und Garchinger Heide, das Lechfeld, die ober-
rheinische Tiefebene, das Nahe- und Moselgebiet.
Kritischen Einzeluntersuchungen muß es jedoch
noch vorbehalten bleiben, einen direkten Zusam-
menhang zwischen der vorgeschichtlichen Besied-
lung und dem Vorkommen der Steppenpflanzen
für diese einzelnen Gebiete zu erweisen.
Für das mittelste Schlesien dürfte dieser Nach-
weis schon erbracht sein.^) Wie die zahlreichen
Altertumsfunde erkennen lassen, war das mittelste
Schlesien (Silingien) im Gegensatz zu den benach-
barten Landstrichen von der jüngeren Steinzeit
an bis in die geschichtliche Zeit ununterbrochen
dicht besiedelt. Das lehrt überzeugend das zu-
verlässige Kartenwerk, welches Oberlandmesser
Hell mich im Auftrage des Schlesischen Alter-
tumvereins in nächster Zeit herausgeben wird.*)
Beim Einzüge des Neolithikers hatte unsere
Silingische Landschaft noch nahezu Steppen-
charakter. Durch die Siedlungstätigkeit des vor-
geschichtlichen Menschen blieb nun unser Gebiet
auch während der F'olgezeit vor einer allgemeinen
Waldbedeckung verschont, so daß sich Reste der
einstigen Steppenvegetation bis auf den heutigen
') ^g'. ^' Wähle, Ostdeutschland in jungneolithischer
Zeit. Würzburg igiS.
') Vgl. Roman Schulz, Eine floristische und geologi-
sche Betrachtung des märkischen unteren Odertales. Verh.
bot. Ver. Prov. Brandenburg 1916.
^) Vgl. R. Gradmann, Beziehungen zwischen Pflanzen-
geographie und Siedlungsgeschichie. Geographische Zeitschrift
1906.
*) Vgl. E. Schalow, Über die Beziehungen zwischen
der Pflanzenverbreitung und den ältesten menschlichen Sied-
lungsstätten im mittelsten Schlesien. Engl. bot. Jahrb. 1921.
'') Über die Besiedlung Schlesiens während der jüngeren
Steinzeit Tgl. auch die vortreffliche Übersichtskarte bei E.
Wähle a. a. O.
Tag erhalten konnten. Infolgedessen hat die
natürliche Pflanzendecke dieses alten Siedlungs-
landes selbst heute noch trotz der starken Beein-
trächtigung durch die neuzeitliche Kultur einen
ganz eigenen Charakter. Für die Hügellandschaft
der oberen Lohe (Silingische Hügel) sind u. a.
bezeichnend: Carex Michclü, Fcstiica vallcsiaca,
Verbascum phoeniceuni, Avena pratensis, Aspenda
tinctoria, A. cynanchica, Thesium intermedium,
Peiicedanum Cervaria. Andere Arten sind nament-
lich dem flachen, fruchtbaren Schwarzerdgebiet
eigentümlich. Nach V. Hohenstein') stellt
unsere Silingische Schwarzerde eine dem russischen
Tschernosem gleichartige Bildung dar, die jedoch
in der jüngsten Vergangenheit unter einem kühleren
und feuchteren Klima mancherlei Umwandlungen
erfahren hat. Zu den Charakterpflanzen unserer
Schwarzerde gehören deshalb neben echten Steppen-
pflanzen {Asfrugalas daiiiciis, A. cicer, Lavatcra
thiiriiigiaca, Salvia pratensis, Lithospermum offi-
ciiiale, Onobrychis viciaefolia, Stachys germanica
u. a.) auch zahlreiche Hygrophyten {Lotus sili-
(juos/is, Euphorbia villosa, Orchis laxifiora, Gen-
tiana idigiiwsa, Carex aristata), denen sich früher
auch etliche Halophyten {Glaux inaritiiiia, Triglo-
ihin maritima, Mclilotns dciifatus, Lotus temdfolius)
hinzugesellten.'-) Selbst noch das angrenzende
Silingische Odertal ist durch das Vorkommen
mancher anspruchsvoller Stromtalpflanzen ausge-
zeichnet, wie Carex Bueki, Cerastiuvi anomahim,
Viola pumila, V. elatior, Iris muiicaulis, Hicro-
cliloa odorata u. a., von denen nicht wenige
enge Beziehungen zum Schwarzerdgebiet be-
sitzen.^) Ich wüßte nicht, wie man sich die
hier kurz dargelegten Verbreitungstatsachen er-
klärlich machen wollte, ohne auch auf die be-
siedlungsgeographischen Verhältnisse zurückzu-
greifen, da die Übereinstimmung zwischen der
Pflanzenverbreitung und den ältesten Siedlungs-
stätten gar zu auffällig ist. Ja, wir können wohl
feststellen, daß im mittelsten Schlesien die Ab-
hängigkeit zwischen floristischen und besiedlungs-
geographischen Tatsachen noch klarer zutage tritt,
als im Gebiete der Schwäbischen Alb. Die flache
Landschaft des zentralen Schlesiens hätte sich
ohne die wirksame Tätigkeit des vorgeschicht-
lichen Menschen sicherlich mit einer zusammen-
hängenden Walddecke überzogen und von der
einstigen Silingischen Steppe wäre kaum etwas
erhalten geblieben. Wichtig ist noch die Tat-
sache, daß alle nur während der Bronzezeit vor-
übergehend besiedelten Landstriche keinen nennens-
werten Pflanzenbestand zeigen, wie sich überhaupt
die Flora der einst mit dichten Laubwäldern be-
') Vgl. V. Hohenstein, Die ostdeutsche Schwarzerde.
Internationale Mitteilungen für Bodenkunde 1919. Vgl. auch
E. Schalow, Zur Entstehung der schlesischen Schwarzerde.
Beihefte z. bot. Zentralbl. 1 921, II.
") Ähnliche Verhältnisse dürften auch in den übrigen ost-
deutschen Schwarzerdgebieten herrschen, wie ich an anderer
Stelle nachweisen werde.
') Vgl. E. Schalow, Die Verbreitung der schlesischen
Stromtalpflauzen. Verh. bot. Ver. Prov. Brandenburg. 1921.
176
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
deckten Teile der schlesischen Ackerebene durch
ihre Charakterlosigkeit auszeichnet im Gegensatz
zu der reicheren Pflanzendecke der alten Siedlungs-
gebiete.
Für das sächsische Elbhügelland hat O. D r u d e *)
gleichfalls eine deutliche Übereinstimmung zwischen
den Wohnplätzen der vorgeschichtlichen Bevölke-
rung und dem Verbreitungsgebiet der Steppen-
pflanzen nachgewiesen. Vor allem sind es hier
die Hügel um Meißen, welche noch gegenwärtig
eine reichhaltige Sleppenvegetation aufweisen. Im
allgemeinen sind es uns schon bekannte P"ormen,
die im FJbgebiet wiederkehren. Als neu treten u. a.
hinzu : Ranimcidus illyricits, Euphorbia Gerardiana,
Campanula bo?io)iiaisis, Lachica viminea, Draba
muralis.") Auch Drude betont, daß sich infolge der
frühen Besiedlung der offene und freie Zustand der
Landschaft erhalten konnte. Selbstverständlich ist
es unmöglich, den Anteil der vorgeschichtlichen
Menschen an der Erhaltung der einstigen Pflanzen-
decke im einzelnen genau festzulegen. Dazu
müßte zunächst die Frage allseitig geprüft werden,
in welchem Umfange die natürlichen Einflüsse
ausreichen, um das heutige Vorkommen steppen-
ähnlicher Pflanzengenossenschaften zu erklären.
Ganz unabhängig von Grad mann hat Han-
sen^) auch für Norwegen Beziehungen zwischen
der Pflanzenverbreitung und der vorgeschichtlichen
Besiedlung des Menschen aufgedeckt. In Nor-
wegen sind die ältesten Siedlungen durch Namen
mit den Endungen „vim" und „heim" charakterisiert.
Diese Siedlungen decken sich auffallenderweise
mit der Verbreitung einer ganz bestimmten Pflanzen-
genossenschaft. Hansen nennt sie Origanum-
Formation. Dazu gehören : Origanum vulgare,
Libanotis montana, Campanula Cerzncaria, Aqui-
legia vulgaris, Artemisia Absinthium,^) Avena
praietisis u. a. Es ist mithin eine Gruppe wärme-
liebender Gewächse vorwiegend südlicher Ver-
breitung, die auf sonnigen licht bewaldeten oder
waldfreien Südhängen besonders der Silurformation
Reliktstandorte besitzen. Eine Beurteilung dieser
Verhältnisse ist freilich ohne allseitige Kenntnis
der Sachlage nicht gut möglich.
Auch noch andere Forscher nehmen einen
bestimmenden Einfluß des prähistorischen Menschen
auf die heimatliche Pflanzendecke an. Ich nenne
nur noch E. H. L. KrauiC,^) welcher schon vor
Gradmann einen Zusammenhang zwischen der
Verbreitung der Steppenflora und den ältesten
') Vgl. O. Drude, Die Entstehungsgeschichte des hei-
matlichen Landschaftsbildes. Heimatschulz in Sachsen I.
1909.
') Vgl. O.Drude, Die Verteilung und Zusammensetzung
östlicher Pflanzengenossenschaflen in der Umgebung von
Dresden. Isis 1885. Derselbe, Die Verteilung östlicher
Pflanzengenossenschaften in d. sächsischen Eibtalflora. Isis
1895.
') Vgl. Andr. M.Hansen, Landnäm i Norge. Christi-
ania 1904.
*1 In Norwegen wohl kaum einheimisch.
') Vgl. Ernst H. L. Krause, Die natürliche Pflanzen-
decke Norddeulschlands. Globus Bd. 61 (1892).
menschlichen Siedlungen angedeutet hat. So
schreibt er bei der Besprechung des Saalegebietes:
„Es ist schwer anzunehmen, daß die Steppen-
pflanzen Thüringens erst nach Rodung des Ur-
waldes wieder eingewandert seien, es ist noch
weniger wahrscheinlich, daß sie eine Periode ge-
schlossenen Waldwuchses an ihren jetzigen Stand-
orten überdauert haben. Hier scheint bis jetzt
keine andere Erklärung möglich als die, daß näm-
lich der Mensch sich in der Steppe niedergelassen
hat, ehe sie so dicht bewaldet war, wie sie nach
Boden und Klima gegenwärtig sein könnte" (S. 107).
In seinen späteren Arbeiten mißt Krause der
Tätigkeit der frühesten menschlichen Bewohner
eine noch viel größere Bedeutung bei. Er ver-
sucht sogar, die Bildung des Grenzhorizontes in
den nordwestdeutschen Mooren auf Kultur- und
Siedlungseinflüsse zurückzuführen und die Ursachen
der Vegetationsänderungen, wie sie Sernander
in Schweden für die postglaziale Zeit festgestellt
hat, sucht er auch in menschlichen Einflüssen. ^)
Nichts berechtigt uns jedoch, der Kultur des vor-
geschichtlichen Menschen eine derartig tiefgehende
Beeinflussung unserer heimatlichen Natur einzu-
räumen. Ebenso geht auch wohl Gradmann
neuerdings entschieden zu weit, wenn er in seiner
höchst anregenden Studie über Wüsten und
Steppen das Bestehen der Grassteppen haupt-
sächlich auf die durch den Menschen verursachten
regelmäßigen Grasbrände zurückführt.")
Hiermit wäre das wichtigste für unsere Frage
in Betracht kommende Tatsachenmaterial erschöpft.
Wenn es zunächst auch noch keine endgültige
Lösung der angeschnittenen F"rage zuläßt, so
wird es vielleicht doch dazu beitragen, das
Verständnis der gegenwärtigen Pflanzenverteilung
zu fördern. Von einem völlig klaren Einblick in
die Entwicklungsgeschichte unserer heimatlichen
Pflanzendecke sind wir freilich noch weit entfernt;
denn es sind zu vielerlei Kräfte, die an dem Zu-
standekommen unserer Pflanzendecke mitgewirkt
haben. Unter gewissen Bedingungen kann auch
der Siedlungstätigkeit des vorgeschichtlichen Men-
schen eine Mitwirkung an der Gestaltung der
heutigen Pflanzenverteilung nicht ohne weiteres
abgesprochen werden.
Ergebnisse:
1. Es besteht eine weitgehende Übereinstim-
mung zwischen den ältesten menschlichen Sied-
lungsstätten und der Verbreitung der Steppen-
pflanzen in Deutschland.
2. Die vorgeschichtliche Bevölkerung hat ohne
Zweifel viel dazu beitragen, den offenen steppen-
ähnlichen Charakter mancher Landstriche zu er-
halten.
') Vgl. E. H. L. Krause, Das europaische Klima im
letzten vorchristlichen Jahrtausend. Naturvfiss. Wochenschrift
1913, N. 44.
^) Vgl. R. Gradmann, Wüste und Steppe. Geograph.
Zeitschr. 1916.
N. F. XXI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
177
3. Eine ausschlaggebende Beteiligung der
vorgeschichtlichen Besiedlung an der Erhaltung
unserer Steppenpflanzen ist im allgemeinen nur
bei dauernder und dichter Besiedlung flacher oder
schwach hügeliger Landstriche anzunehmen.
Einzelberichte.
Die Tiefen des Weltmeeres.
Unter diesem Titel erschien kürzlich eine
Arbeit von E. Koßinna in den Veröffentlichun-
gen des Instituts für Meereskunde an der Univ.
Berlin, N. F. A. Geogr. naturw. Reihe, Heft 9
(Berlin 1921), welche auf Grund der bekannten
Tiefenkarten der Ozeane von H. Groll (ebenda,
Heft 2, Berlin 191 2), sowie des gesamten seitdem
bekannten IVIessungsmaterials seitens der verschie-
denen neuesten Forschungsexpeditionen eine neue
Berechnung des Inhalts sämtlicher Ozeane und
ihrer Randmeere vornahm. Gegenüber den
letzten Berechnungen von JohnMurray, welche
sich auf einer Höhen- und Tiefenkarte der Erde
von Bartholomew stützte, haben die Messun-
gen von Koßinna den großen Vorteil, daß
Grolls Karten, soweit dies überhaupt bei dem
gewählten Maßstab möglich ist, flächentreu sind,
während dies bei den Karten von B. durchaus
nicht der Fall war! Außerdem konnte, wie ge-
sagt, das gesamte umfassende Beobachtungs-
material verwertet werden, das sich seit der 13e-
rechnung Murrays im Jahre 1888 angehäuft
hatte.
Leider sind in großen Teilen der Ozeane die
bisher ausgeführten Lotungen noch sehr spärlich
vorhanden, namentlich in den südlichen IVIeeren,
so daß von irgendwelcher Exaktheit der Resultate
noch immer nicht gesprochen werden kann, doch
schätzt Koßinna den wahrscheinlichen Fehler
seiner Berechnung der mittleren Tiefe des Welt-
meeres — abgerundet 3800 m — nicht höher
als 100 m ein.
Diese Zahl ist um 1 14 m größer als die letzte
Berechnung durch K r ü m m e 1 , welche nur 368 1 m
ergab. Das Mehr ist nur zum allergeringsten
Teil in der Verschiedenheit der angewandten
Methode begründet — bathometrische Methode
bei Koßinna, Feldermethode bei K r ü m m e 1 — ,
es rührt vielmehr in der Hauptsache daher, daß
große Teile der Weltmeere, besonders der Süd
zone, tatsächlich tiefer sind, als man bis vor kur-
zem angenommen hatte. So ist der Atlantische
Ozean um 68, der Indische um 34, der Pazifische
aber um 185 m im Mittel tiefer als nach Krüm-
me 1. Da aber der letztere fast die Hälfte des
ganzen Weltmeeres ausmacht, so ist sein Einfluß
auf die mittlere Tiefe besonders groß. Sieht man
von den Randmeeren ab, so erhöht sich die
mittlere Tiefe der eigentlichen Weltmeere auf
4117 m; für die Nordhalbkugel allein steigt sie
auf 4322 m, für die Südhalbkugel sinkt sie auf
4000 m.
Dem Volumen nach kommen auf den Pazifi-
schen Ozean rund 707, den Atlantischen Ozean
323, den Indischen Ozean 291 Mill. cbkm; von
den Randmeeren steht weit voran das arktische
Mittelmeer mit 17 Mill. cbkm, ihm folgen das
asiatische mit 10, das amerikanische mit 9,5 und
endlich das europäische mit nur 4.2 Mill. cbkm.
An mittlerer Tiefe übertrifft aber das amerikani-
sche Randmeer mit 2214 m die übrigen bei
weitem. Indischer und Atlantischer Ozean haben
nahezu die gleiche mittlere Tiefe (3950 m), der
Pazifische Ozean ist durchschnittlich 350 m tiefer
als sie.
Von dem Gesamtareal der Ozeane (361 Mill.qkm)
treffen 27,5 auf den Kontinentalschelf (0—200 m);
38,7 auf den Kontinalabhang (200— 2440 m);
283,7 ^^^ ^^^ Tiefseeboden (2440 — 5758 m) (das
sind mehr als ^/j), endlich 11,2 Mill. auf das Tief-
seegesenke (unter 5750 m). Ein Viertel des
Ozeans, also mehr als Asien und beide Amerika
zusammengenommen liegt unter 5000 m; das
Areal der Tiefen von mehr als 6000 m ist nahezu
so groß wie halb Europa und selbst unter 7000 m
liegen noch fast 500 000 qkm, also mehr als Deutsch-
land nach dem Vertrag von Versailles umfaßt.
Von besonders bekannten und vielgenannten
Mittelmeeren hat die Ostsee (einschließl. Kattegat)
eine mittlere Tiefe von nur 55 m, das ist erheb-
lich weniger als z. B. der Bodensee, auch der
irische und englische Kanal stehen in mittlerer
Tiefe diesem Binnensee nach, der es ungefähr
mit der Nordsee (94 m) aufnimmt. Das Japanische
und das Behringsmeer dagegen haben ungefähr
die gleiche mittlere Tiefe wie die Maximaltiefen
der tiefsten Binnenseen (Baikal und Tanganyika).
Die Berechnungen vernachlässigen übrigens
die Tatsache, daß die Tiefenstufen um so mehr
von der Wirklichkeit abweichen, je tiefer sie sind,
weil sie ja kleineren Rotationsellipsoiden ange-
hören, das Volumen des Meeres muß also in
Wirklichkeit etwas geringer sein. Bei der be-
deutenden Größe des Meeres macht die Vernach-
lässigung der Erdkrümmung immerhin einen
Fehler von — 1 Mill. cbkm im Vol. und von
— 3 m in der mittleren Tiefe aus, doch wird die
mittlere Tiefe nicht verändert, insolern sie das
Mittel aus allen gleichmäßig über das Meer ver-
teilten Tiefen, wohl aber, wenn sie einfach den
^ • Vol. ^ ^
(Juotient r bedeutet.
Areal
Um das mittlere Niveau der starren Erdkruste
festzustellen, unterzog Koßinna auch die mitt-
lere Höhe der Kontinente einer Nachprüfung, bis
auf Europa, Afrika und Südamerika, für welche
178
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
die früheren Berechnungen von L e i p o 1 d t ,
Heide rieh und Haack beibehalten wurden.
Danach ist die mittlere Höhe von Europa 297,
von Afrika 671, von Südamerika 582 m, von
Asien 970 (Penck), von Australien 346 (Penck),
von Nordamerika nach Gannett 715m, endlich
von Antarktika nach Meinardus 2000 m. Der
mögliche Fehler dieser letzteren Zahlenangabe ist
aber 200 m, was bei einem Areal von über i4Mill.
qkm einen Fehler von fast 3 Mill. cbkm bedeutet,
gleich dem Volumen von ganz Europa (!) Es
ergibt sich hieraus eine mittlere Höhe der Land-
fläche zu 840 + 40 m. Für die Nordhalbkugel
erhalten wir 745 m, für die Südhalbkugel dagegen
1029 m, also nahezu 300 m mehr, bedingt durch
den sehr hohen antarktischen Kontinent.
Kombinieren wir nunmehr die Werte für die
mittlere Tiefe des Weltmeeres und der Landhöhe,
so ergibt sich als mittlere Höhe der gesamten
Erdoberfläche — 2440 m , oder für Nord- und
Südhalbkugel getrennt — 1890 und — 2990 m,
d. h. die starre Oberfläche der Nordhalbkugel ist
durchschnittlich um i loo m höher als die der
Südhalbkugel, die starre Oberfläche ersterer über-
trifft also letztere um rund 100 000 qkm.
Berücksichtigen wir noch die Böschungsver-
hältnisse, so fällt der Unterschied beider Halb-
kugeln noch größer aus, denn die Nordhalbkugel
hat ein viel reicheres Relief als die Südhalbkugel.
Stellen wir die Landhalbkugel mit einem Punkt
bei Nantes als Pol der Wasserhalbkugel gegen-
über, so finden wir, daß die starre Erdkruste auf
ersterer sogar mehr als 2000 m höher liegt als
auf letzterer. Endlich liegen 42 v. H. des Kon-
tinentalblattes über dem mittleren Krustenniveau,
58 V. H. unter demselben. Das Volumen dieser
Blätter beträgt rund 600 Mill. cbkm, '/jj liegt
oberhalb des Meeresniveaus, ^^12 unterhalb des-
selben. Nehmen wir das Volumen des Welt-
meeres zu rund 1370 Mill. cbkm an, seine durch-
schnittliche Dichte zu 1,037, so ergibt sich sein
Gesamtgewicht zu 1,42 Trillionen Tonnen oder
^!^2vo ^^^ ganzen Erdkugel, wenn wir ihr spez.
Gewicht zu 5,52 annehmen. Bei einem mittleren
Salzgehalt von 34,8 "/qq beträgt die in Meerwasser
gelöste Salzmenge 4,95- 10*® t, was einem Vo-
lumen von 22,3 Mill. cbkm entspricht. Auf den
als eben gedachten Meeresboden ausgebreitet,
würde das Salz eine Schicht von 62 m Mächtig-
keit bilden.
Endlich geht Koßinna auch auf eine Schät-
zung der in den Binnenseen und den Flüssen
enthaltenen Wassermenge, sowie des Gletscher-
eises und des Wasserdampfes der Atmosphäre
ein. In bezug auf den zuletzt genannten Posten
akzeptiert er die Berechnungen von Meinardus,
welcher ihn zu 1 2 300 cbkm , also zu einer sehr
unbedeutenden Mächtigkeit bestimmt. Unter
der Voraussetzung, daß die Eisdecke in Grönland
und Antarktika rund 1000 m sei, was mir sehr
reichlich vorkommt, berechnet K. das Vo-
lumen des gesamten Eises der Erde zu rund
16 Mill. cbkm. Das Volumen aller Seen der
Erde soll nach ihm 120000 cbkm nicht über-
steigen, wovon die Hälfte auf den Kaspisee ent-
fallen soll. Diese Zahlen sind unstreitig zu niedrig
gegriffen. Nach meiner Berechnung faßt allein
der Kaspisee rund 90 000 cbkm, die darauf volumen-
größten Seen Baikal, Superior, Tanganyika, Nyassa,
Huron und Michigan zusammen etwa rund 64000
cbkm. Das Volumen aller Seen der Erde beläuft
sich nach meinen Berechnungen auf rund 2 50 000
cbkm, das der Flüsse habe ich jüngst*) auf
1 5 000 cbkm geschätzt, also auf etwas mehr als
das des Wasserdampfes der Atmosphäre. Dazu
kamen noch Sümpfe, Moore, Schnee, Tau, endlich
das Grundwasser.
Immerhin leidet es nicht den geringsten Zweifel,
daß das Süßwasser der Erde gegenüber dem
Meerwasser nur eine verschwindend geringe Menge
ausmacht, nach meiner Rechnung etwa 3 "/(,(, des
Gesamtvolumens. W. Halbfaß.
Brüsseler Geologeukougreß.
Dem XII. internationalen Geologenkongreß in
Toronto hat infolge des Weltkrieges im üblichen
Zeitraum von 3 bis 4 Jahren ein weiterer nicht
folgen können. Ein mit Ausarbeitung bestimmter
Vorschläge beauftragter Ausschuß hat am 20. Juli
1921 in London Beratungen gepflogen. Der Ver-
treter Deutschlands, Stei n mann -Bonn hatte
nicht rechtzeitig eintreffen können, denjenigen
Österreichs, Tietze-Wien, hatte die Einladung
nicht erreicht (vgl. die Berichte in „Geolog. Rund-
schau" Bd. XII, H. 3—5, 1921, S. 234—236), auch
andere Mitglieder waren entschuldigt. Unter an-
derm beschloß man hier, die Internationalen Kon-
gresse fortzusetzen „den heutigen Verhältnissen
entsprechend abgeändert".
Vom 10.— 19. August 1922 sollte nun der
normale Kongreß in Brüssel stattfinden. Das
belgische Organisationskomitee hat es aber fertig
gebracht von vornherein den normalen Charakter
zu vereiteln. Es gibt sich den Anschein, ver-
mutlich im Hinblick auf den zitierten Wortlaut,
der schon mit ähnlichen Hintergedanken unter-
geschoben sein mag, in London Vollmacht er-
halten zu haben, Angehörige der Mittelmächte fern-
zuhalten und hat tatsächlich dementsprechend be-
schlossen (Geologiska föreningens i Stockholm
Förhandlingar Bd. 43, Heft 6— 7, 1921—22, S. 673
bis 674).
Für neutral gesinnte Fachgenossen entsteht
nach dem sehr würdigen schwedischen Bericht,
dem die Mitteilung entnommen ist, auf diese
Weise „en bögst beklagig Situation". Denn der-
artige Taktlosigkeiten stellen sie immer wieder
vor das Dilemma einer indirekten einseitigen
Stellungnahme. Man sucht dem von ihrer Seite
nun recht geschickt dadurch vorzubeugen, daß
man derartigen noch immer unter französischer
') Naturwiss. Monatshefte 1921, NoTcmberhcft.
N. F. XXI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
179
Kriegspsychose stehenden Kongressen zwar die
internationale Zusammensetzung natürlich nicht
abspricht, aber sie als mehr private Veranstaltungen
gelten zu lassen und dementsprechend nicht zahlen-
mäßig in die Reihe der wirklich gemeinsamen
Tagungen aufzunehmen wünscht. Der XIII. Geo-
logenkongreß würde nach diesem Vorschlag also
noch einmal auf eine geistig schon weiter ge-
sundete Zeit vertagt werden.
Für uns Deutsche erscheint, abgesehen von der
auch für uns tief schmerzlichen unverantwortlichen
Schädigung der übernationalen Wissenschaft, die
französisch belgische Tölpelei viel weniger unbehag-
lich. An Teilnahme wäre bei der wirtschaftlichen
Enge, in der die beteiligten Kreise leben, und ange-
sichts der Valutaschwierigkeiten in Deutschland
einschl. Deutsch-Österreich wohl kaum oder nur in
ganz seltenen Fällen zu denken gewesen. Dann
hätten es unsere Neider leicht gehabt, uns als die noch
Schmollenden hinzustellen oder gar unser reines
Gewissen zu verdächtigen, die Gründe solchen
„Selbstausschlusses" in sattsam bekannter Weise
vor der Welt zu verdrehen. Dieser Gefahr ist
nun ein nicht ganz unerwünschter Riegel vorge-
schoben. Im übrigen können wir geruhig ab-
warten, ob und bis sie uns selbst wieder in ihre
Mitte bitten.
Es gibt noch immer keinen besseren Bundes-
genossen als einen mit Blindheit geschlagenen
Feind I ' Hennig.
Znr Einwanderiingsgeschichte von Matri-
caria discoidea D. C.
Zu den ausländischen Pflanzen, die sich in den
letzten Jahrzehnten mit erstaunlicher Schnelligkeit
bei uns ausgebreitet und völlig eingebürgert haben,
gehört vor allem Matricaria discoidea D. C, die
strahlenlose Kamille und es dürfte deshalb von
Interesse sein, ihre Einwanderungsgeschichte, wenn
auch nur in allgemeinen Umrissen, kennen zu
lernen.')
Bis zum Jahre 18 14 war die strahlenlose Ka-
mille noch völlig unbekannt. In diesem Jahre
wurde sie zum ersten Male von dem aus Deutsch-
land stammenden und nach Nordamerika ausge-
wanderten Botaniker Friedrich Traugott
Pur seh in seiner „Flora Americae borealis" unter
dem Namen Santolina suaveolens beschrieben. Er
hatte die Pflanze selbst an FJußufern in Kali-
fornien entdeckt. Schon in den nächsten Jahren
wurde sie auch an anderen Stellen Nordamerikas
sowie im nördlichen Teile von Ostasien (Kamt-
schatka, Ostsibirien) wildwachsend gefunden.
1837 gab ihr der bekannte französische Systema-
tiker De Candolle den noch heute meist ge-
bräuchlichen Namen Matricaria discoidea. Doch
') Vgl. K. R. Kupffer, Einiges über Herkunft, Ver-
breitung und Entwicklung der ostbaltiscben Pflanzenwelt.
Arbeiten des 1. Baltiscben Historikertages zu Riga 1908. —
Hier auch genauere Literatur über die Ausbreitung unserer
Pflanze in Osteuropa.
blieb ihre systematische Stellung noch lange Zeit
ungeklärt. Das geht schon daraus hervor, daß sie
in nicht weniger als 10 verschiedenen Gattungen
untergebracht wurde, wie z. B. auch bei Tanace-
f/iin, Oirysanfhevmm, Cotula, Artcmisia u. a. So
fand die Pflanze unter den verschiedensten Be-
zeichnungen Eingang in die europäischen bota-
nischen Gärten, von denen sie ihren Sieges-
zug durch die meisten Kulturländer angetreten
hat. In den 40 er Jahren des vorigen Jahrhunderts
wurde sie im botanischen Garten zu Petersburg
kultiviert und bald zeigte sie sich auch in der
Umgebung des Gartens verwildert. Bereits 1872
war sie im Gouvernement Petersburg gemein.
1885 hatte siedle russischen Ostseeprovinzen und
1889 auch den größten Teil von Finnland be-
siedelt. Die Besitzergreifung Deutschlands ging
nicht so rasch von statten. Die Ausgangspunkte
der Ausbreitung waren auch hier vielfach die
botanischen Gärten. 1845 und 46 wurde unsere
Kamille unter der fragwürdigen Benennung Pyre-
thrum defloratuni Hort, im Berliner botanischen
Garten gezogen und 1852 fand sie A. Braun
recht zahlreich auf der Dorfstraße in Schöneberg
nicht allzu weit vom botanischen Garten in Ge-
sellschaft von Xanthium strm/iariutn, Coronofus
Kuelli, Sisymbrium Trio, Impatiens f>arvißora u. a.
eingeschleppten Fremdlingen.') 1866 wurde ihr
Erscheinen aus Magdeburg, 1872 aus Flensburg,
1877 aus Hamburg gemeldet. Seit 1861 ist sie
auch aus Schlesien bekannt.^) R. v. Üchtritz
fand sie hier in der Nähe des Breslauer botanischen
Gartens. Auch sonst tauchte sie noch an den
verschiedensten Stellen in Deutschland auf, zuletzt
anscheinend in Süddeutschland. Erst seit 1890
hat sie sich lebhafter ausgebreitet und dann
in überraschend kurzer Zeit von ganz Deutsch-
land Besitz ergriffen. Heute ist sie überall eine
ganz bekannte Erscheinung. Mit Vorliebe folgte
sie zunächst den Eisenbahnlinien. Von dem
Bahnhofsgelände ging sie dann auch bald auf
andere Ruderalsteilen, Schuttplätze und Wegränder
über. In natürlichen Formationen hat sie noch
nirgends festen Fuß fassen können und ihr
weiteres Schicksal bleibt abzuwarten. Jedenfalls
hat sie schon heutzutage nahezu kosmopolitische
Verbreitung, da sie auch bereits aus Australien
bekannt ist.
Über die Art der Samenverbreitung von
Matricaria discoidea liegen m. W. noch keine
näheren Beobachtungen vor, doch teilt A.Braun
mit, daß sich aus der völlig glatten Oberfläche
der Achänen bei Befeuchtung äußerst feine durch
Gallerte verbundene Fädchen entwickeln. Viel-
leicht heften sich die Samen mit Hilfe dieser
Fädchen an anderen Gegenständen fest und wer-
den auf diese Weise weiter verschleppt.
E. Schalow (Breslau).
') Vgl. A. Braun, Cliamomilla discoidea Gay, eine neue
Wanderpflanze in Deutschland. Bot. Zeitung 1852.
') Vgl. die betreffenden Jahrgänge der Verhandlungen
des bot, Vereins der Prov. Brandenburg.
i8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
Neue Forschungen über die Fixsterne.
Über die Beziehungen zwischen den Farben,
den Temperaturen und den Durchmessern der
Sterne handelt eine Untersuchung von Wilsing
(Astron. Nachr. Nr. 5124). Zunächst stellt er
darin fest, daß bei den Fixsternen nur diejenigen
Farben angetroffen werden, die in der natürlichen
Abkühlungsreihe der Metalle vorkommen. Daher
gestatten die Farben, wenn auch mit ziemlicher
Unsicherheit, einen Schluß auf die Temperatur.
Unter der wohl angenähert zutreffenden Voraus-
setzung, daß die Sterne ähnlich wie ein schwarzer
Körper strahlen, kann man dann auf Grund des
Planckschen Strahlungsgesetzes den Winkel wert
des Sterndurchmessers ermitteln, der bekanntlich
durch direkte Beobachtung nicht meßbar ist, weil
wir im Fernrohr das durch das Sternlicht erzeugte
Beugungsscheibchen sehen , das natürlich viel
größer ist, als dem wirklichen scheinbaren Durch-
messer des Sterns entspricht. Auch auf der
photographischen Platte entstehen infolge des
Zitterns des Sternbildchens scheibenförmige
Schwärzungen, aus deren Größe wir wohl auf die
Helligkeit, nicht aber auf den Durchmesser des
Sterns schließen können. Wenn wir von Sternen
erster oder zweiter Größe usw. sprechen, so
drücken wir damit bekanntlich nur die Helligkeit
der betreffenden Sterne aus.
Auch Russell, Haie, Pease und Ander-
son haben nach verschiedenen Methoden Winkel-
werte von Sterndurchmessern ermittelt. Für
Beteigeuze ergab sich nach Michelsons Inter-
ferenzmethode 0,045", während Wilsing und
Russell aus dem Strahlungsgesetz Werte zwi-
schen 0,032" und 0,040" fanden. Dabei ist
Beteigeuze von den bisher in dieser Richtung be-
handelten Sternen noch der scheinbar größte,
denn Wilsing und Russell fanden z. B. für
Sirius 0,004" bis 0,007"
Vega 0,003 bis 0,004.
Aldebaran 0,024 bis 0,034
Arktur 0,019 bis 0,031.
Die bekanntlich zuerst von Elster und
Geitel in die beobachtende Astronomie einge-
führte lichtelektrische Zelle ist in den letzten
Jahren zu einem außerordentlich feinfühligen Meß-
instrument ausgestaltet worden. Auf dem Pots-
damer Astronomentag gab Rosenberg an, daß
bei der Bestimmung einer Sternhelligkeit mit der
Photozelle eine Genauigkeit bis auf ein Zehn-
tausendstel einer Größenklasse keine unerreich-
bare Grenze mehr ist. Ferner berichtete Bott-
linger über die in Babelsberg vorgenommenen
Farbenindexbestimmungen mit der
lichtelektrischen Zelle. Der „Farben-
index" wurde dadurch ermittelt, daß eine Hellig-
keitsmessung mit Blaufilter verglichen wurde mit
einer solchen bei vorgeschaltetem Gelbfilter.
Natürlich erscheint ein gelber Stern bei letzterem
Filter heller, ein blauer bei ersterem. Beobachtet
wurden die Sterne bis zur 5. Größe und es ergab
sich für die Pickeringschen Spektralklassen F
bis M, daß die Zwergsterne erheblich weißer sind
als die Riesen und daß bei den letzteren erheb-
liche Verschiedenheiten im Farbenindex vorkom-
men, während die Zwerge mehr übereinstimmende
Farbenindizes aufweisen. Bei den Sternen der
Klasse Ma ist die Rotfärbung am stärksten, die
späteren Typen sind wieder weißer.
Eine Beziehung zwischen der absoluten Größe
der Sterne und ihrer räumlichen Geschwindigkeit
haben Adams, Strömberg und Joy aufge-
deckt (Astrophys. Journal, Juli 1921). Der be-
treffenden Untersuchung wurden 1350 Sterne,
meist von den Pickeringschen Spektraltypen
F, G, K und M zugrunde gelegt. Trägt man die
räumlichen Geschwindigkeiten als Funktion der
absoluten Größen graphisch auf, so ergibt sich
nahezu eine schräg aufsteigende, gerade Linie,
die für die Größe — 3 bei etwa 20 km/sec be-
ginnt und bei Größe 10 ungefähr 65 km/sec er-
reicht, so daß einer absoluten Helligkeitsabnahme
von einer Größenklasse eine Geschwindigkeits-
zunahme von rund 3 km entspricht. Unter allen
Fixsternen sondern sich die Riesensterne als eine
Klasse für sich ab, da sie verhältnismäßig frei
von starken individuellen Bewegungen sind.
Eine statistische Untersuchung über die Mas-
sen der Fixsterne verdanken wir v. Zeipel
(Upsala). Er fand, daß in den Sternhaufen die
schwereren Sterne hauptsächlich nahe der Mitte
zu finden sind, während die leichteren weiter zer-
streut sind, wie es dem sog. Verteilungsgesetz
von Maxwell, das für aus Molekeln aufgebaute
Gasmengen ausgesprochen wurde, entspricht. Die
gelben Riesensterne sind nach v. Zeipel etwa
sechsmal, die weißen dagegen nur dreimal so
schwer wie unsere Sonne.
Als eine untere Grenze für die Entfernung
der Milchstraßensterne glaubt S e e 300 000
Lichtjahre angeben zu können.
Auf dem Gebiet der veränderlichen
Sterne stellt das Erscheinen der ersten zwei
Bände der „Geschichte und Literatur der ver-
änderlichen Sterne", die im Auftrage der astro-
nomischen Gesellschaft von Müller und Hart-
w i g herausgegeben wird , einen wichtigen Fort-
schritt dar. Erst durch diese zusammenfassende
Arbeit ist das bis dahin in zum Teil schwer er-
häklichen wissenschaftlichen Schriften verstreute
Material der bisher vorliegenden Beobachtungen
so übersichtlich vereinigt, daß sich Untersuchun-
gen über einzelne Klassen dieser interessanten
Gestirne ohne allzu große Schwierigkeiten aus-
führen lassen. Den Anfang mit dieser Ausnutzung
des Werkes hat Ludendorff gemacht, dessen
in den Astronom. Nachrichten veröffentlichten
Arbeiten wir nachstehend einige Ergebnisse ent-
nehmen. Zunächst wurde von Ludendorff die
Frage behandelt, ob zwischen den d ■ Cephei-
Sternen und den Mira-Sternen eine scharfe Grenze
besteht. Diese P>age läßt sich zwar vorläufig
noch nicht entscheiden, aber soviel konnte doch
N. F. XXI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
181
auf Grund der Verteilung der Perioden und der
bei ö Cephei-Sternen niedrigen galaktischen Breiten
festgestellt werden, daß die Grenze, falls sie über-
haupt vorhanden ist, bei Perioden von 50 bis
60 Tagen zu suchen ist, so daß die der d Cephei-
Sterne unter dieser Grenze liegen. Die Werte
der Amplituden andererseits zeigen, daß auch bei
der Periode von 90 Tagen eine gewisse Abgren-
zung stattfindet, hier beginnen die Spektra der
Klasse Md. Vielleicht könnten die lichtstarken,
amerikanischen Fernrohre auf spektrographischem
Wege eine scharfe Abgrenzung nachweisen in dem
Umstände, daß die typischen ö Cephei-Sterne den
Perioden entsprechend veränderliche Radial-
geschwindigkeit zeigen, während die echten Mira-
Sterne solche Veränderungen der Bewegungen in
der Gesichtslinie nicht aufweisen. Jedenfalls wer-
den weitere Beobachtungen der hierher gehörigen
14 Sterne mit Perioden zwischen 35 und 90 Tagen
für die Erkenntnis des Wesens dieser Gruppen
Veränderlicher besonders wichtig sein.
Ludendorff untersuchte ferner noch die
Veränderlichen der Gruppen RV Tauri und U Ge-
minorum. Bei den ersteren liegt zwischen zwei
Hauptminima in der Regel ein sekundäres Mini-
mum. Sowohl die Abstände der Hauptminima
als auch die Lichtkurven , die bald an ß Lyrae,
bald an (J Cephei erinnern, sind stark veränder-
lich. Alle Perioden liegen unter 200 Tagen, die
Amplituden sind bis auf R Scuti gering, ebenso
die galaktischen Breiten. Es gehören hierher
folgende Sterne, bei denen die in Klammern
stehenden Zahlen die Amplituden in Größen-
klassen angeben: R Sagittae (1,8), V Vulpeculae
(0,1), RV Tauri (2.5). N Monocerotis (1,5), TV
Andromedae (1,7), R Scuti (4.5), BM Scorpii (0,9).
Für die U Geminorum-Gruppe ist charakte-
ristisch das lange Verweilen im Minimum bei
nahe konstanter Helligkeit, sowie das in unregel-
mäßigen Intervallen erfolgende, plötzliche Empor-
schnellen derselben, dem dann ein rasches, wenn
auch langsameres .^bnehmen folgt. Am rasche-
sten folgen die Aufhiellungen bei X Leonis (durch-
schnittlich alle 16 Tage), am langsamsten bei
UV Persei (etwa alle 200 Tage). Es gehören zu
dieser die nicht auf die Nähe der Milchstraße be-
schränkten Sterne UV Persei (A >■ 5"), SS Aurigae
(4,2), U Geminorum (5,0), X Leonis (3,9), TW
Virginia (> 3,5), SS Cygni (3,9), RU Pegasi (1,3).
F. Kbr.
Die Tätigkeit des Popocatepetl.
Unter diesem Titel hat Dr. L Friedländer,
der zurzeit auf einer vulkanologischen Forschungs-
reise in Südamerika weilt, in der Deutschen Zeitung
von Mexiko (7. Dez. 192 1) einen Artikel gebracht,
dessen hohes vulkanologisches Interesse mich ver-
anlaßt, eine kurze Mitteilung einiger darin ent-
haltener wertvoller Beobachtungen nebst einigen
Bemerkungen zu geben, was mir um so mehr
erleichtert ist, als mir ein Brief und eine Anzahl
vorzüglicher ergänzender Photographien des be-
kannten Vulkanologen soeben von ihm zuge-
gangen sind.
Die letzten größeren bekannten Ausbrüche des
Popocatepetl hatten in den Jahren 1539 — 40,
wiederholt im 17. Jahrhundert und vielleicht noch
einmal im Jahre 1720 statt. Seitdem ruhte der
Berg, und wurde nur im Zustand ruhiger Solfa-
tarentätigkeit beobachtet. Der in seinem Krater
abgesetzte Schwefel wurde noch im Jahre 1919
abgebaut. Den Kraterboden erfüllte nach einer
1906 von Friedländer bei einer früheren
Expedition aufgenommenen Photographie ein
kleiner von Schutthalden umgebener See. Im
Juni 192 1 erschienen die ersten starken Dampf-
wolken über dem Krater. Zeitlich steht diese
Erscheinung dem Januarerdbeben 1920 am Ori-
zaba nahe.
Dr. Waitz lieferte nach Beobachtungen vom
II. Okt. 1920 den ersten eingehenden Bericht
über den neu erwachten Berg (American Journal
of Science). Damals bereits hatte sich ein flacher,
napfkuchenartiger Lavahügel auf dem Kraterboden
gebildet, den er als den Kopf der unterlagernden,
aufstrebenden Lavasäule deutete. Starke Solfa-.
tarentätigkeit, begleitet von Explosionen aus der
Lavamasse selbst, wurde besonders an der Fuge
zwischen Kraterwand und Pfropfen beobachtet.
Dr. Atl gab weiter Nachricht über den Zu-
stand des Berges am 23. und 24. Nov. 1920, an
welchen Tagen die Auswürflinge der Eruptionen
den Rand des ca. 500 m hohen Kraters erreichten.
Ferner berichtet er das Erscheinen einer hell
leuchtenden, hohen Flamme über der Mitte der
Kuppel. In der zweiten Märzhälfte 1921 fand
Dr. Atl das Volumen der Lavakuppe verdoppelt
und von glühenden Spalten durchsetzt.
Alles deutet jedenfalls in der Richtung lang-
sam aber nicht ganz gleichmäßig zunehmender
Tätigkeit.
Am 15. Febr. 1921 erreichte Friedländer den
Vulkankrater. Fast der ganze Kraterboden war
von der Quellkuppe erfüllt, eine Erscheinung, die
Friedländer in mehreren klaren Photographien
festgehalten hat, was um so wertvoller erscheint,
als Quellkuppen in statu nascendi noch außer-
ordentlich selten beobachtet wurden; es ist mir
kein Fall bekannt, in dem eine solche im Boden
des Kraters eines Stratovulkans in ihren Anfangs-
stadien — um ein solches dürfte es sich hier
handeln — im Bilde festgehalten ist. Man wird
mit Friedländer auf Grund vielfacher Er-
fahrungen solche Quellkuppen als eine Alterser-
scheinung eines Vulkans deuten dürfen, dem in
diesem Zustande der Quellkuppenbildung in vielen
Fällen überhaupt nicht mehr, in anderen erst nach
längerer, vorbereitender Anstrengung noch die
Kraft zur Verfügung steht seinen Vulkanschlot
und damit den Weg zu unbehinderter Eruption
frei zu halten.
Die aufwärts strebende Kuppe trennte ein
schmaler Ringgraben von den Schlotwänden. Es
lS2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
dürfte dieser die Folge der Zurückhaltung der
Massen durch Reibung an den Kraterwänden sein.
Im Krater umgab ein Kranz stark dampfender
Fumarolen und Solfataren die zentrale Kuppe.
Über der Kuppe selbst lag kein Dampf, doch
zeigte die zitternde Luft über ihr deutlich, daß
dort offenbar ebenso Gase aufstiegen, die nur
noch nicht zu sichtbarer Form kondensiert waren.
Friedländer nennt Wasserstoff das die erste
Rolle spielende Gas. Es scheint mir danach, daß
die Dampfbildung des Randgrabens nur als Ab-
kühlungsfolge von den Kraterrändern her zu deuten
ist, und daß durch die Masse der Kuppe selbst
nicht weniger, sondern nur heißere Gase auf-
stiegen. Dies Aufsteigen ist erleichtert und kon-
zentriert an den die Kuppe durchsetzenden Spalten
und Spaltengruppen. Sie scheinen auch den
Hauptweg der größeren Explosionen darzustellen,
deren Friedländer einige, besonders aus den
zentralen Teilen der Kuppe entspringende, be-
obachten konnte, die Steine bis zur Kraterrand-
höhe auswarfen. Die Explosionswolke selbst er-
hob sich weit über den Krater, zeitweise bis zu
ca. 2000 m.
Gesteine der Kuppe konnte FriedländeT
nicht sammeln, doch glaubt er mit Bestimmtheit,
daß ihr Material nach dem allgemeinen Habitus
dasselbe andesitische Gestein darstellt, das die
Hauptmasse des Berges aufbaut. Von besonderem
Interesse ist, daß im NW wie SO der Kuppe
dunkle, schlackige Oberfläche beobachtet wurde,
so daß an beiden Stellen Andesitblocklava am
Fuß seitlich der Kuppe ausgetreten sein muß.
Dies und die vorwiegend zentralen Gasexplosionen
veranlassen Friedländer zur Annahme eines
zentralen Kraterrohres auch in der Quellkuppe.
Ich will der Möglichkeit und selbst Wahrschein-
lichkeit dieser Annahme gern beitreten, glaube
aber doch, daß ein zwingender Beweis hierfür
erst noch zu erbringen wäre. Denn bei dem
völlig zerrütteten Zustande des Quellkuppen-
materials, das außer durch die Spalten auch durch
die vielen kleineren, in ihrer Lage offenbar nicht
konstanten Gasaustrittstellen bewiesen wird, wäre
m. E. auch die spontane Öffnung und Schließung
der Masse, also ein lokales, wieder ausheilendes
Durchbrechen von unten ohne Entwicklung eines
konstanten Eruptivschlotes denkbar. — Die vor-
liegenden Nachrichten scheinen allerdings darauf
hinzuweisen, daß diese Durchbrüche mit Vorliebe
zentral (die großen Gasexplosionen), vielleicht
auch randlich (die Lavaaustriitstellen) auftreten.
Jedenfalls wird man den weiteren Nachrichten
Friedländers und seinen in der Zeitschrift für
Vulkanologie zu erwartenden Arbeiten und Ab-
bildungen mit Spannung entgegen sehen müssen.
Geologisch-paläontologisches Institut und Mu-
seum der Universität Berlin. Im Februar 1922.
Hans Reck.
Bücherbesprechungen.
Schweinfurth, Georg, Auf unbetretenen
Wegen in Ägypten. Aus eigenen ver-
schollenen Aufzeichnungen und Abhandlungen.
XXXII und 330 S. Zahlreiche Tafeln und Text-
abbildungen. Hamburg und Berlin 1922, Hoff-
mann und Campe.
Mit erstaunlicher Frische hatte vor wenigen
Jahren zur Zeit seines 80. Geburtstages der Nestor
der deutschen Afrikaforschung GeorgSchwein-
furth eine Neuauflage seines Werkes „Im Herzen
von Afrika" in einer wahrhaft würdigen und
monumentalen Form herausgebracht. Mit der-
selben Frische legt uns heute der greise Gelehrte
anläßlich seines 85. Geburtstages einen neuen
stattlichen Band mit dem glücklich gewählten
Titel „Auf unbetretenen Wegen in Ägypten" vor.
Der rührige Verlag Hoffmann und Campe hatte
ihn aufgefordert, für die Reihe der in diesem
Verlage erscheinenden „Lebenswerke" eine Dar-
stellung seiner Lebensarbeit niederzuschreiben.
Schw. hatte sich dieser Aufforderung nicht ent-
ziehen können. Seiner schlichten und bescheide-
nen, jedem lauten Hervortreten völlig abholden
Gelehrtennatur entsprechend vermochte er jedoch
nicht, sich eine zusammenfassende Darstellung
seines Lebens abzuringen. Mit geschicktem Griff
suchte er vielmehr aus alten früher gedruckten
Abhandlungen das heraus, was am besten uns
einen Einblick in seine Lebensarbeit gewähren
konnte. So vereinigte er 7 ausgewählte Abhand-
lungen, die an versteckter Stelle bereits früher
erschienen, dort aber nur dem engsten Fachkreise
zugänglich waren, zu dem vorliegenden Bande.
Einen kurzen Lebenslauf fügte er ihnen an; ebenso
eine kurze Skizze über seine Erlebnisse mit dem
Verlagsbuchhandel. Den Abhandlungen selbst
wiederum sind zahlreiche Anmerkungen und Zu-
sätze angefügt, die uns erkennen lassen, mit wel-
cher Liebe der alte Gelehrte auch noch heute an
den Fragen weiterarbeitet, die seinem Leben den
Inhalt gaben. Außerdem ist das Buch reich mit
Abbildungen geschmückt, die in der Mehrzahl auf
eigenen Photographien und Zeichnungen beruhen.
Auch die äußere Form des Werkes entspricht
seinem Inhalt; gleichwie das Werk „Im Herzen
von Afrika" wird es deshalb seinen Weg zu dem
Publikum finden. Noch ein paar Worte über seinen
Inhalt. Die ersten beiden Abhandlungen, im
Jahre 1865 geschrieben, bilden ein zusammen-
hängendes Ganze, obwohl sie dazumal an ver-
schiedenen Stellen veröffentlicht sind. Die erste
von ihnen behandelt Schw.s „Reise an die Küste
des Roten Meeres von Kosser bis Suakin", die
zweite die im Anschluß an diese Reise gemachten
N. F. XXi. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
«83
„Ausflüge um Kosser". Beide zeigen uns Schw.
in voller Tätigkeit eines Forschungsreisenden auf
im wahrsten Sinne des Wortes unbetretenen
Wegen. Wohl waren diese Reisen in erster Linie
auf die botanische Erforschung der betr. Gebiete
eingestellt. Aber gleich vom Beginn der Reisen
an beschränkt Schw. seine Beobachtungen nicht
auf dieses Gebiet, sondern greift auf die Geo-
graphie, Geologie, Ethnologie und Archäologie
über. Der nachfolgende Abschnitt zeigt uns, wie
ein Forschungsreisender manchmal zu ganz anders-
artigen Studien veranlaßt werden kann, als sie
ihm seinem Studiengange nach zunächst liegen.
Dreimal hatten Schw. seine Reisen zu den beiden
ältesten Klöstern der Christenheit, die etwa 200 km
südöstlich von Kairo weitab von den gemeinhin
üblichen Reisewegen liegen und deshalb auch nur
von wenigen Europäern bisher besucht waren, zu
den Klöstern St. Antonius und St. Paulus geführt.
Beiden widmet er nun ein Erinnerungsblatt, indem
er in frischer Weise die Lage der Klöster, ihre
Umgebung, gleichzeitig aber auch das Leben und
Treiben der Mönche in ihnen beschreibt und auch
Einblicke in die Geschichte ihrer Gründer ver-
mittelt. Die folgenden vier Arbeiten geben uns
Ausschnitte aus den Arbeiten Schw.s auf dem
Gebiete der Ägyptologie. Sie behandeln ein „altes
Stauwerk aus der Pyramidenzeit" (bei Heluan),
die „Steinbrüche am iVIons Claudianus in der öst-
lichen Wüste Ägyptens" und die „Begagräber".
Das letzte Kapitel endlich „Die Wiederaufnahme
der alten Goldminenbetriebe in Ägypten und
Nubien" zeigt uns, wie auch auf ägyptischem
Boden Altertum und Gegenwart eng miteinander
verknüpft sind.
Berlin. Hugo Mötefindt.
Pummerer, Prof. Dr. R., Organische Chemie.
(Wissenschaftliche Forschungsberichte Bd. IIL)
Dresden u. Leipzig 1921, Theodor Steinkopfif.
36 M.
Die „Wissenschaftlichen Forschungsberichte"
sollen „eine Auswahl des Wichtigsten, was In-
und Ausland seit 1914 in jedem einzelnen Zweig
der Naturwissenschaften geleistet hat" zur Dar-
stellung bringen. Der vorliegende Band präzisiert
diese Aufgabe dahin, dem angehenden Chemiker
in vorgeschrittenen Semestern „das intensive Ein-
leben in sein organisches Arbeitsgebiet" zu er-
leichtern. Dieser Zweck erscheint voll erreicht.
Keine einigermaßen wichtige Arbeit ist unerwähnt
geblieben, die in den Kriegsjahren und später ent-
stand. Vieles davon ist den Lesern dieser Zeit-
schrift aus unseren Referaten bekannt, in denen
wir uns allerdings bemühten, auch für Nichtche-
miker verständlich zu sein. Das vorliegende Buch
ist nur dem Chemiker voll verständlich. Man
darf also auch den strengeren Maßstab des Che-
mikers bei der Beurteilung anlegen. Diesem wird
die Bevorzugung der Arbeiten aus der Münche-
ner Schule auffallen. Verständlich bei dem sach-
lichen Wert der gerade in München geleisteten
Arbeit einer- und aus der Person des in München
tätigen Verf.s andererseits, beeinträchtigt dieser
Umstand doch zuweilen das Urteil über Arbeiten,
die einem anderen Geiste entstammen. So tritt
beispielsweise die Theorie der Karbonsäuren von
Hantzsch nicht in das rechte Licht. Ein ohne-
hin lohnendes Eingehen auf die umfassenden Ar-
beiten dieses Forschers wäre erwünscht und dem
vollen Verständnis der Säuretheorie (mag man in
Einzelheiten zu ihr stehen wie man will) förder-
lich gewesen. Wie breit erscheint demgegenüber
das Kapitel über die Gallenstoffe und das
über die Zucker. Und eigentlich überflüssig
sind die Abschnitte über Enzyme, denn „Er-
gebnisse" haben auch die Arbeiten Willstätters
noch nicht gebracht. Unzureichend hinwiederum
ist das, was über Zellulose gesagt ist.
Im einzelnen fiel mir dieses auf: S. 3 ist
Essigester als „enolisierbare Verbindung" aufge-
führt. Gemeint sind offenbar Stoffe vom Typ
des A c e t essigesters. — S. 37 wird die Aufstellung
„präziser Koordinationsformeln" gefordert. Ein
schwer erfüllbares Verlangen! In der Wern er-
sehen Schreibweise hört ja gerade die Präzision
unserer alten Strukturformeln auf. Das Ziel ist,
die „Sphären" im Molekül, die Werner klüglich
offen ließ, mittels 'Kauffmann scher Kraftfeld-
symbole zu dem zu machen was sie sind: kraft-
erfüllte Räume. — Die Formel XII auf S. 39 ist
kein Hydroxyd, wie der Text S. 40 angibt. —
S. 41 fehlt die Literaturangabe der Arbeiten von
Lee her. — Ungemein zu bedauern ist die jetzt
leider immer allgemeiner werdende Schreibweise
wissenschaftlicher Namen nach ihrer deutschen
Aussprache. Zumal da sie, vielleicht in besserer
Einsicht des Verf s, nicht immer durchgeführt ist.
Wenn man schon Karbon sagt, warum dann nicht
auch Naf talin? Das auch sachlich Bedenkliche
der Schreibweise des Verf.s erhellt aus einem
Wort wie Zinnamyl, das sowohl die Zinn-
verbindung wie den Cinnamylrest bedeuten kann.
Im ganzen sind die angeführten Bemerkungen
ohne Belang. Zur raschen Unterrichtung über
die in den letzten Jahren gemachten Fortschritte
der organischen Chemie ist das Buch wohl zu
empfehlen. H. H.
Böhmig, Ludwig, Die Zelle. (Morphologie
und Vermehrung.) 138 S. mit 73 Abb. Berlin
und Leipzig 1920, Verlag Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger. (818. Band der Samm-
lung Göschen.) Preis geh. 2,10 M. und 100 "'„
Verlegerteuerungszuschlag.
In knapper Form werden die wichtigsten Ka-
pitel der Zellenlehre behandelt, wobei der Verf.
sich fast ausschließlich auf die tierische Zelle be-
schränkt. Die Darstellung ist leicht lesbar, doch
hat man den Eindruck, als sei das Büchlein be-
reits vor etwa 8 Jahren geschrieben. Jedenfalls
geht der Verf., was die Berücksichtigung der
Literatur anbelangt, nicht über Buchners 1915
erschienenes, ausgezeichnetes Praktikum der Zellen-
i84
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 13
lehre und über Brüels im gleichen Jahre im
Handwörterbuch der Naturwissenschaften veröffent-
lichten, ebenfalls vortrefflichen Aufsatz über Zelle
und Zellteilung hinaus. Und es ist doch manches
Wertvolle auf zytologischem Gebiete im In- und
Auslande seither erschienen 1 Daß die neuere aus-
ländische Literatur nicht berücksichtigt wurde,
mag mit der Schwierigkeit ihrer gegenwärtigen
Beschaffung entschuldigt werden. Schwerer wiegt
es aber, wenn z. B. noch von der vermeintlichen
„Merogonie der Oenolhera-Bastarde" eine Schilde-
rung gegeben wird. Der Hinweis darauf, daß es
„Biologen gibt, die gegen die Konstruktion eines
Zusammenhanges zwischen Geschlecht und Idio-
Chromosomen sind", erscheint ebenfalls reichlich
veraltet. Auch die Angaben über die künstliche
Parthenogenese stimmen nicht mehr ganz.
Nachtsheim.
Bürger, Prof. Dr. O., Venezuela. Ein Führer
durch das Land und seine Wirtschaft. Mit
einer mehrfarbigen Karte. Leipzig 1922, Diete-
richsche Verlagsbuchhandlung. 50 M.
Das Land, das jetzt von den Vereinigten
Staaten von Venezuela eingenommen wird, ist
der Teil der neuen Welt, mit dem Deutschland
zuerst in Berührung trat, und auch lange nach
dieser ersten durch die Welser angebahnten Be-
ziehung haben Deutsche in den Freiheitskämpfen,
sowie bei der wissenschaftlichen und wirtschaft-
lichen Erschließung des Landes eine nicht unbe-
deutende Rolle gespielt. Noch heute ist das
deutsche Element, wenn auch zahlenmäßig nicht
besonders stark, doch ein recht bedeutungsvoller
Faktor im Lande. Die Deutschen sind nämlich
die Vertreter des Hochhandels in Venezuela und
sind dementsprechend besonders geachtet; sie
leben auch im besten Einvernehmen mit der ein-
heimischen Bevölkerung, die sich durch Regsam-
keit, Intelligenz und innere Veranlagung vorteil-
haft auszeichnet. Außerdem sind Vertreter des
Handwerks, namentlich Hutmacher und auch aka-
demische Berufe im Lande tätig. Besonderes
Interesse beansprucht eine deutsche Bauernsied-
lung, die Kolonie Tovar, lOO km westlich von
Caracas und 70 km nördlich von La Victoria in
einer Höhe von 1700— 2000 m, die 1843 von
Badener Landleutcn gegründet wurde. Sie hat
sich durch schwere Zeiten hindurch bis heute
gehalten, war aber drauf und dran, im Spanier-
tum aufzugehen, als der Weltkrieg eine erfreu-
liche Selbstbesinnung bewirkte. Wir entnehmen
diese Angaben dem oben genannten Buche, das,
ähnlich wie das neulich von uns angezeigte Buch
des gleichen Verfs über Chile seine Entstehung
dem besonderen Interesse verdankt, das bei uns
dem Auswanderungsproblem entgegengebracht
wird. Erst vor wenigen Jahren hat die venezoe-
lanische Regierung durch Bestimmungen die Ein-
wanderung erneut anzuregen versucht. An ge-
eignetem Siedlungsland ist kein Mangel. In Frage
kommen allerdings nur die hochgelegenen Land-
striche, als besonders geeignet werden die Kor-
dillere von Mörida und die westliche Hälfte der
karaibischen Ketten genannt. Einer geschlossenen
Siedlung von Landwirten und Handwerkern wird
das Wort geredet.
Das Buch kommt den oben gekennzeichneten
Interessen ausgezeichnet entgegen. Es gibt eine
zum Teil aus eigener Erfahrung, im übrigen aus
den besten Quellen geschöpfte, lebendige, knappe
aber sehr reichhaltige Schilderung der bunten Be-
völkerung, der staatlichen Entwicklung, der Vege-
tation und Tierwelt und namentlich der Wirt-
schaft dieses interessanten, von der Natur ver-
schwenderisch bedachten Landes. Miehe.
Lampert, Das Leben der Binnengewässer.
3. vermehrte u. verbesserte ' Auf läge, bearbeitet
von Lauterborn. Lieferung 2 — 6. Leipzig,
Tauchnitz.
Von diesem ausgezeichneten Werke, dessen
erste Lieferung wir schon anzeigten, sind jetzt die
Lieferungen 2 — 6 erschienen. Sie bringen den
Schluß der Mollusken, die Insekten, die Spinnen-
tiere, und von den Crustaceen die höheren Krebse,
die Kopepoden, die Ostrakoden und ein Teil der
Phyllopoden. Überall hat der Herausgeber das
Buch mit dem Stande des heutigen Wissens in
Einklang gebracht. Bei den Insekten sind be-
sonders die grundlegenden Arbeiten vom Wesen-
berg-Bund gebührend zur Geltung gekommen. Die
Abbildungen sind wesentlich die allen geblieben.
Erwähnt muß werden, daß einige Mängel im Druck
der Abbildungen, die bei der ersten Lieferung
auffielen, bei den neueren Lieferungen glücklich
vermieden sind. Nienburg.
Lassar-Cohn, Prof. Dr., Einführung in die
Chemie in leicht faßlicher Form. 6.,
verb. Aufl. Leipzig 1921, Leopold Voß.
Ein gutes Buch auf mäßigem Papier mit
äußerst schlechten Abbildungen. Einzelnes ist für
eine „Einführung" zu schwer, so z. B. der Begriff
des asymmetrischen Kohlenstoffatoms, das Peri-
odische System und der Anhang. Für Volkshoch-
schulen warm zu empfehlen! Stil und logischer
Aufbau sind mustergültig. H. H.
InllHlt : II. Frickc, Zur Klärung des Älherproblems. (l Abb) S. 169. E. Schalow, Pflanzenverbreitung und vorge-
schichtliche liesiedlung. S. 173. — Einzelberichte: K. Kofiinna, Die Tiefen des Weltmeeres. S. 177. Brüsseler
Geologonkongrefl. S. 178. Zur Einwanderungsgesehichte von Matricaria lihcoidea D. C. S. 179. Wilsing, Neue
Forschungen über die Fixsterne. S. 180. I. Friedländer, Die Tätigkeit des Popocatepetl. S. 181. — Bücher-
besprechungen: G. Schwein furth, Auf unbetretenen Wegen in Ägypten. S. 182. R. Pummerer, Organische
Chemie. S. 183. L. Böhmig, Die Zelle. S. 183. O. Bürger, Venezuela. S. 184. Lampert, Das Leben der
Binnengewässer. S. 184. Lassar-Cohn, Einfuhrung in die Chemie in leichtfaßlicher Form. S. 184.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band:
der ganzen Reihe 37. Hand.
Sonntag, den 2. April 1922.
Nummer 14.
Das Donautal in Österreich.
[Nachdruck verboten. 1
In dem an die 350 km langen Laufe der
Donau in Österreich sind fünf Weitungen, die mit
mio- und pliozänen Meeres- und Seenschichten
wie noch späteren Flußaufschüttungen bedeckt
sind, zwischen sechs Engtäler eingeschaltet, in
denen der Strom von Norden oder Süden vor-
wallendes Gebirge durchbricht. Berühmt ist ja
die bildhafte Kennzeichnung durch Ed. Sueß,
der die Donau mit einem an den Gebirgsdurch-
brüchen als Aufhängepunkten befestigtem Seil
verglich , daß zwischen ihnen im Bogen herab-
hängt; und dieses Herabhängen wird gewöhnlich
auf ein (hauptsächlich durch die Erdrotation be-
wirktes) Ausbiegen der Donau nach rechts zurück-
geführt, wobei „meilenweite Alluvialniederungen
als linksseitiges Ufer zurückgelassen" werden
(5 i 1057).') Der Lauf der Donau ist verhältnis-
mäßig alt : ihre allgemeine Nordwest • Südost-
Richtung hält sich wahrscheinlich sowohl im
Böhmischen Massiv (der „herzynischen Richtung"
der deutschen Mittelgebirge) wie innerhalb des
alpin - karpathischen Bogens (14; 169 f.) an eine
tektonisch vorgezeichnete Linie und die Talge-
schichte des Stromes läßt sich in den meisten
Teilen an den ihn beiderseits begleitenden, zeit-
lich überwiegend fixierbaren Terrassen (Gehänge-
stufen) ablesen, die freilich infolge nachträglicher
Störungen an manchen Stellen Unregelmäßigkeiten
im Gefälle, d. h. Abweichungen von einem paral-
lelen Verlaufe zum Strome zeigen ; es gab
schon eine Donau , als die jüngste zusammen-
hängende Meeresbedeckung in unserem Gebiete
bereits die Verbindung mit dem offenen Ozeane
verloren hatte (2; 10), wobei unsere Urdonau in
Binnenseen mit wechselnder Spiegelhöhe mündete,
die sich — den Strom nach sich ziehend — immer
weiter in den tiefer liegenden Südosten zurück-
zogen : schon im Oberpliozän verließ bei Linz
(14; 185), noch früher (Obermiozän, Altpliozän?)
in 380 m Höhe bei Krems eine Donau das
Böhmische Massiv (10 ; 12). Jedenfalls aber ist
die Anlage des Durchbruchstales hier überall
präglazial; während der Eiszeit erfolgte nur eine
Tieferlegung des Flusses, eine Tieferlegung, die
jedoch nach der Lage der ältesten Eiszeitterrasse
über dem heutigen Strom den Betrag von durch-
schnittlich 30 m nicht überschritten haben dürfte.
Die Entstehung der Donau muß zu einer Zeit
Von Oskiir Keude.
') Die wichtigste Literatur ist am Eude des Aufsatzes
zusammengestellt; wo im Text Literaturbelege gegeben sind,
weist, in Klammern gesetzt, eine erste Ziffer auf die ent-
sprechende des Literaturverzeichnisses, eine zweite auf die
Seitenzahl des betreffenden Werkes hin.
begonnen haben, als die Landschaft ganz andere
Formenzüge trug als gegenwärtig. Mit deutlichem
Fuße hebt sich heute der Südrand der Böhmischen
Masse gegen das Alpenvorland ab. Dem war
früher nicht so: als die letzte Meeresbedeckung
schwand, war das Alpenvorland bis zu solcher
Höhe mit ihren Ablagerungen erfüllt, daß diese
auch über den Abfall des Urgebirges hinüber-
griffen. An der damaligen tiefsten Stelle (4; 105),
aber in, gegenüber dem heutigen, weit höheren
Niveau setzte die Arbeit der Urdonau zunächst
in den leicht zerstörbaren tertiären Schichten ein;
ein breites Tal war schon geschaffen, ehe der
Fluß auf den widerstandsfähigeren Rücken des
Urgesteins traf, in den er sich dann in engem
Tale einsägte, während die Denudation die lockeren
Auflagerungen der Gehänge entfernte. Das gibt
das heutige Bild der Donaudurchbrüche durch
den österreichischen Anteil am Böhmischen Mas-
sive und es besteht die auffällige Tatsache, daß
man den Strom mehrmals felsumgürtet im Ge-
birge eingesenkt findet, während ihm heute um
das Gebirge herum ein bequemerer Weg offen
stünde. Aber wir wissen ja: der F"luß folgt gar
nicht der heutigen, sondern der anders gerichteten
Abdachung einer früheren geologischen Epoche:
man nennt so entstandene Täler epigenetische.
Einzelheiten des Laufes mögen dann von jungen
Verbiegungen (i; 478) oder der Gesteinsstruktur
(4; 106) mitbestimmt worden sein. — Über die
gewöhnlich anders angenommene Entstehung des
Durchbruchs der Donau durch die Sandsteinzone
der Alpen oberhalb Wiens zwischen Leopoldsberg
und Bisamberg und ihren Durchbruch zwischen
den Ausläufern der Alpen und den Kleinen Kar-
pathen oberhalb Preßburgs sprechen wir dann an
gegebener Stelle.
Kurz unterhalb von Fassau, wo die Fluten des
breiteren Inn sich der Donau vermengen, wird
das rechte Ufer unseres Flusses österreichisch,
erst rund 25 km davon entfernt bei Engelhartszell
auch das linke. Bis gegen Aschach, also auf bei-
nahe 70 km Lauf länge, ist das „Passauer Tal"
genannte Stromstück, zumal zwischen Engelharts-
zell und der Mündung der Gr. Mühl ganz eng.
Aus 80 bis 100 m Höhe gleiten aus fast geradem
First sanft die Gehänge zum Strome nieder, nur
gelegentlich lugt nackter Fels aus dem stillen
Gleichmaß der Waldbedeckung hervor, selten ver-
mag das Auge aus der erzwungenen Beschränkung
des Vor- und Rückwärts tiefer seitlich in ein
Nebental, wie das der Gr. Mühl einzudringen; die
schluchtartigen Gräben der wenigen und meist
i86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
kurzen Nebenflüsse, die mit ungleichmäßigem Ge-
fälle den Weg zum Hauptstrom finden, öffnen die
Wände kaum. Ruhe und Einsamkeit atmet die
Landschaft, in die sich gar nicht häufig Einzel-
gehöfte und kleine Dörfer, wie Engelhartszell und
Wesenufer auf der rechten , Niederranna, Ober-
mühl, wo eine aus dem Mühlviertel kommende
Straße die Donau übersetzt, und Neuhaus auf der
linken Seite belebend drängen. Gering ist ja der
Raum für Wohnstätte und Landbau am Flusse,
bloß auf kleine Strecken kann ihn eine Straße
rechtsseitig begleiten; Siedlungen, Felder und Ver-
kehr mußten sich auf die Höhen ziehen, die im
Norden als Bayrischer Wald bis zur Staatsgrenze,
im Süden etwa gleich weithin als Sauwald (gipfelnd
875 m im Haugstein) bekannt sind, darüber hinaus
aber keine zusammenfassende Bezeichnung führen.
Und doch hat auch hier, dem Verkehrsbande des
Stromes geltend, sich manches wichtige Stück
Geschichte zugetragen. Schon die Römer besaßen
hier Befestigungen, an die zehn, noch heute sicht-
bare Burgen waren die Mitnutznießer eines leb-
haften mittelalterlichen Donauhandels, in Aschach
hatte Stephan Fadinger, der Führer des
oberösterreichischen Bauernaufstandes von 1626,
das Hauptquartier. Im ganzen ist der Lauf der
Donau durch das Passauertal nicht allzustark ge-
wunden. Nur bei Schlögen, bei Ober- und Unter-
mühl finden sich größere Schlingen. Bei Schlögen
hemmt eine scharfe Beuge die sonst eingehaltene
(tektonische) Südostrichtung, der Strom wendet
sich jäh nach Nordwesten zurück; in der Fort-
setzung gegen Südosten aber zieht erst der kleine
Adlersbach, dann (jenseits des Fadingersattels) der
Unterlauf der (bis dahin nach Nordosten ge-
richteten) Aschach: liegt hier ein altes Donautal
vor, geht die im Verhältnis zu den Flüssen größere
Breite dieser Furche auf die Gesteinsstruktur
zurück (4; 106), hat bei Schlögen eine junge Auf-
biegung dem südöstlich weiter eilenden Flusse
den Weg verlegt und ihn zum Ausweichen und
Einschneiden an anderer Stelle genötigt (i ; 478)? ^)
Oder handelt es sich bei den Mäandern dieses
Laufstückes um ursprünglich natürliche Schlingen
einer auf der alten, fast ebenen und wenig ge-
neigten Landoberfläche träge dahinschleichenden
Urdonau, die durch das spätere Einschneiden des
Flusses in die Urgebirgsmasse von dieser aufge-
nommen wurden und sich so erhielten (7; 105)?
— Bei Aschach, hinter dem wir im Aschach-
Brandstätter Kachlet (G' hachlet — Hackmesser)
eine steinige Untiefe passieren,-) weitet sich die
Landschaft zum Ef erdinger Becken. Zunächst
verfängt sich noch der Blick zur Rechten in den
') Auch Brust (7; 105) glaubt im Anschlufl an A. Penck
an eine Hebung um rund 100 m und er nennt einige Be-
obachtungen, die dafür sprechen (Höhe der Heibacher Eben-
heit bei Schlögen, die außerordentliche Steilheit und Glätte
der Talwände in diesem Gebiete, Stufenmündungen der kleinen
Seitenbäche, Gefällsknicke im Unterlaufe der größeren).
*) Die Fahrwassertiefe beträgt hier (225 — 231 km ober-
halb Wiens) bei kleinstem Schiflfahrtswasserstande nur 1,25 m.
Resten der einst so starken Schaumburg auf vor-
geschobenem Gneisfelsen, aber schon über das
alte, einst am Strome, heute weit von ihm ab-
liegende Eferding hinweg, dem Everdingen des
Nibelungenliedes, wo Kriemhild mit Günther und
Giselher auf der Fahrt ins Heunenland genächtigt
hat, kann man südwärts an klaren Tagen bis zu
den Alpenspitzen schauen und gegen Norden ruht
das Auge weithin auf freundlichem, von Streifen
Ackerlandes und zahlreichen Ortschaften über-
sponnenem Gelände des Mühlviertels. Rund 15 km
bloß vermag sich die mannigfach verästelte erste,
für alle Stromweitungen schon typische Donau-
girlande mit ihren lichtgrünen Auenwäldern,
den vegetationsfreien Kies- und Sandhaufen zu
schlingen; Pesenbach und Gr. Rotel nimmt der
Strom von Norden, den Innbach von Süden auf.
Dort aber, wo am linken Ufer Schloß Ottensheim
hoch über dem gleichnamigen Markt sich erhebt
und rechts von fern der prächtige Barockbau der
Zisterze Wilhering herüber grüßt, beginnt schon
das zweite, allerdings viel kürzere Durchbruchs-
tal der Donau ; sie hat hier von dem gegen Süden
vorstehenden Granitrücken desMühlviertlerPlateaus
den Kirnberger Wald (525 m) losgeschnitten.
Nicht mehr so einsam ist es hier wie im Passauer
Tal. Links folgt dem Ufer die Mühlkreisbahn, ins
rechtsseitige, von zahlreichen Kapellen belebte
Gehänge ist die von Wels heraufziehende Land-
straße eingelassen und — Linz, die den Verkehr
sammelnde und ausstrahlende oberösterreichische
Landeshauptstadt ist bereits nahe; auch das alte,
die Umgebung beherrschende Wahrzeichen der
Stadt auf dem linken Donauufer, der Pöstlingberg
(537 m) mit seiner barocken Wallfahrtskirche hat
uns dies schon längst verraten.
Unterhalb der auf der Niederterrasse ') des
Stromes erbauten Doppelstadt Linz-Urfahr, deren
Emporkommen als Brückenort durch eine Kreuzung
von Landwegen und Wasserstraße mitbedingt
war und deren Bedeutung für den Flußverkehr
durch Lagerhäuser, Werfte und Hafenanlagen der
Donaudampfschiffahrtsgesellschaft augenfällig mar-
kiert ist, tritt die Donau neuerdings in eine Allu-
vialebene ein, das Linz-Ardagger-Becken,
das man wohl auch durch den bei Mauthausen
rechts an den Strom herantretenden Urgebirgs-
sporn in eine westliche und östliche Hälfte, das
eigentliche Linzer und das Wallseer Becken zer-
legen kann. Rund 4 km breit ist das wieder
vielfach zerteilte, inselreiche Strombett, Auen-
wälder und Geröllbänke erheben sich zwischen
den verwilderten Armen, deren unmittelbare Nähe
bis auf das zwischen den Fluß und den Granit
der Böhmischen Masse malerisch eingezwängte
Mauthausen (Steinbrüche!) größere Siedlungen
gemieden haben, was der Landschaft, die auch
genügenden Ackerboden entbehrt, ein fast melan-
cholisches Aussehen gibt. Erst hält sich der Fluß
') Die Niederterrasse entspricht der jüngsten (vierten) oder
WUrmeiszeit.
N. F. XXI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
187
ganz am Massivrande, dann schwingt die Girlande
schärfer gegen Süden ab und die Wogen bespülen
die, mehrfach als ausgesprochener Steilabfall ent-
wickelte Nordgrenze des Alpenvorlandes (l ; 474 f-.
477), dessen tertiärer Untergrund von der Traun-
mündung bis über die Enns hinaus mit diluvialen
Schottern bedeckt ist (Traun-Enns Platte) und nur
östlich davon als stärker zertaltes (Schlier) Hügel-
land zutage tritt. Auf der etwa 50 km langen
Strecke zwischen Linz und Ardagger läßt sich
nach alledem nicht allzuviel erschauen. Künst-
lerische Formen der Baudenkmäler und historische
Erinnerungen von der Römerzeit über Nibelungen-
und Kreuzzugsfahrten bis in die Tage Napoleons I.
müssen ersetzen, was das rein Landschaftliche
häufig schuldig bleibt. Von den Granitausläufern
unterhalb von Linz sieht Schloß Steyregg herab,
gegenüber wirft die Traun ihr Wasser in die
Donau und rechts blicken von den Tertiärhügeln
am südlichen Beckenrande Schloß Ebelsberg und
die wundervollen barocken Türme von St. Florian
herüber. Vor Mauthausen, nachdem die Gr. Gusen
aus dem Granitplateau zur Donau durchgebrochen
ist, äugt zwischen lichten Baumbeständen die alte
Wasserburg Spielberg durch, zur Rechten gemahnt
die Kirche von Lorch, daß hier als Laureacum
eine römische Lagerstadt (Hauptort der Provinz
Ufernorikum) die Donaugrenze schützte; erhob sich
das eigentliche Lager über einem auf die Nieder-
terrasse geschütteten Flußschwemmkegel, so liegt
das heutige Enns mit seinem mächtigen Stadtturm
unmittelbar dahinter auf einer höheren Terrasse,
der steil abfallenden Hochschotterterrasse.') Als
bayrische Grenzfeste gegen die Magyaren (Anesi-
purch) ist es im Mittelalter an Lorchs Stelle ge-
, treten und war lange Zeit auch eine wichtige
Handelsstadt, die erst durch die Verlegung der
Verkehrswege vereinsamte (8; 185 f.). Unterhalb
von Mauthausen, dessen Name die wenig gern
erstatteten Gebühren für die Befahrung des Stromes
verewigt und kurz nachdem die Donau rechts die
Enns an sich gezogen und von diesem Punkt an,
freilich bloß auf der rechten Seite, niederöster-
reichischen Boden betreten hat, unterfährt man
die einzige Eisenbahnbrücke zwischen Linz und
Krems. War bisher das linke Ufer das nähere,
so schiebt sich nunmehr durch das Rechtsdrängen
des Stromes das Tertiärhügelland enger heran.
Aist und Naarn kommen von links herzu, die
Naarn muß erst eine Zeitlang der Donau parallel
fließen, ehe sie sich ihr verbindet ; die Donau hat
wohl ihre Mündung, wie sie das auch mit anderen
Nebenflüssen getan hat, verschleppt. Rechts ist
es eigentlich nur Schloß Wallsee, das, auf alt-
historischem Posten errichtet, den Blick für länger
fesselt.
Hinter Ardagger treten schnell die Berge beider-
seits wieder zusammen, doch nicht das Tertiär-
hügelland begleitet rechts den Strom , sondern
') Die Hochterrasse gehört der dritten oder Rißeis-
zeit an.
das dritte Durchbruchstal der Donau durch das
Massiv hat begonnen, die zwischen Grein und
Ybbs verlaufende Greiner Enge. (Aber auch
unterhalb von Ybbs, was gleich vorausbemerkt
sei, wo in der weiteren Umgebung von Pöchlarn
das südliche Gehänge zurückweicht und einer im
Mittel 2 km breiten Alluvialebene Raum gibt,
bleibt die Donau innerhalb des Massivs, dessen
Gneishügel über den Fluß stark nach Süden vor-
springen.) Die Greiner Enge ist bei aller Ähn-
lichkeit mit dem Passauer Tal doch freundlicher
als dieses. Gewiß auch diese Landschaft, der mit
ihren nah, gelegentlich auf V2 ^"^ zusammenge-
rückten, waldüberkleideten Talwänden an manchen
Stromstellen jeder Fernblick so sehr genommen
ist, daß man auf einem gebirgsumschlossenen
Alpensee zu weilen vermeint, ist herb; aber der
Eindruck wird wenigstens auf der linken Seite
gemildert durch die schneller nebeneinander ge-
setzten Siedlungen und durch den diesem Ufer
folgenden, tunnelreichen Schienenstrang, der doch
einen Weg, der aus der Enge hinausführt, sinn-
fällig werden läßt. Was aber dieses Talstück in
früherer Zeit berühmt und berüchtigt machte,
waren die einst so gefährlichen natürlichen Hemm-
nisse, die hier kurz hintereinander der Schiffahrt
erstanden. Die scharfe, durch einen Felsvorsprung
hervorgerufene Strombeuge bei dem malerisch ihr
eingeschmiegten Örtchen Grein erzeugte, wo
links der Kreuzner Bach breiter seine Mündung
weist, die wildschäumenden Wirbel des „Greiner
Schwall".- Und wenige Kilometer unterhalb, da
eben der Strom mit einem stark versandeten Arm
(dem „Hößgang") die sagenübersponnene, Ruinen
gekrönte Insel Wörth umschlungen hat, beginnt
der „Greiner Struden". Besonders widerstands-
fähiges, durch die Wogen geglättetes Gestein
ragte hier als „Kugeln" klippenartig auf, rasend
schnell in starkem Gefalle (Stromgeschwindigkeit
in der Strudenausfahrt noch heute bis 3,5 m in
der Sekunde, Niederwassergefälle 0,771 pro "/oo)»
stürzt der zwischen den Waldgehängen eng zu-
sammengepreßte, mehrfach gekrümmte Fluß über
sie hinweg und noch gegenwärtig, nachdem sich
schon das 18. Jahrhundert um die Sprengung der
Felsen bemüht, doch erst das Ende des 19. Jahr-
hunderts eine durchgreifende Regulierung gebracht
hatte, erfordert die hier bei Niederwasser nicht
größere Tiefe als 1,36 m Vorsicht für die Schiff-
fahrt. Die Enge ist gerade verlassen, es bleibt
kaum Zeit, Burg Werfenstein und die zu ihren
Füßen an den Fels gehängten Häuser des Ört-
chens Struden zur Linken gebührend zu bewundern,
da gleiten wir auch bereits am dritten einstigen
Hindernis vorbei, dem „Wirbel"; die Wassermassen
stauten sich zu heftig kreisendem Wogenprall, wo
links der gewaltige, quer dem Strome sich vor-
legende „Hausstein" die an ihm gebrochenen
Wogen der gegenüberliegenden Landspitze des
„Langen Steins" zuwarf; erst in der Mitte des
19. Jahrhunderts hat man durch Sprengung des
Haussteins den „Wirbel" für die Schiffahrt gefahr-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
los gemacht.^) Links eilen wir am alten Schiffer-
dörfchen St.' Nikola, am malerischen Sarmingstein
vorüber, in dessen Rücken sich das Tal des Sar-
mingbaches öffnet; unfern, beim kleinen Hirschenau,
ist nun auch das linke Ufer niederösterreichisch
geworden. Tauchten bisher zur Rechten die
Waldgehänge (Schwarze Wand, Schlöglberg —
4S0 m — ) fast ohne Uferknick ins Wasser nieder,
so kann hinter Freyenstein schon eine (gegen
Ybbs ziehende) Straße Platz finden und auch
links, noch vor Ispersdorf, das die Mündung
der Isper hütet , treten die Berge etwas zurück.
Haben wir links Ort und Schloß Persenbeug in
bevorzugter, von den Römern gegen die Ger-
manen, von den Deutschen gegen die Magyaren
genützter Lage hinter uns (die nicht ernstlich
„böse Beuge" des F'lusses liegt südöstlich davon),
sind wir an dem ihm gegenüber breit gelagerten,
altertümlichen Ybbs vorüber (römisches Kastell
»ad pontem Ises«), so haben wir auch das dritte
Engtal verlassen; es ist klar, daß Ybbs, der seit
Linz größte Ort an der Donau (3800 E.) nicht in,
sondern am Ausgang der Enge erwuchs. Die
(wenn Linzer und Ardagger Becken als eines ge-
nommen werden, dritte) Donauweitung bis Melk
umfait eine Strecke von rund 22 km; die Donau
folgt hier einem „alten, von tertiären Sanden ver-
schütteten und wieder ausgeräumten Tal" (i; 476).
Wir wissen bereits, daß hier auch das südliche
Gelände dem Massiv angehört. Es ist meist
niedrig und steigt erst südlich von Melk im Hies-
berg 5 58 m an. Schon bald nachdem die Ybbs
in vorgeschobenem Delta ihre grünen Wasser der
Donau von Süden zugeführt hat, schweift der
Blick ungehemmt über die niedrigen Hügel bis
zum in 40 km Entfernung aufragenden Ötscher
(1892 m),^) er ist im Auenlande nicht begrenzter,
wo die Erlauf, nachdem sie den Gneiswänden
entronnen, vor Pöchlarn (dem Bechelarn des Nibe-
lungenliedes) auf breiter Niederung der Donau
sich hingibt und noch von Weitenegg,'') dessen
Burgruine den Ort am Ausgang des Weitenbaches
überschattet, schaut man gegen Süden jenseits der
von einem versandeten Donauarm umfaßten großen
Insel über Alpenvorland und einen breiten Ge-
birgsstrcifen. Ostwärts aber bleibt das Auge be-
reits am mächtigen Barockbau des Melker Stiftes
hängen, das vom 57 m hohen, schroff abfallenden
Gneisfelsen ins Donautal hinausträumt. Der Ort
') Die gerundeten Steine, die man während der Regu-
lierungsarbeilen in mehreren Kiesenkesseln oberhalb des heu-
tigen Wasserspiegels fand, bezeugen eine wichtige Seite der
erosiven Tätigkeit des Flusses.
'■') Die kurze neuerliche Knge bei Säusenstein , die sich
nach dem Verlassen des Ybbsfeldes 5 km abwärts von Ybbs
auftut, glauben wir nicht besonders erwähnen zu müssen.
Hier auf dem nördlichen Ufer das hübsche Örtchen Marbach,
hinter dem deutlich die diluviale Nieder- und Ilochterrasse
der Donau zu sehen ist, während die weiter rückwärts vom
hohen Berge ins Land lugende alte Wallfahrtskirche von
Maria Taferl auf einer (durch Meeresbrandung entstandenen)
Tertiärterrasse sich erhebt {17; 58).
^) Bei Weitenegg sind bei Niedrigwasser größere Untiefen
vorhanden.
Melk ist das Medelike des Nibelungenliedes, es
war vor Wien die ostmärkische Residenz der
Bebenberger; ') und hier, wo oberhalb die Melk,
unterhalb die Pielach in die Donau fallt, ^) beginnt
die „Wach au", das vierte bis Krems reichende
Durchbruchstal des Stromes, der hier im Süden
den Dunkelsteiner Wald (höchster Punkt Mühl-
berg 730 m) vom Jauerling (959 m) lostrennt.
Als ganzes ist die Wachau viel heiterer als die
früheren Durchbrüche. Die Enge der an die 500 m
hohen Wände drückt nicht so stark, denn selbst
an den Lehnen sind Siedlungen emporgeklettert
und hinter Spitz, wo auch das Tal breiter, seine
Gehänge weniger steil werden, beleben Häuser-
zeilen beständig den Landschaftsausdruck; selbst
die Dorfbilder wirken in der Wachau freier. Der
Ernst des Waldes aber wird besonders in den
östlichen Teilen von den Weinkulturen unter-
brochen, die im Löß der Sonnenseiten guten
Boden finden; und im Frühjahr zur Zeit der
Baumblüte lacht es aus den Obsthainen, die zu-
mal das linke Ufer des auch klimatisch bevor-
zugten Tales begleiten, in voller Lust entgegen.
Auch die Bahn fehlt nicht; sie zieht, unter man-
chem Berg hindurch, auf der Nordseite und nicht
bloß auf einem, sondern, auf beiden Ufern konn-
ten Straßen geführt werden. ^) Bei Melk hat sich
der Strom, für eine kurze Weile noch im breiteren
Tale, scharf gegen Norden gewendet. ■*) Links
gehts an Emmersdorf, einer der frühesten ost-
märkischen Gründungen, rechts, nach langem ein-
drucksvollen Vorblick auf sein hochtürmiges
Schloß, am Orte und dem Servitenkloster Schön-
bühel vorüber; jetzt, zwischen Hochkogel rechts
(536 m) und dem Reith links (523 m) betreten
wir erst die eigentliche Enge, jenen bis Aggsbach ,
reichenden Teil, der in einsamer Geschlossenheit
am meisten an Passäuer und Greiner Tal gemahnt;
im Herbste ist der Gehänge dichtes Waldkleid in
der berauschenden Leuchtkraft seiner Farben am
schönsten. Bald erscheint zur Rechten Aggsbach-
Dorf, der Ort weit Gebirgs einwärts gelegen, zur
') In der Höhe der im Niveau des älteren — der älte-
sten oder GüDseiszeit entsprechenden — Deckenscbotters lie-
genden Stiftsterrasse befand sich bereits eine prähistorische
Siedlung, die Römer errichteten hier das Kastell „ad Mauros".
^) Auch die untersten , ins Massiv eingeschnittenen Tal-
stücke der Erlauf, Melk und Pielach sind epigenetischen Ur-
sprungs (l ; 466).
■'') Für die Wachau betont Penck (10; 5, 12) ihr sehr
hohes Aller als Talfurche. Im mittleren Tertiär wird sie vom
Alpenvorland her mit einem guten Stück des nördlichen Gneis-
geländes zugeschüttet, nur einige Kuppen ragen hervor. Gegen
Ende des Tertiärs nimmt die Urdonau ihren Weg, eiszeitliche
Talterrassen folgen dem Strom auf beiden Seiten. Frz. Ed.
Sueß, der auch zur Erklärung von einzelnen Laufstellen an
Dislokationen denkt, will daraus, daß gerade die höchsten
Erhebungen im Norden, nahe dem Donautale liegen (bei
Arnsdorf 712 m) schließen, daß die iüntiefung ,,in den oberen
leilen einer vom Waldviertel her gegen St. Polten ziemlich
gleichmäßig abfallenden Fläche eingeschnitten wäre" (4; 107).
■*) Die bei Melk beiderseits im Gehänge sichtbaren Fels-
massen in rund 220 m Höhe gehören der ältesten Eiszeit an;
die älteren Deckenscholter liegen hier 30 m über dem Strome
(■3; 53)-
N. F. XXI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Linken am Ausgang des Aggsbaches auf der
Niederterrasse gelegen, Aggsbach - Markt, hinter
dem Wiesen und Felder langsam den Eichberg
hinanklimmen. Hier und auch weiter Stromab-
wärts finden sich am Nordgehänge mächtige, (wie
die Kremser Vorkommnisse) der letzten Inter-
glazialzeit entstammende (10; 10) Lößlager, in
denen man interessante prähistorische, dem Jung-
paläolithikum, und zwar dem Aurignacien zuge-
rechnete Kulturschichten entdeckte. ') Rechts
ist, lange den Blick fesselnd, auf hoher Fels-
terrasse thronend, die Feste Aggstein aufgetaucht,
von wo die mächtigen, ob ihres Übermutes ge-
fürchteten Kuenringer, die „Hunde von Kuenring",
zur Babenbergerzeit den Donauhandel unsicher
machten. Links folgen auf breiterem Strande
Willendorf (wo 1908 die dem Aurignacien ange-
hörende „Venus von Willendorf" ausgegraben
wurde) und Schwallenbach, sodann, wieder un-
mittelbar zum Strome abstürzend, die vielfach
zerklüftete F"elsmasse der „Teufelsmauer", der auf
dem rechten Ufer das alte Kirchlein von St. Jo-
hann gegenüberliegt. Und da wir schon links
hinter dem Schloßberg (656 m) die schöne Ruine
Hinterhaus, einst auch eine starke Kuenringerfeste,
erspähen, ist Spitz nicht mehr fern. Der um das
rebenbedeckte Gelände des bezeichnenderweise
Tausendeimerberg genannten Spitzer Hügels
(314 m) gelagerte Ort, der sich in den erweiterten
Talausgang des Spitzer Baches (Mühldorfertal),
doch auch gegen den Mießlinggraben hinein-
schmiegt und so zwei für das niederösterreichische
„Waldviertel" wichtige Zugänge beherrscht, macht
einen recht stattlichen Eindruck (über 1700 E.).-)
Hinter Spitz verläßt die Donau die Nordrichtung,
läuft erst, in der Fortsetzung des Spitzer Baches, '')
nach Nordosten, links zu Füßen des Atzberges
an der befestigten Kirche von St. Michael mit
ihren figurengeschmückten Zinnen auf dem Turme
vorbei , vorbei auch an Wösendorf. Erst unter-
halb von Weißenkirchen, das, einst Hauptort der
Wachau (im engeren Sinne) im stark verbreiterten
Ausgang des Machtales auf einer von älterem
Deckenschotter bedeckten Terrasse liegt und mit
seiner Fülle malerischer Motive in Straßen und
') Näheres bei H. Obermeier, Der Mensch der Vor-
zeit (München 1912) S. 290 ff.
-) Der Spitzer Hügel ist erst im Tertiär durch den Spitzer
Bach von einem Ausläufer des Jauerling losgetrennt worden;
früher umfloß er ihn im Westen und Norden ; das alte Tal-
bett ist heute wasserleer (10; 10, 12). Die Frage, ob der
durch die Orte Isper, Pöggstall, Mühldorf und Spitz gekenn-
zeichnete Talzug, der heute in den drei Teilstücken von Isper,
Weiten- und Spitzerbach drei verschiedene Flußläufe enthält,
einst als einziger westösdicher Fluß bestand, ist noch nicht
klargestellt; hat er bestanden, so wurde er jedenfalls früh
durch die von der Donau zurückgreifenden Gewässer des
Isper- und Weitenbaches erobert und außer Funktion gesetzt.
(M. Michl im Geogr. Jahresbericht aus Österreich, Bd. X,
1912, S. 225).
^) Der Spitzer Bach und seine Donaufortsetzung werden
hier als Unterlauf eines alttertiären Flusses aufgefaßt, dessen
Oberlauf die entsprechenden Teile des heutigen Isper- und
des Weitenbaches bildeten (Rusch-Vetters-König-Pa-
bisch, Landeskunde von Niederösterreich {Wien 190S) S. 36.
Höfen schon manches Künstlerauge lockte (9;
201 f), wendet sich der Strom dann, unter Schwan-
kungen, seiner Hauptrichtung nach Osten wieder
zu. Auf den alten, hier gut hervortretenden
Stromterrassen liegt meist Löß ; deutlich ist auch
rechts in bereits verbreitertem Tale („Rührsdorfer
Au") über der rebenbedeckten Terrasse von Ros-
satz, wo sich die Donau für eine kurze Strecke
nach Südosten wendet, der präglaziale Talboden
zu sehen. Steil fallen zur Linken die zerklüfteten
Hänge des Vogelberges (530 m) und, durch den
unwegsamen Talgraben getrennt, des Schloßberges
(540 m) zur Donau ab; die unterste Felsstufe
über dem Strom trägt die Reste der berühmten
Feste Dürnstein, einst auch eine stolze Kuenringer-
burg. Die wenigen Häuser des Ortes Dürnstein
(460 Einw.) steigen mauerumgürtet hart vom Strome
auf die Felsen hinan : prächtig das Renaissance-
schloß der Starhemberg und der Barockturm der
Stiftskirche : das Ganze vom Strome aus ein Bild
von unvergeßlicher Schönheit. Links unterhalb
der Talweite von Loiben noch eine kleine nord-
westliche Talstrecke und wir stehen am Ausgang
der Wachau, in den buchtartig Tertiärschichten
sich eingezwängt haben. *) Bloß rechts erreicht die
Donau etwas stromabwärts (bei Hollenburg) einen
Ausläufer des Massivs; im übrigen hat sie bereits
links bei Stein und Krems,-) rechts bei Mautern
das gegenüber einer Länge von 48 km und einer
größten Breite von 14 km im Westen und Osten
(am Nordrand des Wiener Waldes) schmal
endende Kremser Becken^) betreten, das
einerseits (in Fortsetzung des schon bei Rührs-
dorf sichtbaren Stückes) Niederterrasse, anderer-
seits Alluvialboden ist. Mautern ist die älteste
Siedlung; als römisches Kastell Favianis war es
mit dem gegenüberliegenden Stein durch eine
hölzerne Jochbrücke verbunden. Dieses, ohne
viel Raum zur Entwicklung zwischen Fels und
Fluß gesperrt, war für den mittelalterlichen Donau-
handel wichtiger und ist auch heute der größere
Ort (über 4400 Einw.) ; doch ist es längst von
Krems (14 400 Einw.) überholt worden, das mit
') Güttenberger (9; 212) hat besonders auf die ver-
schiedenaltrigen Talstücke der Wachau hingewiesen ; älter ist
das Talstück Spitz-Krems, es ist tertiär, aber im Oberoligozän
bereits verschüttet worden; jünger, doch natürlich jedenfalls
präglazial, die Talfurche Melk-Spitz.
-) Bei Krems sind drei tertiäre Talböden mit Ablagerun-
gen von Donauschottern in verschiedener Höhenlage zu er-
kennen: der Goldbergterrasse oberhalb von Stein in 365 m
Höhe (175 m über der Donau) entspricht eine Plattform bei
Mautern, 360 m hoch ; eine zweite Terrasse südlich von Mau-
tern in 320 m Höhe (130 m über der Donau) hat ihr Gegen-
stück am linken Ufer im Kremsfelde und zwischen beiden in
rund 335 m Höhe (145 m über der Donau) liegt eine als
Maisbergniveau bezeichnete Terrasse. Alle drei stellen Tal-
böden dar, die aus dem Donau-Schuttkegel der ,,pontischen
Stufe'* (dem Unterpliozän) herausgeschnitten sind, so daß das
Kremsfeld eine Erosions- und keine Akkumulationsform be-
deutet (13; 34 u. 50 f.). Das diluviale Wagram-Niveau be-
findet sich, entsprechend der älteren Deckenschotterterrasse,
in etwa 220 m Höhe (30 ni über dem Strome).
'') Das ganze erste Kapitel der Ilassi nge rschen Mono-
graphie (13; 31 — 55) ist dem Kremser Hecken gewidmet.
igo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
ihm die Vorteile der Lage am Ausgange der
Wachau teilend sich leichter ausdehnen kann und
zugleich dem Eingang ins Kremstal näher gerückt
ist. Auch ist es selbst für die weiter östlich aus
Kamp- und Traisental heranziehende Straße
Brückenstadt. Auf den bis 20 m mächtigen, oft
(künstlich) terrassierten Lößschichten seiner Um-
gebung gedeiht viel Wein. — Im Kremser Becken,
dessen nördlich der Donau gelegener Teil oft
auch als Wagram, dessen südlicher als Tullner
Feld bezeichnet wird, durchfahren wir nun die
vierte Donauweitung. Im Norden von ihr „legen
sich an einen deutlich ausgeprägten Steilrand, die
diluviale Donauterrasse des »Wagram«, noch
höhere Diluvialterrassen, im Süden scheidet ein
scharfer Rand die fruchtbare Anschwemmungs-
ebene von dem (aus tertiären Schichten bestehen-
den und von jungtertiären Schottern und Sanden
überlagerten) Hügel- und Bergland. ^) Trotz teil-
weiser Regulierung umfaßt der von Flußarmen
durchzogene und naturgemäß meist unproduktive
Auengürtel gelegentlich 5 km Breite" (i ; 477, 479).
Das Streben der Donau in der Gegenwart, nach
rechts zu drängen, ist im Kremser Becken weniger
auffällig (5; 1060); immerhin lag Krems wohl
einst am Strome selbst und ist die noch im
Jahre 890 als lapidea platea erwähnte Römer-
straße, die von Favianis nach der Limesstation
Trigisamum (Traismauer) zog , von dem rechts
rückenden Strom zerstört worden (9; 200). Wir
haben Krems Donau abwärts fahrend verlassen,
links den Blick auf die lößüberkleideten Wände,
rechts über das Auengebiet der Fladnitzmündung-)
hin auf das wunderschöne, einen Urgebirgspfeiler
krönende Stift Göttweig (449 m). Aber dann
heißt es für den Entsagung üben, der eine ab-
wechslungsreiche Gegend liebt. Reizlos ist ja die
Fahrt zwischen den von zahlreichen Stromarmen
durchsetzten Auen durchaus nicht, zumal Wasser-
geflügel aller Art uns vors Auge kommt; auch
der wissenschaftliche Beobachter findet genügend
Stoff durch Verfolgung der geneigten Flußterrassen,
die vom Kremsfeld bis Wien als in die Land-
oberfläche (die pontische Stromebene) einge-
schnittene, bzw. wieder aufgeschotterte Donautal-
böden ziehen (14; 184).*) Aber die Bilder sind
') Hassinger findet als die auffälligsten Formen des
Kremser Beckens ,,eine zerschnittene pontische Stromebene
mit nordöstlichem Verlauf, westöstlich verlaufende Erosions-
terrassen am Südrande derselben (der ganze Südrand ist mehr
oder weniger durch seitliche — aber nicht gleichzeitige —
Stromerosion modelliert), endlich jüngere, teils pliozäne, teils
diluviale Akkumulationsterrassen, insbesondere auf der Nord-
seite der heutigen Alluvialebene der Donau" (13; 55).
^) Das heutige Tal der Kladnitz, die in ihrem Unterlaufe
das Urgebirge durchbricht und den Göttweiger Kücken im
Westen umfließt, wird als epigenetisch entstandenes Teilstück
eines einst gröfieren Tales erltlärt, dessen Oberlauf an die
Traisen verlorengegangen ist (13; 31, 33 ff.).
•'') Zurzeit als die tertiäre Donau bei Wien die (mittel-
pliozäne) Laaerbergterrasscn in rund loo m über dem heuti-
gen Strome erodierte, war das Donautal im Kremser Becken
bereits 50 — 60 m, zurzeit der (oberpliozänen) Arsenaltcrrasse,
die bei Wien ungefähr 55 m hoch liegt, mehr als 100 m in
die alle Landoberfläche {pontische Schotterplattc) eingeschnitten
ruhiger, gleichmäßiger und wechseln langsam.
Und die 50 km von Krems bis Greifenstein er-
fordern eine Weile 1 Hinter Hollenburg und
gegenüber Grafenwörth rechts die Mündung der
Traisen, an der unfern landeinwärts das schon
erwähnte Traismauer liegt, von dem auch das
Nibelungenlied zu erzählen weiß. Fast unmittelbar
darauf tritt von links der Kamp in die Donau
ein. Viel weiter unterhalb (nach 27 km) kommt
von Süden die Perschling in den Strom, nach
weiteren 8 km haben wir zwischen den Mün-
dungen der Gr. und der Kl. Tulln den Ort Coma-
genae, das Tulne des Nibelungenliedes, wo Etzel
mit Kriemhilde zusammentraf, und der wichtige
mittelalterliche Handelsplatz, wo „die böhmische
Heerstraße den Strom berührte, die durch die
Gmünder Pforte längs des Manhartsberges verlief
und ein Bündel von Verkehrswegen sich vereinigte,
die entlang den Gerinnen des Tertiärhügellandes
und über die Paßfurchen des Wiener Waldes
heranziehen" (9; 214); heute ist Tulln eine stille
Landstadt mit etwas über 4300 Einwohnern.
Unter den Donaubrücken hindurch ; lange bleibt
wieder die Landschaft die gleiche. Zeiselmauer,
das man früher für das Aelium Cetium der Römer
hielt, hat sich hinter Bäumen versteckt und schon
bauen sich rechts die weichen Formen des Wiener
Waldes immer näher gegen den Strom vor, bis
wir zu Füßen der Ruine Greifenstein so hart an
ihm vorbeiziehen, daß zwischen Gebirge und Fluß
nur für Bahn und Straße noch Raum bleibt. Zur
Linken wird jenseits der Auen auf dem südlichsten
Ausläufer des Rohrwaldes die geschmackvoll er-
neuerte Burg Kreuzenstein sichtbar. Stets wieder
zweigen zur Linken Stromarme ab, Schmida und
Göllersbach werden von solchen Seitenarmen auf-
genommen, in einem anderen sehen wir die An-
lage einer Werfte der Donaudampfschiffahrts-
gesellschaft. Jetzt, da wir links Korneuburg (mit
seinem alten Rathausturm) verlassen haben ') und
rechts über einer wasserreichen Au den gewal-
tigen Barockbau des Klosterneuburger Stiftes auf
höherem Felsplateau erblicken, merken wir erst,
daß nun auch links das (niedrige) Gebirge an den
Strom herangekommen ist: wir sind in die kurze
fünfte Durchbruchsstrecke zwischen dem sanfteren,
rebenüberkleideten Bisamberg (links) und dem
von der Donau zur jüngsten Eiszeit stark unter-
schnittenen Leopoldsberg (rechts) eingetreten,
beide der alpinen Flyschzone angehörend, die der
Strom hier auseinander reißt. Folgendermaßen
denkt man sich die Entstehung dieses Durch-
bruchs (13; 68 ff. und ganz ähnlich 18; 7 f.).
Zu Beginn des Unterpliozäns, der pontischen
{14; 185); die Bezeichnung nach Arsenal und Laaerberg sind
der Wiener Topographie entnommen.
') Korneuburg lag früher auf einer Insel der Donau; bei
einem starken Hochwasser ixi8 zerstört, erstand die Stadt
1212 aufs neue. Etwas weiter östlich der „alte Donaugraben",
das Überbleibsel eines diluvialen Stromarmes und der letzte
Rest eines .Mtwassers, das ein heutiger Fluß (der Loibach)
am Leben erhielt (i8; 8).
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Epoche, floß die damalige Donau, nachdem sie
die Wachau hinter sich hatte, in dem weiten
Raum zwischen dem Rande des Böhmischen Mas-
sivs und jener Reihe von Einzelbergen , die sich
von Stockerau oberhalb Wiens bis zum südmähri-
schen Nikolsburg in der Fortsetzung der Alpen
hinziehen (Rohrwald, Ernstbrunnerwald und Leiser-
berge, Polauerberge) wenigstens mit dem größten
Teil ihrer in zahlreiche Arme verästelten Wasser-
masse nicht in der heutigen Richtung, sondern
nach Nordosten gegen eine Lücke bei Nikolsburg
hin, durch die sie dann nach Osten in den pon-
tischen Binnensee sich ergoß. Sie schüttete gleich-
zeitig einen gewaltigen Schuttkegel (von etwa
385 m Scheitelhöhe) auf, über den sie im Laufe
der langen Zeit in vielfachen Mäandern hin und
herpendelte, dabei wie die heutige Donau rechts
drängend und vielleicht im Südwärtsrücken über-
dies durch eine Hebung und Schrägstellung der
von ihr angehäuften Schotterfläche unterstützt;
so mußte sie ihr östliches Stromufer, die vorhin
genannten Berggruppen , annagen und zerstören
und schließlich soweit gegen Südosten kommen,
daß sie die Greifensteiner Berge und den Rohr-
wald erreichte ; diese werden bis zum Stromspiegel
eingeebnet, wobei die nach der entgegengesetzten
Seite, also gegen Westen wirkende Brandung des
pontischen Binnensees vom Wiener Becken her
bei der Abflachung und Zerstörung mitgeholfen
haben mag, und zuletzt kann der, hinter der mit
jungtertiären Schichten hoch angefüllten Korneu-
burger Senke liegende (nicht hohe) Sandsteinzug
im Niveau des Bisamberges überflössen werden.
Die Urdonau hat damit ihre Mündung in den
pontischen Binnensee (Spiegelhöhe etwa 340 m)
in die Gegend von Wien verlegt. Da aber dieser
Binnensee allmählich sank, wobei er in das Rand-
gebirge deutliche Terrassen einkerbte, ') und da
der Weg zu ihm jetzt , wo er nicht mehr über
Nikolsburg führte, kürzer geworden war, mußte
der Strom sich in den Flysch eingraben ; die
Fortdauer einer in den verschiedensten Teilen
deutlich kenntlichen, schon im Obermiozän be-
ginnenden , nordwestlich - südöstlich gerichteten
Senkung während der pontischen Zeit mag den
Durchbruch begünstigt haben (14; 170). Auf
diese Weise ist hier gegen Ende der pontischen
Epoche ein sog. Überflußdurchbruch entstanden.")
Die Donau durchzieht nun den (höchstwahrschein-
lich aus tektonischen Gtünden) zutiefst liegenden
') Hassinger hat diese alten, in je 15—3001 Abstand
zwischen 540 und 265 m Höhe gelegenen Strandlinien als
Niveaus I — XII unterschieden und bezeichnet. Bequemste
Übersicht bei Fadrus (16; 34 f.).
') Schon aus dem bisherigen ersieht man leicht, daß die
Donau ein polygenelischer Strom ist, der sich allmählich bil-
dete. Das österreichische Alpenvorland war bereits landfest,
als die Donau bei Krems noch in 360 m Höhe in das unter
Wasser liegende Kremser Becken mündete und es bis zu dieser
Höhe verschüttete. Das Kremser Becken wieder war bereits
ausgetrocknet als der pontische See noch das Wiener Becken
erfüllte, dieses war früher landfest als das Oberungarische
Becken: an die Urdonau wuchsen also immer neue Stücke in
den landfest werdenden Teilen an.
Teil des inneralpinen Wiener Beckens.')
Vom Fuße des Leopoldsberges an ist der Strom
auf etwa 25 km hin (im „Wiener Durchstich":
Kahlenbergerdorf — Fischamend) reguliert, die Orte
zur Linken schützt der sog. Inundationsdamm
vor der Gewalt des Hochwassers (StromgesChwin-
digkeit bis zu 3 m, Wassermenge bis zu loooo cbm,
in der Sek.).-) Das Häusermeer der Großstadt
tritt zur Rechten immer sichtbarer hervor, links
der Fabriksort Floridsdorf; rechts bei Nußdorf
öffnet sich der Donaukanal (Wehranlage mit
Brücke). Unter vier Brücken müssen wir hindurch,
rechts sind wir an Verladeanlagen der Donau-
dampfschiffahrtsgesellschaft, an Mühlen und Fa-
briken vorbeigekommen, dann haben wir den
Hauptlandungsplatz Wien (Praterkai) erreicht. Wir
unterbrechen die Fahrt nicht. Nach einem letzten
Blick auf Kahlen- und Leopoldsberg hinter uns,
widmen wir uns, auch die fünfte Wiener Brücke
über den Strom, die wir bald unterfahren, be-
achtend, den weiteren Anlagen der Donaudampf-
schiffahrtsgesellschaft entlang des rechten Ufers
(Krane, Verladebrücken, Speicher), auch die Stadt
Wien hat hier ihre großen Vorratshäuser und
andere Schiffahrtsgesellschaften mit den Anlagen
ihrer Umschlagplätze folgen. Links hinter dem
Inundationsdamm die typische Auenlandschaft
mit zahlreichen Stromarmen ; der längste ist der
Stadlau-Enzersdorfer, der die aus den Napoleoni-
schen Kämpfen des Jahres 1809 berühmte Lobau
einschließt, der die Schlachtorte von Aspern und
Eßlingen ganz nahe sind. Heute werden aller-
dings diese von der Donau abgesperrten Altwässer
nur durch Grundwasser, nicht vom Strome her
gespeist. Hinter den Auen die weite F"läche des
Marchfeldes, zur letzten Eiszeit von der Donau
mit (Niederterrasse)Schottern erfüllt, während sie
gleichzeitig, einstmals soweit im Norden fließend,
die ältere (Hoch-)Terrasse weithin (bis zum heu-
tigen Steilrand dieser Terrasse Stammersdorf —
Deutsch Wagram) zerstörte. Hinter der Einmün-
dung des Donaukanales tritt auch rechts ein
Auengürtel heran; das ist aber noch nicht viel
über ein Menschenalter her und wohl die Folge
der früher erwähnten Stromregulierung. Bis dahin
') Tektonische Linien nordwest-südöstlicher Richtung sind
nicht bloß für die erste Anlage des Donaulaufes hier gerade
in der ,, Mittellinie der großen Einbiegung zwischen alpinem
und karpathischem Gebirge" maßgebend gewesen (14; l6g),
sondern, wie schon erwähnt, auch sonst für die landschaftliche
Gestaltung dieser Gebiete von großer Bedeutung; eine hat ja
Alpen und Karpathen als Ganzes voneinander getrennt.
-) Die erste Regulierung zwischen 1S68 und iS8l war
auf Mittelwasser gestellt worden, steuerte aber nur der Strom-
verwilderung und bannte durch Sicherung eines raschen Ab-
flusses des Hochwassers die Überschwemmungsgefahr für Wien
und seine Umgebung; dagegen bildeten sich jetzt bei Nieder-
wasser in dem zu großen Bette Untiefen, der Fluß schlängelte
von einem Ufer zum anderen, Gefällsunregelraäßigkeiten zeigten
sich u. a. m. Deshalb wurde die 1S90 begonnene neue Re-
gulierung auf Niederwasserstand gestellt; in die Mittelwasser-
bahn wurde eine 290 m breite Niederwasserrinne gelegt, die
für Schifte mit 2 ra Tiefgang stets passierbar bleiben soll.
Über die Donauregulierung bei Wien z. B. Hoernes (5;
1062 ff.).
192
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
floß sie rechts auch zwischen Schwechat und
Kroatisch Haslau an einem Steilufer, längs dem
man auch gegenwärtig sehr hübsch die früheren
Stromterrassen beobachten kann, zunächst die
diluvialen, ') später (unterhalb von Kroatisch Has-
lau) auch die Arsenalterrasse; eine Wirkung der
starken Seitenerosion, welche die Donau durch
ihr uns bekanntes Rechtsdrängen ausübt. Links
also schüttet sie auf, rechts gräbt sie sich immer
tiefer ein und zerstört so nacheinander die jüngeren
Terrassen durch Untergrabung, wodurch immer
ältere an den P'luß zu liegen kommen. -) Durch
das Auenland zur Rechten ist etwa 16 km unter-
halb Wiens die Schwechat der Donau zugeflossen,
nachdem sie ihr ein gutes Stück (rund 7 km)
parallel gezogen ist ; die einst sicherlich oberhalb
des heutigen Ortes Schwechat gelegene Mün-
dung des nordöstlich gerichteten Plüßchens ist
durch die Schotteranhäufungen der Donau
davor zurückgestaut und gegen Osten (viel-
leicht in einen älteren Donauarm) abgedrängt
worden. Bei Fischamend erwarten wir den Ein-
tritt der Fischa in die Donau; auch sie ist aber
durch Anschüttungen des Hauptstromes mindestens
auf 8 km hin gegen Osten verschleppt worden.
— Schon vor Fischamend hat uns der Ausblick
auf ein niedriges Hügelland im Süden (257 — 276 m)
etwas Abwechslung gebracht: es wird als ein
früher mit dem Wiener- und Laaerbergzuge zu-
sammenhängendes'^) und aus einer, wohl pon-
tischen Schotterfläche durch stärkere Erosion
herausgestaltetes und durch Dislokation noch im
Pliozän etwas gehobenes Gelände aufgefaßt
(19; 471). Während zur Rechten die Orte mit
dem Steilufer meist nahe an den Strom heran-
treten, bleiben die Siedlungen links jenseits des
Auen- und Anschwemmungsgürtels; so Orth mit
seinem alten Schloß gegenüber Kroatisch Haslau,
so Eckartsau mit dem prächtigen Barockbau seines
Jagdschlosses u. a. 15 km unterhalb von Kroa-
tisch Haslau sind wir bereits in Deutsch Alten-
burg angekommen, zwischen dem und Petronell
(südwestlich von Deutsch- Altenburg) das römische
Standlager Carnuntum mit anschließender Zivil-
stadt lag.^) Links vom Fluß, der sich gegen Nord-
osten zu wenden beginnt, das Schlachtfeld von 1 265
(Sieg Przemysl Ottokars IL von Böhmen über
') Bei Mannswörth (am Strome nahe von Schwechat) sind
noch drei Terrassen übereinander zu sehen (19; 468).
'^) Diesem Kechtsdrängen sind auch in unserer Donau-
weitung schon in historischer Zeit Ortschaften wie ein Teil
der hier verlaufenden Römerstrafle zum Opfer gefallen (19;
469).
') Die Erosion von Donau, Schwechat und Fischa dürfte
die Trennung bewirkt haben (19; 471).
*) Beste kurze Übersicht über die interessanten Kunde von
Carnuntum im „Exkursionsbuch" (Wien 1913) S. 325 ff. Die
Zivilstadt breitete sich auf einer Fläche von über 10 qkm
aus. „Die glänzende römische Provinzialstadt (in der Nähe
von heißen (luellen) war wiederholt durch Kaiserhesuche aus-
gezeichnet." Die Stürme der Völkerwanderung fegten die
Stadt hinweg; zahlreiche Kämpfe spielten sich damals zwischen
Römern, Germanen und Slawen ab, an die wohl die eigen-
urligen Grabstätten einiger „tumuli" norli gemahnen (19; 480 1.).
König Bela IV. von Ungarn). Die Berge, die
nun rechts an den Strom heranreichen, sind die
Ausläufer der Alpen, die (auch durch NW — SO
verlaufende Querbrüche in einzelne Horste ge-
schieden) zu den Kl. Karpathen jenseits der Do-
nau hinüberleiten; so ist das Rosaliengebirge bei
Wiener Neustadt vom Leithagebirge durch die
Senke von Ödenburg (oder Ebenfurter Pforte) ge-
sondert, das Leithagebirge im Spitzer Berg (265 m)
vom 476 m erreichenden Hundsheimer Berg, an
dessen Fuß Deutsch - Altenburg angeschmiegt ist,
durch die Brucker oder Karnuntische Pforte, der
Hundsheimer Berg, der im Gelände des nur
327 m aufragenden Pfaffenberges zum Strom her-
niedersteigt, vom kahlen, unmittelbar, ohne auch
nur einer Straße Raum zu geben, in die Donau
abfallenden *) Braunsberg (344 m) durch die Hain-
burger Pforte; in sie hinein hat sich das alte,
schöne Hainburg gebaut, auf dessen Schloßberg
(290 m) das Nibelungenlied in Etzels Burg das
Brautpaar übernachten läßt. Deutlich sind die
gleichen Abrasionsterrassen der wechselnden
Größenphasen des pontischen Sees wie am West-
rand des Wiener Beckens hier an den genannten
Bergen an seinem Ostrande zu erkennen,'-) in den
Senken, deren miozäne Auffüllungen vielfach schon
im Pliozän ausgeräumt sind, finden sich Schotter-
massen pontischer Ströme, die darauf hinweisen,
daß damals die Donau durch die heute in ihrem
Südteile von der Leitha benützte karnuntische,
die March durch die Hainburger Pforte floß.'')
Hinter Hainburg auf den Ausläufern des Brauns-
berges Ruine Rötheistein, links fällt der Blick auf
das Hügelgelände des Thebener Kogels (314 m), in
den der pontische See eine Reihe sehr schöner
Strandterrassen eingekerbt hat und den auch die
stark links andrängende March im Westen ange-
nagt hat;*) 4 km unterhalb Hainburgs wendet
sich die Donau, knapp ehe die dunkleren, lang-
samer fließenden Wasser der March von links den
lichter grünen der schnelleren Donau sich zu ver-
mischen trachten, plötzlich gegen Osten, ihr
sechstes Durchbruchstal hat sie aufgenommen,
') Durch die starke Unterschneidung der hier aus Lias-
kalken aufgebauten Gehänge des Braunsberges sind ,,hoch
hinaufreichende Unterhöhlungen des Ufers" entstanden (19;
473).
-) Der Hundsheimer Berg verschwand gelegentlich ganz
unter dem Spiegel des pontischen Sees.
■') Das merkwürdige scharfe Knie, mit dem die Leitha in
der Nähe von Rohrau (Niederösterreich), ihre bisherige nord-
östliche Laufrichtung verlassend, gegen Südosten umschwenkt,
wird (14; 175 fr.) entweder als Anzapfungsknie oder als Ver-
schleppungsknie gedeutet. Die jungpliozäne, durch die Brucker
Pforte gehende Donau, welche über die Parndorfer Heide floß
und ungefähr 20 km unterhalb der Pforte sich mit einem
scharfen Knie, ähnlich dem heutigen Donauknie bei Waitzen,
nach Süden gewendet haben muß, hat die Leitha, wie wir
dies jetzt noch im Schwechat- und Fischa-Unterlauf finden,
parallel zu sich verschleppt.
•*) Wahrscheinlich haben der Stempfeibach und der früher
in die March mündende, jetzt zur Donau abgeleitete Rußbach
auf die March einen Druck in der gleirhen Richtung ausge-
übt (ly; 479).
N. F. XXI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'93
die Senke der Porta hungarica') zwischen
dem Braunsberg und dem Thebner Kogel, der
jenseits einer kleinen, früher wohl von einem
pliozänen Marcharm, jetzt vom Orte Theben aus-
gefüllten (tektonisch vorgezeichneten) Tiefenfurche,
den sog. Thebener Schloß- (oder Burg-)berg an
den Strom vorschiebt.'-) Die Burgruine auf ihm
(212 m Höhe, 79 m über der Marchmündung)
wird wohl den Schloßberg länger krönen als die
Arpadsäule, die bis zum Weltkriegsende hier stolz
den Eingang in ungarisches Machtbereich ver-
kündete; die Tschechoslowakei hat nunmehr wohl
als Nachfolgerin des Großmährischen Reiches, das
unter Svatopluk bis hierher seine Grenzen vor-
getragen hatte, diesen Platz wieder in Besitz ge-
nommen: die Grenze der Tschechoslowakei gegen-
über Österreich zieht heute inmitten der March
und greift nach deren Mündung auch auf das süd-
liche Donauufer über — , wie auch einst die The-
bener Au auf dem rechten Ufer zu Ungarn ge-
hört hatte. Die Enge der Porta hungarica ist,
wenngleich durch die, von der Donau schon im
Durchbruch selbst gebildete Thebener Au auf dem
einen Ufer gemildert,^) nicht weniger reizvoll,
doch freilich viel kürzer als ihre Geschwister an
der oberen Donau. Der seltsam zerklüftete, steil
zu March und Donau abfallende Thebener Schloß-
berg gibt den Grundton an, ein kleiner Wacht-
turm über dem Strom raunt von Sage wie irgend
ein Felsennest der Wachau, die deutlich am Burg-
berg sichtbaren Befestigungen lassen gleich Dürn-
steins Mauern Bilder längst vergangener Tage
neu erstehen.*) Die wohl ebenfalls durch eine
tektonische Quersenke vorgebildete Porta hunga-
rica (19; 476 f) ist eigentlich ein jungpliozänes
March-Durchbruchstal.*) Die March hatte bereits
ihren Bogen um den Braunsberg herum und durch
die karnuntische Pforte durch Einschneiden in die
weichen Schichten der Porta hungarica an der
schmälsten Stelle, dem „Halse" dieses Bogens auf-
gegeben , also die Porta hungarica durchflössen,
ehe die stärkere und höher fließende Donau von
ihrem Wege durch die karnuntische Pforte über
ihre bisherige, wohl nur niedrige, aus leicht zer-
störbaren Gesteinen bestehende Wasserscheide
zur Stelle der heutigen Mündung der damals lang-
samer, aber tiefer strömenden March abgelenkt
wurde. ")
*) Die ,, ungarische" Pforte wird wohl ihren Namen än-
dern müssen.
') Über dieses Gebiet auch Schaffer (15-; 17 ff.).
*) Durch die Thebener Au zieht, den Braunsberg im
Nordosten umklammernd, ein schmaler Donauarm, der sich
erst einige Kilometer weiter abwärts mit dem Hauptstrora ver-
einigt; wahrscheinlich war er früher der Hauptstrom (19; 475)
*) Wertvolles historisches Material bei Götzinger und
Leiter {19; 479 ff. u. 497 ff.). Der Mündungswinkel zwischen
March und Donau sah bereits eine keltische Siedlungsanlage.
') Eine weitere Quersenke gleich etwas weiter nördlich
hinter dem Thebener Kogel bei Blumenau.
") Eine andere Ansicht äuflert Hassinger (14; 195).
Er hält die tektonisch angelegte Porta hungarica für die Ein-
trittspforte der pliozänen March nach Ungarn, die Hainburger
Pforte aber nicht lür ein Marchtal, sondern für den untersten
Wir sind an der Grenze der Tschechoslowakei
und damit am Ende unserer Donaureise. Viele
Fragen, die dem Strome gelten müßten, konnten
kaum angedeutet werden: seine physiogeographi-
schen Eigenschaften (Farbe, Wassermenge, Ge-
schiebeführung, Gefälle), seine Rolle in der Ge-
schichte, seine Verkehrsbedeutung. Aber auch
die Probleme, die wir berührten, sind noch nicht
überall zu völliger Durchsichtigkeit gediehen ; es
mangelt vielfach (z. B. beim Passauertal) an ge-
nügenden Beobachtungen und gelegentlich wider-
sprechen sich auch die Lösungsversuche, so daß
sich noch genügend oft ein Fragezeichen erhebt.
Über allem aber liegt mit sonniger Klarheit die
Schönheit der von unserem Strome durchzogenen
Landschaften. Freilich, die Donau ist nun einmal
gegenüber dem Rheine ein Stiefkind, nicht der
Natur, wohl aber der Menschen. Ihre Reize sind
um nichts geringer, in ihrer Unberührtheit viel-
leicht sogar anziehender als die des westlichen
berühmteren Bruders. Der Strom teilt das Schicksal
des gesamten Deutsch Österreichertums: seltener
als die deutschen Kernlande den Sänger für seine
stillere Eigenart und den verständnisvollen Be-
trachter gefunden zu haben, der nicht laut herbei-
gerufen, doch gekommen wäre.
Übersicht der wichtigsten Literatur.
1. Norb. Krebs, Länderkunde der österreichischen
Alpen (Bibliothek länderkundlicher Handbücher, herausgeg.
von A. Penck, Bd. i). Stuttgart 1913.
2. A. Penck, Die Donau (Schriften des Vereins zur
Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, 3 1 . Bd.,
1891, S. I — loi).
3. Ed. SueiS, Über die Donau (Vortrag, gehalten in
der Akademie der Wissenschaften). Wien 191 1.
4. Franz Ed. S u e Ö , Bau und Bild der Böhmischen
Masse (Bau und Bild Österreichs, Teil i). Wien und Leipzig
1903.
5. R. Hoernes, Bau und Bild der Ebenen Österreichs
(Bau und Bild Österreichs, Teil 4). Wien und Leipzig 1903.
6. R. H ö d 1 , Die Landschaftsformen an der Grenze
zwischen der Böhmischen Masse und dem Alpenvorland in
Niederösterreich (Jahrbuch für Landeskunde von Niederöster-
reich, Neue Folge III, 1904, S. 261 — 298).
7. M., Brust, Die Exkursion des geographischen Insti-
tuts der Wiener Universität ins österr. Alpenvorland und
Donautal (Geographischer Jahresbericht aus Österreich, Bd. IV,
Wien 1906, S. 86 ff.).
8. Ferd. Schnabl, Die Exkursion d. geogr. Inst. d.
Wien. Universität nach Enns, Linz und Krems 1908 (ebenda,
Bd. Vlll, Wien 1910, S. 181 ff.).
9. Heinr. Güttenberger, Exkursion des Seminars für
historisch-politische Geographie der Wiener Universität in die
Wachau (ebenda, Bd. X, Wien 1912, S. 199 ff.).
10. A. Penck, Das Durchbruchstal der Wachau und die
LöÖlandscbaft von Krems (Exkursionsführer für den 9. inter-
nationalen Geologenkongreß in Wien = Führer für die geo-
logischen Exkursionen in Osterreich). Wien 1903.
11. Herm. Grab er, Geomorphologische Studien aus dem
oberösterreichischen Mühlviertel (Petermanns Mitteilungen 1903).
12. Der Dunkelsteiner Wald (bearbeitet von jungen Wiener
Geographen; Geogr. Jahresber. aus Österr. Bd. XI, 191 5,
S. 66 ff.).
13. H. Hassinger, Geomorphologische Studien aus
dem inneralpinen Wiener Becken und seinem Randgebirge
Abschnitt eines Rufibaches, den er sich zur Zeit, als die Do-
nau durch die Brucker Pforte ging, erst innerhalb des Panno-
uischcn Beckens mit der March vereinigen läßt.
194
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
(Geographische Abhandlungen, herausgegeben von A. Penck,
Bd. VIII/3). Leipzig 1905.
14. Derselbe, Beiträge zui Physiogeographie des inner-
alpinen Wiener Beckens und seiner Umrandung (Festband,
A. Penck zur Vollendung des 60. Lebensjahres gewidmet,
S. 160 — 197). Stuttgart 1918.
15. Franz X. Schaffer, Geologischer Führer für Ex-
kursionen im Wiener Becken (Sammlung geologischer F'ührer,
12, 13 u. iS). Bd. I; Das inneralpine Becken der nächsten
Umgebung von Wien, I. Teil (1907); Bd. 2: Das inneralpine
Becken, 2. Teil (1908); Bd. 3: Eggenburg und Umgebung
(1913). Berlin.
16. V. Fadrus, Die Wiener Bucht (Studien zur Heimat-
kunde von Niederösterreich, herausgeg. v. A. Becker, Bd. 2,
S. 8 — 159). Wien 1913.
17. Derselbe, Das Alpenvorland und seine nördlichen
Randlandschaften (ebenda, Bd. I, S. 56—75). Wien 1910.
18. G. Götzinge r und H. Leiter, Geographische Ex-
kursion auf den Michelberg und Waschberg bei Stockerau
(Geographischer Exkursionsführer für die Umgebung von Wien,
l). Wien 1914.
19. Dieselben, Zur Landeskunde des Donaudurch-
bruches der Porta Hungarica und ihrer Umgebung (Mitteilun-
gen der Geographischen Gesellschaft in Wien 1914, S. 466 ff.
und 497 ff.).
20. H. Beck und H. Vetters, Zur Geologie der Klei-
nen Karpathen (Beiträge zur Paläontologie und Geologie
Österreich-Ungarns und des Orients, Bd. XVI, 1903, S. 7 ff.);
mit lehrreicher geologischer Karte der Umgebung der Porta
hungarica.
21. R.Reich, Die österreichische Donau als Schiffahrts-
strafle (Die freie Donau, Bd. VI, 1921, S. 555 fr.).
22. Das Donautal von Passau bis Preßburg (illustr. Reise-
führer); bearbeitet von Othm. v. Leixner. Wien 1918.
23. Donaufahrt Passau — Linz — Melk — Wien (Hendschels
Luginsland, 28; illustr. Reiseführer); bearb. von J. A. Lux.
Frankfurt a. M. 1912.
34. Karte der Donau von Ulm bis zur Mündung
I : 125000. Nach amtlichen Quellen bearbeitet. Wien (Ver-
lag der Ersten Donaudampfschifiahrtsgesellschaft) o. J. (1920).
Axiom nnd Erfahrung.
Zu 1'' r i e d r. D a h 1 s „Krit. Betrachtungen über d
[in Heft 3
[Nachdruck verboleo.] Von Dr. B.
Wenn in Kreisen von Nichtphysikern immer
noch für oder gegen die Relativitätstheorie ge-
schrieben wird, so halte ich dieses Vorgehen für
ganz unnötig. Denn die Relativitätstheorie ist
letzten Endes eine rein physikalische Angelegen-
heit und der Streit um sie wird also wohl am
besten unter Physikern zum Austrag kommen.
Daher sollen uns hier Dahls philosophische Aus-
führungen nicht weiter beschäftigen; ich wende
mich hier lediglich gegen die im zitierten Auf-
satz von Dahl vertretene Anschauung, wonach
die Axiome der Geometrie Erfahrungssätze dar-
stellen sollen, eine Anschauung aus der Zeit des
von Dahl selbst zitierten Buches von 1874. Sie
läßt alle neueren, so wichtigen Erkenntnisse un-
berücksichtigt. In einer Zeit aber, in der auf
allen Gebieten über Erkenntnistheorie diskutiert
wird, scheint Klarheit über den Axiombegriff für
jeden naturwissenschaftlich Interessierten nicht
wertlos zu sein.
Ich darf wohl als allgemein anerkannt fest-
stellen, daß die geometrischen Sätze sich zurück-
führen lassen auf eine Reihe logisch einfachster
Sätze, eben die .'\xiome. Als Beispiele nenne ich
das Parallelenaxiom, das Axiom von der Winkel-
summe im Dreieck, das Geradenaxiom (von der
kürzesten Verbindung zweier Punkte). Nehmen
wir diese Axiome einmal als gegeben an, so läßt
sich aus ihnen auf rein deduktivem Wege die
ganze Geometrie entwickeln. Bleibt also zu er-
örtern, welchen Ursprung, welchen erkenntnis-
theoretischen Charakter diese Axiome selbst be-
sitzen. Offenbar existieren nur 3 Möglichkeiten:
Entweder
1. die Axiome sind synthetische Urteile a
priori im Sinne Kants; oder
2. die Axiome stellen Erfahrungssätze dar;
oder
ie Grundlagen der Relativitätstheorie Einsteins"
lfd. Jahrg.].
de ßudder.
3. die Axiome sind „Setzungen", „freie Schöp-
fungen des menschlichen Geistes" (Ein-
stein [il), „Uhbunt - Sätze" (= „unbe-
weisbar hingestellte Beweisunterlagen"
(Isenkrahe [2])).
ad I. Wären die Axiome synthetische Urteile
a priori im Sinne Kants, so wäre es, wie
Poincare bereits betont hat, undenkbar, daß
durch Leugnen eines solchen Urteils logisch völlig
widerspruchsfreie „theoretische Gebäude" kon-
struiert werden könnten. Solche Gebäude, in
denen z. B. das Dreieckswinkelsummenaxiom oder
das Parallelenaxiom geleugnet werden, stellen aber
die „Metageometrien" dar, d. h. Geometrien für
Räume mit innerer Krümmung, wie sie v. Helm-
holtz (4) so anschaulich in seinen klassischen
Vorträgen beschrieben hat; nämlich die Gau fi-
sche Geometrie der Sphäre und die Lobat-
schewski sehe Geometrie der Pseudosphäre.
Nach Ablehnung dieser ersten Möglichkeit
kommen wir somit
ad 2. Es hat, oberflächlich betrachtet, zunächst
den Anschein, als ob die Geometrie sich als eine
Erfahrungswissenschaft darstelle. Daß dies hin-
gegen nicht zutrift't, sondern auf einen immer
wiederholten logischen Fehler zurückzuführen ist,
werden wir sehen. (Daß Dahl denselben Fehler
beging, wird dann klar sein.) Nach Aufstellung
genannter Metageometrien lag es nahe, zwischen
den nun logisch möglichen und logiscli gleich-
wertigen Geometrien von Euclid (ohne „Raum-
krümmung"), Gauß (mit -]~ Krümmung) und
Lobatschewski (mit — Krümmung) das Ex-
periment entscheiden zu lassen. Da in jeder der
Metageometrien die Dreieckswinkelsumme größer
bzw. kleiner als 180" sein muß, schlug man dieses
Axiom z. B. zur Prüfung vor. (Lobatschewskis
Dreieck aus dem größten Erdbahndurchmesser
N. F. XXI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
19s
und den Abständen der Endpunkte dieses Durch-
messers vom Sirius als Seiten [vgl. bei Helm-
holtz 1. c.]). Noch der große Helmhol tz
(1. c.) hatte den Fehler dieser Schlußweise mit-
gemacht. Aber schon Poincare (3) (ob als
erster, entzieht sich meiner Kenntnis) wies darauf
nachdrücklichst hin. In neuerer Zeit hat Dingler
(5) (NB. I ein Gegner der Relativitätstheorie) die
Verhältnisse sehr anschaulich dargelegt. Nämlich :
Ein grundlegendes Axiom bei E u c 1 i d besagt
die Gleichwertigkeit aller Raumpunkte; mit
anderen Worten, es setzt fest, daß ein gegebenes
mathematisches (nicht physisches) Raumgebilde
seine Form nicht ändert, wenn es sich im Räume
(oder in der Zeit) bewegt. Dieses Axiom bildete,
worauf J. Schneider (6) aufmerksam macht,
sozusagen die Klippe für Heimholt z. Er defi-
nierte es nämlich als den Satz vom „Starren
Körper", er sprach also damit das Erfülltsein
diese? Satzes für ein physisches, starres Gebilde
aus. Man definierte einen Körper als starr, wenn
er bei Verbringung von einem Ort des Raumes
an einen anderen Ort keine weitere Gestaltsver-
änderungen erleide, als die uns bekannten (durch
Temperatur, Druck usw.) insbesondere also keine,
welche nur durch die veränderte Lage im „Räume"
und in der „Zeit" bedingt sei. Als in diesem
Sinne „starre" Körper war man aber gewohnt,
unsere Materialien für Instrumente zu betrachten.
Mit diesen Instrumenten ging man dann an die
Prüfung der Gültigkeit der Euclidschen Geo-
metrie in unserer Erscheinungswelt, ohne sich
bewußt zu werden, daß man eben dieser Prüfung
ganz unbewußt bereits eines der Hauptaxiome
Euclids zugrunde legte, daß man sozusagen mit
dem Instrument das Axiom in das Experiment
hineintrug — um es hocherfreut dann bestätigt
zu finden; eine Bestätigung, die man bei logischer
Prüfung der Methode hätte vorhersagen können,
die also keine Bestätigung war. Man unterscheide
doch endlich zwischen der ganz abstrakt defi-
nierten Linie in der Geometrie und zwischen der
Linie als Grenze zweier Flächen eines physischen
Körpers. Erstere kann sich definitionsgemäß im
Räume Euclids nicht ändern, letztere dagegen
sehr wohl in einem Räume (uns keineswegs ge-
gebener Struktur) und diese Änderung würde uns
in aller Ewigkeit entgehen, da ja alle unsere In-
strumente dieselbe Änderung erfahren müßten.
|Es ist daher streng genommen auch falsch, zu
sagen Einsteins Raum sei „gekrümmt", sondern
man müßte sagen, es lassen sich gewisse physi-
kalische Vorgänge durch Gleichungen aus einer
gewissen Art von Metageometrie (welche bei
Einstein durch die Energiedichte definiert wird)
besser beschreiben oder darstellen, i Ganz analog
ging es mit Versuchen, durch Lichtexperimente
Euclids Axiome zu verifizieren (vgl. hierzu Ding-
ler 1. c). Man ermittelte optische Gesetze unter
der (z. T. stillschweigenden) Annahme geradliniger
Lichtausbreitung im Raum, also unter Zugrunde-
legung der Axiome Euclids und die folgenden
Physikergenerationen nahmen diese optischen Ge-
setze (ohne an ihre Ableitung zu denken) und
bewiesen mit ihnen umgekehrt, daß Licht sich
geradlinig fortpflanze, daß unser Raum also
„euclidisch" sei. Wir müssen wohl merken:
Experimente liefern uns niemals „Beziehungen
der Körper zum Räume" oder „wechselseitige
Beziehungen von Raumteilen" sondern nur „Be-
ziehungen der Körper zueinander". („Wenn Sie
alle Holzstücke eines Schiffes gemessen haben,
so haben Sie viele Gleichungen, aber das Alter
des Kapitäns kennen Sie deshalb doch nicht."
Poincare 1. c.)
Wenn aber die historische Entwicklung diesen
falschen, unlogischen Weg gegangen ist, d. h.
wenn sie unserer Erscheinungswelt die Geometrie
Euclids zugrunde legte , so beweist das aber
doch gar nichts für oder gegen Axiome als Er-
fahrungstatsachen, wie Dahl glaubt. Vielmehr
ist der Grund zur Wahl der Euclidschen Geo-
metrie in dem Umstände zu suchen, daß die
Axiome Euclids uns einfacher erscheinen als
die von Gauß und Lobatschewski. Diese
„größere Einfachheit" zu untersuchen, liegt aber
außerhalb des Rahmens unseres heutigen Themas.
Wer sich dafür interessiert, den verweise ich u. a.
auf die Ausführungen von Poincare (1. c.) und
Cassirer (7).
Mußten wir somit auch die zweite Möglich-
keit, zu Axiomen zu gelangen, nämlich die Prüfung
an der Erfahrung, als nicht zutreffend erkennen,
so bleibt uns per exclusionem nur die Feststellung,
daß Axiome willkürliche Setzungen darstellen und
daß für die Entscheidung für oder gegen ein
Axiom niemals ein Zwang vorliegen kann. Isen-
krahe (1. c.) hat dieser Tatsache sehr treffend
in den Worten Ausdruck gegeben ; „Wenn jemand
einen axiomatischen Satz als wahr, richtig, zu-
treffend hinnimmt, so beruht diese Fähigkeit —
da ja den „Axiomen" keine Beweise beigefügt
sind — lediglich einerseits auf dem Eigenlicht,
der Leuchtkraft, der Apparenz dieses Axioms,
andererseits auf der Einsicht, der Perspizienz, der
Auffassungskraft des betreffenden Intellekts. Das
Zusammentreffen bzw. Zusammenwirken dieser
beider Faktoren, des objektiven und subjektiven,
ist erforderlich für die „Evidenz" des Axioms.
Und so ist es möglich und oft genug der Fall,
daß ein und dasselbe Axiom für den einen Men-
schen evident, für den anderen nicht evident ist.
Daher kann prinzipiell jedes Axiom eine Trennungs-
stelle bedeuten und wenn dabei die begriffliche
Trennung in einer scharfen, kontradiktorischen
Form geschieht, so liegt stets klar vor Augen ein
Scheideweg, an dem Jasager und Neinsager aus-
einandergehen."
Literatur.
1. Ein stein, Alb., Geometrie und Erfahrung. Berlin
1921.
2. Isenkrahe, Zur Elementaranalyse der Relalivitäts-
iheorie. Braunschweig.
3. Poincare , H., Wissenschaft und Hypothese. Deutsch
bei Teubner, Leipzig.
196
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
4. Helmhultz, H. v., Vorträge und Reden.
5. Dingler, Hugo, Ein Grundproblem der moderne
Physik. Annal. d. Naturphil. XIV/2.
6. Schneider, J., Das Raumzeitproblem bei Kant
und Einstein. Berlin 1921.
7. C a s s i r e r , Ernst , Zur Einstein sehen Relativitäts-
theorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Berlin 1921.
Einzelberichte.
Zur Theorie der Licsegaiigscheu Ringe.
Versetzt man eine mit etwas Kaliumchromat
getränkte Gelatineschicht mit einem Tropfen
Silbernitratlösung, so diffundiert dieser allmählich
in die Schicht hinein, wobei eine Ausfällung des
unlöslichen starkfarbigen Silberchromats entsteht,
die bei geeigneten Versuchsbedingungen nicht
stetig, sondern periodisch ist. Die Ausfällung
findet in Zonen statt, die von fällungsfreien
Zwischenräumen unterbrochen sind. Der im all-
gemeinen runden Form des aufgebrachten Trop-
fens entsprechend haben die Fällungszonen ring-
förmige Gestalt: nach ihrem Entdecker Liese-
gangsche Ringe genannt.') In neuerer Zeit
haben Hatschek und Holmes andere Be-
dingungen angegeben, unter denen die Liese -
gangschen Schichtungen in besonders auffallen-
der Weise entstehen. -) Die Theorie dieser Er-
scheinung ist noch nicht befriedigend. Wilh.
Ostwald begründete sie damit, daß der ausge-
fällte Stoff, also beispielsweise das Silberchromat,
zunächst in übersättigter Lösung sei, die infolge
ihrer Instabilität oberhalb gewisser Konzentrationen
auskristallisiere. Inzwischen ist diese Lösung dif-
fundiert, also vom ursprünglichen Ort wegge-
wändert, so daß eine niederschlagsfreie Zone von
einer farbigen gefolgt ist. Holmes ergänzte
diese Auffassung damit, daß er auf die Verminde-
rung der Konzentration der Reagentien infolge
der Ausfällung hinwies. Infolgedessen werden
die Reagentien nach der Ausfällungszone hin-
diffundieren, so daß diese wächst, von ihr ent-
fernt jedoch tritt eine Konzentrationsarmut ein,
so daß eine niederschlagsfreie Zone hinterbleibt. ^J
Nunmehr macht M. H. F'ischer (Cincinnati)
gegen diese Deutungen den berechtigten Einwand,
daß sie wohl die Entstehung einer Zone er-
klären, nicht aber die einer ganzen Reihe von oft
nach Dutzenden zählenden Ringen verständlich
machen.*) Denn Li esegangsche Ringe werden
in guter Form nur von solchen Niederschlägen
gebildet, die sog. „halbdurchlässige IMembranen"
darstellen, wie sie aus osmotischen Versuchen
bekannt sind, z. B. das von Pfeffer benutzte
Kupferferrocyanid. Nun sind diese Wände zwar
für gewisse molekular gelöste Stoffe durchlässig,
nicht aber für die membranbildenden Substanzen 1
Wenn also ein Silberchromatring gebildet ist, so
') ^g'- »Kinigcs über Liesegan gsche Ringe", v. Verf.,
Prometheus 30, S. 409, 19 19.
'') „Abnorme Li esegangsche Schichtungen", Ref. v.
Verf., Naturw. Wochcnschr. N. V. 20, S. 92, 1921.
') Journ. üf thc Americ. Chcm. Soc. 40, S. 1187, 1918.
■*) KoUoid-Zcitschr. 30, .S. 13, 1922.
ist er undurchlässig für die hochkonzentrierte
Silbernitratlösung, so daß mithin diese nicht noch
einen zweiten Ring ausfällen könnte. Fischer
bestreitet nicht, daß zunächst, also in der Zeit
unmittelbar nach der ersten Ausfällung wirklich
eine undurchlässige Membran entsteht. Diesem
Primärvorgang folgt aber ein sekundärer, darin
bestehend, daß die IVIembran durchlässig wird.
Zur Begründung dieser Auffassung wird daran
erinnert, daß Li esegangsche Schichtungen bis-
her nur beobachtet wurden, wenn eine Flüssig-
keit vorhanden war. Die zuerst sich bildende
Membran stellt eine hy dratisierte, oder 'allge-
meiner, sol vat isierte Membran dar, d.h. eine
solche, an deren Aufbau das Lösungsmittel einen
innigen, wenn im einzelnen auch noch nicht völ-
lig erklärten Anteil hat. Solche frisch darge-
stellten, mit dem Lösungsmittel noch bis in feinste
Partien durchsetzte Membranen sind amorph,
strukturlos. Während ihres Bestehens diffundiert
nun der in geringerer Konzentration befindliche
Stoff (im angezogenen Beispiel das Chromat in
der Gelatine) gegen die undurchlässige Membran,
so daß diese also verdickt wird, der Ring wird
breiter; zugleich aber entsteht unter der Membran
eine von dem diffundierten Stoff weitgehend freie
Zone. Nun aber, und das ist der zweite Vorgang,
,,altert" die Membran, sie desolvatisiert sich, d.h.
der Niederschlag befreit sich aus dem innigen
Gewebe mit der Flüssigkeit, indem er Struktur
bekommt, kristallin wird. Im kristallinen Zustand
aber nimmt der Niederschlag nicht den gleichen
Raum ein wie amorph. Die Membran wird also
Löcher bekommen, sie wird, wenn auch nur in
beschränktem Maße durchlässig werden. Nun-
mehr kann die konzentrierte (hier: die Silber-
nitrat)lösung durch die Membran treten. Anfangs
wird sie nichts ausfällen, da zu wenig von dem
niedrig konzentrierten Stoff vorhanden ist, so daß
das zur Ausfällung nötige Löslichkeitsprodukt des
Niederschlags nicht erreicht wird. Es hinterbleibt
also eine freie Zone; erst in einer gewissen Ent-
fernung vom ersten Ring, wo die Konzentration
des zweiten Stoffes ausreichend ist, wird ein neuer
Ring sich bilden, worauf die ersten Stufen des
Umsatzes sich wiederholen.
Diese Auffassung Fischers erklärt aufs Beste
die Tatsache, daß manche Fällungen niemals,
andere nur unvollkommen, eine Anzahl Fällungen
vorzügliche Liesegangschichtungen bilden. Im
ersten Fall (z. B. Barium- oder Calciumsulfat)
handelt es sich um Niederschläge, die nur geringe
Hydratationsfähigkeit besitzen oder schnell kri-
stallisieren. Andererseits gelingt die Darstellung
selbst der klassischen Li escgan g ringe oft nur
N. F. XXI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
197
bei ganz bestimmten Versuchsbedingungen. Dies
ist nunmehr ebenfalls verständlich, denn alle Um-
stände, die auf die Struktur der Niederschlags-
membranen einwirken, wie Konzentration , Tem-
peratur, Neutralsalze usw. beeinflussen notwendiger-
weise die Art der Fällungen. Insbesondere ihr
Rhythmus wird durch die mitgeteilten kolloid-
chemischen Erwägungen gut begründet.
H. Heller.
Rohrzucker im Schilfrohr.
Insbesondere in französischen Fachzeitschriften
wird immer wieder behauptet, die Wurzeln des
gewöhnlichen Schilfrohres enthielten 25 — 30%(!)
Rohrzucker, die man in Deutschland zu isolieren
und zur Grundlage einer gewinnbringenden Indu-
strie zu machen suche. Sämtliche Behauptungen
sind frei erfunden. Sabalitschka') nahm im
November mehrere Proben aus den Wurzeln und
stellte darin im Höchstfalle 5 '% Saccharose und
I % reduzierende Zucker fest. Nunmehr teilt
auch E. O. V. Lippmann') eine Untersuchung
an im Frühsommer gewonnenen Wurzeln mit.
Ihr Ergebnis lautet dahin, daß in einigen wenigen
Wurzeln 3 — 3,5 % Rohrzucker gefunden wurde,
in der überwiegenden Mehrzahl jedoch nur i — 3 "/„
neben ganz unbedeutenden Mengen reduzierenden
Zuckers. Wurzeln von Pflanzen, die schon geblüht
und Kolben angesetzt hatten , waren zuckerfrei.
Einen Rohstoff für die Zuckergewinnung stellen
die Schilfrohrwurzeln in keinem Fall dar.
Man kann angesichts dieser durchaus ver-
trauenswürdigen Befunde, denen analytische
Belege von französischer Seite nicht entgegen-
gestellt worden sind, nur annehmen, daß die mit
entsprechenden Kommentaren versehenen französi-
schen Meldungen auf — politischen Phantasien
berulien. H. H.
') Chemiker-Zeitung 45, Repert. <S2, 1921.
') Berichte d. d. Chem. Gesellsch. 54, S. 31 13, 19ZI.
Bücherbesprechungen.
Hörnes, Moriz, Das Gräberfeld von Hall-
statt, seine Zusammensetzung und
Entwicklung. 45 S. 80 Textabb. Leip-
zig 1921, Kurt Kabitzsch. Brosch. 30 M.
Bei dem Orte Hallstatt im Salzburgischen
wurde im Jahre 1846 ein großes Gräberfeld auf-
gedeckt, dessen reiche Funde so wertvolle Auf-
schlüsse für die Vorgeschichte ergaben, daß nach
diesem Gräberfelde eine ganze vorgeschichtliche
Periode ihren Namen erhielt. Leider fiel jedoch
die Ausbeutung dieses Gräberfeldes in eine Zeit
in der die Gesichtspunkte, welche die moderne
Forschung bei der Ausgrabung eines solchen
Gräberfeldes zu beachten pflegt, noch nicht er-
kannt waren. So wurden denn die Funde aus-
einander gerissen, zerstreut, nur ein Teil in Wien
geborgen. Wohl wurden fast alle auf dem Gräber-
felde aufgedeckten Funde bereits damals von einem
Archäologen von Weltruf, von Ed. von Sacken,
bearbeitet; sein Buch über diese Funde stellte
auch für damals — vor bald 50 Jahren — eine
sehr bedeutende Leistung dar, kann aber den
heutigen Ansprüchen unserer Wissenschaft selbst-
verständlich nicht mehr genügen. Schon längst
hätte es deshalb das Gräberfeld verdient, noch
einmal unter besonderer Berücksichtigung der
heute die Forschung interessierenden Gesichts-
punkte neu veröffentlicht zu werden. Wieviel aus
dem Gräberfelde bei sorgfältigen Studien noch
immer herauszuholen war, hat H. in mehreren
kleinen, in verschiedenen Zeitschriften veröffent-
lichten Studien gezeigt. Vor allem galt es die
Fundprotokolle zu den in dem Wiener Hofmuseum
geborgenen Gräbern zu veröffentlichen, weil uns
diese Fundberichte wertvolle Anhaltspunkte für
die Chronologie des Gräberfeldes bieten. Hand
in Hand hätte dabei das ganze Material noch ein-
mal durchgearbeitet werden müssen, wobei sich
auch weitere Anhaltspunkte für chronologische
Untersuchungen ergeben haben würden. Für eine
derartige Arbeit hat jedoch die Direktion des
Hofmuseums in Wien bislang kein Verständnis
gezeigt; so ist sie bis heute unterblieben. Um
so willkommener wird in den Fachkreisen die
vorliegende posthume Arbeit von H. sein, die
wenigstens einem Teil des dringenden Bedürf-
nisses entgegenkommt, indem sie uns die Fund-
protokolle zugänglich macht, und an der Hand
derselben das gesamte von dieser Fundstelle be-
kannte Material auf seine Chronologie hin durch-
zuarbeiten versucht. Diese Bearbeitung hat H.
dazu geführt, in dem Gräberfelde zwei verschiedene
Stufen festzustellen, eine weitere Stufentrennung
jedoch abzulehnen. Wenn man auch in manchen
Punkten von der Hörnesschen Darstellung ab-
weichender Ansicht sein wird, so wird doch das
Werk wegen der sorgfältigen Publikation der
Fundberichte für immer zu den grundlegenden
Arbeiten über das Gräberfeld von Hallstatt sowohl
wie für die gesamte europäische Vorgeschichte
gehören. Leider ist der Preis des Werkes außer-
ordentlich hoch gegriffen. Außerdem sind auch
die Abbildungen sehr wenig dem Inhalt angepaßt.
Berlin. Hugo Mötefindt.
Mahr, Adolf, Die prähistorischen Samm-
lungen des Museums zu Hallstatt.
Materialien zur Urgeschichte Österreichs. Heraus-
gegeben von der Wiener prähistorischen Ge-
198
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
Seilschaft. Redigiert von Georg Kyrie. Leip-
zig 192 1, Kurt Kabitzsch. 63 S. 8 Taf.
Die vorliegende Schrift von Adolf Mahr bietet
eine wertvolle Ergänzung zu der oben besprochenen
Abhandlung von Moritz Hörne s. M. hat sich
der Mühe unterzogen, die 1015 Inventarnummern
umfassende Sammlung des kleinen Hallstätter
Ortsmuseums einmal systematisch aufzunehmen
und in zusammenfassender Darstellung zu verar-
beiten. Das Museum in Hallstatt ist erst verhältnis-
mäßig spät gegründet (1884). Zu diesem Zeit-
punkt war die bereits durch nahezu vier Jahr-
zehnte fortgeführte Ausgrabungen ausgebeutete
Nekropole so gut wie erschöpft. Trotz allem ge-
lang es noch, sehr viele interessante Funde von
dort zusammenzubringen. Darunter befinden sich
immerhin noch 26 intakte Gräber, die von dem
Hallstätter Museumsverein ausgegraben sind und
deren Inventar hier erstmalig in einwandfreier
Form veröffentlicht wird. Außerdem gelang es
dem Museum, einen Teil der auf dem Gräberfelde
in früheren Jahren gemachten Funde wieder an
sich zu ziehen, die durch private Grabungen,
Raubgräbereien usw. in den Besitz von Privat-
leuten gelangt und dadurch der Wissenschaft so
gut wie entzogen waren. Daneben enthält das
Museum auch einige interessante Funde aus dem
Salzbergwerk sowie einige Ansiedlungs- und Streu-
funde aus der Umgegend, von der Steinzeit bis
zur Römerzeit. Die römischen Funde werden
freilich — entsprechend der österreichischen Auf-
fassung von der Abgrenzung der Vorgeschichte —
leider nicht mit berücksichtigt. Die wissenschaft-
liche Verarbeitung der Funde durch M. befriedigt
alle Ansprüche, und die beigegebenen Abbildungen
sind hervorragend, direkt mustergültig, ausgeführt.
Der Verf. sowohl wie auch die Wiener Prä-
historische Gesellschaft haben sich mit der vor-
liegenden Veröffentlichung entschieden ein großes
Verdienst erworben; denn solche kleinen Museen
bleiben, selbst trotz der in ihnen enthaltenen
schönen Funde, den Fachgenossen zumeist unbe-
kannt, wenn nicht ausführliche Veröffentlichungen
über sie erfolgen. Wir möchten deshalb am
Schluß unserer Besprechung dem Wunsche Aus-
druck geben, daß es der Wiener Prähistorischen
Gesellschaft die Verhältnisse recht bald wieder
gestatten möchten, weitere Hefte derselben Serie
bearbeiten und herausgeben zu können.
Berlin. Hugo Mötefindt.
Das Pflanzenreich. Regni vegetabilis conspectus.
Herausgegeben von A. Engler. Leipzig 192 1,
W. Engelmann. 75. Heft 128 M.; 76. Heft
136 M.; -]-]. Heft 124 M.; 78. Heft 144 M.
Die neuen Hefte des großen Werkes begrüßen
wir freudig als Zeichen, daß dies riesige literarische
Unternehmen des Altmeisters der Pflanzensyste-
matik in rüstigem Weiterschreiten begriffen ist.
K. H. Zahn behandelt in den Heften 75 — 77 die
ungeheuer formenreiche Kompositengattung Hiera-
cium und zwar die Sektionen Glauca, Villosa,
Barbata, Cerinthoidea, Oreadea, Stelligera, Vulgata,
Lanatella, Lanata, Pannosa, Heterodonta, Alpina,
Amplexicaulia, Intybacea, Prenanthoidea und den
Anfang der Sectio Tridentata. A. Brand be-
handelt die Formen innerhalb der Familie der
Borraginaceae, die sich um die Gattung Cyno-
glossum ordnen lassen. Alle Hefte sind mit einer
großen Zahl von Originalzeichnungen versehen.
Möge auch fürder das „Pflanzenreich" der Not
der Zeiten erfolgreich trotzen und die Hoffnung
aufrecht erhalten, daß es eines, wenn auch wohl
noch recht entfernten, Tages vollendet dastehen
wirdl Miehe.
Molisch, Prof. Dr. H., Mikrochemie der
Pflanze. 2. Aufl. mit 135 Textabb. Jena 192 1,
G. Fischer. 58 M.
Molisch hat ganz recht, wenn er in der Ein-
leitung zu diesem Buche die Mikrochemie, an
deren Ausbau er selber mit zahlreichen Einzel-
untersuchungen erfolgreich gearbeitet hat, preist.
In der Tat sind durch die Vereinigung mikrosko-
pischer und chemischer Methoden noch Einzel-
heiten in der chemischen Beschaffenheit der Or-
ganismen aufzudecken, an die der Chemiker allein
nicht hoffen kann, heranzukommen. Dazu ge-
sellt sich der weitere Vorteil, daß der Mikroche-
miker nicht nur Aufschluß über das Vorkommen
winziger Stoffmengen geben kann, sondern viel-
fach auch über den Ort des Vorkommens. Frei-
lich haften den mikrochemischen Reaktionen auch
Mängel an, manche sind nicht deutlich genug,
andere nicht hinreichend eindeutig. Was aber
an sicheren Daten durch diese überaus anziehende
Wissenschaft zu erzielen ist, das zeigt das vor-
liegende Werk, das kurz vor dem Kriege zuerst
erschien und nunmehr seine zweite Auflage er-
lebt. In der Zwischenzeit hat die Mikrochemie
der Pflanzen, nicht zum wenigsten durch die Ar-
beiten des Verf.s und seiner Schüler, manche
Förderung erfahren. Die neue Auflage ist infolge-
dessen auch ziemlich beträchtlich umgearbeitet
und erweitert. In dem allgemeinen Teile werden
die Arbeitsweise und die Hilfsmittel des Pflanzen-
mikrochemikers genauer geschildert. Dann werden
im speziellen Teile in chemisch -systematischer
Anordnung die Stoffe behandelt, deren mikro-
chemischer Nachweis im Pflanzenkörper möglich
ist. Zahlreiche Abbildungen, die meisten nach
eigenen Präparaten angefertigt, erläutern P'äilungs-
bilder, Kristallformen, zum Teil auch anatomische
Einzelheiten. Erwähnung verdienen noch die aus-
führlichen Literaturnachweise am Ende der Haupt-
abschnitte, sowie zum Schluß ein Autoren- und
Sachregister. Es ist kaum notwendig, darauf hin-
zuweisen, wie nützlich, ja unentbehrlich das
Molisch sehe Buch ist, für den Botaniker sowohl
wie für alle, die sich mit Pflanzenstoffen be-
schäftigen müssen, also für den Apotheker, den
Nahrungsmitteluntersucher und den Chemiker.
Miehe.
N. F. XXI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
199
Neumayr, M., Erdgeschichte. 3. Aufl., be-
arbeitet von F. E. Sueß. I.Band: Dynamische
Geologie. Mit 132 Textabb., 6 Farbentafeln,
24 meist doppelseitigen schwarzen Tafeln und
2 farbigen Kartenbeilagen. Leipzig u. Wien 1920,
Bibliographisches Institut.
Das bekannte Buch Neumayrs, der die Geo-
logie in volkstümlicher Form aber auf streng
wissenschaftlicher Grundlage darstellte, hatte schon
in seiner zweiten Auflage durch B. Uhlig eine
weitgehende Umarbeitung erfahren. In der vor-
liegenden neuesten Auflage ist die Umgestaltung
noch weiter fortgeführt, sie ist unter den ge-
schickten Händen F. E. Sueß' zu einem neuen
Buche geworden, neu in der Anordnung und Aus-
wahl des Stoffes, neu auch vor allem infolge der
Berücksichtigung der Fortschritte der Geologie,
die gerade in den letzten Jahrzehnten bedeutend
waren. Dabei ist der Geist des klassischen N e u -
mayr sehen Werkes lebendig geblieben. Das gilt
auch für jene anziehende Form der Darstellung,
die den Leser an der Entwicklung der Ideen teil-
nehmen läßt und die durch anschauliche Schilde-
rungen belebt wird, dabei sich aber überall, wie
es bei der Person des Herausgebers selbstver-
ständlich ist, auf wissenschaftlicher Höhe hält. In
diesem ersten Bande, dem der zweite hoffentlich
bald folgen wird, werden die Kräfte und die
Wirkungen auf die Ausgestaltung der Erdkruste
behandelt, der Vulkanismus, die Einflüsse von
Wasser und Licht, die Gebirgsbildung, die Erd-
beben und die Metamorphose der Gesteine. Viele
Tafeln, darunter eine ganze Anzahl farbiger, so-
wie zahlreiche Textbilder, Skizzen und Kärtchen
seien besonders hervorgehoben, sowie die gute
Ausstattung des vortrefflichen Buches überhaupt.
Miehe.
Stra^burger, E., Das kleine Botanische
Praktikum für Anfänger. Anleitung zum
Selbststudium der mikroskopischen Botanik und
Einführung in die mikroskopischeTechnik. Neunte
verbesserte Auflage, bearbeitet von M. Ko er-
nicke. 272 S. mit 138 Holzschnitten und 3
farbigen Bildern. Jena 1921, Gustav Fischer.
Brosch. 40 M., geb. 50 M.
Das kleine botanische Praktikum ist im wesent-
lichen ein Auszug des großen Praktikums. Es
führt deshalb nicht nur wie manche ähnliche Werke
in die Anatomie der höheren Pflanzen, sondern
auch in den Bau und die Fortpflanzungsverhältnisse
der Algen und Pilze ein. Auch die Grundlagen
der Fixierungs-, Mikrotom- und Färbetechnik
werden dargestellt. Seine Benutzung empfiehlt
sich für jeden, der eine möglichst umfassende
praktische Einführung in die Botanik erfahren will,
also nicht nur für den diese als Hauptfach wählenden
Studierenden, sondern vor allem auch für den zu-
künftigen Lehrer an höheren Schulen. Daß sich
das Buch in dieser Beziehung bewährt hat, beweist
die rasche Folge der Auflagen. Nienburg.
Anregungen und Antworten.
Augenlose Höhlentiere, Mutationstheorie und Lamarckis-
mus. An einen Bericht über die „Rückbildung der Augen
durch Mutation bei Drosophila" (diese Zeitschrift 1921, H. 45,
S. 648 ff.) knüpft der Referent Nachtsheim einige theore-
tische Betrachtungen über den Ursprung der augenlosen
Ilöhlentiere, die nicht unwidersprochen bleiben können.
Nach Meinung des genannten Referenten gibt es 3 Mög-
lichkeiten für die Entstehung einer blinden Höhlenform :
I. Das Auftreten einer dominanten augenlosen Mutation, die
(bei Indifferenz der Merkmale Augenlosigkeit im Dunkeln:
,,das Auge hätte dann keinen Selektionswert mehr" [S. 649,
Sp. II, Z. 24J) ohne Selektion allein , .infolge der Domi-
nanzverhältnisse die Stammrasse bald verdrängen" soll,
so daß ,,das Resultat das Verschwinden der Augen bei den
im Dunkeln lebenden Tieren innerhalb verhältnismäßig kurzer
Zeit" wäre (Z. 28 — 33). 2. Das mutative Auftreten eines
augenlosen Tieres, bei dem das Merkmal Augenlosigkeit mit
einem anderen Merkmal (z. B. vergrößerte Tast- und Geruchs-
organe bei Niphargus putaneus) korrelativ verknüpft ist, welch
letzteres der Mutation durch Selektionswirkung das Über-
gewicht über die Stammrasse verschaffen würde, ,,auch wenn
jene nicht über die Stammform dominant wäre (S. 650, Z. 16).
3. Die Lamarcksche Annahme der Rückbildung der Augen
durch den direkten Einfluß der Dunkelheit.
Die erste Möglichkeit ist offenbar nur ein Niederschlag
der Anschauung, als müßten innerhalb einer Population die
dominanten Formen (ohne Beteiligung der Selektion) eben
wegen der Dominanz ganz von selbst an Zahl fortgesetzt zu-
nehmen und im Laufe mehrerer Generationen die rezessiven
schließlich völlig zum Verschwinden bringen, eine Ansicht,
die bei oberflächlicher Betrachtung zunächst ja auch recht
plausibel erscheint. Wenn man jedoch die Rechnung für
einige Generationen wirklich durchführt, so erkennt man den
Irrtum bald. Es gilt hier nämlich der schon 1908 von Hardy
formulierte Satz, daß die Nachkommen der Stammform und
der Mutante während aller Generationen immer in demselben
Zahlenverhältnis zueinander bleiben, vorausgesetzt, daß keine
Sorte im Kampfe ums Dasein bevorzugt ist. Über Punkt i
ist demnach weiter kein Wort zu verlieren.
Was nun die 2. Möglichkeit anbelangt, so ist sie zwar
logisch einwandfrei, steht und fällt aber einmal mit der, ab-
gesehen von einigen kümmerlichen Gelegenheitsbeobachtungen,
leider noch immer (genau wie nach N.s Meinung der La-
marckismus) ohne direkten, experimentellen (oder, wie N.
sagt, „wissenschaftlichen") Beweis dastehenden Selektionstheorie.
Außerdem erfordert aber diese 2. Möglichkeit noch eine Hilfs-
hypothese, die sich, beiläufig bemerkt, die Nurselektionisten
für alle Fälle, wo bisher die Selektionstheorie zu versagen
drohte, als Universalhilfsmittel merken sollten. Die Augen-
losigkeit siegt nämlich nach dieser Ansicht gar nicht aus
eigener Kraft im Kampfe ums Dasein, sondern schmuggelt
sich sozusagen, als im Dunkeln indifferentes Merkmal, mit
Hilfe eines anderen selektionswertigen Merkmals (im ange-
führten Beispiel der vergrößerten Tastwerkzeuge), das durch
den gleichen Erbfaktor bedingt, also mit ihm verkoppelt sein
soll, mit durch. Wenn uns nun auch der Mendelismus mit
einer Reihe von Fällen bekannt gemacht hat, wo möglicher-
weise (einwandfrei zu erweisen ist es kaum !) mehrere sonst
ganz beziehungslose Eigenschaften durch dasselbe Gen hervor-
gerufen werden, so stellt doch bei der auch von N. (wie an-
gesichts der Talsachen auch nicht anders möglich) betonten
Kichtungslosigkeit der Mutationen jene Annahme recht große
Anforderungen an den , .Zufall". Man denke doch, es soll
nicht nur zufällig im Dunkeln ein Tier mit vergrößer-
ten Tast- und Riechwerkzeugen auftreten (die es
gerade dringend nötig hat!), sondern diese erbliche Mutation
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 14
soll auch noch (ebenfalls zufallig I) reduzierte Augen be-
sitzen (womöglich gar noch, wie viele Höhlentiere, rückge-
bildetes Pigment), von der auffälligen (aber nur biologi-
schen) Beziehung zwischen jenen Eigenschaften ganz zu
schweigen. Durch N.s Annahme, daß jener Vorgang In meh-
reren Etappen stattgefunden habe, wird er natürlich auch
nicht gerade wahrscheinlicher. Und an alledem wird eben
auch nichts durch die simple Tatsache geändert, daß bei der
Fliege Drosophila nach vielen anderen auch einmal (oder
richtiger zweimal) ein Augenkrüppel aufgetreten ist.
Einer Entstehung der blinden Höhlenforraen durch Muta-
tion glattweg widerspricht übrigens Kammerers experi-
mentelle Feststellung beim blinden Grottenolm , der sich in
einer Generation durch direkte Lichtwirkung in ein sehendes
Tier mit fast normalen Augen verwandeln ließ. Von Erblich-
keit (wie bei jenen Drosophilamutanten) ist also mindestens
in diesem Falle eines blinden Höhlenbewohners keine Rede,
also auch nicht von Entstehung durch Mutation.
Wohl aber paßt dieser Befund durchaus zu der überhaupt
viel einfacheren und (nicht nur dem Laien, wie N. meint)
einleuchtenderen, aber vom Referenten abgelehnten Lamarck-
schen Annahme, wonach Augenlosigkeit, vergrößerte .\ntennen,
Pigmentreduktion u. dgl. bei Höhlentieren durch dasselbe
Milieu (Lichtraangel resp. dadurch verursachter Gebrauch oder
Nichtgebrauch) geprägte Modifikationen sind. Denn für solche
milieugeprägten Abänderungen ist logischerweise unbedingt zu
fordern, daß sie bei eintretender schwächerer oder stärke-
rer Gegeninduktion oder schon beim Aufhören der Induktion
allmählich (in kürzerer oder längerer Zeit, in einer oder meh-
reren Generationen) abklingen müssen. Natürlich ist es anderer-
seits ziemlich ausgeschlossen, daß jene Modifikationen ihren
jetzigen Höhepunkt in eine r Generation erreicht haben, da in
einem so kurzen Zeitraum die Augen z. B. von Krebsen durch
Dunkelheit nur schwach affiziert werden. Daß solche Steige-
rungen von Modifikationen im Laufe mehrerer Generationen
vorkommen, beweisen die bekannten Versuche Kamme-
rers (insbesondere mit Alyter und Salamandra) und eine
Reihe anderer Beobachtungen. Natürlich ist eine solche
Steigerung über 2 oder mehr (bei Alyter mindestens 4) volle
Generationen nur möglich, weil in jeder Generation dem
Grade der äußeren Merkmale (dem ,,Phänotypus" , dem
„Explicitum") die Beschaffenheit des „Implicitum" in den
Keimzellen (mindestens in diesen vermutlich natürlich auch in
den Somazellen) entspricht (wobei wir davon ganz absehen,
was denn eigentlich das primär vom Milieu veränderte ist),
es handelt sich hier also nicht um ,,rein phänotypische" Mo-
difikationen (also ,, reine Phänovariationen" im Sinne Johann-
sens), sondern um Modifikationen der Anlagen, des ,,Geno-
typus" (wenn wir diesen Begriff nicht nur die Summe der
Mendelfaktoren umfassen lassen), alsoum,,Genomodifikalionen",
wie man sagen könnte. Bei der Augenreduktion der Höhlen-
tiere scheint übrigens die .Steigerung dieses Merkmals sogar
viele Jahrhunderte gedauert zu haben, wie durch die Mittei-
lungen Schneiders und Vires (zit. nach S e m o n „Vererbung
erworbener Eigenschaften") über Formen von AscUus aqua-
ticus (und Gammarus pulex) nahegelegt wird, die sich etwa
■ entsprechend der vermutlichen Länge ihres Uunkellebens (in
einem etwa 400 Jahre alten Freiberger Schacht, in den Quellen
der Pariser Katakomben und in den unterirdischen Gewässern
der Seine) in der Reduktion der Augen immer mehr dem
völlig blinden Asellus cavaticus (resp. Niphargus putaneus)
natürlicher Höhlengewässcr annähern, Tatsachen, die nach
Nachtsheims zweiter Annahme wohl auch noch auf Konto
des Zufalls kämen.
Wenn der Referent übrigens am Schlüsse seiner Betrach-
tungen sagt, die Lama rck sehe Theorie entbehre jedes wissen-
schaftlichen Beweises, so muß man dem ganz entschieden ent-
gegentreten. ,,Denn es heißt (einmal) die Bedeutung vgl.
entwicklungsgeschichtlicher und vgl. morphologischer Unter-
suchung gründlich verkennen, ihre Ergebnisse in dieser Hin-
sicht als bedeutungslos hinzustellen" (D ü r k e n , ,,Experimental-
zoologie") oder sie gar als unwissenschaftlich zu bezeichnen,
zumal sich ja übrigens auch die Selektionstheorie und die
ganze Abstammungslehre fast ausschließlich auf solches nicht-
experimentelles Material stützt. Denn was bisher experimen-
tell an Mutationen zutage gefördert worden ist, ist doch
wahrhaftig eher geeignet, die Deszendenztheorie zu diskredi-
tieren, indem die Stammesentwicklung der Organismen doch
unmöglich — um es kraß auszudrücken — über lauter Krüppel
gegangen sein kann. Zum anderen fehlt es aber auch an
experimentellem Beweismaterial für die Lamarcksche Theorie
(d. h. Artveräuderung durch die sog. ,, Vererbung erworbener
Eigenschaften") durchaus nicht, wenn es auch (wegen des
Fehlens planmäßiger Versuche!) nicht gerade sehr umfang-
reich ist. Aber es genügt ja schließlich prinzipiell, wenn auch
nur in einem Falle die Übertragung von milieugeprägten Mo-
difikationen durch die Keimzellen auf eine oder (besser) meh-
rere Generationen (nach .'\banderung des Milieus natürlich)
sicher nachgewiesen wird, zumal dann zweifelhafte Fälle mit
Recht am einfachsten im gleichen Sinne gedeutet werden
können. Dieser Nachweis erscheint aber durch einen Teil der
Versuche Kammerers mit Amphibien und Wolterecks
mit Daphnien (in parthenogenetischen ,, reinen Linien"!) er-
bracht. Von ,, Nachwirkung" einer Modifikation oder von
,, Dauermodifikation" (statt der unzweckmäßigen Bezeichnung
„Vererbung erworbener Eigenschaften") mag man in diesen
Fällen immerhin reden, wenn nur damit der Kernpunkt der
Sachlage, die Existenz von, den phänotypischen Modifikationen
(den ,, Phänovariationen" also) entsprechenden Modifikationen
im ,,impliciten" Zustande und die dadurch ermöglichte Über-
tragung durch die Keimzellen auf die nächsten Generationen
trotz Auf hörens der induzierenden Milieureize nicht verschleiert
wird. Denn um eine größere oder geringere Menge von
totem Nährplasma oder um sonstwie passiv übertragene Stoffe
kann es sich bei so spezialisierten Merkmalen und bei mehr-
maligem Passieren der Keimzellen unmöglich handeln, sondern
um vermehrungsfähige Substanzen, also „Anlagen", so daß es
zweifellos berechtigt ist, von Modifikationen der Anlagen,
des ,,Genotypus", oder kurz und deutlich von ,,Genomodifika-
tionen" zu reden (wobei es, zurzeit wenigstens, ein ganz mü-
ßiger Streit ist, ob sie ihren Sitz im Kern oder Zytoplasma
haben). Solche „Genomodifikationen" mit verhältnismäßig
langer Nachwirkung (auch über Konjugationszuslände hinaus)
sind übrigens in großer Zahl bei Protisten nachgewiesen wor-
den (,, Dauermodifikationen", Jollos). Bezeichnenderweise
betrachtete man diese wegen der langen Nachwirkung (unge-
achtet ihrer erwiesenen Milieugeprägtheit) bis vor kurzem
zumeist als Mutationen, ein Schicksal, das auch Kamm er er s
nicht brutpflegenden Alytes von Seiten Johannsens (Erblich-
keitslehre 1913) widerfuhr, obgleich doch eigentlich die
Milieugeprägtheit (d. h. die Möglichkeit ihrer stets gleichen
Erzeugung durch das gleiche Milieu) bislang nicht als Cha-
rakteristikum der Mutationen galt.
Auf alle Fälle steht es also, wie wir in den vorstehenden
Zeilen nur kurz andeuten konnten , durchaus nicht so ver-
zweifelt um den Lamarckismus, sicherlich nicht schlechter als
um Mutations- und Seicktionstheorie.
W. l'eter, Zittau.
Inhalt: (J. Ken de. Das Donautal in Österreich. S. 185. B. de Ruddcr, Axiom und Erfahrung. S. 194. — Binzel-
berlcbte: M. H. Fischer, Zur Theorie der Liesegangschen Ringe. S. 190. Sabalilschka und E. O. v. Lipp-
mann, Rohrzucker im Schilfrohr. S. 197. — Bücherbesprechungen: M. Hörnes, Das Gräberfeld von Hallstatt,
seine Zusammensetzung und Entwicklung. S. 197. A. Mahr, Die prähistorischen Sammlungen des Museums zu Hall-
slatt. S. 197. Das Pflanzenreich. S. 19S. 11. Molisch, Mikrochemie der Pflanze. S. 19S. M. Neumayr, Erdge-
schichte. S. 199. E. Straßburge r , Das kleine Bot.aniscbe Praktikum für Anränger. S. 199. — Anregungen und
Antworten : Augenlose Höhlenticre, Mutationstheorie und Lamarckismus. S. 199.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 9. April 1922.
Nummer 15.
[Nachdruck verboten.;
Beiträge zur Relativität der Individuen.
I. Versuche mit Seesternen.
Von Dr. W. Goetsch, München, Zool. Institut.
Mit 3 Abbildungen.
Jeder höhere biologische Organismus ist nicht
die Einheit, die er zu sein scheint. Er ist nicht
nur zusammengesetzt aus einzelnen Bausteinen,
den Zellen , welche eine gewisse Selbständigkeit
besitzen ; auch die einzelnen Organkomplexe
können normalerweise ganz unabhängig vonein-
ander funktionieren, so daß wirklich „die rechte
Seite nicht weiß, was die linke tut". Je größer
die Differenziertheit der Abschnitte und je straffer
die Zusammenfassung durch ein Zentralnerven-
system ist, um so weniger tritt in Erscheinung, daß
die tierische Persönlichkeit nichts absolut Einheit-
liches ist, sondern sich aus der rhythmischen Zu-
sammenfassung vieler Einzelheiten ergibt. Deut-
lich hervor tritt dies besonders bei Wesen, welche
aus einer Vielheit von Einzelabschnitten bestehen,
und besonders dann, wenn diese Einzelabschnitte
durch den Besitz von sämtlichen lebenswichtigen
Organen ausgezeichnet sind. Dies ist z. B. der
I'all bei den Ringelwürmern , deren serienweis
aufgereihte Segmente deshalb schon als selbstän-
dige Individuen aufgefaßt worden sind ; oder aber
bei den radiär gebauten Tieren, wie z. B. bei den
Echinodermen, wo die strahlenförmig von einem
Punkte ausgehenden Teile eine große Selbständig-
keit besitzen können. IMit den Formen, welche
die radiäre Anordnung am ausgeprägtesten zeigen,
wollen wir uns hier etwas näher beschäftigen.
Es sind dies die Seesterne, die allen Badegästen
der Nordsee wahrscheinlich schon zu Gesicht ge-
kommen sind.
Für gewöhnlich bietet ein Seestern einen
ziemlich stupiden Anblick; man hat, wenn man
die Tiere am Strande findet, meist nicht einmal
den Eindruck , ein lebendiges Tier vor sich zu
haben, und noch dazu eines, das in der Mehrzahl
der voraussehbaren Fälle äußerst zweckmäßig
handelt und dabei eine Beweglichkeit und Ge-
schicklichkeit aufbringt, die man ihm niemals
zutrauen würde. Werden Seesterne z. B. durch
eine Woge ans Land geschleudert, so glückt es
ihnen meistens, das Wasser wieder zu erreichen
und ihr Leben zu retten, das sie wie alle Wasser-
tiere am trockenen Gestade nach kurzer Zeit
verlieren würden.
Wie bewegt sich nun ein solches Tier über-
haupt? Wie alle Stachelhäuter oder Echino-
dermen, besitzt auch der Seestern als hauptsäch-
lichstes Lokomotionsorgan das Wassergefäßsystem.
Es sind dies röhrenartige Kanäle, die den ganzen
Körper durchziehen und mit Seewasser angefüllt
sind. Der Eintritt des Seewassers wird gewähr-
leistet durch eine Kalkscheibe mit feinen Öffnungen,
die sog. Madreporenplatte. Diese liegt bei See-
sternen und Seeigeln auf der Oberseite der Tiere,
und zwar nicht in der JVlitte, sondern exzentrisch
(vgl. Abb. 1). Von dieser Platte führt nach ab-
wärts ein Kanal, der wegen der häufig zu finden-
den Verkalkung Steinkanal genannt worden ist.
Von da gelangt das Seewasser in den Ringkanal,
der den an der Unterseite befindlichen Mund um-
gibt, und von da aus dann in die Radiärkanäle
welche die Arme durchziehen. Die Radiärkanäle
wiederum geben rechts und links noch Seitenäste
ab, die in die Ambulacralfüßchen endigen; und
mit diesen Füßchen bewegen sich die Tiere nun
vorwärts, in dem sie sich mittels ihrer Saug-
scheiben anheften und dann den Körper nach-
ziehen. Bei umgewendeten Seesternen sieht man
diese Füßchen in mehreren Reihen, entweder
ausgestreckt oder mehr oder weniger zurückge-
zogen, je nachdem sie durch das Einpumpen mit
Seewasser prall gefüllt oder durch Muskelkontrak-
tion entleert sind.
Die strahlige Anordnung des Wassergefäß- oder
Arribulacralgefäßsystems bestimmt nun die Anord-
nung der übrigen Organe, die fast alle in strahliger
Ausbildung auftreten. Auch das Nervensystem
beginnt mit einem den Mund umziehenden Ring
und setzt sich in die Arme strahlenförmig fort.
In ähnlicher Weise sind auch die anderen Organ-
systeme verteilt, wie z. B. die Sinnesapparate, die
ebenfalls, als Augenflecke, Taster und ähnliche
Organe, an den Armspitzen zu finden sind. Trifft
nun ein Reiz den einen oder anderen Arm, so
genügt das, um dem ganzen Nervensystem die
Richtung anzugeben, nach welcher sich die Be-
wegung der Füßchen einzustellen hat.
Vielfache Versuche haben diese Verhältnisse
gezeigt, und ich möchte einige derselben hier
anführen, da man aus ihnen sehen kann, wie es
einem Tier manchmal möglich ist, sich zu helfen
— und wie es ihm in anderen ganz einfach er-
scheinenden Fällen auf Grund seiner Organisation
versagt bleibt, sein Leben zu retten.
Die einfachste Versuchsanordnung ist die, bei
der ein frisch aus dem Meere geholter Seestern
aufs Trockene gelegt wird so daß nur eine Arm-
spitze das Wasser berührt. In solchen Fällen
zogen sich bei meinen Experimenten die Tiere
immer zunächst zusammen, wobei die Arme sich
nach oben einrollten. Nach dieser ersten Reflex-
202
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 1 5
bewegung begannen dann die Tiere ihre Füßchen
so zu orientieren, daß der ganze Stern dem Wasser
zugeschoben wurde; nach einiger Zeit berührten
dann auch andere Arme das Wasser, und nach
wenigen IVIinuten befand sich das ganze Tier
wieder in seinem Element.
Auf den Rücken gelegte Exemplare benahmen
sich in dieser Situation ebenso ; die Arme angelten
einige Zeit herum, bis der zunächst mit dem
Wasser in Berührung kommende Arm die Rich-
tung angab.
i3ei der ersten Reflexbewegung der Tiere und
dem Zusammenziehen und Aufwärtskrümmen der
Arme kann es nun vorkommen, daß die Be-
rührung mit der Wasserfläche aufgegeben wird.
Trotzdem beginnt dann das Tier in der Richtung
des Wassers hin zu kriechen; durch die erste
Berührung mit dem Wasser ist also ein Impuls
gegeben, und die Richtung, in der die Bewegung
gehen soll, ein für alle Male bestimmt, solange
kein zweiter Reiz den ersten aufhebt. Etwaige
Hinternisse spielen dabei keine Rolle und bringen
das Tier keinesfalls aus der einmal eingeschlagenen
Richtung. In einem Fall verhinderte z. B. die
vorstehende Kante des Gefäßes, in dem der auf
dem Trockenen liegende Seestern das Wasser ge-
spürt hatte, längere Zeit das Wiederfinden des
rettenden Nasses. Die Folge davon war, daß das
ganze Tier sich zunächst mit allen Körperteilen
unmittelbar an das Gefäß herandrängte und dort
mit den Armen herumfühlte, bis dann eine neue
Berührung mit dem Wasser erfolgte und das
Hindernis genommen wurde. Wir sehen schon
an diesem Beispiel, daß bei den so niedrig
stehenden Tieren ein Eindruck längere Zeit
remanent und haftend bleiben kann. Ein
solches Haften eines Eindrucks, d. h. eine niedere
Art von Gedächtnis, ist für das Tier natürlich von
großem Vorteil: Der Kontakt der einen Seite
mit dem Wasser kann wieder aufgehoben werden,
und das Tier kriecht doch in der dadurch ge-
gebenen Richtung. Berührt z. B. eine Woge das
durch die Brandung ans Ufer geschleuderte Tier,
oder tritt die Flut beim Einsetzen der Ebbe zu-
rück, so wird der Seestern auf Grund dieser Ein-
richtung sich doch immer wieder ins Meer zu-
rückfinden.
Dazu kommt, daß auch schon ganz kurze Be-
rührungen mit Wasser genügen, um den Impuls
und die Richtung anzugeben. Ein großer See-
stern z. B., den ich auf eine Holzplatte legte und
an einer Armspitze dreimal leicht mit Wasser
betupfte, kroch sofort in dieser Richtung; und
als ich ihn dann auf trockenen Sand tat und einen
anderen Arm sechsmal mit einem Tropfen be-
feuchtete, nahm er seinen Weg nach dieser
Seite.
Interessant und amüsant zugleich ist es, zu
beobachten, wie beim Weg ins Wasser die Tiere
sich verhalten, wenn man ihnen enge Öffnungen
oder andere Hindernisse dabei in den Weg stellt.
Da kommt eine Beweglichkeit und Geschicklich-
keit an den Tag, die manchmal ganz verblüffend
wirkt. Ein Seestern, dessen Armlänge 4 cm be-
trug, kroch beispielsweise durch eine elliptische
Röhre, deren größter Durchmesser 3^., cm be-
trug; er knickte die heraushängenden Arme ein
und war in kurzer Zeit durch die gegenüber-
liegende Öffnung wieder ins Freie gelangt.
Ein anderer, dessen größter Arm 4 '/g cm maß,
versuchte aus der Trockenheit in ein kleines mit
Wasser gefülltes Likörglas zu kriechen ; da seine
Gesamtmasse viel größer war als der Inhalt des
Gefäßes, gelang ihm dies nicht ganz. Er zwängte
aber trotzdem beinahe den gesamten Körper in
das Gläschen hinein, bis auf zwei Armspitzen,
die oben noch hinausragten.
Zwei andere Tiere krochen sogar vollkommen
in Flaschen hinein, deren Hals über viermal so
klein war als ihr Durchmesser. Das eine Exem-
plar wurde dann von mir innerhalb der Flasche
abgetötet, nachdem es sich darin ausgebreitet
hatte (Abb. i). Alle derartigen Versuche beruhen
auf der Beharrlichkeit der Seesterne, in der Rich-
tung weiterzukriechen, in
der sie das Wasser gespürt
haben. Man braucht dem-
nach nur ein Tier auf eine
mit Seewasser gefüllte Fla-
sche zu legen und den einen
Arm hineinzustecken. Sofort
krümmt es die Arme zu-
sammen bis auf den, wel-
cher das Wasser berührt,
und versucht dann auf jede
Weise, den gesamten Kör-
per in die Flüssigkeit hinein
zu bekommen.
Alle diese Versuche legen
dar, daß der Reiz auf den
einen Arm das Tier nötigt,
in dieser Richtung sich vor-
wärts zu bewegen, und diese
Bewegung geht so lange
weiter, als der Reiz andauert
oder die Reizwirkung rema-
nent bleibt oder aber ein
anderer stärkerer Reiz ent-
gegen wirkt.
Was wird nun geschehen, wenn nicht nur e i n
Arm und eine Seite gereizt wird, sondern wenn
zwei entgegengesetzte Körperabschnitte gleich-
zeitig einer Reizung unterliegen? Wird dann der
Seestern wirklich umkommen, wie der Esel
zwischen zwei Heubündeln ? Die Versuche be-
wiesen, daß dies in der Tat möglich ist, wenn
die Bedingungen wirklich auf beiden Seiten voll-
kommen gleich sind.
Einen frisch gefangenen Seestern legte ich
beispielsweise über ein Stöckchen, balanzierte ihn
gut aus und ließ zwei gegenüberliegende Arme
das Wasser berühren (Abb. 2). Die benetzten
Armspitzen zogen sich nach beiden Seiten ins
Wasser hinein, begannen lebhaft mit den Füßchen
Abb. I. Seestern, der in
eine Flasche gekrochen
ist. M = Madreporen-
platte zum Eintritt für
das Seewasser, a — e Be-
zeichnung der Arme
nach Jennings.
N. F. XXI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
203
zu spielen und faßten zuletzt beide den Grund
des Gefäßes. So zogen sie kräftig nach beiden
Seiten, und da die übrigen Arme das Wasser
nicht erreichen konnten, so mühte sich das Tier
vergeblich ab, und war nach einer Stunde voll-
kommen schlapp und halb vertrocknet.
Ein anderer vollkommen ausgeruhter Seestern
wurde so ins Wasser gelegt, daß zwei Arme ins
Wasser ragten. Zwischen diese beiden Arme
wurde ein Strohhalm gesteckt. Der übrige Teil
lag außerhalb des Wassers, und die beiden Arme,
die den eingetauchten benachbart waren, wurden
durch Halme gehindert, bei etwaigen Bewegungen
ihrerseits das Wasser zu berühren und dadurch
den Zug nach der einen Seite zu verstärken. Daß
ein solches zurückhalten das Tier nicht behindert
hätte, geht aus den früheren Versuchen hervor;
außerdem lehrte ein gleichzeitiges Kontrollexperi-
ment mit noch enger gesteckten Halmen, daß ein
solches Tor ohne weiteres genommen wird.
einiger Zeit die übrigen unter. Werden normaler-
weise mehr als ein Arm gereizt, so beeinflußt die
stärker davon betroffene Seite die andere in
ihrem Sinne und zieht sie in ihrer Richtung
mit fort; es ließen sich hierbei förmlich quanti-
tative Bestimmungen feststellen.
Aus diesem Grunde müssen auch die Versuche,
zwei Seiten gleichzeitig zu beeinflussen, sehr ge-
nau ausgeführt werden. Die Arme müssen gleich-
lang sein, die Tiere müssen gut ausbalanziert
werden und vor allem muß man verhindern, daß
nicht ein dritter Arm vom Wasser benetzt wird.
Denn jedes geringste Plus auf der einen Seite
zieht nach und nach den ganzen Seestern auf die
eine Seite hinüber, und damit ist dann die ein-
heitliche Bewegungsrichtung gegeben, und der
Seestern zeigt uns, daß er doch etwas mehr ist
als eine fünfstrahlige Maschine.
Abb. 2. Seestern, der so auf einem Stock ausbalanziert ist,
dafl zwei herunterhängende Arme das Wasser berühren. Der
Seestern kann nicht in das Wasser gelangen, da die gegen-
überliegenden Reize die Wirkung aufheben.
Auch bei diesem Versuche konnte der See-
stern nicht das Wasser erreichen und mühte sich,
nach beiden Seiten gewaltig ziehend, über drei-
viertel Stunden ab, bis ich ihn aus der unange-
nehmen Lage befreite.
Derartige Versuche wurden noch oftmals unter-
nommen, und sie hatten immer denselben Erfolg,
wenn wirklich auf beiden Seiten genau dieselben
Bedingungen herrschten.
Die Ursache zu diesen eigenartigen Erschei-
nungen liegt in der Organisation begründet. Jeder
Seesternarm besitzt in sich alle Teile, die zum
Leben nötig sind, auch die Nerven und die Sinnes-
organe; und dadurch besitzt er eine so große
Selbständigkeit, daß sogar ein einzelner Arm das
ganze Tier wieder aus sich hervorgehen lassen
kann, wenn man ihn abschneidet.
Da eine straffe zentrale Überordnung durch
ein Gehirn hier fehlt, ist die Folge, daß bei der
gleichmäßigen Organisation der Einzelteile jeder
Arm für sich reagiert, und eine Doppelreizung
an entgegengesetzten Polen die Wirkung aufhebt,
die eine einseitige Beeinflussung hervorrufen
würde. Eine solche einseitige Beeinflussung, wie
sie z. B. die Benetzung eines Armes darstellt, läßt
diese eine Seite zunächst in Tätigkeit treten; ist
dann eine Bewegung nach dieser Richtung einmal
in Gang gekommen, so ordnen sich ihr nach
Abb. 3. Seestern, der mit zwei nebeneinanderliegenden Armen
das Wasser berührt. Er kann nicht ins Wasser gelangen, da
zwischen beiden Armen ein Stöckchen befestigt ist.
Ein solches Plus, das die koordinierte Be-
wegung nach der einen Seite bedingt, ist z. B.
die Berührung des einen Armes mit der Boden-
fläche des Gefäßes; schon rein mechanisch kann
der Arm, der sich mit seinen Füßchen anheftet,
einen größeren Zug ausüben und damit dann die
Bewegungsrichtung beeinflussen. Ein solches Plus
kann aber auch in nichtmechanischen Ursachen
liegen, wie ich feststellen konnte.
Mir war bei diesen Versuchen aufgefallen, daß
die Tiere leicht eine Tendenz zeigten, immer
nach einer Seite zu kriechen oder zu fallen. Ich
probierte zunächst einmal aus, ob vielleicht orga-
nisch bestimmte Arme bevorzugt würden, bei
sonst gleichmäßiger Reizung. Vielleicht die,
welche der Madreporenplatte zunächst lagen
(Arm a u. e der Abb. i), da diese auch bei den
Umdrehversuchen von Jennings*) eine beson-
dere Rolle spielten. Alle meine Untersuchungen
gaben keinen Anhaltspunkt für eine organisch
bedingte Bevorzugung der Kriechrichtung bei
gleichmäßiger Reizung; auch die Größe machte
nichts dabei aus.
Hatte ich dagegen einen vollkommen ausge-
ruhten Seestern erst einmal nach einer bestimmten
Jennings, das Verhalten der niederen Organismen.
204
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 15
Richtung kriechen lassen, so wurde diese Seite
bei einem zweiten Versuch bevorzugt, wenn zwei
Seiten gleichzeitig gereizt wurden. So hatte ich
beispielsweise einen kleinen, ganz regelmäßigen
Stern mit dem einen Arm (a der Abb. i) in
Wasserberührung gebracht, worauf er, wie erwartet,
sofort in dieser Richtung sich in Bewegung setzte
und ins Wasser gelangte. Als ich ihn nun her-
ausholte und über einen Stock genau ausbalan-
zierte, so daß der Arm a und der gegenüber-
liegende das Wasser berührte, begann er nach
ganz kurzer Zeit sich nach der Seite zu neigen,
an welcher sich der beim früheren Versuch ge-
reizte Arm befand. Der Versuch wurde erneuert
und das Tier dabei auf den Rücken gelegt. Der
Erfolg war derselbe. Zum dritten Male wieder-
holt, zeitigte der Versuch dasselbe Ergebnis; das
Tier kroch wiederum in dieser Richtung, nur
etwas langsamer, da es augenscheinlich ermüdet
war.
Bei einem anderen Versuch derselben Art
streckte der aus dem Wasser genommene See-
stern sofort den Arm aus, der beim vorherge-
gangenen Befeuchten die Richtung angegeben
hatte; der benachbarte Arm schlug sofort in der
gleichen Richtung um und berührte damit das
Wasser. Damit war natürlich das ursprüngliche
Plus erhöht und die Richtung entschieden. Als
das Tier vollkommen ins Wasser gelangt war,
holte ich es heraus und legte es so über einen
Napf, daß alle Arme gleichmäßig in der Luft
schwebten. Der früher gereizte Arm begann sa-
fort stärkere Bewegungen auszuführen und sich
nach unten zu krümmen. Das Tier bewegte sich
nun in dieser Richtung ein wenig vorwärts, und
als dann der bevorzugte Arm als erster die
Wasseroberfläche berührt hatte, glitt das Tier
nach ganz kurzer Zeit in das Becken hinein.
In einer ganzen Anzahl weiterer Fälle krochen
die Tiere, die doppelseitig einem Reiz ausgesetzt
worden waren, stets nach der Richtung des Arms,
der zum ersten Male das Wasser berührt hatte,
trotzdem sonst alle Vorsichtsmaßregeln getroffen
waren. Man muß also bei der Versuchsanordnung
auch diese remanent gebliebenen Eindrücke berück-
sichtigen und nur solche Tiere auswählen, die
vollkommen ausgeruht sind und nicht schon auf
eine bestimmte Richtung eingestellt waren.
Darauf mag es auch beruhen, daß Preyer')
bei derartigen Versuchen zu dem Resultat kam,
ein Seestern, der sich nicht zu helfen weiß in
solch fataler Lage, sei psychisch minderwertiger
als andere, die trotz genauer Versuchsanordnung
schließlich doch die Hindernisse beseitigten und
das Wasser erreichten. Preyer wußte nichts
von der Einstellung auf bestimmte Bewegungs-
richtung, die durch das Haftenbleiben früherer
Reize zustande kommt.
Auf diesem Remanentbleiben von früheren Ein-
drücken beruht wohl auch die von Jennings')
unternommenen und neuerdings von Mangold ^j
nachgeprüften Untersuchungen über das Wenden
der Seesterne. Legt man nämlich das Tier auf
den Rücken, so krümmen sich zunächst die Arme
alle etwas ein und tasten hin und her, bis dann
durch ein Übergewicht auf der einen Seite eine
gemeinsame koordinierte Aktion eintritt: einige
Arme heften sich fest, während die übrigen los-
lassen, und schließlich schwingt das ganze Tier
herum und kommt wieder auf die Bauchseite.
Jennings „dressierte" nun die Seesterne und
brachte sie nach zwei Wochen „täglichen Unter-
richts" soweit, daß sich „eine Gewohnheit heraus-
bildete, deren Wirkungen noch eine Woche lang
nach dem Aufhören der Abrichtung deutlich be-
stehen blieb". Durch 10 — 12 maliges tägliches
Wenden auf ganz bestimmten Armen bei Be-
hinderung der anderen Arme gewöhnten sich die
Tiere daran, immer nach derselben Seite herum-
zuschlagen, und sie behielten dann auch eine Zeit-
lang diese Richtung bei, wenn die Behinderung
aufgehoben wurde.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Ven,
der mittels komplizierter Versuchsanordnung eben-
falls die Ausbildung bestimmter Gewohnheiten
fördern konnte; sie sind ebenso wie die Angaben
' Mangolds über die Bevorzugung des einen Arms
bei bestimmten Individuen meiner Ansicht nach
immer darauf zurückzuführen, daß frühere Ein-
drücke mehr oder weniger remanent bleiben.
Daß eine solche Einstellung auf eine bestimmte
Richtung auch nach Aufhören des eingetretenen
Reizes für die Tiere von Vorteil sind, wurde
schon früher erwähnt ; der Seestern wird dadurch
befähigt sein Ziel zu erreichen und wieder ins
Wasser zu gelangen, falls er nicht gar zu weit
ans Ufer geschleudert worden ist. Da er nor-
malerweise wohl niemals in die Situation kommen
wird, daß genau dieselben Reize in gleicher Stärke
auf beiden Seiten einwirken, reicht seine Organi-
sation in allen natürlichen Lagen vollkommen aus,
trotz Selbständigkeit der Einzelteile eine koordi-
nierte Bewegungsrichtung herzustellen. Die Teil-
reaktionen der einzelnen Abschnitte sind bei einem
Seesternindividuum deshalb so auffällig, weil bei
ihm alle Organe so gleichmäßig gebaut sind.
Dadurch werden diese Tiere ein gutes Beispiel
dafür, daß die individuelle Persönlichkeit nichts
absolut Einheitliches ist, sondern sich aus vielen
Einzelteilen zusammensetzt. Diese Relativität der
Individuen , wie diese Erscheinung an anderer
Stelle bereits bezeichnet worden ist,'') tritt bei
anderen Organismen deshalb nicht so deutlich
') Preyer, Über die Bewegungen der Seesterne. Mitt,
d. Zool. Stal. Neapel. Bd. 7.
') Jennings, Das. Verlialten der niederen Organismen.
Leipzig 1910.
*) Mangold, E., Arch. f. ges. Physiol. 1921.
') Goetsch, W., Nahrungsaufnahme bei Hydra. Biol.
Zentralbl. 1921.
Goetsch, W., Hermaphroditismus und Gonocliorismus.
Zool. Am. 1921/22.
N. F. XXI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
205
hervor, weil ihre Teile entweder nicht einander
gleichgeordnet sind und deshalb eine koordinierte
Reaktion rascher zustande kommt; oder aber
dies „Wir im Ich" wird dadurch beeinflußt, daß
ein zentrales Nervensystem als Schaltwerk zwischen
Reizaufnahme und Reizbeantwortung eingeschoben
ist, welches diese Relativität zwar nicht ganz auf-
hebt, aber doch so einheitlich gestaltet, daß sie
für gewöhnlich nicht in Erscheinung tritt.
[Nachdruck verboten.'
Beiträge zur Höhlenkunde.
Von Dr. Hans Karl Becker.
Die Einteilung der Höhlen wird ganz ver-
schieden sein, je nachdem wir die Entstehung
der Höhlen, oder ihren jetzigen Zustand, ob wir
einzelne Teile eines Systems oder dieses vollständig
ins Auge fassen. Läßt z. B. Fraas seine Höhlen
schon als natürliche Lücken in Riffkalken vor-
handen sein, oder sie daraus entstehen, und im
Gegensatz zu ihm Neischl lediglich durch
Spaltenauslaugung, so kann ich selbst, nachdem
ich die Arbeiten beider Forscher wenigstens zum
Teil an Ort und Stelle nachgeprüft habe, zu dem
Schlüsse kommen, daß je nach Lage der Dinge
und der Gegend jeder von beiden Forschern recht
hat. Die Verhältnisse liegen nun einmal im vor-
liegenden Beispiel in Schwaben gänzlich anders
als in Franken.
Ganz verschiedene Höhlen können auf gänzlich
anders geartete Weise entstanden sein, und doch
können alle erzeugenden und umgestaltenden
Kräfte zusammengenommen ganz gleiche End-
ergebnisse vorführen.
P'ranz Kraus teilt seine Höhlen, soweit die
Kalkgebiete in Betracht kommen (und nur solche
wollen wir hier besprechen) ein in:
A. Erodierte Klüfte und Spaltenhöhlen,
B. Erosionshöhlen,
C. Trockene Grotten,
D. Korosionshöhlen.
Neischl vereinfacht dieses System, indem er
nur von Spalten- und Zerklüftungshöhlen spricht,
was auch Knebel ohne weiteres gut heißt.
Letzterer möchte sogar besonders scharf betont
haben, daß bei den Höhlenbildungsvorgängen der
Begriff „Erosion" auszuschalten sei, welcher Schluß-
folgerung ich mich nicht ohne weiteres an-
schließen möchte, wenigstens scheint mir, die
Erosion zum mindesten bei der Umbildung von
Höhlen einen ganz wesentlichen Faktor zu bilden.
Und dürfen wir schließlich, wenn eine Höhle mit
Hilfe von Strudellöchern eines Höhlenflusses er-
schlossen wird, dann ohne weiteres die mahlenden
und somit erodierenden Steine ausschalten, die
wir doch von Gletschermühlen her kennen?
Meines Erachtens werden die Höhlenflüsse und
Bäche als bildende und umgestaltende Faktoren
viel zu sehr außer Acht gelassen. Hierbei möchte
ich noch den Fall, daß der Fluß zwischen Ein-
und Austritt in und aus der Höhle in das Grund-
wasser übergeht, also dieses Grundwasser und
nicht ein zusammenhängender Fluß die Aus-
laugung und Ausnagung, d.h. Korosion und Erosion
des Höhlensystems übernimmt, für unsere Frage
nur insofern für bedeutend halten, als er ver-
zweigtere Systeme liefert. Hier liegt aber dann
schon wider ein die Systematisierung erschwerender
Fall vor.
Sehen wir uns nämlich eine derartige Höhle
genauer an, so kann ihre hallenartige auf Zer-
klüftung beruhende Erscheinung wohl durch ein
derartiges Grundwasser verursacht worden sein.
Bei einer Reihe von Höhlen, die ich als Heeres-
geologe während des Krieges in Belgien zu durch-
forschen Gelegenheit hatte, scheinen mir derartige
Fälle der Grundwassertätigkeit vorgelegen zu haben.
Es wäre aber auch möglich und in vielen Fällen
wahrscheinlich, daß ein unter der heutigen Höhle
liegendes System zerstört worden, d. h. daß Zwischen-
wände einzelner Gänge vernichtet und so ein ge-
meinsamer hallenartiger Raum geschaffen worden
wäre. Drittens aber ist ja noch der Fall möglich,
daß die uns heute vorliegende Höhle nicht durch
einen dieser Faktoren direkt geschaffen worden
wäre, sondern daß ihr heutiger Boden die ehe-
malige, jetzt niedergebrochene Decke eines anderen
Systemes darstellte, welches von ihr ausgefüllt ist,
und so die neuentstandene Höhle also im Niveau
wesentlich höher liegt als das ursprüngliche System,
ein Fall also, den E. Fraas für eine große Anzahl
schwäbischer Höhlen angenommen hat, bei denen
der Einbruch in eine darunterliegende Rifflücke
stattgefunden haben soll.
Haben sich nun in ein solches auf die eine
oder andere Art entstandenes Höhlensystem neue
Bäche und Sickerwasser einen neuen Weg ge-
bahnt, so resultiert die uns vorliegende Höhle gar
aus drei ganz verschiedenen und zeitlich nach-
einander einsetzenden Faktoren. Wenn wir z. B.
die durch Neischl bekannt gewordenen Höhlen
der fränkischen Schweiz ins Auge fassen, so kann
ich nach deren eigener Durchforschung, ergänzt
durch die Erkundung einer Reihe anderer von
Neischl nicht beschriebenen Höhlen und Löcher,
diese nicht so ohne weiteres wie Neischl in das
Schema Spalten- und Zerklüftungshöhlen einteilen,
sondern muß bei den meisten mehrere verschiedene
Stadien annehmen, welche die uns vorliegenden
Systeme nacheinander geschaffen haben.
Wollen wir die von Neischl aufgestellten
und in seinem Sinne zu erweiternden Grundsätze
für die „fortschreitende Höhlenbildung und Zer-
störung" zugrunde legen, so müssen wir folgende
Einteilung annehmen :
2o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 15
(N. hinter dem Höhlennamen bedeutet von
Neischl durchforscht, B. von mir erkundet.)
I. Spaltenhöhlen: Binghöhle, B., Moggaster-
höhle, N. B., Schönsteinhöhle (Eingang), N. B.,
Brunnsteinhöhle (hinterer Teil), N. B., Rosen-
müllershöhle, N. B., Wundershöhle, N. B., Kling-
lochEsperhöhle, N. B., Heinrichsgrotte, B., Neideck-
höhlen, B., Zahnloch, B. (hierher gehört auch
wahrscheinlich die noch nicht durchforschte Ver-
zweiflungshöhle).
II. Zerklüftungshöhlen: Klausstein-Sophien-
höhle, N. B., Maximiliansgrotte, N. B., Witzen-
höhle, N. B., Oswaldhöhle, N. B., Hauptteil der
Schönsteinhöhle, N. B., Zoolilhenhöhle, N. B.,
Wassergrotte, N. B., Ludwigshöhle, N. B., Schneider-
löcher, N. B., Gaiskirche, B.
Anhang unterirdische Flußläufe (z. T.
aus I und II). Binghöhle, Oswaldhöhle, Riesen-
burg, Schwingbogen, Quackenschloß, Klingloch,
Heinrichsgrotte, Ludwigshöhle, Schneiderlöcher,
Teufelshöhlen , das ganze obere Ailsbachtal , das
Püttlachtal und Teile des Wiesenttales.
III. Einsturz einzelner Teile (meist
der Eingänge): Riesenburg, N. B. , und Gais-
kirche, B.
IV. Tunnels: Oswaldhöhle, N. B., Quacken-
schloß, N. B., Teufelshöhle, N. B.
V. Naturbrücken: Schwingbogen, B., eine
kleine Brücke bei Burggailenreuth , B., Felsentor
bei Gösweinstein, B., und (mit schon zerstörtem
Bogen) der Grottenseerturm bei Neuhaus, B.
Anhang :
a) Dolinen und Erd fälle: Riesenburg
Klingloch-Esperhöhle, Vorderteil der Heinrichs-
grotte, der alte Eingang der Maximiliansgrotte.
b) besonders deutliche Deckenstürze:
Sophienhöhle, Moggasterhöhle.
Man sieht schon hier, daß mancher Höhlen-
name wiederholt zu erwähnen ist, statt nur ein-
mal, wie es in einem einwandfreien Schema der
Fall sein müßte. Tatsächlich lassen sich auch
diese Höhlen nie in ihrer Gesamtheit derartig ein-
gliedern. Allein schon der Begriff „Spaltenhöhle"
ist ein für die Entstehung der Höhle sehr unge-
nauer. Hier ist z. B. die Frage aufzuwerfen, ob
wir in ihr (sofern es nicht nur eine einzige das
Gesamtsystem darstellende Spalte ist, z. B. „Rosen-
müllers- und Binghöhle") den durch Sicker-
wasser geschaffenen Höhleneingang in ihr zu
sehen haben (wie es die Schönstenhöhle vor-
täuscht), oder ob sie nicht vielleicht nur ein ver-
hältnismäßig junger, d. h. noch nicht erodierter,
korrodierter oder eingestürzter Ausläufer des Sy-
stems ist, der infolge der an dieser Stelle abstür-
zenden Felswand das Freie erreicht (Binghöhle),
ein Fall, der sich in geologischer Zeit bei den
tiefsten Teilen der Sophienhöhle ereignen wird.
Welch verschiedene Stadien uns durch die
hauptsächlichsten Höhlen der fränkischen Schweiz
repräsentiert werden, möchte ich an dieser Stelle
nach meinen Begehungsnotizen anführen.
Binghöhle: Reine Spaltenhöhle (saiger-
stehende Spalten) deutliche Reste eines unter-
irdischen Flusses (Flutmarken).
Rosenmüllershöhle: Sehr breite mit etwa
25 Grad einfallende Spaltenhöhle, die zum Teil
schon Deckensturz deutlich zeigt.
Oswaldhöhle: Typischer tunnelartiger
Oberrest eines Höhlenflusses mit Strudellöchern
am vorderen Eingang.
Wundershöhle: Eingang: Einsturzhalle;
Verbindung: zu durchkriechende Spalte; Haupt-
teil: zerklüftete und durch Deckenstürze zerstörte
Spaltensysteme.
Witzenhöhle: Bei ihr paßt der von Neischl
geprägte Ausdruck „Zerklüftungshöhle", in wel-
chem nur leider nicht die zahlreichen Decken-
stürze ausgedrückt sind.
Riesenburg: Mit ziemlich großen Winke!
einfallendes Bett eines Höhlenflusses, das an der
Austrittsstelle aus dem Gebirgsabhang eine Doline
und zwei Naturbrücken zeigt.
Schönsteinhöhle: Der typische Fall einer
Zerklüftungshöhle, welche bei weiterem Fort-
schreiten der zerstörenden Kräfte in ihrem jetzi-
gen Hauptteile zu einer reinen Einsturzhöhle um-
gebildet wird, während der an Gänge gebundene
Zerklüftungsvorgang sich nach der Teufe zu fort-
setzen kann.
Brunnsteinhöhle: Der vordere Teil ein
durch Einsturz hallenartig erweitertes und mit
einem kleinen dolinenartigen Fenster versehenes
Spaltensystem, dessen hinterer Teil noch deutlich
zwei Einzelspalten erkennen läßt, deren eine in
einen Absturz endet, während der andere in eine
mit vorzüglichem Wasser versehene ballonartige
Brunnenkammer mündet. Nebenbei bemerkt er-
scheint mir diese Höhle in ihrem jetzigen Erhal-
tungszustande wie keine andere geeignet gewesen
zu sein , dem vorgeschichtlichen Menschen als
Wohnung gedient zu haben.
Schwingbogen: Er ist der Überrest eines
ehemaligen unterirdischen Flußlaufes. Hierfür
spricht die gleichmäßige Glättung der Wände
und die Strudellöcher.
Quackenschloß: Ebenfalls der Überrest
eines ehemaligen unterirdischen Flußlaufes, genau
wie bei dem eben besprochenen Schwingbogen.
Zoolilhenhöhle: Durch Einsturz stark
veränderte ehemalig weit zerklüftete Spaltenhöhle
die Neischels Bezeichnung Zerklüftungshöhle
mit Recht trägt.
Heinrichsgrotte mit Kanzel: Zerstörte
Reste einer ehemaligen Doline, von welcher sich
anscheinend durch Flüsse ausgeglättete Spalten
in das Berginnere erstrecken, ähnlich wie bei der
nun anzuführenden:
Esperhöhle oder Klingloch: Typischer
Fall einer großen Doline, die dadurch entstanden
ist, daß die Decke einer Halle einstürzte, die
ihrerseits ihren Ursprung der Kreuzung mehrerer
Spaltensysteme verdankte.
Wasscrgrotle: Typische Zerklüftungshöhle,
N. F. XXI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
207
von welcher zwei Spalten in ein gemeinsames
Wasserbecken einmünden.
Moggasterhöhle: Mit einem Winkel von
etwa 30 Grad einfallende Spalte, die etwa in ihrer
Mitte nach entgegengesetzter Himmelsrichtung,
aber trotzdem weiter in die Teufe umbiegt. (Ich
möchte etwaige Besucher dieser Höhle ausdrück-
lich vor ihrer ungeheuerlichen Gefährlichkeit war-
nen, weil in ihr andauernd Deckenstürze zu be-
obachten sind).
Neideckhöhlen: Unbedeutende kleine Spal-
ten auf halber Höhe des von der Ruine Neideck
gekrönten Felsmassivs.
Klausstein— Sophienhöhle: Dieser Kom-
plex besteht aus zwei früher getrennten Höhlen-
gebieten, deren Veibindung erst später durch
Menschenhand geschaffen worden ist. Der vor-
dere Teil, die Klaussteinhöhle, ganz in einer
Horizontale verlaufend, ist meines Erachtens der
Überrest eines alten Höhlenflußsystems, während
die danebenliegende Sophienhöhle sich mehr in
vertikaler Richtung nach der Tiefe zu erstreckt.
Sie ist als ein Gewirre vieler sich kreuzender
Spalten aufzufassen, die an den Kreuzungsstellen
hallenartig eingebrochen sind. Unter dem System
der Klaussteinhöhle erstreckt sich das noch gänz-
lich unerforschte Gewirre der Verzweiflungshöhle,
welche möglicherweise ihrerseits nur eine Spalte
der Sophienhöhle ist. Ich behalte mir vor im
Laufe der nächsten Zeit diese Frage noch näher
zu bearbeiten.
Ludwigshöhle: Meiner Meinung nach han-
delt es sich bei dieser Höhle um die Überreste
eines unterirdischen Flußlaufes, wie solche in der
Umgebung von Rabenstein zahlreich vorhanden
sind.
Schneiderloch: Außer der von Neischl
als Zerklüftungshöhle bezeichneten haben wir hier
noch eine weitere tunnelartige Höhle zu berück-
sichtigen. Zahlreiche Strudellöcher, besonders an
der soeben erwähnten kleineren Höhle, weisen auf
den P'lußursprung hin.
Gaiskirche: Ähnlich der Heinrichsgrotte
haben wir hier die letzten Reste eines hallen-
artigen Raumes vor uns, dessen nach der Teufe
zu einfallenden ponorartige Sauglöcher ebenfalls
die Zugehörigkeit zu einem Höhlenflusse andeuten.
Die drei letzterwähnten Höhlen bilden in ihrer
Gesamtheit in Verbindung mit einer Menge anderer
im Ailsbachtale zu beobachtender Erscheinungen,
das nunmehr zerstörte und durch Einbruch in ein
offenes schluchtartiges Tal verwandelte System des
ehemaligen Ailsbachhöhlenflusses.
Zahn loch: Das durch seine zahlreichen
Knochenfunde bekannte Zahnloch ist als eine
horizontale Spalte aufzufassen.
Teufelshöhlen: Die große und die kleine
Teufelshöhle gehören beide zu dem Höhlenfluß-
system der Püttlach, welche ebenfalls in dem Ver-
laufe ihres heute schluchtähnlichen Tales zahl-
reiche Strudellöcher aufzuweisen hat. Bei der
großen Teufelshöhle sind meines Erachtens die
Flußerscheinungen wesentlich bedeutender und
überwiegender, als die einer reinen „Zerklüftungs-
höhle".
Maximiliansgrotte: Diese von Neischl
mit Recht als „Zerklüftungshöhle" bezeichnete
Grotte hat ihren überaus wilden Charakter nicht
nur dem Zusammenbruch einzelner Spaltensysteme
zu verdanken. Bei ihr haben wir vielmehr 3 — 4
ursprünglich ganz getrennte stockwerkartig über-
einanderliegende Systeme vor uns, die ihrerseits
dann wieder durch Deckenstürze vor allem aber
durch einen in seinen Wirkungen deutlich er-
kennbaren, mit elementarer Gewalt niederstürzen-
den Höhlenfluß verbunden wurden.
Zuletzt möchte ich noch erwähnen, daß von
den Einwohnern der Muggendorfer Gegend auch
noch eine kleine, die sog. Doktorsgrotte erwähnt
wird, die ich aber als deutlich erkennbare künst-
liche Schöpfung hier außer acht lassen möchte.
Ihre eigenartige Sinterbildungen werde ich an
anderer Stelle zu besprechen haben.
Aus obigen Ausführungen würde also der
Schluß zu ziehen sein, daß eine Systematisierung
der Höhlen unmöglich ist, und somit jeweils von
Fall zu Fall die einzelnen Faktoren zu analysieren
sind.
Einzeiberichte.
Neue Fuude aus der älteren Steinzeit.
In der „Umschau" veröffentlichte vor kurzem
Otto Hauser einen Aufsatz über die „Ent-
deckung von zwölf neuen Fundstätten der älteren
Steinzeit in Mitteldeutschland" (S. 604, Heft 41
vom 8. X. 21). In diesem Aufsatz berichtete
Häuser, daß er in dem Gebiet von Halle a. S.
bis zum Kyffhäuser und Unstruttale zwölf wich-
tige Fundstellen der Altsteinzeit entdeckt habe.
„Interesselosigkeit ist Schuld daran , wenn Eisen-
bahndämme, Chausseen und Straßen mit den
schönsten Feuersteinwerkzeugen belegt und wenn
seit mehr als 15 Jahren von den herrlichsten
Fundplätzen solche Stücke waggonweise abge-
fahren werden. Die Bahndämme von Halle bis
Kassel und alle Seitenwege bergen zerstreute
Schätze altsteinzeitlichen Materials, wie sie in
Frankreich, in der Dordogne nicht besser und
nicht wichtiger zu finden waren. Die Kiesgrube
„Feldbahn" bei Teutschental (Halle a.S.i ist m. E.
eine Paläolithsiedlung von allergrößter Bedeutung,
sie stellt sich würdig den mir entrissenen F'und-
plätzen Südwestfrankreichs an die Seite."
Über diese Entdeckung und die von Hauser
daraus gezogenen Schlußfolgerungen standen so-
2o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 15
fort in der gesamten deutschen Presse ausführliche
Referate, und kurze Zeit danach brachte Haus er
selbst in der Vossischen Zeitung noch einmal
einen Originalartikel (16. XI. 21), in dem er von
47 neuen Fundstellen in Thüringen sprach, die er
innerhalb Jahresfrist entdeckt haben wollte. Ein
ganz ungeahnter Reichtum an altpaläolithischen
Funden tat sich damit vor unseren Augen auf —
und hätte er vor der wissenschaftlichen Kritik
Stand gehalten, so würde ohne Zweifel Thüringen
durch die Hauserschen Entdeckungen zu der
paläolithfundreichsten Landschaft Deutschlands
geworden sein.
Jedoch die Sache kam anders. Auf Grund
der Zeitungsberichte erhielt der Geologe Berg-
rat Dr. Wiegers - Berlin von dem Vorstande
der Preußischen geologischen Landesanstalt den
Auftrag, nach Sangerhausen und Hettstedt zu
gehen und über die Hauserschen Funde zu be-
richten. Etwa zur selben Zeit hatte sich auch
Haus er persönlich an Wiegers gewandt, den
er von seinen französischen Arbeiten her kannte
und den Hauser in seinem Buche „Ins Paradies
des Urmenschen" (Hamburg-Berlin 1920) S. 80
als einen trefflichen Diluvialgeologen bezeichnet
hatte, und ihn um eine Untersuchung der Fund-
stellen hauptsächlich vom geologischen Standpunkt
aus gebeten. Wiege rs ist dann auch in Sanger-
hausen und Hettstedt gewesen, hat die Fund-
stätten einwandfrei untersucht, das an diesen
Fundstätten aufgesammelte Material eingehend
studiert und eingehende Proben davon zur näheren
Bearbeitung und Untersuchung durch Fachgenossen
nach Berlin mitgebracht, und über die Ergebnisse
dieser Untersuchungen in der Berliner Anthropo-
logischen Gesellschaft am 19. XI. 21 einen aus-
führlichen Bericht erstattet. Nach diesem Bericht,
von dem mir Wiegers freundlicherweise auch
noch sein Manuskript zur Einsichtnahme zur Ver-
fügung stellte, liegen die Verhältnisse folgender-
maßen :
In Sangerhausen bzw. Hettstedt . haben sich
seit längerem zwei Privatsammler für Prähistorie
lebhaft interessiert, der Tischlermeister G. A.
Spengler und der Kaufmann Erich F"rey-
gang. Beide wurden dann von Hauser auf
die Paläolithfunde aufmerksam gemacht. Darauf
haben sie systematisch, Z'um Teil mit Unter-
stützung von Haus er, gesucht, und ein größeres
P'undmaterial in ihren Sammlungen geborgen.
Die Funde des Herrn Spengler stammen aus
II Fundstellen, die des Herrn Freygang von
10 P'undstellen. Die Fundstellen des Herrn Frey-
gang waren zwar von i — 17 numeriert, ent-
hielten aber nur die ungeraden Zahlen und die
Ziffer 2 , der P'undort Teutschental war bei
beiden Sammlern einbegriffen. Die Angaben
Hausers sind also zunächst einmal in
der Zahl der Fundstellen bedeutend
einzuschränken, und zwar auf 19 (statt
47! Sic!), da eine P'undstcUe zwar diluviale
Knochen, aber keine Steinwerkzeuge enthält.
Von diesen 11 Fundstellen Spenglers
enthielten nur 2 wirklich einwandfreie
Artefakte. Es sind dieses die folgenden beiden
Stationen :
I. Der Taubenberg bei Sangerhausen.
Nordöstlich von Sangerhausen erhebt sich der
Taubenberg zu einer Höhe von 238 m. Auf seiner
flachen Kuppe hatte Spengler Feuersteine von
mattem, grauem Aussehen gesammelt, die Be-
arbeitung zeigen. Die besten Stücke sind Klingen,
die entweder in eine Spitze oder in einen Kratzer
endigen, sofern nicht die eine Schmalseite mit
dem Schlagkegel auf der Rückseite unbearbeitet
blieb. Die Retusche ist auf der einen Seite steil,
auf der anderen flach. Diese Klingen sind bis zu
7,3 cm lang und 2,5 cm breit. Daneben fanden
sich kurze Klingenkratzer, eine Gravettespitze und
einige andere weniger gut bearbeitete Stücke.
Soweit diese Artefakte typische Formen dar-
stellen, weisen sie alle auf die Periode des
Aurignacien hin. Die Einreihung der Funde
in diese Periode wird außerdem noch durch eine
andere Beobachtung von Wiegers sichergestellt.
Bekanntlich finden sich die Mehrzahl der Aurignac-
fundstellen im Lößboden. Auch auf dem Tauben-
berg hat Löß nicht gefehlt. Er ist nur durch die
Atmosphärilien abgetragen und nur noch Löß-
kindel liegen auf der Kuppe des Berges, wie
Wiegers festgestellt hat. Die Angaben, die
Hauser selbst über diese Fundstücke und ihre
Fundstätte veröffentlicht hat, erwiesen sich in mehr
als einem Punkte als irreführend. Hauser sagt
nämlich von der Fundstelle: „Die Kulturschichten
und ihre primitive Lagerung sind freilich erst
noch durch Tiefergrabungen festzustellen." Nach
den Feststellungen von VViegers ist die eigent-
liche Kulturschicht auf dem Taubenberge jedoch
längst verschwunden. Heute liegen die Fund-
stücke auf dem Liegenden des Lößes, auf dem
mittleren Bundsandstein. Wollte man in diesen
hineingraben, so würde man vielleicht Cheiro-
therium finden, aber niemals Menschenspuren.
Außerdem finden sich aber auch bei der Beschrei-
bung der Fundstücke, die Haus er gibt, Unklar-
heiten, die zu Irrtümern Veranlassung geben. So
bezeichnet Haus er entgegen dem allgemeinen
Sprachgebrauch dauernd die Kratzer (grattoir) als
Schaber, ebenso auch die racloir.
2. Kalktuff bei Bilzingsleben bei
Kindelbrück.
In der geologischen sowohl wie prähistorischen
Literatur ist der Kalktuff vom rechten Wipper-
ufer bei Bilzingsleben seit etwa ^-j Jahren als
diluviale Fundstelle bekannt. Es handelt sich also
eigentlich um keine neue Fundstelle, sondern
lediglich die Funde, die jetzt von hier vorgelegt
werden, sind neu. In dem Kalktuff von Bilzings-
leben hat jetzt nämlich Spengler neben Zähnen
bzw. Geweihstücken von El. antiquus, Rhin.
Merckii, Cervus Elaph. auch einige Feuersteine
gefunden, die nur auf künstliche Weise in den
Tuff geraten sein können. Eins von diesen P'und-
N. F. XXI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
209
stücken weist deutlich eine retuschierte Kante auf.
Im übrigen sind freilich irgendwelche Formen an
den wenigen Stücken nicht zu erkennen, und vom
archäologischen Standpunkt aus läßt sich dem-
nach über die Einreihung der Funde weiter nichts
aussagen, als daß sie sicher paläolithisch sind.
Erfreulicherweise kann in diesem Falle die geo-
logische Untersuchung der Fundstelle etwas weiter
helfen. Von dem fraglichen Kalktuff wird die
nahe gelegene Wipperterrasse überlagert. Diese
Terrasse gehört in ihren unteren Schichten in die
erste Zwischeneiszeit, in ihren oberen in die
zweite Eiszeit. Der Kalktuff dürfte dement-
sprechend in die zweite Zwischeneiszeit fallen,
und die Fundstelle als solche etwa gleichalt
mit Taub ach — Weimar — Ehr in gsdorf sein.
Auch bei der Beschreibung dieser Fundstelle ist
Hauser ein Irrtum unterlaufen. Er spricht näm-
lich in dem schon weiter oben erwähnten Auf-
satz in der Vossischen Zeitung davon, daß Spengler
in dem Kalktuff das Bruchstück eines mensch-
lichen Schädeldaches gefunden habe, und gibt
dabei der Hoffnung Ausdruck, daß dieser Fund
der deutschen Altsteinzeitforschung nach der an-
thropologischen Seite hin eine breitere Basis
geben werde. Demgegenüber weist Wiegers
darauf hin, daß dieser Schädel gar kein diluvialer
Schädel sei, denn der Schädel stammt gar nicht
aus dem Kalktuff, sondern aus der Ackerkrume,
und Spengler hat ihn auf dem Boden des Bruchs
aufgelesen. Ein weiterer Irrtum Hausers ist es,
wenn er bei dieser Gelegenheit von paläolithischen
Skelettfunden zu Oberkassel in Thüringen spricht-,
Oberkassel liegt nicht in Thüringen, sondern in
der Nähe von Bonn in der Rheinprovinz! —
Die übrigen 17, von Spengler und Frey-
gang unter der Mitwirkung von Hauser ent-
deckten und von Wiegers nunmehr einwandfrei
untersuchten Fundstellen liegen in der
Gegend zwischen Sangerhausen und
Hettstedt zerstreut. Drei dieser Fundstellen
befinden sich in der goldenen Aue. Eine von ihnen,
eine bei Bennungen gelegene Lehmgrube, enthielt
an Tierresten : Hyäna, Bison priscus oder primi-
genius, Rhinoceros tichorhinus, Riesenhirsch. Auf
einem der von hier stammenden Knochen befand
sich angeblich eine Zeichnung eines Mammuts.
Bei näherer Untersuchung dieses Stückes in Berlin
stellte sich jedoch heraus, daß die Zeichnung voll-
ständig ein Naturprodukt ist, indem die Umriß-
linien durch Wurzelfraß und die Behaarung
durch Nagespureii gebildet wurden. Zwei weitere
Fundstellen liegen im Wippertal. Die wichtigste
Fundstätte endlich liegt bei dem Orte
Teutschental. Nördlich des Bahnhofes T.
zieht sich nach Langenbogen zu eine Hügelkette
hin, die eine charakteristische Stillstandslage des
Eises darstellt. Dicht vor dieser Hügelkette liegt
eine Kiesgrube (zwischen Teutschental und Langen-
bogen), die zahlreiche angebliche Artefakte lieferte.
Berücksichtigt man die morphologische Gestalt
der Langenbogener Hügelkette, die nur als End-
moräne gedeutet werden kann, so unterliegt es
keinem Zweifel, daß die Langenbogener Sande
und Kiese in allernächster Nähe des Eises abge-
lagert sind. In dieser Nähe des Eises aber können
wir wohl keine Besiedlung annehmen 1 —
Die aus diesen letzten Fundstellen
stammenden Artefakte geben sämtlich ein
ganz einheitliches Bild. Sie stellen grobe Splitter
dar, an denen einzelne Kanten retuschiert sind.
In ihren Formen und in ihrem ganzen Habitus
decken sie sich im übrigen jedoch völlig mit dem
„Artefakt"material, das aus dem norddeutschen
Diluvium in den ersten Jahrzehnten nach der
letzten Jahrhundertwende so oft beschrieben wor-
den ist; mit den sog. Eolithen. Herr Dr. Wie-
gers hat die Stücke selbst eingehend geprüft,
und hat sie dann weiter Herrn Prof. Dr. Hubert
Schmidt und mir zur weiteren Prüfung über-
geben. Schmidts Urteil sowie auch mein
eigenes deckten sich dabei völlig mit dem von
Wiegers. Auch als Wiegers die Artefakte
in der Berliner Anthropologischen Gesellschaft
vorlegte, fand sich unter den zahlreich versam-
melten Prähistorikern kein einziger, der den Ge-
danken an ihre Artefaktnatur zu verteidigen ge-
wagt hätte.
An und für sich hätte bei der Betrachtung
dieser „Artefakte" ja auch schon das Moment
stutzig machen müssen, daß es sich teils um
Oberflächenfunde unbestimmten Alters, teils um
Funde aus fluviatilen oder fluvioglazialen oder
auch glazialen Ablagerungen der zweiten oder
dritten Eiszeit, vielleicht auch der Alluvialzeit
handelte — und daß all diese Funde, obwohl sie
also demnach ganz verschiedenen geologischen
Perioden angehörten, in ihrem Charakter ein voll-
kommen einheitliches Bild boten.
Nach dem gegenwärtigen Stande unserer For-
schung kann das Material aus den letzten
Fundstellen ganz unmöglich als Beweis-
material für die Anwesenheit des pa-
läolithischen Menschen verwertet werden.
Für den rein sachlich urteilenden Fachmann bleibt
es vielmehr völlig unverständlich, wie Hauser
angesichts dieses Materials von den „schönsten
Feuersteinwerkzeugen" und von den „herrlichsten
Fundplätzen" sprechen kann, wo er selbst nicht
in der Lage ist, auch nur bei einem einzigen
Stück die Zugehörigkeit zu einer der bekannten
Kulturperioden zu erkennen. Eine Erklärung für
dieses Verhalten Hausers kann uns vielmehr
lediglich das persönliche Moment bieten (vgl.
diese Zeitschrift XX, 1921, S. 503). In dieselbe
Richtung weist uns auch die weitere Diskussion
der F"unde. Noch in seinem Buche „Ins Paradies
des Urmenschen" hatte Hauser Wiegers als
einen trefflichen P'orscher auf dem Gebiete der
Diluvialprähistorie hingestellt und seine voraus-
setzungslose Gewissenhaftigkeit gelobt. Dann
hatte er ihn s. Zt. selber gebeten, sich der Funde
anzunehmen. Sobald W. jedoch die Funde anders
beurteilte, als H. selbst, griff ihn dieser unter völ-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 15
ligem Verzicht auf sachliche Widerlegung in einer
persönlichen Weise an, wie sie unter Gebildeten
nicht üblich ist, und wandte sich dann weiter in
derselben Weise gegen die, die selbständig nach
Prüfung der Funde zu derselben Auffassung wie
W. gekommen waren. Ob ein derartiges
Vorgehen geeignet ist, eine wissen-
schaftliche Diskussion zu fördern, über-
lasse ich gern dem Urteil der Leser.
Hugo Mötefindt.
Die Veränderung der Häniolymphe durch
Mutation bei einem Schmetterling.
Bei Colias philodice, einer amerikanischen
Spezies des Gelblings, gibt es zwei Varietäten,
Weibchen mit weißen und solche mit gelben
Flügeln. Im Verlaufe von Untersuchungen über
die Vererbung dieses Dimorphismus der Weibchen
erhielt Gerould') eine Mutation, die in ver-
schiedener Hinsicht besonderes Interesse verdient.
Die Raupen dieses Schmetterlings sind normaler-
weise grasgrün gefärbt und dadurch ganz vor-
trefflich an ihre Futterpflanze, den Klee, ange-
paßt. Im August 1920 traten nun in einem Stamm,
der in engster Inzucht fortgepflanzt worden war,
unter normal grasgrün gefärbten Raupen 44 blau-
grüne Individuen auf. Wie die Heidelbeeren am
Busch hoben sich die blaugrünen Tiere von ihrer
Unterlage, der Futterpflanze, ab. Die 44 Tiere
stammten von drei Weibchen, die außer diesen
noch eine größere Anzahl normaler Tiere hervor-
brachten. Eine Auszählung ergab, daß grasgrüne
und blaugrüne Tiere ungefähr im Verhältnis 3 : i
standen. Das mußte schon den Gedanken nahe
legen, daß es sich bei der blaugrünen Farbe der
Raupen um ein erbliches Merkmal handelt, welches
sich gegenüber der normalen grasgrünen Farbe
rezessiv verhält. Die Prüfung bestätigte diese
Vermutung. Und es ergab sich fernerhin, daß
bei den Mutanten nicht nur die Raupenfarbe ver-
ändert ist, sondern alle Entwicklungsstadien des
Insektes sind mehr oder weniger beeinflußt, so
die Farbe der Eier, die Farbe des Blutes und des
Integumentes der Raupe und Puppe und die Blut-
und Augenfarbe der Imago. Die primäre, durch
den Mutationsschritt hervorgerufene Veränderung
ist ein vom normalen abweichender Verlauf des
Verdauungsprozesses des Chlorophylls. Daraus
folgt eine veränderte Zusammensetzung der Hämo-
lymphe, und diese hat dann die verschiedenen
bereits angedeuteten besonderen Merkmale der
einzelnen Entwicklungsstadien des Insektes im
Gefolge.
Zunächst noch einiges über den Ursprung der
Mutation. Es mag auffällig erscheinen, daß gleich
44 Mutanten auftraten. U'enn Mutationen auch
nicht so selten sind, wie man noch vor wenigen
Jahren ohne die an Drosophila und Antirrhinum
') Gcrould, J. H., Bluc-grecn caterpillars : thc urigin
and ccolog)- of a mutation in hemolymph color in Colias
(l'Airynius) philodice. Journ. of expcr. Zool., Vol. 34, 1921.
gesammelte Erfahrung glaubte, so kann man es
doch auf Grund unserer heutigen Kenntnisse als
Regel bezeichnen, daß eine bestimmte mutative
Veränderung nicht gleichzeitig in einer ganzen
Reihe von Individuen vor sich geht, ja wir dürfen
sogar annehmen, daß meist nur das eine der
beiden homologen Gene von der Veränderung
betroffen wird. Es wird im allgemeinen immer
nur ein einziger Mutant beobachtet, von dem aus
dann eine Mutationsrasse gezüchtet wird. Im
vorliegenden Falle kann es unter Berücksichtigung
der Herkunft der Mutanten als sehr wahrschein-
lich gelten, daß auch hier die Mutation nicht
wiederholt erfolgt ist. Alle mutierten Individuen
gehen auf ein Tier zurück, und in diesem ist ver-
mutlich die mutative Veränderung des Keim-
plasmas vor sich gegangen. Daß in der Gene-
ration, in der die Mutanten zuerst auftraten, diese
sich zu den normal gefärbten Tieren wie i : 3
verhielten, weist darauf hin, daß alle Elterntiere
— drei Weibchen und drei Männchen — hetero-
zygot waren. Jedes von ihnen besaß, wie wir
einmal kurz sagen wollen, den Faktor grasgrün
und den Faktor blaugrün. Da grasgrün domi-
nant ist über blaugrün, waren alle sechs Eltern-
tiere grasgrün. Von den sechs Elterntieren waren
fünf Schwestern und Brüder, eines (ein Männchen)
ein Geschwisterkind. Die Mutanten und ihre nor-
malen Geschwister hatten also vier Großeftern
(zwei Paare), und diese wieder waren alle Ge-
schwister. Wahrscheinlich war eines der beiden
urgroßelterlichen Tiere das. erste heterozygot
grasgrüne Individuum, in ihm ist vermutlich
bereits der Mutationsschritt erfolgt. Da in-
dessen das mutierte Gen rezessiv ist gegenüber
seinem normalen Allelomorph, konnte das Mu-
tationsmerkmal zunächst nicht in Plrscheinung
treten, und nur auf die fortgesetzte extreme In-
zucht ist es zurückzuführen, daß nach drei Gene-
rationen infolge der Vereinigung je zweier Hetero-
zygoten eine größere Anzahl Mutanten erhalten
wurde. Die Mutanten unter sich gepaart züchten
rein, d. h. liefern nur blaugrüne Nachkommen.
Aus der Paarung grasgrüner Heterozygoten erhält
man wieder grasgrüne und blaugrüne Nachkommen
im Verhältnis 3:1. Ein Rezessivenüberschuß, den
Gerould beobachtete, ist vielleicht darauf zu-
rückzuführen, daß die Mutanten lebenskräftiger
und widerstandsfähiger gegen Infektionen sind als
die Ursprungsform. Im Nachteil sind die Mu-
tanten allerdings wieder insofern, als sie träger
und weniger kopulationsluslig sind als die Ur-
sprungsform. In der freien Natur — im Experi-
ment spielt dieser Faktor keine Rolle — sind die
blaugrüncn Raupen den grasgrünen gegenüber
aber vor allem deshalb stark unterlegen, weil sie
weit weniger an ihr Milieu angepaßt sind als
diese. Sehr schön illustriert dies ein Freiland-
versuch. Eine größere Anzahl Raupen, von denen
ungefähr ',3 — Vi blaugrün waren, wurde im Freien
ausgesetzt^ Nach 12 Tagen waren fast alle blau-
grünen Raupen von den Spatzen gefressen, nur
N. F. XXI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
zwei kleine kümmerliche Individuen konnten noch
gefunden werden, während die grasgrünen Raupen
großenteils ihren Feinden entgangen waren.
Es wurde schon hervorgehoben, daß bei den
Mutanten alle Entwicklungsstadien irgendwie ver-
ändert sind. Die Eier der Mutantenweibchen
sind rein weiß, alabasterfarben, die der Ursprungs-
form gelblichweiß, cremefarben. Es fehlt den
Eiern der Mutanten ein gelbes Pigment, das nor-
malerweise aus dem Blute der Mutter übernommen
wird. Die Eier der grasgrünen Heterozygoten unter-
scheiden sich nicht von denen der Homozyoten,
erstere bleiben cremefarben, auch wenn ^ was
ja in 50 "/o der Fälle zu erwarten ist — nur der
Faktor für blaugrün bei der Reifungsteilung im
Ei verbleibt und das Ei durch ein Spermium mit
dem Faktor für blaugrün befruchtet wird. Erst
im Larvenstadium macht sich der Einfluß der
beiden Mutationsgene geltend, wenn das Ei von
einer heterozygoten Mutter stammt. Kurz vor
der zweiten Häutung, wenn die alte Haut durch
das Wachsen der Raupe gespannt wird, beginnt
die blaugrüne Farbe durchzuschimmern, und wenn
die alte Haut abgeworfen ist, erscheint die Raupe
schön leuchtend blaugrün. Die Färbung variiert
nur sehr wenig, intermediäre Färbung zwischen
blau- und grasgrün kommt nicht vor. Ein wei-
teres Charakteristikum der Mutanten-Raupen ist
das Fehlen einer rosa gefärbten Linie, die bei
der Ursprungsform regelmäßig vorhanden ist und
in einem weißen, in der Höhe der Stigmen ver-
laufenden Seitenbande hinzieht. Die Puppe der
Mutanten ist etwas schwächer blau gefärbt als
die Raupe, die abgeworfene Puppenhülle ist weiß
statt gelb. Auch das hat wieder seine Ursache
im F'ehlen des gelben Pigmentes in der Hämo-
lymphe der Mutanten. Wie bei Raupe und Puppe
ist auch bei der Imago die Hämolymphe der
Mutanten blaugrün statt grasgrün, und die gleiche
Veränderung zeigt die Augenfarbe. Hingegen ist
die Flügelfärbung bei den Mutanten unverändert.
Es war eingangs von dem Dimorphismus der
Weibchen — die einen haben weiße, die anderen
gelbe Flügel — die Rede; diese Merkmale be-
ruhen auf Faktoren, die von denen für grasgrün-
blaugrün gänzlich unabhängig sind.
Alle Besonderheiten der Mutanten gehen, wie
schon aus dem Gesagten entnommen werden
kann, auf eine Veränderung der Farbe der Hämo-
lymphe zurück. Bei den normalen Individuen
enthält das Blut zwei Pigmente, die sich ohne
starke Umwandlung von dem mit der Nahrung
aufgenommenen Chlorophyll herleiten, ein gelbes
Pigment, Xanthophyll, und ein als Chlorophyll a
bezeichnetes blaugrünes Pigment. Das mutierte
Gen (bzw. ein von ihm ausgehendes Enzym) wirkt
auf das Xanthophyll katalysatorisch ein, muß aber,
um in Funktion treten zu können, homozygot,
also doppelt vorhanden sein (wobei wahrschein-
lich nicht die Quantität das Wesentliche ist, son-
dern das Fehlen einer Gegenwirkung durch das
normale Allelomorph). Nach Gerould müssen
wir uns die Enzymwirkung der beiden mutierten
Gene so vorstellen, daß primär durch die Kerne
des Darmepithels der Verdauungsprozeß des
Chlorophylls beeinflußt wird. Das hat dann
sekundär die Veränderung in der Zusammen-
setzung der Hämolymphe zur Folge , und die
veränderte Hämolymphe beeinflußt wieder direkt
oder indirekt gewisse Merkmale der verschiedenen
Entwicklungsstadien.
Ein hübsches Beispiel dafür, wie durch eine
Mutation wie die vorstehend beschriebene sogar
ein anderer Organismus in seinem Phänotypus
verändert werden kann, bietet eine in Colias phi-
lodice schmarotzende Schlupfwespe, Apanteles
flaviconchae. Normalerweise spinnen die ausge-
wachsenen Larven des Parasiten goldgelbe Kokons.
Kommen die Tiere aber in einer blaugrünen
Raupe zur Entwicklung, so spinnen sie — weiße
Kokons. Das gelbe Pigment im Sekret der Spinn-
drüsen geht auch wieder zurück auf das Xantho-
phyll in der Hämolymphe des Wirtes der Schlupf-
wespen, und wird das Xanthophyll abgebaut, so
fehlt auch das gelbe Pigment der Spinndrüsen.
Nachtsheim.
Bücherbesprechimgen.
Einführungsliteratur in den wissenschaftlichen
Okkultismus. R. Baerwald, Okkultismus
und Spiritismus. (Aus Natur und Geisteswelt
Nr. 560.) Leipzig 1920, Teubner. — R. Tischner,
Einführung in den Okkultismus und Spiritismus.
München und Wiesbaden 1921, J.F.Bergmann.
— T. K. Oesterreich, Der Okkultismus im
modernen Weltbild. Dresden 192 1, Sibyllen-
verlag. — R. Lambert, Geheimnisvolle Tat-
sachen. Stuttgart 1921, Süddeutsches Verlags-
haus G. m. b. H.
Nicht weniger als vier binnen ganz kurzer Zeit
mir zur Besprechung zugegangene Einführungs-
schriften in den Okkultismus — ein Zeichen der
Zeit! Es scheint doch nun endgültig mit dem
Ignorieren des Gebiets in Deutschland vorbei zu
sein, das uns leider in der ganzen so wichtigen
Materie arg ins Hintertreffen gebracht hat.
Jedes der vier Bücher ist in seiner Art be-
achtenswert. Vorsichtiger und nüchterner zu dem
gesamten Problemkomplex stellen sich die Ar-
beiten Baerwalds und Tischners. Besonders
der erstere arbeitet für mein Gefühl etwas allzu
reichlich mit der Möglichkeit taschenspielerischen
und verwandten Betrugs. Gewiß ist viel betrogen
worden und wird viel betrogen in diesen Dingen :
jeder Unte rsucher eines konkreten Falles wird
sich diesen betrüblichen Umstand bei Anstellung
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 15
und Bewertung seiner Versuche stets gegenwärtig
zu halten haben. Etwas anderes ist es jedoch
bei einer Einführung, welche es naturge-
mäß in erster Linie mit dem gesicherten oder
doch bis auf weiteres als gesichert anzunehmenden
tatsächlichen Bestände und seiner theoretischen
Bedeutung und Verwertung zu tun hat. Da
wirkt es denn nicht eben vorteilhaft, im Anschluß
an sorgfältige Untersuchungen wiederholt in all-
gemeiner Weise von Taschenspielerkunststücken
reden zu hören. Es wird ein Gefühl von Un-
sicherheit erzeugt, das sich schließlich auf das
ganze Gebiet zu erstrecken droht, was doch wohl
kaum die Absicht des Autors gewesen sein dürfte.
Denn er erkennt von dem okkulten Problemkom-
plex zum mindesten die Telepathie anscheinend
rückhaltlos an, und das ist immerhin ein Fort-
schritt, besonders da das Büchlein aus dem fast
durchaus ablehnenden Berliner Kreise stammt,
dem auch Moll und Dessoir angehören. Der
Gesamteindruck des im übrigen ohne Ausfälle
geschriebenen kleinen Buches ist der einer aus-
gesprochenen, eher negativ gestimmten Zurück-
haltung, die gerade nur soviel zuzugeben bestrebt
ist, als sie unbedingt muß. Die Phänomene
der Bewußtseinsspaltung und die Telepathie sind
nach Baerwald genügend, sämtliche Leistungen
der Medien, soweit sie überhaupt als sichergestellt
gelten können, zu erklären.
Wesentlich positiver in seiner Stellung und
auch inhaltreicher, vor allem die jüngst er-
schienenen deutschen Arbeiten des Gebiets nicht
nur berücksichtigend, sondern sogar bevorzugend,
ist das Buch Tischners. Leider konnte er
mein eignes Buch „Telepathie und Hellsehen",
das auch in der N. W. (durch Prof. v. Buttel-
Reepen) gewürdigt wurde, nur noch ziemlich
flüchtig bei schon abgeschlossenem Manuskript
berücksichtigen, was aber in einer Neuauflage
leicht ausgeglichen werden kann. Tischners
wesentlich positive Stellung erklärt sich zur Ge-
nüge daraus, daß er, zum mindesten für die
psychisch-okkulten Erscheinungen, sich auf eigene
Erfahrungen und Untersuchungen stützen kann.
Aber auch den paraphysischen Untersuchungen
Schrenck-Notzings und anderer Forscher
widmet er ausführlichere _ und in ihrem Ergebnis,
im Gegensatze zu Baerwald, wesentlich positiv
lautende Erörterungen. Im allgemeinen darf man
von Tischners Buch sagen, daß es als Lehr-
buch durch übersichtliche Einteilung, gute Aus-
wahl und Beschränkung auf das hauptsächlich
Wichtige und Besterwiesene, unvoreingenommene
Haltung dem Gebiet gegenüber, und knappe sach-
liche Behandlung, die es vermeidet, sich ins
Spekulative oder Phantastische zu verlieren, als
eine sehr brauchbare Einführung in das Gebiet
des wissenschaftlichen Okkultismus unbedenklich
empfohlen werden kann. Natürlich wird man bei
der Ausdehnung und dem sehr verschiedenen
Forschungszustand des (jcbiets im einzelnen viel-
f.ich abweichende .Ansichten vertreten können,
wie gerade hier selbstverständlich und sogar
nützlich ist, da alles Für und Wider schließlich
nur zur Klärung beitragen kann. Dies gilt ins-
besondere auch für so umstrittene Dinge wie
Spukphänomene oder den Spiritismus, denen
Tischner je ein Kapitel gewidmet hat. Ein
Eingehen auf manchen interessanten Streitpunkt
des letzteren Gegenstandes würde uns hier zu
weit führen. Während Baerwald als erstes
Schlußergebnis seiner Arbeit den Zusammenbruch
des Spiritismus vor unseren Augen verkündigt,
drückt sich Tischner bei aller Zurückhaltung
doch ganz wesentlich vorsichtiger aus und läßt
den mühevollen jahrzehntelangen Untersuchungen
der englischen und amerikanischen Forscher, die
fast sämtlich allmählich zur spiritistischen Auf-
fassung sich bekehrt haben (die Tatsache gibt als
solche immerhin zu denken, wenn sie natürlich
auch keinen Beweis darstellt), größere Gerechtig-
keit widerfahren. Er hält die Partie für bisher
unentschieden und glaubt nicht, daß sie auf Er-
fahrungsgrundlage zu entscheiden ist, da man
wenigstens bisher die Erklärungen aus Telepathie
und Hellsehen nicht hat ausschalten können.
Auf ähnlichem Standpunkt, den Spiritismus
betreffend, steht das mittlerweile schon in zweiter
Auflage erschienene kleine Buch des Tübinger
Universitätsprofessors T. K. Oesterreich: „Der
Okkultismus im modernen Weltbild". Oester-
reich erklärt sogar einen Beweis der spiritistischen
Hypothese für grundsätzlich unmöglich, da
man stets mit Telepathie und Hellsehen aus-
kommen könne. Dabei muß er allerdings, um
den schon berichteten Tatsachen gerecht zu
werden, der Telepathie eine derartige (räumliche
wie zeitliche) Ausdehnung und Verknüpfung zu-
weisen, daß sich mancher Leser geradezu phan-
tastisch dadurch berührt finden wird. Jedenfalls,
das muß betont werden, gehen die diesbezüg-
lichen Konstruktionen des Autors weit über alles
das hinaus, was als Telepathie bisher wirklich be-
kannt geworden und festgestellt ist. Eine ähn-
liche kühne Phantasie macht sich noch an anderen
Stellen bemerkbar, so wenn die Materialisationen
(deren Nachweis Oesterreich für unanfechtbar
betrachtet) als ein, wenngleich entfernter, Abglanz
der göttlichen Schöpferkraft bezeichnet werden.
Hierüber wäre mancherlei zu sagen : das bloß
Frappante eines Gedankens genügt jedenfalls
nicht, ihn wissenschaftlich zu legitimieren. Im
übrigen wird Oesterreichs Arbeit durch der-
artige Ausblicke anregend und interessant zu lesen.
Man weiß auch nie, was alles aus einem geäußerten
Einfalle entspringen kann.
Die Anlage von Oeste rr eich s Buch ist von
der der beiden eben besprochenen verschieden:
er gruppiert seine Ausführungen im wesentlichen
um die Betrachtung einzelner berühmter Fälle
medialer Betätigung: die u. a. von Flournoy
untersuchte Helene Smith, die Amerikanerin
Mrs. Piper (wohl der bestuntersuchte und viel-
leicht folgenreichste Fall aller bisher vorgekom-
N. R XXI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'ii3
menen), die ItaUenerin Eusapia Fall adino und
schließlich das bekannte Materialisationsmedium
Eva C. Auf Einzelheiten einzugehen ist hier
unmöglich. Diese zusammenfassenden kurzen, das
Wesentliche betonenden Darstellungen O e s t e r -
reichs sind um so dankenswerter, als das Ori-
ginalmaterial der ausländischen Fälle jetzt kaum
zugänglich ist. Auch ist, wie jeder weiß, der sie
kennt, das Studium dieser z. T. äußerst weit-
schichtigen Dokumentsammlungen ebenso zeit-
raubend wie ermüdend und darf nur denen zuge-
mutet werden, die eigenes fachliches Urteil in
diesen Dingen zu haben und zu vertreten be-
rufen sind. Prof. Oesterreich hat kürzlich
einem seiner Kritiker ziemlich drastisch klarge-
macht, daß ein solches eigenes Urteil heute be-
reits recht mühevoll erarbeitet werden muß.
Somit ist das Oesterreich sehe Buch gerade
in seiner Sonderart zu begrüßen. Sein letztes
Kapitel beschäftigt sich in stark ablehnender Art
und Weise mit der Theosophie und Rudolt
Steiner. Meiner Auffassung nach handelt es
sich dort um etwas ganz anderes als die experi-
mentelle Medienforschung, und auch die Ergeb-
nisse berühren sich einstweilen kaum. Es wird
zu den Aufgaben zukünftiger Forschung gehören,
die Beziehungen und Verbindungen aufzudecken,
die hier zweifellos verborgen sind. Daß Steiner
geisteskrank ist, wie Oesterreich vermutet,
halte ich für ganz unwahrscheinlich.
Das Buch des Stuttgarter Studienrates R u -
dolfLambert endlich möchte ich der Beachtung
und Lektüre zunächst deshalb empfehlen, weil es
alle bestuntersuchten und bislang wichtigsten Er-
scheinungen des okkulten Gebietes auf Grund
einer umfassenden sorgfältigen Kenntnis der aus-
ländischen wie der deutschen älteren, neueren
und neuesten Literatur zusammenstellt. So bietet
er uns eine Sammlung, wie sie in dieser Voll-
ständigkeit, dabei doch in handlichem Umfange
(220 Seiten) meines Wissens in Deutschland noch
nicht vorhanden war. Für eine zusammenhängende
Vergegenwärtigung des Wichtigsten an Fällen und
Untersuchungen wüßte ich, gerade weil das Buch
sich nicht ins Uferlose verliert, nichts Besseres.
Auch glaube ich, daß ein jeder, der ohne Vor-
eingenommenheit diese geordnete Fülle auf sich
einwirken läßt und den einzelnen Abschnitten
nachdenkt, zu einer grundsätzlichen Anerkennung
des Gebiets kommen wird, mag er auch über
vieles Einzelne sein Urteil zurückhalten. Das gilt
z. B. für die spiritistische Hypothese, als deren
Anhänger sich Lambert bekennt. (Bekanntlich
befindet er sich hiermit, soweit ausländische Ge-
lehrte in Frage kommen, nicht in schlechter Ge-
sellschaft.) Lambert neigt auch sonst zu einer
weitgehenden Fruchtbarmachung der okkulten
Tatsachen in philosophischer und anderer Hin-
sicht und verliert hierbei wohl auch gelegentlich
die Fühlung mit rein wissenschaftlicher Denk-
weise, z. B. wenn er die Materie schlankweg als
Produkt des Geistes oder des göttlichen Denkens
kennzeichnet. Doch wird durch solche Einzel-
heiten der allgemeine Wert der sorgfältigen Tat-
sachensammlung,_ sowie auch ihrer Erörterung
nicht berührt. Über den letzteren Punkt ist noch
zu sagen, daß Lambert als überzeugter Okkultist
und sogar Spiritist, sich naturgemäß gerade der
Fälle mit Vorliebe annimmt, die von skeptischer
Seite entweder nur flüchtig gestreift oder —
meistens — einfach ignoriert bzw. mit allge-
meinen abfälligen Redensarten beiseite gebracht
wurden. Den Naturwissenscliaftler interessieren
in dieser Hinsicht besonders die alten Zolin er-
sehen Untersuchungen mit dem Amerikaner S lade,
denen Lambert etwa 20 Seiten widmet. Seine
Behauptung, daß Zöllners stärkste Versuche
systematisch (von Lehmann usw., neuerdings
wieder in Baerwalds oben besprochenem Buche)
ignoriert worden sein, scheint nach dem von ihm
erörterten Material tatsächlich zutreffend. Jeden-
falls muß man beipflichten, daß diesem sehr be-
denklichen Zustand durch einen Neudruck der
gesamten Untersuchungen Zöllners mit Slade
ein Ende gemacht werden sollte. Die von Lam-
bert gegeißelte Kampfesart — Hervorhebung ge-
legentlicher Schwächen oder Betrügereien, Unter-
drückung der besten, entscheidendsten, auch best-
kontrollierten Versuche — ist ja leider gerade
auf diesem Gebiete auch sonst nur allzu beliebt.
Lambert bietet auch für alle einzelnen von ihm
besprochenen Fälle und Erscheinungsgruppen ein
ausführliches, sehr dankenswertes Verzeichnis der
einschlägigen Literatur (auch in umfassendem
Maße ausländische). So sei das Buch zur Orien-
tierung zunächst über die Tatbestände bestens
empfohlen. W. v. Wasielewski.
Walte, Prof. Dr. Wilhelm, Einstein, Michel-
son, Newton. Die Relativitätstheorie. Wahr-
heit und Irrtum. 47 Seiten. Hamburg 1921,
W. Gente, wissensch. Verlag.
Der Verf. hat den schwachen Punkt der E i n -
st einschen Argumentation, die allzu kühne Um-
deutang der optischen Versuche, besonders des-
jenigen von Mich eis on, richtig erkannt. Ein
„Gesetz von der Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit", wieLorentz und Einstein es entwickelt
haben, gibt es offenbar gar nicht; die optischen
Beobachtungen zwingen gar nicht zu so wider-
sinnigen Schlüssen, wie sie Einstein für „unab-
weisbar" erklärt hat. Weiterhin stellt Walte seine
Anschauungen über Elektronen dem Äther gegen-
über und glaubt den letzteren ablehnen zu müssen.
Er meint die Elektronen müßten beim Zusammen-
stoß mit dem Äther ihre Energie allmählich an
diesen abgeben. Der Gedankengang der Äther-
wirbeltheorie, nach der die Elektronen eben Teile
des Äthers sind, Elektronen und Äther sich also
einheitlich bewegen, ist ihm noch völlig fremd.
Doch ist das Büchlein ein erfreuliches Zeichen
dafür, daß die Einst einschen Ideen ihre Sug-
gestivkraft allmählich verlieren. Fricke.
214
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 15
Kukuk, P., Unsere Kohlen. 2. Auflage. Aus
„Natur und Geisteswelt", Bd. 396, 1920.
Der nun in zweiter Auflage erschienene Band
„Unsere Kohlen" der Sammlung „Aus Natur und
Geisteswelt" von P. Kukuk zeigt in allen seinen
Teilen wiederum die voUkommeneStoffbeherrschung
und die sorgsame Bearbeitung, die schon die erste
Auflage auszeichnete und sie wohl zum besten
kurzgefaßter Werke über die Kohlen der Erde
machte. Den schnellen Fortschritten, die Wissen-
schaft und Technik der Kohlen zeigen, wurde in
einer großen Reihe von Verbesserungen und Nach-
trägen Rechnung getragen. Vor allem zeigen
das die Abschnitte über Entstehung und technische
Verwertung der Kohle und über Kohleersatz. Die
Kohlenvorräte der einzelnen Kohlengebiete wurden
nach den Kenntnissen bis 1914 ergänzt; bis zu
diesem Jahre sind auch alle statistischen Angaben
weitergeführt.
Es ist wirklich erstaunlich, welche Fülle von
IMaterial in diesem kurzen Bande klar und zuver-
lässig verarbeitet wurde. Krenkel.
Geley, Dr. Gustave, Materialisations-Ex-
perimente mit IVI. Franek Kluski. In
deutscher Übersetzung herausgegeben und mit
einem Anhang versehen „Die neuere Okkultis-
musforschung im Lichte der Gegner" von
Dr. Freiherrn v. Schrenck-Notzing. Mit
15 Tafeln. 115 S. Leipzig 1922, Osw. Mutze.
t)ie Lektüre dieses Bändchens wird jeden leb-
haft interessieren, der an den Materialisations-
Erscheinungen positiven oder negativen Anteil
nimmt. Ob auch überzeugen, ist eine andere
Frage. Selbstredend sind positive Sitzungen unter
anscheinend sehr weitgehenden Vorsichtsmaß-
nahmen, unter Leitung in diesen Dingen erfahrener,
bedeutender Gelehrter (Richet, Flammarion)
an sich von Gewicht. Insbesondere, wenn die
Ergebnisse in auffälliger Weise sich mit denen
früherer (Aksakow) und neuerer Untersucher
(Schrenck-Notzing, Mad. Bisson, Craw-
ford usw.) decken. Von einer solchen Häufung
erwarte ich geradezu die endliche Entscheidung:
sollte wirklich jede eingehende Untersuchung zu
positiven Ergebnissen kommen, wird die Gegner-
schaft allmählich von selber aufhören. Andrer-
seits handelt es sich um so absonderliche, in ihren
Konsequenzen auf jeden F"all derart weitreichende
Erscheinungsgruppen, daß man, beim besten Willen
zur Unvoreingenommenheit, instinktiv nach etwa
übersehenen Betrugsmöglichkeiten, Lücken in den
getroffenen Maßnahmen usw. sucht. Es ist sicher,
daß die bloße Lektüre nie die überzeugende
Kraft der eigenen Erfahrung haben kann. Erstlich
an und für sich nicht, hier wie in allen Dingen.
Zweitens weil viele Einzelpunkte, die dem Lesen-
den Anlaß zu Zweifeln und Unklarheit geben,
dem Teilnehmer in befriedigender Weise von
vornherein klar sind. Es handelt sich oft um
Imponderabilien, so zart, daß sie in Worte gefaßt
schon etwas anderes werden, und die in ihrer Ge-
samtheit doch von großem Gewicht sind. Ge-
wiß soll niemand der Teilnehmer gekränkt oder
beargwöhnt werden, aber warum bestanden sie
z. B. nicht selbst auf Untersuchung ihrer Kleidung
(oder Umkleiden usw.) vor jeder Sitzung? Wenn
gegenüber den Experimentatoren selbst diese Be-
anstandung innerlich sinnlos erscheint, so ist es doch
nicht dasselbe mit den anderen Zirkelteilnehmern 1
Die Forderung ist doch, daß für jeden Leser objektiv
feststeht, daß keine Gußformen usw. einge-
schmuggelt werden konnten 1 Wer garantiert uns,
den Lesern, hierfür bei einer wechselnd zusam-
mengesetzten, auch wohl zahlenmäßig wechselnden
(protokollarische Angaben fehlen leider!) Ver-
sammlung von Sitzungsteilnehmern ? Daß gar das
Medium selbst nicht untersucht wurde (S. 21)
halte ich für einen schweren methodologischen
Fehler. Ganz einerlei, welche weiteren Kontrollen
dies für die Experimentatoren scheinbar oder
vielleicht gar wirklich überflüssig machten. Die
Anordnungen müssen einander unterstützen und
nicht gegeneinander arbeiten! Ferner muß es
zweifelsohne irgendwie und irgendwann einmal
glücken, das Medium, wenn schon fast völlige
Dunkelheit in den entscheidenden Phasen herrschen
muß, in objektiv unanfechtbarer Weise zu kon-
trollieren und außerdem die Hervorbringungen in
einer keinen Zweifel mehr offen lassenden Ent-
fernung stattfinden zu lassen. Ein bloßes Fest-
halten der Hände rechts und links, ein Abstand
des Gefäßes mit flüssigem Paraffin (für die Ab-
güsse der materialisierten Formen) von nur
60 cm (S. 37) konnten ersichtlich wohl den
Sitzungsteilnehmern genügen, werden aber ;bei
bloßen Lesern kaum jeden Zweifel aufheben. Und
so wäre noch mehr zu erwähnen.
Es würde eine Tat bedeuten, wenn, sei es mit
Kluski, sei es mit einem anderen Medium,
positive Ergebnisse in Sitzungen erzielt werden
könnten, bei denen alle Kontrollen in objektiv
sicherer Weise, nach vorheriger Erprobung (auch
Gewöhnung des Mediums!) durchgeführt worden
sind. Ein wirklicher objektiver, nicht nur für
die Teilnehmer überzeugender Erfolg erscheint
durchaus möglich, wenngleich das Ganze ziemlich
umständlich ausfallen wird — aber es lohnt wahr-
haftig jede Unbequemlichkeit, der sich die Be-
teiligten zu unterziehen haben würden ! Vielleicht
tragen diese Zeilen dazu bei, mit Herrn Kluski
derart einmal ein experimentum crucis vorzube-
reiten und derart durchzuführen, daß ein rein
objektives Ergebnis erzielt wird, das bei abermals
positivem Erfolg von weitesttragender Bedeutung
sein müßte!
Nach alledem bleibt noch zu sagen, daß die
geschilderten Ergebnisse der Versuche, denen eine
kurze Mitteilung über Vorleben und Eigentümlich-
keiten des Mediums vorausgeht — in allen Punkten
die früheren Ergebnisse bestätigen und zum Teil
erweitern. Absonderung einer unbekannten,
leuchtenden, lichtempfindlichen, rauchartigen,
N. F. XXI. Nr 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Ü5
plastischer Formannahme und temporärer Ver-
steifung fähigen Halbmaterie, die unter dem psy-
chischen Einfluß des JVlediums wie der Versuchs-
leiter zu stehen scheint, ist das Grundphänomen.
Produziert wurden meist Hände (auch P'üße und
Gesichter) die sichtbar, tastbar — und in Paraffin
abformbar waren. Es fehlt weder an Gutachten
über diese Formen noch an Kontrollmaßregeln
gegen Täuschung (Färbung und chemische Kenn-
zeichnung des verwendeten Paraffins), so daß die
Arbeit — wir möchten darüber nicht mißver-
standen werden — zweifelsohne einen wertvollen,
ins Gewicht fallenden Beitrag zu den Problemen
der Materialisationen darstellt. Möge es gelingen,
auf dieser Grundlage eine klassisch- einwandfreie
Versuchsreihe aufzubauen !
Im Anhang, der direkt nichts mit dem Gegen-
stande der Schrift zu tun hat, setzt sich Schrenck-
Notzing in geschickter und temperamentvoller
Weise mit neueren Gegnern der physikalisch-
mediumistischen Erscheinungen auseinander, so
mit Sommer, Kolb, Dessoir, Moll u. a. m.
Ein Eingehen auf die Streitfragen selbst ist an
dieser Stelle unmöglich. v. Wasielewski.
Wiesners Rohstoffe des Pflanzenreiches. 3. Aufl.
fortgesetzt von J. Möller. 3. Band mit 332
Textfiguren. Leipzig 1921, W. Engelmann.
108 M.
Mit Befriedigung werden alle, die an pflanz-
lichen Rohstoffen interessiert sind, die Kunde ver-
nehmen, daß es der aufopferungsvollen Arbeit
J. Möllers gelungen ist, die 3. Auflage des
Lebenswerkes Wiesners, über deren Erscheinen
er selber ebenso wie sein Mitarbeiter Hanau sek
hinstarb, zu vollenden.
Der rund lOOO Seiten starke Schlußband be-
handelt zunächst den wichtigen Abschnitt der
Pflanzenfasern, der schon von Wiesner und
Zeisel geschrieben war, aber für die Veröffent-
lichung durch Weese ergänzt wurde. Gerade
auf diesem Gebiete hat ja die Forschung der
letzten Jahre, angetrieben durch die Erfordernisse
der Zeit, mancherlei neue Erfahrungen gebracht.
Hier finden auch die zur Herstellung von Papier
benutzbaren Fasern Berücksichtigung. Bemerkens-
wert ist auch eine systematische Übersicht über
sämtliche für Fasergewinnung überhaupt in Be-
tracht kommende Pflanzen. Dann schließt sich
J. Möller mit einem Abschnitt über unterirdische
Pflanzenteile, also Wurzeln, Rhizome und Knollen,
an, dem F. Krasser ein kurzes Kapitel über die
Zuckerrübe hinzugefügt hat. Dann kommen die
Blüten und Blütenteile, die Linsbauer bear-
beitete, die Samen in der Bearbeitung von Ha-
naus ek mit Ergänzungen von Weese und die
Früchte, welche ebenfalls von den letzt genannten
Autoren behandelt worden sind. Zum Schluß hat
Lafar noch ein kleines Kapitel über die Hefe
beigesteuert. Es ist unmöglich, eine Vorstellung
von dem Inhalt der oben genannten Kapitel zu
geben. Erwähnt sei nur, daß überall die Herkunft
des Rohstoffes erörtert, d. h. der genaue botanische
Name und die Heimat der Stammpflanzen ange-
geben wird, daß ferner die Handelsbezeichnungen
der Stoffe, ihre besonderen technischen Eigen-
schaften, ihre Verwendung und Aufbereitung, ihre
Bedeutung für den Handel geschildert werden.
Das Schwergewicht ruht dann auf der genauen
Beschreibung der Rohstoffe, wie sie mit Hilfe
botanischer Untersuchungsmethoden, namentlich
mit Hilfe des Mikroskops erzielbar ist. Dabei
wirken die zahlreichen Abbildungen erfolgreich
mit. Diese auf wissenschaftlicher Grundlage auf-
gebaute Rohstofflehre ist ein schlechthin unent-
behrliches Hilfsmittel für den Botaniker sowohl
wie für den Techniker, in vielen Teilen auch für
den Produzenten, den Fabrikanten und Händler.
Miehe.
Tischner, Rudolf, Monismus und Okkul-
tismus. 103 S. gr. 8". Leipzig 192 1, Verlag
von Osw. Mutze.
Der Titel der Schrift erscheint insofern nicht
ganz glücklich , als volle zwei Drittel derselben
von einer populären Einführung in psychophysi-
sche Grundprobleme (Erkenntnistheoretisches,
Materie, Psychische Energie, Eigenart des Seeli-
schen, Leib und Seele) eingenommen werden. Da
es an brauchbaren allgemeinverständlichen Schrif-
ten dieser Art nicht mangelt, wäre vielleicht eine
knappe Zusammenfassung des Gegebenen ange-
zeigt gewesen. Doch verdient Hervorhebung, daß
Tischners Darstellung sich wesentlich auf Ar-
beiten von Becher und Driesch stützt, die
gerade in naturwissenschaftlichen Kreisen noch
keineswegs ihrer großen Bedeutung entsprechend
gekannt und gewürdigt sind. — In den folgen-
den Abschnitten erörtert T i s c h n e r die Frage,
ob Telepathie und Hellsehen, deren Tatsächlich-
keit hier nicht zur Diskussion steht, auf monisti-
scher Basis zu erklären sind — monistisch im
modern naturwissenschaftlichen Sinne genommen.
Auch in okkultistischen Kreisen wird dies vielfach
geglaubt; dagegen kommt Tischner meines
Erachtens zutreffend zu einem negativen Er-
gebnis. Das Schlußkapitel behandelt kurz die
wichtigsten philosophischen Fragen, für die die
Kenntnis oder Anerkennung okkulter Erscheinun-
gen von Bedeutung ist, als: Erfahrung jenseits
der Sinne, transzendentales Subjekt, Unsterblich-
keit der Seele, vierte Dimension, Materialisationen,
sowie manche philosophischen Anschauungen der
Vergangenheit. Zweifelsohne zeigen sich eine
ganze Reihe Berührungspunkte, die dem Philo-
sophen eine Beschäftigung mit dem Okkultismus
nahelegen. Diese hat übrigens offenbar bereits
hier und da begonnen und dürfte sich demnächst
fortdauernd verstärken.
W. v. Wasielewski.
2i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. IS
Anregungen und Antworten.
Gegen die Kontraktiunstheorie. Die Ausführungen zur
Kontralitionstheorie von l'rot. Nölke in Nr. 6 des Jahrg.
1922 dieser Zeitschrift können m. E. nicht ganz unwider-
sprochen bleiben. Ich möchte hier nur ganz kurz auf einige
schwache Punkte seiner Beweisführung hinweisen.
Die Erde stellt sich uns heute als ein Körper dar, der
unter einer festen Gesteinshülle eine mehr oder weniger
plastische, vermutlich sehr heiße Masse enthält, die nach dem
Innern zu aber anscheinend wieder fest und von stahlartiger
Beschaffenheit wird. Nach der Theorie von Wegener ver-
schiebt sich nun die äußere Hülle dauernd unter dem Einfluß
kosmischer Kräfte , wodurch sich die fortgesetzte Auffaltung
der Gebirge erklärt. Die Ansicht Nölkes, die Gezeiten-
kräfte des Mondes und die bei der Erdrotation auftretenden
Zentrifugalkräfte seien zu schwach, um die Verschiebung zu
bewirken, mag zutreffen. Außer diesen Kräften scheinen aber
viel gewaltigere kosmische Spannungen auf den Erdkörper
einzuwirken , die noch unerforscht und unerkannt sind. Die
tägliche Doppelschwingung des Barometers läßt
uns hier Kräfte ahnen, die die der Gezeiten vielleicht um das
Hundertfache übertreffen und die mir die bisher unbeachtete
Ursache der meisten geophysikalischen Erscheinungen zu sein
scheinen, wie ich in dem Artikel ,,Wind und Wetter als Feld-
wirkungen der Schwerkraft" (diese Zeitschrift, Jahrg. 1921,
Heft 7) näher ausgeführt habe.
Ein Beweis dafür, daß die Erdoberfläche früher erheblich
heißer als jetzt, womöglich gar glühend-flüssig oder gasförmig
gewesen sei, ist nicht vorhanden. Allerdings befinden sich
auf der Erde viel Gesteine, die einst glühend-flüssig gewesen
sind , diese sind aber bei den fortwährenden Verschiebungen
der Kruste aus der Tiefe herausgekommen, wo es auch noch
heute sehr heiß ist.
Auch die sog. ,, Entwicklung" der Sterne, die nach neue-
ren astronomischen Forschungsergebnissen als ,, Riesensterne"
beginnen und allmählich, durch Wärmeausstrahlung ihr Vo-
lumen verkleinernd, in den Zustand der ,, Zwergsterne" über-
gehen und verlöschen sollen, ist nichts weniger als erwiesen.
Auf dem letzten Potsdamer Astronomentage hat E. Wiechert
(Vierteljahrsschrilt der Astronomischen Gesellschaft, 1921,
3. Heft, S. 1S5 — 191) die entgegengesetzte Ansicht vertreten,
daß nämlich die Entwicklung gerade umgekehrt verlaufe,
daß aus dem Zwerge allmählich ein Kiese werde, bis schließ-
lich eine Explosion des Gestirnes erfolge. Daraus werden
dann wieder kleinere Weltkörper entstehen und die Entwick-
lung kann von neuem beginnen. Wiechert nimmt in Über-
einstimmung mit der auch von mir auf dem Jenaer Physiker-
tage vertretenen Ansicht (Physikalische Zeitschrift, 1921,
S. 636 — 639) an, daß die Massen, je größer sie werden , um
so mehr Wärmeenergie aus dem Äther ziehen. Diese An-
schauung gestattet, die Entwicklung der Gestirne als einen
ewigen Kreislauf aufzufassen. Auch N ernst scheint sich
neuerdings einer ähnlichen Ansicht zuzuneigen.
Die Kontraktionshypothese dagegen geht von der Idee
der allmählichen Erkaltung der Gestirne aus, die alle als
Gasbälle ihre Geschichte begonnen haben und als finstere
kalte Massen endigen. Eine Kraft, die die kalten Massen
wieder in Gasbälle zurückverwandelt, gibt es nicht. Die Er-
kaltungstheorie, aus der die Kontraktionshypothese abgeleitet
ist, führt daher zu wissenschaftlich unhaltbaren
Folgerungen , die mit der Existenz des Weltalls in Wider-
spruch stehen. Wahrscheinlich sind sehr große, dichte, kalte
Massen überhaupt eine physikalische Unmöglichkeit, da Schwere
und Wärme voneinander abhängig zu sein scheinen. Das ist
der wichtigste theoretische Einwand gegen die Kontraktions-
hypothese.
Die Meteoriten- und Aufsturztheorie ist für die Bildung
der Weltkörper daher das Gegebene. Die Gründe gegen
diese Theorie scheinen mir nicht so ,,unwidersprechlich" zu
sein, wie Herr Nölke annimmt. Die aufstürzenden Massen
können bei der fortwährenden kosmischen Durchknetung der
Überfläche der Erde allmählich in die Tiefe gedrängt werden
und dort einen vollständigen Umwandlungsprozeß durchmachen,
bei dem sie verflüssigt urjd wieder verfestigt werden, so daß
schließlich dieselbe Struktur des Erdkörpers entstehen wird,
wie wir jetzt beobachten.
Bei der Gestaltung der Weltkörper sind wahrscheinlich
ganz andere Naturkräfte tätig, als wie wir sie im Laboratorium
kennen gelernt und bisher allein beachtet haben. Gerade
die Erkaltungs- und Schrumpfungstheorie mit ihren unwahr-
scheinlichen, trostlosen Zukunftsaussichten scheint
lediglich dem gar zu engen Erfahrungskreis des Laboratoriuni-
physikers und des einseitigen Theoretikers ihre Herrschaft zu
verdanken. Es ist daher ein großes Verdienst Wegeners,
daß er die Aufmerksamkeil auf neue Möglichkeiten hinge-
lenkt hat. Fricke.
Literatur.
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Leipzig '22, W. Engelmann. 280 M.
Inhalt: W. Goelsch, Beiträge zur Relativität der Individuen. (3 Abb.) S. 201. P. Becker, Beiträge zur Höhlenkunde.
S. 205. — Einzelberichte: Wiegers, Neue Funde aus der älteren Steinzeit. S. 207. Gerould, Die Veränderung
der Hämolymphe durch Mutation bei einem Schmetterling. S. 210. — Bücberbesprechungen: Einführungsliteratur in
den wissenschaftlichen Okkultismus. S. 211. W. Walte, Einstein, Michelson. Newton. S. 213. P. Kukuk, Unsere
Kohlen. S. 214. G. Geley, Materialisations-Experimente mit M. Franek Kluski. S. 214. Wiesners RohstofTe des
Pflanzenreiches. S. 215. R. Tischner, Monismus und Okkultismus. S. 215. — Anregungen und Antworten : Gegen
die Kontraklionstheorie. S. 2l6. — Literatur: Liste. S. 216.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miche, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., N.-iumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den i6. April 1922.
Nummer 16.
[N«chdruck verboten.] Von Dr. phil. et med.
Alle die vielen Lebewesen, welche unsere Erde
heute bevölkern , sind die Nachkommen langer,
Ahnenreihen. Der Zeitraum, welchen die Kette
der Generationen schon durchmessen hat, über-
steigt unser Vorstellungsvermögen.
Wir wissen , daß die Erdrinde tiefgreifeade
Veränderungen durchgemacht hat: es hat Zeiten
gegeben, zu welchen das heutige Europa auf dem
Grunde eines weiten Meeres lag und wieder andere,
da an gleicher Stelle tropische Wälder und unge-
heure Gletscherjnassen einander ablösten in jahr-
tausendelangem Rhythmus.
Einen solchen Wandel der Daseinsbedingungen
haben die Ahnen der heutigen Lebewesen über
sich ergehen lassen müssen. Manche der Tier-
und Pflanzenformen, welche die Meere und Wälder,
die Steppen und Eisregionen früherer Erdperioden
belebt haben, sind dem Wechsel der Zeiten auf
die Dauer nicht gewachsen gewesen. Sie sind
ausgestorben, und nur ihre versteinerten Reste
erzählen in günstigen Fällen von jenen Wesen,
deren merkwürdige Gestalten und Bewegungen
nie eines Menschen Auge schauen durfte. Uner-
bittlich hat das kosmische Geschehen alles Leben
zerstört, das sich seinem Wechsel nicht unter-
worfen hat, das nicht die Fähigkeit gehabt hat,
sich immer wieder den neuen Lebensbedingungen
anzupassen.
„Anpassung" lautet die Parole, welche die
lebendige Natur beherrscht. Wer nicht mitmacht,
der geht zugrunde. Das große kosmische Ge-
schehen, welches doch letzten Endes alles be-
herrscht, kennt keine Rücksicht auf das Gewimmel
des Lebens.
Und so sehen wir denn, daß sich die Lebens-
formen verändern mit den Lebensbedingungen;
daß Tier und Pflanze von Generation zu Gene-
ration diese und jene Eigentümlichkeit ihrer Or-
ganisation verändern, ebenso allmählich und kaum
erkennbar für den beobachtenden Menschen, wie
das „Milieu", die äußeren Daseinsbedingungen,
sich umgestalten.
Je öfter und vollkommener sich ein Organis-
mus im Laufe seiner Stammesgeschichte den
Veränderungen des Milieus angepaßt hat, um so
komplizierter ist er geworden, um so mehr unter-
scheidet sich seine heutige Form von der ihrer
Ahnen.
Die paläontologische, vergleichend anato-
mische und entwicklungsgeschichtliche Forschung
hat der Lehre von der stammesgeschichtlichen
Umgestaltung der Organismen so viele Stützen
Probleme der Artveränderung.
(Nach einer Vorlesung.)
Haas Krieg, Tübingen.
geliefert, daß sie den Charakter einer Theorie
verloren hat und zum wichtigsten Leitgedanken
der biologischen Forschung geworden ist. Die
Vorstellung von der Unbeständigkeit und der
fließenden Umgestaltung der Lebensformen hat
für uns nichts Befremdendes mehr und wir
wenden sie mit guter Begründung in vollem Um-
fange auf den Menschen an. Es hat Zeiten ge-
geben, zu welchen sich die Wissenschaft unter
dem Banne der Darwinschen Gedankengänge
mit Vorliebe in stammesgeschichtüchen Speku-
lationen über die Entwicklung des Menschenge-
schlechts erging. Solche Spekulationen werden
auch heute noch angestellt, und wir möchten auf
ihre belebende Wirkung nicht verzichten. Aber
man ist ruhiger und sachlicher geworden; denn
je größer die Zahl der exakt-wissenschaftlichen
Feststellungen wird, um so geringer wird die
Rolle der Phantasie bei ihrer Deutung.
Was ich in dieser Vorlesung im besonderen
besprechen möchte, das sind die Momente, welche
der Artveränderung zugrunde liegen können. Die
hier dargestellten Anschauungen sind in letzter
2eit des öfteren Gegenstand lebhafter Diskussion
gewesen , und sie sind zum Teil in den von
O. Hertwig, Roux, Haecker, Braus und
vielen anderen geäußerten Ansichten irgendwie
enthalten. Vor kurzem haben sie in einer
eingehenden , sehr lesenswerten Schrift von
Weidenreich eine Besprechung erfahren ( W e i -
denreich, Das Evolutionsproblem und der in-
dividuelle Gestaltungsanteil am Entwicklungsge-
schehen, Springer 192 1). Naturgemäß kann im
Rahmen dieses Vortrags auf die reiche Literatur
nicht eingegangen werden. Ebensowenig können
die zahlreichen von den Autoren zur Debatte ge-
stellten Beispiele besprochen werden.
Man pflegt — in unberechtigt scharfer Alter-
native — bei stammesgeschichtlichen Erwägungen
zwei Theorien einander gegenüberzustellen: Dar-
winismus und Lamarekismus; entsprechend den
mancherlei Abänderungen und Ergänzungen,
welche die ursprünglichen Fassungen dieser Theo-
rien erfahren haben, pflegt man wohl auch von
einem Neodarwinismus und einem Neolamarckis-
mus zu reden. Sie seien hier in wenigen Worten
charakterisiert.
Die Lehre Darwins fußt auf der Tatsache
der Variabilität der Erscheinungsformen in der
lebenden Natur, d. h. auf der Tatsache, daß die
Individuen gleicher Art in bezug auf irgendeine
ihrer Eigenschaften, welche man nun gerade näher
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i6
ins Auge zu fassen beliebt, eine gewisse Ungleich-
mäßigkeit erkennen lassen. Und in ähnlicher
Weise, wie der Tier- oder Pflanzenzüchter durch
entsprechende Auswahl der zur Zucht verwandten
Individuen, durch Bevorzugung ihm zweckmäßig
erscheinender Varianten, sein Tier- oder Pflanzen-
material im Laufe einiger Generationen in ge-
wünschter Richtung abzuändern vermag, so voll-
zieht sich eine Abänderung auch in der freien
Natur. Der „Kampf ums Dasein" scheidet die
im Sinne der Arterhaltung günstigen Varianten
von den ungünstigen. Ein strenger Winter etwa
tötet alle weniger widerstandsfähigen Individuen,
eine Infektionskrankheit rafft sie hinweg oder ein
anderer Feind. Dazu kommt noch die auslesende
Wirkung des Konkurrenzkampfes gleichartiger
Tiere untereinander, z. B. der Kampf, welchen
bei manchen Tierarten die Männchen mit ihres-
gleichen zu bestehen haben, ehe sie zur Kopu-
lation gelangen.
Die Leitgedanken des Darwinismus sind (erb-
liche) Variabilität — Ungleich Wertigkeit —
der Individuen in bezug auf irgendeine in Be-
tracht kommende Eigenschaft und Selektion —
Auslese.
Demgegenüber geht der Lamarekismus von
der Voraussetzung aus, daß die Organisation der
Lebewesen sich automatisch umgestalte ent-
sprechend den Ansprüchen, welche die Umwelt
an sie stellt. Daß während des individuellen
Lebens der Grad und die Art der Inanspruch-
nahme eines Organs von Einfluß ist auf Grad
und Art seiner Ausbildung, ist bekannt. Soll nun
eine solche „funktionelle Anpassung" von Einfluß
sein können auf die Umgestaltung der Art im
Laufe der Generationen, so muß eine solche An-
passung, eine solche „Reaktion auf einen Milieu-
reiz", in Gestalt einer erblichen Anlage auf die
Nachkommen übertragen werden können. Mit
anderen Worten : man muß von der Voraussetzung
ausgehen, daß zur Entwicklung eines höheren
Ausbildungsgrades schließlich nicht mehr der
Milieureiz selbst als auslösendes Moment nötig
ist, sondern daß dieses auslösende Moment in das
Erbgut des Individuums beziehungsweise der Art
übergehen kann. Dies hat trotz vielfacher Ver-
suche noch nicht nachgewiesen werden können.
Man sieht: der Darwinismus findet positive
Belege in der Naturbeobachtung selbst und in
der Analogie der künstlichen Zuchtwahl. Der
Lamarekismus ist nur eine einleuchtende Hypo-
these und entbehrt zwingender Belege.
Beide Theorien sind miteinander verknüpft
durch folgende Überlegung:
Der Lamarekismus geht aus von der Beobach-
tung, daß ein Organ auf einen bestimmten äußeren
Reiz, eine bestimmte von außen an das Individuum
herantretende Anforderung, in typischer Weise
reagiert. Diese Reaktion besteht in dem Be-
streben, die Reizwirkung als solche zu beseitigen,
also einen Gleichgewichtszustand zwischen An-
forderung und Leistungsfähigkeit herzustellen. Die
Voraussetzung einer solchen Reaktion ist aber
die Reaktionsfähigkeit. Diese Reaktions-
fähigkeit ist individuell verschieden, sie variiert
wie jede andere Eigenschaft eines lebenden Or-
ganismus. Und als variierende Eigenschaft unter-
liegt sie logischerweise der Selektion.
Wenn man will, kann man also zwei Arten
von Variabilität unterscheiden : erstens eine echte
oder primäre, d. h. von Milieureizen unabhängige
Variabilität erkennbarer Eigenschaften; zweitens
eine sekundäre Variabilität oder „Modifizierbar-
keit". Sie bedarf eines spezifischen Milieureizes,
um überhaupt in Erscheinung treten zu können.
Ein beliebiges Beispiel möge diesen zweiten
Fall illustrieren.
Würde man eine bestimmte Anzahl von Pfer-
den eines gut ausgeglichenen, also in seinen erb-
lichen Eigenschaften im wesentlichen einheitlichen
Schlages, sagen wir Belgier oder Ardenner, in
eine Gegend bringen, wo sie starker Winterkälte
ausgesetzt sind, so würde man beobachten können,
daß sie dank einer ihnen innewohnenden Reak-
tionsfähigkeit auf den Kälteieiz eine stärkere
Winterbehaarung bekommen, als in ihrer Heimat.
Die genauere Beobachtung würde nun ergeben,
daß diese Reaktionsfähigkeit nicht bei allen Indi
viduen gleich groß ist, sondern in zwar geringem,
aber doch erkennbarem Grade schwankt. Dabei
wären die Ursachen dieser Verschiedenheit in der
Reaktionstüchtigkeit vermutlich ähnlicher Art, wie
diejenigen anderer individueller Verschiedenheiten:
Alter, Ernährungszustand, Aufwuchsbedingungen,
Kombinationsmodus gewisser Erbfaktoren bei der
Befruchtung, quantitative Wertigkeit eines Erb-
faktors.
Noch größer würden natürlich die Unterschiede
sein, wenn wir Pferde verschiedener Abstammung
in ihrer Reaktionsfähigkeit vergleichen würden. ')
Diese Reaktionstüchtigkeit kann sich zweifellos
durch eine über viele Generationen hin erfolgende
Reizwirkung verstärken oder umgekehrt schwächer
werden, wenn der Reiz schwach wird oder in
Wegfall kommt. Sehen wir doch, daß beispiels-
weise ein russisches Bauernpferd sich einen stär-
keren Winterpelz zulegt, als etwa ein Pferd süd-
deutscher Herkunft, welches in dasselbe Milieu
gebracht worden ist. Dabei kann man annehmen,
daß die Fähigkeit, eine besonders starke Winter-
behaarung zu bilden, bei den einer künstlichen
Zuchtwahl noch nicht unterworfenen Vorfahren
dieser Pferde auf dem Wege natürlicher Zucht-
wahl entstanden ist, wo eben das Milieu sie ver-
langte und daß künstliche Zuchtwahl und in an-
derer Richtung gehende Differenzierung sie bei
anderen Rassen oder Schlägen unterdrückt hat
oder nicht hat zur Ausbildung gelangen lassen.
Daß es sich gerade bei der Winterbehaarung
keinesfalls nur um eine Reaktionsfähigkeit han-
') Verf. hatte im Kriege Gelegenheit, derartige Beobach-
tungen zumachen (vgl. Krieg, Beobachtungen an deutschen
Pferden in Ruflland, Naturw. Wochenschr. N. F. 15. Band,
Nr. 26).
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
219
delt, sondern mindestens teilweise um eine regel-
rechte Erbeigenschaft, geht übrigens aus der Be-
obachtung hervor, daß beispielsweise ein in
Deutschland akklimatisierter Panther zwar ein
Winterfell bekommt, daß aber dieses Winterfell
niemals die Ausbildung erreicht, wie dasjenige
eines im selben zoologischen Garten gehaltenen
Schneeleoparden. Man sieht, wie eng verknüpft
erbliche Anlage einer Eigenschaft und Fähigkeit,
diese Eigenschaft als Reizreaktion zu bilden, mit-
einander sind.
Von den zahlreichen Beispielen für das enge
Verknüpftsein dieser beiden scheinbar so ver-
schiedenartigen Ursachen der Gestaltung sei
noch eines erwähnt. Bordage hat beobachtet,
daß Pfirsichbäume europäischer Herkunft, welche
in tropischem Milieu (Reunion) ausgesät worden
waren, in den ersten Jahren etwa i V» Monate
lang die winterliche Kahlheit zeigten, im Lauf
der Jahre eine allmähliche Anpassung durch-
machten und nach etwa 20 Jahren nahezu im-
mergrün waren. Es handelt sich hier zweifellos
um eine Reizreaktion, deren langsamer Ablauf
wohl so zu erklären ist, daß eine wesentliche
reaktive Umstellung der ganzen Konstitution not-
wendig war, um die nahezu zum rein erblichen
Engramm gewordene Reaktion des rhythmischen
Laubverlustes zu beseitigen. Wie intensiv diese
Veränderung in der Konstitution war, geht aus
der merkwürdigen Beobachtung hervor, daß die
Sämlinge dieser Pfirsichbäume schon von vorn-
herein angepaßt waren und auch im Bergland
immergrün blieben, wo aus Europa stammende
Pfirsichbäume stets periodisch kahl werden.')
Wo liegt nun die Grenze zwischen erblicher
Anlage und Reaktionsfähigkeit ? Sie dürfte kaum
wirklich existieren. Die schroffe Alternative be-
steht nur in den Begriffen, nicht in den Tatsachen.
IL
Damit kommt man zu einer schärferen Fassung
des Kernproblems des Lamarekismus. Es gipfelt
in der Frage: kann aus einer bloßen erblichen
Reaktionsfähigkeit, welche bei Einwirkung
eines bestimmten Reizes eine bestimmte, sinn-
lich faßbare Eigenschaft eines Organteiles, Organs
und damit eines ganzen Individuums auslöst, eine
erbliche Anlage werden, welche automatisch
— etwa auf Grund endokriner Reize, jedenfalls
aber ohne äußeren Reiz — diese selbe bestimmte,
sinnlich faßbare Eigenschaft zur Entwicklung bringt?
Kann an Stelle der Reaktionsfähig-
keit die Reaktion selber treten?
Es ist nicht möglich, diese Frage klipp und
klar zu beantworten. Aber es gibt Bei>piele,
welche für eine positive Beantwortung sprechen.
Die äußere Haut, sowie die Schleimhaut der
Mundhöhle, Speiseröhre und Scheide des Men-
schen tragen an der Oberfläche eine vielschichtige
Zellenlage, ein „geschichtetes Plattenepithel". Die
') Besteht hier nicht eine gewisse Parallele mit Immuni-
tät und Anaphylaxie?
tiefsten Zellschichten dieses Epithels sind von
weicher, plasmareicher Beschaffenheit und haben
die Fähigkeit, neue Zellen zu produzieren. Die
hier gebildeten Zellen werden nun gegen die
Oberfläche hin weitergeschoben. Sie verlieren
auf diesem Wege ihre Vermehrungsfähigkeit und
wandeln sich in typischer Weise um : sie platten
sich immer mehr parallel zur Oberfläche ab,
bilden an ihrer Peripherie eine derbe Rinde
(Crusta) aus, welche sich zum Zellinnern etwa
verhält wie die Rinde eines Brotlaibs zu dessen
inneren Teilen; und je näher die einzelne Zeile
der Oberfläche kommt, um so derber und flacher
wird sie, so daß diese Oberfläche letzten Endes
gebildet wird von lauter kleinsten, verhornten '
Schüppchen, den Endstadien der Epithelzellen.
Ohne Zweifel liegt hier eine zweckmäßige
Organisation vor, welche eine gewisse Geschmeidig-
keit mit einer derben Widerstandsfähigkeit ver-
bindet. Diese Eigenschaften stehen in deutlicher
Proportion zu den Insulten, welchen die betreffende
Epithelregion ausgesetzt ist. Sie sind beispiels-
weise in der Speiseröhre, welche normalerweise
nur der verhältnismäßig schwachen Reizung durch
eingespeichelte Speisenteile ausgesetzt ist, geringer
als an der äußeren Haut, bei welcher neben der
Gefahr grober Insulte diejenige der Austrocknung
vorliegt. Und an der äußeren Haut sind wie-
derum Stellen mit besonders starker Insultwirkung,
die Handfläche und vor allem die Flußsohle, mit
einem besonders erheblichen Polster von ge-
schichtetem Plattenepithel ausgestattet. Eine
ganz spezielle Gestaltung des Epithels finden wir
am Zungenrücken, wo papillenartige und teilweise
stark verhornte Gebilde die mechanische Zungen-
wirkung unterstützen.
Es liegt kein logisch zwingender Grund vor,
derartige Bildungen nicht als Ergebnisse einer
selektiven Steigerung ursprünglich richtungsloser
Varianten zu erklären. Aber mancher dürfte das
Unbefriedigende einer solchen Erklärung empfin-
den, gerade in F"ällen wo — wie hier — die Er-
scheinungen den Stempel funktioneller Anpassung
recht deutlich an sich tragen.
Es ist zunächst die Frage zu stellen : kann ein
geschichtetes Plattenepithel als Reaktion auf einen
bestimmten Reiz entstehen? — Diese Frage dürfte
zu bejahen sein.
An Schleimhäuten, welche normalerweise kein
Plattenepithel tragen, kann auf Grund experimen-
teller oder pathologischer Reize eine Umbildung
anderer Epitheltypen zu Plattenepithel erfolgen.
B. Fischer hat Scharlachöl in die Milchdrüsen
von Kaninchen eingespritzt und daraufhin eine
Umwandlung des Drüsenepithels zu einem Platten-
epithel mit regelrechter Verhornung festgestellt.
Kawamura hat durch mechanische Reizung ähn-
liches an der Schleimhaut der Luftröhre erzeugt,
Fütterer an der Magenschleimhaut; im ersteren
Fall (Kawamura) ist also an Stelle eines einschichti-
gen, mit Flimmerhaaren ausgestatteten, zylindrischen
Epithels, im letzteren aus einem ebenfalls zylin-
226
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XXI. Nr. \6
drischen Epithel mit drüsigen Adnexen ein Platten-
epithel entstanden. Auf chronische Reize ver-
mag das Epithel der Gebärmutter, der Eileiter,
der Gallenblase, der Nase, der Luftröhre, der
Bronchien , ebenso dasjenige von Nierenbecken,
Harnleiter, Harnblase, Harnröhre, Vorsteherdrüse,
Paukenhöhle und IVlastdarm durch eine epidermis-
artige Umgestaltung zu reagieren (Borst). Zweifel-
los handelt es sich in diesen Fällen nicht um
eine Umgestaltung schon differenzierter, sondern
um eine andersartige Differenzierung junger Zellen
des betreffenden Epithels (indirekte Metaplasie).
Diese Zellen erweisen sich demnach als pluri-
potent.
Von dieser Erscheinung, bei welcher eine Epi-
thelform entsteht, welche nicht nur grob-morpho-
logisch, sondern auch in feineren Details (Proto-
plasmafaserung, Interzellularbrücken, Verhornung '))
das Bild eines regelrechten geschichteten Platten-
epithels zeigt (echte Metaplasie), sind jene F"älle
zu trennen, in welchen es sich nicht um eine
wirklich funktionelle, sondern nur um eine grob-
mechanisch bedingte Veränderung handelt, für
deren Erklärung eine pluripotente Reaktionsfähig-
keit nicht angenommen zu werden braucht, sondern
etwa nur Zug- und Druckanomalien oder Aus-
trocknung. Sie werden die feineren typischen
Merkmale des geschichteten Plattenepithels ver-
missen lassen (falsche Metaplasie). Aber ich glaube
kaum, daß sich eine scharfe Grenze zwischen
echter und falscher Metaplasie wird ziehen lassen.
Vielleicht liegen hier nur graduelle Unterschiede
vor, welche mit der Verschiedenheit der Qualität
und Quantität des Reizes einerseits und anderer-
seits mit der Verschiedenheit der Reaktionsfähig-
keit zusammenhängen, deren Minimum gleich Null
ist, deren Maximum dagegen sich nicht ohne
weiteres angeben läßt, aber jedenfalls genügt, um
den funktionellen Ausgleich zwischen Reiz und
morphologischer Struktur herbeizuführen.
Man könnte einwenden, daß auch jene Er-
scheinungen, welche ein auf Grund einer Reiz-
reaktion entstandenes getreues Bild eines ge-
schichteten Plattenepithels darstellen, in Wirklich-
keit kein solches seien. Das wäre aber gleich-
bedeutend mit der F"orderung, daß unter diesem
Begriff nur solche Bildungen zu verstehen seien,
deren Spezifität erblich festliegt. Und das wäre
wiederum gleichbedeutend mit der Ignorierung
unseres Problems; denn dieses Problem läuft ja
gerade auf die Beantwortung der Frage hinaus,
ob eine morphologische Bildung als Folge eines
Reizes einerseits und eine gleichartige Bildung
auf Grund erblicher Veranlagung andererseits
vollkommen heterogene Dinge sind oder ob sie
nur verschiedene stammesgeschichtliche Stadien
darstellen.
Es muß uns interessieren, ob die Umgestaltung
') Siehe die .Arbeil von Teutschländer im Centralbl.
f. allg. Pathologie und Path. Anal. Bd. XXX, Nr. I6 (De-
cember 1919).
irgendeines anderen Epitheltypus in geschichtetes
Plattenepithel auch ohne einen Reizimpuls vor-
kommt, ob sie sich auch rein automatisch voll-
ziehen kann. Es kann sich hier naturgemäß nur
um ontogenetische Vorgänge handeln.
Die allmähliche ontogenetische Ausbildung des
Zustandes der Mehrschichtigkeit aus demjenigen
der Einschichtigkeit läßt sich in der Genese jedes
Plattenepithels feststellen. In der Speiseröhre be-
steht ursprünglich sogar ein richtiges Zylinder-
epithel.
Es liegt nahe, etwa die strukturellen Besonder-
heiten der Epidermis, besonders die sehr starke
Abplattung und Verhornung ihrer Zellen an der
Oberfläche, als eine funktionelle Anpassung an die
spezifischen Oberflächenreize (Zug, Druck, Aus-
trocknung) aufzufassen und anzunehmen, daß es
ursprünglich derartige Reize waren, welche die
Abflachung der Zellen bewirkt haben und ebenso
den einer Verdorrung vergleichbaren Verhornungs-
vorgang und die Ausbildung der Vielschichtig-
keit, welche aus einer festen Verbindung zwischen
den einzelnen Zellen resultiert. Und es fällt auf,
daß alle diese Erscheinungen nicht nur in den
verschiedenen Gebieten der Epidermis verschiedene
Grade der Ausbildung zeigen, welche der Inten-
sität der dort wirksamen Insulte entsprechen,
sondern daß z. B. in der Mundhöhle und Speise-
röhre, wo die Insultwirkung eine andere und die
Austrocknung eine erheblich geringere ist, weder
die Abplattung, noch die Verhornung, noch die
Anzahl der Zellschichten denselben Grad erreicht.
Eine Ausnahme machen die Papillen der Zunge
mit ihrer starken regionären Verhornung, welche
aber ebenfalls als P'olgen funktioneller Anpassung
aufgefaßt werden können.
Und doch entstehen diese Eigentümlichkeiten
schon während des intrauterinen Lebens und
zeigen schon um diese Zeit spezifische Verschie-
denheiten je nach ihrer späteren funktionellen
Aufgabe (Fußsohle des Menschen, Schwielen bei
Phacochoerus).
Ganz ähnliche Schlüsse ergeben sich aus
stammesgeschichtlichen Betrachtungen.
Wir stellen also am Beispiel des geschichteten
Plattenepithels eine weitgehende Parallelität fest
zwischen rein reaktiver und erblich festliegender
Gestaltungsfähigkeit des Organismus. Ich erinnere
daran, daß eine gleiche Parallelität sich bei der
erwähnten Ausbildung des Winterpelzes ergeben
hat. Wir ziehen daraus den Schluß, daß diese
beiden F"ähigkeiten aller Wahrscheinlichkeit nach
eine gemeinsame Wurzel haben. Sie stellen zwei
gleichgerichtete Verwirklichungsmöglichkeiten dar,
welche sich mehr graduell als prinzipiell vonein-
ander unterscheiden. Es erscheint uns in hohem
Maße wahrscheinlich, daß der erste F"all im Laufe
einer mehr oder weniger langen Reihe von Gene-
rationen fließend in den zweiten überzugehen ver-
mag, d. h. daß im Laufe der stammesgeschicht-
lichcn Entwicklung aus einer Reaktionsfähigkeit
auf äußere Reize eine scheinbar automatisch ab-
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
laufende ontogenelische Reaktion werden kann.
Wie dieser Übergang sich vollziehen mag, ist
noch ein Rätsel. Es wäre etwa an eine Ver-
schiebung im endokrinen Gleichgewichtszustand
zu denken, welcher den ganzen Organismus, also
auch die Keimzellen, betrifft, eine Verschiebung,
welche über einen Zustand endokriner Schwan-
kungen hinweg zu einem neuen, mehr oder wenig
konsolidierten Gleichgewichtszustand führt. Daß
Hormone die Wachstumsvorgänge regulieren, ist
ja bekannt.
Meiner Ansicht nach liegt in diesem Problem
auch der Schlüssel zur Erklärung des biogeneti-
schen Grundgesetzes.
Über die Folgen einer derartigen „Induktion"
der Reaktionsfähigkeit für die Erhaltung der Art
lassen sich etwa folgende Überlegungen anstellen:
Ist die reaktive Anpassungsfähigkeit eines Or-
gans — sagen wir des geschichteten Platten-
epithels — vollkommen in das Erbgut überge-
gangen, also zu einer endogenen Reaktion gewor-
den, so tritt eine gewisse phylogenetische Starr-
heit der Erscheinungsform dieses Organs ein.
Diese Starrheit kann für die Art möglicherweise
letale Folgen haben, weil von nun an eine Um-
gestaltung im Sinne eines Abbaues des Differen-
zierungsgrades, nur noch auf dem langfristigen
Umweg über die Selektion möglich ist. Gleich-
wohl kann eine Umdifferenzierung in anderer
Richtung noch möglich sein, wenn eine in dieser
neuen Richtung führende Reaktionsfähigkeit vor-
liegt, welche ja ihrerseits nicht ebenfalls erschöpft
zu sein braucht. (Daß eine Erschöpfung der Re-
aktionstüchtigkeit überhaupt als Begleiterscheinung
des individuellen Seniums eintritt, ist ja bekannt
und sei hier in Parenthese erwähnt.)
Eine solche „Starrheil" als Folge totaler In-
duktion besteht bei unserem Beispiel, dem Platten-
epithel, nicht (auch nicht im Beispiel des Winter-
pelzes). Wohl liegt die regionär spezifische Er-
scheinungsform des Epithels erblich fest. Aber
es besteht noch ein Plus von Reaktionsfähigkeit:
zwar wird die Epidermis der Fußsohle schon em-
bryonal dicker angelegt als die anderer Regionen
der Körperoberfläche; aber schließlich wird sie
auf Grund der ihr doch noch innewohnenden
Reaktionsfähigkeit bei einem mit bloßen Füßen
gehenden Bauernkind wesentlich derber und wider-
standsfähiger sein als bei einem Stadtkind, das
nie barfuß gegangen ist. Auch an der Speise-
röhre des Menschen läßt sich beobachten, daß
ihr Epithel die Fähigkeit hat, stark zu verhornen
und sogar Papillen zu bilden, welche den ,, faden-
förmigen" Papillen der Zunge ähnlich sind, eine
Tatsache, welche auch beim Versuch einer ur-
sprünglich funktionellen Erklärung des Entstehens
der Zungenpapillen Beachtung verdient. Ein
weiteres Beispiel für die morphologische Labilität
der Epidermis sei hier noch angeführt: die Epi-
dermis in der Umgebung eines kurativ angelegten
Anus praeternaturalis an der unteren Ileumschlinge
zeigte nach 12 Monaten eine von der Norm ab-
weichende Struktur. „Das Stratum granulosum
und corneum" (zwei für die Epidermis typische
Schichten) „sind nicht besonders entwickelt. Die
Oberhaut hat sich in ihrem Aussehen derjenigen
einer Schleimhaut genähert, — zu fast ähnlicher
Gestalt wie die Zona intermedia (Annulus haemo-
rrhoidalis) der Analregion. Gleichzeitig scheinen
die zugehörigen Schweißdrüsen sich in ihrem
allgemeinen Habitus modifiziert zu haben, wobei
sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den zirkumanalen
Drüsen zeigen." „Die offenbar reichliche
Sekretion dieser Drüsen hat wahrscheinlich zu
der schleimhautähnlichen Veränderung der Bauch-
haut beigetragen" (H o 1 m g r e n , Anat. Anz. 54. Bd.)
Der andere Milieureiz, vermutlich die Durchfeuch-
tung, hat hier also die spezifische Gestaltung der
Epidermis verändert.
Ich habe versucht, an Hand eines Beispiels
daraufhinzuweisen, daß es doch recht einleuchtend
ist, die Möglichkeit erblicher Fixierung einer
ursprünglichen Reaktion auf äußeren Reiz
anzunehmen. Beweisen läßt sich die Richtig-
keit einer solchen Annahme nicht, wenig-
stens nicht im Sinne eines mathematischen Be-
weises.
Wenn es noch nicht gelungen ist, experimen-
tell aus einer Reizreaktion, einer Modifikation,
eine „Erbeigenschaft" zu machen, so sagt dies
meiner Ansicht nach nicht eben viel. Denn für
unsere menschlichen Zeitbegriffe mag ein phylo-
genetischer Übergang von der Reaktionsfähigkeit
über ein ,, gemischtes" Stadium (und vielleicht auch
ein Stadium des gestörten endokrinen Gleichge-
wichts) zur erblichen Fixierung einer Eigenschaft
ein außerordentlich langsam fließender sein. Man
hat sich ja längst daran gewöhnt, im Vorgang der
natürlichen Artveränderung ein so langsames Ge-
schehen zu erblicken, daß die Dauer eines Men-
schenlebens eine vergleichsweise unbedeutende
Zeitspanne darstellt. Stellen wir im Experiment
eine — vielleicht pluripotente — Reaktionsfähig-
keit fest und erzielen wir auch nur einen geringen,
schwankenden Ansatz zu einer erblichen Fixierung
der Reaktion, so ist damit viel gewonnen. Es
ist ganz willkürlich, zu verlangen, daß die erb-
liche Fixierung als sprunghafte Alternative zu-
stande kommt. Unter diesem Gesichtspunkt
scheint mir manches der scheinbar mit Achsel-
zucken ad acta gelegten Experimente durchaus
diskutabel.
III.
Es ist jetzt eine weitere Frage zu besprechen :
Können alle erblichen Eigenschaften als erblich
fixierte Milieureaktionen aufgefaßt werden? —
Diese Frage ist ohne Zweifel mit „nein" zu be-
antworten; doch wird sich aus dem Folgenden
ergeben, daß die Antwort sehr wesentlich von
der Definition des Eigenschaftsbegriffes abhängig ist.
Für die Genese sehr vieler Eigenschaften ist
der Begriff der funktionellen Anpassung, oder —
besser und zugleich allgemeiner gesagt — der
Reizreaktion anwendbar; d. h. sie können ihre
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i6
tiefste Ursache haben in einer zuerst nicht indu-
zierten, später vielleicht induzierten Reaktions-
fähigkeit, welche sowohl in nicht induziertem, wie
in induziertem Zustande dem verstärkenden Ein-
fluß der Selektion unterworfen ist. F'ührt man
diesen Gedankengang konsequent durch, so ge-
langt man zu der Anschauung, daß der — rein
fiktive — Zustand einer pluripotenten, richtungs-
losen Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize über-
haupt die stammesgeschichtlich ursprünglichste
Stufe darstellt. Ein Beispiel für diese Stufe gibt
es nicht. Einen gewissen „Annäherungswert"
könnte man sich etwa in der Gestalt einer denk-
bar einfachsten Amöbe vorstellen (einen nicht
weniger falschen „Annäherungswert" repräsentiert
— als Beispiel für induzierte Pluripotenz — die
Geschlechtszelle oder undifferenzierte Somazelle
eines Meiazoons). Es ist nun ohne weiteres klar,
daß schon bei den Lebewesen dieser Stufe die
Reaktionsfähigkeit individuell verschieden ist, denn
die Art und Wertigkeit ihrer Konstitution ist
vom Milieu abhängig. Schon hier kann die Selek-
tion einsetzen, indem sie die reaktionstüchtigsten
Individuen bevorzugt. Eine bestimmte Rich-
tung kann die stammesgeschichtliche
Weiterentwicklung aber erst bekom-
men auf Grund dauernder Wirkung
gleichartiger Reize. Dann erst kann
auch die Selektion immer wieder gleich-
sinnig wirken. Erst so kann eine Spezialisie-
rung der Organisation erfolgen.
Je mehr nun die spezifische Reaktionsfähigkeit
als spezifi-.che endogene Reaktion in das Erbgut über-
geht — induziert wird — , um so prägnanter wird
die Wirkung der Selt-ktion, denn um so größer
wird die Wahrscheinlichkeit, daß das Znchtmaterial,
welches von der Selektion erfaßt wird, auch tat-
sächlich seine Wertigkeit vererben wird und nicht
etwa nur besser scheint, weil zufällig ein be-
sonders starker Reiz eine besonders starke Reak-
tion ausgelöst hat.
Als Folge totaler Induktion muß so eine Po-
pulation oder sonstige Individuengruppe entstehen,
welche in bezug auf die betreffende Eigenschaft
keine individuelle Reaktionsfähigkeit, also keine
funktionelle Anpassungsfähigkeit mehr besitzt.
Dann beherrscht die Selektion allein die weitere
Differenzierung dieser Eigenschaft. Und wenn
diese Eigenschaft individuelle Verschiedenheiten
zeigt, so sind dies keinesfalls Modifikationen reak-
tiver Art, sondern es sind Varianten im strengen
Sinne der Vererbungslehre, deren Ursache auf
der dem Gesetz des Zufalls folgenden Verschieden-
heit der Kombination der Erbfaktoren beruht.
Selbstverständlich hat jedoch dieses Gesetz nicht
nur im extremen I-'all einer totalen Induktion
Geltung, sondern spielt schon bei den ersten An-
fängen induktiver Vorgänge eine Rolle. Exakt
faßbar wird es aber um so eher sein, je vollstän-
diger die Induktion ist, je größer die erbliche
„Starrheil" der Eigenschaft.
Es kann also die Summe der induzierten An-
lagen oder Potenzen als das Material betrachtet
werden, welches durch Umgruppierung zu neuen
Erscheinungsformen führen kann, welche selbst-
verständlich der natürlichen Auslese unterstehen.
Eine gesonderte Erwähnung verdienen alle
jene Eigentümlichkeiten der Organisation, welche
keinesfalls als induzierte Reaktionen (richtige erb-
liche Anlagen) aufgefaßt werden können, ebenso-
wenig aber als nicht induzierte Folgen irgend-
welcher Reaktionsfähigkeit. Ich meine die Eigen-
tümlichkeiten, welche als mechanisch bedingte
Begleit- oder Folgeerscheinungen irgendwelcher
Wachstumsvorgänge zu deuten sind. Hierher ge-
hört beispielsweise die Gestalt der Leber, welche
auch Weidenreich in den Kreis seiner Be-
trachtung gezogen hat. Sie ist zweifellos nur
abhängig von den räumlichen Verhältnissen in
der oberen Bauchregion und für die Funktion
nicht von Belang. Die Zahl der korrelativ be-
dingten Besonderheiten der Organisation ist sicher-
lich enorm. Man denke nur etwa an die Um-
wege, welche viele Nerven und Blutgefäße machen,
um zu ihrem Arbeitsgebiet zu gelangen. Viele
solcher Fälle lassen sich mühelos entwicklungs-
mechanisch erklären. Ich erinnere an die letzten
Gehirnnerven. Auch die Streifen- und Flecken-
zeichnungen des Felles bei vielen Säugetieren mag
hier angeführt werden , für welche ich wahr-
scheinlich machen konnte, daß sie mechanisch-
korrelative Begleiterscheinungen der in einer be-
stimmten Wachstumsphase bestehenden Zug- und
Druckverhältnisse in den äußeren Bedeckungen sind.
Hier kann also von einer funktionellen Be-
wirkung oder Reaktion nicht gesprochen werden.
Daß solche Erscheinungen „erblich" sein können,
liegt auf der Hand; denn sie sind es, sobald die
Eigenschaften erblich sind, deren Folge- oder
Begleiterscheinungen sie sind. Den Namen von
Erbeigenschaften verdienen sie nicht.
Endokrin -korrelativ bedingte Erscheinungen
mit mechanisch korrelativ bedingten ohne weiteres
gleichzusetzen, geht nicht an; eine Kritik findet
hier noch keinen Boden, ehe die Beziehungen
endokriner Vorgänge zum Vereibungsgeschehen
und zum Verwirklichungsgeschehen besser be-
kannt sind.
IV.
Es ist vorhin gesagt worden, daß dauernd
gleichartiger Milieureiz und Selektion eine richtende
Wirkung auf die Veränderung eines Organs —
und damit eines Organismus — haben können.
Es bleibt jetzt noch der Fall zu erwägen, daß die
Ansprüche der Umwelt, also auch die Mittel zur
Anpassung, Reiz und Selektion, eine Veränderung
erfahren.
Es wird eine Umdififerenzierung erfolgen, für
welche zwei Hilfsmittel zur Verfügung stehen,
welche entweder getrennt oder in graduell ver-
schiedener Kombination in Funktion treten wer-
den, je nach den gegebenen Voraussetzungen.
Das erste Mittel ist eine spezifische Reaktions-
fähigkeit auf den neuartigen Reiz, welche trotz
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
223
der einseitigen SpeziaHsierung erhalten geblieben
sein kann; das zweite ist die Selektion, weichein
jenen Fällen als einzige Möglichkeit übrig bleibt,
wo infolge einseitiger Spezialisierung die Pluri-
potenz der Reaktionsfähigkeit verloren gegangen ist.
Die bisherige Form der Spezialisierung wird
automatisch nicht mehr erfolgen, soweit sie den
Charakter einer Reizreaktion hatte; sie wird all-
mählich durch negative Auslese reduziert werden,
soweit sie erblich festlag und durch Variabilität
■ der Selektion Angriffspunkte bietet. So vollzieht
sich an dem nicht mehr zweckmäßigen Organ
eine regressive Umgestaltung, welche entweder
als einfache Reduktion oder Rudimentierung oder
als Funkiionswechsel in Erscheinung tritt.
„F'unktionswechsel" ist ein Begriff, welcher für
ganz verschiedenartige Vorgänge Anwendung zu
denke an die Erhöhung der Variabilität ver-
schiedenster Art als Domestikationsfolge. Doch
scheint mir gerade bei der Reduktion von an
sich noch reaktionsfähigen Eigenschaften der Weg-
fall des richtenden Milieureizes von großer Be-
deutung zu sein.
Hierfür spricht meine Beobachtung,') daß die
funktionslosen Rudimente des Brustschultergürtels
der Blindschleiche eine geradezu enorme asym-
metrische Variabilität zeigen gegenüber den homo-
logen Elementen des Brustschultergürtels bei einer
gewandt laufenden Eidechse (Lacerta serpa), ja
sogar gegenüber jenen einer Erzschleiche, bei
welcher die Extremitäten zwar sehr schwach ent-
wickelt, aber immerhin noch funktionsfähig sind.
Es seien hier die Variationskoeffizienten der
untersuchten Knochen zusammengestellt:
Chal cides
tridactylus Anguis fragilis
L
ace
rta sei
■pa
(Erzschleiche)
(Blindschleiche]
Schlüsselbein
4.3
4.1
8,6
Episternum
vorderer Fortsatz
12,9
6.5
fehlt bei 42 <>/„
hinterer Fortsatz
7.7
9,o
25,9!
Seitenforlsätze (Durchschnitt)
11,4
4,7
23,6!
Stern
um
längs
quer
7.0
7.8
8,2
6,7
nicht meßbar
nicht meßbar
finden pflegt. Ein Funktionswechsel kann da-
durch vorgetäuscht werden, daß ein „Organ" mit
ursprünglich mehreren Funktionen diese teils auf-
gibt, teils beibehält. Die bleibenden Funktionen
können dabei eine sekundäre quantitative Steige-
rung erfahren (lymphatische Funktion des Wurm-
fortsatzes). Es liegt also kein Funktions Wechsel
vor, sondern eine F"unktionseinschränk ung
oder Funktionsspezialisierung. Der regelrechte
Funktionswechsel fällt unter den Begriff der „Um-
differenzierung" (Kiemenderivate). Im übrigen ist
gerade hier wieder einmal die Ungenauigkeit des
Organbegriffs besonders störend.
Was die echte Rudimentierung betrifft, so ist
für sie ein wirklich eindeutiges Beispiel kaum zu
finden: absolute Funktionslosigkeit ohne irgend-
welchen Funktionsreiz und ohne positiven Se-
lektionswert. Eine Selektion muß zwar auch in
diesem Falle wirken; aber ihre Wirkung ist re-
gressiv und betrifft weniger einen bestimmt ge-
richteten Abbau der spezifischen Struktur, als
einen solchen der Masse, welche in ihrer Gesamt-
heit als lästiger Fremdkörper wirkt.
So stellt sich eine merkwürdige Erscheinung
ein: ein asymmetrisches, quantitatives Schwanken
der Eigenschaft bzw. des Organs, eine Form der
Variabilität, welche entweder gar keine oder eine
regressive Richtung erkennen läßt, weil kein
Funktionsreiz und keine positive Selektion sie
mehr richten und „bei der Stange halten". Das
Bild verlockt zur Anwendung des Vergleichs mit
einer ohne rechte Ordnung weichenden Truppe.
Es ist denkbar, daß der Mangel einer positiven
Selektion allein schon eine gewisse Richtungs-
losigkeit der Variabilität mit sich bringt. Man
Noch eindringlicher sind die Beobachtungen
nicht meßbarer Art. Sie ergeben eine stark bi-
laterale Asymmetrie der Teile bei der Blindschleiche
mit Ausnahme des Schlüsselbeins, welches auch
bei ihr noch eine besondere funktionelle Bedeu-
tung hat. Und ebenso läßt sich eine starke
Asymmetrie bei der Erzschleiche gerade an den
hinteren Teilen des Sternalapparates feststellen,
welche zweifellos in ursächlichem Zusammenhang
steht mit der Reduktion der Pars posterior des
großen Brustmuskels.^) Bei der Eidechse fällt die
ziemlich straffe Symmetrie sogar extremer Vari-
anten auf.
Alles in allem scheint mir aus diesen Be-
obachtungen die gestaltende und richtende Be-
deutung des Funktionsreizes zu sprechen. Es
wäre Straußenpolitik, wenn man diese Bedeutung
ignorieren würde und als Gestaltungsursachen nur
irgendeine primäre Variabilität und die Selektion
betrachten wollte.
Die wesentlichste Absicht dieser Ausführungen
war, zu zeigen, wie die Begriffe, welche wir den
Vorgängen der Entwicklung zugrunde legen oder
— besser gesagt — welche wir auf diese Vor-
gänge projizieren, nirgends scharf begrenzbar sind,
sondern einander teilweise überdecken und inein-
andergreifen.
') Krieg, Beiträge zur Rudimentierungsfrage nach Be-
obachtungen an Anguis fragilis, Chalcides tridactylus und
Lacerta serpa. Arch. f. Entw.-Mech. XLV. Bd., 1919.
-) Natürlich sind in derartigem Smne nur Asymmetrien
zu erklären resp. auszuwerten, welche das Bild einer fluktu-
ierenden Variabilität zeigen. Vgl. Stieve: Bilaterale Asym-
metrien im Bau des menschlichen Rumpfskelettes. Zeitschr.
f. Anat. u. Entw. I. Abt., 60. Bd., Heft 1/2.
224
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i6
Die Vorgänge in der lebenden Natur laufen
zwangläufig auf allen Wegen, welche Milieu und
eigene Struktur in ihrer tausendfältigen Wechsel-
wirkung zulassen oder vorschreiben.
Die Gegenstände unserer Forschung richten
sich nicht nach unseren Mitteln der Erkenntnis.
Sondern unsere Erkenntnis rankt sich an ihnen
empor und durchdringt sie, soweit ihre Mittel
dazu ausreichen. Analogieschlüsse, Hypothesen,
Fiktionen bilden ihre vorläufigen Ergänzungen,
und diese können nur schrittweise durch exakte
Feststellungen ersetzt werden. — Dabei sind
F"ormulierungen mit klarer Alternative zwar didak-
tisch zweckmäßig und begrifflich leichter zu
handhaben als solche elastischer und unscharf
begrenzter Art. Sie werden deshalb leichter zum
Allgemeingut. Aber mehr als die anderen sind
sie Kunstprodukte.
Freilich können wir ohne scharf begrenzte
Begrifife und Vorstellungen nicht auskommen; die
Organisation unseres Denkorgans ist dazu nicht
fein genug. Aber wir müssen wenigstens diese
Kunstprodukte als solche erkennen und jede
Starrheit auf hypothetischem Gebiet zu vermeiden
suchen. Diese Tendenz scheint mir in der mo-
dernen Biologie glücklicherweise zu bestehen und
einen Ausdruck zu finden in der mehr quantita-
tiven und korrelativen Fassung der Arbeitshypo-
thesen in der Vererbungslehre, Konstitutionslehre,
Psychologie und Entwicklungsgeschichte.
Einzelberichte.
Eine neue Theorie der Elektroljtlösungen.
Vor rund einem halben Jahrhundert übertrug
van'tHoff die Gesetze des Gasdruckes auf die
osmotischen Erscheinungen. Er fand, daß die
Lösungen von Elektrolyten einen abnormen, meist
beträchtlich höheren Druck besitzen als die
Theorie verlangt. Für Elektrolytlösungen mußte
die bekannte Zustandsgieichung der Gase mit
dem berühmten Faktor i versehen in der F'orm
PV = iRT geschrieben werden. Arrhenius
sprach dann den Gedanken aus, daß Elektrolyte
in Lösung teilweise „dissoziieren", d. h. in „Ionen"
zerfallen. Die Anzahl der osmotisch wirksamen
Teilchen war damit vergrößert, und der Faktor i
bedeutete nicht mehr eine prinzipielle Einschrän-
kung der van t'Hoffschen Gesetze. Insbesondere
Ostwald hat in seinem Verdünnungsgesetz
dieser Theorie der elektrolytischen Dissoziation
zu ihrer heute allgemeinen Anerkennung ver-
holfen. Allerdings galt sein Verdünnungsgesetz
nur für schwache, also wenig dissoziierte Elektro-
lyte. Die starken, zu denen aber gerade einige
unserer wichtigsten Stoffe gehören, wie Schwefel-
und Salzsäure, viele anorganische Salze usw.,
fügten sich dem Gesetz ganz und gar nicht. Seit-
dem sind eine große Reihe von Versuchen ge-
macht worden, die „Anomalie der starken Elek-
trolyte" zu erklären. Auch die nachstehend wie-
dergegebene Arbeit geht von dieser Anomalie
aus, überwindet sie aber dadurch, daß sie zum
normalen Zustand und nun umgekehrt die ver-
dünnten Lösungen zu Sonderfällen gemacht werden.
Nach J. Chandra Ghosh') spaltet sich
jedes Salz bei der Auflösung in einem beliebigen
Lösungsmittel völlig in Ionen. Aber die Be-
weglichkeit dieser Ionen ist bedingt durch die
elektrischen Anziehungskräfte, die entgegengesetzt
geladene Ionen aufeinander ausüben. Infolge-
dessen können sich die Ionen nicht willkürlich
') Zeitschr. f. physikal. Chemie 98, S. 2Ii, 1921.
bewegen, sondern die Arbeit A, die zur völligen
Trennung eines Mols erforderlich ist und die mit
der Natur des Elektrolyten wechselt, bestimmt
die Beweglichkeit. Die Arbeit A ist mithin der
grundlegende Faktor der lonenbeweglichkeit und
damit also der osmotischen und verwandten Er-
scheinungen. Sie läßt sich als ein Potential im
Innern der Lösung auffassen und durch den
Ausdruck
A
nRT
e
darstellen. Andererseits kann man die absolute
Größe von A berechnen, wenn man die Größe
der Entfernung zwischen den Ionen eines jeden
Neutralteilchens, von Ghosh „Dublett" genannt,
kennt. Überträgt man die aus den Lau eschen
Röntgenphotogrammen gewonnenen Vorstellungen
auf die Lösungen, so ergibt sich als wahrschein-
lichste Anordnung der Ionen die eines würfel-
förmigen Raumgitters, dessen Ecken von ent-
gegengesetzt geladenen Ionen besetzt sind. Als-
dann aber ist die Entfernung r zwischen diesen
2N '
wobei N die Dublettenzahl , 2 N also die der
Ionen bedeutet. V ist das Volumen der Lösung,
in dem ein Mol gelöst ist. Die zur völligen
Trennung der Ionen zu leistende Arbeit ist nach
E^
bekanntem Gesetz ^i^ , wo E das Elementarquan-
Dr
tum, D die Dielektrizitätskonstante des Lösungs-
mittels ist. Nun sind N Dubletten vorhanden,
die zur Trennung aller Ionen nötige Arbeit A
ist mithin
A NE^
A = ^ •
Dr
Hierin sind nun alle Glieder auf der rechten Seite
zu errechnen, man bekommt also den gesuchten
A-Wert. Ohne weiteres ist zu ersehen, daß er
mit steigender Verdünnung sinkt und sich Null
f-
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
225
nähert, der Erfahrung entsprechend. Ganz analog
dieser Ableitung ist diejenige für ternäre Elektro-
lyte, wie CdCI., und andere.
Die Richtigkeit dieser Grundgleichung und da-
mit der gesamten Theorie läßt sich daran prüfen,
daß ihre Folgerungen mit der Erfahrung mög-
lichst quantitativ übereinstimmen. Eine Wieder-
gabe aller hierzu nötigen rechnerischen Ableitungen,
sowie ein Vergleich der gemessenen und be-
rechneten Werte verbietet sich hier. ..Wir be-
gnügen uns daher mit einer qualitativen Übersicht.
Das Gesetz von Ohm gilt bekanntlich auch
für Elektrolyte. Wir sahen bereits, daß A bei
unendlicher Verdünnung Null ist. Dann aber
leiten alle Ionen. Die molare Leitfähigkeit muß
also ihren höchsten Wert erreichen. Ein Ver-
gleich der dazwischenliegenden Werte der Leit-
fähigkeit bei endlichen Verdünnungen mit den
nachGhosh berechneten zeigt vorzügliche Über-
einstimmungen , so daß in der Tat die Grund-
gleichung allgemein gilt und die bei der bis-
herigen Form der Theorie auftretenden Ano-
malien in Wegfall komme'n. Ferner nimmt mit
steigender Temperatur die Dielektrizitätskonstante
des Wassers ab. Dementsprechend muß auch A
abnehmen. Gleichzeitig aber nimmt die kine-
tische Energie mit der Temperatur zu, was eine
Vergrößerung von A zur Folge haben muß. Die
Resultante aus beiden Einflüssen muß eine gelinde
Abnahme des Dissoziationsgrades mit wachsen-
der Temperatur sein, was die Messungen von
Noyes') in der Tat ergaben.
Nernst sprach zuerst den Gedanken aus, daß
die Dielektrizitätskonstante eines Lösungsmittels
sein Dissoziationsvermögen bedinge. Nach der
Grundgleichung ist in der Tat die Dielektrizitäts-
konstante die einzige Eigenschaft des Lösungs-
mittels, die den Wert von A, also die Dis-
soziationsgröße bestimmt. Wiederum zeigt sich
beste Übereinstimmung zwischen Erfahrung und
JVIessung. Gleichzeitig aber konnte gefolgert
werden, was auch von anderer Seite schon ge-
schehen ist, daß ein anscheinend binärer Elektrolyt
wie Tetraäthylammoniumjodid N(C2H5)jJ sich zu-
nächst zum Doppelmolekül polymerisierl und dann
nach dem Schema
[N(CH,)J], = 2N(C,H,)/ + J,'
dissoziiert.
Endlich gestattet die neue Theorie eine Ab-
leitung für das oben erwähnte Verdünnungsgesetz
O s t w a 1 d s. Nach diesem gilt für schwache
Elektrolyte die Gleichung
(I — a)V
Hierin ist ß der dissoziierte Anteil, (i — «) also
das Nichtdissoziierte, V die Verdünnung. Nach
Ghosh hat man nun für schwache Elektrolyte
ein Gleichgewicht zwischen einer nichtpolaren,
undissoziierbaren Form des Elektrolyten (das sog.
') Zeitschr. f. pbysikal. Chemie 46, S. 323, 1903.
Dublett) und einer polaren, völlig dissoziierten
Form anzunehmen. Zwar bleibt dann in Ost-
walds Gleichung (i — «) bestehen, denn es be-
deutet nunmehr die Konzentration der nichtpolaren
Form. Dagegen tritt zu ic ein Koeffizient x, der
den Dissoziationsgrad, besser den „Aktivitätskoef-
fizienten" der völlig dissoziierten Ionen bei der
V.erdünnung V ausdrückt. Die Gleichung für das Ver-
dünnungsgesetz wird also nunmehr: . ^ r^^is..
Für sehr schwache Säuren ist x, also auch ^ sehr
klein, kann also vernachlässigt werden, so daß a
für alle Verdünnungen fast gleich i wird, was
Übereinstimmung mit der Ostwald sehen Form
des Gesetzes bedeutet. Für mittlere und starke
Elektrolyte aber ist der Faktor x zu berück-
sichtigen. Wiederum muß gesagt werden, daß
Ghosh eine Rechnung gelingt, die wirklich auch
für stärkste Säuren K-Werte ergibt. Damit ist
denn zum ersten Male die sog. Anomalie der
starken Elektrolyte dem allgemeinen Prinzip der
Dissoziationstheorie untergeordnet worden.
Wenn, was wahrscheinlich genannt werden
muß, die hypothetische Voraussetzung der ange-
deuteten Theorie, nämlich die durch den Wert A
ausgedrückten Verhältnisse experimentell erhärtet
werden können, so stellen die Ausführungen von
Ghosh in der Tat einen bedeutenden Fortschritt
in der Theorie der elektrolytischen Dissoziation
dar. H. Heller.
Parasiten in Bakterien?
Der französische Bakteriologe F. d'Herelle
hat im Jahre 1917 in den Compt. rend. de la
societe des sciences (lO, XI) erstmalig Mitteilung
von ganz merkwürdigen Beobachtungen gemacht,
die weiterhin fortgesetzt und auch neuerdings im
Institut für Infektionskrankheiten zu Berlin mit
dem Erfolg nachgeprüft worden sind, daß an den
wesentlichsten Tatsachen, so eigenartig sie auch
zu sein schienen, kaum noch gezweifelt werden
kann. Obwohl sich naturgemäß hauptsächlich
die medizinische Bakteriologie für die Entdeckungen
d' Her eil es interessiert, haben sie doch eine all-
gemein naturwissenschaftliche Bedeutung, so daß
sich ein kurzer Bericht rechtfertigen würde. Wir
schließen ihn an eine Darstellung, die d'Herelle
selber in der Presse medicale (Nr. 47, 1921) ge-
liefert hat, und die ausführlich in der Zeitschrift
für ärztliche Fortbildung (18. Jahrg., Nr. 23, 1921)
wiedergegeben ist. Die Beobachtungen wurden
an Ruhrbazillen gemacht. Die Ausleerungen
eines Ruhrkranken wurden in Bouillon aufge-
schwemmt, worauf diese Emulsion durch ein
bakteriendichtes Filter (und zwar eine Porzellan-
kerze) filtriert wurde. Von diesem Filtrat wurden
10 Tropfen einer dicht durchwachsenen Rein-
kultur des Ruhrbazillus in Bouillon hinzugesetzt.
Nach 12 Stunden war diese vorher naturgemäß
stark getrübte Kulturflüssigkeit vollständig klar
226
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i6
geworden, alle darin befindlichen Bakterien waren
vollständig zerfallen und aufgelöst. Das wäre
nach dem, was man von spezifischen Bakterien-
lysinen weiß, noch nicht wunderbar. Merkwürdig
ist nun aber das folgende. Wird ein Tropfen
dieser aufgelösten Kultur einer neuen Ruhrbazillen-
kultur hinzugesetzt, so wird diese ebenso wie
jene klar, d. h. die Bakterien werden in ihr auf-
gelöst. Impft man von dieser Flüssigkeit wieder
eine Spur in eine neue Kultur, so wird sie eben-
falls klar, und diese Überimpfung kann man von
Gläschen zu Gläschen mit immer gleichem Er-
folge fortsetzen. Diese unbegrenzte Weiterimpf-
barkeit schließt den Gedanken aus, daß etwa die
ursprüngliche Impfmenge noch nachwirke, man
muß vielmehr annehmen, daß das lytisch wirkende
Agens sich vermehrt hat. Vermehrungsfähigkeit
ist bislang nur lebenden Organismen zugeschrieben,
und d' Her eile zögert denn auch nicht, als Ur-
sache der Auflösung der Ruhrbazillen ein Klein-
lebewesen anzusprechen, das, da es durch ein
Porzellanfilter hindurchgeht, zu den uliravisiblen
Mikroben gehören müsse. Ein unsichtbarer Parasit
befällt die Ruhrbazillen und vernichtet sie. Die
Wirkung des von d' Her eile als bakteriophages
Virus bezeichneten Impfstoffes zeigt sich auch auf
Plattenkulturen. Wird auf einer Ägarplatte etwas
Flüssigkeit aus einer Ruhrbazillenkultur ausge-
strichen, so entsteht der übliche dichte Bakterien-
rasen. Wird aber der Reinkultur etwas von dem
lytischen Agens hinzugefügt, und werden dann
von ihr in gewissen Zeitabständen Plattenausstriche
gemacht, so zeigen sich von einem bestimmten
Alter der infizierten Ausgangskultur an die Aus-
striche als von leeren Flecken durchsetzt, und
schließlich ergibt ein Ausstrich überhaupt keine
Rasen mehr. Die leeren Flecke sollen nun nach
d' Herelle Kolonien des Bakterienfressers sein,
die mit dem Ausstrich hierher gepflanzt sich ver-
mehrten und die Bakterien aufzehrten. Diese
erstaunliche Wirkung soll sich nicht nur den Ruhr-
bazillen gegenüber zeigen, sondern gegenüber
zahlreichen anderen Bakterien, z. B. Typhus-,
Paratyphus-, Pestbakterien u. a. Das Virus soll
sich im Darm sehr verschiedener Tiere, vom Men-
schen bis zur Seidenraupe, finden. Es ist ein
obligater Parasit. Denn wenn das Filtrat in un-
bewachsene Bouillonröhrch'en sukzessive übertragen
wird, so nimmt seine Wirkung sehr schnell ab.
Auch müssen die Bakterien, die das Virus ver-
nichtet, lebend sein, tote Bazillenaufschwemmungen
werden nicht aufgelöst. Eine Vermehrung des
Virus findet also nur in Berührung mit lebenden
Bakterien statt. Nun weisen aber spätere Be-
funde, wie wir einem Sammelbericht von U. Friede-
mann in den „Naturwissenschaften" (S. 1012,
9. Jahrg., 192 1) entnehmen, auch auf andere Er-
klärungsmöglichkeiten hin. Das Virus soll ein
fermentartiger Körper sein. Es soll nämlich ziem-
lich resistent gegen Erwärmung und Antiseptica
sein, und Bordct und Mitarbeiter fanden, daß auch
in der vorher doch sterilen Bauchhöhle eines Ver-
suchstieres sich dann ein wie oben vermehrungs-
fähiges Virus entwickelte, wenn vorher Kolibazilien
eingespritzt worden waren. Bord et stellt sich
demgemäß die Vorgänge folgendermaßen vor.
Das Tier scheidet, wie das ja durch andere Be-
obachtungen längst erwiesen ist, ein gegen die
eingeführten Bakterien gerichtetes spezifisches
Vernichtungsmittel ab, eine Art Ferment. Dieses
aber veranlaßt im Kontakt mit lebenden Bakterien
diese letzteren zur Produktion des gleichen Fer-
mentes, so daß dessen Menge immer wieder an-
wächst. Es sollen nämlich immer einzelne Indi-
viduen dem Auflösungsprozeß entgehen, da sie
gegen das Ferment immun geworden sind, gleich-
wohl aber in der induzierten F'ermentproduktion
fortfahren. Sobald solche Trotzer der Bakterien-
aufschwemmung zugefügt werden, lösen sie diese
auf. Man kann nicht sagen, daß dadurch der
Vorgang völlig klar wird, ebensowenig wie man
die Auffassung d'Herelles selber schon als be-
friedigend ansehen kann. Miehe.
Zur Relativitätstheorie.
Einstein gründet seine etwas kühnen Ideen
über die Abhängigkeit der Zeit von der Be-
wegung im Räume bekanntlich auf angebliche
Widersprüche in den optischen Experimenten,
die mit dem Vorhandensein eines substanüellen
Äthers unvereinbar sein und die Relativität von
Raum und Zeit zur „unabweisbaren Konsequenz"
haben sollen. Demgegenüber weist der bekannte
Optiker Prof. Strehl in Hof im Anschluß an die
auch von mir vertretene Ätherwirbeltheorie in
der „Zentralzeitung für Optik und Mechanik"
(42. Jg., S. 377) darauf hin, daß die optischen
Versuche sich offenbar gar nicht widersprechen,
wie allgemein behauptet wird, sondern sich viel-
mehr zu einem klaren Bilde vom Bewegungszu-
stande des Äthers ergänzen. Strehl schreibt:
„Der Äther im Weltenraum als Ganzes ruht
(Aberration der Fixsterne). — Bewegte Sonnen
(spektroskopische Doppelsterne) und Planeten
(Mich elson) nehmen den Oberflächenäther mit
(die Wellenlänge bleibt invariant; die Lichtge-
schwindigkeit in bezug auf den mitbewegten
Äther c, in bezug auf den ruhenden Raum c-j-a;
beim Übergang in den ruhenden Weltäther ändert
sich die Wellenlänge und wird die Lichtge-
schwindigkeit c). — Bewegtes Gas, Wasser u. dgl.
nehmen den Zwischenäther verzögert mit (Fizeau).
— Bewegte Luft oder leere Zwischenräume nehmen
den Äther gar nicht mit (Sagnac, d. i. Versuch
mit kreisförmigem Lichtweg und schneller Rotation);
bewegte irdische Lichtquellen nur in ganz dünner
Schicht (vgl. spektr. Doppclsterne). Vermögen
diese annehmbaren Vorschläge das Rätsel nicht
zu lösen?" Die angeblichen Widersprüche in den
optischen Versuchen, auf denen Einstein seine
selbst in sich höchst widerspruchsvolle Theorie
aufgebaut hat, existieren offenbar nur in der
Phantasie einiger Theoretiker. Bei der lebhaften
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
227
Diskussion über Einsteins Theorie scheint mir
dieser Punkt viel wichtiger als die philosophischen
Streitigkeiten über relativ und absolut, die mit
den Experimenten nur in einem sehr lockeren
Zusammenhange stehen und von Einstein sozu-
sagen an den Haaren herbeigezogen sind.
Fricke.
Zum psyclio-inkretorischen Parallelisinus.
Im folgenden sei über zwei Mitteilungen be-
richtet, die beide auf einen Zusammenhang
zwischen Psyche und Inkretion eingehen, wenn
auch der Ausgangspunkt der in den beiden Ar-
beiten geschilderten Untersuchungen ein ver-
schiedener ist.
Der Verf. der vortrefflichen Einführung in
„Die innere Sekretion" (Springer, 1921) A. Weil
teilt in der Deutschen medizinischen Wochen-
schrift (Nr. 6, 48. Jahrg., 1922) über die Be-
ziehung zwischen Geschlechtstrieb und
innerer Sekretion neue Beobachtungen mit.
Aus den bisherigen klinischen Erfahrungen ist
zu ersehen, daß ein auffälliger Zusammenhang
zwischen den Keimdrüsen und den Körperpro-
portionen besteht. Zunächst ist für Eunuchoide,
also für solche Menschen, deren Keimdrüsen unter-
entwickelt sind und nur geringen inkretorischen
Einfluß auf den Körper ausüben. Hochwuchs
charakteristisch. Vor allem aber weichen die
Körperproportionen von solchen normaler Per-
sonen ab. Während in der Regel das Verhältnis
von Ober- zu Unterlänge 100:100 (bei Frauen
100:96) ist, besteht bei Eunuchen oder Eunucho-
iden das Verhältnis von etwa 100: 125. Hier
scheinen die wachstumfördernden Drüsen (Schild-
drüse, Hypophysis, Thymus) besonders stark ent-
wickelt zu sein; sie wirken zugleich hemmend
auf die Ausbildung der Keimdrü-^en, die ihrer-
seits nur einen mangelhaften Einfluß auf die Ent-
wicklung der sekundären Geschlechtscharaktere
ausüben können. Weil teilt zwei Fälle mit, die
die bisherigen Erfahrungen erneut bestätigen. Es
handelt sich um einen weiblichen Eunuchen und
einen männlichen Eunuchoiden. Weil ging bei
seinen Untersuchungen vor allem auf den psy-
chischen Zustand der Personen ein und stellte
fest, daß in dem einen Fall jeder Geschlechtstrieb
fehlte, im anderen Fall nur schwache sexuelle
Empfindungen vorübergehend vorhanden waren.
Im ersten Fall waren die Längenproportionen
100:121, im zweiten Fall 100:112. Diese neuen
Feststellungen bestärken Weil in der Ansicht,
daß aus d en Körperproport ionen aufdie
Stärke und Richtung des Geschlechts-
triebes zu schließen sei und daß ein Längen-
verhältnis über 100:105 hinaus stets mit einem
von der Norm abweichenden Geschlechtstrieb ver-
bunden sei. Die Hirschf eldsche Anschauung
vom psycho - inkretorischen Parallelismus findet
also hier eine erneute Bestätigung. Abgesehen
vom Geschlechtstrieb, handelte es sich in den
beiden vorliegenden Fällen um vollkommen nor-
male Charaktere.
Über den Zusammenhang zwischen psychi-
schen Erkrankungen und Inkretion teilen
A. P'auser und E. Heddaeus Befunde in der
Klinischen Wochenschrift mit (Nr. 8, i. Jahrg.,
1922), Sie untersuchten bei 25 Geisteskranken
die endokrinen Drüsen histologisch. Dabei
stellten sie häufig strumöse Entartung der Schild-
drüse fest, ferner Altersveränderungen an der
Nebenniere und schließlich Basophilie des Vorder-
lappens der Hypophysis. Dagegen waren Keim-
drüsen, Thymus und Epiphysis stets unverändert.
Die Verf vermuten, daß neben den (verhältnis-
mäßig wenigen) histologischen Veränderungen
„chemisch-physikalische Zustandsände-
rungen" in Betracht kommen. Es würden sich
aus diesen ursprünglichen Veränderungen die be-
obachteten histologischen Abweichungen erst
später entwickeln. Vorerst sind aber umfassendere
Untersuchungen abzuwarten. Gust. Zeuner.
Die Bedeutung der Linaceen
für die Systematik.
Hall i er gehört zu den besten Kennern des
Pflanzensystems; manche seiner Reformideen haben
sich schon Anerkennung errungen, viele werden
sich noch Bahn brechen. Wie die meisten seiner
Arbeiten, so ist auch die kürzlich erschienene
über die Linaceen ^) nicht zu „lesen", sie muß
langsam studiert und verarbeitet werden , da sie
mit einer Fülle von Einzelangaben geladen ist.
Dadurch, daß die madagassische Gattung Astcro-
pcia trotz ihrer in jedem Fruchtknotenfach noch
zahlreichen Samenanlagen von den Ternstroemia-
cccn zu den Linaceen, als nahe Verwandte der
H//goiueeii-Ga.\.\ux\^cn Diirandea und PJiilboriiea,
versetzt wird, fällt ein einschränkendes Unter-
scheidungsmerkmal der letzten F"ami!ie weg: daß
die Zahl der Samenanlagen in jedem Fruchtknoten-
fach höchstens 2 beträgt. Durch diese Verände-
rung des Familiencharakters wird es möglich und
durch andere Merkmale notwendig, noch zahl-
reiche andere Gattungen und Familien zu den
Linaceen zu versetzen, darunter 6.\t Ancisfrocladiis
eng verwandten Symploeaceeii und die Brexieeii.
Daraus ergibt sich die Anschauung, daß viel mehr
Familien als bisher auf ausgestorbene Linaceoi
zurückzuführen sind, z. B. Violaceen, Flacourtia-
ceen , R/ianinaceen, Ampelidaceen, Columniferen
(-j- Dipterocarfaceeii und Enplwrbiaceen) , Thy-
melaeineen (+ Gonostylaceen) , Myrtinen^ Poly-
galinen (-\- Llalpighiaceeu und Clirysobalaiiaceen),
Giiitalcn (-f- Nepeiithalcn. Ebenaceeu, Caryocara-
eceii, Ciinon'taceeii, Rhizopltoraceeii)^ Pritnulinen,
Biconics, Santalalen (-(- Styracaceen, Celastralen,
Umbellifloren), Sapotaceen, Tubiflorcn (-{- Con-
torteii, Rubiaceeii, Personateit), Caprialeii, Loasa-
') Hans Hallier, Beiträge zur Kenntnis der Linaceen
(DC. 1819) Dumort. (Beihefte z. Botan. CentralbiaU, Bd. 39,
2. Abt., 1921, 178 S.)
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i6
ceen, Campamdaten , Caryophyllinen usw. Die
Linaceen sind danach ein „genetisches
Explosionszentru m", aus dem sich zahlreiche
Familien und Reihen der Dikotylen nach allen
Seiten entwickelt haben. Dieses Ergebnis be-
deutet eine Fortführung der Ansichten, die Hallier
schon in seinem Buch über Jidiania (1908) ge-
äußert hatte. Ein Eingehen auf weitere Einzel-
heiten der Arbeit wird durch ihre konzentrierte
Tatsachenhäufung unmöglich gemacht. Erwähnt
sei nur, daß einer großen Reihe von Gattungen
und Familien „incertae sedis" ihr Platz ange-
wiesen, und daß die Verbreitung von Alaun bei
den Dikotylen in weitgehendem Umfange festge-
stellt wird. Sieben neue Gattungen, eine Anzahl
neuer Sektionen und Arten werden aufgestellt. —
Über einige sprachliche Auseinandersetzungen
kann ich kein Urteil lallen. Aber wenn auch
diese Ausführungen ebenso wie einige gelegent-
liche über Nebenwirkungen bei der Befruchtung,
die mit dem Hauptthema nur in ganz losem Zu-
sammenhange stehen, den Sachverständigen un-
annehmbar erschienen , würde man dem großen
systematischen Hauptthema nicht gerecht werden,
wenn man seine Beurteilung von diesen Dingen
beeinflussen lassen wollte.
Eine allgemeinere Bemerkung sei hier noch
gestattet. An mehreren, für meinen Geschmack
etwas zu persönlich gehaltenen Stellen der Schrift
erkennt man den Gegensatz zwischen dem Verf.
und Engler samt seiner Schule. Hallier ist
gewiß manchmal auch von seinen Gegnern nicht
allzu sanft angefaßt worden; aber er ist so ver-
dient um seine Wissenschaft, daß er Empfindlich-
keit nicht nötig hat. Für das sachliche Verhalten
der Berliner Systematiker Schule, besonders ihres
Hauptes Engler, kann man doch gewisse psycho-
logische Gründe gelten lassen: Englers zahl-
reiche systematische und pflanzengeographische,
von den Botanikern der ganzen Welt benutzte
Arbeiten sind auf das von ihm ausgebaute
Eichlersche System gegründet, so daß ein vom
wissenschaftlichen Standpunkt aus vielleicht etwas
starr erscheinendes Festhalten an diesem System
vom praktischen Gesichtspunkt gerechtfertigt er-
scheint. Wenn jetzt in den nächsten Jahren die
„Natürlichen Pflanzenfamilien" neu aufgelegt wer-
den, könnte man freilich den Zeitpunkt für ge-
kommen halten, die wissenschaftlichen Motive vor
die praktischen zu stellen. Aber ich halte es doch
für fraglich, ob selbst Hallier es unternehmen
könnte, für ein solches Handbuch der Systematik
ein neues, bis ins einzelne ausgeführtes Schema
zu entwerfen, das die Zustimmung der Mehrzahl
der Systematiker fände. Dazu sind die meisten
Fragen noch zu sehr im Fluß. Auch schei-
nen sich die Grenzen der großen Gruppen der
Angiospermen durch Hai Hers Untersuchungen
so zu verwischen, daß das Halliersche System
einem praktischen Handbuch der Angiospermen-
systematik nur schwer zugrunde gelegt werden
kann. Was man verlangen könnte und müßte,
wäre, daß in den Abschnitten über die verwandt-
schaftlichen Verhältnisse d^r Familien und un-
sicheren Gattungen die vom Eichler-Engler-
schen System abweichenden Anschauungen mit
den für sie vorgebrachten Gründen ausführlich
dargestellt würden. Damit wäre beiden Stand-
punkten so Genüge geschehen, wie es bei der
heute noch herrschenden Meinungsverschiedenheit
in außerordentlich zahlreichen systematischen
Fragen möglich ist. Auch wäre es sehr erwünscht,
daß in den allgemeinen Beschreibungen der Fa-
milien die Knospenlage der Blätter, der Bau der
Pollenkörner und Samenschalen und, einer von
Warming 1913 gegebenen Anregung gemäß,
Stellung und Bau der Samenanlagen noch mehr
als in der i. Auflage berücksichtigt würden;
ebenso die in den Pflanzen enthaltenen, systema-
tisch oft wohl nicht bedeutungslosen, chemischen
Stoffe. Hubert Winkler.
BücherbesprechungcD.
Abel, O., Lebensbilder aus der Tierwelt
der Vorzeit. 643 S. -507 Abb. i färb. Titel-
bild. Jena 1922, G. Fischer. Geh. 120 M.,
geb. 150 M.
Dem z. Z. wohl fruchtbarsten paläontologischen
Autor verdanken wir abermals ein umfangreiches
Werk von eigenartigem Gepräge. Den toten und
oft für einen ungeübten Blick kaum als solche
erkennbaren Zeugen vorweltlicher Organismen
den Odem des Lebens einzuhauchen, statt sie in
den Schubfächern eines klassifizierenden Schemas
vollends erstarren und verstauben zu lassen, ist
dem Schöpfer des Paläobiologischen Lehrapparats
in Wien eine ausgesprochene Lebensaufgabe. Alle
Deutung geht über die Grenzen des bloßen Be-
obachtens hinaus und so ist wohlverstandene Natur-
wissenschaft ohne Mitarbeit schöpferischer Phan-
tasie nicht möglich, berührt sich also bei anderer
Erfahrungsgrundlage und abweichender Schwer-
gewichtslage mit dichterischem Schaffen. Darum
wird die Grenze wahrer Wissenschaft oft so un-
versehens überschritten.
Warum den Verf seine Neigungen in solche
Grenzregionen der Paläontologie geführt haben,
geht aus der neuen Schöpfung noch klarer her-
vor: Hier kommt neben dem verdienten viel-
seitigen F'orscher der Künstler zu Worte. Die
Grenze aber bleibt unverwischt. Schon in den
früheren Werken fiel die große F"ül!e selbstge-
fertigter Zeichnungen von Knochenfunden und
Skelettrekonstruktionen auf Auch diesmal ist die
Mehrzahl der reichlichst beigegebenen Illustrationen
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
ii^
eigenhändige Beigabe, z. T. aus älteren Arbeiten
wiedergegeben. Dabei ist nun aber erstmals nicht
nur zeichnerische Technik, sondern auch künstle-
rische Gestaltungskraft in den Dienst der Wissen-
schaft gestellt. Aquarelle bzw. Schwarzdruck-
wiedergaben solcher gereichen dem Buch zur
Zierde. (Besonders hervorheben möchte ich
Komposition und Ausführung der Bilder eines
miozänen Sumpfwaldes in Österreich und eines
Steppenbrandes im pliozänen Attika.)
Solche Veranschaulichungen unterstützen text-
liche z. T. poetisierende Darstellungen vorzeitlicher
Landschaften und ihrer Bewohnerschaft, mit denen
mehrere Kapitel abschließen. Wendet sich der-
artige Verlebendigung erstorbener Zeiten aber an
die Empfänglichkeit weiterer Kreise, so kann das
Buch doch keineswegs populär genannt werden.
Denn dem synthetischen Schlußbilde geht stets
eingehendste Analyse der geologischen und palä-
ontologischen Befunde voran, die nur dem ge-
übteren Leser zugänglich ist, die aber den eigent-
lichen Kern und Wert des Buches ausmacht.
Mit glücklichem Griff hat Verf. in der Erd-
geschichte rückwärts schreitend eine Zahl be-
sonders günstiger Fossilfundorte oder -gebiete
herausgegriffen, deren Durchforschungsstand ihm
ein tieferes Eindringen in die Lebensumstände und
Lebensäußerungen der betreffenden Periode ge-
stattet. (Niederösterreichische prähistorische Löß-
station, attisches Unterpliozän der Pikermifauna,
Mittelmiozänmeer des Wiener Beckens, Eocän
der nordamerikanischen Bridger-beds, nordameri-
kanisches jüngeres Kreidemeer, dinosaurierführen-
der Wälderton der belgischen Unterkreide, Dino-
saurierfundstätten Nordamerikas und Deutsch-Ost-
afrikas, Oberjura-Strandablagerungen der Soln-
hofener lithographischen Plaitenkalke, Württem-
bergische Ölschiefer, südafrikanische Wirbeltier-
fauna der Permzeit.) Aus der fossilen Tierwelt
besaßen wir derartige Versuche nur vereinzelt,
während die Kohlenablagerungen gelegentlich in
ähnlicher Weise durch Wort und Bild schon aus-
gedeutet worden waren.
Die morphologische und biologische Bewertung
der Funde und Fundumstände ist in behaglicher
Breite gehalten und wiederholt verständlicherweise
vieles aus früheren Darstellungen des Verf. Sie
enthält aber doch so viel neue treffliche Be-
obachtungen und Gedanken, daß keineswegs etwa
nur von neuem Gewände die Rede sein kann.
Das verarbeitete literarische und Tatsachenmaterial
ist bewundernswert. Exkurse in andere ähnliche
Fundgebiete oder zu verwandten Tiergruppen,
auch aus der Gegenwart finden sich reichlich
eingestreut, drohen zuweilen fast den eigentlichen
Stoff zu sprengen. Auch in der bildlichen Aus-
schmückung herrscht ähnliche Weitherzigkeit.
Daß die Deutung ins Dickicht der Probleme
mehr als einen gangbar scheinenden Weg schlagen
kann, ist nicht verwunderlich. In mancher Einzel-
heit wird der akademische Leser andere Richtungen
vorschlagen und aussichtsreicher finden können. Es
sei hier darauf nicht näher eingegangen. Ein
Prinzip aber geht einheitlich durch alle Versuche:
Die begriffliche Unterscheidung von Lebens-,
Sterbe- und Einbettungsraum , deren nur mög-
liches Zusammenfallen nie von vornherein einfach
vorausgesetzt werden darf.
Es besteht kein Zweifel, daß Methode wie Er-
gebnisse neue fruchtbare Anregungen ausstreuen
werden. Edw. Hennig.
Oskar Paret, Urgeschichte Württem-
bergs. 226 S., 49 Abb., 4 Taf. , 2 Karten.
Stuttgart 1921, Strecker u. Schroeder. Geh.
22 M., geb. 30 M.
Wir sind wieder einmal aus der Außenwelt
zurückgeworfen in grausamst beschnittene Heimat-
grenzen. Sie sind noch stets der Mutterboden ge-
wesen, der zu neuem Aufstieg Kraft verlieh! Deut-
scheste Art ist es, in der tiefsten längsten kalten
Winternacht das Fest des Lichts und der Behag-
lichkeit zu feiern. So ist denn auch allenthalben ein
eifriges Ringen und Werden zu spüren , das uns
vorerst einmal wieder die zweite, die innere Welt
erschließt. Im Pcndelgang zwischen beiden um-
faßt das deutsche Volk vielseitigere Lebenswerte
als irgendein anderes. Beide Welten sind uns
vertraut und wert.
Die geistige Neueinstellung kommt naturgemäß
auch der engsten Nachbarschaft und somit in
besonderem Maße der Heimatforschung zugute.
Der Südwestwinkel unseres Vaterlandes regt vor
allem dazu an. Uralte Kultur führt nicht allein
bis ins Altertum zurück und hat fast jedem F"lecken
irgendein Mal aufgedrückt. Nein der liebevollst
durchforschte Boden führt uns von historischen
zu archäologischen, von ihnen weiter zu prähisto-
rischen Funden in ganz ungewohnt alte Zeiten.
Ohne große Lücken schließt sich hier Geschehen
an Geschehen, Volk an Volk noch weit, weit über
jene Zeiten hinaus, in denen vor rund 6000 Jahren
im alten Ägypten die eigentliche „Geschichte"
der Miitelmeervölker beginnt.
Zurzeit des trojanischen Krieges ist hier soeben
schon die Jahrtausende alte Pfahlbaukultur be-
endet, die noch jüngst in oberschwäbischen Torf-
lagern so wunderbare Zeugnisse offenbarte. Aus
allen Himmelsrichtungen waren bereits Wander-
züge immer neuer Völkerscharen durch württem-
bergisches Land gekommen, jede mit andersartigen
Lebensformen, aus deren vergrabenen Spuren wir
eben jetzt jene ferne, aller schriftlichen oder münd-
lichen Überlieferung bare Zeit wieder auferstehen
lassen können. Einen schier undurchdringlichen
Vorhang haben entsprechend ausgebaute Methoden
der Wissenschaft fortzuziehen vermocht und lebens-
vollste, mannigfaltigste Bilder spielen sich vor
uns ab.
Weiter und weiter sehen wir uns zurückgeführt
in ursprünglichstes Leben einfacher Naturvölker.
Sechs- bis siebenmal so weit rückwärts, wie die
Gegenwart sich vom Beginn unserer Zeitrechnung
230
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i6
vorwärts eiufernt hat, stehen wir am Lager der
Rentierjäger an der Schussenquelle, nächst benach-
bart jenen späteren Pfahlbauten. Klima, Pflanzen-
und Tierwelt, auch der Mensch selbst in seiner Ge-
staltung erscheinen uns fremdartig: Zieht sich
doch eben erst die mächtige Inlandeisdecke in
ihre Ausgangsgebiete zurück. Einige weitere
tausend Jahre früher, unmittelbar im Anschluß an
die letzte große Vereisung wird uns eine geradezu
unbegreifliche Kunstblüte zum wahren Erlebnis,
die in unserem Gebiete freilich nur sehr spärliche
Spuren hinterlassen hat.
Und immer noch ferner, in die volle Eiszeit
hinein führen uns älteste, vereinzelte und doch
so ungeheuer eindringlich sprechende Funde zu-
rück zu ungeschlachten Höhlenbewohnern und
ihrer Hände Werk. Nehmen wir noch das unterste
Neckargebiet (Mauer) hinzu, so fällt in den Rahmen
der früheste Fund aller sicher echten Menschen auf
der Erde , der vor mehr als einer Eiszeit lebte
und schon nicht mehr prähistorisches, sondern
bereits paläontologisches Objekt genannt werden
muß.
Wen könnte solche Aufhellung urheimatlichen
Dunkels unberührflassen! „Rulaman" und „Kuning
Hartfest" waren einst erste prächtige Entwürfe
zu dem gigantischen Gemälde, das Jahrzehn-
tausende überspannte. Die Forschung hat seither
nicht gerastet und an dem Entwurf begreiflicher-
weise manches durchgreifend zu ändern gehabt.
Jetzt bietet Paret (vom Museum vaterländischer
Altertümer in Stuttgart) eine auf der Höhe des
Augenblicks stehende Behandlung des schönen
Stoffes dar. Sie konnte in der Form kaum glück-
licher ausfallen. Aus einem Gusse, lebensvoll,
weil liebevoll, gemeinverständlich atmet sie doch
in jedem Worte ernsthafteste Wissenschaft selbst
wo sie sich einmal zu dichterischer Erzählungs-
form fortreißen läßt. Mit bemerkenswerter Fertig-
keit sind bis auf wenige Lichtbildwiedergaben alle
buchschmückenden Beigaben von eigener Hand
des Verfassers.
Ur-, Früh- und auch Vorgeschichte erscheinen
noch immer als begrifflich gleichbedeutend. Es ist
bedauerlich, daß noch keine einheitliche Abgrenzung
sich hat durchsetzen können. Das Buch legt den
Hauptakzent auf die Frühgeschichte. Schon die
jüngere Steinzeit erscheint zwar in all ihrer
Mannigfaltigkeit, wird aber doch wesentlich weni-
ger eingehend geschildert. Vollends vermißt man
eine Behandlung der älteren so gut wie ganz.
Und doch hat gerade Württemberg für ihr Ver-
ständnis und ihre Eingliederung in die Strati-
graphie des Diluviums allerbedeutsamste Befunde
gezeitigt. Weitaus am eingehendsten ist die uns
fremdeste, wenn auch höchste der für Deutschland
urgeschichtlichen Kulturen, die römische berück-
sichtigt, freilich durchaus unter heimatlichem Ge-
sichtswinkel, in ihren Beziehungen zur keltisch ger-
manischen Welt und in der gegenseitigen Durch-
dringung aller dieser F'aktoren. Die Darstellung
greift weiter bis ins 8. nachchristliche Jahrhundert
hinauf, wo füglich von „Urgeschichte" kaum mehr
die Rede sein sollte, wenn auch noch immer
archäologische Methoden den Hauptanteil an der
Aufhellung jener Zeiten zu tragen haben. Es
scheint somit der Titel des Werks den darum
nicht minder begrüßenswerten Inhalt nicht in
seinem Umfange wiederzugeben.
Wenn besonders das mittlere Neckarland als
Paradigma der Kulturabwicklungen gewählt ist,
andere Landesteile mehr vergleichsweise gestreift
werden, so ist darin eine weise Beschränkung zu
erblicken. Die Gefahr, im Allzuviel des Stofflichen
zu ersticken, ist so aufs glücklichste vermieden.
Ein großer Teil der tatsächlichen Angaben ist
obendrein in den ausführlichen Anhang verwiesen,
wo er übersichtlicher zur Geltung kommt und
den textlichen Fluß der Berichterstattung nicht
sprengt.
Das Buch gehört zu denen, die sich den Pfad
aus eigener Kraft bahnen. Möchte ihm reichste
Anregung entströmen und Mitarbeiter im ganzen
Volke erwachsen, auch zugunsten der staatlichen
Sammlungen (Stuttgart, Tübingen), aus denen
dann der Rohstoff so verarbeitet der Allgemein-
heit wieder zufließen soll. Edw. Hennig.
Lenard, P., ÜberÄtherundUräther. 56 S.
Leipzig 192 1, S. Hirzel. Geh. 9 M.
Die zuerst 1920 in Starks Jahrbuch erschie-
nene Arbeit, die hier wesentlich erweitert in Buch-
form erschienen ist, bedeutet auf dem Wege zur
Klarstellung der physikalischen Grundlagen der
sog. „Relativitätstheorie" einen großen Fortschritt.
Denn hier stellt sich einer der ersten Vertreter
der Physik durchaus auf den Boden der Äther-
theorie und verwirft nicht nur die allgemeine,
sondern — was praktisch viel wichtiger ist —
die ursprüngliche, spezielle Theorie Einsteins.
Er zeigt, daß die angeblichen Erfolge Einsteins
auf dem Gebiete der Kathodenstrahlenbahnen,
der Feinstruktur der Spektrallinien, der Trägheit
der Energie, der Lichtablenkung im Schwerefeld
und der Merkurperihelbewegung, sämtlich auch
aus einer substantiellen Äthertheorie abzuleiten
sind. Einsteins Theorie ist eigentlich nur für
Mathematiker von Fach eingerichtet und Lenard
sagt mit Recht: „es wäre erstaunlich, daß all die
anderen Menschen dazu bestimmt sein sollten
beiseite zu stehen, wenn es um das Begreifen der
Natur sich handelt, wie Mißgeburten, unverschuldet
in eine Welt gesetzt, von der sie nicht einmal
Raum und Zeit zu verstehen in der Lage seien,
so daß sie zuletzt sogar in die Versuchung kom-
men — der Viele, verleitet durch „gemeinver-
ständliche" Darstellungen, schon nachgegeben zu
haben scheinen — , ein Verstehen dort zuzugeben,
wo in Wirklichkeit keines vorhanden sein kann."
Die Lösungen der angeblichen Schwierigkeiten,
die Lenard angibt, sind durchweg sehr geist-
reich und beachtenswert, wenn sie naturgemäß
auch noch längst nicht alle Möglichkeiten er-
N. F. XXI. Nr. i6
Naturwissenschaftlich e Wochenschri ft.
231
schöpfen. Lenards Darstellung scheint mir im
Grunde wieder zur alten Ätherwirbeltheorie zurück-
zuführen, die man bei uns seitLorentz verlassen
hatte. Bei dieser Theorie sollten sich nach H e 1 m -
holtz die Wirbelfäden „reibungslos" durch ein
ruhendes IVledium fortbewegen können. Diese
reibungslosen Wirbel gaben wohl die Grundlage
ab für die Elektronen oder Kraftfeldzentren von
Lorentz, die sich ebenso wie die Atome durch
einen absolut ruhenden Äther bewegen sollten.
Durch diese im Grunde ganz überflüssige Ein-
führung des „Absoluten" in die Ätherphysik ist
bekanntlich das Unheil der „Relativitätstheorie"
heraufbeschworen worden. Lenard unterscheidet
nun einen von den Kraftfeldern mitgeführten
Äther und einen in Ruhe verbleibenden „Uräther".
Damit nähert er sich aber den natürlichen sub-
stantiellen Vorgängen, denn in jeder natürlichen
Flüssigkeit führen die Wirbel Teile (Kraftfelder)
mit — durch eine Art von Reibung — während
der größte Teil der Flüssigkeit in Ruhe bleibt.
Man kann diese Erscheinung an den Wirbelstürmen,
besonders an den Windhosen, beobachten. Wenn
Lenard hervorhebt, daß der Äther sich in Wirk-
lichkeit etwas anders verhält, als er es nach den
hydrodynamischen Theorien von Bjerknes oder
Helm holtz tun müßte, so bedeutet das — da
diese Theorien sich ja auf „reibungslose", also
eigentlich unphysikalische Flüssigkeiten bezogen
— nichts weiter, als daß der Äther eben eine
wirkliche und keine mathematische Substanz ist.
So bedeutet der Lenard sehe Gedankengang die
Rückkehr zu natürlichen Vorstellungen in der
Physik und es wäre zu wünschen, daß ihm bald
möglichst viel andere Forscher auf diesem Wege
folgten, damit die deutsche Wissenschaft endlich
von der die wirkliche Erkenntnis hemmenden
„iVIassensuggestion" von der Undurchführbarkeit
der hydrodynamischen Äthertheorie befreit wird.
Fricke.
Kerners Pflanzenleben. 3. Aufl. neubearbeitet
von A. Hansen. III. Band. Leipzig und Wien,
Bibliographisches Institut.
Mit diesem dritten Bande hat der leider in-
zwischen verstorbene Gelehrte die schwierige Auf-
gabe, das berühmte Kern ersehe Buch neu her-
auszugeben, zu Ende geführt. Der Band ist abge-
sehen von den beiden schon im alten Kerner vor-
handenen, aber umgearbeiteten Abschnitten über
Bastarde und Verbreitungsmittel der Pflanzen
gänzlich das Werk Adolf Hansens. Nach
einem einleitenden Abschnitt über die Entstehung
der Arten, der infolge der glänzenden Entwicklung
der Vererbungslehre besonders umfängliche Neu-
bearbeitung erforderte, und nach einem kurzen
Überblick über die Pflanzenpaläontologie ist der
Hauptteil des Bandes der Schilderung des gegen-
wärtigen Zustandes der Pflanzenverteilung auf
unserer, Erde gewidmet. Der dritte Band ist also
im wesentlichen eine moderne Pflanzengeographie.
Han sen. behandelt zunächst die Faktoren, die
die Gestaltung der Floren beeinflussen, also Boden
und Klima, alsdann die Wanderungswege und die
Verbreitungsmittel der Pflanzen, worauf die grund-
legenden Begriffe der Pflanzengeographie, im
wesentlichen die Formationenlehre, erörtert wer-
den. Nach dieser theoretischen Grundlegung er-
folgt nunmehr die Schilderung der einzelnen
Floren der Erde, wobei sich der Verf. unter Preis-
gabe strengster pflanzengeographischer Übung eng
an die geographische Gliederung der Erde an-
schließt. So wird der Leser in den Stand gesetzt,
den Pflanzenwuchs der Hauptländer in abge-
schlossenen Schilderungen kennen zu lernen, was
zweifellos für eine volkstümliche Darstellung von
Vorteil ist. Diese Schilderungen sind mit der
ganzen, Anteil weckenden Kunst geschrieben, die
alles auszeichnet, was Adolf Hansens Feder
entstammt, und die ihn vor anderen befähigte,
diesen großen Abschnitt in das durch ähnliche
Vorzüge ausgezeichnete Kern ersehe Buch ein-
zugliedern. Der Verlag hat kein Opfer gescheut,
um auch diesen Band mit zahlreichen, zum Teil
farbigen Bildern auszustatten. Es gab bisher kein
Buch, das das so besonders reizvolle Gebiet der
Pflanzengeographie einem großen Leserkreise zu-
gänglich machte, wenigstens keins von ähnlichem
Ausmaß. Hier haben wir es. Miehe.
Braun, Prof. Dr. M. und Seifert, Prof. Dr. O.,
Die tierischen Parasiten des Men-
schen. II. Teil: Klinik und Therapie der
tierischen Parasiten des Menschen. Mit 19 Text-
abbildungen. Leipzig 1920, C. Kabitsch, Preis
86,40 M.
Dem ersten Teile dieses ausgezeichneten Hand-
buches, der die tierischen Parasiten des Menschen
vom zoologischen Standpunkte aus darstellte, läßt
nunmehr Seifert den zweiten weniger umfang-
reichen folgen, der den klinisch-therapeutischen
Teil umfaßt. Nach der systematischen Zugehörig-
keit der Erreger angeordnet, werden hier die
einzelnen Krankheiten nach ihrer Ätiologie, dem
pathologisch-anatomischen Befund, dem klinischen
Verlauf sowie nach ihrer Behandlung geschildert.
Man findet z. B. ein ausgedehntes Kapitel über
Amöbendysenterie, ferner solche über Schlaf-
krankheit, Malaria, die Bandwurm- und Echino-
kokkuserkrankungen, die Läuse-, Wanzen-, und
Fliegenplagen usw. Das Buch ist ein wichtiges
Hilfsmittel für Ärzte und Studierende der Medizin
und wird hoffentlich dazu beitragen, das Interesse
an diesem, leider oft etwas vernachlässigten Zweige
der Heilkunde zu beleben. Miehe.
Böhm, Dr. Jos., Seelisches Erfühlen. (Tele-
pathie und räumliches Hellsehen.) Band 37/38
der Sammlung „Die okkulte Welt". Pful-
lingen i. W. 192 1, Johannes Baum.
Es handelt sich in dieser gegen 100 Seiten
232
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 16
zählenden Schrift des Vorsitzenden der Nürn-
berger Okkultistischen Gesellschaft um den auch
von ärztlicher Seite mehrfach mit Erfolg (wie ab-
gedruckte Gutachten erhärten) geprüften Fall der
damaligen Krankenschwester Frl. Helene S. (seit-
her verheiratet). Für jemand, der die beschriebenen
Erscheinungen selbst kennt, dürfte die telepathische,
vielleicht auch selbständig hellseherische Befähigung
der Dame außer Zweifel stehen. Wer nicht in
dieser Lage ist, wird über eine gewisse Unsicher-
heit kaum hinauskommen, da wenigstens für
kritische Leser die Berücksichtigung der F"ehler-
quellen, überhaupt die Mitteilungen über die Ver-
suchsanordnungen, gerade an entscheidenden
Punkten doch gar zu lückenhaft sind. So machen
die abgedruckten Versuche im Grunde mehr den
Eindruck von Vorversuchen, aus denen im ganzen
wohl die Gabe eines besonderen Einfühlens,
wahrscheinlich in der Hauptsache auf Telepathie
beruhend, hervorzugehen scheint; aber leider kaum
mehr, obschon zweifelsohne weiter zu kommen
gewesen wäre. Da die Fähigkeiten der Dame
fortzudauern scheinen, wäre sehr erwünscht, wenn
Böhm, vielleicht im Verein mit anderen, einmal
eine systematische Versuchsreihe aufbauen könnte,
bei der sowohl die bekannten Fehlerquellen aus-
drücklich erörtert und ausgeschaltet würden, als
auch die Fähigkeit des „Seelischen Erfühlens"
selbst einmal näher analysiert wird (vor allem,
ob neben Telepathie selbständiges zeitliches
oder räumliches Hellsehen vorliegt). Der Fall scheint
entschieden interessant genug, um eine solche
systematische Untersuchung zu rechtfertigen.
V. Wasielewski.
Seeling, Otto, Hypnose, Suggestion und
Erziehung. Eine Handreichung für jeden
Gebildeten. Leipzig 1922, Dr. M. Gehlen.
Der Zweck des Büchleins, das sich zunächst
an Eltern und Erzieher, Juristen und Polizeibe-
amte wendet, ist ein praktischer, und von diesem
Gesichtspunkte aus muß es beurteilt werden.
Zweifelsohne werden die Genannten besonders
aus den Kapiteln 3 — 6 und 8 — 11 manches Be-
lehrende entnehmen können, zumal der Verf. aus-
giebig die verschiedenen Autoren zu Wort kom-
men läßt. Der Versuch im Kapitel 2, auf 16 Seiten
das Thema „Gehirn und Seele" abzuhandeln, noch
dazu unter Berücksichtigung neuester Arbeiten,
wäre vielleicht besser unterblieben. — Seeling
rechnet den Hypnotismus ohne weiteres zum
Okkultismus, was nicht unwidersprochen bleiben
wird. Zum mindesten muß man sagen, daß okkulte
Erscheinungen, wie z. B. Telepathie, ohne jeden
Hypnotismus möglich sind, auch ohne alle Sug-
gestion, und daß andererseits ein Hypnotisierter
keineswegs durch die Hypnose, soweit die Er-
fahrung reicht, okkulte Fähigkeiten erhält. Die
sicher vorhandene Beziehung ist derzeit noch
durchaus ungeklärt und systematische Unter-
suchungen wären sehr erwünscht. Somit sind
Seelings Betrachtungen über die gegenwärtige
„okkulte Welle" eigentlich nicht oder doch nur
mit Vorbehalt auf den Gegenstand seiner Schrift
zu beziehen. v. Wasielewski.
Grüner, Prof. Dr. P., Elemente der Rela-
tivitätstheorie. Kinematik und Dynamik
des eindimensionalen Raumes. 80 S. u. 1 Tafel.
Bern 1922, Paul Haupt. Geh. 28 M.
Das Buch versucht, auf etwas neuen Wegen
die Elemente der sog. Relativitätstheorie den An-
fängern anschaulich zu machen. Dies ist dadurch
ermöglicht, daß die Ausführungen sich im wesent-
lichen nur auf Probleme des eindimensionalen
Raumes beziehen. Ebenso soll die Beschränkung
auf die mechanischen Probleme, unter Weglassung
der optischen und magnetischen, die Übersicht
über die Grundgedanken der Relativitätstheorie
erleichtern. Die Anschauungen, die Einstein
in seinem Leidener Vortrage über den Äther
entwickelt hat — Lorentz soll dem Äther als
einzige kinematische Eigenschaft die Unbeweg-
lichkeit gelassen haben und die Relativitätstheorie
hat ihm auch diese Eigenschaft genommen —
hat der Verf. ernst genommen. Fricke.
Literatur.
Sammlung Göschen 824: Ziegler, Prof. Dr. H. E.,
Tierpsychologie. Berlin '21, Vereinigung wissenschaftlicher
Verleger. 6 M.
Krause, Prof. R., Mikroskopische Anatomie der Wirbel-
tiere. 1. Säugetiere. Berlin und Leipzig '21, Vereinigung
wissenschaftl. Verleger. Brosch. 48 M.
Färber, Dr. E, Die geschichtliche Entwicklung der
Chemie. Berlin '21, J. Springer. Brosch. 78 M., geb. 90 M.
Nernst, Prof. Dr. W., Das VVeltgebäude im Lichte der
neueren Forschung. Berlin '21, J. Springer. Brosch. 12 M.
Fischer, E., Aus meinem Leben. Berlin '22, J.Springer.
Geb. 75 M.
Twenty-ninlh to thirty-third Annual Repord of the Bureau
of American Ethnology. To the Secretary of the Smithsonian
Institution. 1911 — 1912. 5 Bände. Washington '19, Governe-
ment Printing Office.
Schmeil, Prof. Dr. O. , Leitfaden der Pflanzenkunde.
100. Aufl. Leipzig '21 , Verlag von Quelle & Meyer. Geb.
36 M.
Illbalt: H. Krieg, Probleme der Artveränderung. S. 217. — Einzelbeilcbte: Chandra Ghosh, Eine neue Theorie der
Elektrolytlösungcn. S. 224. F. d 'Her eile, Parasiten in Bakterien? S. 225. Strehl, Zur Relativitätstheorie. S. 226.
A. Weil, Zum psycho-inkretorischen Parallelismus. S. 227. Hallicr, Die Bedeutung der Linaceen für die Syste-
matik. S. 227. — Bücberbesprecbungen : O. Abel, Lebensbilder aus der Tierwelt der Vorzeit. S. 228. O. Paret,
Urgeschichte Württembergs. S. 229. P. Lenard, Über Äther und Uräther. S. 230. Kerners Pfianzenleben. S. 231.
M. Braun und O. Seifert, Die tierischen Parasiten des Menschen. S.231. Jos. Böhm, Seelisches Erfühlen. S. 231.
O. Seeling, Hypnose, Suggestion und Erziehung. S. 232. P. Grüner, Elemente der Relativitätstheorie. S. 232. —
Literatur: Liste. S. 232.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. '
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m, b, H., Naumburg a. d. S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37, Ba:
Sonntag, den 23. April 1922.
Nummer 17.
[Nachdruck verboten.!
Das Biddersche Organ.
Von Gustav Zeuner.
Mit 7 Abbildungen.
Zwischen den Keimdrüsen der Kröte und den
fingerförmigen Feltkörpern, die — besonders in
der Zeit vor dem Winterschlaf — bei der ana-
tomischen Untersuchung sehr auffallen, liegt —
oft kaum bemerkbar — das sog. Biddersche
Organ. Seine Farbe ist gelblich, je nach der
Jahreszeit heller oder dunkler, und geht oft in
eine rötliche Färbung über, wenn das Organ
reichlicher von Blutgefäßen versorgt wird. Auf
die Größenverhältnisse soll weiter unten einge-
gangen werden.
Das Biddersche Organ wurde schon 1758
von Rösel von Rosenhof entdeckt. Seitdem
ist es immer wieder Gegenstand morphologischer
Betrachtung gewesen. Über seine Herkunft und
Funktion waren die Ansichten von jeher geteilt.
Während Rösel von Rosenhof selbst es für
einen Teil des F"ettkörpers hielt, rechnete Rathke
1825 das Organ zum Hoden. Jacobsen sprach
es zum ersten iVIale 1828 als rudimentäres Ovarium
an und bezeichnete die Kröten als hermaphrodit.
Bidder (1846) dagegen hatte eine ähnliche An-
sicht wie Rathke. Hof fm an n betrachtete 1886
das Biddersche Organ als rudimentäre Zwitler-
drüse. Neuerdings kommt man jedoch allgemein
auf die Deutung von Jacobsen zurück. Von
besonderer Bedeutung für die Morphologie und
Entwicklungsgeschichte des Bidderschen Or-
ganes sind die Untersuchungen Knappes 1886,
die auch für die neuesten Arbeiten grundlegend
geworden sind. Ognew (1908) und Aime und
Champy (1909) haben das Biddersche Organ
eingehend histologisch studiert. Diese Arbeiten
bilden den Übergang zu den neuen, geradezu vor-
bildlichen Untersuchungen von Harms (1912 bis
192 1). Die Frage nach der Funktion des Bid-
derschen Organs ist durch Harms entschieden
einer Lösung näher gebracht worden. Die Zu-
stände, die das Biddersche Organ im Laufe
eines Jahres durchmacht, sind von ihm auf das
genaueste nachgeprüft worden. Schließlich bringt
Harms seine morphologischen und experimen-
tellen Studien in Zusammenhang mit dem Pro-
blem des Interstitiums, das wiederum mit der
Steinachschen Verjüngungstheorie eng ver-
knüpft ist. Berücksichtigung finden die Unter-
suchungen von Harms in der bedeutenden Ar-
beit Stieves über „Entwicklung, Bau und Be-
deutung der Keimdrüsenzwischenzellen". Be-
dauerlicherweise verwirft Stieve mit den Schluß-
folgerungen der Harmsschen Studien von 1913/14
auch die experimentellen Ergebnisse selbst, ohne
über die Verhältnisse im Bidderschen Organ
genau orientiert zu sein. Selbstverständlich ver-
liert durch solche Ungenauigkeit die sonst so
groß angelegte und umfassend durchgeführte Ar-
beit Stieves an Wert.
Die Benennung des Organs nach Bidder
stammt von Spengel, der übrigens als erster
auch bei der weiblichen Kröte das Biddersche
Organ feststellte. Doch ist diese Bezeichnung
nicht sehr glücklich, da Bidder weder das Organ
entdeckt, noch seine Bedeutung richtig erkannt
hat, worauf auch Stieve hinweist.
Aus einer Zusammenstellung von Harms(i92i)
geht hervor, bei welchen Arten das Biddersche
Organ vorkommt. Ich lasse die Tabelle folgen:
(Siehe Seite 234.)
Aus dieser Übersicht ist zu erkennen, daß das
Biddersche Organ der weiblichen Kröten (außer
Bufo vulgaris $) nach Ablauf von etwa 2 Jahren
schwindet, also nur bei jungen Tieren vorkommt.
Das Biddersche Organ tritt nach den Beobach-
tungen Kings schon bei der Kaulquappe im
Alter von 15 — 18 Tagen zum erstenmal auf.
Während das Tier noch geschlechtlich undifferen-
ziert ist , befindet sich das Biddersche Organ
schon auf einem vorgeschrittenen Stadium der
Entwicklung, was für die Frage nach der Be-
deutung des Organs von Wichtigkeit ist. Über-
haupt ist die Entwicklung des Bidderschen
Organs von Interesse, da sie zunächst auf die
Bildung eines Ovars hinsteuert, wobei regelrechte
Urkeimzellen entstehen, die aber nicht die Aus-
bildung zu reifen Eiern erreichen. Diese Ent-
wicklung, die bei männlichen und weiblichen
Bufoniden zu beobachten ist, war Gegenstand ge-
nauer Untersuchungen von King, der damit das
Problem in ein neues Licht gerückt hat.
Ich habe bei Bufo vulgaris (J das Biddersche
Organ in den verschiedensten Größen beobachtet
und sogar in derselben Jahreszeit zwischen ver-
schiedenen Tieren dieser Art ziemliche Größen-
unterschiede feststellen können. Besonders auf-
fallend ist jedoch der Wechsel der Größe im
Laufe eines Jahres bei einem Individuum, wobei
das Biddersche Organ einen „Jahreszyklus" durch-
macht, der schon von Knappe erkannt worden
ist und von Harms in neuester Zeit einer
eingehenden Untersuchung unterworfen wurde.
Während der Paarungszeit im Frühjahr ist das
Biddersche Organ der männlichen Erdkröte am
kleinsten. Ende Mai hat es etwa die Hälfte seiner
234
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXt. Nr. 17
Vorkommen des Bidderschen Organs.
Die Autornamen hinter dem Artnamen bedeuten den Entdecker des Bidderschen Organs bei der
betreffenden Art.
Männchen :
Kufo ralamita, Rösel v. Rosenhof, v. Wittich.
Bufo vulgaris, Rathke, v. Wittich.
Bufo variabilis, (= viridis Laur.) v. Wittich.
Bufo musicus, v. Wittich.
Bufo cinereus, Spengel. Variet. v. vulgaris.
Bufo ornatus, Leydig.
Bufo maculiventris, Leydig.
Bufo intermedia, Spengel.
Bufo americanus, Spengel.
Bufo agua, v. Witt ich.
?
?
Bufo lentiginosus, King.
Docidophryne lazarus, Spengel.
maximalen Größe verloren. Darauf beginnt die
Wachstumsperiode, bis das Biddersche Organ im
Juli die maximale Größe erreicht, die es dann bis
in den Winter hinein bewahrt, um dann — vor
allem beim Beginn der Laichzeit — immer mehr
an Umfang abzunehmen. Harms unterscheidet
dementsprechend ein Regenerations-, Ruhe- und
Degenerations- (oder Inkretions-) Stadium. Bei
der weiblichen Kröte ist im Frühjahr — wie auch
aus der Tabelle von Harms hervorgeht — das
Biddersche Organ mit bloßem Auge nicht zu er-
kennen. Nur mit stark vergrößernder Lupe ist
eine leichte Schwellung auf der Leiste zwischen
Ovarium und Fettkörper festzustellen. In dieser
geringen Größe macht das Biddersche Organ des
Weibchens seine Ruheperiode durch, bis Anfang
März eine Größenzunahme stattfindet. Im Mai
hat das Biddersche Organ dann seine maximale
Größe erreicht. Die Degeneration, die nun folgt,
geht im August so weit, daß das Organ kaum
noch zu erkennen ist. Im September jedoch setzt
eine zweite Regeneration des Bidderschen Organs
ein, die nur bis in den Oktober andauert. Die
abermalige Degeneration zieht sich bis zum Ende
des Dezembers hin. Das, Biddersche Organ be-
ginnt nun seine Ruheperiode.
Schon der Jahreszyklus des Organs weist da-
rauf hin, daß eine Beziehung auch in funktioneller
Hinsicht zu den Keimdrüsen zu bestehen scheint.
Diese Beziehung ist nun auch die Grundlage zu
den Experimenten von Harms geworden. Zu-
nächst hat Harms nur mit männlichen Erdkröten
experimentiert. Seine Versuche haben in neuester
Zeit die Bedeutung des Bidderschen in vieler Be-
ziehung klargestellt. In einem Einzelbericht über
den Ausgangspunkt der inneren Sekretion der
Keimdrüsen ging ich 1920 in der Naturw. Wochen-
schr. (Nr. 45, N. F. 19. Bd.) schon kurz auf die
Ergebnisse der Harms sehen Versuche von 1913,
Weibchen :
Bufo calamita, Spengel (bei jungen Tieren),
Knappe (fehlt bei alten Tieren).
Bufo vulgaris, v. Wittich, Spengel, Knappe
(ist im Frühling nicht makroskopisch sichtbar).
Bufo variabilis, Spengel (bei jungen Tieren),
Knappe (fehlt bei alten 'iieren).
?
Wie bei vulgaris.
?
5
?
?
?
Bufo melanostrictus, fehlt nach Spengel.
Bufo scaber, desgl.
Bufo lentiginosus, King (schwindet am Ende des
2. Jahres).
?
1914 ein. Damals ließ sich aber das Gesamt-
ergebnis noch längst nicht überblicken, und manche
Schlußfolgerungen fallen heute anders aus. Ich
erwähne deshalb kurz nochmals die schon ge-
schilderten Versuche. Harms legte vier Ver-
suchsreihen an:
Serie I: Entfernung von Hoden und Bidder-
schem Organ.
Serie II: Entfernung des Bidderschen Organs
allein.
Serie III: Entfernung des Hodens allein.
Serie IV: wie I; gleichzeitig wird das Bidder-
sche Organ wieder transplantiert.
Die Tiere der Serie I waren zunächst ein-
fachen Kastraten sehr ähnlich, zeigten aber nach
dem Erwachen aus dem Winterschlaf patholo-
gische Erscheinungen. Sie bewegten sich schwer-
fällig und reagierten nicht auf Reize. Sie konnten
sich nicht häuten und gingen an Atembeschwerden
zugrunde. Bei den Tieren der Serie II waren
die Brunstmerkmale normal, der Klammerungs-
reiz hatte jedoch gelitten. Auch diese Tiere
gingen an denselben Erscheinungen zugrunde. Die
Tiere der Serie III zeigten normalen Brunsttrieb.
Pathologische Erscheinungen fehlten. Schon aus
diesen Ergebnissen geht hervor, daß das Bidder-
sche Organ mehr den Brunsttrieb zu beeinflussen
scheint, während die Hoden die Ausbildung der
äußeren Brunstmerkmale unterstützen.
Interessant sind nun vor allem die Ergebnisse
der Versuche an der letzten Serie, von der Harms
nur einige Tiere zur Verfügung standen.') Bei
drei Tieren stellte er ein Wuchern des Bidder-
schen Organs fest (indem er das Transplantat von
außen befühlte). Bei einem Tier war das Trans-
') Ich war seinerzeit nicht näher auf diese letzte Ver-
suchsserie in meinem Bericht eingegangen. Hier sollen des-
halb die Ergebnisse dieser Experimente genau geschildert
werden.
N. F. XXI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
235
plantat nur schwach fühlbar, bei einem anderen
war nichts mehr zu bemerken. Diese drei Gruppen
wurden mit A, B und C bezeichnet. Das Tier C
zeigte die von der Serie II her bekannten krank-
haften Erscheinungen der Tiere ohne Biddersches
Organ. Das Tier B erkrankte zunächst ähnlich,
erholte sich aber bald, nachdem das Biddersche
Organ größer geworden war. Die Tiere mit der
Bezeichnung A verhielten sich wie die der Serie III
(s. o.). Daraus geht also deutlich hervor, daß die
pathologischen Zustände, die den Tod herbei-
führten, auf das Fehlen des Bidderschen Organs
bzw. auf dessen mangelhafte Tätigkeit zurückzu-
führen sind. Vor allem scheint mir für diese
Erscheinungen charakteristisch zu sein, daß die
Tiere sich nicht häuten konnten. Verschleimungen,
wie sie Harms nebenbei erwähnt, habe ich auch
nach Kastration von Rana temporaria öfters be-
obachtet. Auch diese Tiere gingen an einer Art
„Lethargie" ein. Die letzten Versuche an der
Serie IV sind noch aus einem anderen Grunde
von besonderer Wichtigkeit. Gegen die Tatsache,
daß bei den Tieren der Serie III der Brunsttrieb
und — wie sich weiter unten zeigen wird — auch
die äußeren Geschlechtsmerkmale erhalten geblie-
ben waren, hätte man folgenden Einwand erheben
können. Bei der Schonung des Bidderschen Organs
konnten kleinste Reste des Hodens zurückbleiben
und noch auf die Ausbildung der sekundären
Sexualcharaktere einwirken. Die Experimente der
Serie IV beseitigen auch diesen Zweifel. Die
Kastration war vollständig. Bei der Transplan-
tation wird Harms für die völlige Isolierung des
Bidderschen Organs Sorge getragen haben.
Juni (ich vermute, daß die Angabe: Mitte Juli
in den „Experimentellen Untersuchungen" auf
einem Druckfehler beruht 1 ein normales cj, ein
Tier ohne Hoden und Biddersches Organ und ein
ebensolches mit transplantiertem Bidderschen
Organ. Am 2. Juni wurde schon ein Tier wie
das letztgenannte getötet. Die Tiere wurden mit
1—4 bezeichnet. Harms schnitt ihnen die
Hände ab und konservierte diese dann sorgfältig.
Von den Händen der Tiere 2 — 4 liegen gute
Photographien vor, die hier wiedergegeben sind.
Abb. 2. Hand der Kröte 4.
(Photographie aus Hanns, Experimentelle Untersuchungen
über die innere Sekretion der Keimdrüsen).
.^bb. 3. Hand der Kröte 2.
Abb I Hand der Kröte -t (Photographie aus Harms, Experimentelle Untersuchungen
(Photographie aus Harms, Experimentelle Unte.suchungen ^ber die innere Sekretion der Keimdrüsen),
über die innere Sekretion der Keimdrüsen).
Auf den ersten drei F'ingern der Kröte 3
Schon 1914 wies Harms darauf hin, daß auch (Abb. i) sind deutlich Höcker zu erkennen, eben-
die äußeren iVlerkmale durch das Biddersche Or- falls auf den Fingern des Tieres 4 (Abb. 2), hier
gan beeinflußt werden können. Er lötete iVIitte jedoch nicht so hervortretend, da das Tier einen
236
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 17
halben Monat früher getötet worden war. Bei
Tier 2 (Abb. 3) fehlen auf den Fingern die Höcker
überhaupt. Die Höcker auf den Händen der
Kröten, die bekanntlich als sekundäre Geschlechts-
merkmale anzusehen sind, werden also auch durch
das Biddersche Organ in ihrer Ausbildung unter-
stützt. Daß es sich hier nicht um eine Persistenz
der Merkmale trotz Kastration handelt, beweist
ja das Fehlen der Höcker auf den Fingern des
Tieres 2, dem Hoden und Biddersches Organ ent-
fernt worden waren, dem aber kein Biddersches
Organ wieder eingepflanzt wurde. Aus den
Schnittserien, die Harms von den genannten
Tieren herstellte, gehen dieselben Ergebnisse her-
Abb. 4. Schnitt vom Kinger der Kröte I
(aus Harms, Experimentelle Untersuchungen).
.\bb. 5. Schnitt vom Finger der Kröte 3
(aus Harms, Experimentelle Untersuchungen).
Abb. 6. Schnitt vom Finger der Kröte 4
(aus Harms, Experimentelle Untersuchungen).
-Abb. 7. Schnitt vom Kinger der Kröte 2
(aus Harms, Experimentelle Untersuchungen).
Tier i (Abb. 4) und Tier 3 (Abb. 5) weisen
gleiche Höckerbildung auf. Die Höcker von
Tier 4 (Abb. 6) sind wohlausgebildet, haben aber
noch keine Spitzen. Bei Tier 2 (Abb. 7) sind
keine Höcker zu erkennen. Das Resultat ist das
gleiche: Auch ohne Mitwirkung des Hodens übt
das Biddersche Organ einen Einfluß auf die Aus-
bildung der Höcker aus. Harms betont trotz-
dem, daß dem Bidderschen Organ vor allem ein
Einfluß auf den Brunsltrieb zukomme, während
die Hoden die Ausbildung der Brunstschwielen
(Höcker) begünstigen. Er glaubt, durch die ex-
perimentell hervorgerufene Alleinherrschaft des
Bidderschen Organs eine Änderung in der Funk-
tion dieses Organs dahin zu erzielen, daß das
Biddersche Organ die fehlenden Keimdrüsen er-
setzt und nunmehr auch die äußeren Merkmale
beeinflußt. Harms drückt das besonders deut-
lich im folgenden aus (1921): „Normalerweise
scheint vom Inkret des Hodens die Entwicklung
der Begattungsorgane, der Brunstschwielen, abzu-
hängen, die sich konform mit dem Interstitium
des Hodens und den Keimzellen entwickeln. Da-
gegen scheinen vom Inkret des Bidderschen Or-
ganes die Vorgänge, die sich während der Brunst-
und Begattungszeit abspielen, beherrscht zu wer-
den. Beide Organe können kompen-
satorisch für einander eintreten, wenn
auch natürlich eine Befruchtung bei alleiniger An-
wesenheit des Bidderschen Organes ausgeschlossen
ist."
Wie ich schon 1920 berichtete, sucht Harms
von seinen Beobachtungen am Bidderschen Organ
aus das Problem der Zwischenzellen zu lösen.
Das Biddersche Organ, das nach allen Feststellun-
gen als Organ mit innerer Sekretion bezeichnet
werden muß, und das in dieser Hinsicht als
Keimdrüse tätig ist, ja sogar die Hoden ersetzen
kann, besitzt keine Zwischenzellen. Hier geht
also die Inkretion von Keimzellen (Eizellen) aus,
die allerdings nicht voll entwickelt sind. Ein
Interstitium kommt nicht in Betracht. Harms
nahm 1914 an, die Zwischenzellen der höheren
Wirbeltiere seien aus Keimzellen entstanden und
hätten ihre Funktion geändert. Bei den niederen
Tieren (z. B. Regenwürmern) hätten die Keim-
zellen noch die Aufgabe der Inkretion, während
später eine Differenzierung in generative und
interstitielle Zellen stattgefunden habe. Nunmehr
N. F. XXI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
237
kommt Harms auf Grund seiner genauen Be-
obachtungen am Bidderschen Organ zu einem
anderen Schluß. Harms stellte fest, daß sich
im Bidderschen Organ das Inkret in den Eiern
bildet ') und dann von den Granulosazellen auf-
genommen wird. Er setzt die Granulosa-
zellen d e n Z wisch enzel 1 en der höheren
Tiere gleich und meint nun, daß die
Zwischenzellen nur die A u fgabe hätten,
dasinkret an dasBlut abzugeben, nach-
dem sie es umgebildet hätten. Gebil-
det wird nach Harms das innere Sekret
in degenerierenden S am enzellelemen-
ten. Harms verläßt damit den Boden
der Zwischenzellentheorie Steinachs.
In seinen neuesten Arbeiten tritt er auch als gut
ausgerüsteter Gegner S t e i n a c h gegenüber. Die
Lösung der Frage, die Harms 19 14 gab, über
die ich auch 1920 berichtete, wäre auch schlecht
in Einklang zu bringen mit der allgemein sich
durchsetzenden Anschauung, daß die Zwischen-
zellen bindegewebiger Natur sind, also nicht gut
von Keimzellen abzuleiten sind (worin auch
Stieve in jedem Fall Recht zu geben ist).
Das Biddersche Organ bekommt damit eine
ganz aktuelle Bedeutung für die neuesten biolo-
gischen Forschungen. Die Untersuchungen von
Harms sind noch nicht sämtlich zusammen-
fassend von ihm veröffentlicht worden. Es sind
sicherlich auch noch weitere Ergebnisse zu er-
erwarten. Auf seine neuesten interessanten
Studien möchte ich noch kurz eingehen.
Verschiedentlich findet man männliche Erd-
kröten (Bufo vulgaris), die man als Zwitter an-
sprechen kann. Sie weisen nämlich zwischen
Hoden und Bidderschem Organ ein kleines Ovarium
auf. Natürlich gibt es mannigfache Übergänge
von den beschriebenen Bidderschen Organen bis
zu reifen Ovarien, so daß von einer genauen
Grenze zwischen normalen Männchen und Zwittern
keine Rede sein kann. Äußeriich haben solche
Tiere, deren Biddersches Organ zur Bildung voll-
entwickelter Eier neigt, alle männlichen Merkmale,
und sie können nach Harms auch fruchtbare
Begattungen ausführen. In der Marburger Gegend
fand Harms, daß etwa io"/„ aller Männchen
derarrige Zwitter sind. In der Umgebung von
Dresden scheint der Prozentsatz nicht so hoch zu
sein. Doch vermag ich Bestimmtes darüber jetzt
noch nicht auszusagen. Derartige Tiere, deren
Biddersches Organ dazu neigte, Eizellen zur Reife
zu bringen, benützte nun Harms (seit 1919) zu
interessanten Untersuchungen. Er entfernte ihnen
die männliche Keimdrüse, den Hoden. Er machte
folgende Beobachtungen an 14 Tieren, die ihm
noch zur Verfügung stehen. Daumenschwielen
und Höcker sind normal ausgebildet. Ebenso ist
der Brunsttrieb erhalten. Äußeriich sind die Tiere
') Stieve nimmt an, daß es sich nicht um ein Sekret,
sondern um Fettgranula handelt, die zur Bildung des Dotters
verwendet werden. Da es aber im Bidderschen Organ keine
Dotterbildung gibt, ist diese Annahme wenig beweiskraftig.
männlich geblieben. Interessant ist nun ein Blick
in einen solchen operierten Zwitter. Das Bidder-
sche Organ zeigt nach der Entfernung der Hoden
stärkere Neigung zur Umbildung in ein Ovarium.
Es läßt sich eine Wucherung des Ovarialgewebes
feststellen. Harms hat bisher noch keins dieser
Tiere getötet, um möglichst exakte Beobachtungen
machen zu können. Ein im Frühjahr 192 1 ope-
riertes Tier starb jedoch im August an einem
Magengeschwür. Harms konnte also hier schon
interessante Feststellungen machen. Die Ovarien
sind stark entwickelt und füllen die
kleine männliche Bauchhöhle ganz aus.
DieEier sind fast ausgereift (der Jahres-
zeit entsprechend), das Biddersche Or-
gan gut entwickelt. Hier ist also ein
normales Ovarium aus einer rudimen-
tären Anlage erzeugt. Trotzdem ist das
Tier äußerlich vollständig männlich geblieben. Ob
hier das Biddersche Organ dem Einfluß des
Ovariums entgegenwirkt, ist noch nicht erwiesen.
Die Tatsache, daß auch beim Weibchen ein ganz
gleichartig gebautes Biddersches Organ vorhanden
ist, wie Harms betont, kann meiner Ansicht
nach nichts aussagen. Es bleibt also abzuwarten,
welche Wirkung ein auf die geschilderte Art ge-
wonnenes Ovarium nach der Entfernung des
Bidderschen Organs auf den männlichen Körper
ausübt.
Die Bedeutung des Bidderschen Organs tritt
immer deutlicher zutage. Als rudimentäres
Ovarium ist es einerseits inkretorisch im männ-
lichen Körper für die Ausbildung sekundärer Ge-
schlechtsmerkmale von Nutzen, andererseits scheint
es auch fähig zu sein, seine ehemaligen Eigen-
schaften bei der Bildung von Eizellen verwerten
zu können. Als solches ist das Biddersche Or-
gan für die experimentelle Forschung auf dem
Gebiete der inneren Sekretion eins der geeignetsten
Objekte geworden. Was wir auf dem Wege bis
zu diesem neuen Erfolge biologischer Arbeit vor
allem Harms verdanken, das zu zeigen, war
mein Bestreben bei Abfassung dieser Zeilen.
Literatur. ')
Harms, Experimentelle Untersuchungen über die innere
Sekretion der Keimdrüsen und deren Beziehung zum Gesamt-
organismus. Gustav Fischer, 1914.
— — , Über die innere Sekretion des Hodens und Bidder-
schen Organs von Bufo vulgaris Laur. Sonderabdruck aus
den Sitzungsberichten der Gesellschaft zur Beförderung der
gesamten Naturwissenschaften zu Marburg 1914, Nr. 5.
— — , Ergänzende Mitteilung über die Bedeutung des
Bidderschen Organs. Sonderabdruck aus dem Zoologischen
Anzeiger, Bd. XLV, Nr. 13, 1915.
S t e i n a c h , Verjüngung durch experimentelle Neubelebung
der alternden Pubertätsdrüse. Julius Springer, 1920.
') Umfangreichere Literalurangaben finden sich zusammen-
gestellt in der Mitteilung über „die Morphologie des Bidder-
schen Organs" von Harms (Zeitschrift für Anatomie und
Entwicklungsgeschichte). — Die Sonderabzüge verdanke ich
dem Entgegenkommen des Herrn Prof. Dr. Harms, dem
ich an dieser Stelle lür die Übersendung der Arbeiten besters
danken möchte.
:38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 17
Stievc, Entwicklung, Bau und Bedeutung der Keim-
drUsenzwiscbenzellen. Eine Kritik der Stein a c h sehen
,, Pubertätsdrüsenlehre". J. K. Bergmann, 1921.
Harms, Untersuchungen über das Biddersche Organ der
männlichen und weiblichen Kröten, 1. Mitteilung; Die Mor-
phologie des Bidderschen Organs. Sonderabdruck aus der
Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, 62. Bd.,
Heft 1/2, 1921.
— — , Verwandlung des Bidderschen Organs in ein
< ivarium beim Männchen von Bufo vulgaris Laur. Sonder-
abdruck aus dem Zoologischen Anzeiger, Bd. LIII, Nr. 11/13,
1921.
Bücherbesprechungen.
Hofmann, Albert, Das Rätsel der Hand-
strahlen. Eine Experimentalstudie. Leip-
zig 19191 O. Mutze.
Eine hübsche kleine Arbeit, die nachzuweisen
versucht, daß die Bewegung leichter drehbarer
Gestelle aus Strohhalmen, Karton usw. lediglich
— bei Ausschaltung strahlender Wärme u. dgl. - —
durch die leichten Erschütterungen des Armes und
der Hand infolge der rhythmischen Pulsstöße be-
wirkt werde, die sich der umgebenden Luft mit-
teilen. Der Autor führt zum Beweis eine große An-
zahl geschickt variierter Versuche vor. IVIan braucht
weder diese noch die obige Erklärung in ihrem
gegebenen Bereiche zu beanstanden. Da aber
von ernstzuiichmender Seite noch anderweite
Wirkungen menschlicher Strahlungen verfochten
werden, z. B. photographische, und auch die
mechanischen Effekte oft stärkere sind, als durch
Pulsstöße irgendwie erklärbar (z. B. habe ich selbst
in für mich zweifelsfreier Weise das Auslöschen
einer Flamme durch die entgegengehaltenen
Fingerspitzen mehrfach beobachten können), so
will es mir fast scheinen, als ob das eigentliche
Verdienst der Ho fmann sehen Arbeit die Auf-
deckung einer bisher übersehenen Fehlerquelle
sei. Jedenfalls wird jeder weitere Untersucher
der menschlichen Strahlungen mit den Pulsstößen
und etwaigen mechanischen Wirkungen derselben
(übrigens auch bei dem sog. siderischen Pendel)
zu rechnen haben. Die Strahlungen selbst aber
scheinen doch etwas Anderes und Selbständiges
zu sein. v. Wasielewski.
Chowrin. Dr. A. N., Experimentelle Unter-
suchungen auf dem Gebiete des räum-
lichen Hellsehens. Deutsch von Dr. F"rei-
herrn v. Schrenck-Notzing. München 1919,
Ernst Reinhardt.
Eine interessante , sorgfältige Studie , deren
Original schon vor über 20 Jahren erschienen ist.
Mit Rücksicht auf seitherige Untersuchungen über
dieselben Probleme könnte die Ausgrabung aus
einer russischen Zeitschrift überflüssig erscheinen.
Dieser Standpunkt wäre aber nicht richtig, da bis
zu einer allgemeinen Anerkennung der Phänomene,
die bislang noch keineswegs erfolgt ist, jede, auch
frühere, wissenschaftlich ernst zu nehmende Ar-
beit möglichst allgemein bekannt werden muß.
Von der historischen Gerechtigkeit nicht zu reden.
— Versuchsperson war eine an hochgradiger
Hysterie leidende russische Lehrerin. Sic konnte
unter schärfsten Kontrollbedingungen verschlossene
Briefe „lesen" und andere dem okkulten Problem-
kreis zugehörige Aufgaben lösen. Außerdem be-
stand Dislokation von Sinnesempfindungen und
Hyperästhesie besonders des Gesichtssinnes. Leider
hat sich der Autor verleiten lassen, das Phänomen
des Lesens verschlossener Schriftstücke auf diese
letzteren F"ähigkeiten zurückzuführen, was schon
für seinen Fall, vor allem aber auch für spätere
gleichartige, keineswegs zutreffen dürfte. Der
Herausgeber v. Schrenck-Notzing hat in
einem Abschnitt „Schlußbemerkungen" u. a. auch
diesen Umstand hervorgehoben und begründet. —
Die Arbeit verdient unbedingte Beachtung seitens
aller, die sich für die experimentell wissenschaft-
liche Behandlung okkulter Probleme interessieren,
v. Wasielewski.
Thirring, Hans, a. o. Prof. der theoret. Physik
in Wien, Die Idee der Relativitäts-
theorie. 169 S. Berlin 192 1, J. Springer.
Geh. 24 M.
Der Verf. will den Kern der sog. Relativitäts-
theorie Einsteins herausschälen, soweit dieses
bei völliger Vermeidung aller mathematischen
Hilfsmittel möglich ist. Das Buch behandelt das
Thema vom rein physikalischen Standpunkt aus,
eine weitere philosophische Verwertung der Ideen
wird nicht versucht. Wenn nun der Verf. sagt:
„Trotzdem ist gerade dieses Buch als Grundlage
für eine philosophische Diskussion über die Rela-
tivitätstheorie gedacht: hier ist im wesentlichen
alles gesagt, was der Physiker zu sagen hat" —
so muß dem mit aller Schärfe widersprochen
werden. Denn das Buch ist eine vollkommen
einseitige Darstellung der Einst einschen, äther-
feindlichen, übertrieben abstrakten Betrachtungs-
weise, die man eigentlich gar nicht mehr als
„Physik" bezeichnen kann. Daß man die in F'rage
kommenden Versuche — Aberration, Fizeau
undMichelson — auch ganz anders wie Ein-
stein im Sinne der Bewegungslehre eines sub-
stantiellen Äthers ohne Raum -Zeitverrenkungen
deuten kann — was für Philosophen doch immer-
hin einiges Interesse hätte — verrät der Verf.
nicht. Vielleicht ergänzt der Verlag seine vielen
Veröffentlichungen auf diesem Gebiete auch ein-
mal durch ein Werk, das einen kritischeren Stand-
punkt vertritt. Jedenfalls muß der Leser, ins-
besondere der Philosoph, davor gewarnt werden,
seine Kenntnisse über die physikalischen Grund-
N. F. XXI. Nr. \)
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
239
lagen des Einsteinismus nur aus so einseitigen
Darstellungen zu schöpfen. Fricke.
Mie, Prof. Gustav, Die Einsteinsche Gravi-
tationstheorie. Versuch einer allgemein
verständlichen Darstellung der Theorie. 67 S.
5 Fig. Leipzig 1921, S. Hirzel. Geh. 7 M.
Die Schrift von Mie, eine Erweiterung des
in der Deutschen Rundschau erschienenen Auf-
satzes, bringt über die prinzipielle Bedeutung der
Einst einschen Gravitationstheorie eine von der
üblichen etwas abweichende Auffassung. Mie
kommt von der Ätherphysik her und hält auch
an dieser fest. Er wird wohl ganz richtig von
dem Gefühl geleitet, daß die neuen Ideen über
das Raum-Zeitkontinuum und die Gleichwertigkeit
von Trägheit und Schwere sich am besten an die
alte kontinuierliche Äthertheorie anschließen lassen.
Seltsamerweise werden nun Äther- und Relativi-
tätstheorie hier ruhig nebeneinandergestellt, ohne
daß die Gegensätze zwischen beiden, die doch
von den Vertretern des Einsteinismus (z. B. v. Laue)
gar nicht geleugnet werden, klar hervorgehoben
oder beseitigt worden wären. Das letztere ist
m. E. nur möglich, wenn man die Grundlagen
der Einsteinschen Theorie vollständig umge-
staltet. Der Verf. will es aber offenbar mit keiner
Seite verderben, er läßt sie beide gelten, und
das macht seine Darstellung trotz der vielen
guten und neuen Ideen, die sie enthält, doch noch
etwas unbefriedigend. Fricke.
Pauli jun., W., Relativitätstheorie. 236 S.
Leipzig 1921, B. G. Teubner. Geh. 40 M.,
geb. 50 M.
Das Buch ist ein Sonderabdruck aus der Ency-
klopädie der mathematischen Wissenschaften. Es
werden vor allem die mathematischen Zusammen-*
hänge in voller Allgemeinheit und Abstraktion
dargestellt; den mathematischen Hilfsmitteln in-
variantentheoretischer und polydimensionaler Art
ist besonders der II. Abschnitt gewidmet. Die
Wey Ische Theorie und die Mie sehen Gedanken
werden im letzten Abschnitt kritisch dargestellt.
Der schwache Punkt bleibt auch hier die phy-
sikalische Begründung, die doch eigentlich das
Wichtigste ist. Ein Satz wie dieser: „Die vielen
negativen Versuche, einen Einfluß der Erdbe-
wegung auf die Erscheinungen durch Messungen
auf der Erde selbst festzustellen, lassen mit aller
Wahrscheinlichkeit, man kann wohl sagen mit
Sicherheit, den Schluß zu, daß prinzipiell die Er-
scheinungen in einem System unabhängig von
der Translationsbewegung sind, die es als Ganzes
hat" stellt eine Abstraktion dar, die ein anschau-
lich denkender Physiker unmöglich mitmachen
kann. Denn Beobachtungen, die man bei der
Bewegung des ganzen Erdkörpers mit allen seinen
Kraftfeldern macht, kann man doch nicht nur
rein geometrisch deuten und ohne Rücksicht auf
die Kraftfelder auf beliebige Translationen, z. B.
auf die Fahrt eines Wagens auf der Erdoberfläche,
übertragen. Daß hier ein physikalisch unzuläs-
siger Gedankensprung vorliegt, daß nämlich geo-
metrische und dynamische Betrachtungen nicht
streng unterschieden werden, scheint dem rein
mathematisch orientierten Verf. entgangen zu sein.
Die Schlußfolgerung: „Durch das Postulat der
Relativität wird der Äther als Substanz aus den
physikalischen Theorien entfernt" zeigt sofort die
schlimmen Folgen so voreiliger Verallgemeine-
rungen. Denn die Beseitigung des substantiellen
Äthers ist keine P'olge irgendeiner „Relativität,"
sondern lediglich die Folge des Umstandes, daß
Einstein bei Formulierung des Postulats den
Äther einfach vergessen hat. Die von ihm an-
gestrebte ätherlose Physik ist jedoch physikalisch
unhaltbar, was er selbst bereits erkannt zu haben
scheint. Die umfassende Kritik, die Einsteins
vorschnell aufgestellten Postulate inzwischen er-
fahren haben, scheint dem Verf., der allerdings
hauptsächlich nur die Literatur bis Ende 1920
berücksichtigt, unbekannt geblieben zu sein, oder
er hat ihren Sinn nicht verstanden; wenigstens
habe ich Hinweise auf die Arbeiten von Lenard
und Gehrcke nicht gefunden. Bedauerlich bleibt
daher, daß in einem so bedeutenden Werke, wie
es die Enzyklopädie der mathematischen Wissen-
schaften darstellt, ein so überaus einseitiger Stand-
punkt vertreten wird. Oder will man an anderer
Stelle auch die Vertreter eines substantiellen
Äthers und des „gesunden Menschenverstandes"
zu Worte kommen lassen? Fricke.
Anregungen und Antworten.
Zur Frage ; Augenlose Höhlentiere, Mutationstheorie und
Lamarekismus. — In Nr. 14, S. 199 f. hat Herr Peter-
Zittau meinen im vor. Jahrg. dieser Zeitschrift (S. 648 ff. I er-
schienenen Bericht über „die Rückbildung der Augen durch
Mutation bei Drosophila" einer Kritik unterzogen. Der ge-
nannte Bericht stellte eine Besprechung von Untersuchungen
Zelenys dar, und im Anschluß an diese Besprechung wies
ich darauf hin, dafl uns diese Untersuchungen einen Weg
weisen, die Entstehung der augenlosen Höhlentiere, dieses viel
zitierten Paradebeispiels des Lamarekismus, auch ohne die
Annahme lamarckistischer Vorstellungen zu verstehen. Es
sollte nichts weiter als ein Hinweis sein. Weder beabsichtigte
ich damals, in eine ausführliche Kritik des Lamarekismus ein-
zutreten, noch will ich heute den Versuch machen, unentwegte
Lamarckianer zu bekehren. Wenn auch schon, wie sich Jo-
hannsen recht drastisch ausdrückt, „Weismann das große
Verdienst gebührt, den Augiasstall vermeintlich bestätigender
Erfahrungen über Vererbung erworbener Eigenschaften völlig
gereinigt zu haben", wenn auch, wie Goldschmidt sagt,
die Vererbung erworbener Eigenschaften ,,eine logische Un-
möglichkeit" ist, so spuken doch lamarckislische Auffassungen,
um schließlich noch einen dritten unserer bekanntesten Gene-
240
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 17
tiker, Baur, zu zitieren, „auf Grund falsch gedeuteter He-
obachtungen unter dem Schlagwort von der Vererbung erwor-
bener lugenschaften noch immer in vielen Köpfen". Wenn
Herr Peter meinen eigenen Standpunkt noch genauer kennen
zu lernen wünscht, so sei er auf das Kapitel ,, Vererbung" in
dem demnächst erscheinenden Jahresbericht über die gesamte
Physiologie verwiesen, in dem ich die Frage ausführlicher
behandelt habe.
Doch ich hätte hier überhaupt nicht mehr das Wort er-
griffen, wenn ich nicht ein Mißverständnis beseitigen möchte,
das Herrn Peter unterlaufen ist, und an dem ich nicht un-
schuldig bin. Herr P. meint, ich sei der Ansicht, ein rezes-
sives Merkm.al könne schon allein durch die Dominanz des
gegensätzlichen Merkmals völlig eliminiert werden. Kine der-
art unsinnige Behauptung aufzustellen, ist mir selbstverständ-
lich nie eingefallen. Daß gerade das Gegenteil der Fall ist,
ist eine Tatsache, die so sehr zum ABC der Vererbungslehre
gehört, daß es mir überflüssig erschien, dies noch eigens zu
betonen. Das hätte sich auch Herr Peter sagen können; er
wäre dann wohl kaum auf diese falsche Deutung meiner
Worte — die, wie ausdrücklich zugegeben sei, leider nicht
eindeutig waren — gekommen. Was ich sagen wollte, ist
folgendes. Wenn bei einer im Licht lebenden Form Muta-
tionen auftreten, die einen mehr oder weniger völligen Verlust
des Auges nach sich ziehen, so wird die Form mit Augen
die ,, dominierende" bleiben, auch wenn das Mutationsmerk-
mal „Augenlosigkeit" dominant ist über das Merkmal „nor-
males Auge" ; denn selbst wenn im übrigen die Mutanten an
Lebensfähigkeit nicht hinter der Ursprungsrasse zurückstehen,
so sind sie doch infolge des mangelnden Sehvermögens im
Kampfe ums Dasein um so viel schlechter daran als die
sehenden Tiere, daß sie in diesem Kampfe viel leichter er-
liegen werden. Resultat: die größte Mehrzahl der Tiere hat
.Augen, die augenlosen Mutanten sind trotz ihrer Dominanz
sehr selten. Ganz anders aber wird die Zusammensetzung der
Po|)ulation, wenn die Tiere im Dunkeln leben. Das Auge
hat nun keinen Selektionswert mehr, die augenlosen Mutanten
werden infolgedessen nicht mehr eliminiert, und infolge ihrer
Dominanz über die Ursprungsform werden sie diese mehr und
mehr zurückdrängen. Die von Herrn Peter aufgestellte Be-
hauptung, daß die Nachkommen der Stammform und der
Mutante während aller Generationen immer in demselben
Zahlenverhältnis zueinander bleiben, wäre nur dann richtig,
wenn keine neuen gleichsinnigen Mutationen erfolgen würden.
Aber das ist eben der Fall. Resultat also: die größte Mehr-
zahl der Tiere ist augenlos, die Augentiere werden mit der
Zeit immer seltener. Und selbst wenn letztere auch nicht
völlig eliminiert werden, so dürfen wir doch wohl von einem
„Verschwinden der Augen bei den im Dunkeln lebenden
Tieren" sprechen. Nachtsheim.
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Inbalt: G. Zeuner, Das Biddersche Organ. (7 Abb.) S. 233. — Bücherbesprechungen: A. Hofmann, Das Rätsel der
Handstrahlen. S. 23S. A. N. Chowrin, Experimentelle Untersuchungen auf dem Gebiete des räumlichen Hellsehens.
S. 238. H. Thirring, Die Idee der Relativitätstheorie. S. 238. G. Mie, Die Einsteinsche Gravitationstheorie. S. 238.
W. Pauli jun., Relativitätstheorie. S. 239. — Anregungen und Antworten: Augenlose Höhlentiere, Mutationstheorie
und Lamarekismus. S. 239. — Literatur: Liste. S. 240.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
der'^ganzen°Reihe3f.^Band. | Sonntag, den 30. April 1922. j Nummcr 18.
Vom diluvialen Menschen und seiner Jagd.
[Siebdruck
Von Prof. Dr.
Der Mensch der tiszeit war nomadisierender
Jäger schlechthin. Die Jagd war Grundlage
des Daseins des Paläolithikers Mitteleuropas,
und auch vom Eolithiker, der als sein Vorfahr
zum mindesten im älteren Diluvium lebte, wird
dasselbe gelten, wenn wir auch von dessen Lebens-
haltung noch kaum etwas wissen. Sie war Mittel-
punkt seines Lebens und Grundlage ältester
sozialer Gliederung, die Beschäftigung, die jede
andere an Notwendigkeit und Wichtigkeit über-
ragte, die Körper und Geist belebte und be-
fruchtete, zur Naturbeobachtung und Erfindung
von Waffen und Listen anspornte. In der Jagd
wurzelte seine Kunst, wie sie uns in Plastik und
Gravierung, in Umrißzeichnung und Wandmalerei
mit so packender Naturwahrheit im jüngeren
Paläolithikum entgegentritt.
Zu dem großen, für die Befreiung des Menschen
vom tierischen Zustande überaus wichtigen
Probleme der paläolithischen Jagd wurde schon
verschiedentlich und von wechselnden Gesichts-
punkten Stellung genommen. Vor allem war es
W. So er gel, der von den hier grundlegenden
Forschungsgebieten der Geologie und Paläonto-
logie aus ^) — denn Prähistorie und Anthropologie
können allein nicht zu einer einwandfreien
Würdigung und Klärung dieses komplexen Frage-
gebietes führen — zuerst 1912,^) nun wieder in
seinem Werke „Die Jagd der Vorzeit"^) Jäger
und Jagdtier des Paläolithikums uns schilderte.
Soergels Ergebnisse, die auf kritischer Sichtung
und statistischer Zählung des, in einer Reihe von
wichtigen — meist deutschen und österreichischen
— Fundstellen verschiedener paläolithischer Kultur-
perioden vorliegenden Beutematerials des dilu-
vialen Jägers beruhen, beanspruchen allgemeinere
Beachtung. Doch dürfen sie naturgemäß nicht in
ihren speziellen Folgerungen ohne weiteres auf
andersartige diluviale Gebiete übertragen werden,
wie im einzelnen manche abweichende Stellung
zu den erörterten Fragen möglich ist. Frei von
jeder Schilderung phantasiegeschmückter Jagd-
abenteuer wird versucht, uns ein, durch geolo-
gische und paläontologische Beobachtungen be-
') Sehr richtig sagt Wiegers {Diluvialprähistorie als
geol. Wissenschaft; Abbandl. Preufi. Geol. Landesanstalt,
Heft 84, 1920) „Vor allem aber ist nur die Geologie in der
Lage, die Erforschung des diluvialen Menschen auf breitester
Grundlage zu ermöglichen".
'') W. Soergel, Das Aussterben diluvialer Säugetiere
und die Jagd des diluvialen Menschen. Jena 1912 (Fest-
schrift zur 43. Allg. Vers. d. Deutsch. Antbrop. Gesellschaft,
Weimar 1912).
^) W. Soergel, Die Jagd der Vorzeit. Jena 1922.
Kreilkel, Leipzig.
gründbares, durch Artefaktfunde unterstütztes Bild
der Stellung des diluvialen Jägers inmitten der
ihm nützlichen wie schädlichen Tierwelt, der ihn
umgebenden, im Laufe des Diluviums ja mehrfach
nach Klima und Gesteinsbildung, in Tier- und
Pflanzenwelt stark wechselnden Landschaft zu ent-
werfen.')
Die Anfänge menschlicher Jagd ruhen wohl
in der Zeit vor dem Quartär. Mit dem lang-
samen Aufstiege des Menschen ist auch sie all-
mählich geworden. Mehr in absätzigen Stufen
als in organischer Weiterbildung gestaltete sie sich
in Mitteleuropa um, nach und nach mit dem Ein-
rücken neuer Menschenrassen im verfügbaren
Waffenwerk, durch Erlernung rationeller Methoden
und mit steigender Körpergewandtheit des Men-
schen sich vervollkommnend.
Das vor dem Paläolithikum, der Altsteinzeit -
der Epoche planmäßig vom Menschen bearbeiteter
Werkzeuge aus Stein, Holz und Knochen —
liegende Eolithikum, dessen Ausscheidung vor-
läufig nicht zu entbehren ist im Gegensatze zu einem
„Archäolithikum", offenbarte uns mit einer wich-
tigen Ausnahme noch keinerlei Reste mensch-
licher Skelette. In ihm finden sich jedoch reich-
lich die Eolithen. Es sind unregelmäßig um-
rissene Gesteinsbrocken, meist aus Feuerstein, die
Spuren einer äußeren Inanspruchnahme durch
Abspringen von unregelmäßigen Splittern an ihren
Kanten und Enden zeigen. Mit gutem Willen
kann man aus ihnen die Urtypen von mancher-
lei Werkzeugen der jüngeren Kulturperioden her-
auslesen. Die ihnen gegebene Deutung als Werk-
zeuge i n Menschenhand ist in verschiedenem Um-
fange bestritten worden. Sie lassen jedenfalls
bisher zusammen mit ihrem Fundmilieu kaum
irgendwelche Schlüsse auf die Art und Weise
ältester Jagdausübung zu. Doch mag ihre wissen-
schaftliche Einschätzung hier gestreift werden.
Die Funde von Eolithen reichen bis in das
Paleozän hinab. Breuil entdeckte die bisher
ältesten unter den mittelpaleozänen Sauden von
Bracheux auf der Domäne Belle-Assise (Dep.
Oise). Andere sind bekannt aus dem mittleren
und oberen Oligozän, dem oberen Miozän (,,Can-
talien") am Puy Cornu, dem mittleren Pliozän
(Kent-Stufe) des Plateaus von Kent und schließ-
lich dem oberen Pliozän von St. Prest und des
Forest Bed von Cromer (St. Prest-Stufe). In
diesem umfänglichen Zeiträume vom Paleozän bis
') E. Werth, Das Eiszeitalter. 2. Aufl. Berlin-Leip-
zig 191 7.
242
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i8
zur Schwelle des Quartärs, und bis in das letztere
hinein, zeigen sie keinerlei Änderung ihrer
Formen, ja sogar, wie W i e g e r s hervorhebt, oft
eher in jüngeren Schichten eine Vergröberung
dieser.
Von einer Reihe von Forschern, so Rutot,
Verworn, Klaatsch, werden die Edithen,
wenn auch mit gewissen örtlichen und zeitlichen
Einschränkungen, als Hinweise auf ein frühes,
tertiäres Dasein des Menschen gedeutet. Viele
Gegengründe sind gegen diese Annahme ange-
führt worden. Die sehr erhebliche stratigraphische
Spanne ihres Vorkommens, in der man bei
kritischer Sichtung „Stufen" nicht ausscheiden
kann, die starre Unveränderlichkeit ihrer „Typen"
während des ganzen Tertiärs, ihre ungeheuere
Anzahl und weite Verbreitung in ganz bestimmten,
durch geologische Merkmale gekennzeichneten
Gebieten, niemals in Fundschichten, machen jeden-
falls starke Vorbehalte in der Annahme des
Gebrauches der Eolithen durch den Menschen
oder dessen menschenähnliche Vorfahren nötig.
Zur Vorsicht zwingt außerdem, daß die Ent-
stehung von Eolithen auf natürlichem Wege, durch
geologische Kräfte: durch Druck zwischen anderen
Gesteinen, durch Abrollung in Flußschottern und
durch die Brandungswoge, nachgewiesen wurde
und nirgends mehr bestritten wird. Ja, in vom
Menschen durchaus unbeabsichtigter Weise ent-
stehen Eolithen noch heute in den Kreide-
mühlen Frankreichs und Rügens, in denen die
rohen Feuersteinknollen durch Aneinanderstoßen
eine randliche Absplitterung erhalten, die sie von
älteren Eolithen nicht unterscheiden läßt. Zu be-
achten ist außerdem sehr wohl, mag das auch
bestritten werden, daß im Menschen keinerlei
Umbildung eingetreten sein könnte, sollte er die
sich unverändert gleichbleibenden Eolithen als
Werkzeuge verwendet haben. Dazu wäre ein
stagnierender, man könnte fast sagen rückschritt-
licher Menschentyp die Voraussetzung, der in
scharfem Gegensatze zur raschen Umbildung der
übrigen Säugerwelt des Tertiärs und der Gattung
Mensch selbst im Quartär stünde.
Wir erkennen die Eolithen des älteren Dilu-
viums und etwa des Pliozäns Mitteleuropas als
echt, als „Gebrauch seolithen", als von da-
mals lebenden, weniger' entwickelten Vorfahren
des Menschen zu irgendeinem Zwecke benutzte
Gesteinsstücke an. l3enn die bearbeiteten paläo-
lithischen Werkzeuge setzen rohere Vorläufer
voraus. Als solche müssen aber handliche, unbe-
arbeitete Brocken gelten, an denen der zufällige
Gebrauch Spuren zurückließ — wie etwa der
Bauer einen Feldstein aufliest, um mit ihm den
lockeren Nagel eines Wagenrades festzuklopfen,
wodurch dieser Gebrauchsnarben erhält. Alle
älteren Eolithen dagegen weisen wir aus palä-
ontologischen Gründen den „Zufalls- oder
Natureolithen" zu. Denn es gab vor dem
Pliozän kein Wesen, das Gesteine zu irgendeiner
Vorrichtung gebrauchen konnte. Den Gebrauchs-
eolithen als Werkzeugen in Menschenhand stehen
die Paläolithen als willensgeformte Dinge, als
Artefakte durch Menschenhand gegenüber.
Zwischen beiden vermitteln zwar roh geschlagene,
jedoch eine bestimmte, häufiger wiederkehrende
Form noch kaum verratende Typen („Prächelle-
Stufe"). Die Schwierigkeit aber, Zufalls- und Ge-
brauchseolithen zu unterscheiden, bleibt unver-
mindert bestehen; kein sicheres Merkmal läßt sie
bis heute auseinander halten.
Es ist bekannt, daß die ausgestorbenen Tas-
manier und die Australneger primitive Steinwerk-
zeuge verwendeten, die zum Teil den mittel-
europäischen Eolithen, zum Teil auch Artefakten
vom Mousterientyp gleichen. Mit ihrer Hilfe
wurden gut brauchbare Holzwaffen hergestellt.
Diese rezenten Steinwerkzeuge bestehen meist
aus einem weicheren, plattig brechenden Gestein,
im Gegensatz zu den ganz andersartigen Silex-
knollen, und haben, da das Gestein ungünstig zur
Bearbeitung ist, vielleicht deshalb ihre rohere
Form behalten.
Rutot, der eifrige Verfechter der Gebrauchs-
eolithen, stellte vier Stufen in ihrer quartären,
also zeitlich mit dem Auftreten des Menschen
zusammenfallenden Folge auf. Wiegers wies
jedoch nach, und man wird sich ihm hierin nur
anschließen können, daß diese Stufen auf einer
sehr zweifelhaften, ja unhaltbaren stratigraphischen
Grundlage stehen. Rutot kam niemals zu einer
klaren Erkenntnis der diluvialen Schichtenfolge
Belgiens; ja er widerspricht sich in seinen Pro-
filen. Das mußte zu schweren Fehlschlüssen in
seinen Folgerungen aus dieser für die eolithischen
Industrien Belgiens führen. Nur die beiden älte-
ren Stufen Rutots dürften dem Eolithikum ent-
sprechen, die letzten beiden bereits dem Paläo-
lithikum angehören. Von einer Erkenntnis und
Gliederung des Eolithikums sind wir jedenfalls
noch weit entfernt.
Eins aber scheint sicher für das quartäre
Eolithikum : das Vorkommen des Menschen, dessen
Reste uns in dem berühmten Unterkiefer von
Mauer bei Heidelberg als bisher einzige und
älteste erhalten blieben. Und dieser Homo
Heidelbergensis war bereits ein Jäger, der dem
Elefanten, dem Rhinozeros zu Leibe rücktel
Wie gelangen wir nun zu einer sicheren
Kenntnis darüber, in welcherWeise und auf
welchesWild der diluviale Jäger zur Jagd aus-
zog? Eine Anzahl wertvoller, oft eindeutiger
Hilfsmittel zur Beantwortung dieser Fragen stehen
uns im Fundmaterial der „Jagdstationen", seiner
ausgegrabenen Lagerplätze, zur Verfügung. Die in
ihnen überlieferten Reste von Fauna und Flora,
die Art ihrer Einbettung, das umschließende Ge-
stein geben zunächst die sichere Möglichkeit, den
Landschaftscharakter eines Jagdgebietes zu rekon-
struieren, mag es nun Wald oder Lößsteppe oder
eine sumpfige Flußaue gewesen sein. Aus den
Steingeräten und ihrer Kulturstufe wie aus allge-
meinen Erwägungen erschließt sich das Waffen-
N. F. XXI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
243
werk des Jägers. Größe und Wehrhaftigkeit des
Jagdwildes lassen Schlüsse auf die Art der Jagd
zu, mag sie nun Angriffs- oder Herden- oder
Fanggrubenjagd gewesen sein. Der Vergleich
mit lebenden primitiven Völkern erlaubt dabei
Analogieschlüsse auf die diluvialen Jagdmethoden.
Denn wie der Eingeborene Innerafrikas heute den
Elefanten jagt, ebenso mag das auch der Diluvial-
mensch getan haben, wobei für den letzteren un-
mögliche Jagdarten, wie solche mit gezähmten
Tieren, zum Vergleiche von vornherein ausschei-
den. Das in den fossilen Knochenresten am
häufigsten vertretene Tier wird die beliebteste
Beute gewesen sein. Das starke Überwiegen
jugendlicher Tiere über alte wird auf eine Jagd-
ausübung des Menschen hindeuten; ') denn in einer
Herde, die von fremden Einflüssen unangetastet
ist, wird stets ein ganz bestimmtes Mengenver-
hältnis zwischen alten und jungen Stücken, und
zwar zu Ungunsten der letzteren, bestehen. Die
Skelettreste endlich des Menschen selbst deuten
uns an, ob er ein schwerfälliger oder behender,
überlegen zu Werke gehender Jäger war.
Wie das Klima Mitteleuropas im Laufe der
Diluvialzeit und im Wechsel der Glazial- und
Interglazialzeiten sich wandelte, darf als bekannt
vorausgesetzt werden. Mit ihm änderte sich, was
nicht minder bekannt ist, Tier- und Pflanzenwelt,
wie die Lebensbedingungen des Menschen, ohne
daß bisher eine tiefere Beziehung zwischen dem
Auftreten der diluvialen Menschenrassen
und den Klimaabwandlungen nachweisbar wäre.
Als älteste Jäger des Diluviums kennen wir
die Rasse des Homo Heidelbergensis.
Erschreckend massig und fast bestialisch liegt
sein wohlerhaltener Unterkiefer, den echte Men-
schenzähne schmücken, aus den Schottern von
Mauer an der Elsenz südlich von Heidelberg vor.
Die zeitliche Stellung der Fundschicht ist nicht
ganz sicher; sie mag aus der Ginz-Mindel-Zwischen-
eiszeit stammen oder etwas jünger sein. Auf die
enge Verwandtschaft des Homo Heidelbergensis
Schot, mit Pithecanthropus erectus Dubois aus
den Kendengschichten von Trinil auf Java hat
Schlosser hingewiesen.'-) Vielleicht gehören
beide zusammen und stellen eine weit über Asien
und Europa verbreitete Menschenrasse dar.
Die Rasse des Neandertalers (Homo pri-
migenius Schwalbe, H. Neandertalensis King, H.
mousteriensis Klaatsch), des Trägers der früh-
paläolithischen Kulturen, mag aus der des Homo
Heidelbergensis sich herleiten; Schötensack
ist mit Recht dieser Ansicht. '^) Die uns aus
einer Reihe guter Funde hinlänglich bekannten,
weit verbreiteten Neandertaler waren ein stark-
knochiger, schwerer Menschenschlag mit der ge-
ringen Körpergröße von reichlich i '/) i". die
wenig über diejenige lebender Zwergstämme Inner-
afrikas hinausgeht, entsprechend etwa der Größe
der kleinwüchsigen Batwa in Ruanda (Deutsch-
Ostafrika). Die kurzen, im Knie gebeugten Beine
deuten auf schwerfällige Bewegungen und wenig
ausdauernde Läufer hin. Sie waren noch keine
behenden Jäger, die dem flüchtenden Wilde auf
weite Strecken nacheilen konnten; Waldelefant
und Mercksches Nashorn dagegen zählen zu ihrer
Beute. Doch besaßen sie bereits ein scharfes
Sehvermögen, worauf die gute Entfaltung des
Hinterhauptteiles des Großhirns deutet. Dieser
Vorteil mag ihre Bewegungsbeschränkung ausge-
glichen haben. Die Neandertaler lebten wohl von
der Mindel- (Mindel - Riß - Interglazialzeit ?) bis in
den Beginn der Würmeiszeit.
Neben dem Neandertaler soll in der gleichen
Zeit eine selbständige „Eh rings dorfer" Rasse
gelebt haben. Ihre spezifischen Merkmale wurden
begründet auf zwei, 1914 in Ehringsdorf bei
Weimar gefundene Unterkiefer, einen alten und
einen jungen, die voneinander erheblich abweichen.
Nach ihrem zeitlichen Auftreten könnte sie weder
Vorfahr noch Nachkomme des Neandertalers sein.
Beider Kulturhöhe und Jagdausübung war etwa
die gleiche. Das legt den Verdacht sehr nahe,
daß es sich in den Ehringsdorfer Kiefern und
ihren besonderen Merkmalen um individuelle
Variationen der Neandertalrasse handelt.^)
In der Würmeiszeit taucht die ebenfalls noch
kleinwüchsige, aber im Gliederbau schlanke
Aurignac-Rasse auf (Homo Aurignacensis-Hau-
seri Klaatsch), '■') die „Lößjäger". Sie mag aus dem
Osten eingewandert sein, wo ihre Vorfahren noch
nicht entdeckt wurden. Die Aurignac-Leute, die
nach Klaatsch „den Eindruck des Schlanken,
Eleganten, gerade Aufgerichteten" machen, waren
sehr viel behendere, in ihrem Muskelwerk gut
durchgearbeitete Jäger, die nun auch dem flüch-
tigsten Wilde, so dem Wildpferde, nachzustellen
vermochten. Sie mögen auch gewandte Kletterer
gewesen sein, die von Baumposten aus nach ihrer
Beute ausspähten. Nach einer Gravierung auf
einem Mammutknochen war Homo aurignacensis,
ebenso wie das für den Neandertaler anzunehmen
ist, noch stark behaart.
Die gleichzeitig in Südeuropa lebende „Gri-
') Auf diese wichtige Tatsache hat Alessandro Portis
schon 1878 hingewiesen.
^) Zittel, Grundzüge der Paläontologie, II, S. 561;
auch Duckworth, Prehistoric man, Cambridge 19 12.
^) Schötensack, Der Unterkiefer des Homo Heidel-
bergensis aus den Sauden von Mauer bei Heidelberg; Leipzig
1908.
') Heilbronn, Der Mensch der Urzeit. Aus Natur
und Geisteswelt, 3. Aufl., 191S.
Soergel, Lösse, Eiszeiten und paläolithische Kulturen.
Jena 1919.
Schwalbe, Über einen bei Khringsdorf . . . . gemachten
Fund des Urmenschen. Korr.-Blatt d. AUg. ärztl. Ver. von
Thüringen 1914.
Schwalbe, Über einen bei Ehringsdorf... gefundeneu
Unterkiefer des Homo primigenius. Anat. Anzeiger 1914.
H. Virchow, Der Unterkiefer von Ehringsdorf. Zeit-
schrift f. Ethn. 1914, S. 869 und 1915, S. 444.
^) Klaatsch und Haus er, Homo Aurignacensis -Hau-
seri, ein pal. Skelettfund aus dem unteren Aurignacien der
Station Combe-Capelle bei Montferrand (Perigord). Prähist.
Zeitschr. I. 1910.
244
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Mercksches Nashorn; Wildpferd, Wi-
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geri und arvernensis, Löwe, Panther,
Hyäne. Großer Biber, Flußpferd.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
245
maldi-Rasse" zeigt negerhafte, vom Aurignac-
Menschen durchaus abweichende Züge. Sie mag
aus Afrika oder Südasien dorthin eingewandert sein.
In der zweiten Hälfte der Würmeiszeit etwa
finden wir dann den hochwüchsigen, nach Verne-
aus Messungen sogar sehr großen, und stark-
knochigen, geistig hochstehenden Cro-Magnon-
Menschen. Sein Gesichtsschädel ist nach B 0 n -
net breit und niedrig, sein Hirnschädel gut ge-
wölbt; der Unterkiefer kräftig und mit sehr steil
aufsteigendem Aste, das Kinn dreieckig. Er ist
uns vor allem aus französischen Funden bekannt;
für Deutschland sind die fast vollständigen, 1914
in Oberkassel bei Bonn entdeckten Skelette höchst
bedeutsam. Die Cro-Magnon-Rasse ist vielleicht aus
der Aurignac-Rasse entstanden.') Ihre Vertreter
sind die Jäger des Wildpferdes und vor allem
des Renntieres. Den großen Säugern schenkten
sie im Gegensatze zum Neandertaler weniger
Beachtung, soweit sie als Jagdtiere überhaupt
noch in Betracht kamen: denn Elephas antiquus
und Rhinoceros Mercki waren bereits ausgestorben,
das Mammut aber lebte noch. Wie Schliz an-
nimmt, zog die in Südwest-Europa beheimatete
Cro-Magnon-Rasse mit dem, aus klimatischen Grün-
den nordwärts weichenden Renntiere nach Norden,
wo sie sich zur nordeuropäischen, neolithischen
Bevölkerung umwandelte; doch ist das fraglich.'')
Vom Ausgange des Diluviums (Azyl-Stufe)
wäre als letzte eine Rasse zu nennen, die schein-
bar noch unvermittelt auftritt und als G r e n e 1 1 e -
oder Furfooz-Rasse bezeichnet wurde. Es sind
Menschen mit Kurzschädeln, wie sie sich z. T.
typisch unter den 33 Crania in der berühmten,
von R. R. Schmidt so trefflich ausgegrabenen
Schädelbestattungsstätte der Ofnet bei Nördlingen
finden; sie sind der Ausgangspunkt der lebenden
Europäer.^) Es waren die Jäger des Hirsches.
Jeder dieser verschiedenen Rassen, über deren
Ahnenreihe zu sprechen ein Kampf mit den ver-
schiedensten Hypothesen wäre, kommt eine ihr
eigenartigeKultur zu, die von ihr spezifisch
entwickelt wurde und mit ihr zugrunde ging.'')
Im ganzen aber stand der altpaläolithische
Neandertaler als Jäger, wie nach seiner ganzen
geistigen Verfassung, noch nicht im entferntesten
auf der Stufe primitiver Jagdvölker der Gegen-
wart; die jungpaläolithischen Rassen dagegen
stehen diesen in Jagdmethoden und -Bewaffnung
sicher voran. —
Wie stand es nun mit der Bewaffnung
aller dieser diluvialen Jäger? Es ist sehr allge-
mein die Meinung verbreitet, daß der Eiszeitmensch
allein mit seinen Steinwerkzeugen zur Jagd aus-
zog. Das ist ein schwerer, aber in gewissem Maße
begreiflicher Irrtum, da andere als Steinwaffen
fossil nicht erhalten sind und so diese als durch-
aus vorherrschender Bestandteil der Bewaffnung
auftreten. Ein Baumast mag die ursprünglichste
und erfolgreichste Waffe gewesen sein, neben dem
Stein zum Werfen. Mit dem Eolithen wurde
dieser Uranfang eines Jagdspeeres oder einer
Jagdkeule roh bearbeitet, vorn vielleicht bald zu-
gespitzt. So mag Homo Heidelbergensis zum
Nahrungserwerb ausgezogen sein. Ähnlich ver-
wenden noch heute gewisse Zwergstämme Holz-
waffen zur Jagd, die ohne jede Hilfe von Stein-
werkzeugen hergestellt sind. Die paläolithischen
Steinartefakte aber gaben bereits gute Werkzeuge
zum Beschneiden, Beschaben und Zuspitzen eines
handlichen Jagdwurfspeeres, dessen Spitze
zur Härtung angekohlt wurde. Der zugespitzte
und gehärtete Jagdspeer, ein kleiner Wurfpfeil
waren die Hauptwaffen des Neandertalers, und
zwar gewiß wirkungsvolle. Daß beide mit Stein-
spitzen bewehrt waren, erscheint nicht sehr
wahrscheinlich : die schwere Steinspitze vermindert
Kraft und Flugweite des Geschosses außerordent-
lich. Sie hat wegen ihrer Dicke und unebenen
Oberfläche nur ein geringes Durchschlagsvermögen,
das bei großen Säugern gar nicht mehr in Frage
kommt. Versuche, die Pfeifer ') und Profe ange-
stellt haben, belehren von der geringen Wirkung
solcher, mit Steinspitzen bewehrter Jagdwaffen,
ganz abgesehen von der Frage, ob eine günstige
Verbindung zwischen Steinspitze und Schaft bei
dem technologischen Stande des Paläolithikers
hergestellt werden konnte. Steinspitzen werden
von ihm dagegen wohl zu Nahkampfwaffen ver-
wendet worden sein.'^) Sehr viel besser waren
die Jagdwaffen des Jungpaläolithikers bewehrt:
Knochen- und Hornspitzen, oft harpunenartig mit
Widerhaken versehen, gaben ihnen bessere Ver-
wendungsmöglichkeit und Durchschlagskraft als
den reinen Holzwaffen. Wie der Paläolithiker
Holzwaffen besessen haben muß, so sind ihm
Pfeil und Bogen völlig unbekannt gewesen, ebenso
wie sie dem Australier fehlen. Die Felszeich-
nungen der „Cueva de la Vieja" zu Alpera in
Spanien, die Jäger mit dem komplizierten „zu-
sammengesetzten" Bogen darstellen und von
Breuil und Obermayer ins Magdalenien, also
vor den Schluß des Paläolithikums gesetzt wer-
den, entstammen einer jüngeren Zeit. Neben den
Holzwaffen kannte der Paläolithiker wohl auch die
Schleuder; Steinkugeln für solche sind ja in ver-
') R. V. Buttel-Keepen, Der Urmensch vor und wäh-
rend der Eiszeit in Europa. Nalurw. Wochenschr. 1911, S. 209.
-) Schliz, Beiträge zur prähistor. Ethnologie I. Prähist.
Zeilschr. 1912, S. 36.
') Schliz, Die diluvialen Menschenreste Deutschlands,
in Schmidt, Die diluv. Vorzeit Deutschlands. Stuttgart 1912.
*) H. Stremme, in Branca, Der Stand unserer Kennt-
nis vom fossilen Men.scben. Berlin-Leipzig 1919.
') L. Pfeifer, Die steinzeitliche Technik und ihre Be-
ziehungen zur Gegenwart. Jena 1912 (Festschrift zur 43. Allg.
Vers, der Deutsch. Anthrop. Ges.).
'') Eine Reihe von Bisontcn der Höhle von Niaux (Ariege)
trägt auf den F'lanken eingezeichnet schwarze und rote Spitzen
in verschiedener Zahl ; einige Male zeigen sich diese auch
außerhalb des Tierkbrpets, wohl als auf ihn zufliegend ge-
dacht. Es handelt sich hier um Speere mit Spitzen, die viel-
leicht aus Gestein bestehen ; danach wären im Jungpaläolithi-
kum möglicherweise doch Speere mit Steinspitzen verwendet
worden.
246
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i8
schiedenen Stationen gefunden worden. Soergel
wirft die Frage auf, ob der Paläolithiker über
pflanzliche oder tierische Gifte zum Bestreichen
seiner Waffen verfügte; „Giftrinnen" an knöchernen
Pfeilspitzen könnten auf die Verwendung orga-
nischer Gifte hindeuten. Schnell wirkende, für
eine rentable Jagd allein in Betracht kommende
Gifte sind aber in Mitteleuropa auf einfache Weise
nicht herzustellen, so daß vergiftete Jagdwaffen
kaum benutzt worden sind.
So war der Paläolithiker mit allerlei Waffen
recht gut ausgerüstet. Doch stand er inmitten
einer raubtierreichen harten Umwelt, die diesen
Vorteil gewiß oft ausgeglichen hat. Dabei fehlten
ihm manche wertvollen Hilfen wie der Jagdhund.
Nur Ausdauer und Kraft, eingehende Kenntnis
der Lebensweise seiner Jagdtiere, List und Ver-
schlagenheit, Anlegen von Feuer halfen ihm, aus-
reichende fleischliche Nahrung zu erringen; denn
die diluviale Pflanzenwelt bot ihm keine aus-
reichende Nahrung dar.
Doch wird der Eiszeitmensch mit seinen Waffen
allein kaum gejagt haben. Er bediente sich schon
frühzeitig eines wirksamen Hilfsmittels: der Fang-
gruben, die er an geeigneten Stellen des Ge-
ländes, besonders in leicht zu bearbeitenden Böden,
mit den Händen, Steinwerkzeugen und dem Grab-
stock ausgehöhlt hat. Haus er') berichtet uns
über die Anlage solcher Gruben folgendes: Im
Mai 1907 entdeckte er nordöstlich von Laugerie
basse im Vezeretale eine Reihe merkwürdiger
Bodenvertiefungen. Es waren trichterförmige
Löcher in den Kreidefelsen geschlagen, von denen
21 freigelegt wurden. Diese Gruben waren nach
gewissem Plane — immer zwischen zwei Gruben
je in der vorderen und hinteren Reihe wieder
eine Vertiefung — in bestimmten Abständen
voneinander auf einer Fläche von 50 zu 10 Metern
Breite auf einem kleinen Terrassenvorsprung 8 bis
9 Meter über der heutigen Straße angelegt, an
deren Fuße eine Solutreansiedlung konstatiert
wurde. Die Gruben, an deren Wandungen sich
zum Teil Schlagspuren zeigten, waren meist mit
eingeschwemmter Erde angefüllt; in einigen fanden
sich Werkzeuge vom Solutre Typus, dagegen in
keiner Knochenreste. Die Maße einzelner waren
Grube 2: oberer Durchmesser 2,3 m; unterer
Durchmesser 0,6 m; Tiefe 1,6 m;
Grube 21: oberer Durchmesser 1,6 m; unterer
Durchmesser 0,6 m; Tiefe 0,85 m.
Nach Hauser handelt es sich in diesen Ver-
tiefungen um einen Komplex von Fanggruben,
die künstlich von denSolutre-Leuten in die Kreide-
felsen „gehauen" wurden. Letzteres würde eine
recht erhebliche Arbeitsleistung voraussetzen. —
Fish er entdeckte ferner im Portlandkalk von
Dewlish in England einen Graben, der mit losem
.Sande angefüllt war und Knochen eines Elefas
trogontherii enthielt. Daselbst gefundene Eolithen
legen den Gedanken nahe (?), daß es sich hier
um eine vom Menschen angelegte Fanggrube
handelt.
Als erste Anfänge solcher Fanggruben mögen
natürliche Bodenvertiefungen gedient haben, die
an der Oberfläche mit Asten, Erde und Laub
verblendet und mit Losung bestreut wurden.
Später wurden diese vertieft, schließlich künst-
liche Gruben ausgeworfen und nach bestimmtem
Plane auf breiten Flächen angelegt, um möglichst
viel Wild bei einer „Treibjagd" zu erbeuten. Vom
Wilde selbst beim Wälzen im Sande oder Suhlen
im Schlamm geschaffene Wannen, die noch her-
gerichtet wurden, mögen gern als bequeme Gruben
benutzt worden sein. Hatte sich ein Wild in einer
solchen Grube durch Sturz gefangen, so wurde
es totgeschlagen. Nach gelungenem P'ange wurde
die Grube von allen Spuren menschlicher Ein-
wirkung und von Knochenresten sorgsam befreit,
so daß sie von neuem verwendet werden konnte.
Soergel schrieb früher der Jagd des Paläo-
lithikers mittels Fanggruben ausschlaggebende Be-
deutung für das mittlere Großwild und die Dick-
häuter zu. Neuerdings hat er diese Ansicht durch
höhere Bewertung der Holzwaffen eingeschränkt,
für die großen Säuger aber als die einzig mög-
liche Jagdmethode beibehalten. Bezüglich der
letzteren hält im Gegensatze dazu Noack eine
Angriffsjagd, ohne Grubenanwendung, für wahr-
scheinlicher. Profe dagegen weist eine plan-
mäßige Jagd auf Elefant und Nashorn überhaupt
zurück, erachtet also Fanggrubenjagd ebenso für
ausgeschlossen. ')
Die Fundumstände und die fossilen Gruben
geben Soergel überwiegend Recht. Ein Ver-
gleich z. B. mit den Jagdmethoden mir wohlbe-
kannter afrikanischer Stämme zeigt ebenso, daß
die großen Säuger planmäßig in Gruben gefangen
werden. Eine Angriffsjagd kommt für diese nur
bei einer Bewaffnung in Präge, die der des Paläo-
lilhikers erheblich überlegen ist, so bei Vorhanden-
sein von Feuerwaffen und Reittieren oder bei sehr
zahlreichen Jägern. —
Die Dickhäuter des Diluviums: Elephas anti-
quus Falc, der nach einer Zeichnung in der Höhle
von Castillo unbehaarte oder wenig behaarte ge-
waltige Waldelefant, der vor der trockenen Kälte
der Eiszeiten in wärmere Gebiete entwich; Ele-
phas primigenius Blum., das Mammut, der mit einem
dichten, dunklen (nicht roten !) Pelze ') und dicker
Fettlage bewehrte Steppenelefant der Eiszeiten,
mit seinem langen Haarkleide und geschweiften
Stoßzähnen so gern dargestellt; Rhinozeros Mercki
Jaeg. und das wollhaarigc Nashorn, Rhinozeros
') Hauser, La Micoquc, die Kultur einci neuen Diluvial-
rassc. Leipzig 1916.
— — I Der Mensch vor looooo Jahren. Leipzig 1917.
') Noack, Uie Jagd im Wandel der Zeilen. Deutsche
Jägerzeitung 1913, 1914.
Profe, Vorgeschichtliche Jagd. Manus Bd. 6, S. 107.
Mit einer Charakterisierung der von anderen Autoren früher
gcäuflerten Ansichten über Art und Weise der diluvialen Jagd.
') Brandt, Einige Worte über die Haardecke des Mam-
inuth. Bull. Acad. Itnp. Sei. Petersburg 1S70. Bd. 7.
N. F. XXI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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antiquitatis Blum. (= tichorhinus Cuv.), im Gegen-
satz zu seinem Gattungsgenossen ein kältelieben-
des und dichtbehaartes Steppentier, erfreuten sich
sehr verschiedener Beliebtheit seitens des dilu-
vialen Jägers. Das letztgenannte spielte für ihn
keine Rolle. Das Mercksche Nashorn, das
vor der zweiten Hauptphase der Würmeiszeit aus-
starb, fiel ihm dagegen öfter zur Beute. Es ist
bei seiner Körperkraft, großen Fluchtfähigkeit und
dicken undurchdringlichen Hornhaut wohl nur in
Gruben gefangen worden, so wie es auch heute
noch auf Java geschieht. Profe bezweifelt, daß
Nashörner jemals gejagt wurden. Die Funde von
Taub ach aber zeigen nach Soer gel vor allem
durch die Zahl der Überreste — das Rhinozeros
lebt nie in größeren Herden, sondern nur in kleinen
Beständen oder als Einzelgänger — , das Über-
wiegen der jungen (71 "0!) vor alten Stücken, das
dem natürlichen Altersverhältnis in Rhinozeros-
familien widerspricht, eine planmäßige Jagd an.
Etwas anders ist dies Verhältnis in der Fauna
von Ehringsdorf (46 '^Jq), doch immer noch viel
höher als in den Faunen von Süßenborn und
Mosbach (mit 31 — 33%), wo die Tiere auf natür-
lichem Wege zugrunde gingen. Daß in den
Gruben mehr junge als alte Tiere erbeutet wurden,
erklärt sich daraus, daß die Kälber der IVIutter
meist voraustrotten (doch nicht immer, wie ich
selbst beobachtete), also zuerst die versteckten
Gruben erreichen müssen. Rhinozeros Mercki,
das größte echte Nashorn, ist uns in vielen Jagd-
stationen Europas als Beute hinterlassen.
Wichtiger als die Nashörner waren für die
P'leischversorgung des Diluvialjägers die Elefanten.
Das iVIammut, dessen Jagd uns Noack in be-
wegten Farben schilderte, lebte in zahlreichen
Rudeln gesellig in den jüngeren glazialen Steppen,
die wohl erst vom Jungpaläolithiker auSgiebiger
besiedelt wurden. Doch hat das wegen seiner
Fettpolster so gern gejagte Mammut für denselben
nicht mehr die Rolle gespielt, wie Elephas
antiquus für den Altpaläolithiker, da der jüngere
Altsteinzeitler Pferd und Renntier vor allen anderen
Tieren bei weitem bevorzugte. In den afrikanischen
Steppengebieten wird der Elefant heute auf drei
Arten von Völkern ohne Feuerwaffen gejagt:
durch F"anggruben auf dem Wechsel, durch Treib-
jagd mit Pferd und Lanze und durch Anlegen von
Grasbränden und Speeren der zusammengetriebenen
Tiere. Die letzte Methode scheidet für den
Paläolithiker wohl aus wegen Mangels an Men-
schen ; er lebte nur in Horden von geringer Kopf-
zahl. Die zweite: Angriffsjagd kommt in der
Mehrzahl der Fälle kaum in Betracht wegen der
Größe der Tiere, ihrer überaus feinen Witterung
und großen Ausdauer im Laufen, die sie auch
nach einem Angriff meist aus dem Bereiche des
Jägers bringt. Fanggruben werden das wichtigste
Jagdmittel gewesen sein, die in günstigem Ge-
lände in größerer Anzahl angelegt wurden. So
jagte das Mammut der Mousterienjäger von Tau-
bach, die Jäger des Keßlerloches, der Wildscheuer,
der Lindentaler Hyänenhöhle und anderer Sta-
tionen.
Ebenso wird es sich mit dem Waldelefanten
verhalten. In den tropischen Waldgebieten wird
der Elefant gejagt durch Treiben in umzäunte
Waldstücke, durch Speeren vom Baumsitz oder
mittels Fallmessers und durch Grubenfang. Von
allen diesen Arten bleibt für den Paläolithiker
nur die letzte als die sicherste und rentabelste
übrig. Für Jagd des Menschen, und eben für
Fanggrubenjagd, sprechen die klaren Fundver-
hältnisse von Taubach : es überwiegen die jungen
Tiere über die alten, ganz im Gegensatz zur
natürlichen Alterstaffelung einer Elefantenherde.
Soergel hat über diese Staffelung eingehende
Berechnungen angestellt, für die verschiedene Vor-
sichtsfaktoren eingesetzt wurden. Sie verdienen
gegenüber den gleichartigen Berechnungen für
Predmost durch Profe den Vorzug. Auch andere
Fundumstände in Taubach sprechen für mensch-
liche Jagd : die in Kalktuff gebetteten Überreste
sind gemischt mit zerschlagenen Knochen der
verschiedensten Tiere und dem, in einem stehen-
den Gewässer gebildeten Gestein regellos, nicht
in größeren Anhäufungen eingestreut; das Gestein
selbst bildet bei weitem die Hauptmasse der Fund-
schicht, in der sich auch Holzkohlenstückchen
und Werkzeuge finden. Nicht eine Elefantenherde
ist hier durch ein Naturereignis zugrunde ge-
gangen, wie man annahm ; es müßte sich dann
eine mächtige Knochenlage mit zusammenhängen-
den Skeletten finden. Der Mensch war es, der
dem Waldelefanten nachstellte, seine vom Fleische
entblößten Knochen mit denen anderer Beutetiere
vermischt von seiner Station fortschleppte und
sie in Tümpel in der Nähe versenkte, wo sie
langsam im Kalkschlamm eingebettet wurden.
Im jüngeren Diluvium sind bei weitem be-
vorzugte Jagdtiere Wildpferd und Renntier.
Sie sind es deshalb, weil sie neben dem Fell, das
man gewiß zu bearbeiten verstand, neben Fleisch
und Sehnen nun auch das technisch am besten
verwendbare Rolimaterial für Knochenbearbeitung
in ihren Knochen und Geweihen darboten. Dieser
Wechsel im Jagdwild fällt zusammen mit dem
Auftreten neuer Menschenrassen von größerer
Gewandtheit und Schnelligkeit. Das Renntier,
aufs engste verknüpft mit den kalten Perioden
des Diluviums, in denen es sogar Monako und
Nordspanien erreichte, war das Jagdtier der
Magdalenien-Jäger, der „Renntierzeit". In ihren
Stationen überwiegen die Renntierknochen vor
allen anderen Tieren. Im Keßlerloch sind sie
nach St u der mit 79,4 "/oi '^^ Schweizerbild mit
75 % an der Beute beteiligt. Man wird das Ren
in Einzeljagd am einfachsten, gelegentlich in Fang-
gruben erlegt haben. Ein großer Prozentsatz
junger Stücke spricht nach Soergel wiederum
für Herdenjagd, ähnlich wie sie heute auf ge-
eignetem Gelände nordsibirische Jäger betreiben.
Vielleicht hielten die Magdalenien - Leute bereits
Renntiere in Herden, ohne sie jedoch zu züchten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i8
Das W i 1 d p f e r d , ein ausgesprochener Steppen-
bewohner und vielfach mit dem Renntier verge-
sellschaftet vorkommend , lebte während des
Diluviums in mehreren Rassen, so z. B. Equus
germanicus Nehr. und Przewalskii Poljak., in Mittel-
europa.') Es war seiner dickwandigen Knochen
wegen das angesehenste Wild der Aurignac- und
Solutre-Jäger. In den Aurignac- Stationen ist es
die häufigste Jagdbeute, so in der Ofnet mit 6o '% ;
von Frankreich bis nach Mähren reden die
Stationen dieser Kulturstufe die gleiche Sprache.
Häufig scheint es auch schon in La Micoque ge-
wesen zu sein. Im übrigen spielte es für den
Altpaläolithiker keine Rolle; seine Flüchtigkeit
war sein bester Schutz vor dem unbehenden
Neandertaler. Herdenjagd wird überwogen haben ;
es ist ja bekannt, in welch besinnungsloser Flucht
heute eine erschreckte Herde von Zebras durch
die Steppen Ostafrikas dahinrast, wobei sie leicht
in bestimmte, für den Fang geeignete Gegenden
geleitet werden kann.
Die Wildrinder ^) Wisent und Ur, vor allem
der erstere, sind vom Jungpaläolithiker oft und
vortrefflich auf Wandgemälden und in Ritzung
dargestellt worden, waren ihm also wohlvertraut
wie kein anderes Wild ; die Wandmalereien der
Grotte Altamira und Font-de-Gaume legen Zeug-
nis davon ab. In den Jagdresten spielt der Bison
trotzdem niemals die überragende Rolle, wie
Pferd und Ren ; doch ist er in vielen Jagdstationen,
besonders Südfrankreichs, zahlreich vertreten.
Wurden dem Acheule-Menschen von Le Moustier
nach Ha US er doch sogar auf seinem Wege ins
Jenseits gebratene Bisonkeulen als Wegzehrung
mitgegeben, auf dieser ältesten Begräbnis- und
Feuerfundstelle, die bis heute bekannt ist! Wie
der Büffel Ostafrikas zu den gefürchtetsten und
lückischsten, in seiner Kraft und Behendigkeit
unberechenbaren Tieren gehört, dem kühne und
gut bewaffnete Jäger zahlreich zum Opfer fallen,
so mag der gewaltige hochnackige Wisent wohl
als Gegner geachtet worden sein, den man nicht
gern in offener deckungsloser Steppe anging. Die
Bilder der Höhle von Niaux zeigen, daß man ihn
trotzdem mit Speeren angriff. — Der Moschus-
ochse, ein Kälteanzeiger ersten Ranges und
heute der strengsten Polarkälte angepaßt, der auf
der Höhe der Eiszeit bis Südfrankreich vordrang,
ist überall ein sehr seltenes Jagdwild geblieben.^)
Von geringer jagdlicher Bedeutung waren
Edel- und Damhirsch und Reh, die schon
der Altpaläolithiker ohne Mühe mit seinen Holz-
') W. V. Reich enau, Beiträge zur näheren Kenntnis
fossiler Pferde aus deutschem Pleistozän . . . Abhandl. Hess.
Geolog. Landesanstalt. Darmstadt 1915.
W.O.Dietrich, Unsere diluvialen Wildpferde. Naturw.
Wochenschr. 1916, S. 614.
') N eh ring. Die Verschiedenheit von Bison und Ur.
„Wild und Hund", 1896.
Werth, Die ältesten Darstellungen des Urrindes. Naturw.
Wochenschr. 1916, S. 212.
') R. Kowarzik, Neues vom Schafochsen. Naturw.
Wochenschr. 1913, S. 757.
Waffen erlegen konnte, aber wohl nicht gern
tötete, da besonders die letzten beiden zu wenig
mit ihrer geringen Fleischmenge den Kraftauf-
wand aufwogen. Als zu gefährlich galt wohl der
durch mehrere Arten vertretene Riesenhirsch')
und der durch seine harten Schalen sehr wehr-
hafte Elch. Soergel erwähnt bei der Elchjagd
eine bemerkenswerte Tatsache: in Ehringsdorf
sind fast nur Reste von Elchtieren gefunden
worden. Es wurde also in so früher Zeit
bereits eine Jagdauslese insofern getrieben, als
man nur dem weniger wehrhaften weiblichen
Tiere nachstellte. Auch der altdiluviale Homo
Heidelbergensis soll schon die gleiche Jagdauslese
getrieben haben. Denn in den Sanden von Mauer
wurden noch niemals Geweihreste, dagegen zahl-
reiche Gebisse gefunden. Er trieb also Angriffs-
jagd, und zu dieser muß er ursprüngliche Holz-
waffen verwendet haben.
Von kleineren Säugern, die durch zahlreiches
Vorkommen im Beutematerial als methodisch ge-
jagt gelten können, erlegte der Paläolithiker den
Biber, der, am Lande unbeholfen, einfach totge-
schlagen wurde; solch bequeme Methoden liebte
der Neandertaler. Der diebische Eisfuchs wurde
in der Nähe der Lagerplätze erschlagen, worauf
die Funde in Willendorf und Predmost weisen.
Sehr zahlreich sind in einzelnen Stationen die
Reste des Sehne ehasen, so im Keßlerloch mit
500 Stück, wenn auch mancher Raubvögeln zum
Opfer gefallen sein mag. Fische liebte der
Neandertaler nach So ergeis Meinung nicht.
Diese befremdliche Tatsache steht im Wider-
spruche mit den Gewohnheiten lebender Natur-
völker, so der Innerafrikas, z. B. des stromreichen
Kongobeckens und der ostafrikanischen Seen, —
wenn auch nicht aller primitiven Völker schlecht-
hin, so der Tasmanier, in deren mächtigen Ab-
fallhaufen aus Muscheln sich niemals P'ischreste
finden. Sie steht auch im Gegensatz zu den Ge-
bräuchen der mit Fischfanggerät gut ausgestatteten
Jungpaläolithiker, die uns Fische jedoch selten
bildlich hinterließen. Die Abneigung gegen Fisch-
kost beim Neandertaler ließe sich vielleicht (?) so
erklären, daß er mit seinem schwerfälligen Körper-
bau ein schlechter Schwimmer war, dessen starke
Behaarung seine Wasserscheu wesentlich mit ver-
ursachte. Vögel waren dem Paläolithiker ver-
möge unzureichender Bewaffnung, so wegen Un-
kenntnis des Bogens, schlecht erreichbar, trotzdem
die Vogelwelt reich entwickelt war. In jüngerer
Zeit mögen dagegen Alpen- und Moorschneehuhn
mit Schlingen gefangen worden sein, ähnlich wie
heute von den Nordländern.
Nicht nur große und kleine Säuger, Vögel und
P'ische suchte der Eiszeitmensch seinem Nahrungs-
und Kulturbedürfnis durch planmäßige und ge-
legentliche Jagd dienstbar zu machen, wie die be-
') W.Dietrich, Neue Kiesenhirschresic aus dem schwä-
bischen Diluvium. Jahreshefte des Vereins für vaterländische
Naturkunde in Württemberg 1909, S. I32.
N. F. XXI. Nr. 18
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
249
sprochenen Tiere zeigen, die nicht seine einzige
Beute waren, — dabei die minder wehrhaften und
besonders nützHchen Tiere stets bevorzugend. Er
wagte sich auch an Raubtiere. Er erlegte
Löwe, Panther und Hyäne, vielleicht nur alte und
kranke Stücke, oder in Notwehr. Der gewaltige
Höhlenbär ist nach den Funden am Sirgen-
stein nach R. R. Schmidt*) und in der mähri-
schen Schipka-Höhle erlegt worden, wo er viel-
leicht beim Auswechseln aus der Höhle von oben
mit Steinen erschlagen wurde, wie uns das
Kühne rt auf einem Gemälde dargestellt hat.
Sehr viel häufiger findet sich der kleinere und
gutmütigere braune Bär. Er bildet in Tau-
bach 21,2'^jf,, in Ehringsdorf 10% der Gesamt-
beute. In der Höhle Jachymka in Mähren herr-
schen aufgeschlagene Bärenknochen durchaus vor.
Auf seinen Wechseln angebrachte Fanggruben
mögen neben plötzlichem Überfalle die erfolg-
reichsten Jagdergebnisse gezeitigt haben.
Die Stellung des diluvialen Jägers und seines
Ahnen innerhalb der ihn umgebenden
Tierwelt war sicherlich eine schwierige, die
sich erst langsam mit Vervollkommnung der
Waffen verbesserte. Niemals aber so bequem, wie
dies Klaatsch in Mißachtung der zahlreichen
Feinde des Menschen darstellt , wenn er sagt :
„Die ersten Mitglieder von Urmenschenherden,
die den Gedanken, Säugetiere zu packen oder
durch Steinwurf zu töten, zur Tat werden ließen,
hatten offenbar ein ganz leichtes Spiel. Das
können wir aus der allgemein gültigen Tatsache
schließen, daß Tiere nur durch Erfahrung Furcht
gewinnen. . . Viele seiner Opfer muß er einfach
mit der Hand haben greifen können. Selbst in
Gegenden, wo Tiere bereits vor Raubtieren sich
zu fürchten gelernt hatten, konnte doch der Mensch
sich seiner Beute, die ihm nichts Böses zutraute,
ruhig nähern. Es muß eine großartige Zeit für
die ersten Horden, die in neue Gegenden ein-
drangen, gewesen sein, da sie unter der Tiermit-
welt aufräumen konnten, soviel es ihnen beliebte." -')
Niemals in dieser „großartigen" Zeit hat der
Mensch Löwe und Mammut mit freundlichen Wor-
ten überwältigt. Gewiß mögen die ältesten Men-
schenrassen die Anfangsgründe jagdlicher Arbeit
erlernt haben beim Nachstellen nach wenig wehr-
haften oder ausdauernden und nach kranken
Tieren. (Denn die Jagd auf die großen Dick-
häuter kann nicht, wie So er gel wohl annimmt,
als Anfang einer solchen gelten ; hier werden aus
dem bekannten Beutematerial zu weitgehende
Schlüsse gezogen.) Doch auch auf ihre Aneignung
schon mußten sie eine, sich allmählich mehrende
Summe von Beobachtung, List und Kraft verwen-
den. Von Anbeginn seiner Jagd hat die diluviale
Tierwelt den ihr nachstellenden Menschen als
Feind erkannt und sich ihm zu entziehen ver-
') R. R. Schmidt, Die diluviale Vorzeit Deutschlands.
1912.
'') Klaatsch, Der Werdegang der Menschheit und die
Entstehung der Kultur. S. 106.
sucht. Denn sie war an Verfolgungen seitens der
zahlreichen Raubtiere, die Mitteleuropa im Dilu-
vium bevölkerten, durchaus gewöhnt. Der fleisch-
begierige Mensch war nur ein Glied mehr in der
langen Reihe ihrer Widersacher. Die jagdbaren
Tiere auf der einen, Raubtiere und Mensch auf
der anderen Seite haben in engsten gegenseitigen
Lebensbeziehungen gestanden. Der Mensch trat
n'cht als neu einwanderndes, unbekanntes Raub-
tier zwischen jene: er wurde zum gewandten
Räuber erst nach und nach in ihrer Mitte. Wuchs
aber das Raubtiertalent im Menschen, so mehrte
sich in gleichem Schritte, wie Soergel sehr
richtig betont, auch der auf seine Vermeidung
und Abwehr sich einstellende Erfahrungsschatz
der Tiere.
Das Jägerleben des nomadisierenden Diluvial-
menschen war ein steter Kampf für die Erhaltung
des eigenen Lebens — erst gegen Ende des Paläo-
lithikums mag die Genugtuung an erfolgreicher
Jagd auch eine Art Vorläufer sportlicher, nicht
durchaus lebensnotwendiger Jagdausübung gezeitigt
haben — und gegen seine Feinde. Diese waren
weit verbreitet und zahlreich ; es sind neben dem
Menschen selbst, der dem Kannibalismus nicht
abhold war, der Höhlenlöwe, der Fanther, der
Höhlenbär und braune Bär, der Wolf. An klei-
neren Raubtieren, die den Menschen kaum an-
greifen, ihn aber durch Wegschleppen seiner Beute
schädigen können, war vertreten der Luchs (Felis
lynx und Felis lynx var. cervaria), Wildkatzen
(Felis catus und manul), der Fuchs (Canis vulpes
und lagopus), die Höhlen- und Streifenhyäne
(Hyaena spelaea und striata). Der dichtbehaarte
Höhlenlöwe, der Höhlenbär waren gewaltige
Räuber, größer als ihre heute lebenden Verwandten.
Der Höhlenbär, der in aufrechter Haltung eine
Höhe von 2V.2 m erreicht, ist der größte bekannte
Bär. Trefflich stellt ihn in seiner Plumpheit und
Massigkeit eine Gravierung aus Combarelles *) dar.
Der braune Bär kam etwa dem Grizzlibären an
Größe gleich. Nicht selten wird der Mensch
Raubtieren zum Opfer gefallen sein, vielleicht
öfter als er sie erlegte. Seine, einem Raubtiere
gegenüber kümmerliche Bewaffnung, die geringe
Kopfzahl der Jägerbanden, die geringe Größe der
altpaläolithischen Rassen lassen den Menschen als
im Kampfe mit Raubtieren stark benachteiligt
erscheinen.
Sicher ist, daß alle diese Raubtiere unter den
Pflanzenfressern des Diluviums stark gehaust haben.
Ein richtiges Bild von den Erfolgen ihrer
Jagd kann man sich nur schwer verschaffen. Der
Löwe, der Leopard Ostafrikas überfällt sein Opfer
im Sprung, und verzehrt es meist an Ort und
Stelle oder verschleppt es kurze Strecken. Die
Knochen bleiben an der Erdoberfläche liegen,
ohne durch Gestein eingebettet zu werden, und
vergehen sehr schnell. Selten findet man Über-
') Nach H. Breuil , aus Übermayer, Der Mensch dr
Vorzeil. S. 244.
250
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 18
erste ihrer Opfer. Ein gutes Teil zur völligen
Vernichtung der Knochenreste trägt ferner der
stets gefräßig umherschweifende Schwärm der
Hyänen bei, die auch die stärksten Knochen zer-
beißen. Nur die sehr wenigen Fälle, wo in
Höhlen die Beutereste oder die Räuber selbst
fossil wurden, geben ein eindringliches Bild von
der Herrschaft der Raubtiere. Die Hyänenhöhlen,
die Schlupfwinkel der Höhlenbären (so die
Tischoferhöhle bei Kufstein, aus der prächtige
Skelette von Schlosser geborgen wurden; die
Höhle von Echenozla-Moline, welche Reste von
800 Bärenskeletten enthielt) sprechen mit ihren
gewaltigen Mengen an Knochen laut genug von
den schweren Wunden, die durch die überaus
zahlreichen Räuber den Pflanzenfressern geschlagen
wurden. Ein unter einem Felsvorsprung ge-
decktes Lager einer Leopardenfamilie zeigte mir
in Deutsch- Ostafrika einen wahren Stapel von
frischen Knochen, meist der Extremitäten, wohl
die Beute einer kurzen Jagdzeit.
JMan darf also den IVIenschen nicht als
den einzigen Feind der diluvialen Tierwelt
betrachten. Doch hat er unter ihr sicher stark
aufgeräumt, mit Zunahme der Bevölkerung gewiß
stärker als die Raubtiere. Lange Zeit führte er
ein reines Jäger- und Fleischesserdasein. In dieser
haben sich Ausbildung der Jagdmethoden und
-Gewinn ständig gesteigert. Im jüngeren Palä-
olithikum mögen sogar besonders geübte und gut
bewaüfnete Jägertrupps auf Beute ausgezogen sein,
so in den dicht besiedelten Flußtälern Südfrank-
reichs. Wieviel aber dazu gehört, einen Menschen,
zumal einen wandernden, mit magerem Wildfleisch
täglich zu sättigen, weiß nur der, wer wie im
ostafrikanischen Kriege genötigt war, wochenlang
von fettlosem Antilopenfleisch fast ohne Brot zu
leben; selbst in guten Wildgegenden war genügend
Nahrung von Jagdkommandos kaum zu beschaffen.
Die Kulturstationen des paläolithischen Menschen
bezeugen eine sehr erfolgreiche Jagd, mögen die
Knochenschichten in ihnen auch oft langjährigen Be-
siedelungen entsprechen. Wenige solcher Stationen
sind dazu im ganzen noch bekannt; wie manches
Beutestück mag außerhalb eines Lagerplatzes ver-
zehrt worden sein, ohne daß seine Knochen fossil
werden konnten.
Als Stätte sehr erfolgreicher Jagd des jungpalä-
olithischen Menschen gilt mit Recht der jurassische
Inselberg von Solutre bei Mäcon, dessen all-
mählich ansteigende, an der einen Seite aber steil
abfallende Platte vom Menschen als günstige Ge-
legenheit zur Herdentreibjagd auf kleine struppige
Wildpferde immer und immer wieder verwendet
wurde. Auf einer Oberfläche von 3800 qm liegt
eine bis 2 m dicke Pferdeknochenschicht, die
neben Artefakten der Aurignacstufe Reste von
100 000 Wildpferden enthalten soll.')
Ein zweiter Platz, der als erfolgreiche Jagd-
stätte des Menschen genannt wird, ist der Löß-
') Obermayer, 1. c. S. 193.
hügel von Predmost in Mähren, eine der
wichtigsten paläolithischen Fundstellen der Erde.
Über ihn hat neuerdings Absolon eine inter-
essante Schilderung gegeben.') Hier sollen Reste
von 1000 Mammuten nach Maska liegen, nach
Soergels erster Schätzung 2 — 300, nach späterer
etwa 5 — 600, also ein wahres Mammutleichenfeld.
Im Gegensatz zu anderen Forschern, die den
Menschen als den Jäger dieser Mammute ansehen,
nimmt letzterer an, daß bei Presmost eine Mam-
mutherde verendet ist, die im kalten Trocken-
klima der Lößzeit nur langsam verweste und erst
in diesem Zustande entdeckt und vom Menschen
verwendet wurde. Soergel führt manchen be-
achtlichen Grund für seine Ansicht an.-) Anderer-
seits, soll auf engen Raum zusammengeballt eine
so gewaltige Herde von Mammuten — mindestens
sehr viele Hunderte von Stücken mit, wie Ab-
solon ausdrücklich betont, zahlreichen Kälbern
— sich gehalten und Nahrung gefunden, und dann
gemeinsam durch ein Naturereignis: einen Schnee-
oder Lößstaubsturm, zugrunde gegangen sein ?
Die letzte Entscheidung ist noch nicht gefällt,
dürfte aber die Schußliste der Predmoster Löß-
jäger belasten.
Der diluviale Mensch ist ein rücksichtsloser
Jäger gewesen. Er war es aus Not und Hunger.
Seine Herrschaft über die Tierwelt vergrößerte
sich stetig mit dem Wachstum der Bevölkerung
und der Vervollkommnung der Jagdwaffen. Im
gleichem Schritte wuchs die unablässige Beun-
ruhigung des Wildes, das ohne Einhaltung einer
,, Schonzeit" verfolgt wurde, sich mit Ausnahme
der flüchtigen Huftiere nur schwer Nachstellungen
entzog, und so in seinem Nachwüchse schwer ge-
fährdet wurde. Aber durch all das ist noch nicht
erwiesen, daß der Mensch der Vernichter von
vielen größeren Tieren der Eiszeit ist.
Diese Meinung — geflossen aus dem Gedanken,
daß es ein natürliches Ende für höhere Einheiten
von Lebewesen nicht gibt — , vertrat Stein-
mann, ebenso Hoernes. Steinmann sagt:
„Der Mensch unterscheidet sich dadurch von aller
übrigen Kreatur, daß er systematisch vernichtet
und ausrottet".^) In der geologischen Gegenwart
hat der Mensch eine Reihe von Tieren ausge-
rottet: andere führt er der Ausrottung näher.
Sicher hat Steinmann darin Recht. Sind aber
') In Klaatsch, 1. c. S. 357.
'-) Soergel zieht zum Vergleiche heran, daß ähnliche
Anhäufungen von Resten des (lebenden) Elefanten aus Afrika
bekannt seien, wo Buren und Eingeborene an schlammigen
Tümpeln mit großem Erfolge nach dem Elfenbein toter Tiere
suchen. „Es handelt sich hier, wie die überwiegende Anzahl
alter Tiere zeigt, um Sterbeplätze, die von kranken und alters-
schwachen Tieren aufgesucht werden." Es bandelt sich hier nicht
um Sterbeplätze, sondern um — Lügen der Elefantenjäger, die
ihr ausrottendes Morden auf ein natürliches Ende ihrer Opfer
abzuwälzen sich bemühen und gern Elfenbein ,, finden". Die
alten Elfenbeinhändler aus Udjidji am Tanganjikasee, dem
großen Umschlagplatz für Kongoelfenbein, wissen von diesen
Praktiken genug zu erzählen.
'') Steinmann, Die geologischen Grundlagen der Ab-
stammungslehre. Leipzig 1908.
N. F. XXI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
251
die während des Diluviums in Mitteleuropa aus-
gestorbenen großen Säuger: Elephas antiquus und
primigenius, Rhinozeros antiquitatis und Mercki,
Höhlenbär und Höhlenlöwe, nun wirklich dem
paläol ithisc hen Jäger zum Opfer ge-
fallen? Die Ursachen des Aussterbens der Or-
ganismen, über die schon reichlich genug ge-
schrieben wurde, sind sehr vielgestaltiger und
verschlungener, schwer enträtselbarer Natur, ^j
Innere und äußere Ursachen wirkten bei dem
Verschwinden der genannten Arten zusammen.
Von außen her der Steinzeitjäger, so z. B. durch
Einengung ihres Verbreitungsgebietes, Gefährdung
der Nachkommenschaft. Seine Waffen und Fang-
arten, sein stetes Fleischbedürfnis waren imstande,
dem Tierbestand schwere Wunden zu schlagen,
ja einzelne Tiere lokal auszurotten. Als innere
Ursachen sind uns manche spezielleren bekannt,
neben den allgemein für das Erlöschen von Tier-
gruppen anerkannten Gründen: wie Klimawechsel
und in seinem Gefolge Erschwerung der Ernährung
und Fortpflanzungsmöglichkeit. So zeigt, wie
Soergel beobachtete, Rhinozeros Mercki, das
wohl bei Beginn der letzten Eiszeit ausstarb, in
Ehringsdorf an zwei Individuen eine krankhafte
Ausbildung des Zahnschmelzes (Hypoplasie), die
durch Stoffwechselstörungen hervorgerufen wurde.
Beim jungdiluvialen Mammut finden sich oft Ge-
bißanomalien, Umbiegungen (Tortuosilät) am
hinteren Ende der letzten Molaren, die den Zahn-
ersatz gefährdeten. Solche krankhaften Erschei-
nungen aber haben sicherlich schädigend auf Er-
nährung und Kräfteersatz der Tiere eingewirkt.
Das Mammut degenerierte lokal vor seinem Aus-
sterben in Mitteleuropa; seine jüngsten Vertreter
aus Schottern der letzten Vereisung der Boden-
seegegend sind geradezu Zwergformen. Bekannt
sind die mannigfachen, durch das Leben in feuchten
Schlupfwinkeln verursachten Erkrankungen an
Knochen und Schädeln des Höhlenbären, die im
Verein mit der hohen Spezialisation im Gebiß
ihn dem Aussterben nähern mußte. Auch beim
Höhlenbären bildete sich gegen Ende des Dilu-
viums eine zwerghafte Rasse heraus.
Kurzum, viele Tatsachen zeigen uns eine ver-
minderte Widerstandskraft, ein Altern in
einzelnen Säugergruppen der Eiszeit an, das auch
ohne Zutun des Menschen zu ihrem Erlöschen
führen mußte. Doch hat der Mensch es vielfach
beschleunigt, besonders in dichter besiedelten
Gegenden, ebenso bei den genannten Zwergrassen,
an die er sich wegen ihrer geringen Wehrhaftig-
keit besonders leicht heranwagen konnte. ') Daß
der Diluvialmensch nicht einzige Veranlassung
zum Aussterben war, könnte vielleicht auch das
Beispiel des Waldelefanten zeigen; er verschwindet
fast gleichzeitig vor der dritten Eiszeit in Europa
und, wenigstens in einer sehr nahestehenden Art,
in Asien, hier von reinen Jägervölkern kaum be-
lästigt, dort aber stark verfolgt. Eher dürfte das
Aussterben des Mammuts Mitteleuropas am Aus-
gang der letzten Eiszeit dem Diluvialjäger zur
Last fallen, das sich dagegen in menschenarmen
Gegenden Nordasiens bis in historische Zeit hielt,
wo es in Sibirien in großen Herden lebte und,
von Klimaschwankungen kaum belästigt, langsam
zugrunde ging.
Wildpferd und Ren aber überlebten trotz un-
geheurer Verluste vermöge ihrer Flüchtigkeit den
paläolithischen und neolithischen Jäger, bis sie in
einzelnen Rassen im sicheren Hafen der Domesti-
kation landeten. Der weit verbreitete Riesen-
hirsch, der kein rares Wild war — wurden doch
in dem kleinen Moore von Bellybetagh bei Dublin
aliein 100 Schädel und 6 Skelette des nahe ver-
wandten Megaceros hibernicus gefunden — , starb
im jüngsten Paläolithikum aus, obgleich er zu den
seltensten Jagdtieren des Menschen gehörte. Ur,
Bison und Elch — letztere beiden immerhin
häufigere Jagdbeute — retteten sich trotz immer
stärker werdender Nachstellung bis in historische
Zeit, wo uns ihr Schicksal nicht mehr beschäftigt.
So mag das Urteil, wieviel an Schuld dem
diluvialen Menschen am Verschwinden mancher
Säuger zufällt, schwanken können. Ein gewisser
Anteil an ihr kommt bei wenigen in Betracht;
bei den meisten kommt sie gar nicht in Frage.
Anders steht es mit seinen Nachkommen in jünge-
rer Zeit; hier belastet sich sein Schuldkonto
ständig. —
So bietet die paläolithische Jagd, sieht man
sie auf dem wechselnden Gemälde diluvialer Zeit,
in der Tier- und Pflanzengemeinschaften kamen und
gingen, grünes Waldland offene Steppe ablöste,
neue Menschenrassen alte überwältigten, der Mensch
nach neuen Zielen drängte — eine Fülle anregen-
der Betrachtungen dar.
') Abel, Die vorweltlichen Säugetiere. Jeua 1914.
^) Wenn man sagt, daß menschliche Jagd, nur der Er-
nährung halber und mit einfachen Waffen betrieben , den
Bestand einer lebenskräftigen Art nicht gefährden könne, und
zum Beweise dafür den afrikanischen Elefanten anführt, der
des Fleisches wegen seit sehr lauter Zeit von den Negern
gejagt, trotzdem aber von den Europäern in großen Herden
angetroffen wurde, — so trifft das auf den paläolithischen
Elefantenjäger doch nur sehr eingeschränkt zu: Elefantenjagd
ist bei den Eingeborenen Afrikas durchaus Gelegenheitsjagd,
um zur ganz überwiegenden Ptlanzenkost dann und wann
tüchtig Fleisch zu essen; eine erhebliche Minderung der Be-
stände ist dabei ausgeschlossen. Der Diluvialjäger aber übte
Zwangsjagd auf Wald- und Pelzelefant aus; F'leischkost war
für ihn die einzige Nahrungsquelle, die die Zahl der Herden
stark mindern mußte.
252
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i8
Bücherbesprechimgen.
Reinhardt, Karl, Poseidonios. 476 S. Mün-
chen 1921, C. H. Beck. Geh. 60 M., geb. 75 M.
Der Gedanke einer vergleichenden Anatomie
als Wissenschaft, von dem Aristoteles, Leo-
nardo da Vinci, Goethe bewegt wurden, ist
in den Legons d'anatomie comparee Georg
Cuviers zur Wirklichkeit geworden. Wie frucht-
bar er war, hat Cuvier weiterhin in seinen
Recherches sur les ossements fossiles (1812) be-
wiesen. Er brachte eine ganze Welt ausgestorbener
Tiergeschlechter zur wissenschaftlichen Aufer-
stehung, so daß Goethe den Grundsatz aus-
sprechen durfte: Wenn ich ein zerstreutes Ge-
rippe finde, so kann ich es zusammenlesen und
aufstellen ; denn hier spricht die ewige Vernunft
durch ein Analogon zu mir, und wenn es das
Riesenfaultier wäre.
Cuvier ging noch weiter; er wagte und voll-
brachte es, einen oder wenige zufällig gefundene
Knochen zum ganzen Skelett, zum ganzen Tier,
zu einem lebhaften Naturbilde zu ergänzen.
Die Erinnerung an Cuviers Werk ist uns oft
gekommen, wenn wir Veranlassung hatten, neueren
Arbeiten auf dem Gebiete der klassischen Philo-
logie zu folgen. Was der durch Flur und Ge-
birge streifende Knabe aus IMömpelgard für die
Naturwissenschaft der Vorzeit zu ahnen, zu sehen
begann, das ging dem Haynroder Kantorssohn
Friedrich August Wolf in seiner engen
Bücherwelt als eine zukünftige Altertumswissen-
schaft auf. Cuvier und Wolf erwuchsen und
blühten unabhängig voneinander. Aber sie be-
gegneten sich wenigstens geistig dort, wo in ihren
Tagen alle Höhenwege der Zeit und der Vorzeit
zusammentrafen, bei Goethe. Unter den Geistern
der Vorzeit, die in Weimar erschienen, war ein
Mann namens Posidonius. Er wurde durch
Seneca eingeführt als Zeitgenosse oder sogar
als Augenzeuge einer höchst merkwürdigen Natur-
begebenheit, der frischen Entstehung einer neuen
Insel im ägäischen Meere; die Vorgänge, welche
das Auftauchen dieser Insel begleiteten, waren
genau dieselben, wie sie Goethe nach seinen
gründlichen Untersuchungen des Kammerberges
bei Eger sich für die Entstehung dieses Berges
gedacht hatte.
Von Posidonius wußte Goethe so viel
und so wenig wie Wolf und Cuvier. Posei-
donios gehörte zu den untergegangenen Ge-
stalten der antiken Welt, von denen außer dem
Namen und geringen literarischen Spuren kaum
etwas zuverlässiges bekannt war. Heute steht er
unter den lebensvollen Gestalten, welche die
klassische Philologie und namentlich Eduard
Schwartz in seinen „Charakterköpfen aus der
antiken Literatur" (3. Aufl. 1910) durch Sammlung
und Ergänzung zerstreuter Reste und verblaßter
Abdrücke wieder aufgerichtet hat. Vor Schwartz
wußten wir von Poseidonios die äußeren
Lebensumstände, die Gebiete seiner Tätigkeit, die
Titel seiner Werke. Der Mann trat uns aber in
keiner Beziehung nahe, so daß wir ihn hätten
sehen können, wie wir etwa seine Schüler und
Verehrer, Cicero und Pompe jus, ohne große
Mühe zu seilen vermögen in der Masse zusammen-
hängender Überlieferungen, die von ihnen und
über sie aus dem Altertum zu uns gekommen
sind. Die Angaben, daß ein Mann namens Posei-
donios als halbasiatischer Grieche zu Apameia
in Syrien geboren worden ist, daß er ein Schüler
des Stoikers Panaitios von Rhodos war und
selber, der stoischen Philosophie zugetan, den
Versuch gemacht hat, die mythologische Theo-
logie der Griechen durch eine Art politisch ethi-
scher Religion für das Volk zu römischem Staats-
gebrauch zu ersetzen; daß er als Historiker den
Polybios ergänzt, daß er auf Reisen durch die
Mittelmeerländer Iberien, Gallien, Ligurien, Sizilien,
Nordafrika, Italien, ein gutes Stück der Welt ge-
sehen und als Frucht seiner Reisen den Versuch
einer vergleichenden Geographie gemacht; daß er
auf diesen Reisen auch naturwissenschaftliche
Kenntnisse gesammelt, daß er mathematische und
astronomische Untersuchungen, namentlich Ver-
suche, die Abhängigkeit der Ebbe und Flut des
Meeres vom Mondwandel zu bestimmen, den Um-
fang der Erdkugel, die Höhe des Luftraumes, die
Entfernung der Sonne von der Erde zu messen,
angestellt habe; daß er sich sogar mit Überzeugung
der Nachtseite der Natur, der Mantik zugewendet
habe; alles das erregte Neugierde und Staunen,
wie die zerstreuten Knochen eines Megatherion ;
aber es gab doch keineswegs die Überzeugung,
daß jene Knochen wirklich zusammengehört haben;
geschweige das Urbild des hochragenden Schattens.
Wie wahr und lebensvoll wurde uns aber diese
Gestalt, als wir sie durch Schwartz zum wirk-
lichen Manne hergestellt sahen, als einen be-
stimmten Menschen in seine Umwelt, in die Ge-
dankenwelt seiner Zeit, in seine Verhältnisse zu
den Bewegungen und Strebungen der Zeitgenossen
gebracht kennen lernten und anfingen, zu be-
greifen, daß seine vielseitige, zum Teil verzerrt
berichtete Tätigkeit keine Übertreibung der Fama,
keine wechselnde Laune eines vielseitig veran-
lagten Geistes sondern Wirklichkeit und Not-
wendigkeit war, gegründet in den universalen
Tendenzen der Stoa, welcher der universale Geist
des Poseidonios eine besondere Gestalt und
eine weitere Entfaltung zu geben sich berufen
fühlte.
Der so unserem Verständnis näher geführte
„letzte bedeutende Geist, den der Hellenismus
hervorgebracht hat", war es also , der einen
stillen ahnungslosen Betrachter im Museo nazio-
nale zu Neapel vor Jahren gefesselt hatte in Ge-
stalt einer Porträtbüste, die dort in der farnesischen
Sammlung der Marmorskulpturen steht, zwischen
den Bildnissen des Zcnon.Sokrates, Sopho-
kles, Karneades und anderen, und die auf
N. F. XXI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
253
dem Chiton den Namen nOIIAONIOS einge-
meißelt trägt. Dieser Kopf, sagte sich der Be-
schauer, muß einen Geist beherbergt haben, der
die Außenwelt wie die Innenwelt scharf zu be-
trachten, zu sondern, zusammenzufassen fähig und
gewohnt war. Die wunderbare Modellierung des
Gesichtes und Schädels, besonders des breit und
tief entwickelten Vorderkopfes zog ihn unwider-
stehlich an, die physiognomischen Lehren La-
vaters und Goethes, die phrenologischen Auf-
stellungen Joseph Galls, die von Karl Gustav
C a r u s erkannten Gesetze der Kranioskopie anzu-
wenden, um eine Ahnung davon zu gewinnen,
was jener Mann im Leben bedeuten konnte, dessen
Züge so ruhig und bestimmt aussprechen : mich
schuf die Natur zu einer reinen gegenständlichen
Sinnesauffassung und zugleich zu einerstarken Kraft
synthetischen Denkens; sie gab mir ausgeprägten
Formensinn und Raumsinn; sie gab mir bei hoher
metaphysischer Begabung eine starke Willenskraft.
Indessen, das war doch nur ein Schema, das
von den landläufigen historischen Notizen mit
ahnungsvollem Inhalt aber nicht mit packendem
Leben erfüllt werden konnte; den Charakterkopf
des Bildhauers hat uns erst Schwartz zum Erde
und Himmel umspannenden Menschen gemacht.
Vor uns liegt das neueste Buch über Pos ei -
donios. Eine treffliche Abbildung der Neapeler
Büste ist ihm vorangesetzt. So, durch den Ein-
druck der äußeren Gestalt, empfängt der Leser
von vornherein eine Ahnung von der Bedeutung
des Mannes, dem er, das Inhaltsverzeichnis des
Buches überblickend, alsbald die lebhafteste Auf-
merksamkeit zuzuwenden sich gezwungen fühlt,
gleichviel welche Fakultät ihn erzogen haben mag,
ob er sich heimischer in der Welt der Sinne oder
im Übersinnlichen fühlt. Das Buch führt unter
weitblickender Nachlese und genauester Betrach-
tung und Prüfung der spärlichen literarischen
Reste des Rhodiers das Schwartz sehe Charakter-
bild mit großer Liebe weiter aus und bringt den
Geist des Mannes nach allen Richtungen zur per-
sönlichsten Aussprache. Wir sehen den Posei-
don i o s als Geschichtsschreiber, als Geographen,
als Ethnologen, als Völkerpsychologen, als Meteoro-
logen, als Kosmologen, als Ethiker, als Theologen,
als Mantiker; jede Seite des Mannes eine Kraft
für sich und alle Seiten doch nur Teilkräfte eines
einheitlichen Geistes, der das Bild der Welt, sein
Wellbild, aufrollt, wie er es von außen und von
innen empfängt. Kein Zug im Bilde, der, nach
zweitausend Jahren, unserem Denken fremd, unver-
ständlich, abgetan wäre. Alles lebendig, anregend,
aufklärend, zum Weiterschauen, Weiterdenken
auffordernd. Was wir heute von der natürlichen
Entstehung des Menschen uns vorstellen, von der
Urgeschichte der Menschheit erforscht haben;
was wir von der Bedeutung der Hand für unsere
Erhebung über die Tierwelt, von dem Einfluß der
verschiedenen Himmelsstriche auf die Fähigkeiten,
Gewohnheiten, Entwicklungszustände der Völker
verstehen; was wir von den Zufälligkeiten oder
Eingebungen reden, welche dem Menschen das
Feuer gaben, die Entwicklung seiner Wohnstätten,
seiner Häuser, seiner ganzen Zivilisation bestimmten ;
war wir von unseren Veranlagungen zu den
bildenden Künsten, zur Geschichtsschreibung, zur
Philosophie, zur Religion verhandeln ; was wir als
Grund und Trieb für unsere Jenseitsvorstellungen
anführen; kurz, alles was wir über unsere an-
fängliche Mitgift und ihre Vermehrung sinnen,
das hat Poseidonios zu durchdringen, zu er-
greifen, zu umfassen versucht mit so zielbewußter,
griechischer Klarheit, daß wir uns ihm gegenüber
gar manchmal als Träumer oder Nebelwanderer
vorkommen. In einer Versammlung der größten
Schauer und Denker und Lehrer aller Zeiten er-
scheint er ebenbürtig.
Wir dürfen aber nicht verhehlen, daß das Bild
des Poseidonios, wie wir es durch Reinhardt
nach der Durcharbeitung seines Buches gewonnen
haben, keineswegs mühelos gewonnen ist. Rein-
hardt schenkt dem Leser, wenigstens dem Manne
der Naturwissenschaften, nichts umsonst. Er
schleppt ihn durch alles Irrsal und Mühsal philo-
logischer Forschung, Verzweiflung und Beschei-
dung. Er verlangt vom Leser, daß er alles, was ihm
von Bildern des Altertums lieb und vertraut oder
wenigstens gepriesen und erstaunlich ist, bezweifle,
zerlege, auflöse, vernichte; daß er die Schriften
eines Cicero, Strabon, Vitruvius, Dio-
doros, Seneca,Plinius, Plutarchos,Kleo-
medes, Aretaios, Ga'lenos, Athenaios,
S t o b a i o s nicht mehr als Geisteswerke derer,
die ihnen den Namen gegeben, verehre, sondern
sie nur noch als Aufbewahrungsorte poseidonischer
Fragmente durchspähe oder auch als Gerüste ab-
baue, worin einzelne Knochen des Poseidonios
mehr oder weniger verstümmelt eingefügt und
angepaßt sind.
Er verlangt vom Leser die Erlernung einer
ungewohnten Sprache, die, mit gehäuftem Wort-
schatz belastet, ungeduldig hin und her zerrt und
mit ihrer unersättlichen Freude an termini tech-
nici beschwerlich fällt. Da muß der Leser sich
immer wieder die Wörter Oikumene, Telos, Topos,
Genos, Pathos, Logos, Bios, Zoon, Pneuma, Arche-
typus, Mimesis, mimetisch, Zetema, zetematisch,
Aporie usw. gefallen lassen. Da muß er mit dem
Verf. rechten: wenn denn einmal die Wörter
pathos, affectus, Leidenschaft ganz verdorben sind,
indem sie uns heute Kraftäußerungen vorspiegeln,
wo ursprünglich Unfreiheit, zügellose Schwäche
gemeint ist, warum behält der Verf. sie bei,
warum setzt er nicht das heute zutreffende deutsche
Wort dafür, um dem Leser beständige Ver-
renkungen zu ersparen ? Ferner, warum erweist er
dem Leser nicht wenigstens dann und wann die
Wohltat, an Stelle von Übersetzungen, die wieder
einer Übersetzung oder einer Erklärung bedürften,
den griechischen oder lateinischen Text hinzu-
setzen oder beizufügen, damit wir, ohne zur
Bibliothek zu laufen, gleich sehen können, was
gemeint sei? Warum mutet er dem naturwissen-
254
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. i8
schaftlichen Leser zu, Redebilder zu begreifen,
welche die Physik verbietet?
Selbst der mit den Lehren der indischen und
griechischen Pneumatiker vertraute Leser stutzt,
wenn er auf den Ausdruck stößt: „der Mond ist
das pneumatische Gestirn"; und kann erst weiter-
gehen, wenn er das Spiritus sidus des Plinius
(hist. nat. II. 99) im Zusammenhang aufgesucht
hat. Eine „Sonnenkraft, die auf Erden alles
pneumatisch durchdringt und sogar die Sprache
des Poseidonios mitdurchdringt" (S. 15), oder ein
„Arabien, das von der Sonnenkraft zu stärkster
Lebensregung pneumatisch durchdrungen scheint"
(S. 128), muß auf Verständnis warten, bis der
Leser, zur Seite 243 vorgedrungen, für die pneu-
matische Erfüllung die verständlichere Wendung
„mit starkem Strome durchatmen" findet, falls er
nicht vorher den Diodoros (II 51) zur Hand
genommen und vom griechischen Text das Ver-
ständnis erhalten hat. Ebenso wird das Wort
Sehpneuma (S. 194) erst begreiflich, damit aber
noch keineswegs annehmbar, wenn der Text des
Kleomedes das ursprüngliche Wort oQarixov
TTvtvLia hergegeben oder der Leser sich erinnert
hat, daß beim Archimedes (nach Olympio-
doros) an einer entsprechenden Stelle einfach
ü(/'/g steht, was beim Lateiner visus, im Deutschen
Blick, Sehstrahl heißt. Für eine derartige Anmerkung
wäre jeder nichtphilologische Leser dankbar.
Physikalische Rätsel sind und bleiben uns „die
alleroberflächenhaftesten Beziehungen"; „der pris-
matische Brechungspunkt, der die Vereinigung
der Einzelkräfte mit der Urkraft ist" (S. 6); „die
hundertfältige Fülle kleiner Einzelheiten, die aus
einer unsichtbaren Mitte strahlt" (S. 31); „das
disponierende Prinzip, das sich im Aufgelöst-Dis-
putatorischen verkrümmelt"; unerklärlich der
physikalische Prozeß, wie in Poseidonios „zum
letzten Male eine soweit erkennbar griechische,
wenn auch gedrungene Mystik mit der spröden
Klarheit griechischen Kausalsinns, dumpfer Opfer-
Seelen- und Orakelglaube mit dem hellsten
griechischen Erkenntnisdrang gemischt, ein welt-
umspannendes System auskristallisieren" (S. 8);
oder der Prozeß, wie in einer Naturschilderung
„alles sich trennt, alles sich auflöst, um zu ästhetisch
wirksamen, von ihrem Grunde losgelösten, plasti-
schen Modellen zu gerinnen" (S. 23); unphysi-
kalisch auch „die eine Seite einer Antithese, deren
andere Seite sich vielleicht durch ein gewisses
Vakuum verrät, das nichts anderes ist als das
Ganze, das Antiochos zu seiner Mitte hat"
(S. 472). Auch Aphorismen wie die folgenden
erscheinen uns nicht ohne weiteres verständlich:
„Religiöses läßt sich nicht erfassen, ohne daß ein
Eigenes dabei wäre". — „Handlungen bedürfen,
um in dem eigentlichen Geiste ihrer Erfahrung
klar zu werden, eines Ganzen". — „Philosophie,
die aus sich selbst zu eigener F"orm durchbricht"
(S. 14). — „Die Stilisierung des Druiden als der
Repräsentation des Logos" (S. 30). — „Die Körper-
feuchtigkeit des Seelenstoffes" (S. 461) usw.
Doch das sind Äußerlichkeiten, die vielleicht
nicht jeden Leser beirren. Was die Sache angeht,
so müssen Fachmänner entscheiden, ob alles, was
Reinhardt für poseidonisch erklärt, wirklich
dem Poseidonios angehört und ihm sogar
eigentümlich ist. Bedenken erregt uns die Meinung
(S. 460), daß die Darstellung des y.aüaog durch
den Arzt Aretaios Kappadox ein Exzerpt
aus Poseidonios enthalte. Das vierte Kapitel
„über den Brand" {niQ} xacaäiv) im zweiten Buche
von den Ursachen und Zeichen der hitzigen Krank-
heiten, soll sich vor dem übrigen Werk dadurch
auszeichnen, daß es in einem eigenen Abschnitt
auf die seelische Verfassung des Erkrankten ein-
geht, und zwar mit Worten, die an eine posei-
donische Stelle bei Cicero de divinatione stark
anklingen. Diesen Anklang hat vor 250 Jahren
schon der Pariser Arzt Pierre Petit (1662) be-
merkt und die Vermutung ausgesprochen, daß
Aretaios hier den Poseidonios benutzt habe.
Dennoch scheint uns der Anklang nicht viel zu
beweisen. Die merkwürdigen geistigen Störungen,
die Aretaios dem im Brennfieber {y.aCaog ist
dem Mediziner Brennfieber, nicht „Brand") Liegen-
den zuschreibt, kann jeder Arzt in allen Einzel-
heiten heute noch beim Fleckfieberkranken be-
obachten. Die Krankheitsschilderung des Are-
taios erscheint uns selbständig, sie ist lebens-
wahr und in allen Teilen unbedingt zur Sache
gehörig; für fremde Einschiebsel hat sie keinen
Raum und sie fällt in keiner Weise aus der ge-
wohnten Rede des Kappadokiers, den wir Ärzte
nach dem Hippokrates als einen der be-
deutendsten schätzen, heraus. Dabei bleibt im-
merhin möglich, daß der „kapriziöse Archaismus
des gezierten Spätlings" einen Ausdruck wie
CwT/x?) öörafiig dem Rhodier entlehnt habe.
Nur dürfte dann aber auch für Poseidonios
nach ärztlichen Quellen gefragt und bei aller An-
erkennung der Selbständigkeit dieses ungeheuren
Geistes zum mindesten auf das TTchia 3tia /.ai
m'&QibTTii'cc TcävTa des Hippokrates verwiesen
werden, das zwar nicht im Wortlaut beim Posei-
donios wiederkehrt, aber dem Sinne nach,
wie der Äther, seine ganze Welt durchdringt;
freilich mit dem Unterschiede, daß Hippokrates
mehr die menschliche Seite, Poseidonios mehr
die göttliche betrachtet. Auch in Kleinigkeiten
finden wir Anklänge an Hippokrates beim
Poseidonios; so in der dreifachen Nahrung,
^>]Qa TQOcpi;, lygu roocpi], m'tvfta, die Reinhardt
höchstens bis zum Erasistratos zurück ver-
folgt, um aber den Poseidonios dafür zu loben
(S. 255).
Reinhardt, der in seinem Parmenides
(Bonn 19 16) die Beziehungen einiger Jugend-
schriften des Hippokrates zu der griechischen
Philosophie bringt, setzt bei Poseidonios fast
ausschließlich die Grundlage der Stoa voraus,
kaum noch die der jonischen Naturforschung.
Hier und da sieht es aus, als ob er mit Seneca
nur die Philosophen, die Weisen, als die Geben-
N. F. XXI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
255
den, die Naturforscher hingegen (S. 50) und Ärzte
(S. 255) als die Nehmenden, Beschenkten ansähe.
Wie denn in seinen Ausführungen über die Be-
ziehungen des Galenos zum Poseido nios
der erstere in seiner Schrift „die Übereinstimmung
zwischen Hippokrates und Piaton" als der
„leibgewordene Schulbetrieb" für chrysippische
Definitionen und als Gefäß für poseidonische Ge-
danken iTf^f TTaO^Cov abgetan wird (S. 263); wo-
gegen wir freilich in diesem Falle nichts Ernst-
liches einwenden können. —
Was bedeutet Poseidonios für die Natur-
wissenschaft? Eigentlicher Naturforscher war er
nicht; aber ein scharfer Beobachter von Natur-
vorgängen, ein reicher Kenner der unendlichen
Fülle in den Naturerscheinungen, ein gründlicher
Zusammenfasser der Einzelheiten und strahlender
Darsteller des Geschauten. Seine Beschreibungen
sind Spiegelbilder eines Geistes, auf den die Zu-
sammenhänge, Tiefen und Herrlichkeiten des
Weltalls eindringen, der uns das Fremdeste und
Seltsamste mit seiner besonderen ()rtlichkeit und
Nachbarschaft und damit vertraut und begreiflich
wiederstrahlt; der in Allem Kraft und Stoff,
Geistiges und Sinnenfälliges zugleich sieht und
damit überall dem unaufhörlichen Werden und
Wandel scheinbarer Zustände als dem ewigen
Wirken einer schöpferischen Weltseele zuschaut,
die zugleich Schöpferkraft und Vorstellung und
Vorsehung ist.
Seine Beschreibung Arabiens, die uns Dio-
doros im zweiten Buch seiner Weltgeschichte
überliefert, würde sogar in Alexander von
Humboldts Kosmos und in Karl Ritters
Erdkunde glänzen, nicht sowohl durch den Stil
als durch die Gediegenheit und Fülle des Inhaltes.
— Poseidonios ist, soviel wir wissen, zwar der
erste, der durch Beobachtungen und IVIessungen
am Hafendamm zu Gades den Zusammenhang
von Ebbe und Flut mit dem Wandel des Mondes
festgestellt hat. Aber es lag ihm dabei nicht viel
an der schlichten Tatsache und an einer physi-
kalischen Erklärung des Phänomens; er gewann
damit ein überzeugendes Beispiel für seine Auf-
fassung des Mondes als eines Lebewesens, das
triebkräftig und saugkräftig seinen Atmungshauch
mit der Erde austauscht. Der Mond ist ihm ein
atmendes Gestirn ; es sättigt die Länder, es erfüllt
die Körper durch sein Herannahen, leert sie durch
sein Sichentfernen; daher die Muscheln mit der
Zunahme des Mondes wachsen. Seine Atmung
fühlen die am stärksten, die blutlos sind; aber
auch das Blut der Tiere und Menschen nimmt
mit seinem Lichte zu und ab, und Laub und Gras
spüren seine alles durchdringende Kraft (Plin.
hist. nat. II 99). — Berechnungen und Messungen
der Erde, der Sonnen weite usw. mögen Era-
thostenes und Hipparchos machen; was
Poseidonios will, ist, die alten Erkenntnisse
jener F"orscher durch geeignete Bilder und Ver-
gleiche anschaulich zu machen, in sein Weltge-
bäude einzuführen. Darin erscheint er denn un-
übertrefflich.
Um uns einen Begriff von der Bewegungsge-
scliwindigkeit des Himmelsgewölbes und von der
Größe der Sonnenbahn zu geben, geht er folgender-
maßen zu Werke: Stellen wir uns ein Pferd vor,
das auf ebenem Boden losgelassen wird in dem
Augenblick, wo die Sonne am Rande des Ge-
sichtskreises sichtbar wird und fortrennt bis zu
dem Augenblicke, wo die Sonne ganz erschienen
ist, so ist für eine annähernde Schätzung klar,
daß es nicht weiter als zehn Stadien kommen
wird; der schnellste Vogel käme um ein Viel-
faches weiter als das Pferd; ein Pfeil, mit schnellstem
Schwünge dahinfliegend, käme noch viel weiter
als der Vogel, so daß er in der gleichen Zeit-
spanne nicht weniger als zweihundert Stadien
durcheilte. Wollten wir nun mit jenem schnellen
Pferde den Wandel des VVeltkörpers vergleichen,
so fänden wir als Durchmesser für die Sonne
zehn Stadien, beim Vergleiche mit dem schnellsten
Vogel einen weit größeren Durchmesser, beim
Vergleiche mit dem Pfeil keinen geringeren als
zweihundert Stadien. Nach alledem ist die Sonne
also nicht etwa einen Fuß groß oder so groß wie
sie uns vorkommt. Wie unendlich viel schneller als
der Flug des Pfeiles aber der Schwung des Welt-
körpers ist, können wir aus folgender Überlegung
abnehmen: Als der Perser wider Hellas zog, da
stellte er, so wird erzählt, Männer von Susa bis
Athen auf, um durch die Stimme das, was unter
ihm in Hellas geschah, den Persern mitzuteilen,
indem die getrennt aufgestellten einander ihre
Worte weitergaben, und es wird erzählt, die
Stimme sei, durch solche Übertragung fort-
schreitend, in zweimal vierundzwanzig Stunden
von Hellas nach Persien gekommen. Wenn nun
diese Luftbewegung, dieser Luftschlag, mit solcher
Schnelligkeit wachsend, in zwei Tagen und Nächten
nur einen so kleinen Teil der Erde durchlaufen
hat, so läßt sich, meine ich, wohl begreifen, wie
unendlich viel größer als die Schnelligkeit der
Stimme die Schnelligkeit des Weltkörpers sein
muß, die in einem Tage und einer Nacht eine
Entfernung durchläuft, die unendlich viel größer
ist als der Abstand Griechenlands von Persien. —
Stellen wir uns nun weiter vor, daß ein Pfeil
den größten Kreis des Erdumfanges durchfliege,
so legte er nicht in dreimal vierundzwanzig Stunden
die 250000 Stadien dieses Kreises zurück. Die
ganze Größe des Weltkörpers aber, der unendlich
viel größer als die Erde ist, durchmißt der Himmel
in einem Tag und einer Nacht. So daß es un-
möglich ist, diese Geschwindigkeit und Eile aus-
zudenken oder in Worten auszudrücken. Nur der
Dichter vermag anzudeuten, wie schnell der Zug
des Weltkörpers eilt :
Weit wie die neblige Ferne ein Mann durchspäht mit den
Augen
Wenn er auf hoher Wart' das dunkle Meer überschauet,
So viel Raum überspringen der Götter hochwiehernde Rosse.
Großartig fürwahr hatHomeros das gesagt und
256
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 18
mit wundervoller Steigerung, indem er nicht nur
den Blick in die größte Ferne für ungenügend
fand, um die Schnelligkeit des eilenden Himmels-
körpers zu versinnlichen, sondern auch noch die
Höhe des Beschauers und die weite Meeresfläche
hinzufügte. Doch auch dieses Bild versagt vor
der Aufgabe, die Eile am Himmelsgewölbe an-
gemessen auszudrücken (Kleomedes II. i. 73).
Den Erdumfang versinnlicht Poseidonios
so: Der Stern Kanobos im Steuerruder der Argo
ist in Rhodos eben noch sichtbar, in Alexandria,
das unter derselben IVIittagslinie liegt, erhebt er
sich um den vierten Teil eines Tierkreiszeichen,
also um 7,5"; diesem Himmelsbogen entsprechend
müßte der Abstand von Rhodos nach Alexandreia
mit 48 multipliziert werden, um den Umfang der
Erdkugel zu gewinnen. Poseidonios unterläßt
es, den irdischen Bogen zwischen Rhodos und
Alexandria zu messen; ihm kommt es nicht wie
dem Eratosthenes darauf an, die genaue Zahl
mittels des Gnomon zu ermitteln ; er will ein
anschauliches Verhältnis geben. Dazu genügt
eine landläufige SchifTerangabe , die den Seeweg
auf 5000 Stadien angibt. IVIit ihr gewinnt er
einen Erdumfang von 240000 Stadien = 45000
Kilometer; immerhin kommt diese Begrenzung
der Phantasie dem wirklichen Maß von 4OOOO
Kilometern nahe genug. Für das Maß des See-
weges nach Indien bei westlicher Fahrt stützt
Poseidonios sich auf Erdmessungen des Era-
tosthenes; seine Rechnung war falsch; aber
Kolumbus vertraute ihr und entdeckte Amerika.
In Spielerei artet die Methode des Posei-
donios aus, wo er eine Vorstellung von den Laut-
und Tonverhältnissen der Völkersprachen für die
verschiedenen Breiten zu geben versucht; er spannt
in das Himmelsgewölbe eine dreieckige Harfe ein,
deren längste tiefstklingende Saite als Himmels-
achse zum Nordpol reicht, und läßt dieser Saite
in gleichen Abständen sechs weitere Saiten folgen,
deren kürzeste — höchstklingende — dem Äquator
zunächst liegt. Aber solche Hilfsmittel waren
damals neu; Cicero halte Grund, das drehbare
Uranologium des Poseidonios auf Rhodos zu
bewundern.
Was uns also Poseidonios gibt, sind keine
neuen naturwissenschaftlichen Feststellungen, aber
großartige Naturbetrachtungen, zu denen als ein
Hauptmittel die Proportion dient; ein Mittel, das
auch Humboldt nicht verschmäht und das nach
ihm Du Bois-Reymond aufs äußerste ge-
trieben hat.
Der Übergang von der Naturwissenschaft zur
Ethik und zur Theologie ist für Poseidonios
in der griechischen Weltanschauung ohne weiteres
gegeben. Den Griechen sind wie allen Indo-
germanen von jeher die Himmelslichter die leben-
digen und lebenbeherrschenden Götter. Zeus,
der strahlende Himmel, und sein Sohn Apollon
Helios sind ihnen die Spender der wohltätigen
wie der schädlichen Licht- und Wärmewirkungen,
welche der Mensch an sich selber und an seiner
Erde gewahr wird. Je weiter nun die Astronomie
und die Kosmologie fortschreiten, desto mannig-
faltiger und gewaltiger zeigen sich die Beziehungen
des großen Weltalls zur Erde und zum Menschen,
desto mehr erscheinen die Himmelskörper und
die Erde und der Mensch als Geschöpfe einer
gesetzmäßig und zweckmäßig gestaltenden Kraft,
die als feuriger Hauch die Sonne erhält, die Erde
durchdringt, die Winde und Wasser, die Boden-
säfte und Eingeweide der Erde bewegt, die Men-
schen und Tiere und Pflanzen wachsen macht.
Das Ziel dieser bildenden, ordnenden und erhalten-
den Lebenskraft ist, immerfort gesteigertes Leben
hervorzubringen; sie hat die besten Lebewesen
an den Umkreis der Welt als Götter, in die Mitte
der Welt als Menschen gesetzt. Die Göttlichkeit
der erfinderischen nachschaft'enden Menschenseele,
die Herrlichkeit des Weltalls geben uns die Ahnung
eines Weltgeistes. Die forschende Astronomie
hat an Stelle der lebendigen Götter den blinden
atombewegenden Zwang, XQda, ämyxr^, gesetzt;
eine tiefere Naturbetrachtung kann die zielsichere
Vernunft, den oQÜ^bg löyog, im Weltall nicht ver-
kennen ; an Stelle des mechanischen Naturbegrififes
muß der organische gesetzt werden. Die ver-
blassenden Himmelsgötter weichen einem ge-
steigerten Gottesbegriff, einem weltdurchdringen-
den, weltdurchatmenden Urweseu, das geistig be-
trachtet Zeus oder Pronoia, sinnlich betrachtet
Physis, sittlich betrachtet Heimarmene heißt. Die
allwaltende Vorsehung, die unerschöpflich ge-
bärende Natur, die unabwendbare Vorherbestim-
mung, das sind die verehrunggebietenden Mächte,
welche über den Geschicken des Menschen stehen
und wie die Menschen so auch Götter und Tiere
und Pflanzen und Wasser und Gestein als Teile
des großen Alls ewig bewegen.
G. Sticker, Würzburg.
Literatur.
Blumenthal, Otto, Fortschritte der mathematischen
Wissenschaften in Monographien. Heft 2.
Lorentz-Einstein-Minkowski, Das Relativitäts-
prinzip. 4. Aufl. Leipzig-Berlin '22, Verlag von B. G. Teub-
ner. Geh. 40 M., geb. 48 M.
Winderlich, R. , Lehrbuch der Chemie für höhere
Lehranstalten. Teil 1 : Unterstufe. Braunschweig '22, Verlag
V. Fr. Vieweg ä: Sohn. Geb. 16 M. u. 20**/o Vcrlagszuschlag.
Valier, Astronom Max., Der Sterngucker. 3. Aufl. des
Sternbüchlcin. München '22 , Verlag Natur und Kultur Dr.
Franz Joseph Völler. Brosch. 8 M.
Valier, Astronom Max., Der Untergang der Erde. 3. Aufl.
des Steinbüchlein. München '22, Verlag v. Natur u. Kultur.
Brosch. 8 M.
Inhalt: Kronkel, Vom diluvialen Menschen und seiner Jag
Poseidonios. S. 252. — Literatur: Liste. S. 256.
S. 241.
BU9beTbesprecbungen : K. Reinhardt,
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav F'ischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. BaDd;
ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 7. Mai 1922.
Nummer 19.
Das Meer zur Wellengebirgszeit zwischen Schwarzwald
und Thüringerwald.
Von Dr. Paul Vollrath-Stuttgart.
[Nachdruck verboten.]
Mit der Aufrichtung der karbonischen Alpen
um die Wende von Unter- und Oberkarbon brach
für Süd- und Mitteldeutschland eine langwährende
Festlandsperiode an, die erst mit der Transgression
des Rhät- und des Jurameeres ihr Ende fand.
Zweimal wurde diese Zeit vorherrschend konti-
nentaler Sedimentbildung durch die Ingressionen
des Zechstein- und des Muschelkalkmeeres unter-
brochen. Während die äußersten Grenzen dieser
Ingressionsmeere, soweit sie überhaupt noch fest-
zustellen sind, schon länger bekannt sind, fehlte
es bis vor kurzer Zeit an einer genaueren Fest-
legung der einzelnen Phasen dieser Überflutungen.
Denn unsere üblichen paläogeographischen Karten
stellen gleichsam bloß Projektionen aller ver-
schiedenen Zustände eines längeren Zeitraumes
auf ein einziges Kartenblatt dar, ohne daß aber
eine derartige Verteilung von Wasser und Land
auch nur einmal in Wirklichkeit vorhanden ge-
wesen wäre. Denn die Küstenlinien der vorzeit-
lichen Meere haben selbst innerhalb kleinerer Zeit-
räume in den weitesten Grenzen geschwankt.
Transgressionen und Regressionen in kleinem
Maßstabe wechselten in bunter Folge miteinander
ab. Für den größten Teil unserer marinen Sedi-
mente ist die Festlegung dieser einzelnen Phasen
eine noch zu leistende Arbeit. Mit der Kenntnis
der Küstenlinien ist aber die Aufgabe der paläo-
geographischen Forschung noch nicht erschöpft.
In vielen Fällen lassen sich die Grenzen von Land
und Meer nur auf kurzen Strecken feststellen, da
die Schichten entweder der Abtragung zum Opfer
gefallen sind oder aber unter Tag liegen. Dann
lassen sich jedoch aus der Beschaffenheit (F'azies)
und Mächtigkeit der Sedimente Schlüsse ziehen
auf die morphologische Beschaffenheit des Meeres-
bodens, die Lage der Küste, auf die Meerestiefe,
die Stärke und Richtung der Meeresströmungen.
Angaben über die Verteilung der Faunen ver-
vollständigen das Bild der Meere der Vorzeit.
Für den oberen Hauptmuschelkalk besitzen
wir mehrere Arbeiten dieser Art von G.Wagner.
Für den unteren Muschelkalk, das Wellengebirge
zwischen Schwarzwald und Thüringerwald führte
ich ähnliche Untersuchungen in den Jahren 1920
und 192 1 aus. Da eine Veröffentlichung der
ganzen Arbeit vorerst nicht möglich sein wird,
möchte ich über die wichtigsten Ergebnisse hier
kurz berichten.^)
Die erste Bedingung, die paläogeographische
Forschungen erfordern, ist eine völlig geklärte
Mit 1 Karte.
Stratigraphie (Schichtenfolge). Die Gliede-
rung des Wellengebirges in den einzelnen Ge-
bieten ist aus der S. 258 angegebenen Tabelle
ersichtlich. Im Schwarzwaldgebiet wie im süd-
lichen Vorland des Thüringer Waldes haben wir
vier Abteilungen. Die unterste wird oben durch
Schichten abgegrenzt, die in beiden Gebieten
Terebratula Ecki führen (Hauptlager der Terebr.
Ecki, Oolithbänke « und ß). Die beiden mittleren
Teile werden durch Schichten mit Terebratula
vulgaris getrennt (Horizont der Terebr. vulg. im
Schwarzwald, Terebratelkalke in Thüringen). Die
obere Abteilung ist durch die Führung von Myo-
phoria orbicularis gekennzeichnet (Orbicularis-
schichten des Schwarzwaldes, Orbicularisschichten
-|- Schaumkalke in Thüringen). Im Mosbacher
Gebiet werden die beiden mittleren Abteilungen
zusammengenommen, da hier Schichten mit Tere-
bratula vulgaris fehlen. Das nächstliegende war
nun die zeitliche Gleichsetzung dieser verschiedenen
Horizonte untereinander. Ebenso sollte die Grenze
gegen den Roth im ganzen Gebiet gleichaltrig
sein. Bei einer durchgehenden Verfolgung der
Leithorizonte vom Schwarzwald zum Thüringer-
wald zeigte sich aber, daß diese Anschauung
nicht haltbar ist. Ohne auf Einzelheiten einzu-
gehen, seien die Ergebnisse der stratigraphischen
Untersuchung in einer Tabelle zusammengefaßt.
(Siehe Seite 258.)
Die verschiedenartige Ausbildung in diesen
3 Gebieten läßt leicht 3 P'aziesgebiete unter-
scheiden, die ich als Meininger, Mosbacher und
Freudenstädter Fazies bezeichnet habe. Die
Meininger Fazies ist vor den beiden anderen durch
einen unter der Oolithbank a liegenden Schicht-
komplex bis zu 37 m Mächtigkeit gekennzeichnet,
der im Mosbacher Gebiet nur teilweise vorhanden
ist (Mosbacher Grenzschichten), im Schwarzwald
aber vollständig fehlt bzw. in anderer Fazies aus-
gebildet ist. Für die Meininger Fazies ist ferner
der Terebratelkalk bezeichnend, der in den anderen
Gebieten fehlt (der Schwarzwälder Terebratel-
horizont ist jünger). Das Hauptlager der Tere-
bratula Ecki und der Beneckeia Buchi tritt so-
wohl im Mosbacher als im Freudenstädter Gebiet
auf. Die Schaumkalkbänke sind der Mosbacher
und Meininger Fazies gemeinsam, im Schwarz-
') Die Angabe der benützten Literatur unterlasse ich hier.
F.s sei deshalb auf die Ende 1923 im Neuen Jahrbuch für
Mineralogie erscheinende Tollständige Arbeit verwiesen.
258
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
Freudenstadt
Mosbach
Meiningen
Orbicularis-
schichten
Orbicularis-
schichten
Orbicularis-
schichten
Schaumkalke
Schaumkalke
Spiriferinabank
Spiriferinabank
Pentacrinusbank
Horizont der
Terebr. vulg.
Terebratelkalke
Hauptlager der Terebr. Ecki
und der Beneckeia Buchi
Liegende Dolo-
mite (« u. ,-;)
Konglomeratbank
« u. ß
Oojithbank «u. p'
Röthmergel
Mosbacher Grenz-
schichten
Unterster
Wellenkalk .
Röthmergel
Gelber Grenzkalk
Röthmergel
Myophorienbank
Myophorien-
schichten
wald fehlen sie vollständig. Außerdem aber ist
die Beteiligung dolomitischer Schichten an der
Zusammensetzung des Wellengebirges von Be-
deutung. Im IVIeininger Gebiet haben wir durch-
weg kalkige Ausbildung. An der unteren Tauber
beginnt die dolomitische Ausbildung nahe der
unteren Grenze und steigt nach Süden zu in
immer höhere Horizonte. Bei Freudenstadt sind
sämtliche Schichten unter den Orbicularisschichten
in dolomitisch-mergeliger Fazies ausgebildet. Die
Grenzen der einzelnen Ausbildungsweisen sind aus
der beigefügten Karte zu ersehen.
Zum erstenmal treffen wir typische IVIuschel-
kalkschichten in unserem Gebiet in den sog.
Myophorienschichten der Meininger Gegend.
In der Richtung auf Jena nehmen sie beständig
an Mächtigkeit zu. Nach Süden werden sie immer
weniger mächtig, gehen in dolomitische Schichten
über und erscheinen bei Würzburg und Mosbach
als dolomitisches Sandbänkchen mit marinen
Fossilien (Myophorienbank). Im Schwarzwald ist
von ihnen nichts mehr nachzuweisen. Darüber
folgen wieder rote Mergel, die im nördlichen
Vorland des Thüringer Waldes auskeilen, nach
Süden aber beständig an Mächtigkeit zunehmen
(bei Mosbach 10 m). Deshalb werden die in
Rede stehenden Schichten nördlich des Thüringer
Waldes schon zum Muschelkalk, südlich desselben
aber noch zum Roth gezogen. Über den roten
Mergeln beginnen die kalkigen bzw. dolomitischen
Schichten des Wellengebirges.
Aus der Tabelle ist ersichtlich, daß die untere
Grenze keineswegs wie seither angenommen als
gleichaltrig anzusehen ist. Sie steigt von Norden
nach Süden in immer höhere stratigraphische
Horizonte. Für eine Erklärung bieten sich zwei
Möglichkeiten: i. Wir fassen den Roth im ganzen
Gebiet als gleichaltrige Bildung auf Da nun der
Muschelkalk im Süden erst später auftritt als im
Norden, müßten wir für Süddeutschland, insbe-
sondere fürs Schwarzwaldgebiet eine beträchtliche
Sedimentationsunterbrechung zwischen Roth und
Muschelkalk annehmen. Da aber von einer der-
artigen Lücke im Schwarzwald nichts nachzu-
weisen ist, so ist dieser Fall auszuschließen. 2. Roth
und Muschelkalk folgen unmittelbar aufeinander.
Daraus ergibt sich die bedeutsame P'olgerung,
daß der Roth des Schwarzwaldes und der unterste
Wellenkalk in Thüringen als gleichaltrige Bil-
dungen anzusehen sind. Roth und Muschelkalk
stehen sich demnach nicht als dem Alter nach
verschiedene Bildungen, sondern nur als zwei ver-
schiedene Fazies gegenüber. Die Muschelkalk-
fazies transgrediert über die Röthfazies. Die
weitere Frage ist nun die: Haben wir beide nur
als zwei verschiedene marine Ausbildungsweisen
zu betrachten, oder haben wir hier den Gegen-
satz zwischen kontinentaler und mariner Fazies ? ')
Die landläufige Meinung ist nun bis jetzt die einer
marinen Entstehung des Roth. Grund dazu war
das Auftreten der schon erwähnten Myophorien-
bank der Meininger und Mosbacher Gegend. Die
marinen Fossilien weisen unzweifelhaft auf marine
Entstehung hin. Anders verhält es sich dagegen
mit den roten Mergeln. Noch nie wurde bis
jetzt in ihnen ein marines Fossil gefunden. Alles
spricht gegen eine meerische Bildung: die rote
Färbung, die gleichmäßige Ausbildung über große
Gebiete, das Fehlen einer deutlichen Schichtung.
So kommt denn auch M. Schmidt zu dem Er-
gebnis, daß für die Röthbildung des Schwarz-
waldes eine regional wirkende Ursache angenom-
men werden muß. Er denkt an äolische Bildung
analog der Lößbildung. F"ür andere Gebiete
müssen wir aber ebenso sicher eine Entstehung
unter Wasserbedeckung annehmen. Wir sind
noch weit entfernt, im einzelnen die verschiedenen
Möglichkeiten der Röthbildung angeben zu können.
Wie dem auch sei, sicher scheint mir, daß nur
kontinentale Entstehung in Betracht kommt. Roth
und Muschelkalk stehen sich demnach als konti-
nentale und marine Fazies gegenüber. Noch
deutlicher wird das Verhältnis beider, wenn wir
') Kontinental im Sinne von Penck (lakuslrisch -|- lagu-
när -f- fluviatil -\- subaerisch).
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
2S9
die Kreise etwas weiter ziehen. In Nordfrank-
reich und England fehlt der Muschelkalk voll-
ständig ; er ist dort durch rote bzw. bunte Mergel
ersetzt.
Nach diesen Erörterungen erscheint uns die
Myophorienbank in anderem Lichte. Sie stellt
eine vorübergehende, nur kurz währende Über-
flutung dar, die bald wieder in einen Rückzug
des Meeres übergeht. Die Kontinentalbildungen
dringen bis über den Thüringer Wald hinaus vor,
bis dann der endgültige Vorstoß des Muschel-
kalkmeeres erfolgt. Langsam dringt das Meer
von Nordthüringen wieder nach Süden vor. Auch
hier sind einzelne kleinere Schwankungen festzu-
stellen, die sich durch das häufige Erscheinen von
Konglomeratbänken im untersten Wellenkalk an-
zeigen. Dann erfolgt die Überflutung des Mos-
bacher Gebietes. Es kommt zur Bildung der
Mosbacher Grenzschichten. Zur Zeit der Oolith-
bank « in Thüringen wird das Schwarzwaldgebiet
unter Wasser gesetzt, und zwar läßt sich die ent-
sprechende untere Bank (a) der liegenden Dolo-
^ Meinin^er TäzieS.
nosiacßierräzies
r?eu(/en3/a d/er raz/ss
^ßS Überwiegend /fns/aJiiner/ia/k
(/er 0oi3 und JerlJ. /
\ ■ ^ , "^ 5ancl^limmerJ(a/k der
Oo/dhiank/3.
Mächtigkeitskurven des Wellengebirges-
Auskeilen des untersten Wellengebirges (Schichten unter der Oolithbank «, Mosbacher Grenzschichten).
Auskeilen der unteren Terebratelbank (mit Terebratula vulgaris).
Auskeilen der unteren Schaumkalkbank.
Auskeilen der mittleren Schaumkalkbank.
Oolithbank ji. U. T. Untere Terebratelbank.
Maßstab 1 : 2 000 000.
i6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
K F. XXI. Nr. 19
mite noch weit südlich von Freudenstadt nach-
weisen, so daß wir eine sehr rasche Transgression
annehmen müssen, was nur denkbar ist, wenn sie
sich über ein weitgehend eingeebnetes Gelände
bewegte, so daß eine leichte Senkung genügte,
um das ganze Gebiet unter Wasser zu setzen.
Wie weit diese Transgression nach Süden ging,
bedarf noch der näheren Untersuchung.
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen wollen
wir uns nun mit der eigentlichen Paläogeo-
graphie des Wellengebirgsmeeres beschäftigen.
Ich habe mich dazu eines Mittels bedient, das
meiner Ansicht nach zur Klärung paläogeo-
graphischer Fragen noch lange nicht genug ge-
würdigt wird, der Mächtigkeitskurven. Bei ge-
nügender Vorsicht ergeben sie in Verbindung mit
Längsprofilen die genauesten Daten über die Geo-
graphie der Meere der Vorzeit. Allerdings darf
hier nicht ohne weiteres die Mächtigkeit pro-
portional der Meerestiefe gesetzt werden; denn
es ist ja eine bekannte Tatsache, daß die Stärke
der Sedimentation nach der Tiefsee allmählich
abnimmt. In unserem Falle erhalten wir aber
dadurch, daß die Muschelkalkfazies in den becken-
tieferen Teilen früher einsetzt, im allgemeinen im
Beckeninnern auch' die größte Mächtigkeit der
Schichten des Wellengebirges.
Die beigegebene Karte zeigt uns mit aller
Deutlichkeit zwei Becken, die durch Barren mehr
oder weniger voneinander getrennt sind. Im
Norden haben wir das Meininger Becken, das
vom größeren norddeutschen Gebiet durch zwei
Barren teilweise abgeschlossen ist. Die eine geht
vom bayrisch-böhmischen Massiv aus annähernd
in der Richtung des heutigen Thüringer Waldes
(Eisfelder Barre), die andere verläuft vom
Rheinischen Schiefergebirge, vom Ardennenfest-
land aus in östlicher Richtung (Geisaer Barre).
Im Süden liegt das Mosbacher Becken, das durch
die Tauberbarre nach Norden fast vollständig ab-
geschlossen ist. Diese nimmt ihren Ausgang vom
heutigen Ries, geht zunächst in der Richtung auf
Würzburg zu, biegt aber dann nach Westen ab
und überschreitet die untere Tauber. Das heutige
Schwaben besaß dem Mosbacher Becken gegen-
über eine erhöhte Lage, was wir schon bei den
allgemeinen Betrachtungen feststellen konnten.
Jedes dieser drei Gebiete ist durch eine eigene
Fazies ausgezeichnet, deren Merkmale wir schon
am Anfang feststellten. Für das Mosbacher Becken
haben wir außerdem noch Beweise in den sub-
marinen Rutschungen. Denn die gefalteten
Schichten, die häufig auftreten („Wellenkalk"), die
damit verbundene auskeilende Lagerung lassen
sich am ungezwungensten in dieser Weise er-
klären. In vielen Fällen Heß sich die Richtung
derselben festlegen ; sie weisen nach dem Becken-
innern. Dieselben Züge lassen sich durch das
ganze Wellengebirge nachweisen. Die Tauber-
barre wurde schon früher durch G. Wagner
für den Hauptmuschelkalk nachgewiesen (Barre
V. Gammesfeld). Die absolute Höhenlage der
einzelnen Gebiete unterliegt zwar beträchtlichen
Schwankungen, wie sich aus den folgenden Aus-
führungen ergeben wird. Aber die morpholo-
gischen Einzelzüge des Untergrundes bleiben sich
gleich.
Was zunächst die Schichten unter der
Oolithbank a anbetrifift (unterster Wellenkalk
in Thüringen, Mosbacher Grenzschichten), so ließ
sich ihr Auskeilen nur auf kurzen Strecken wirk-
lich beobachten; dagegen konnte ich mit Hilfe
der Mächtigkeitskurven dieser Schichten und ihrer
petrographischen Beschaffenheit die Linie des
Auskeilens ziemlich genau festlegen ( der
Karte). Wir haben hier die Küstenlinie der Zeit
vor der Transgression der Oolithbank a vor
uns. Die südlichsten Ausläufer dieser Schichten
fanden sich bei Durlach (bei Karlsruhe) als dolo-
mitische Mergel und kristalline Dolomite mit
Röthgeröllen , abgelagert in Erosionsfurchen im
Roth. Das ganze schwäbische Gebiet bestand
demnach zu dieser Zeit als Festland; die Tauber-
barre ragte mindestens noch bis an die untere
Tauber (Hochhausen) als Halbinsel ins Meer.
Vergleichsweise sei hier angeführt, daß fast die-
selbe Küstenlinie wieder zur obersten Muschel-
kalkzeit auftritt (fränkische Grenzschichten von
G. Wagner).
Die nun folgende Zeit der Oolithbänke u
und (i führte zur teilweisen Überflutung der
Tauberbarre und des schwäbischen Gebietes. Das
Vorhandensein der Geisaer und der Eisfelder
Barre ist durch das abweichende petrographische
Verhalten dieser Bänke angedeutet. Sie erscheinen,
ebenso wie der höher folgende Terebratelkalk,
hier als kristalline Kalke, während sie im engeren
Meininger Gebiet in oolithischer Ausbildung vor-
handen sind. Nach Süden zu gehen sie bei Würz-
burg (Oolithbank «) oder südwestlich Würzburg
(Oolithbank ß) in Konglomeratbänke über. Als
solche setzen sie sich in das Mosbacher Gebiet
fort. Zwischen Tauber und unterem Neckar
(Buchen) erfolgt der Übergang in Dolomitfazies.
Im Schwarzwald erscheinen sie in den beiden
Bänken der liegenden Dolomite wieder, die auch
hier oft deutlich konglomeratische Ausbildung
zeigen. Eine Besonderheit der Würzburger Gegend
stellt der Sandglimmerkalk dar, der hier die Oolith-
bank [i ersetzt. Als deltaähnliche Bildung ist er
in unmittelbarem Anschluß an die Tauberbarre
entstanden zu denken (vgl. die Karte). Derartige
Sandeinschwemmungen von der Tauberbarre her
wiederholen sich im Wellengebirge noch mehr-
mals; auch im mittleren Muschelkalk zeigen sie
sich mit aller Deutlichkeit wieder.
Aus dieser Verteilung der petrographischen
Ausbildung, ebenso aus der Mächtigkeit der
darunterliegenden Schichten bis zur Röthgrenze
müssen wir das Beckentiefste in der Meininger
Gegend annehmen. Die Mosbacher Konglomerat-
bänke « und ß erweisen sich durch die konglo-
meratische wie die dolomitische Ausbildung als
Sedimente des flachsten Wassers. Dasselbe be-
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
261
weisen die Fossilien dieser Bänke. Von der
reichhaltigen Fauna der Meininger Gegend, unter
der besonders Terebratula Ecki und Beneckeia
Buchi bemerkenswert ist, finden sich in der dolo-
mitischen und konglomeratischen Ausbildung fast
nur Encrinitenstielglieder. Nur als große Selten-
heiten treten Terebratula Ecki und Beneckeia
Buchi auch hier auf. Dafür stellen sich reichlich
Wirbeltierüberreste ein. Die beiden Charakter-
formen des Thüringer Oolithhorizontes erscheinen
also gleichzeitig im südlichen Gebiet, finden aber
offenbar keine günstigen Lebensbedingungen. Im
Schwarzwald treten sie in den folgenden dolo-
mitischen Mergeln nur in spärlichen Exemplaren auf
Mit dem Hauptlager der Terebratula
Ecki und der Beneckeia Buchi bricht der Höhe-
punkt ihrer Entwicklung an. In ungezählten
Exemplaren finden sie sich hier. Vom Schwarz-
wald aus erfolgt eine Besiedlung des Mosbacher
Beckens, während um diese Zeit in Thüringer
keine Spur mehr von ihnen zu finden ist. Ir.
den folgenden Schichten des Schwarzwälder Wellen-
gebirges hält Beneckeia Buchi in einzelnen Exem-
plaren bis zum Horizont der Terebratula vulgaris
an, Terebratula Ecki verschwindet schon wenige
Meter über ihrem Hauptlager. Dafür tritt jetzt
eine andere Form, Terebratula vulgaris, auf Wir
können noch heute den Weg, den sie einge-
schlagen hat, genau verfolgen. In Thüringen
taucht sie zum erstenmal häufig in den beiden
Terebratelbänken auf Von hier aus wandert
sie über das Odenwaldgebiet (Michelstadt) nach
der Pfalz und nach Lothringen, um dann von
hier aus zum Schwarzwalde und weiter östlich
vorzudringen (Geislingen b. Hall). Im Mosbacher
Gebiet ist bis jetzt keine Terebratula vulgaris
nachgewiesen (vgl. das Auskeilen der Terebratel-
kalke auf der Karte). Der Grund liegt meines
Erachtens darin, daß, wie es auch G. Wagner
für den Hauptmuschelkalk nachweist, diese Form
gegen das Beckentiefere verschwindet. Wir hätten
demnach nunmehr das Gebiet des tiefsten Meeres
im Mosbacher Becken zu suchen, eine Ansicht,
die durch die nachher zu besprechende Ausbildung
der Orbicularisschichten bestätigt wird. Viel um-
stritten ist die Altersstellung des Schwarzwälder
Terebratelhorizontes im Verhältnis zum Thüringer
Terebratelkalk. Durch das Mosbacher Gebiet ist
ein Vergleich nicht möglich. Dagegen stellt sich
bei einer Verfolgung der Profile über den Oden-
wald (Michelstadt), die Pfalz und Lothringen klar
heraus, daß der Schwarzwälder Terebratelhorizont
zeitlich etwas später einzureihen ist als der
Thüringer Terebratelkalk. Auf Einzelheiten ein-
zugehen verbietet mir der zur Verfügung stehende
Raum.
Als einer der wichtigsten Leithorizonte folgt
die Spirif erinabank. Nachdem ich sie nun
auch am Nordostrande des Schwarzwaldes, wo
sie E. Fraas nicht fand und ebenso in württem-
bergisch Franken nachgewiesen habe, ist sie im
ganzen Gebiet als durchgehend anzusehen. Be-
merkenswert ist vor allem die Fossilverteilung.
Im südlichen Gebiet bis nördlich Würzburg führt
sie überall Spiriferina fragilis und Spiriferina hir-
suta. Bei Meiningen verschwinden beide Formen.
Es finden sich hier Stielglieder von Pentacriniten
(Pentacrinusbank). Nachdem sich die Crinoiden
im untersten Wellenkalk überall als Bewohner
der flachsten Meeresteile erwiesen haben, müssen
wir auch in diesem Falle für das Meininger Ge-
biet Flachmeer annehmen. Das Beckentiefste
befand sich im südlichen Teile, im Mosbacher
Becken. Dieselben Verhältnisse sind uns schon
bei der Betrachtung über das Vorkommen von
Terebratula vulgaris entgegengetreten.
Mit den Schaumkalken beginnen im Mos-
bacher und Meininger Gebiet die Schichten der
Myophoria orbicularis. Mit Rücksicht auf die
Schwarzwälder Verhältnisse, wo diese Form aber
erst über den dem Schaumkalkhorizont äquivalenten
Schichten einsetzt, möchte ich die Bezeichnung
„Orbicularisschichten" nur für den über der oberen
Schaumkalkbank folgenden Schichtkomplex an-
wenden. Im Gebiet der Meininger Fazies sind
es drei Bänke, die ursprünglich überwiegend
oolithisch, durch sekundäre Vorgänge die be-
zeichnende schaumig-poröse Struktur angenommen
haben. Daneben beteiligen sich reichlicher
Muscheldetritus und Crinoidenstielglieder an der
Zusammensetzung der Bänke. Stellenweise tritt
an Stelle der oolithischen Ausbildung der oberen
Bank ein eigenartiger Sinterkalk (Seesinter oder
Stromatolith von O. M. Reis), besonders in der
Umgebung der Tauberbarre. Die Mächtigkeit
der Schaumkalke nimmt, wenn man von den
allerdings sehr starken lokalen Schwankungen
absieht, von Meiningen aus gegen Würzburg ab.
In der Umgebung der Tauberbarre erfolgt dann
wieder ein rasches Anschwellen. Besonders gilt dies
für die obere Bank, die in der Regel sonst nur
wenige Dezimeter stark ist, im Südwesten dieser
Barre aber plötzlich bis über 4 m Mächtigkeit
anschwillt (im Strömungsschatten der Barre).
In der Richtung auf Mosbach zu nimmt die
Mächtigkeit rasch ab, die Oolithstruktur tritt zu-
rück, der Muscheldetritus wird vorherrschend.
Zunächst keilt die mittlere Bank aus ( der
Karte), die obere und untere Bank lassen sich bis
zum Nordrand des Schwarzwaldes verfolgen und
keilen dann auch aus ( der Karte).
Vor dem Auskeilen gehen sie in kristallinen Kalk
über. Zugleich machen sich Anzeichen einer
starken Aufarbeitung des Untergrundes in Form
plattiger, großer Wellenkalkbruchstücke bemerk-
bar. Die ganze Art der Ablagerung macht die
Annahme einer Anschwemmung der Detritus-
massen aus nördlicher bis nordöstlicher Richtung
wahrscheinlich. Die oolithische Ausbildung im
größten Teil des Thüringer Gebietes verlangt die
Annahme eines seichten Meeres. Die häufig vor-
kommende Diagonalschichtung, die breiten Wellen-
furchen auf der Oberfläche der Schaumkalkbänke,
die Dickschaligkeit der Mollusken deuten auf
262
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
kräftige IVIeeresbewegung. Die Richtung der
Strömung wird durch das starke Anschwellen
der oberen Bank im Südwesten der Tauberbarre
(im Strömungsschatten) angezeigt. Sie ging etwa
von NNO nach SSW. Derartige Anschwemmun-
gen von Detritusmassen müssen gegen das
Beckentiefere zu allmählich nachlassen und ver-
schwinden, wodurch das Auskeilen der Bänke im
Mosbacher Becken verständlich wird. Für dieses
Becken selbst ergeben sich aus dem Auskeilen
der mittleren Schaumkalkbank, ebenso aber aus
den Mächtigkeitskurven Anzeichen einer sub-
marinen Schwelle (Boxberger Schwelle), die ein
Teilbecken in der Gegend der mittleren Tauber
(Mergentheim, Lauda) vom eigentlichen Mosbacher
Becken abtrennt. Was wir also schon aus dem
Vorkommen von Terebratula vulgaris, aus der
Fossilverteilung der Spiriferinabank geschlossen
haben, wird hier bestätigt : das Gebiet des tiefsten
Meeres, das sich im unteren Wellengebirge bei
Meiningen befand, hat sich ins Mosbacher Gebiet
verschoben. Noch deutlicher wird dies bei Be-
trachtung der Orbicularisschichten. Im
allgemeinen sind sie kalkig ausgebildet. Dazwi-
schen stellen sich untergeordnet einzelne dolomi-
tische Lagen ein. Die Grenze gegen den mittleren
Muschelkalk wird im allgemeinen da gezogen, wo
die ersten dickbankigen Dolomite einsetzen. Von
vornherein ist zu betonen, daß diese Grenze keine
stratigraphische, sondern nur eine Faziesgrenze
darstellt. Sie rückt nach Norden zu in immer
tiefere Horizonte. In Norddeutschland reicht die
Dolomitfazies bis zur oberen, teilweise sogar bis
zur mittleren Schaumkalkbank hinab, so daß die
den Orbicularisschichten entsprechenden Schichten
zum mittleren Muschelkalk gezogen werden. Ent-
sprechend schwellen die kalkigen Schichten nach
Süden zunächst an (Meiningen, Würzburg). In
der Umgebung der Tauberbarre fehlen sie wieder
vollständig (Hochhausen, Hardheim). Im Mos-
bacher Gebiet erreichen sie ihre größte Mächtig-
keit (bis zu 15 m), im Schwarzwald finden wir
8 — 10 m und an der Schweizergrenze wieder
15 m.
Durch welche Ursachen wird nun dieser Sedi-
mentationsumschlag an der oberen Grenze von
kalkigen zu dolomitischen Sedimenten bedingt?
Für Dolomitbildung wird im allgemeinen Flach-
meer und höhere Temperatur als Bedingung an-
gegeben. Wir können demnach als Ursache ent-
weder tektonische Vorgänge, Hebung des Ge-
bietes, oder aber klimatische Änderungen, Er-
höhung der Temperatur annehmen; möglicher-
weise können beide Faktoren zusammengewirkt
haben. Im einen wie im anderen Fall wird aber
die Bildung dolomitischer Sedimente zunächst in
den flachsten Meeresteilen beginnen und von hier
aus allmählich nach den beckentieferen Teilen
fortschreiten, während die Kalkbildung hier länger
anhält. Auf diese Weise bekommen wir in der
Mächtigkeit der kalkigen Fazies der Orbicularis-
schichten einen Maßstab für die Tiefenverhältnisse.
Das tiefste Meer bestand demnach im Mosbacher
Gebiet. Die Tauberbarre zeigt sich deutlich im
Fehlen der kalkigen Schichten an. Von Würz-
burg aus in der Richtung auf Meiningen ver-
flachte sich das Meer allmählich und besaß in
ganz Norddeutschland nur geringe Tiefe. In süd-
licher Richtung weisen die 8— lO m mächtigen
kalkigen Schichten auf verhältnismäßig tiefes Meer.
Die Zunahme der Tiefe gegen das Schweizer
Gebiet deutet möglicherweise auf eine Verbindung
des germanischen Wellengebirgsmeeres mit dem
Mittelmeergebiet. Denn zusammen mit dem Vor-
kommen von wellenkalkähnlichen Gesteinen in
Ligurien (Tornquist), dem Vorhandensein einer
ziemlich reichhaltigen Fauna im Schwarzwald-
gebiet im Gegensatz zu Mittel- und Norddeutsch-
land deutet das Erscheinen der für den oberen
Muschelkalk typischen Terebratula vulgaris und
Gervilleia socialis (M. Schmidt), die sonst dem
Wellengebirge fehlen, auf eine neue Meeresverbin-
dung. Wenn irgendeinmal zur Wellengebirgszeit
eine Verbindung mit dem Mittelmeergebiet be-
stand, so ist diese in der Zeit der Orbicularis-
schichten anzunehmen.
Wenn wir nun noch einmal rückblickend die
allgemeinen Verhältnisse der Wellengebirgszeit
überschauen, so können wir für das untere Wellen-
gebirge das Meininger Becken als das Gebiet des
tiefsten Meeres betrachten. Von der Zeit der
Terebratelkalke ab rückt dieses in das Mosbacher
Becken. Diese Senkung ergreift in der Zeit der
Orbicularisschichten auch das Schwarzwaldgebiet,
während Mittel- und Norddeutschland sich in auf-
wärtiger Bewegung befinden, bis diese Hebungs-
welle gegen Schluß der Wellengebirgszeit auch
die südlichen Gebiete ergreift und wahrscheinlich
wieder zu einer Unterbrechung der kurz vorher
geschaffenen Verbindung mit dem Mittelmeer-
gebiet führt. Damit sind nun die Bedingungen
zur Entstehung des mittleren Muschelkalks, des
Salzgebirges gegeben. Wir haben hier also eine
von Meiningen aus in der Richtung auf Mosbach
vorschreitende Verbiegungswelle anzunehmen,
deren Achse etwa in der Richtung N 50" — 55" W
verläuft. Aus der Mächtigkeit der Schichten zwi-
schen Terebratelkalk und Schaumkalk wie der
Orbicularisschichten muß weiterhin eine zweite
Verbiegungswelle angenommen werden, deren
Achse etwa senkrecht zur Achse der ersten
Bewegung steht. Sie tritt nicht mit derselben
Deutlichkeit in Erscheinung, wird aber dann
im oberen Muschelkalk von ausschlaggebender
Bedeutung. Die Regression des Muschel-
kalkmeeres, die G. Wagner gegen Ende der
Muschelkalkzeit feststellte, ist einer Rindenbe-
wegung zuzuschreiben, die sich um dieselbe
Achse vollzog. In manchen Fällen allerdings sind
beide Bewegungen schwer auseinanderzuhalten,
da sie sich kombinieren und so eine näherungs-
weise ostwestlich gerichtete Bewegungsaclise vor-
täuschen. Daß beide aber als gesonderte Vor-
gänge aufzufassen sind, erhellt ohne weiteres
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
263
daraus, daß sie nicht zu gleicher Zeit einsetzen.
Die erste Bewegung muß mindestens vor der Zeit
der Terebratula vulgaris in Erscheinung getreten
sein; die zweite Verschiebung setzt erst etwa zur
Zeit der Spiriferinabank ein. Da beide Richtungen
innerhalb der üblichen Grenzen liegen, so kann
man auch hier von varistischer und herzynischer
Richtung sprechen.
Zum Schlüsse möchte ich noch einmal auf
das eigenartige Verhalten der unteren Grenze
des Wellengebirges hinweisen. Wir konnten fest-
stellen, daß sie von Norden nach Süden in höhere
Horizonte aufsteigt, mithin im Süden einem
späteren Zeitpunkt angehört als im Norden. Die
innerhalb der germanischen Trias wichtigste Grenz-
linie genügt also den Bedingungen nicht, die wir
nach landläufiger Meinung an eine Formations-
grenze stellen können. Die Formation ist vor
allem ein zeitlicher Begriff. Wir verstehen im
allgemeinen darunter die während eines bestimmten
Zeitraums gebildeten Sedimente. Bei dieser Auf-
fassung müßten wir entweder Teile des Buntsand-
steins (Roth) noch zum IVIuschelkalk oder aber
das Wellengebirge unter der Oolithbank 0 zum
Buntsandstein rechnen, was aber im Hinblick auf
die Formationsnamen ein Unding ist. Es bleibt
nichts anderes übrig, als die Bezeichnungen „Bunt-
sandstein" und „Muschelkalk" im alten Umfange
bestehen zu lassen, wobei aber zu beachten ist,
daß darunter kein zeitlicher, sondern nur ein rein
fazieller Begriff zu verstehen ist. Wir können
zwar rein theoretisch eine ideale gleichzeitige
Grenze zwischen beiden Formationen annehmen.
Aber diese Zeitgrenze und die wirkliche For-
mationsgrenze schneiden sich unter schiefem
Winkel. Wie weit diese Beobachtungen für andere
Formationsgrenzen zutreffen, bedarf noch genauer
stratigraphischer Untersuchungen.
[Nachdruck vorboleu.]
Der Köderwurm.
Von Hermann Lechler.
(Aus dem Zoolog. Institut der Technischen Hochschule in Stuttgart.)
Mit 4 Abbildungen.
Wenn man an der Nordsee zur Ebbezeit über
den Sandstrand geht, der bei der Flut vom Meere
bedeckt ist, sieht man im Sande oft kleine Trichter
von etwa 3 cm Durchmesser und nahe dabei
kleine Häufchen aus Sand, ähnlich den bekannten
aus Erde bestehenden Exkrementen des Regen-
wurms. Der Trichter und das Exkrementen-
häufchen bezeichnen die beiden Enden einer huf-
eisenförmigen Röhre im Sand, welche die Woh-
nung des Köderwurmes [Areiiicola piscaforitm Lam.
= A. iiiariiia L.) ist. Die Röhre geht etwa einen
halben Meter tief, und man kann den Wurm leicht
mit einem Spaten herausgraben. Wie schon sein
Name besagt, wird er als Köder an die Angel
benutzt. Da er leicht zu beschaffen ist, kann er
bei zoologischen Übungen als lehrreiches Beispiel
für die Meeresanneliden benutzt werden.
Was die systematische Stellung betrifft, gehört
die Familie der Arenicoliden zu den Borsten-
würmern (Chätopoden) und steht bei den Viel-
borstern (Polychäten) in der Mitte zwischen den
freischwimmenden (Errantia) und den festsitzenden
(Sedentaria). Nach der Lebensweise könnte man
die Arenicoliden zu den festsitzenden Borsten-
würmern rechnen, aber sie besitzen noch den
Kopflappen, welcher bei den Sedentarien rudi-
mentär geworden ist; sie werden deshalb oft mit
den Erranlien zu einer Gruppe zusammengezogen
(Phanerocephala).
Wie bei allen Ringelwürmern (Anneliden) ist
der Körper segmentiert, aber die äußere Ringe-
lung entspricht hier nicht der inneren Gliede-
rung, wie dies beim Regenwurm der Fall ist,
sondern es kommen mehrere Ringel auf ein Seg-
ment. Die innere Gliederung ist äußerlich aus
den die Borsten tragenden Stummelfüßen (Para-
podien) zu erkennen, aber diese sind an manchen
Segmenten rudimentär geworden und an vielen
ganz verschwunden.
Man muß an dem Körper drei Teile unter-
scheiden; der erste wird von dem Kopflappen
und den folgenden Segmenten gebildet, welche
Stummelfüße mit Borsten, aber keine Kiemen
tragen. Der zweite Teil umfaßt die Kiemenregion,
dreizehn Segmente, bei welchen an den Stummel-
füßen verzweigte Kiemen vorhanden sind , dann
folgt der dünnere aus zahlreichen Segmenten be-
stehende Schwanzteil, welcher keine Stummelfüße
erkennen läßt. Die Abb. i stellt das ganze Tier
dar; sie ist der Monographie von Ashworth
entnommen, in welcher auch der innere Bau ge-
nau beschrieben ist. *)
Bei dem abgebildeten Tiere ist der Rüssel
(Pharynx) ausgestülpt, welcher zum Bohren im
Sand und zum Aufnehmen des Sandes dient, der
den Darm erfüllt. Am Grunde des Rüssels sieht
man denkleinen dreiteiligen Kopf läppen (Pro-
stomium), welcher das Vorderende des Tieres dar-
stellt; er kann in eine Nackengrube zurückgezogen
werden und ist daher nicht immer sichtbar.
Die borstentragenden Segmente des vorderen
Körperabschnittes zeigen zwei bis fünf Ringel, von
welchen jeweils das vorletzte die Fußstummel
mit den Borsten trägt (Abb. i); die Segmentgrenze
hegt also hinter demjenigen Ring, der auf den
borstentragenden folgt. Aber am Vorderende
') J. H. Ashworth, Arenicola , London 1904. Liver-
pool Marine Biology Committee. Memoirs on Typical Bri-
tish Marine Plants and Animals.
204
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
macht die Erkennung der Segmentierung einige
Schwierigkeiten. Im allgemeinen kommt bei den
Borstenwürmern nach dem Kopflappen das Mund-
segment, dann das erste borstentragende Segment.
Das trifft bei Arenicola auch zu, läßt sich aber
nur beim jungen Tier deutlich erkennen, bei
welchem auf den kegelförmigen Kopflappen ein
aus zwei Ringeln bestehendes IVIundsegment
(Peristomium) und dann ein aus zwei Ringeln be-
stehendes borstentragendes Segment folgt. Die
Borsten dieses Segmentes sind aber rudimentär
und gehen verloren; folglich ist das erste borsten-
tragende Segment bei dem abgebildeten Tier in
Wirklichkeit das zweite Segment nach dem IVIund-
segment; es besteht nur aus zwei Ringeln, dem
borstentragenden und dem folgenden Ringel.
Die meisten Polychäten besitzen an jedem
Segment jederseits zwei Fußstummel (Para-
podien), einen dorsalen und einen ventralen
(Notopodium und Neuropodium). Bei Arenicola
ist nur die dorsale Reihe gut ausgebildet und
mit kräftigen Borsten versehen. Die ventralen
Fußstummel sind rückgebildet und stellen nur
wulstige Erhöhungen dar, die an manchen Seg-
menten ventralwärts bis zur Mitte der Bauchseite
reichen ; sie besitzen jeweils eine mittlere Furche,
in der zahlreiche kleine Borsten stehen.
Bei vielen Polychäten geht aus dem Tastfaden
(Cirrhus) des dorsalen Parapodiums eine Kieme
hervor. So findet man auch bei Arenicola an
dem siebenten borstentragenden Fußstummel und
an denjenigen der 12 folgenden Segmente jeweils
eine verzweigte Kieme, bestehend aus ungefähr
10 Stämmen, die je 3 — 5 Paare von Nebenzweigen
tragen. Die Kiemen sind in der mittleren Kiemen-
region am besten ausgebildet. Es ist anzunehmen,
daß der Wurm durch peristaltische Bewegungen
eine Wasserbewegung in seiner Röhre hervor-
bringt, damit frisches Wasser an die Kiemen
kommt.') Die Kiemen enthalten nicht nur Blut-
gefäße sondern auch Ausbuchtungen der Leibes-
höhle, so daß also auch der Cölomflüssigkeit eine
respiratorische Funktion zukommen kann.
Der Schwanz besteht aus einer großen An-
zahl von Ringen, die nach hinten zu breiter wer-
den; es rührt dies daher, daß die Wachstumszone
des Schwanzes sich an der Ansatzstelle befindet.
Der Wurm kann auch ohne Schaden Schwanz-
glieder verlieren und stoßt bei heftiger Reizung
solche ab. Nach hinten zu teilen sich die einzelnen
Segmente auch wieder in mehrere Ringel. Der
After liegt am Ende des Körpers.
Das Tier ist bedeckt von einem Zylinder-
cpithel, der Oberhaut, welche mit einer „Cuticula"
überzogen ist, die als Abscheidung der Schleim-
zellen der Oberhaut angesehen wird. In der
Oberhaut stehen Sinneszellen. In den Zellen der
') Professor Ziegler teilte mir mit, daß er auf Norderney
einen Köderwurm in ein U-förmiges mit Wasser gefülltes
Glasrohr brachte und daß dann die Oberfläche des Wassers
an der Mundseite fiel, während das Wasser an dem anderen
F.nde der Röhre überfloß.
Arenicola piscatorum mit ausgestülptem Küssel. Nat. Größe.
Altes Tier. Nach A s h w o r t h ; etwas geändert.
rad Mundöff^aung; r Rüssel; kl Kopf läppen (Prostomium);
p Mundsegment (Peristom); I borstenloses Segment ;
2 — 7 borstentragende Segmente ; S — 20 Kiemensegmente;
dp dorsales Parapodium, Notopodium mit Borstenbüschel ;
vp ventrales Parapodium , Neuropodium ;
Kr Kiemenregion; s Schwanz.
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
265
Abb. 2 a. Abb. 2 b.
Abb. 2 a. Vorderer Teil des Darmkanals.
Abb. 2b. Schema des Herzens; entspricht der rechten Seile
der Abb. 2 a.
p Rüssel (aufgeschnitten) ; rm Rückziehermuskeln des Rüssels ;
r der beim Ausstülpen vorderste Teil des Rüssels; d,, d.^, dj
I., 2. u. 3. Dissepiment ; dg Rücken-, lg Seitengefäß, vg Bauch-
gefäS; k Kropf; dr gestielte Drüse (auf der anderen .Seite ist
die Drüse entfernt); h Herz; auf der anderen Seite der Abb. 2a
nur angedeutet.
.Abb. 4. Segracntalorgan,
Nephridium. tr Nephrostom.
gn Gonade, bl Harnblase.
(Nach Ashworth.)
Abb. 3. Übergang vom
Magen (m) zum Darm (d),
Ansicht von der Bauchseite.
vg Bauchgefäfl.
Oberhaut sind braune Pigmentkörner enthalten;
durch das Pigment werden ziemlich regelmäßig
angeordnete dunkle Platten erzeugt, von denen
es ein oder zwei Reihen auf einem Ringel gibt;
daher rührt auch die dunkle Färbung der Tiere,
besonders im vorderen und im Schwanzteil.
Unter dem Epithel liegen die Ringmuskel-
schicht und darunter die Längsmuskeln. —
Das Bauchmark liegt an der Innenseite der
Ringmuskelschicht , und man bemerkt an der
ganzen Bauchseite des Wurmes median eine
Rinne, welche den Verlauf des Bauchmarks be-
zeichnet. Diese Rinne teilt sich am i. Ring des
borstenlosen Segmentes, und die beiden Teilrinnen,
welche den Verlauf der Schlundkommissur an-
geben, laufen um den Körper herum und führen
zu dem zweiteiligen Gehirn, welches in dem
Kopf lappen liegt. — Vom oberen Teil der Schlund-
kommissur geht jederseits ein kleiner Nerv zu der
Statozyste, dem sog. Hörbläschen; diese liegt
seitlich hinter dem Kopflappen in dem Mund-
segment und ist durch eine Einstülpung des
äußeren Epithels gebildet, bestehend aus einem
am Grunde flimmernden Zuführungsgang und
einer kleinen Blase, welche in Drüsensekret ein-
gebettete Sandkörnchen und andere Fremdkörper
als Statolithen enthält.
Um den inneren Bau des Tieres zu betrachten,
schneidet man es entlang dem Rücken auf.
Der Darmkanal zieht sich in gerader Linie
durch den ganzen Körper. Er beginnt mit dem
obengenannten ausstülpbaren Rüssel oder Pharynx
(Abb. I r). Die ausgestülpte Oberfläche trägt
eine Menge von kleinen, rückwärts gerichteten
Höckern; ein folgender Teil des Rüssels, welcher
in der Abbildung i am Vorderende zu sehen ist,
ist nur mit kleineren Papillen besetzt, deren Epithel
Sinneszellen und Schleimzellen enthält. Auf den
Rüssel folgt die dünnwandige und ausdehnbare
Speiseröhre, welche ungefähr bis zum sechsten
borstentragenden Segment reicht. Der unterste
Teil der Speiseröhre ist manchmal durch Sand-
füllung kropfai-tig erweitert. Die Speiseröhre
wird an dem Übergang zu dem folgenden Ab-
schnitt, dem sog. Magen etwas enger, und hier
setzen sich dorsal zwei große gestielte Drüsen
an, welche neben der Speiseröhre nach vorn
gehen (Abb. 2); sie besitzen Im Innern Längs-
falten zur Vergrößerung der sezernierenden Ober-
fläche. — Der Magen ist ein erweiterter Teil des
Mitteldarmes; er ist von Blutgefäßen netzartig
umgeben und geht im achten kiementragenden
Segment in den Darm über.
Durch die sich in der Magenwand verzweigen-
den Blutgefäße erscheint diese ziemlich regel-
mäßig gefeldert (Abb. 3), während der Darm
glatt ist. Außerdem gehen vom Bauchgefäß nach
beiden Seiten hin Gefäßzotten ab, und zwar erst
vom Beginn des Enddarmes an, wodurch die
Unterscheidung von Magen und Darm noch deut-
licher wird (Abb. 3). Im Magen und Darm be-
266
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
findet sich von dem dritten Kiemenring an an
der Ventralseite eine flimmernde Rinne.
Von den Scheidewänden (Dissepimenten),
welche die einzelnen Körperabschnitte voneinander
trennen, haben sich im Vorderteil nur drei erhalten
(Abb. 2). Die erste Scheidewand findet sich an
der vorderen Grenze des ersten Borstenrings an-
gebracht und umfaßt den Darmkanal hinter dem
Rüssel am Beginn des Schlundes. Diese Scheide-
wand hat zwei kleine nach rückwärts gerichtete
drüsenartige Anhänge auf der Bauchseite, die
nach vorn münden; sie dienen wahrscheinlich zur
Unterstützung der Rüsselausstülpung. Zwischen
dem ersten und zweiten Borstenring ist keine
Scheidewand vorhanden, dagegen zwischen dem
zweiten und dritten, sowie dem dritten und vierten.
Die Trennungswände der folgenden Segmente
sind verschwunden bis auf kleine Reste in den
letzten kiementragenden Segmenten. Im Schwanz
sind die Abschnitte wieder durch Scheidewände
getrennt. — Zwischen der ersten und zweiten
Scheidewand zieht sich der Länge nach ein Auf-
hängeband vom Rücken zum Bauch hin, in dem
der Magen und die Blutgefäße befestigt sind. Die
vorderen Scheidewände sind von kleinen Öffnungen
durchbrochen, durch welche die Körperflüssigkeit
durchtreten kann.
Der Rüssel ist von einer muskulösen Scheide
umgeben, deren Muskelbündel nach hinten gehend
die erste Scheidewand durchbrechen und hinter
dieser an der Körperwand befestigt sind (Abb. 2);
sie dienen zum Zurückziehen des Rüssels. Die
Muskulatur der Körperwand besteht aus einer
äußeren Ringmuskelschicht und einer inneren
Lage von Längsmuskeln. Von der dritten Scheide-
wand ab nach hinten bis zum After sieht man
außerdem noch Quermuskeln von der Bauch-
mittellinie seitwärts bis zur Höhe der Borsten-
bündel gespannt.
Der Köderwurm hat rotes Blut, bestehend
aus einer Hämoglobin enthaltenden Flüssigkeit, in
welcher wenige farblose Blutkörperchen schwim-
men. Die wichtigsten Blutgefäße sind wie beim
Regenwurm das dorsale Blutgefäß über dem
Darmkanal und das ventrale unter demselben.
Wie bei allen Ringelwürmern strömt das Blut in
dem dorsalen Gefäß von hinten nach vorn. Das
ventrale Gefäß ist unter dem Darm mit vielen
dünnen Ausstülpungen versehen (Abb. 3), welche
mit braunen Chloragogenzellen überzogen sind.
Neben dem Anfangsteil des Magens liegt jeder-
seits eine kontraktile Blutblase, welche Herz ge-
nannt wird; sie nimmt aus einer Erweiterung des
seitlichen Magengefäßes, die Vorhof genannt
wird, das Blut auf um es in das ventrale Gefäß
zu pumpen (Abb. 2 b).
Die Harnorgane sind kurze Schleifen-
kanäle (Segmentalorgane), die mit einem
großen länglichen krausenartigen Flimmertrichter
(Nephrostom) beginnen (Abb. 4). Die Wimpern des-
selben schlagen einwärts in ein nach hinten ver-
laufendes einfaches Rohr, welches braune Exkret-
körnchen in den Epithelzellen enthält. Diesem
schließt sich eine Harnblase an, die durch eine
kleine Öffnung im hinteren Teil eines Borsten-
rings seitlich nach außen mündet. Im ganzen
sind nur sechs Paar Segmentalorgane vorhanden,
welche dem 4. — 9. borstentragenden Segment an-
gehören. — An die Flimmertrichter der Segmental-
organe schließen sich die kleinen Gonaden an,
die Keimstätten für die Eier bei den weiblichen
Tieren und für die Samenzellen bei den männ-
lichen Tieren (Abb. 4). Die Geschlechtszellen
fallen in die Leibeshöhle, und die reifen Ge-
schlechtsprodukte werden durch die Segmental-
organe entleert, deren Endblasen zur Zeit der Ge-
schlechtsreife (im Februar und März) mit Eiern
oder Samenzellen gefüllt sind. — Aus dem be-
fruchteten Ei entsteht am dritten Tage eine frei-
schwimmende Trochophora-Larve mit zwei
Augenflecken und zwei Wimperringen, von wel-
chen der, eine vor dem Mund, der andere nahe
am Hinterende sich befindet. Wie bei vielen
anderen Meerestieren dienen die Larven der Ver-
breitung, indem sie von den Strömungen fortge-
führt werden.
Einzelberichte.
Die lösliche Modifikation des Siliciuiiis.
Moissan und Siemens haben im Jahre 1904
gefunden, daß kristallisiertes Silicium , das aus
einem Silberregulus gewonnen wurde, bei der
Behandlung mit Flußsäure bis zu einem geringen
Rückstand von etwa 1 v. H. in Lösung geht. Da
kristallisiertes Silicium im allgemeinen äußerst be-
ständig ist und sogar als in Flußsäure unlöslich
gilt, so schlössen sie auf eine besondere Modifi-
kation des Siliciums, eine Erscheinung, die vielen,
ja den meisten Elementen eigentümlich ist. Es
sei an das graue und das weiße Zinn erinnert.
Welcher Art das in Mußsäurc unlösliche Silicium
sei, ist von den genannten Forschern jedoch nicht
näher untersucht worden, auch die Entstehungs-
bedingungen sind von ihnen nicht exakt festge-
legt worden. In einer Mitteilung von W. Man-
schot*) wird zu diesen Fragen ein Beitrag ge-
liefert. Zunächst konnte festgestellt werden, daß
es experimentell äußerst schwer ist, ein kristalli-
siertes Silicium zu gewinnen, daß völlig fluß-
säurebeständig wäre. Auch die scheinbar best-
kristallisierten Präparate gaben beim Abrauchen
mit Flußsäure zunächst einen Gewichtsverlust,
mußten also zum Teil in Lösung gegangen sein.
') Berichte d. d. Chem. Gesellsch. 54, S. 3107, 1921.
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
267
Sodann wurden die Versuche der erstgenannten
Forscher nachgeprüft. Es wurde flußsäurebe-
ständiges SiHcium mit einem Überschuß von
Silber im elektrischen Flammenbogen zusammen-
geschmolzen. Die Schmelze wurde durch Ein-
gießen in Wasser zum Erstarren gebracht, und
das Silber mit Salpetersäure herausgelöst. In der
Tat entwickelte das zurückbleibende Silicium mit
Flußsäure reichlich Wasserstoff, war also löslich
darin.
Nun wurde jedoch beobachtet, daß der Grad
der Löslichkeit nie derselbe war, sondern von der
Art des Abkühlens der Schmelze abhing. Je
rascher die Abkühlung vorgenommen wurde, um
so löslicher war das Silicium. Das Abschrecken
des geschmolzenen Siliciums ist also die Be-
dingung für seine Löslichkeit. Wenn man lang-
sam erkalten ließ, gewann man das Silicium in
der bekannten kristallisierten Form, die sich
nicht in Flußsäure löste. Wichtig war sodann
die von den älteren Forschern nicht erwähnte
Tatsache, daß das abgeschreckte, also lös-
liche Silicium überhaupt nicht kristallinisch ist!
Es ist vielmehr eine dunkel- bis hellbraun ge-
färbte Substanz, die unter dem Mikroskop deut-
lich amorph ist. Auch Aluminiumschmelzen
gaben beim Abschrecken diese amorphe Modi-
fikation, die sich somit nach Entstehungsweise
und Formart den bekannten Allotropieerschei-
nungen völlig einfügt. Die als „kristallisiert" be-
schriebene lösliche IVIodifikation dürfte mithin aus
der Literatur zu streichen sein. H. H.
Wirkung des Alkohols auf das Yerliiiltuis
Tou Weibchen uud Mäuucheu in der Nach-
komnieuschaft.
Bei Säugetieren ist, wie aus triftigen Gründen
angenommen werden muß, das männliche Ge-
schlecht heterogametisch, während das weibliche
homogametisch ist, d. h. es werden zweierlei
Spermatozoen, Männchen- und Weibchenbestimmer
in gleicher Menge, aber nur eine Art von Eizellen
gebildet. Wenn sie rein nach dem Zufall in freiem
Wettbewerb und die Eizelle kopulieren, ist das theore-
tische Verhältnis l:i in der Nachkommenschaft zu
erwarten. Würde man aber einer Art der Sperma-
tozoen einen Vorteil vor der anderen durch ex-
perimentelle Einwirkung verschaffen, so müßte
dies in einer Verschiebung des normalen Zahlen-
verhältnisses in der Nachkommenschaft zum Aus-
druck kommen. Agnes Bluhm*) hat im
Kaiser-Wilhelmlnstitut für experimentelle Biologie
zu Berlin-Dahlem versucht, durch Alkoholisierung
der Männchen der weißen Maus eine Verschiebung
des normalen Geschlechtsverhältnisses herbeizu-
führen. Sie ging dabei von der Überlegung aus,
daß der Alkohol entweder als Zellgift die beiden,
bekanntlich durch verschiedenen Chromatingehalt
') SitzuDgsbcr. d. l'reufl. Akad. d. Wisscusch. XXXIV,
1921, S. 549.
ausgezeichneten Arten von Spermatozoen ver-
schieden stark schädige, oder aber als Narkotikum
etwa die Beweglichkeit der Spermatozoen ver-
schieden stark beeinflusse, so daß entweder die
eine oder die andere Art einen Vorsprung im
Wettlauf nach dem Ei bekäme. Der Alkohol
wurde den Männchen beigebracht, indem ihnen
0,2 ccm einer 20proz. Lösung unter die Rücken-
haut gespritzt wurde. Diese Injektion hatte einen
schweren Rausch zur Folge. Es wurden nun die
Würfe, die von normalen, d. h. vorher niemals
alkoholisierten Vätern, von Alkoholikern, d. h.
solchen , die unter Alkoholwirkung standen und
von Abstinenten, d. h. Mäusen, die vorher alko-
holisiert, aber eine gewisse Zeit abstinent blieben,
untersucht. Das natürliche Geschlechterverhältnis,
wie es sich bei Auszählung hinreichend zahlreicher
Nachkommen ergibt, stimmt mit dem theoretisch
zu fordernden i : i aus nicht näher zu erörtern-
den Gründen infolge sekundärer Momente meist
nicht überein. Bei ihren Mäusen stellte die Verf.
fest, daß auf loo Weibchen 79,36 Männchen
kommen. Sie berücksichtigte bei ihren Zählungen
nur die vollständigen Würfe. Bei 67 vollständigen
und vollbestimmbaren Würfen, die von alkoholi-
schen Vätern stammten, ergab nun die Zählung
122,14 Männchen auf lOO Weibchen. Was nun
die Abstinentenwürfe anlangt, so zeigten sie eine
deutliche Tendenz zur Rückkehr zum normalen,
natürlichen Geschlechtsverhältnis. Bei der Dis-
kussion der Frage, in welcher Weise der Alkohol
dies auffällige Resultat hervorgebracht habe, kommt
die Verf. zu dem Schlüsse, daß sehr wahrschein-
lich die Beweglichkeit der weibchenbestimmenden
Spermatozoen stärker herabgesetzt wurde, als die
der männchenbestimmenden. Diese Auffassung
wird durch Versuche von Cole und Davis ^)
gestützt, aus denen einmal hervorgeht, daß die
Beweglichkeit der Spermatozoen verschiedener
Individuen verschieden groß sein kann und daß
sie außerdem durch Alkohol beeinflußbar ist.
Wurde ein Kaninchen unmittelbar hintereinander
von zwei Böcken belegt, so stammten die Jungen
des Wurfes teils von dem einen, teils von dem
anderen Bock. Dabei hatte der eine jedoch
immer einen Vorsprung vor dem anderen. Das
änderte sich aber, wenn dieser Sieger kurz vor
dem Koitus mit Alkoholdämpfen behandelt wurde.
Jetzt stammte unter den Nachkommen überhaupt
keiner von ihm. Miehe.
Zur Analyse kolloider Systeme.
Die quantitative Analyse kolloider Lösungen
ist bisher nicht bekannt gewesen. Zwar kennt
man das Verfahren der Dialyse und der Ultra-
filtration, die eine weitgehende Abtrennung des
kolloid vorliegenden Stoffes von seinen Begleitern
gestatten. Zu quantitativ verwertbaren Ergeb-
') The effect of alcohol on tlic male germ cells etc.
Science X.XXIX, 1914.
268
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
nissen reichen aber diese Methoden nicht aus.
Immerhin war diese Lücke in der analytischen
Chemie der Kolloide auffallend, und eigentlich
erklärlich erscheint sie dem Berichterstatter nur
durch die Jugend der Kolloidchemie im allge-
meinen, die über der Fülle qualitativ neuartiger
Erscheinungen und Beziehungen deren quantitative
Seite ein wenig vernachlässigte. Nun ist jedoch
eine messende Verfolgung der Vorgänge, die bei-
spielsweise zu einer kolloiden Lösung hinführen,
unerläßlich für Arbeiten, die mit ganz bestimmten
Konzentrationen der dispersen Phase zu rechnen
haben.
Ein solcher Fall liegt vor bei der Reduktion
von Silbernitrat zu kolloidalem Silber mittels
Hydrazinhydrats. Um den IVIechanismus dieser
Reduktion aufzuklären, bedarf es der Möglichkeit,
die Menge unverändert gebliebenen Silbernitrats
in jedem Zeitpunkt zu ermitteln. Dieses Ziel zu
erreichen, ist A. Gutbier und seinen Schülern
gelungen.') In einer Reihe voraufgegangener Ar-
beiten hat Gutbier ermittelt, daß pflanzliche
Schleime, z. B. aus isländischem Moos (Carragheen),
in geeigneter Verdünnung vorzügliche Schutz-
kolloide sind, d. h. kolloidale Dispersionen vor
dem Ausflocken bewahren.'-') Auch bei der er-
wähnten Reduktionsmethode wurde Pflanzen-
schleim zur Stabilisierung des kolloidalen Silbers,
das eine rein braune Farbe aufweist, benutzt. Des
weiteren war gefunden worden, daß sowohl die
benutzten Schleimstoffe wie die von ihnen ge-
schützten Metallkolloide durch Alkohol in um-
kehrbarer Form gefällt werden können. Auf
dieser Fällbarkeit des Dispersoids, die leicht
wieder rückgängig zu machen ist, gründet sich
die neue analytische Methode. Man fällt mit
Alkohol das kolloidale Silber aus und titriert das
unveränderte Silberion in gewöhnlicher Weise.
Die Schwierigkeit der Methode lag darin, daß
das gefällte Kolloid naturgemäß eine Menge
Silberionen mitriß. Aber auch dieser Erscheinung
ließ sich begegnen, indem man das Ion in einen
Komplex überführte. Als bestgeeignet erwies
sich hierzu die Einwirkung von Ammonium-
karbonat ; der mit diesem aus Silbernitrat ■ ent-
stehende Komplex wird von der alkoholischen
Kolloidfallung nicht mitgefällt und entzieht so
das Silberion der maskierenden Adsorption.
Konzentrationsverhältnisse, Wärme und sogar
das Tageslicht nehmen auf die Genauigkeit der
Bestimmung Einfluß. Man kann ihnen in vollem
Umfang begegnen und kann dann die Arbeits-
vorschrift kurz folgendermaßen ausdrücken ; zur
Lösung, die neben Silberion kolloides Silber ent-
hält, wird ein Überschuß reinsten festen Am-
moniumkarbonats gegeben, hierauf wird mit Alko-
hol gefällt, absitzen gelassen, filtriert und im Fil-
trat das komplex gebundene Silberion in der be-
kannten Weise nach Volhard titriert.
') Ber. d. D. Chem. Gesellscb. 55, S. 748, 1922.
-) Vgl. z. B. KoUoid-Zeitschr. 30, S. 20, 1922.
Die von Gutbier mitgeteilten Belegzahlen
lassen erkennen, daß die Methode sehr gute Er-
gebnisse gestattet. Man hat also nunmehr ein
ebenso elegantes wie sicheres analytisches Hilfs-
mittel in der Hand, kolloide Synthesen messend
zu verfolgen. Für jeden, der sich über die Güte
seiner diesbezüglichen Arbeiten Rechenschaft geben
will, und dazu gehört nicht zuletzt der experi-
mentierende Lehrer, der über Kolloide vorträgt,
ist die Methode wertvoll. Darüber hinaus eröffnet
sie der Kolloidchemie im allgemeinen neue reiz-
volle Möglichkeiten, bisher verworren gebliebene
Vorgänge aufzuklären. H. H.
Eiue (jieuossenschatt mazedonischer Pflanzen
bei Aken an der Elbe.
Durch die Kriegsverhältnisse sind nicht wenige
fremde Gewächse bei uns zur Ansiedlung gelangt.
So hat u. a. die schon früher durch ihre Reich-
haltigkeit bekannte Adventivflora von Aken a. d.
Elbe während des Krieges einen weiteren recht
bemerkenswerten Zuwachs erfahren. Auf den im
Umschlagshafen von Aken aufgestapelten Chrom-
eisenerzen aus den als Tagebau betriebenen Berg-
werken von Radusche in Mazedonien zeigte sich
nach dem Kriege ein reicher Flor von zumeist
mazedonischen Gewächsen, deren genaue Kennt-
nis wir Paul Schuster und J. Bornmüller ')
verdanken. Im ganzen wurden 31 neue Adventiv-
pflanzen beobachtet, von denen hier nur die
wichtigsten mazedonischen Arten genannt werden
sollen. Besonders häufig fanden sich auf den
Erzhalden die schön .gelb blühenden Alyssiiin
iiinralc W. K. und Achillea coarchüa Poir. Fast
ebenso häufig waren Centaiirca niicraiitlia Gmel.
und 'rriiiciiiii villositm M. B. Ihnen gesellten sich
noch hin und wieder folgende gleichfalls un-
zweifelhaft mazedonische Arten bei : Silciic para-
doxa L., Diaiitlius anneriasiruin Wolfner, Tri-
folimif dalmatitiiiii Vis., Bitplciiniin aristatuvi
Bartl. , Caldiiiiiitlia pataviiia Jacq., A)iiaranius
albus L., PtcrotJicca bifida Vis. u. a. Hervorzu-
heben ist noch der Nachweis von Sdcrantliits
dichutoiiiKS Schur var. scrpciitiiii (Beck) Bornm.,
einer Serpentinpflanze, die bisher nur von den
sonnendurchglühten , pflanzenarmen Felswänden
der Balkanhalbinsel bekannt war. Den veränderten
Lebensbedingungen ist es sicherlich zuzuschreiben,
wenn diese Abweichung, die auf dem den Erzen
mitunter beigemengten Serpentingestein in nur
einigen Exemplaren beobachtet wurde, Neigung
zeigte, in die typische Form wieder überzugehen.
Daß sich auch nur einige dieser mazedonischen
Pflanzen bei uns einbürgern könnten, ist kaum
anzunehmen. Vielmehr dürften diese F"remdlinge
nur vorübergehende, doch recht beachtenswerte
') Vgl. Paul Schuster, Eine Genossenschaft maze-
donischer Pflanzen bei Aken an der Elbe. Ferner J. Born-
müUer, Über einen bemerkenswerten Fund aus der Adven-
tivflora von Aken. Verhandl. bot. Ver. Prov. Brandenburg.
63. Jahrg., 1920/21.
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
269
Erscheinungen in unserem Pflanzenbestande dar-
stellen. Sie sind uns ein lehrreiches Beispiel da-
für, wie durch die kriegswirtschaftlichen Maß-
nahmen unsere Adventivflora beeinflußt worden
ist. Entsprechende Untersuchungen ähnlicher
Ortlichkeiten wären sehr erwünscht, damit wir ein
klares und umfassendes Bild von der Einwirkung
der Kriegsverhältnisse auf unsere Adventivflora
gewinnen. E. Schalow (Breslau).
Ovarialcycliis iiiul Titeriis.
In einer Übersicht über „den Ovarialcyclus und
seinen Einfluß auf die Veränderungen des Uterus" ')
stellt R. Schröder die gegenwärtig herrschende
Anschauung auf diesem Gebiete dar. Da in weiten
Kreisen noch wenig klare Vorstellungen über diese
Fragen verbreitet sind, seien hier in Kürze die
Hauptpunkte des Problems angegeben, wobei die
oben genannte Arbeit als Grundlage dienen soll.
Die Gebärmutter muß, um den Anforderungen
während der Schwangerschaft zu genügen, vorher
einige Veränderungen durchmachen, die auf die
Einbettung und Ernährung des Eies vorbereiten.
Solclie Veränderungen finden tatsächlich statt,
nicht nur vor einer Schwangerschaft, sondern auch
bei den allmonatlich erfolgenden Eireifungen —
für den Fall, daß eine Befruchtung stattfindet.
Mit diesen Veränderungen des Uterus stehen nun
auch die Ei^eifungserscheinungen, der Ovarial-
cyclus, in engem Zusammenhang. Beim Menschen
beginnt aller 28 Tage eine neue Eireifung, solange
keine Schwangerschaft eintritt. Zunächst wächst
nur das Ei, während die Follikelzellen an Größe
zurückbleiben. Nach etwa 14 Tagen platzt der
Follikel, wobei das Ei aus den F"ollikelzellen aus-
tritt. Die leere FollikelhüUe bildet nun den sog.
gelben Körper, der als Drüse mit innerer Sekretion
angesprochen wird. Innerhalb 3 — 4 Tagen ist die
neu entstandene endokrine Drüse fertig ausge-
wachsen. Die etwa haselnußgroße Drüse ist mit
Fibrinmasse erfüllt und von einer Granulations-
membran umgeben. Die Granulosazellen bleiben
8 — 10 Tage in gutem Zustand, sie schrumpfen
aber dann, wenn keine Befruchtung erfolgt ist,
ein. Das Ei scheint einige Tage im Genital-
schlauch frei zu leben und durch einen Hormon-
strom den gelben Körper in Tätigkeit zu halten.
Im F'alle der Befruchtung bleibt das Corpus
luteum noch mehrere Wochen tätig. Wird das
P^i aber nicht befruchtet, verschwindet der gelbe
Körper wieder. Das reifende Ei und sein Follikel
wirken nun auf die Schleimhaut des Uterus. Die
') Klinischi- VVorhenschrift Nr. 9, i. Jahrg., 1922.
basale Schicht dieser Schleimhaut wird kaum von
den Veränderungen betroffen ; aus ihr entwickelt
sich eine sekundäre Schicht, die den Umwand-
lungen in hohem Maße unterlegen ist, sobald die
Eireifung beginnt. Zunächst zeigt diese Schicht,
die sog. Funktionalis, rasch zunehmende Aus-
breitung. Es fallen darin Drüsen, die zunächst
noch keine Sekretionszeichen aufweisen, auf So-
bald der gelbe Körper jedoch in Tätigkeit tritt,
„entstehen schleimanige Eiweißprodukte und Fett
im Sinne einer Nährflüssigkeit für das zu erwartende
Ei". Die Umwandlungen, die außerdem — wie
schon angedeutet — auf die Eieinbettung vorbe-
reiten, bleiben während der Blütezeit des gelben
Körpers bestehen. Gleichzeitig mit der Rück-
bildung des Corpus luteum zerfällt die F'unktio-
nalis. Aus der entstandenen Wundfläche tritt das
Blut heraus, die Menstruation beginnt. Nach
3 "4 Tagen ist die basale Schicht ausgeheilt, am
5. Tag nach der Blutung entsteht schon die neue
Funktionalis; ein neues Ei beginnt zu reifen und
übt mit seinem Follikel von neuem den ge-
schilderten Einfluß auf die Uterusschleimhaut aus.
Über die Zeitverhältnisse des Ovarialcyclus gibt
Schröder sehr übersichtliche Angaben, die kurz
wiedergegeben seien, da sie zur besseren Ver-
ständlichkeit des Gesamtvorganges beitragen. Wenn
man den Cyclus vom i. Tag der Menstruations-
blutung ab rechnet, so findet vom 5. bis 14. Tag
die Eireifung, FoUikelreifung und damit die
P'unktionalisproliferation statt. Dann folgt in der
Zeit vom 14. bis 16. Tag die Ovulation, vom
16. bis 28. Tag die Eireife, die Entstehung und
Blüte des Corpus luteum und die Sekretionsphase
in der Funktionalis. Im Falle der Befruchtung
bleibt das Corpus luteum in Blüte, die Decidua-
umwandlungen führen zur Eieinbettung; im Falle
des Eitodes geht der gelbe Körper zurück, zu-
gleich auch die Funktionalis. In der Zeit vom
I. bis 3. Tag folgt auf die Desquamation die
Wundflächenreinigung der Basalis, am 4. und
5. Tag die Epithelialisierung. Darauf beginnt der
neue Cyclus.
Die Ausführungen Schröders sind geeignet,
dazu beizutragen, veraltete Anschauungen über
den Ovarialcyclus (z. B. die, daß die Ovulation
während der Menstruation stattfinde) zu beseitigen.
Aus der Übersicht geht ferner klar hervor, daß
die angedeuteten Beziehungen zwischen Eireifung
und prägraviden Veränderungen des Uterus den
Übergang bilden zu den gewaltigen Veränderungen,
die schließlich der weibliche Körper während der
Schwangerschaft durchmacht, wobei neben dem
Ovarium sämtliche endokrinen Drüsen eine
wesentlich veränderte Rolle zu spielen scheinen
Gustav Zeuner.
Bücherbesprechungen.
Driesch, Hans, Das Ganze und die Summe.
Rede, gehalten bei Antritt der ordentlichen
Professur für Philosophie an der Universität
Leipzig. Leipzig 192 1, Em. Reinicke. 6 M.
270
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
Wer in den logischen und erkenntnistheore-
tischen Problemen der Naturwissenschaft nicht
ganz unbewandert ist, findet in der vorliegenden
kleinen Broschüre die kürzeste und klarste Dar-
legung derjenigen naturphilosophischen oder besser
naturlogischen Probleme, die Driesch in seinem
an Arbeiten und Ergebnissen reichen Leben be-
schäftigt haben, zugleich mit jenen Lösungen, die
er zur Zeit für die richtigen hält. Der Zusatz
„zur Zeit" soll unsere Bewunderung ausdrücken
für die wirklich seltene Fähigkeit Drieschs,
unter Wahrung der großen, sein Schaffen charakteri-
sierenden Linie aus dem sog. Fortschreiten der
Forschung zu lernen, seine Probleme und ihre
Lösungen immer mehr zu klären und zu prezi-
sieren und last not least unhaltbare Aufstellungen
aufzugeben. So ist aus dem an Aristoteles
orientierten Entelechiebegriff, der ursprünglich
ohne Zweifel materiellen Charakter hatte, die rein
logisch zu deutende Ganzheitskategorie geworden
usw. Gleichwohl ist zu einer abschließenden
Würdigung der reichen logischen Lebensarbeit
Drieschs noch nicht die Zeit gekommen, an
dieser Stelle auch nicht der richtige Ort. Durch
seine scharfen Definitionen und seine Festlegung
prinzipieller Grenzen hat er außerordentlich viel
zur logischen und sachlichen Klärung naturwissen-
schaftlicher Probleme, besonders dem der Ent-
wicklung und der theoretischen Biologie über-
haupt, beigetragen, obschon seine Vorliebe gerade
für „prinzipielle" Abgrenzungen ihn meines Er-
achtens oft hat über das Ziel hinausschießen
lassen. Denn in der Natur, deren Beschreibung
und Beherrschung doch die Naturwissenschaft
ebenso wie ihre Logik leisten soll, gibt es keine
prinzipiellen Grenzen. Das zeigt aufs schlagendste
der neue Begriff des Raum-Zeit-Kontinuums in
der modernen Physik. Wer hätte vor 2 Jahr-
zehnten es überhaupt für möglich gehalten, zwei
so differente Qualitäten wie Raum und Zeit nicht
nur logisch, wie man ja Kants bekannte Lehren
deuten kann, sondern im Hinblick auf reales
Naturgeschehen unter einen Hut zu bringen? In
der Festlegung alles „Prinzipiellen" sollte man
also überaus vorsichtig sein. Das beste wäre es,
diesen Begriff überhaupt aus der wissenschaft-
lichen Diskussion zu verbannen. Infolgedessen
wird man Drisch in seinem unermüdlichen
„prinzipiell unmöglich", das er immer wieder den
mathematisch orientierten Naturwissenschaften und
ihrem Abkömmling in der Biologie, der Physio-
logie, entgegenschleudert, wenn sie immer aufs
neue versuchen — und meines Erachtens mit
immer wachsendem Erfolge 1 — , die Ganzheits-
probleme und die Evolution mit mechanistischen,
d. h. im wahren Sinne eben mathematischen,
physikalischen, chemischen und physiologischen
IVIitteln zu bewältigen, auf die Dauer kaum Ge-
folgschaft leisten. Wenn wir heute, wie die Tätig-
keit Einsteins, Huberts u. a. beweist, selbst
in der doch als so fortgeschritten geltenden
Physik die Newtone noch nicht entbehren können,
dann ist es doch wohl reichlich unbillig, ihr Auf-
treten schon in der Biologie und Psychologie zu
erwarten. Es wird wohl noch einige Zeit ver-
gehen, ehe diese Wissenschaften dafür reif geworden
sind, d.h. ehe sie mathematisch -axiomatsich dar-
stellbar sind. Gleichwohl darf man darum das
letzte Ziel doch nie aus den Augen verlieren, um
so weniger, als wir doch sehr deutlich gerade an
der Biologie sehen, daß sie dank der genialen
Förderung, die sie sachlich und prinzipiell durch
R o u X und viele anderen großen Biologen unserer
Tage, nicht zuletzt durch Driesch selbst er-
fahren hat, die logische Vorstufe jenes königlichen
Weges der Wissenschaft, die der qualitativ- expe-
rimentellen Wissenschaft bereits erreicht hat. Man
kann sich bei Driesch eben allzuoft nicht des
Eindrucks erwehren, daß er die Probleme der
Naturwissenschaft, besonders der organischen, un-
nötig kompliziert, aus übergroßer logischer Vor-
sicht einen Popanz aus ihnen macht, von dem
sich dann wohl mit Recht behaupten läßt, daß
er mechanistisch unauflösbar ist. —
Driesch stellt nun in dem uns vorliegenden
Vortrag an die verschiedenen stufenartigen Ab-
wandlungen der „Natur- •Hind Seelengegenstände"
immer wieder die drei bedeutungsvollen P'ragen :
I. Bloße Summe oder Einheit? 2. Nur Einheit
oder Ganzheit.^ 3. Ganzheit mit nur Kumulation
oder mit evolutivem Werden ? Während nun der
Referent in einer hier früher erschienenen Arbeit
(diese Zeitschr. 1920, Nr. 50) den Gedanken der
Stufenfolge der Probleme der verschiedenen Natur-
wissenschaften von der Physik bis zur Soziologie
benutzte, um das langsame Vordringen der mecha-
nistischen Idee zu demonstrieren, kommt Driesch
hier überall zu dem entgegengesetzten Resultat,
daß das Verfahren der bloßen „Summe", als
welches er alles IMechanistische charakterisiert, in
keinem Falle genügt, unsere Probleme befriedigend
zu lösen. Die Rationalität, die die mathematische
Erkenntnis in ihrer Anwendung auf die Natur-
wissenschaft bietet, erkennt Driesch als solche
zwar an, billigt ihr aber nur einen untergeordneten
Rang zu. Als höchst mögliche Form der Ratio-
nalität erscheint ihm jene, die „die Geschichte
der großen Schauungsakte wissenschaftlicher,
künstlerischer, ethischer und religiöser Aufgaben"
zu bieten imstande ist. Es handelt sich, wie man
sieht, um das, was man metaphysisches Erkennen
oder Erleben zu nennen gewohnt ist. „IWöchten
die, so schließt Driesch seine Darlegungen,
welche noch immer das summenhafte Erfassen
als das letzte Ziel preisen, wenigstens zugeben,
daß sie sich am Grunde, wenn auch in wunder-
barer Klarheit, nur auf der untersten Stufe der
Rationalität bewegen, und daß sie andererseits
noch nie eine Ä uflösung der Ganzheits-
probleme mit ihren Mitteln wirklich
auch nur einigermaßen erreicht habe n."
Da können wir nun freilich nicht mehr mit, wir
sind im Gegenteil überzeugt, dieses Ziel schon
oft erreicht zu haben und noch oft erreichen zu
N. F. XXI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
271
werden, sowie davon, daß es eine höhere Ratio-
nalität als die, die die Mathematik vermittelt,
überhaupt nicht geben kann, sowie endlich, daß
alle Metaphysik, wie wir auch an Driesch zu
sehen glauben, unbedingt in der Mystik endet,
von der wir überzeugt sind, daß sie die Selbst-
vernichtung aller Rationalität bedeutet, die Ver-
kehrung in ihr Gegenteil.
Doch, hier liegen wohl schließlich schlechthin
unvereinbare wissenschaftliche Glaubensbekennt-
nisse vor, die sich nur durch die wissenschaftliche
Arbeit selbst auf die Dauer werden beweisen oder
widerlegen lassen. Im übrigen können sie nichts
Besseres tun, als durch gegenseitige Kritik von-
einander zu lernen, sich so zu fördern und in
allem anderen sich mit jener aufrichtigen Hoch-
achtung, die allem echten Forschen zukommt, zu
begegnen. Adolf Meyer.
Lundborg, Dr. Hermann, Rassenbiologische
Übersichten und Perspektiven. Jena
192 1, G. Fischer. 6 M.
Es ist nicht selten der Versuch gemacht
worden, gesellschaftliche und politische Fragen
unter dem Gesichtswinkel der Biologie zu be-
trachten, meist mit geringem Erfolg. Merkwürdig
ist aber, wie wenig bisher eine moderne Natur-
wissenschaft, nämlich die auf sehr gesicherten
Grundlagen ruhende Vererbungslehre, in ihren
Anwendungen auf soziale und politische Probleme
gewürdigt wurde. Der Verf, bekannt durch seine
bedeutenden Untersuchungen zur Familienforschung
innerhalb eines schwedischen Bauerngeschlechts,
setzt sich in diesem Heft in unübertrefflich klarer
und überzeugender Weise mit allerlei Schlag-
worten auseinander, die das öffentliche Leben in
einer oft verhängnisvollen Weise beherrschen. Er
zerstört die Legenden von der Gleichheit der
Menschen, von der Allmacht des Umweltein-
flusses, von der Vererbung erworbener Eigen-
schaften, erörtert die Bedeutung der biologischen
Zusammensetzung der Völker, den rassenbiolo-
gischen Wert verschiedener Gesellschaftsklassen,
die Ursachen des Aufstiegs und des Niederganges
von Familien und Staaten usw., alles auf dem
Grunde der Tatsachen, die man heute als ge-
sicherten Besitz der Forschung ansehen darf. Das
Büchlein ist wie kein zweites geeignet, den Laien
auf biologischem Gebiet als Führer zu dienen
und ihm zu zeigen, welche außerordentliche Be-
deutung die Untersuchung menschlicher Erblich-
keitsfragen für unser öffentliches Leben besitzt.
Miehe.
Bretscher, K., Der Vogelzug in Mittel-
europa. Mit 16 Karten und vielen Tabellen.
Innsbruck 1920, Druck der Wagnerschen Uni-
versitätsdruckerei.
K. Bretscher untersucht auf Grund einer
umfangreichen aviphänologischen Statistik die Zug-
verhältnisse zahlreicher europäischer Vogelarten
in bezug auf ihre Zugrichtung. Seine Unter-
suchungen erstrecken sich hauptsächlich auf den
Frühjahrs- und Herbstzug in der Schweiz, die er
in 3 Beobachtungsgebiete (ein westliches, ein
mittleres und ein östliches) einteilt. Die meisten
Vogelarten treffen im Frühjahr von Westen her,
aus der Richtung des Genfer Sees und des Jura
in der Schweiz ein, 2 Arten (Rauchschwalbe und
Blaukehlchen) von Westen und Osten und eine
Art (Gartengrasmücke) von Osten. Dagegen
bildet das Eintreffen von Süden her über die
Alpen eine Ausnahme und zeigt sich nach Bret-
schers Angaben nur bei solchen Vögeln, deren
Brutgebiet die den Alpen vorgelagerten Täler
sind. Für den Herbstzug gelten ähnliche Verhält-
nisse; jedoch hat das statistische Material hier
weniger sichere Unterlagen gegeben. Die Unter-
suchungen Bretschers stimmen mit den Er-
gebnissen der Vogelberingung überein, durch die
nachgewiesen werden konnte, daß der Herbstzug
der meisten Zugvögel aus dem mittleren und
nördlichen Europa in westlicher und südwest-
licher Richtung unter Umgehung der Alpen ver-
läuft, worauf auch Bretscher mit Recht hin-
weist. Bretscher weist ferner nach, daß auch
in Elsaß- Lothringen und in Ungarn die Vögel im
Frühjahr aus verschiedenen Richtungen eintreffen,
wobei er sich ebenfalls auf ein großes Zugdaten-
material und die Arbeiten ungarischer Ornitho-
logen stützt. Zwischen dem Frühjahrszug in
Elsaß-Lothringen und in der Schweiz läßt sich
jedoch kein näherer Zusammenhang erkennen. Dem
Zusammenhang des Vogelzuges mit der Witterung
ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Der Verf
vertritt hier die schon in früheren Schriften ge-
äußerte Ansicht, daß die Witterungsverhältnisse
ohne entscheidenden Einfluß auf die Zugbewegung
sind, sofern es sich nicht um ganz ungünstige
und abnorme Wetterlagen handelt. Es sei hier
auf eine frühere, sehr wertvolle Arbeit Bret-
schers hingewiesen: „Der Vogelzug im schweize-
rischen Mittelland in seinem Zusammenhang mit
den Witterungsverhältnissen" (Neue Denkschriften
der Schweizerischen Naturforschenden Gesell-
schaft, 1915), in der der Autor an der Hand einer
sehr umfangreichen Statistik nachgewiesen hat,
daß der Vogelzug unabhängig von Temperatur,
Luftdruck, Feuchtigkeit und Windverhältnissen
verläuft.
Dem Verf. gebührt der Verdienst, daß er ver-
sucht hat, das gewaltige Material an Zugsdaten,
das sich über Jahrzehnte erstreckt, nach einheit-
lichen Gesichtspunkten zu ordnen und zu be-
arbeiten, was für die Erforschung des Vogelzuges
von allergrößtem Wert ist.
Das streng wissenschaftlich geschriebene Buch
mit der tabellarischen, zahlenmäßigen Darstellung
der Zugbewegungen erfordert zu seinem Ver-
ständnis ein tieferes Studium.
Friedrich von Lucanus, Berlin.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 19
Anregungen und Antworten.
Bei den letzten Wisenten in Plefi. Um die in letzter Zeit
umherschwirrenden, unkontrollierbaren Gerüchte über die
Plesser Wisente an Ort und Stelle nachprüfen zu könoen,
unternahm ich am 19. 3. d. J. einen Ausflug ins Wisentrevier.
Schon im Januar hatte mir das fürstliche Forstamt, auf
verschiedene noch schwebende Fragen aufmerksam gemacht,
die Genehmigung zu eingehenderen Studien erteilt. Die Wild-
rinder werden bekanntlich seit den 60 er Jahren des vorigen
Jahrhunderts im Tiergarten gehalten, der sich von Studzienitz
östlich bis Meseritz hinzieht, sie zogen freilich in den Sommern
der Vorkriegszeit gelegentlich auch weiter in die angrenzenden
fürstlichen Reviere, niemals belästigt vom Menschen und da-
rum auch recht ,, vertraut" in nächster Nähe desselben äsend.
Das wurde nun leider anders als die Revolutionszeit bald
ihren Bestand stark dezimierte. Schließlich blieb aber wenig-
stens eine Herde von 22 Stück (Ende 1920) zurück, und die
fürstliche Verwaltung gab sich der Hoffnung hin, diese Herde
wenigstens zu erhalten, um so mehr als durch Eintausch eines
vierjährigen, kaukasischen Wisentbullen für Blutauffrischung
gesorgt worden war. Diese Hoffnungen sind nun auch durch
den Polenaufstand 1921 zunichte geworden. Alle Wildrinder
bis auf 5 (fünf) fielen den Geschossen aus Infanteriegewehten,
Karabinern und Mauserpistolen zum Opfer. Der größte Teil
der angeschossenen Tiere verluderte, und nur von einem letzten
Stück, aus einer Mauserpistole angeschossen, konnte wenigstens
das Wildbret geborgen werden.
Die Wisente pflegten den Winter über sich in der iN'ähe
der Futterstellen aufzuhalten. Die großartig angelegten
,, Raufen" und ,, Tränken" zeugen noch jetzt von dem einstigen
Betrieb. Die ,, Raufen" selbst sind überbaut von mächtigen
Scheueranlagen, in denen der Ileubedarf gespeichert wurde,
bis auch das nicht mehr anging, weil die Heuvorräte andauernd
gestohlen wurden. Man sah noch die einzelnen Gatter, in
denen z. B. die Jungrinder abgesondert werden konnten, die
sog. Falle, durch welche das zum Abschüsse bestimmte Wild
getrieben wurde, um am Jagdtage in den „Kessel" gelassen
zu werden.
Das kleine Restrudel ließ uns ruhig herankommen. Hatten
die einzelnen Tiere gemächlich wiederkäuend zerstreut umher-
gelegen, so sammelten sie sich jetzt, blieben aber auf 15 — 20
Schritte beisammen. Etwa 20 Minuten hatten wir so Gelegen-
heit, sie von allen Seiten eingehend zu mustern. Da waren
zunächst die ältesten und stattlichsten Stücke, 2 Kühe (ca. 15
bis 1 8 Jahre alt, Altersschätzungen nach Hegemeister Schwede),
von denen die eine von einem Anschuß her noch merkbar
lahmte. Beide schienen uns, die wir keine Anstalten machten,
uns bald wieder zu entfernen, nur mit Mißtrauen zu betrachten.
Sie waren es auch, die zuerst abzogen. Eine jüngere, erheb-
lich geringere Kuh (ca. achtjährig, hatte schon Kälber gehabt,
war aber jetzt offenbar nicht ,, beschlagen".
Schließlich sind die .Stiere zu erwähnen, ein 4 jähriger
und ein I '/■: jähriger Bulle, die sehr munter waren und kleine
Scheinkämpfe veranstalteten. Dabei hatte der eine mit seinen
nach innen gebogenen Hörnern den Vorderlauf seines Ge-
fährten gefangen, was diesen zu recht spaßigen Befreiungs-
versuchen veranlaßte. Leider ist auch der ältere Bulle „an-
gekratzt", die größere Wedelhälfte wurde ihm abgeschossen.
Hier ist vielleicht der Ort, um einen Irrtum der Literatur zu
berichtigen. In Me er w a r th- So ff el Bd. 4, S. 222 ist von
einer Schwanzquaste des Wisents zu lesen. Eine solche hat
zwar der amerikanische Bison (B. americanus), den Plesser
Wisenten fehlt sie, vielmehr ist ihr Schwanz von der Wurzel
an, ziemlich gleichmäßig, langbehaart.
Aus den eben mitgeteilten Beobachtungen ergibt sich, daß
von drei weiblichen Wisenten zwei bestimmt für die Nach-
zucht ausscheiden dürften, das 3. Stück (mindestens 8 Jahr
alt) macht einen kümmerlichen Eindruck, und es erscheint
nicht ausgeschlossen, daß auch diese Kuh noch Verletzungen
erlitten hat. Die Hüllen scheinen gesund und zeugungsfähig.
Alles in allem aber wird man sich aller Hoffnungen auf eine
längere Erhaltung der Wisente wohl begeben müssen.
Wie mir gesagt wurde, hat ein Plan bestanden, die
letzten Wisente in ein Revier nach Deutschland zu verpflanzen,
wo sie nicht den Gefahren der baldigen Ausrottung ausge-
setzt wären. Sofort aber brachten polnische Zeitungen diese
Nachricht mit der Aufforderung, den Abtransport nicht dulden
zu wollen. Es hat weiter nicht an Drohungen gefehlt, die
besagten, man wolle die Wisente lieber alle erschießen, ehe
man sie den Deutschen überlassen würde. Daraufhin ist
von einer Verwirklichung des Planes Abstand genommen
worden.
Dies ist also etwa der gegenwärtige Stand der Wisent-
frage. Die oberschlesische naturforschende Gesellschaft hat
sich das Ziel gesetzt, noch in letzter Stunde alles über die
Lebensgeschichte der schlesischen Wisente zu sammeln. Über
das Ergebnis soll dann auch an dieser Stelle Mitteilung ge-
macht werden. Gleichzeitig bitte ich alle Gesellschaften, Ver-
eine, Privatpersonen , deren Anfragen im einzelnen zu beant-
worten mir unmöglich ist, diese Zeilen als Antwort betrachten
zu wollen.
Ed. J. R. Scholz, Königshütle (obersihl.),
Kaiserstr. 80.
Literatur.
.■\us Natur und Geisteswelt.
Bd. 569. Molisch, H., Pflanzenphysiologie. 2. Aufl.
Leipzig-Berlin '22, Verlag von Teubner.
Bd. 589. Lindow, M., Difterentialgleichungen. Leip-
zig-Berlin '21, Verlag von Teubner.
Bd. 765. V.Franz und H.Schneider, Einführung
in die Mikrotechnik. Leipzig-Berlin '22, Verlag v.
Teubner.
Sammlung Göschen.
Nr. 485. Pilger, Prof. Dr. Robert, Die Stämme des
Pflanzenreiches. Berlin und Leipzig '21, Vereinigung
Wissenschaft!. Verleger.
Nr. 55Ü. Mi ehe, Prof. Dr. II., Zellenlehre und Ana-
tomie der Pllanzen. Berlin-Leipzig '21, Vereinigung
wissei;schaftl. Verleger. Geb. 9 M.
Nr. 682. Mannheim, Prof. Dr. E., Pharmazeutische
Chemie. IV. Übungspräparate. 2. Aufl. Berlin-
Leipzig '21 , Vereinigung wissenschaftl. Verleger.
Keclams Universal-Hibliothek.
Nr. 6275. Brehm, A. E., Das Leben der Vögel.
I. Band.
Nr. 6276. Brehm, A. E. , Das Leben der Vögel.
II. Band.
Nr. 6277. Brehm, A. E. , Das Leben der Vögel.
III. Band.
Petzoldt, J. , Wissenschaft und Hypothese XIV. Das
Weltproblem. 3. Aufl. Leipzig und Berlin '22, Verlag von
B. G. Teubner. Geb. 40 M.
Lietzrnann und A. VVitting, A., Mathematisch-physi-
kalische Bibliothek. Band 42. Mathematik und Biologie von
Dr. M. .Schips. Leipzig und Berlin '22, Verlag von B. G.
Teubner. Kart. 6 M.
(1 Karte.) S. 257.
iliche Modifikation de
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Patz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 14. Mai 1922.
Nummer 30.
Neuer Rekonstruktionsversuch eines liassischen Flugsauriers.
Von Carl Stieler.
[Nachdruck verboten.] Mit 6 Abbildi
Die mesozoische Gruppe der Flugsaurier —
Zeugen eines zwar zeitweise, aber nicht für die Dauer
geglückten Versuchs des Reptilstamms, sich die
Luft zu erobern — birgt auch heute noch eine
Fülle von Problemen. Diese treten am klarsten
in den Rekonstruktionsversuchen zutage, die in
ihrer Verschiedenartigkeit erkennen lassen, wie
weiter Spielraum subjektiver Auffassung gelassen
ist, wie weniges sicher steht.
Abel') berichtet 1919 N in aller Kürze über
verschiedene derartige Versuche, und bringt selbst
einige neue Bilder, sowohl aus dem Bereich der
langschwänzigen Rhamphorhynchiden wie der
kurzschwänzigen Pterodactylen. Rekonstruktionen
der. letzteren sind häufiger versucht worden, was
z. T. darin begründet liegt, daß sie, zwar später
wie die Langschwänzer auftretend, noch bis in die
obere Kreide fortlebten, während jene mit dem
Jura erloschen. Die Kreide hat denn auch das
meiste an Flugsaurierresten geliefert.
Abel 19 12 hat sehr mit Recht darauf hinge-
wiesen, daß unter dem Namen der Pterodactylen
verschiedene Fliegertypen einbegriffen sind, wäh-
rend die Rhamphorhynchiden durchweg Segler
gewesen sein dürften. Auch hinsichtlich der
Größe sind die letzteren einheitlicher (Klafterweite
etwa zwischen 0,4 und 2 m), während die Kurz-
schwänzer von Sperlingsgröße bis 8 m Klafter-
weite vorkommen.
Bislang wurde, wie Abel 1919 N betont, fast
nur versucht, die Tiere fliegend oder kletternd
zu zeichnen, nicht aber in Ruhestellung. Das
nächstliegende bei einem Flugtier ist ja auch, es
fliegend abzubilden, während die starken Krallen,
besonders an der Hand, dazu verleiten mußten,
es klettern zu lassen. Daß die Tiere fliegen
konnten ist heute unbestritten. Streit herrscht
schon über die Kletterfrage, besonders über das
„wie".
Die Lösung dieser Probleme ist dadurch er-
schwert, daß (von einem Schädel aus dem oberen
Lias Englands abgesehen) mit Ausnahme der
Vorkommen am Tendaguru in DeutschOstafrika,
') Auf diesen Autor wird folgendermaßen Bezug genom-
men werden (die Zahl bedeutet das Erscheinungsjahr der
Arbeit) ;
Abel 1912; Paläobiologic der Wirbeltiere;
,, 1919 W '• Die Stämme der Wirbeltiere;
„ 1919 N: Neue Rekonstruktion der Flugsaurier-
gattungen Pterodactylus und Rhampho-
rhynchus. Die Naturwissenschaften,
7. Jahrg., Berlin;
„ 1922: Lebensbilder aus der Tierwelt der Vorzeit.
mgen im Text.
und im Cambridge Greensand, die dünnen pneu-
matischen Knochen stark verdrückt sind, und da-
her keinen sicheren Schluß über Gelenkungsmög-
lichkeiten zulassen, wenn auch durch viele Funde
das allgemeine Bild der einzelnen Knochen fest-
steht. Und wieder ist es, als wolle die Natur die
Rekonstruktionsversuche möglichst erschweren : an
den genannten Fundpunkten finden sich keine
Skelette im Zusammenhang, speziell am Tenda-
guru ist ein Gemisch ganz verschiedenartiger
Typen geborgen worden.
Ein glücklicher Fund (die ersten Knochenreste
fand meine Frau) versetzt mich in die Lage, einen
Beitrag zur Rekonstruktionsfrage zu liefern. Im
oberen Lias, denselben Schichten, aus denen die
schönen Platten von Holzmaden in Württemberg
stammen, fanden sich bei Flechtorf im Braun-
schweiglschen Teile eines Flugsauriers, die in eine
Geode eingebettet sind, und dadurch vor der
Verdrückung bewahrt blieben, die ihre Alters-
genossen betroffen hat. Die Auswertung des
Fundes soll einer ausführlicheren Arbeit vorbe-
halten bleiben und hier nur das herausgegriffen
werden, was für die Rekonstruktion in Frage
kommt.
Es handelt sich um Knochen von Dorygnathns
banthaisis Theod. sp., eine Art, von der schon
eine Reihe von Funden vorliegen, und über die
Arthaber') ausführlich gearbeitet hat. Aller-
dings kann ich ihm in manchen Punkten nicht
beipflichten, wie sich im Verlauf zeigen wird.
Wegen Literaturnachweis von Arbeiten die älter
als die Arthabersche sind, sei auf sie verwiesen,
im folgenden wird nunmehr Autor und Erschei-
nungsjahr angeführt.
Ehe auf die einzelnen Teile des Flechtorfer
Stücks eingegangen wird, ein paar Worte über
den Erhaltungszustand der Extremitätenknochen.
Manche, z. B. Ober- und die obere Hälfte des
Unterschenkels, einige Mittelfußknochen, sowie
Fußphalangen und solche von Krallenfingern,
konnten aus dem Gestein herauspräpariert werden.
Bei den anderen war diese Methode nicht anwend-
bar, da die Geode gespalten war und die Spalt-
') Studien über Flugsaurier auf Grund der Bearbeitung
des Wiener Exemplares von Dorygnathus banthensis Theod.
sp. Denkschr. Akad. Wissensch. Wien, math.-naturw. Klasse,
97. Bd. Wien 1919.
Auf diese Arbeit ist Bezug genommen wenn Arthaber
ohne Zahl zitiert wird.
Arthaber 192 1 bedeutet dessen Arbeit : Über Entwick-
lung, Ausbildung und Absterben der Flugsaurier. Paläonto-
logische Zeitschrift, 4. Bd., Berlin 1921.
274
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 20
fiäche die meisten Knochen der Länge nach durch-
setzte, sich also Reste auf Platte wie Gegenplatte
fanden. Was hier als Gegenplatte bezeichnet
wird, war aber seinerseits in mehrere Stücke zer-
sprungen, und leider ist es nicht gelungen, sie
alle zu finden. Auf beiden Platten wurden die,
z. T. schon herausgefallenen, Knochenreste vollends
vorsichtig zerstört, unter peinlichster Schonung
des umgebenden Gesteins. Nun konnten Gips-
abgüsse der einzelnen Knochen hergestellt werden,
die unter Zuhilfenahme von Gelatineabgüssen
(wegen zurückspringender Ecken usw.) ergänzt
wurden. Da Platte und Gegenplatte, mit Aus-
nahme weniger kleiner Splitter, direkt aufeinander-
liegen , war es möglich , einwandfreie Knochen-
modelle zu erhalten. Auf diese Weise wurden
Ober- und Unterarm, sowie Coracoid-Scapula ge-
wonnen. Von der unteren Partie des Unter-
schenkels, der Mittelhand, Carpalregion , sowie
I. und 2. Flugfingerphalange dagegen war großen-
teils nur die eine Seite zu gewinnen. Hier mußte
das Fehlende nach anderem Material ergänzt wer-
den. Ein besonderer Glücksfall ist es, daß von
den beiden in Fig. 3 als i und 3 bezeichneten
Handwurzelknochen die einander zugewandte Seite
erhalten war, die auf allen übrigen Dorygnathus-
platten verdeckt ist. So konnte ihre Form, und
namentlich die später zu besprechende Gelenkung
festgestellt werden. Ergänzung der gefundenen
und Nachbildung fehlender Knochen war die
nächste Aufgabe.
Durch das Entgegenkommen der Herren Geh.-
Rat Pomp eck j, dem ich auch sonst für manche
Anregung zu danken habe, Prof. Dr. Hennig,
Dr. Häuf f- Holzmaden und Pater Gottfried-
Banz, denen auch an dieser Stelle herzlichster Dank
ausgesprochen sei, stand mir dazu reichliches
Vergleichsmaterial zur Verfügung. Ich konnte
untersuchen: Das von Arthaber angeführte
Berliner Exemplar (Berlin gr.), ein zweites solches
in Berlin (Berlin kl.) das Arthaber überraschen-
derweise als Campylognathus bezeichnet, unter
welchem Namen er auch Teile davon abbildet.
Außerdem Gipsabgüsse des Wiener und Löwener
Stücks, beide gleichfalls in Berlin. In Tübingen
durfte icli die von Plieninger 1907 beschrie-
benen Reste sowie das prächtige, noch unbe-
schriebene Stück untei'suchen, von dem Art-
haber ein Lichtbild vorlag. In Holzmaden ge-
währte mir Herr Dr. Hauff Einblick in neue
Funde, und in Banz konnte ich die Originale von
Theodori 1852 studieren.
Als ganz besonders günstig erwies sich, daß
alle bisher gefundenen Reste von Dorygnathus
der einen Art baiilJieiisis angehören, und, trotz
verschiedener individueller Größe, sich für jedes
Stück der genannten Platten eine einheitliche In-
dexziffer ergab, mit deren Hilfe die Knochen
rekonstruktiv auf das Maß der Mechtorfer ge-
bracht werden konnten. Nur von Mittelhand und
-fuß distalwärts ergaben sich Größenschwankungen,
die aber nur einen geringen Bruchteil der Ge-
samtlänge des jeweiligen Knochens ausmachen,
und als individuell, großenteils wohl durch ver-
schiedenes Lebensalter der Tiere bedingt, be-
trachtet werden dürfen. Geschlechtsunterschiede
waren im Knochenbau nicht nachweisbar. Von
allen im Zusammenhang gefundenen Skeletten
ist das Hechtorfer das größte; übertroffen wird
es von keinem, wohl aber erreicht von einem
Unterkiefer (Münchener Original Oppels) und
einigen Banzer Knochen.
Durch den Vergleich der unverdrückten Flech-
torfer Stücke mit den genannten, konnte über
Art und Stärke der Pressung der letzteren Klar-
heit gewonnen werden, so daß sich die Ver-
drückung beim Nachmodellieren mit recht großer
Sicherheit ausschalten ließ. Außerdem stand mir
in Berlin noch viel Material von anderen Flug-
sauriergattungen zur Verfügung, und überließ mir
mein Kollege Dr. Reck zum Vergleich das von
ihm z. Zt. bearbeitete Tendagurumaterial, aus dem
wertvolle Schlüsse gezogen werden konnten.
Namentlich hinsichtlich der letzten Flugfinger-
phalange (s. sp.) war dieses bedeutungsvoll, ergab
sich doch, daß die genannte Phalange verdrückt
dasselbe Bild ergeben würde wie es die Dory-
gnathus- und andere Rhamphorhynchiden Platten
zeigen.
Auf diese Verhältnisse mußte ausführlich ein-
gegangen werden, weil die so gewonnenen Modelle
die Grundlage bilden für die weiteren Unter-
suchungen. Die Mehrzahl der Gipsmodelle wurde
von mir persönlich hergestellt unter peinlichster
Berücksichtigung jeder Einzelheit. Hat das Flech-
torfer Material die hauptsächlichsten Extremitäten-
knochen geliefert, so konnte aus dem anderen
Material das Fehlende soweit ergänzt werden,
daß Klarheit über fast alle Skelettelemente
entstand. Auf anatomische Einzelheiten einzu-
gehen ist hier nicht der Platz, es wird nur Funktio-
nelles besprochen werden mit Feststellungen über
den Befund soweit er sich nicht mit Arthabers
Darstellungen, oder Angaben anderer Autoren,
deckt.
Hinsichtlich der Rekonstruktion des Schädels
kann ich mich, wenigstens was die Seitenansicht
anlangt, Arthaber im wesentlichen anschließen,
dagegen waren die Zähne viel dolchartiger ^) wie
er sie darstellt. Außerdem war die Schnauze
spitz, nicht gerundet, wodurch der Schädel viel
mehr an Rhamphorhynchus anklingt, als dies
nach Arthabers Zeichnung scheint.
Auch was die Zahl der Hals- Rumpf- und
Becken Wirbel betrifft, pflichte ich Arthaber
bei, zu ganz anderen Resultaten dagegen komme
ich hinsichtlich der Länge des Seh wanzes, die
Berlin gr. ganz anders zeigt als Arthaber es
angibt. Außer den zerstreut hinter den Becken-
teilen liegenden 3 ersten Caudalwirbeln sind die
folgenden 22 im Zusammenhang erhalten. Der
') In Fig. 4—6 der Übersichtlichkeit wegen nur schema-
tisch gezeichnet.
N. F. XXI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
275
letzte ist außerordentlich schlank, möglicherweise
folgten aber doch noch ein paar ganz kleine
Wirbel , was die Schwanzlänge nur noch unbe-
deutend verändert halte. Bei der Rekonstruktion
wurde letzteres angenommen. Der Schwanz von
Dorygnathus ist durchweg, namentlich aber gegen
das Ende, bedeutend schwächer als der von
Rhamphorhynchus, so daß ich bei Dorygnathus
kein Schwanzsegel annehmen möchte; notwendig
war ein solches als Steuerorgan keineswegs. Da-
mit stelle ich mich in Gegensatz zu Abel, der
19 19 ausspricht, alle Langschwänzer hätten ein
Schwanzsegel besessen, und pflichte Arthaber
192 1 bei, der es als fraglich hinstellt. Auch er-
scheint mir unwahrscheinlich, daß der Schwanz
wirklich so steif war, wie dies Abel 19 19 W an-
nimmt. Die schwache Krümmung in Fig. 6
(nicht nur in den stark beweglichen ersten post-
sakralen Wirbeln), ist bei mehreren Stücken von
Rhamphorhynchus, zu beobachten, darf also für
den dünneren Schwanz von Dorygnathus wohl
unbedenklich übernommen werden.
Das Becken zeigt Berlin gr. sehr schön,
allerdings sind die Hauptelemente auseinander-
gerissen und liegen flach, aber kaum zerdrückt,
in der Plattenebene. Die gerundeten Ischia müssen,
wie Arthaber dies für alle liassischen Formen
annimmt, hinten durch Knorpelsymphyse verbun-
den gewesen sein. Ob dies bei den jüngeren
Rhamphorhynchiden, wie Stromer 191 3 es
darstellt, anders war, die Ischia also frei nach
hinten ragten, erscheint mir durchaus nicht sicher.
Stromers Annahme aber mit Abel 1919 W zu
generalisieren, indem man behauptete, bei allen
Langschwänzern seien die Ischia freigeblieben,
erscheint höchst gewagt. An die Tatsache, daß
bei den Pterodactylen durch die Verbindung der
Ischia die Gebäröffnung außerordentlich klein ist,
wurden manche Folgerungen geknüpft (Brutpflege);
zum mindesten bei den liassischen Rhamphor-
hynchiden scheinen die Verhältnisse analog zu
liegen. Allerdings ist die Möglichkeit nicht ganz
von der Hand zu weisen, daß die engen Becken
männlichen Individuen angehörten, oder es mag
die knorpelige Symphyse eine gewisse Dehnung
während des Geburtsakts gestattet haben. Die
Präpubes, gleichfalls knorpelig verbunden, bilden
schaufelartige Träger des Eingeweidesacks. Von
ganz besonderer funktioneller Wichtigkeit ist die
Gelenkpfanne, auf die bei der Besprechung des
Oberschenkels eingegangen werden soll.
Der rechte Oberschenkel ist in Fig. i dargestellt.
Die starken Trochanter weisen auf kräftigen Ge-
brauch hin. Man sieht, daß durch die exzentrisch
gelegene große Ligamentgrube die Gleitfläche des
Gelenkkopfs zu einem nicht sehr stark gebogenen
halbmondförmigen Gebilde wird. Diese exzen-
trische Lage des Ligaments verbietet ein starkes
Drehen. Berlin gr. zeigt in der Pfanne den
anderen Ansatz des Ligaments, woraus sich die
Drehfähigkeit des Oberschenkels in ihr ableiten
läßt. Sie beschränkt sich auf einen Winkel von
wenig über 90 Grad, von hinten nach unten, nicht
aber vorwärts. Schon damit entfallen Versuche,
das Tier reptilartig auf allen Vieren gehen zu
lassen, wie dies Seeley 190 1 in einem Teil
seiner Bilder langschwänzige Flugsaurier tun läßt.
Unterschenkel und Fuß sind in Fig. 2
dargestellt. Die Fibula verwächst schon im
mittleren Drittel des Unterschenkels mit der
Tibia, im letzten Drittel verschwindet sie als
Sondergebilde. Das distale Rollengelenk wird von
der — bei manchen Stücken völlig, bei anderen
nicht — mit der Tibia verwachsenen i. Tarsal-
reihe gebildet, Dorygnathus besitzt also, wie dies
auch bei manchen anderen Flugsauriern festge-
stellt ist, einen durchaus vogelartigen Tibiotarsus.
Auch dies spricht gegen reptilartige Stellung der
Mt 1-4
Fig. I.
Rechter Oberschenkel.
Nat. Gr.
Fig. 2.
Linker Unterschenkel u. Fufi
V2 nat. Gr.
Hinterextremität. Die Gelenkrolle des Tibiotarsus
weist mit etwa 45 Grad nach außen, • Abb. 2 ist
mit aufgelegtem Mittelfuß gezeichnet. Die proxi-
malen Gelenke der Mittelfußknochen i — 4 legen
sich kulissenartig aneinander, und bilden so ein
einheitlich funktionierendes Ganzes; ihre schwache
Keilform am Proximalende beweist eine leichte
Wölbung des Mittelfußes. Distal werden die
Metatarsalia sehr rasch frei. Die 5. Zehe ist, was
ganz an Dimorphoden erinnert, im Verhältnis zu
der anderer Langschwänzer sehr lang. Als An-
heftungsstelle der Flughaut hat sie ermöglicht,
diese dem Boden fern zu halten.
Was die Rumpfrippen betrifft, wird man
hinsichtlich ihrer Zahl Arthaber beipflichten
dürfen. Ob, wie bei anderen Rhamphorhynchiden,
276
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 20
Bauchrippen in der Zahl von 6 vorhanden waren,
muß fraglich bleiben. Daher wurde auf ihre Dar-
stellung verzichtet, obgleich sicher steht, daß
solche vorkommen; auch Verbindungsstücke der
vorangehenden Rippen mit einem nach hinten ge-
richteten knorpeligen Sternalfortsatz wurden nicht
dargestellt, wie denn überhaupt die Berippung nur
schematisch gezeichnet wurde. Mit Arthaber
nehme ich an — im Gegensatz zu Stromer 1913
u. a. — , daß es die drei vordersten Rumpfrippen
sind, die durch Sternocostalia mit dem Sternum in
Verbindung stehen. Wie bekannt sind die drei
vordersten Rumpfwirbel stärker als die späteren,
dasselbe gilt auch von den zugehörigen Rippen,
die sich dadurch deutlich von den späteren unter-
scheiden. Berlin kl. zeigt diese Verhältnisse sehr
klar, übrigens — nach Lichtbild wie Abguß —
auch das Wiener Stück, während Art h aber die
2. Rippe als erste bezeichnet usw. Komme ich
auch sonst hinsichtlich des Sternums zu ganz
anderen Resultaten wie Arthaber, so muß ich
ihm in der Deutung von 3 Rippenansatzsteilen
am Sternum beipflichten. Auf Stellung und Größe
von Halsrippen und -sehnen möchte ich mich
nicht festlegen.
Nun zum Sternum. Berlin gr. zeigt das
untere Stück, von außen gesehen, mit beginnen-
der Crista. Dieser eindeutige Sternalteil läßt sich
mit dem von Arthaber als Sternum angegebenen
Gebilde nicht zur Deckung bringen, sofort aber,
wenn man das Wiener Stück nur als die eine
Hälfte des Sternums, auch ohne Cristospina, auf-
faßt. Als letztere ist eine verdrückte Knochen-
masse zu deuten, die sich quer oberhalb des
Sternalrestes von Berlin gr. befindet. Was Art-
haber als ganzes Sternum betrachtet, kann es
unmöglich gewesen sein: so findet auch die merk-
würdige Assymetrie des Wiener „Sternums" ihre
Erklärung. Schon aus einem Grundgesetz ver-
gleichender Anatomie ist zu folgern , daß der
Muskel der einen bei Dorygnathus wie den
übrigen jurassischen Fugsauriern bis in die Kreide
hinein gleichartig ausgebildeten Trochanter am
Proc. lateralis des Oberarms erzeugt, auch von
einem bei allen im Prinzip gleichartig gebauten
Sternum ausgeht. Die Ansatzfläche für das Cora-
coid, die das Wiener Exemplar zeigt, und Art-
haber auch als solche erkannt hat, liegt dann
analog, wie es von Pteranodon bekannt ist, und
von Stromer 1913 für Rhamphorhynchus an-
genommen wird.
Eine Schilderung des Arms muß hier unter-
bleiben. Das ganz eigenartige Gelenk Oberarm-
Schultergürtel ist nicht mit wenigen Worten zu
erledigen. Über die Bewegung geben die Fig. 4
und 6 Auskunft. Besonders wichtig ist die Hand,
Fig. 3. Eine Bewegungsmögliclikeit zwischen
Unterarm und erster Carpalreihe ist zu vermuten,
und zwar senkrecht zur Bildebene, kann aber
meinerseits nicht bewiesen werden. Sicher da-
gegen steht die Bewegungsmöglichkeit zwischen
der I. und 2. Carpalreihe in der Bildebene. Die
Abklappung tritt in Fig. 6 in Erscheinung.
Zwischen der 2. Carpalreihe und dem Metacarpus
dagegen war keine Bewegung möglich. Von
ganz besonderer Bedeutung ist die Bewegungs-
richtung der Krallenfinger, die meist auf den
Platten schädelwärts zeigen, woraus von der Mehr-
zahl der Autoren, z. B. auch Stromer 191 3,
Abel 1919 W, geschlossen wurde, daß die Be-
wegungsmöglichkeit der Krallenfinger gegen den
P'lugfinger um 180 Grad verschieden war. Unbe-
kümmert um die Lage auf den Platten nimmt
Seeley 1901 u. a. sie in derselben Richtung wie
der Flugfinger an. Das Richtige scheint, wie
anderen Orts ausführlich zu begründen sein wird,
in der Mitte zu liegen: sie war um 90 Grad ver-
schieden von der des Flugfingers. Diese Stellung
ist ja auch die anatomisch zu erwartende, das
Abnorme ist nur die Abklapprichtung des Flug-
fingers, der nicht nur in dieser Beziehung von der
Norm abweicht. Die Lage
der Finger auf den Platten
ist als Druckerscheinung zu
deuten, Druck hat es ja auch
vermocht, fast alle anderen
Knochen so zu stellen, daß
sie ihre breiteste Seite zeigen.
Daher auch die überraschen-
de Ähnlichkeit in der Lage
dereinzelnenSkelettelemente
(nicht des Gesamtskeletts)
auf den Platten. Beim Fuß
ist längst erkannt, daß der
Mittelfuß meist Ober- und
Unterseite (wenn im Zusam-
menhang erhalten) zeigt, die
Zehen dagegen in Seiten-
lage eingebettet liegen, also
ein, man möchte sagen, alt-
ägyptisches Bild zustande
kommt. Der „olecranon-
artige Fortsatz" der i. Flug-
fingerphalange diente, wie
Plieninger dies schon
1894 ganz richtig bemerkt,
dem Streckmuskel zum Ansatz, gegen die Mög-
lichkeit des Überdrehens (Abel 1919 W) wäre
er ja auf der falschen Seite. Die Phalangen des
l""lugfingers waren steif miteinander verbunden,
Knorpellagen zwischen ihnen schufen nur eine
gewisse Elastizität, die beim Streifen eines Gegen-
standes den Bruch des Flügels verhindern konnte.
Außerdem befinden sich am Vorderrand der
Phalangen nahe ihren Enden starke Knochenvor-
sprünge, die sicherlich Bänder trugen, die zur
weiteren Versteifung des I<"lügels beim Fliegen
gegen den Luftdruck von vorn dienten. Zum
Ansatz von Muskeln die eine Bewegung nach vorn
ermöglichten, wie es Arthaber 192 1 als denk-
bar bezeichnet, waren sie jedenfalls ungeeignet,
wie auch die Phalangenenden gar keine Bewegung
zulassen. Ganz besonders bedeutungsvoll aber
war, wie schon erwähnt, eine unverdiückte End-
Linke Hand. (Vom Flug-
iinger nur der proximale
Teil der i. PÜalange.)
' ^> nat. Gr,
N. F. XXI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
^-71
phalange vom Tendaguru, die Abbiegung nach
hinten abwärts zeigt. Herr Dr. Reck wird das
Stück bekanntgeben. Mit der Kenntnis dieser
Form wird manches geklärt, was hinsichtlich der
Lage der Endphalangen auf den Platten bislang
rätselhaft war, und manche Autoren, am ausge-
sprochensten Abel 1922, veranlaßte, eine Biegung
nach vorn anzunehmen. Das Bild des fliegenden
Tieres wird durch die nunmehr festgestellte Form
der Endphalange des Flugfingers ganz besonders
ähnlich dem eines segelnden Vogels.
IVIit dem geschilderten Material wurde nun
278
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 20
der Aufbau des Tiers vorgenommen. Die
Erkenntnis, daß nicht zeichnerisch, sondern nur
am Modell die Fragen der Lebensweise der Flug-
saurier zu lösen sind, hat Stromer 1913 dazu
geführt ein Modell anzufertigen. Nur, er mußte
sich durchweg mit verdrücktem Material behelfen,
während jetzt gerade für die wichtigsten Gelenke
unverdrücktes zur Verfügung steht.
Bei der Rekonstruktion wurde auf induktivem
Weg, ohne vorgefaßte Meinung, vorgegangen.
Die Knochen der Vorderextremität wurden, ein-
mal in Beuge-, einmal in Streckstellung in Gips-
schienen eingebettet, und so zwei extreme Stel-
lungen gewonnen, einschließlich der Gelenkung
Coracoid-Scapula mit dem Oberarm. Fraglich
blieb jetzt die Stellung des Schultergürtels im
Körper. Allerdings war durch die Kenntnis der
Gestalt des Sternums und seiner Lage zu den
drei ersten Rumpfwirbeln , sowie des Coracoid-
Ansatzes an ihm, schon ein gewisser Anhalt ge-
geben, außerdem mußte sich die Scapula dem
Tonnengewölbe der Rippen anschmiegen. Die
Rippenlängen waren fast alle bekannt , es fehlten
aber die der Sternocostalia usw.
Andererseits war aus Rumpflänge und Becken
doch auch ein Hinweis auf die Körperform ge-
geben. Ausprobieren an den Modellen ergab die
wahrscheinliche Lage des Schultergürtels. Nun
wurden die Gipsschienen angelegt, und es ent-
standen 2 Stellungen , deren eine die Flügellage
beim Niederschlag zeigt, die andere die in Fig. 6
abgebildete ist. Die als wahrscheinlich betrachtete
Lage des Schultergürtels im Tierkörper durfte
damit als zu Recht bestehend angenommen werden.
Die erstgenannte Stellung (Niederschlag) wurde
nicht zur Darstellung gebracht, weil sie im Bild
die Knochen stark verkürzt gezeigt hätte. Um
dies zu vermeiden wurde das Gelenk Oberarm-
Schultergürtel nicht voll ausgenützt, so daß Stel-
lung Fig. 4 u. 5 das Tier flach hinstreichend
darstellt. Diese Stellung wird im großen und
ganzen der Segelstellung entsprechen, wofern man
die Zeichnung schief hält. Allerdings wird der
Hals dabei meist in leichter Krümmung nach
unten gebogen, und der Schädel etwas einge-
winkelt getragen worden sein, was, aus dem
Bau der Halswirbel sowie der Kopfstellung lang-
schwänziger Flugsaurier auf den Platten zu schließen,
die Normalstellung gewesen zu sein scheint. Sie
ist auch anzunehmen um dem Tier, ohne zu
starke Drehung im Hals oder am Schädelcondylus,
zu ermöglichen nach unten zu schauen, wenn es
zum Fischfang auszog.
Wenn in den Zeichnungen versucht wurde,
auch den Körperumri^ anzudeuten, so ge-
schah das im vollen Bewußtsein dessen, daß es
sich hierbei um etwas ganz unsicheres handelt.
Ein Kehlsack, der von manchen Autoren für die
Flugsauricr gefordert wird, weil er sich aus dem
Mißverhältnis der Größe Rumpf : Kopf ergibt,
wurde angedeutet. Ein Hautfetzen, der einmal in
dieser Gegend gefunden wurde, ist in der Deu-
tung als Kehlsack umstritten. Ausdrücklich sei
betont, daß ich mich hinsichtlich seiner Form,
namentlich auch seiner Lage zum Zungenbein,
nicht festlegen möchte. In Fig. 4 u. 5 wurde
auch versucht die Flughaut darzustellen. Die
Annahme eines Uropatagiums, die Abel 1919
macht , erübrigt sich durch die Erkenntnis einer
anderen Fußstellung, zum mindesten bei Dorygna-
thus, als Abel sie sich bei Rhamphorhynchus
denkt. An ein vom Spannknochen der Hand be-
dientes Propatagium dagegen muß ich ich glauben,
obgleich Arthaber daran zweifelt. Ob es den
Hals erreichte oder nicht ist ganz unsicher, ich
halte mich an die gebräuchliche Darstellung.
Zwischen den beiden extremen Stellungen,
mit allen möglichen Kombinationen , mußte die
Bewegungsfähigkeit der Vorderextremität liegen.
Ein Darüber-hinaus ist unmöglich, ob sie alle voll
ausgenützt werden konnten, ist dagegen eine
andere Frage. Nimmt man den Rumpf mit
Schwanz, und die Hinterextremität mit ihren Be-
wegungsmöglichkeiten hinzu , so muß man sich
schon ein Bild machen können über die Lebens-
weise des Tieres. Es gibt eigentlich kaum eine
Stellung, die nicht zeichnerisch oder gedanklich
noch im 20. Jahrhundert den Rhamphorhynchiden
zugeschrieben wurde, wenn sie nicht in der Luft
waren. Man ließ sie auf ebener Erde auf allen
Vieren gehen mit nach hinten oben gestrecktem
Flugfinger, oder auf. den Zehen laufen, den Flug-
finger nach unten dem Boden parallel (Seeley
1901); man setzte sie auf den Mittelfuß, den Flug-
finger gleicherweise aber seitlich getragen (König
191 1). Man dachte an Schwimmen, indem man
als möglich hinstellte, daß zwischen den Zehen
Schwimmhäute waren (Seeley 1901), selbst an
Schwimmen mit den Armen ist schon gedacht
worden. Man glaubte an Klettern an Preisen und
an Bäumen, Klettern fast ausschließlich mit der
Hand, oder mit Hand und Fuß unter Zuhilfenahme
des Schwanzes als Stütze (König 191 1). Man
dachte an Hängen in Bäumen, den Körper nach
unten, wie dies neuerdings Abel 1919 N für
manche Kurzschwänzer abbildet, allerdings mit
der Beschränkung auf diese. Auch liegend im
Sand (Abel 1919 N) wurden Langschwänzer
dargestellt.
Bleiben wir zuerst beim Sitzen, einer Stel-
lung, die sich aus Fig. 6 ableiten läßt. Der
Oberarm wird nicht so stark angelegt, die
Mittelhand dabei nicht zurückgedreht gewesen
sein , die Verlegung des Schwerpunkts nach
vorn, die sich daraus ergibt, konnte leicht durch
etwas stärkeres Einwickeln des Kniegelenks,
das starke Bewegungen zuläßt, ausgeglichen wer-
den. Auch wird sich das Tier in der Ruhe auf
den Mittelfuß niedergelassen haben. Eine solche
Stellung mag es auf flachem Strand eingenommen
haben, wenn es auf weiten Flügen einen Fisch,
— den es im F"lug aus dem Wasser geholt, und
nun zwischen den Raffzähnen in der Lage ge-
tragen, wie es ihn geschlagen hatte — im Kehl-
N. F. XXI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
279
sack verstaute. Ein Windfänger muß das Tier,
wenn es dem Wind auch nicht so viel Fläche
bot wie in Fig. 6, gewesen sein, indessen, es stand
recht breitbeinig und wird sich auch in die Wind-
richtung gestellt haben. Der Schwanz wird auch
beim Sitzen (nach Analogie mit den ein Schwanz-
segel tragenden Rhamphorhynchen) kaum als
Stütze, vielmehr als Balanzierstange gedient haben.
Die Beine von Dorygnathus sind lang und kräftig
genug, dem leichten Tier in kurzem Lauf auf
den Zehen die nötige Geschwindigkeit zum Abflug
zu geben. Den Augenblick, in dem sich das Tier
zum Lauf anschickt, stellt Fig. 6 dar. Dabei kam
ihm das Hochtragen des Flugfingers und die Länge
der 5. Zehe zu statten, die Gefahr, daß sich die
Flughaut am Boden verhängte, war gering. Gegen
Wind hat vielleicht ein Abschnellen mit den bei-
den hauptsächlichsten Fußgelenken zum Abflug
genügt.
Die Annahme aktiven Schwimmens (passiv
mag der leichte Körper vom Wasser getragen
worden sein), darf abgelehnt werden. Die Flug-
haut bot, auch wenn man nur an Schwimmen
mit den Beinen, nicht den Armen, denkt, einen
zu großen Widerstand im Wasser.
Beim Fliegen wird man sich vorhalten
müssen, daß die Flughaut auch in dem verh.
dünnen Medium der Luft sich nur bei langsamen
Flügelschlägen auswirken konnte. Rasch einander
folgende Armschläge hätten Wellungen in ihr er-
zeugt, was, infolge sich gegenseitig störender Luft-
wirbel, die Tragfähigkeit der Flughaut ganz be-
deutend herabgesetzt hätte. Im ganzen ist auch
Dorygnathus durchaus als Segler (s. vorne) anzu-
sprechen, der nur bei Windstille, oder um seine
Geschwindigkeit zu erhöhen, mit den Flügeln
schlug.
Damit sind aber die Stellungsmöglichkeiten
des Tieres nicht erschöpft. Aus den großen
Handkrallen wurde schon immer auf Klettern
geschlossen. Bäume allerdings wird es eher ge-
mieden als aufgesucht haben. Der lange, steife
Schwanz, die große Klafterweite, und nicht zum
wenigsten die empfindUche Flughaut hätten es in
einem Gewirr von Ästen und Zweigen großen
Gefahren ausgesetzt. Aber auch die beschränkte
Bewegungsmöglichkeit des Oberschenkels, wie
dessen ziemlich breit vom Becken ausladende
Stellung machen es zum Baumklettern ungeeignet.
Recht geeignet dagegen erscheint das Bein als
Stütze für den steilgestellten Leib beim Felsen-
klettern. Das Kletterorgan selbst war die Hand.
Denkt man sich in Fig. 4 das Ellbogengelenk
eingewinkelt, den Flugfinger zurückgeklappt, so
kommt etwa die Stellung der Vorderextremität
heraus, in der das Tier Vorgriff. Dabei sind die
Krallen nach unten gerichtet. Fig. 6, die Hand-
wurzel gestreckt, ergibt das Bild das der Arm
einnahm wenn sich das Tier hochgezogen hatte.
Dabei sind die Krallen vom Körper weg nach
außen gerichtet. Diese Umstellung der Krallen
hat ihren Grund in der Drehung des Oberarms,
die automatisch im Schultergelenk statthat, wenn
er aus Streck- in Beugestellung, und umgekehrt,
gebracht wird. In unserem Fall, wo die Hand
festliegt , bewirkt sie eine Umstellung des Kör-
pers, d. h. beim Hochziehen kommt das Tier
aus der Bauch- in die Seitenlage. Dadurch wird
der andere Arm frei und kann nun seiner-
seits vorgreifen, der Körper wird dabei von den
Füßen gestützt.^) Zum Ausnutzen eines Halte-
punkts war die Beweglichkeit in der Hand- und
Fußwurzel günstig. Das Tier hat also beim
Klettern wechselweise mit den Händen vorge-
griffen, was mit einer Schaukelbewegung des
Körpers verbunden war. Diese Schaukelbewegung
ist aber für die empfindliche Flughaut von ganz
besonderem Nutzen. Beim Hochziehen des Körpers
verändert der Flugfinger seine Lage zum Felsen
nicht, beim Vorstrecken des Arms zu neuem
Greifen aber stark. Gerade bei dieser Bewegung
aber ist der Flugfinger dem Felsen abgewendet,
und damit denkbarst vor der Gefahr des Ein-
reißens geschützt.
Und nun als letztes zur Ruhestellung.
Sicherlich lag das Tier auch zeitweise, seine Beine
konnte es dabei nur nach hinten gestreckt tragen.
Aus der Bewegungsmöglichkeit des Oberschenkels
ist zu entnehmen, daß es sich mit den Beinen
allein nicht erheben konnte. In flachem Gelände
wird ihm dies auch unter Zuhilfenahme der Arme
nicht gelungen sein, darin pflichte ich Abel 1919N,
allerdings mit anderer Begründung, bei. Ein Hoch-
schwingen durch Flügelschläge auf den Boden
aber, wie Abel sich das denkt, ist völlig ausge-
schlossen. Die Form der 4. Phalange des Flug-
fingers verbietet dies, ein starker Schlag auf den
Boden würde sie zertrümmern. Auch ist ein Haut-
flieger kein Vogel. Wenn sich ein Mauersegler
auf ebenem Boden befindet, so ist dies wahrlich
für ihn keine Normalstellung. Er muß mit den
Flügeln aufschlagen, weil dies das einzige Mittel
für ihn ist, sich aus seiner hilflosen Lage zu be-
freien. Er wird auch noch fliegen können, aller-
dings behindert, wenn er sich dabei ein paar
Federn geknickt haben sollte. Anders bei Dory-
gnathus, einem Hautflieger. Reißt der sich am
Boden die Flughaut ein, zerbricht er womöglich
die Endphalange, dann ist an ein Hochkommen
gar nicht mehr zu denken. Liegen auf flachem
Boden scheint mir gleichbedeutend mit äußerster
Gefährdung des Tieres. Hingegen möchte ich
Abel dahin ergänzen, daß auf die von ihm an-
gegebene Weise es dem Tier möglich sein konnte,
sich vom Wasser loszumachen, wenn es beim
Fischen hineingeraten war oder (dies aber nur
als gedankliche Anregung ausgesprochen), sich
ruhend vom Wasser tragen ließ.
In Liegestellung wird sich ein Dorygnathus
nur da begeben haben, wo er sich mit Hilfe der
Handkrallen aufrichten konnte, bzw. ihm Abflug
') Der Schwanz
haben (s. o.).
rd dabei kaum eine Rolle gespielt
28o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 20
ohne Aufrichten möglich war; und nun schließt
sich die Kette, als deren Glieder die einzelnen
Stellungen zu betrachten sind: sein Ruheplatz lag
in Felsen. Mehrere Autoren haben -schon ausge-
sprochen, die Flugsaurier müßten Brutpflege be-
trieben haben, natürlicher Schutz für Eier und
Junge aber war dort gegeben.
Wenn auf diese Weise ein einheitliches und
ziemlich geschlossenes Bild über die Lebensweise
von Dorygnathus zu gewinnen war, sei zum
Schluß nochmals betont, daß es ausschließlich für
Dorygnathus entworfen ist. Wieviel davon auch
für andere Flugsaurier gilt, kann nur genaue
Nachprüfung für jeden einzelnen Fall ergeben.
Bücherbesprechungen.
Soergel, W., Die Jagd der Vorzeit. Jena
1922, Gustav Fischer.
Es ist in letzter Zeit, so von Wiegers, ent-
schieden betont worden, daß eine entscheidende
Förderung unserer Kenntnisse von der ältesten
Geschichte der iVIenschheit nicht von der Vor-
geschichtswissenschaft allein, als vielmehr von
Seiten der Geologie und Paläontologie zu erwarten
ist. Soergel gibt auf der Grundlage der letzten
beiden Wissenschaften einen Beitrag zur Vorge-
schichte des IVIenschen, in welchem er uns, in
starker Erweiterung einer älteren Arbeit, die Jagd
des Paläolithikers ausführlich schildert. Seine
„Jagd der Vorzeit" bringt eine wesentliche und
vor allem durch kritischen Geist gereinigte Be-
reicherung dieses wichtigen Kapitels frühmensch-
licher Betätigung, das allzuviel zu phantasievoller
Ausschmückung anregt — mag man über manche
Einzelheit wohl auch anderer Meinung sein können.
Der diluviale Mensch war in allererster Linie
Jäger. Kennen wir seine Jagd, so kennen wir
seine vornehmste, alles überragende Tätigkeit.
Mit ihrer Kenntnis wird es gelingen, seine Lebens-
weise, die Grundzüge seiner sozialen Verhältnisse,
seine geistige Kultur mehr und mehr aufzuhellen.
Die grundlegende Frage nach der Bewaffnung
des steinzeitlichen Jägers wird dahin beantwortet,
daß ihm Holzwaffen zu Wurf und Stoß zur Ver-
fügung gestanden haben dürften. Ob sie mit
Steinspitzen bewehrt waren, erscheint sehr frag-
lich. Gifte zu ihrer Bestreichung standen kaum
zur Verfügung. Die Stellung des Paläolithikers
innerhalb der diluvialen Tierwelt war eine sehr
schwierige. Viele und große Raubtiere um-
drängten ihn, während gerade die ältesten dilu-
vialen Menschenrassen auffallend klein waren. Der
Mensch wird wenigstens nicht im Altpaläolithi-
kum der erfolgreichste Jäger gewesen sein ; die
Raubtiere räumten sehr viel stärker unter den
Pflanzenfressern auf. Bei Stätten, die auf eine
außergewöhnlich erfolgreiche Jagd hindeuten, wie
Solutre, müssen besondere Umstände vorgelegen
haben; Predmost wird als Jagdstätte des Löß-
menschen abgelehnt, wohl mit Unrecht. Die
Auffassung von Klaatsch, daß der Diluvial-
mensch mühelos sich seiner Beute bemächtigte.
wird sehr richtig verworfen. Seine Jagdtiere
waren recht zahlreich, einzelne aber besonders
beliebt: diese kehren in großen Mengen in be-
stimmten Kulturperioden überall wieder. Fische
liebte der Altpaläolithiker nicht, ebensowenig
Vögel; sein Körperbau erlaubte den Fang viel-
leicht noch nicht; anders wurde dies im Jung-
paläolithikum. Von kleinen Säugern wurden
Biber, Eisfuchs, Schneehase auf einfachste Weise
totgeschlagen. Das kleine Wild hat aber für die
Küche des Eiszeitmenschen stets nur geringe Be-
deutung gehabt. Hauptnahrungsquelle bildete
die Großtierwelt. Gejagt wurden der Höhlen-
und der braune Bär. Unter den Wildrindern
wurde der Bison bevorzugt, der ja auch für die
Kunst des Jungpaläolithikums so zahlreiche Vor-
bilder gab. Elch und Riesenhirsch wurden ge-
mieden ; dagegen sollen Elchtiere wegen ihrer
geringeren Wehrhaftigkeit in Angriffsjagd, und
zwar schon vom Homo Heidelbergensis, öfter
erlegt worden sein. Das Pferd wurde mit Beginn
des Jungpaläolithikums Hauptjagdtier; es wurde
seiner dickwandigen Extremitätenknochen wegen
verfolgt, die zu Knochenarbeiten dienten. Eben-
dasselbe gilt für das Renntier („Renntierzeit"). Sehr
ausführlich wird die Jagd auf den Waldelefanten
geschildert: die Jagd mittels Fanggruben ist die
rentabelste, vielleicht einzig mögliche gewesen.
Die Fundumstände in Taubach beweisen klar,
daß hier wirklich der Mensch als Jäger aufge-
treten ist. Schon Homo Heidelbergensis zog auf
den gewaltigen Waldelefanten zur Jagd ausi
Fanggrubenjagd wurde auch auf Mammut und
Mercksches Nashorn angewendet. Das wollhaarige
Nashorn hat keine jagdliche Rolle gespielt.
Es besteht eine Art Entwicklung der vorzeit-
lichen Jagd. Diese Entwicklung ist aber keine
kontinuierliche; jede neue, höhere Stufe ist an
das Erscheinen einer neuen Menschenrasse ge-
knüpft. Ganz verschiedene Tiere spielen im älte-
ren und jüngeren Paläolithikum die Hauptrolle
als Jagdbeute. Dieser Unterschied hat seine Ur-
sachen in der verschieden hoch entwickelten
Waffentechnik und in den verschiedenen körper-
lichen und geistigen Eigenschaften der Menschen-
rassen. Krenkel.
lilbHll: Carl Stiel er, Neuer KcUonslruklionsversuch eines liassischen Flugsauriers. (6 Abb.) S. 273. —
besprechungen: W. .Soergel, Die Jagd der Vorzeit. S. 280.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Bai
ganzen Reihe 37.
Sonntag, den 21. Mai 1922.
Nummer 31.
Mechanistische und vitalistische Strömungen in der Geschichte
der biologischen Theorien.
[Nachdruck verboten.]
Ein Vortrag.
Von Dr. HanS^Adaui Stolte, Würzburg,
Das Bild vom Entstehen und Vergehen der
biologischen Theorien vom Altertum bis zur
Jetztzeit ist bunt und vielgestaltig, es dürfte
im Rahmen eines Vortrags nicht zu entwerfen
sein. Ich möchte deshalb aus der Menge der
verschiedenen Richtungen, die die biologische
Theorie eingeschlagen hat, zwei große gegen-
sätzliche Anschauungen herausschälen und sie
durch die Jahrhunderte europäischer Geistes-
kultur verfolgen, nämlich die mechanistischen und
vitalistischen Strömungen in der theoretischen
Biologie. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich da-
mit etwas schematisch verfahre, glaube mich
aber zu der Einteilung deshalb berechtigt, weil
ihr zwei Typen von Denkern zu entsprechen
scheinen, die analytischen und die synthetischen
Forscher: Wer sich in mechanistischen Gedanken-
gängen ergeht, sucht die Erscheinungen auf nur
quantitative Unterschiede eines Grundstoffes zu-
rückzuführen — so Demokrit auf das Atom — ,
er analysiert also die Erscheinungen. Der Vita-
list dagegen sucht meist nach dem überge-
ordneten Prinzip, das die widerstrebenden Ten-
denzen der Einzelerscheinungen zusammenfaßt und
so zu einer Weltanschauung verhilft, die das meta-
physische Bedürfnis verschiedener Zeiten von der
Wissenschaft gefordert hat, ich erinnere nur an
die Herrschaft des Aristotelismus das ganze Mittel-
alter hindurch. Dagegen trat der Mechanismus
überall dann hervor, wenn der menschliche Geist
voll Siegesbewußtsein nur sich gelten ließ, für
sich keinerlei Schranken anerkannte und die
Wissenschaft in höchsten Ehren stand. Ich meine
die Zeit der englischen und französischen Auf-
klärung und in Deutschland die Mitte des 19. Jahr-
hunderts. Die beiden Extreme, auf der einen
Seite die Ansicht, daß die biologischen Vorgänge
analog chemisch - physikalischen erklärt werden
können, auf der anderen Seite die Überzeugung,
daß allem Lebenden eine Eigengesetzlichkeit zu-
grunde liegt, sind natürlich am reinsten bei den
konsequenten Denkern vertreten. Wir werden
aber auch Theorien finden, die einen mittleren
Weg einschlagen. Diese haben aber niemals eine
so große Wirkung ausgeübt. Innerhalb der Ex-
treme liegen die Grundanschauungen der biolo-
gischen Theoretiker vom Altertum bis zur Gegen-
wart. Daß auch die Neuzeit über diese An-
schauungen nicht herausgekommen ist, hat seinen
Grund in der zwiefachen Verkettung des Menschen
mit der Vergangenheit: Durch Vererbung sind
wir ein Produkt unserer Vorfahren und durch die
geistige Tradition sind wir mit den Gedanken-
gängen älterer Forscher verknüpft und wir können
nur auf dieser Grundlage weiterbauen.
Die ältesten Urkunden biologischer Forschung,
2000 v. Chr., stammen vom Nil und Euphrat.
Maßgebend für die Beschäftigung mit der Bio-
logie war damals allein das praktische Bedürfnis
und so waren die Biologen jener Zeit meist
Priester und Ärzte. So erklärt sich auch die ge-
ringe Ausbeute an biologischer Theorie, nicht nur
bei den Ägyptern und Babyloniern, sondern auch
bei den großen Kulturvölkern des Ostens, den
Indern und Chinesen. Wenden wir uns zu dem
Volke der Griechen, bei dem die Wissenschaft
sich zum ersten Male in voller Breite entwickelte.
Wir müssen uns klar sein, daß sie eine Menge
von Anregungen von außen empfingen, die hier
aber auf bedeutend fruchtbareren Boden fielen
als bei anderen Völkern, Man vermutet, daß die
Phöniker es waren, die Kenntnisse und Ideen an
den Küsten des Mittelmeeres verbreiteten. Sie
übermittelten auch den kleinasiatischen Griechen
den neuesten Stand der Wissenschaft. Hier ent-
wickelten sich die Anfänge griechischer Weltbe-
trachtung.
Die älteste Periode der griechischen Philo-
sophie, die man gewöhnlich die kosmologische
nennt, hatte zum Mittelpunkt die milesische Schule.
Wenn nun auch die Fragen, die diese Mänrjer
beschäftigten, Wesen und Entstehung der ga^nz^a
Welt betrafen, so bildeten sich doch bei ihnen
schon gewisse Grundbegriffe heraus, die in der
biologischen Theorienbildung aller Jahrhunderte
wiederkehren. Ich muß deshalb dabei noch et^ss
verweilen. ,■>
Die alten Naturphilosophen waren auf der
Suche nach dem einheitlichen Prinzip der Wek-
erklärung und nach dem Urstofif. Hier begegnen
uns die schroffsten Gegensätze: Während die
eleatische Schule von dem unveränderlichen Sein
der Welt überzeugt war, sah Heraklid alles in
Bewegung und Kampf. Sein „ndi'ia (xi" könnte
man als das erste Aufblitzen des Entwicklungs-
gedankens auffassen und sein Wort: „Der Krieg
ist der Vater aller Dinge" ist durch Darwins
Formulierung des „Kampfes ums Dasein" wieder
aktuell geworden. Ein anderer Denker, Empe-
dokles, der die Welt aus 4 Elementen aufge-
baut sah, läßt Liebe und Streit die bewegenden
Kräfte dieser Elemente sein. Aus seinen nur
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
bruchstückweise erhaltenen Schriften wissen wir,
daß er die Pflanze für beseelt hielt, eine Ansicht,
die bis zum 19. Jahrhundert noch häufig wieder-
kehrt. Aus der Annahme der 4 Elemente bildete
sich die Atomistik heraus, die schließlich durch
Demokrit auch auf alles Lebende ausgedehnt
wurde. Die Seele besteht ebenfalls aus Atomen.
Auf den Siegeszug der Atomistik in der Ge-
schichte der Wissenschaft besonders hinzuweisen
erübrigt sich wohl. Sind wir doch heutzutage
selbst Zeugen eines gewaltigen Fortschrittes auf
diesem Gebiet, an dem Chemie und Physik in
gleicher Weise Anteil haben.
Anaxagoras, ebenfalls aus der atomistischen
Schule stammend, führte den Zweckbegrifif in die
Wissenschaft ein. Erwähnen möchte ich noch,
daß die Grundidee des Deszendenzgedankens sich
bei Anaximander findet: Durch Sonnenwärme
entstehen blasige Gebilde aus dem Schlamm, das
wurden fischartige Geschöpfe. Einige von ihnen
krochen auf das Land und wandelten sich um usf.
Diese älteste Periode der griechischen Philo-
sophie ist noch sehr stark durch religiöse Vor-
stellungen beeinflußt, und es muß deshalb als ein
Fortschritt angesehen werden, wenn Hippo-
k rat es wie an der Pforte zu einem neuen Zeit-
alter der Tatsachenforschung den Ausspruch tut:
Das Kennen erzeugt die Wissenschaft, das Nicht-
kennen erzeugt den Glauben. Die folgende Zeit
widmete sich auf philosophischem Gebiet dem
IVIenschen. Es ist das Zeitalter des Sokrates
und der Sophisten.
Die letzte Periode griechischer Philosophie
wird repräsentiert durch die großen Systematiker
Demokrit, Plato und Aristoteles. Plato
können wir hier übergehen, sein Hauptinteresse
galt, wie das seines Lehrers Sokrates, dem
Menschen.
In Demokrit von Abdera und Aristoteles
von Stagira stehen sich zum ersten Male Pol und
Gegenpol wissenschaftlicher Grundanschauung
gegenüber: Demokrit, der Materialist, der
Atomist, der alle Erscheinungen des Lebens
zurückführte auf letzte Einheiten: der Analytiker,
Aristoteles, der Vitalist, der sein System
krönte mit dem Begriff der Entwicklung: der
Synthetiker. Auch noch von anderem Standpunkt
aus vertreten sie schärfste Gegensätze. Demokrit
sah als das einzig Wirkliche den leeren Raum
und darin die Bewegung der Atome. Damit
führte er alles Qualitative auf Quantitatives zurück,
auf Atommechanik; hier waltet also ausgesproche-
ner Monismus. Aristoteles dagegen betont
ausdrücklich den dualistischen Charakter seiner
Anschauungen. Auf den Zentralbegriff seiner
Philosophie will ich kurz näher eingehen , weil
dieser Begriff neuerdings durch Driesch seine
Auferstehung erfahren hat: Entelechie ist bei
Aristoteles die Selbstverwirklichung des We-
sens in den Erscheinungen, die Seele ist die
Entelechie des Leibes, oder allgemeiner ausge-
drückt; Entelechie ist Form im Stoff. Aristo-
teles nimmt 4 Prinzipien des Geschehens an:
Materie — Form — Zweck — Ursache. Im organischen
Geschehen sind die drei letzteren die verschiede-
nen Ausdrücke für dieselbe Sache, denn Form=
Zweck = Ursache = Entelechie. Das organische
Geschehen hat das mechanische und chemische
zu seiner Voraussetzung. Eine entsprechende
Stufenfolge zeigt das Seelische. Aristoteles
spricht den Pflanzen eine vegetative Seele zu, der
Assimilation und Fortpflanzung unterstehen, im
Tierreich tritt die animale Seele hinzu. Bei kei-
nem großen Philosophen der folgenden Jahr-
hunderte spielt die Biologie eine so überragende
Rolle im System der Wissenschaften wie bei
Aristoteles, und sie hat diese führende Rolle
das ganze Mittelalter hindurch gespielt, bis Des-
cartes und Galilei den exakten Wissenschaften
die Führung übergaben. Diese Bedeutung des
aristotelischen Systems erklärt wohl auch die
Tatsache, daß da, wo nach Abrundung einer
biologischen Weltanschauung gesucht wird, be-
wußt oder unbewußt die Verbindung mit Ari-
stoteles aufgenommen wird.
Wenden wir uns von diesem Höhepunkte
theoretischer Wissenschaft im Geiste weiter durch
die Jahrhunderte, so sehen wir die Biologie als
Beschäftigung vornehmer Dilettanten wie Plinius,
von Gelehrten der alexandrinischen Schule wie
Galen, die vom christlichen Dogma stark be-
einflußt waren. Durch Jahrhunderte hindurch
nahmen sich die Scholastiker der Biologie an,
ich erinnere an Albert den Großen. Sie
lebten ganz in den Überzeugungen des Aristo-
teles und Galen und brachten deren Lehren
mit der christlichen in Einklang. Daneben be-
stand eine Überlieferung biologischer Kenntnisse,
die im Volke fortlebte und in der Renaissance
wiederum das Interesse der Menschen für sich
zurückeroberte. Neues an theoretischen Anschau-
ungen wurde in diesen Zeiten nicht gewonnen.
Wo die Kenntnis der Tatsachen aufhörte, begann
Glaube und Aberglaube.
In diesen im Volke lebenden Vorstellungen
von der Tier- und Pflanzenwelt war Theo-
phrastus Bombastus Paracelsus von
Hohenheim aufgewachsen, der berühmte Natur-
arzt, dessen erfrischende Natürlichkeit alle scho-
lastische Stubengelehrsamkeit bitter haßte. Ob-
wohl seine konkreten Kenntnisse der belebten
Natur minimal waren, sind seine Ideen über diese
Natur doch recht beachtlich. Seine Gedanken
über Erblichkeit kommen denen Gregor Men-
dels nahe (er unterschied dominierende Eigen-
schaften von unterliegenden, d. h. rezessiven, wie
man heutzutage sagt, und sah in den Nachkom-
men die kombinierten Eigenschaften der Eltern
zum Ausdruck kommen). Die Entwicklung ver-
stand er vitalistisch, und als das Bewirkende sah
er Kräfte an, die in unentwickelter Form die
Materie darstellen sollten.
Trotz so neuer Anschauungen kann die Lehre
des Paracelsus nicht in die gerade Entwicklung
N. F. XXI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
283
der biologischen Theorie von der Scholastik zur
Renaissance eingereiht werden. Es sind Laien-
ansichten, die er vertritt. Die Renaissance küm-
merte sich nicht um biologische Theorien. V e -
sal ist ein typischer Vertreter dieser absichtlich
nur die Tatsachen berücksichtigenden Richtung.
Bezeichnend für diese Zeit ist die Forschungs-
weise Leonardo da Vincis: Voll leiden-
schaftlichen Eifers warfen sich diese Renais-
sancemänner auf die verschiedensten Wissen-
schaftsgebiete, entdeckten zahlreiche neue Tat-
sachen, hatten aber nicht die Fähigkeit, sie unter
einheitlichen Gesichtspunkten zu gruppieren. Und
so endete ihre Lebensarbeit in ungeheurer Zer-
splitterung. In der Folgezeit aber brachte die auf
die Reformation folgende Reaktion der katholi-
schen Kirche ein neues Erblühen der Scholastik,
vor allem seit Errichtung der Jesuitenschulen.
Dieser konsequenten Schulwissenschaft war die
Laienwissenschaft der Renaissance nicht gewachsen.
Erst die Begründung der neuen Physik durch
Galilei und Descartes brachte ein Gegen-
gewicht zu dem aristotelischen Vitalismus. Es
ist verständlich, daß diese Zeit der Rivalität zwi-
schen Tatsachenforschung und einer durch Glau-
benssätze gestützten Theorie für fundamentale
theoretische Ideen unfruchtbar blieb. Dagegen
wurden Tatsachen von erheblicher Tragweite auf-
gedeckt, ich denke an die Entdeckung des großen
Blutkreislaufs durch Harvey im Jahre 161 8.
Auch manche andere Tatsache, die Aristoteles
theoretisch erschlossen hatte, wurde in diesen
Jahrhunderten nachgeprüft und bestätigt. Reg-
nier de Graaf, der den Unterschied der beiden
Geschlechter feststellte, G e s n e r und A 1 d r o -
vandi sind hier zu nennen.
Als nächste Etappe in der Entwicklnng der
biologischen Wissenschaft muß der Sieg der Me-
chanik über den Vitalismus im 17. Jahrhundert
erwähnt werden. Aristoteles hat die Biologie
als allesbeherrschende Wissenschaft bezeichnet.
Die Renaissanceforscher revidierten diese Ansicht
und schränkten den Bereich der Biologie zu-
gunsten der mechanischen Naturwissenschaften
ein. Leonardo, die nüchternde Betrachtung
der Tatsachen an erste Stelle stellend, leitete
diese Bewegung ein, wie schon früher erwähnt
wurde. Die Beobachtung der Organismen führte
zu Analogien mit physikalischen Vorgängen und
allmählich trat die mechanische Naturbetrachtung
ihre Vorherrschaft an. Die Gelehrten verloren
die Biologie vollkommen aus den Augen und ein
Systematiker wie Bako vonVerulam, der an
einem Wendepunkt der europäischen Geistes-
geschichte steht, kennt in seinem System der
Naturwissenschaften nur noch Mathematik, Physik
und Astronomie, aber keine Biologie.
So sank die Biologie zur Beschäftigung von
Dilettanten herab, die mit Hilfe der eben er-
fundenen optischen Linsen in das Innere des
Mikrokosmos einzudringen suchten. Daß in diesem
Neuland zahlreiche neue Tatsachen zutage ge-
fördert wurden, war nicht verwunderlich und so
haben Leute wie Redi, Malpighi, Swam-
merdam, Reaumur, Rösel vonRosenhof
und Spallanzani Bedeutung für die Geschichte
der Biologie. Der einzige theoretische Nieder-
schlag dieser Tatsachenforschung war die Präfor-
maiions oder Einschachtelungsiheorie: die Ver-
quickung durch Beobachtung festgestellter Tat-
sachen mit kirchlichen Anschauungen führte dazu
sich alle Tiere einmal erschaffen vorzustellen. So
sollten also die jetzigen Menschen in ihrer Stamm-
mutter Eva vorgebildet gewesen sein. Als Leeu -
wenhoeck aber das Spermatozoon entdeckt
hatte, das nach ihm die Form eines winzigen
Männleins haben sollte, verlegte man die Ein-
schachtelung in das männliche Geschlecht. Die
Vertreter beider Ansichten bekämpften sich heftig.
Ein Erneuerer der Lehren des Paracelsus
erschien in van Helmont, einem Pietisten und
Schüler Hohenheims. Für ihn sind Wasser
und Luft die Grundstoffe für alles Lebende.
Sein Einfluß auf spätere Denker wie Leibniz
und Goethe ist groß gewesen. Die einseitige
Betonung mechanistischer Denkweise rief vita-
listische Gegenströmungen auf den Plan , deren
wichtigste die Lehre G. E. Stahls, eines Wei-
marer Arztes ist. Er versucht Mechanismus und
Vitalismus zu versöhnen. Als eigentümlich für
biologische Vorgänge bezeichnet er das zweck-
mäßige Geschehen. Diese Zweckmäßigkeit wird
durch die Seele bewirkt.
Offensichtlich im Anschluß an Descartes
aber unter Übernahme vitalistischer Ideen hat
Leibniz seine Naturphilosophie begründet, die
die Grundlage für wichtige biologische Speku-
lationen folgender Zeiten legte. Leibniz war
noch ganz in den Anschauungen einer Präfor-
mation befangen, Entwicklung bedeutete also für
ihn Auswicklung. Andererseits geht die Evolution
über das Individuum hinaus und er kommt hier
zu einer Art Phylogenie (Stammesgeschichte).
Auch die Paläontologie förderte er durch neue
Anschauungen. In den Versteinerungen sah er
nicht nur Spiele der Natur sondern Zeugnisse
vergangener Formen, die bei einer anderen Ver-
teilung von Land und Wasser gelebt hatten, Auch
Leibnizens Monadenlehre ist fruchtbringend für
die Biologie geworden. Die Monaden, eine neue
Form der platonischen Ideen, stellen eine Stufen-
leiter von der leblosen Welt bis zu den höchsten
Wesen dar. Der Vergleich ähnlicher Monaden
weist auf die organischen Einheiten und je näher
die Monaden einander stehen um so ähnlicher
sind sie. Es klingen hier Prinzipien der ver-
gleichenden Forschung an, die aber von Leibniz
nicht weiter verfolgt werden. Seine im ganzen
mechanistische Theorie (eine vitale Kraft nimmt
er nur für den Anfang alles Lebens an) machte
ihn zum Gegner Stahls. Auf Leibniz gehen
alle Theorien zurück, die einen einheitlichen Bau-
plan der Tiere annehmen und über das Wesen
der Art sich auslassen.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Die Auffassung der Organismen als historische
Wesen wurde von Bonnet besonders betont, der
im übrigen ganz im Leibnizschen Fahrwasser
segelte.
Viel wichtiger für die Weiterentwicklung
theoretischer Anschauungen ist die erste große
epigenetische Theorie, die theoria generationis
von Caspar F"riedrich Wolff. Unter Epi-
genese versteht man im Gegensatz zu Präfor-
mation eine Entwicklung durch sukzessive Neu-
bildung der sich differenzierenden Teile des Or-
ganismus. Wolff unterschied mehrere Grund-
prinzipien: I. die wesentliche Kraft und 2. die
Erstarrung als Prinzip der Entwicklung. Aus dem
Zusammenwirken von i und 2 geht die organische
Form hervor. 3. Der Körper ist zunächst struktur-
los, die Struktur ist die Folge der Entwicklung.
Die theoria generationis fand erst Anerkennung,
als durch embryologische Untersuchungen M e c k e 1
und C. E. V. Baer gewissermaßen die Illustration
dazu gaben.
Das Interesse an der Artenkenntnis nahm bei
dem Fehlen theoretischer Betrachtungen im 18. Jahr-
hundert erheblich zu ; das äußerte sich vor allem
in dem Erscheinen von Tier- und Pflanzenbüchern.
Als Krönung dieser Bestrebungen haben wir die
systematischen Arbeiten Linnes anzusehen. Für
das Gebiet dieses Vortrags ist Linnes be-
deutendste Leistung die Darstellung des Artbe-
griffs. Art- und Gattungsbegriff unterschied man
schon seit Plato, aber sie führten ein wesentlich
ideelles Dasein. In ähnlicher Weise benutzte
Aristoteles diese Begriffe und nach ihm die
Scholastik des Mittelalters. Der Rationalismus
des 17. Jahrhunderts verstand sie ebenso. Linne
nahm an, daß die Gattungen und Arten der Tiere
und Pflanzen so geschaffen sind, wie sie jetzt
existieren und hauptsächlich physiologisch charakte-
risierbar sind, d. h. eine Pflanzenart ist eine Pflanze,
die samenbeständig ist. Daneben kommen ihr
eine Anzahl äußerer Charaktere zu, die die Fest-
stellung der Art erleichtern. Diese wurden in
der Folgezeit für das Hauptcharakteristikum der
Art angesehen.
Die Jahrhunderte voller Einzelentdeckungen
und doch so arm an Ideen neigten sich ihrem
Ende zu und herauf zog ein Zeitalter neubelebter
Spekulation, auch auf biologischem Gebiete, das
Zeitalter der Aufklärung. An der Pforte dieser
Zeit steht Buffon, selbst Dilettant und eigent-
lich kein Biologe , jedenfalls alles andere als ein
Systematiker. Er trat als schärfster Gegner
Linnes auf, verachtete die trockenen Definitionen
und strebte eine natürliche, d. h. volkstümliche
Beschreibung der Lebewesen an. Wir sehen hier
die Auflehnung des natürlich empfindenden Men-
schen gegen die Auswüchse des Rationalismus
und die trockenen logischen Deduktionen der
mittelalterlichen christlichen Wissenschaft. Dieser
Kampf zog weitere Kreise und wurde schließlich
ein Kampf um Gott und Religion, der von der
englischen und französischen Aufklärung energisch
aufgenommen wurde. Hatte schon der Rationa-
lismus das Wirken Gottes auf eine einmalige
Schöpfung aller Lebewesen beschränkt, so er-
setzte die Aufklärung Gott durch die schaffende
Natur. Damit bahnte sich die Frage nach einer
natürlichen Entstehung der Organismen an. Aller-
dings, die ersten Versuche einer solchen Erklärung
sind noch sehr naiv: Aus organischen Molekülen
sollten sich die Organismen aufgebaut haben, die
an sich unveränderlich sind. Eine Änderung der
Tierwelt, die Buffon aus geologischen Tatsachen
folgerte, kann nur so zustande kommen, daß die
Formen wieder in organische Moleküle zerfallen,
aus denen neue Arten aufgebaut werden. Merk-
würdig, ein Nichtbiologe gab den Anstoß zu einer
Reihe wissenschaftlicher Großtaten, deren Erwäh-
nung uns zu Cuvier und den anderen französi-
schen Morphologen führt.
Das wichtige Prinzip, auf dem diese Forscher
ihre Ideen aufbauen, ist das der Kontinuität, der
Stufenfolge der Organismen. Es begegnete uns
schon bei Leibniz und läßt sich bis auf Plato
zurückverfolgen. Morphologie, die Lehre vom
Aufbau des Körpers und vergleichende Anatomie
als Frucht der Studien über Symmetrie und der
Lage der Teile zueinander standen damals im
Mittelpunkt des Interesses. Auf botanischem Ge-
biet brach de Candolle den neuen Anschauun-
gen Bahn: Die wahre Natur der Organe erkennt
man I. am Fehlschlagen der Organe, 2. an Ver-
wandlung und Ausartung der Teile, 3. am Ver-
wachsen der Teile.
Unter den Zoologen der damaligen Zeit will
ich nur zwei Männer erwähnen, Cuvier und
Geoffroy-St. Hilaire. Cuvier nahm an,
daß Form und Funktion eines Tieres eine ge-
schlossene Einheit darstellen. Fehlen eines Körper-
teils stört die Planmäßigkeit seiner Form. Diese
Planmäßigkeit führt Cuvier auf die Korrelation
der Formen zurück. Eine scharfe Grenze zwischen
physiologischer und morphologischer Korrelation
existiert bei ihm noch nicht. Eine Typenlehre
ist der Schlußstein seines Ideengebäudes, das
nicht rein morphologisch begründet ist. Die
zweite bedeutende Leistung Cuviers bestand in
der Heranziehung der Paläontologie für die ver-
gleichende Morphologie. Damit schuf er eine
geschichtliche Betrachtung der Organismenwelt
und gab der Geologie ein Mittel zu relativer
Altersbestimmung an die Hand. Man sollte den-
ken, daß von diesem Standpunkt aus eine stam-
mesgeschichtliche Theorie hätte gewonnen werden
können. Aber Cuvier lebte noch zu sehr in
den Anschauungen des Rationalismus, das biolo-
gische Experiment war ihm fremd und die Tat-
sachen der Embryologie galten ihm nichts. Sein
Gegner in dem sog. Akademiestreit Geoffroy-
St. Hilaire vertrat einen viel konsequenteren
Standpunkt in der Morphologie, der nicht mit
physiologischen Analogien verquickt war. Seine
Grundannahme war ein qualitativ einheitlicher
Bauplan der Tiere. Unterscheidend sind nur
N. F. XXI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
285
quantitative Unterschiede. Ob dieser Anschauung
geriet er mit Cuvier in den bekannten Streit,
in dem Cuvier Sieger bHeb, da er den Augen-
schein der qualitativen Unterscheidbarkeit der
Tierklassen für sich hatte. Als Idee war die An-
sicht Geoffroys die größere und gewann mehr
Einfluß auf die Geister. Die deutschen Natur-
philosophen und Goethe übernahmen einen
Teil seiner Anschauungen.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert tritt ein
Hauptvertreter der biologischen Theorie hervor,
dessen Ansichten noch heute im Mittelpunkt der
Diskussion stehen, ich meine Lamarck. Er fußt
auf der Ansicht älterer Forscher von der Stufen-
folge der Organismen. Wie entsteht sie? Mit
Hilfe eines Fluidums, das in die Masse sich er-
gießt; so entsteht Leben und so vervollkommnet
es sich. Dabei führt das Bedürfnis nach einem
Organ zu seiner Ausbildung. Durch Übung er-
starken solche Organe und können sich als solche
vererben. Lamarck hat die Anerkennung seiner
Lehre bei den Zeitgenossen nicht erreicht. Ihm
erwuchs ein Gegner in Cuvier.
Auf dem Boden der Betrachtungen eines
Leibniz, Cuvier und Geoffroy entstand im
Anfang des 19. Jahrhunderts eine idealistische
Morphologie, die den Gedanken des Bauplans in
der Organismenwelt weiterspann und ihre ausge-
prägteste Form in Goethes Metamorphosenlehre
fand. Goethe verfolgte die Entwicklung der
Pflanze Schritt für Schritt und fand eine Meta-
morphose der einzelnen Organe aus der einheit-
lichen Grundform. Was uns interessiert, ist, daß
Goethe das Wesen des Lebens in der lebendigen
Bewegung sah.
Allmählich entwickelte sich die Idee einer
genetischen Betrachtungsweise. Entwicklung ist
nach K. Fr. Wolff eine Folge von Kräften, deren
Spannung Formveränderungen verursachen soll.
Diese Veränderungen wurden studiert von Doel-
linger, v. Baer, Pander u. a. K. E. v. Baer
führte die meisten der heute in der Entwicklungs-
geschichte üblichen Begriffe in die Wissenschaft
ein. Theoretisch war er Vitalist und bekämpfte
die wiederauflebende Lehre von der Präformation,
der besonders Embryologen huldigten, die in der
Entwicklung nur wieder eine Auswicklung ver-
standen, v. Baer entwickelte eine sog. Forma-
tionstheorie. Er behauptete, daß die Tiere zuerst
den Typus darstellten, dann die Klasse, dann die
Ordnung, die Familie usw. Der Versuch eines
Systems auf genetischer Grundlage wird von ihm
gemacht. In derselben Richtung einer geneti-
schen Betrachtungsweise wirkten S c h 1 e i d e n und
ScJiwann. Dieser sah den Organismus als ein
gesetzmäßiges Aggregat von Einzelwesen niederer
Ordnung an; er sträubte sich gegen eine vita-
listische Theorie des Lebens. Einen neuen Auf-
schwung des Vitalismus brachte der Führer der
deutschen physiologischen Forschung um die
Mitte des 19. Jahrhunderts, Johannes Müller.
Es handelte sich bei ihm vielfach um reine Spe-
kulation, die sich vom Experiment fernhielt und
mehr nur eine vitalistische Grundstimmung dar-
stellte, auf der kein ausgeprägtes System sich auf-
baute. Das ist wohl auch der Grund, daß der
größte Teil der Schüler Müllers, die Haeckel,
Helmholtz, du Bois-Reymond und Vir-
chow sich alle mechanistischen Richtungen an-
schlössen. Die Arbeitsmethoden ihres Lehrers
übernahmen sie wohl, doch seine theoretischen
Anschauungen waren nicht konsequent und aus-
gesprochen genug. In Frankreich suchte die
Physiologie Anschluß an Chemie und Physik. Ich
erwähne hier nur Magendie.
Waren die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts
einer idealistischen Theorie günstig gewesen, so
trat allmählich eine Reaktion gegen die ver-
stiegenen Ideen jener Männer ein. Diese Reaktion
sog ihre Kraft aus den Schriften der Engländer
Locke, Berkeley, Hume und Mi 11, in
Deutschland bekämpfte der Philosoph H e r m a n n
Lotze den Vitalismus. Er empfahl Beobachtung
der Natur und Erforschung der Ursachen der
Lebensvorgänge. Als Naturforscher übte Helm-
holtz einen großen Einfluß in derselben Richtung
aus und bereitete den Empirismus vor. Als
stärkste Gegner der Naturphilosophen erschienen
die Materialisten, in der Philosophie Feuerbach
und David Friedrich Strauß, in der Bio-
logie waren Karl Vogt, Moleschott und
Büchner ihre Führer. Für sie war auch das
Psychische Materie, „Gedanken ein Sekret des
Gehirns".
Aus diesem Durcheinander extremer An-
schauungen erwuchs die bedeutendste und um-
fassendste Theorie des 19. Jahrhunderts, die Lehre
Charles Darwins. Ich will diese kurz
charakterisieren : Darwin ging von der Tatsache
aus, daß eine größere Zahl von Individuen einer
Art sich nie völlig einander gleichen, daß also
eine Art in eine Anzahl Varietäten aufgeteilt
werden kann. Er leitete daraus seine erste Grund-
ansicht ab, die Variabilität der Organismen. Unter-
schiede zwischen den Arten entstehen durch
direkten Einfluß der Außenwelt. Die zweite
Grundanschauung der Darwinschen Theorie ist
die der Vererbung der obenerwähnten Varianten.
Auf dieser Grundlage gibt nun Darwin für die
Entwicklung der Organismen eine Erklärung durch
die Theorie der natürlichen Zuchtwahl. Er nahm
an, daß analog dem Tierzüchter, der unter seinem
Material die geeignetsten Individuen zur Fort-
pflanzung ausliest, die Natur eine natürliche Zucht-
wahl treibe. Das Mittel dafür ist der Kampf ums
Dasein, den man sich nicht als einen Kampf vor-
zustellen braucht, sondern etwa so : Bei der Über-
produktion von Keimen können wegen nicht aus-
reichender Ernährung nur die kräftigsten über-
leben.
Der Ausgangspunkt für Darwins Gedanken-
richtung ist in den soziologischen Schriften des
damaligen England zu suchen, besonders der Ein-
fluß von Malthus ist bedeutend. Außerdelii
286
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
hat der Geologe Lyell noch Einfluß auf Dar-
win ausgeübt.
Zur gleichen Zeit kam Wallace auf sehr
ähnliche Ideen, konnte sie aber nicht in so große
Zusammenhänge bringen und auf so einfache
Grundprinzipien zurückführen.
Wie Sie wissen hat der Darwinismus von An-
fang an eine große Gegnerschaft gehabt. Es
waren zwei Weltanschauungen, die hier sich
gegenübertraten. Die alten Biologen suchten in
der Weltentwicklung einen großen allgemeinen
Sinn. Darwin dagegen wollte einfach die Ent-
wicklung beschreiben.
Von dieser Zentraltheorie des 19. Jahrhunderts
strahlen die verschiedensten Theorien nach allen
Seiten aus, teils jene ausbauend, teils neue Wege
einschlagend. Eine philosophische Begründung
des Darwinismus suchte Herbert Spencer
in England zu geben. In Frankreich dagegen
konnte die neue Lehre nicht Fuß fassen. Auf
um so fruchtbareren Boden fiel sie in Deutsch-
land. Ernst Haeckel bildete sie weiter und
gab ihr insofern eine neue Richtung, als die von
Darwin behandelten Gebiete, nämlich Varia-
bilität und Vererbung bei ihm zurücktraten, dafür
aber Systematik, Morphologie und Embryologie
in den Vordergrund gestellt wurden. Die Syste-
matik wurde bei ihm zur Phylogenie, in der
Embryologie formulierte er das biogenetische
Grundgesetz und die Gasträatheorie. Das bio-
genetische Grundgesetz war von Fritz Müller
bei Untersuchung von Larvenformen der Krebse
aufgestellt worden und besagt, daß die Keimes-
geschichte der Organismen eine mehr oder weniger
veränderte Wiederholung der Stammesgeschichte
ist, und die Gasträatheorie führt alle vielzelligen
Tiere auf eine einheitliche Grundform zurück.
Erwähnen wir schließlich noch Haeckels Mo-
nismus 1 Ihm liegt eine mechanistische An-
schauung zugrunde: Materie, die zugleich beseelt
ist, ist der Baustoff aller Dinge, der organischen
wie der anorganischen Körper.
Einen Versuch, die darwinistische Theorie ratio-
nalistisch umzugestalten, unternahm C. v. Nägeli.
Seinen an Darwin orientierten Überlegungen
pfropfte er ein Vervollkommnungsprinzip auf,
einer mechanistischen Theorie eine vitalistische
Teleologie. Für die Entwicklung der Organismen
nahm er einen einheitlichen Plan an.
Die konsequenteste Fortsetzung der Lehre
Darwins wurde wohl von August Weis-
mann durchgeführt. Er stellte die Selektion als
das allmächtige Prinzip in der Entwicklung auf.
Der Angriffspunkt für sie ist das Keimplasma,
dessen Unsterblichkeit im Gegensatz zum Körper-
plasma W c i s m a n n besonders betonte. Die
Wichtigkeit des Keimplasmas zeigt sich auch
darin, daß nur die äußeren Einflüsse, die bis zu
ihm vordringen, vererbt werden. Weis mann
wies auch experimentell nach, daß somatisch
erworbene Eigenschaften nicht erblich sind.
Weismanns Keimplasmalehre hatte ein prä-
formistisches Gewand und führte die Selektion
durch bis zu den kleinsten angenommenen Ein-
heiten der lebendigen Substanz.
Mancherlei Umbildungen und Abänderun-
gen erlitt Darwins Lehre. Der Geograph
Moritz Wagner hielt die Wanderung der Tiere
für einen wichtigen Faktor der Artbildung. In
neuer Umgebung, fern von ihren Artgenossen,
mit denen sie sich weder vermischen noch den
Kampf ums Dasein auskämpfen müssen, bilden
sie Lokalvarietäten, der erste Schritt zur Art-
bildung.
Auch Wilhelm Roux' Kampf der Teile
im Organismus ist eine Anwendung Darwin-
scher Anschauung auf einem besonderen Gebiete.
Innerhalb der Gewebe wird ein Konkurrenzkampf
ausgefochten und der stärkere Teil breitet sich
durch funktionelle Anpassung immer mehr aus.
Die Psychologie schloß sich ebenfalls dem
Darwinismus an. Die vergleichende Psychologie
verglich die psychischen Äußerungen der Tiere
genau wie morphologische Merkmale verglichen
werden. Eine strenge Scheidung von Instinkt und
Intelligenz hörte auf. Instinkt ist nach Darwin
ererbte Gewohnheit, Instinktunterschiede kommen
durch Selektion zustande. Im Gegensatz dazu
betonte der Jesuitenpater Wasmann dengrund-
sätzlichen Unterschied zwischen Instinkt und In-
telligenz. Er steht mit dieser Ansicht unter
den Biologen ziemlich vereinzelt da.
Man unterscheidet heute die Biologen je nach
ihrer Stellung zur Frage der Vererbung erworbener
Eigenschaften als Lamarckisten und Darwinisten,
obgleich Darwin noch eine solche Vererbung
annehmen zu müssen glaubte, im übrigen sich
allerdings von L a m a r c k lossagte. Der Lamarckis-
mus des 19. Jahrhunderts hat nur ein Charakte-
ristikum ; Die Gegnerschaft gegen den Dar-
winismus. Man kann bei ihm alle Schattie-
rungen konstatieren, vom Psycholamarckismus
Wagners und Paulys bis zur Vermählung
beider Ansichten bei Haeckel. Die bedeutend-
ste Ausbildung erfuhr der Lamarekismus durch
Eimer. Er nimmt eine Entwicklung über das
Individuum hinaus an, ein phyletisches Wachstum,
das nur in einer Richtung geht und deshalb nur
Varianten in dieser einen Richtung schafft. Des-
halb nennt Eimer seine Theorie Orthogenesis.
Belege für sie bringt er vor allem in der Zeich-
nung und Färbung der Schmetterlinge.
Noch eine eigenartige Idee möchte ich an
dieser Stelle erwähnen. Ewald Hering formu-
lierte die Analogie der Entwicklung des Körpers
mit der der Seele in seinem Akademievortrag
„Das Gedächtnis als Funktion der lebenden Ma-
terie". Der Reiz der Außenwelt ruft eine Reak-
tion im Organismus hervor und hinterläßt eine
Spur, die sich bei Wiederholung der Reize sum-
mieren kann. Semon verarbeitete diese An-
schauung zu einer Entwicklungshypothese der
Organismen. Die „Mneme" bezeichnet die Summe
des von den Vorfahren erworbenen und Engramm
N. F. XXI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
287
nennt Semon die einzelne hinterlassene Spur.
Um den Kreis der Lamarckisten vollständig vor-
zuführen, muß ich noch Arthur Schopen-
hauer und Eduard v. Hartmann erwähnen.
Ersterer verwarf alle Phylogenie und brachte
wieder die alte Lehre der Einheit des Planes der
Organismen vor. Letzterer schwankte zwischen
wissenschaftlichem JVIechanismus und metaphysi-
schem Vitalismus.
Wir kommen schließlich zu den modernsten
Vertretern der biologischen Theorie und ich
möchte hier nur zwei gegensätzliche Meinungen
anführen, die von Wilhelm Roux und von
Hans Driesch. W. Roux, ein Schüler
Ha eck eis, begann bereits bei seinen ersten
Arbeiten die Frage nach der Entwicklung zu ver-
tiefen, indem er nicht nur die Entwicklung als
eine Folge von Formzuständen darstellte, sondern
die Ursachen dieser Entwicklung zu ergründen
suchte. Die mechanistische Anschauung sucht er
nicht durch Vergleichnng zu belegen, sondern
durch das Experiment, um die Natur zu begreifen,
nicht nur sie darzustellen. Die neue Wissenschaft
nannte er Entwicklungsmechanik, Mechanik ver-
standen im Sinne wie Kant eine Mechanik =
kausale Betrachtung des Himmels verfaßte. Hans
Driesch, ebenfalls zu Anfang Entwicklungs-
mechaniker und Schüler Roux', wandte sich
bald der logischen Begründung der Biologie zu,
verwirft eine mechanistische Auffassung und be-
hauptet die Eigengesetzlichkeit des Lebens. Es
würde zu weit führen auf Driesch s Anschau-
ungen näher einzugehen. Bemerken möchte ich
nur, daß er die Entelechielehre des Aristoteles
in seinem System verwandt hat, um durch Be-
antwortung der letzten theoretischen Fragen der
Biologie sein Weltbild abzurunden.
Ich bin am Ende meiner Betrachtung. Über-
blicken wir noch einmal die ganze Entwicklung
der theoretischen Anschauungen, von Demokrit
und Aristoteles, den ersten Höhepunkten, wie
dann das Mittelalter hindurch die Lehre des
Aristoteles unbestritten herrschte und in der
Renaissance der Versuch gemacht wurde, sich
von der Scholastik und in der Zeit der Auf-
klärung sich von der Herrschaft des Rationalismus
freizumachen, wie dann im 19. Jahrhundert Mor-
phologie, Embryologie und Physiologie als selb-
ständige Wissenschaften auftraten und wie endlich,
auf sie gestützt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts
Darwin die erste umfassende Theorie der orga-
nischen Natur aufstellte, an deren Begründung
oder Überwindung sich noch heute Freund und
Feind abmühen, so wird bei manchem von Ihnen
die Frage auftauchen: Ist hier überhaupt ein Fort-
schritt zu bemerken und wozu diese Bemühungen ?
Nun, zwei Gründe sind es wohl, die die Bio-
logen hin und wieder von der Arbeit aufsehen
lassen, um sich vom eigenen Standpunkt aus ein
Bild der Gesamtheit der organischen Welt zu
entwerfen. Einmal ein metaphysisches Bedürfnis
(Schopenhauer), besonders bei synthetischen
Naturen. Dann aber ein viel wichtigerer Grund;
vom Stand des konkreten Wissens aus zur Theorie
zu schreiten um neue Probleme aufzudecken, die
der Forscher in Angriff nehmen kann. Im höch-
sten Maße leistete diesen Dienst die Darwin-
sche Theorie für die zweite Hälfte des 19. Jahr-
hunderts. Es kann nicht verlangt werden, daß
die Tatsachen, die ihr zugrunde liegen, noch
stimmen, aber aus dem leidenschaftlichen Kampfe,
der sich um Geltung oder Ablehnung der Theorie
entspann und der heute noch immer unentschie-
den weitergeht, haben eine große Menge Wissen-
schaftszweige neue Anregung gewonnen und eine
Fülle neuer Tatsachen zutage gefördert. Das,
meine ich, ist die größte Bedeutung theoretischer
Betrachtungen.
Einzelberichte.
Azidität und Basizität.
Es ist bekannt, daß im elektrochemischen
Sinne zwei Zustände die Mannigfaltigkeit der
chemischen Stoffe beherrschen, der saure und
der basische Charakter. Als einem dritten
Typus zugehörig hat man jedoch noch diejenigen
Verbindungen zu klassifizieren, die beiden Zu-
ständen entsprechen , die sog. Amphoteren.
Wie zumeist, bieten gerade diese in einem Grenz-
gebiet liegenden Stoffe der theoretischen Behand-
lung die größten Schwierigkeiten, setzen sich in
ihnen doch die experimentell ermittelten Tat-
sachen über unsere immer willkürlichen Klassi-
fikationen hinweg. Andererseits mahnen die
Widersprüche zwischen enger Definition und
breiter Erfahrung zu gelegentlichen Nachprüfungen
unserer theoretischen Grundvorstellungen, womit
dann in der Regel eine sachgemäßere Fassung
dieser erreicht zu werden pflegt. Über diese
Sachlage spricht sich im besonderen Falle der
Azidität und Basizität Rudolf Keller aus.^)
Die Kennzeichnung der Amphotere ist, wie
erwähnt, schwer, weil je nach den Umständen
der gleiche Stoff als Base oder als Säure reagiert.
Beispiel: die Oxyde der Metalle von mittlerer
Stellung in der Spannungsreihe. Eisensauerstoff-
verbindungen sind gegenüber starken Säuren aus-
gesprochene Basen, in starken Basen aber Säuren.
Bedenklicher noch sind Kennzeichnungen des
Charakters der Teerfarbstoffe, die mit wenigen
Ausnahmen amphoter sind. Beispielsweise gilt
das Methylenblau von der Formel
') Zeitschr. f. physikal. Chemie 9S, S. 338, 1921.
288
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
iCU,), = N- . !=N = (CH3),
\/\s/\./ I
als „Base". Der Grund für diese Bezeichnung wird
in den naturgemäß basischen Amidogruppen ge-
sehen. Ein Farbstoff wie das Kongorot aber
findet sich durchweg als „Säure" bezeichnet, weil
die in ihm enthaltene Sulfogruppe salzbildend ist.
Aber auch diese Verbindung enthält Amido-
gruppen, und im Sinne der herkömmlichen Aus-
drucksweise der Strukturchemie sollte auch hier
dem zweifellos vorliegenden, wenn auch nur teil-
weisen „basischen" Charakter Ausdruck gegeben
werden können.
>C,oH,5-N=N.QH^-QH4.N=N-C,oH,5/
NaSOa^ "SOjNa
Als klassisches Beispiel für diese Unzuläng-
lichkeit unserer heutigen Klassifikation wird das
Pyrrholblau genannt. Sein Entdecker, P. Ehrlich,
reihte es entschieden unter die basischen Farb-
stoffe ; jetzt wird es ebenso entschieden den sauren
zugerechnet.
Handelt es sich in den genannten Fällen vor-
wiegend um nomenklatorische Unstimmigkeiten,
die man billig auf sich beruhen lassen könnte, so
begegnet man in anderen Fällen ernsten Schwierig-
keiten, die unsere gesamten theoretischen Grund-
vorstellungen berühren. Faßt man den Gegensatz
basisch sauer nämlich elektrochemisch, so gilt die
bekannte grundlegende Regel : bei der Elektrolyse
erscheinen die Säuren am positiven, die Basen am
negativen Pol. Mithin sind die Säuren elektro-
negativ, die Basen elektropositiv. Nun ist
schon lange bekannt, daß Basen in Lösungs-
mitteln, deren Dielektrizitätskonstante
kleiner ist, keine Basen mehr sind. Für
Säuren gilt mutatis mutandis dasselbe. Es handelt
sich hier um die geläufigen, insbesondere von
Nernst formulierten Beziehungen zwischen Dis-
soziation und Dielektrizitäskonstante. Schon dieser
Zusammenhang offenbart den durchaus relativen
Charakter des basischen bzw. sauren Zustandes.
Noch mehr aber wird dies deutlich an den Ver-
suchen von Keller, sowie von R. Beutner.
Keller hat versucht» mikroskopische Ver-
fahren auszuarbeiten, um die Elektrizitätspole
natürlicher pflanzlicher und tierischer Gewebe auf-
zufinden. Er behandelte Schnitte mit Metallsalz-
lösungen und bestimmte den Ort der Metallaus-
scheidung. Dieser wäre dann als Kathode anzu-
sprechen gewesen. Wurden nun aber zu den
Versuchen Teerfarbstoffe genommen, die für die
Histologie in erster Linie von Bedeutung sind, so
zeigten diese ein ganz unverständliches Verhalten.
Sogenannt „basische" P"arbstoffe färbten nicht an
dem vorher als kathodisch erkannten Ort, sondern
entgegengesetzt an der Anode. Sehr zahlreiche
Versuche an den verschiedensten Schnitten, deren
Elektrotopographie allmählich völlig eindeutig ge-
worden war,' ergaben das im Sinne der klassischen
Konstitutionschemie überraschende Resultat, daß
die meisten „basischen" Farbstoffe zur Anode,
einige „saure" zur Kathode wandern.') Des-
gleichen fand Beutner ^) bei Versuchen an leb-
losen Modellen, die gewissen physiologischen Er-
scheinungen an Nerven- und Muskelschnitten nach-
geahmt waren, daß die typischen und stärksten
Säuren, wie Salz- und Schwefelsäure an der Ka-
thode, also am Basen pol dann erscheinen, wenn
er zwischen verschieden stark konzentrierte
Lösungen eine schlechtleitende, wässerige
Mittelschicht schaltete. Der positive Pol
war stets (wenn die Mittelschicht z. B. Salicylal-
dehyd enthielt) auf der Seite der höheren Kon-
zentration, also unabhängig vom basischen oder
sauren Charakter der in der Kette liegenden
Lösung! Endlich ist in diesem Betracht wichtig
eine Arbeit von A. Bethe über „Ladung und
Umladung organischer Farbstoffe".'') Schon der
Titel läßt erkennen, daß der elektrochemische
Charakter solcher Verbindungen eben wechselt.
Er wechselt nach Bethe mit der Beschaffenheit
des Lösungsmittels. Selbst neutrale Kochsalz-
lösungen lassen das oben erwähnte basische
Methylenblau zur Anode wandern I Da man in
pflanzlichen und tierischen Geweben praktisch
niemals salzfreie Lösungen hat, so war das schein-
bar paradoxe Ergebnis der Kell ersehen Ver-
suche wenigstens phänomenologisch erklärt.
Die theoretische Deutung aller dieser
Befunde ist nun von weitgehender Bedeutung für
unsere Auffassung von Azidität .und Basizität
überhaupt. Die Elektropolarität der Farbstoffe ist
keine konstitutive Funktion, sondern
hängt von der Dispersion des Farbstoffes, so-
dann von der Dielektrizität des Lösungsmittels
und dessen Konzentration ab. Damit erklären
sich nun zunächst die mitgeteilten physiologisch-
chemischen Ergebnisse. Dann aber klären sich
eine Reihe widerspruchsvoller Befunde der Kolloid-
chemie auf. Von Goppelsroeder stammt
bekanntlich die Methode der „Kapillarisation", um
Farbstoffadsorptionen in Filtrierpapier zu prüfen:
in die Lösung des Farbstoffes wird ein Filtrier-
papierstreifen gehängt, und man beobachtet den
kapillaren Aufstieg der Lösung. Es zeigte sich,
daß der Aufstieg kapillar elektrische Ursachen
hat (Fi cht er). Es galt bisher von ihm die
Fichter-Sah Ibomsche Regel: beim kapillaren
Anstieg scheiden sich positive Sole unten ab.
Diese in den Handbüchern sich vorfindende
Fassung ist nach den neuen Befunden unzutreffend,
da sich, wie gezeigt, ein absoluter elektro-
chemischer Charakter der Teerfarbstoffe im be-
sonderen gar nicht bewahrheitet. Vielmehr lautet
die den Tatsachen gemäße richtige Kapillar-
') Biochem. Zeitschr. 115, S. 134, 1921. — Archiv f<
mikroskop. Anatomie 95, S. 61, 1921 und anderen Orts.
") R. Beutner, Die Entstehung elektrischer Ströme in
lebendem Gewebe. Stuttgurt 1920, Ferd. Enke.
') A. Bethe, Kolloid Zeitschr. 2", S. u, 1920.
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Naturwissenschaftliche Wochenschritt.
289
regel: beim Aufstieg in Stoffen von der Di-
elektrizitätskonstante 2 — 5 (Filtrierpapier, Glas-
wolle, Quarzsand) werden sowohl von kolloiden
wie von ionendispersen Stoffen die anodisch
wandernden unten ausgefällt oder adsorbiert,
die kathodisch wandernden und die neutralen
steigen mit dem Lösungsmittel auf. Dies ist nur
scheinbar eine Umkehr der Regel. Führt man
sich immer vor, was die Kell er sehen Arbeiten
beweisen, daß Azidität und Basizität durchaus
relative Begriffe sind, so entspricht allein die
neue F"assung den längst richtig beobachteten
Tatsachen. Der Mechanismus des Aufstieges
beruht auf der kapillarelektrischen Natur der Farb-
stoffe; diese hinwieder hängt ab von der Diffe-
renz der Dielektrizitätskonstanten von
Wasser und Farbstoff. Nach dem Gesetz von
Coehn (1898) lädt sich der Stoff mit der höheren
Konstante bei der Berührung positiv. Dement-
sprechend wandern fast alle Kolloide in Stoffen
von niedriger Konstante (Alkohol, Äther, Benzin,
Benzol) zur Kathode, in Wasser mit hoher
Dielektrizitätskonstante zur Anode. Das Kontakt-
potential wird also in höchstem IVIaße von der
Dielektrizitätskonstante bestimmt.
Azidität und Basizität sind mithin, wie wieder-
holt betont sei, relative Begriffe,^) die dem-
selben Stoff beigelegt werden können, je nach
dem Dispersionsmittel, seiner Eigenladung und
dessen Dielektrizitätskonstante. Diese für die
grobdispersen Kolloide bereits geläufige Vor-
stellung wird in der Kell ersehen Arbeit verall-
gemeinert. Obwohl von feineren quantitativen
Beziehungen darin noch nicht die Rede ist, so
läßt sich doch mit Sicherheit ihre Wichtigkeit
für die Theorie und Praxis der Adsorption, der
Färbung, der biophysikalischen Kolloidtransporte
(bei Giften, Nahrungsmitteln usw.) voraussagen.-)
Insbesondere wird die Färberei in Zukunft nicht
allein die chemischen Beziehungen zwischen Farb-
stoff und Faser, sondern ebenso nachdrücklich die
Differenz der Dielektrizitätskonstanten in Rück-
sicht ziehen. H. Heller.
Partheuogeuesis iiad Nekrohornione.
G. Haberlandt hat seinen experimentellen
Untersuchungen an Oenothera Lamarckiana zur
weiteren Stütze der Theorie, daß Parthenogenesis
durch die Einwirkung von Reizstoffen aus ab-
sterbenden Zellen hervorgerufen werde (vgl. Nat.
Wochenschr. 1922, S. 86), eine Reihe zytologischer
Beobachtungen an habituell parthenogenetischen
Pflanzen, nämlich Taraxacum officinale und Hiera-
') Wohl am deutlichsten geht das übrigens aus der Säure-
uatur des molekularen Wasserstoffs hervor, in dem ja auch ein
Wasserstoffatom sauer, kathodisch, das andere basisch und
anodisch ist, wie aus den Untersuchungen von N ernst und
Mors am Lithiumhydrid hervorgeht. Vgl. Naturw. Wochen-
schrift N. F. XIX, S. 7S2, 1920.
') Siehe auch „Elektromikroskopie" von K. Keller,
Naturw. Wochenschr. N. F. XX, S. 655, 1921.
cium flagellare und aurantiacum sowie einigen
ihrer sich durch normale Befruchtung fortpflan-
zenden Verwandten folgen lassen. Es galt also
in diesem Falle, Belege dafür zu finden, daß auch
bei der natürlichen Parthenogenesis solche
Zellteilungshormone (die hier als Nekrohormone
zu bezeichnen wären, während der Name Wund-
hormone auf die traumatische Parthenogenese
beschränkt bliebe) als Entwicklungserreger tätig
sind. Die Untersuchung, die manche bemerkens-
werte Einzelheit (wie z. B. die Bildung von Endo-
spermembryonen bei Hieracium u. a. m.) ins
Licht stellte, ergab, daß bei den genannten par-
thenogenetischen Arten in der Umgebung der
Eizelle mannigfache Desorganisationserscheinungen
auftreten, die bei verwandten Formen mit be-
fruchtungsbedürftigen Eizellen fehlen. Hieraus
folgert der Verf., daß aus der Umgebung stam-
mende Nekrohormone die parthenogenetische
Entwicklung der Eizelle anregen. Im übrigen
weist er darauf hin, daß man bei der natürlichen
Parthenogenese streng zu unterscheiden habe
zwischen der primären Ursache dieser Erschei-
nung und dem unmittelbaren Anstoß zur
Teilung der Eizelle. Die vorliegenden Unter-
suchungen haben es nur mit diesem zu tun; die
primäre Ursache, die wir nicht kennen, hat bei
den Angiospermen verschiedene Prozesse im Ge-
folge, wie das Unterbleiben der Reduktionsteilung
und das frühzeitige Absterben von Zellen in der
Umgebung der Eizellen.
In dem Bestreben, die Richtigkeit seiner An-
nahme auch an parthenogenetischen Farnpflanzen
zu prüfen, forschte Haberlandt den Verhält-
nissen bei Marsilia Drummondii nach. Bei der
Durchsicht der Abbildungen zu Strasburgers
Arbeit über „Apogamie bei Marsilia" (1907) war
ihm aufgefallen, daß im Archegonium zwischen
der Bauchkanalzelle und der Eizelle eine vom
Rande her dicker werdende Zellwand ausgespannt
war, die in der Mitte ein ziemlich großes Loch
hatte, durch das eine Plasmabrücke hindurch-
führte. Diese Erscheinung veranlaßte den Verf.,
die Strasburg ersehen Marsiliapräparate einer
Nachuntersuchung zu unterziehen, deren Ergebnis
er nunmehr beschreibt. Strasburger hatte
bereits darauf hingewiesen, daß die Kanalzellen
bei Marsilia frühzeitig absterben. Dieses Ab-
sterben erfolgt augenscheinlich vor der ersten
Teilung der Eizelle. Haberlandt deutet die
Erscheinung nun dahin, daß durch die Öffnung
in der Scheidewand zwischen Ei- und Bauchkanal-
zelle die Nekrohormone aus den absterbenden
Kanalzellen intraplasmatisch direkt in das Ei hin-
überdiffundieren. Dieser Vorgang findet seinen
sichtbaren Ausdruck in der fein längsfaserigen
Struktur der Plasmabrücke und nicht selten in
einem System feinkörniger Fibrillen, die von der
Plasmabrücke aus in das Ei ausstrahlen (einem
Seitenstück zu dem Fadenapparat der Synergiden).
Die Scheidewand zwischen Ei- und Bauchkanal-
zelle hat häufig statt des Loches nur einen großen^
290
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
flachen Tüpfel, durch den die Nekrohormone
hindurchtreten könnten; manchmal ist sie auch
nur dünn oder gar nicht vorhanden, — dann
können die Reizstoffe natürlich um so leichter
in das Ei diffundieren. — Auch bei einigen par-
thenogenetischen Selaginellen scheinen Nekro-
hormone aus den absterbenden Kanalzellen die
Entwicklung der Eizelle anzuregen. Bei dem
parthenogenetischen Athyrium filix femina var.
clarissima kommen hierfür abgestorbene Sperma-
tozoiden in Frage. — Den beiden Abhandlungen
sind zahlreiche instruktive Abbildungen beigefügt.
(Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der
Wissenschaften 1921, Nr. 51, S. 861 — 881 ; 1922,
Nr. 2, S. 4 — 16). F. Moewes.
Tektouik und Vulkanismus.
Durch ein gedankenreiches Büchlein, das sich
betitelt „Der Mechanismus tiefvulkani-
scher Vorgänge" (Sammlung Vieweg Heft 57,
Braunschweig 1921) hat Prof. Hans Cloos
(Breslau) das Arbeitsfeld der Tektonik und damit
ihre Bedeutung wesentlich vergrößert. Der be-
deutsame Fortschritt der vorliegenden Arbeit be-
steht darin, daß die geologisch ■ tektonischen Er-
forschungsmethoden auch auf Granitmassive und
verwandte Bildungen angewandt werden, die bis-
her fast nur mikroskopisch und chemisch - analy-
tisch erforscht wurden. Cloos hat hiermit eine
Tektonik der Granitmassive geschaffen.
Sowohl der Tektoniker wie der Vulkanologe wer-
den aus dieser interessanten, zahlreiche ganz neue
Beobachtungen enthaltenden Abhandlung starke
Anregung für ihre Wissensgebiete schöpfen.
In dem ersten Abschnitt, der Tektonik des
Granits, werden wir mit den tektonischen Ele-
menten des Granits (Kontakt, Schollen und
Schlieren, Streckung, Klüfte mit Rutschstreifen,
Gänge, Teilbarkeit), die in ganz gesetzmäßigem
Zusammenhange untereinander und Abhängigkeit
von der Druckrichtung stehen, bekannt gemacht.
An Kontakt, Schollen und Schlieren, drei Merk-
male aus der flüssigen Phase, ist die Richtung
eines mit der Massivbildung gleichzeitigen Gebirgs-
druckes nachweisbar. Die Längsrichtung der
Schollen und Schlieren steht senkrecht zur Druck-
richtung. Unter Streckung wird die durch Druck
entstandene schwache Parallelstellung der Mine-
ralien verstanden, die dem Granit eine lineare
Faserung verleiht, die ebenfalls senkrecht auf der
Druckrichtung steht. Diese schwache, oft latente
Streckung wurde erzeugt durch einen während
der Erstarrung auf die Schmelze gerichteten
Druck und verursacht eine mechanische Teilbar-
keit des Granits. Die lineare Faserung verläuft
in dem Granit von Strehlen ostwestlich. Dort
finden sich in dem Granit zwei Hauptkluftsysteme,
ein ostwestliches von Druckklüften (senkrecht
zur Druckrichtung), ein nordsüdliches non Zug-
klüften (in der Druckrichtung). Die Druck-
klüfte besitzen keine Gangfüllung und sind fest
geschlossen. Die i n der Druckrichtung liegenden
Zugklüfte sind bei ihrer Entstehung geöffnet wor-
den und standen auch später z. T. sickernden
Wässern offen. Jede fünfte bis zehnte von diesen
Klüften ist mit einem aplitischen Gesteinsgang
erfüllt, der noch aus den tiefen Teilen des Granit-
herdes selber stammt und unmittelbar nach der
Erstarrung der Kluftwände emporgedrungen ist.
Streckung ist eine Druckaufzeichnung durch den
zähplastischen, Klüftung eine Aufzeichnung durch
den erstarrten Granit. Der Granit steht in der Kruste
unter seitlichem Druck. Dieser drückt den Granit,
solange er nachgeben kann, in der Druckrichtung
zusammen und dehnt ihn quer dazu aus (Quer-
dehnung). Unter Einwirkung des Druckes ver-
läuft auch die Erstarrung.
Als Beispiel wird die Entstehung des Riesen-
gebirges erläutert. Das Granitmassiv des Riesen-
gebirges ist unter demselben von SSW kommen-
den Druck gebildet und erstarrt, der auch die
Sedimente seines Rahmens in Falten gelegt und
etwa die älteren Granite des Nord- und Südrandes
zu Gneisen gepreßt hat. Die Streckung verläuft
OSO; in der Druckrichtung liegen Gänge von
Granitporphyr, Lamprophyr, Aplit usw.
Außer den Quer- und Längsfugen treten aber
im Riesengebirge noch andere Flachen auf, die
diagonal und ungefähr symmetrisch zu beiden
Seiten der Druckrichtung angeordnet sind. Diese
Diagonal flächen bzw. Diagonalgänge
liegen innerhalb eines rechten Winkels (Zug-
quadrant), der von der Druckrichtung halbiert
wird. An den Diagonalflächen ist mit der Vor-
wärtsbewegung eine Seitenverschiebung verbunden.
Die Gesteinsmasse wird mit Hilfe solcher Flächen
zugleich in der Druckrichtung verkürzt und senk-
recht dazu gestreckt. Bei Schmiedeberg im
Riesengebirge fallen die Gleitstreifen auf diesen
Flächen ganz flach (10") nach N ein. Die Diagonal-
flächen dienen also dazu, die Streckung der pla-
stischen Schmelze am erstarrten Gestein fortzu-
setzen. Ausgezeichnete Beispiele für Diagonal-
verschiebungen und ihre Bedingungen liefert die
Technik durch Druckversuche an Baustoffen und
Metallen (s. Rinne, Gesteinskunde. Auftreten
von Mohrschen Linien an einem gepreßten
Marmorzylinder). Diese Mohrschen Flächen
haben für den Bau unserer Gebirge eine große
Bedeutung, denn Verwerfungen, die das Schicht-
streichen schief schneiden und an denen Horizontal-
verschiebungen im Sinne der Theorie stattgefun-
den haben, sind von vielen Beobachtern in fast
allen Faltengebirgen festgestellt worden.
Referent hat durch eigene, noch nicht ver-
öffentlichte Untersuchungen im Ruhrkohlengebiet
ebenfalls solche Mohrschen Flächen zahlreich
nachweisen können. Die Rutschstreifen auf diesen
spießwinkligen Klüften fallen mit 10 — 20" nach
N ein.
Die Bruchbildung, soweit sie an die Faltung
zeitlich und mechanisch anschließt, wird von
N. F. XXI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
291
CI08S als eine „Fortsetzung der Faltung mit
anderen IMitteln" bezeichnet.
In dem Abschnitt „Druck und Last" wird
dann in Verfolg der dargelegten Theorie eine
sinnreiche Erklärung für die Entstehung der
Schollengebirge gegeben, welche bisher in
sozusagen dualistischer Weise erklärt worden
waren.
Im zweiten Teil der Abhandlung, betitelt:
Der Aufstieg des Magmas, wird der Zusammen-
hang der tiefvulkanischen Vorgänge mit der Ge-
birgsbildung dargelegt. Das Magma steht nicht
unter eigenem, sondern unter fremdem Druck;
es wird gepreßt (passiver Vulkanismus).
Je plastischer ein Gestein, desto leichter wird es
bei der Faltung aus dem Faltenschenkel auswan-
dern und sich in den Umbiegungsstellen sammeln
(Steinsalz z. B.). Gerät Magma in den Bereich
der Faltung, so wird es als hochplastisches
Material längs den Schichtflächen vorzugsweise
an den Umbiegungsstellen angeordnet (Sattelgänge
im Bergbau). So erklärt sich die aus einer Reihe
von Beispielen bekannte Stellung granitischer
Massive im Kern echter tektonischer Sättel (kon-
kordante Intrusion im Anschluß an Faltung und
Überfaltung). Hierbei wird das Gneisproblem
gestreift.
Im Anschluß hieran wird eine von Erich
Bederke entdeckte neue Intrusionsform
beschrieben. Es sind dies die in Schlesien vor-
kommenden Intrusivmassen mit sichelförmigem
Grundriß, die Zobtengruppe, der Syenit von
Nimptsch, dieGabbro-Serpentinstöcke von Franken-
stein, der Syenit von Glatz- Reichenstein usw.
(Sichelstöcke, Harpolithe). Sie sind durch gleich-
zeitiges Aufdringen bei der Faltung entstanden.
Die Hereinziehung von Granit in den Faltungs-
vorgang bedeutet, daß dieser sich selbst den Weg
verlegt. Denn durch seine Erstarrung wird die
Faltung zum Stillstand gebracht. Indessen dauert
der Druck, der sich nun nicht mehr in Faltung
äußern kann, weiter an.
Es wird dann das Raumproblem der Tiefen-
massive erörtert. Bisher ist die gleichzeitige
Einwirkung des Seitendruckes auf in Bildung be-
griffene Massive mit richtungslos körnigem Ge-
stein und diskordanter Umgrenzung übersehen
worden. Die Leistung des Seitendruckes für die
Bildung diskordanter Massive ist eine mehr als
doppelte, da der Druck gleichzeitig auf die
Schmelze wirkt, die er emporpreßt und auf das
Nebengestein, das er zerspaltet. Der erhärtete
Bau wird zerbrochen, von einem Netz von Spalten
durchzogen , in Schollen zerlegt, und die flüssig
gebliebenen Schmelzen werden auf diesen neuen
Wegen weiter nach oben gepreßt. Indem auch
sie sich zu Massiven ausdehnen oder zusammen-
schließen und dann erstarren, kommt eine zweite
Generation zum Abschluß. Die Zerspaltung des
Nebengesteins wird, da sie dem eindringenden
Granit vorausgeht, durch diesen stark verwischt.
Doch läßt sie sich noch im Umkreis der Granit-
massive an Gängen, die die Loslösung von Schollen
vorbereiten (in oder nahe der Druckrichtung) oder
an dem auffallend tektonischen Charakter großer
Schollen im Granit, nachweisen.
Die Kontakte zeigen oft eine geordnete tekto-
nische Lage; meist haben sie die Richtung der
Ouerfläche. Massive, deren Kontaktstrecken über-
wiegend der Querfläche folgen, und deren Längs-
achse also in der Hauptdruckrichtung liegt, werden
Quermassive genannt. Längsmassive sind
sinngemäß diejenigen, deren Längsachse der senk-
recht zur Druckrichtung stehenden Spaltfläche
parallel läuft. Es gibt eine Reihe von Quer-
massiven, die man als quer zum Hauptdruck aus-
gebauchte oder verbreiterte Gänge auffassen kann.
Durch den fortwirkenden Druck entsteht nicht
nur eine Querdehnung nach den Seiten
(„Seitendehnung") , sondern auch eine H o c h -
d e h n u n g nach oben und unten, also in der
Hauptbewegungsrichtung des Magmas. Hoch-
dehnung bewirkt Aufwölbung des Massivs. Auf-
wölbung schafft, Schollenbildung erweitert den
Raum. Man hat eine solche Aufwölbung der
Schale gern als sicheren Beweis für die aktive
Natur des granitischen Kernes angesehen. Der
Auftrieb läßt sich aber auch als eine Umsetzung
des Seitendruckes nach oben auffassen. Mit
der Massivbildung war eine Stoffzufuhr nicht
nur ein Stoffaustausch verbunden. Die Erdkruste
ist nach dem Eindringen des Granits dicker und
höher als vorher. Jeder Verdickung der Kruste
folgt aber bekanntlich auf dem Fuße eine Her-
aushebung, nach der Lehre der Isostasie aus
demselben Grunde, aus dem eine dicke Eisscholle
höher aus dem Wasser herausragt, als eine dünne.
Die meisten Massive werden deshalb rasch nach
ihrer Bildung abgedeckt, bloßgelegt und z. T.
abgetragen.
Bruchbildung und Aufwölbung bewirken im
wesentlichen die Raumbildung; dem Platz-
tausch bleibt nur ein geringerer Anteil daran
überlassen.
Als konkretes Beispiel werden die tektonischen
Verhältnisse des Harzes im Sinne der dargelegten
Gedankengänge erläutert.
In einem letzten Kapitel wird die „Spalten-
frage der Vulkane" aufgerollt. Bei seinem
Vortrieb gegen die Oberfläche steht das Magma
unter Seitendruck. Dieser hilft das Magma treiben,
wirkt aber zugleich auf die bedeckende Kruste.
In dieser vermag er Spalten zu öffnen, die in der
Mehrzahl in der mittleren Druckrichtung selbst
liegen, demnächst zu beiden Seiten derselben,
d. h. in Richtung ihrer Komponenten angeordnet
sind und einen von der mittleren Druckrichtung
halbierten rechten Winkel, den Zugquadranten,
füllen. Auf solchen Spalten steigt das Magma
passiv empor, bis seine Gasspannung die Last des
Hangenden zu überwinden und den Rest des
Weges aktiv auszubohren und zu sprengen ver-
mag. An dieser Stelle beginnt im engeren Sinne
der Vulkanismus. Erich Stach.
292
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
. Maultier und Pferd als Zwillinge, und die
Erblichkeit der Zwillingsgeburten.
W. R. B. Robertson (A Mule and a Horse
as Twins, and the Inheritance of Twinnings, Kansas
Univ. Sc. Bull. Vol. X, Nr. 15, pp. 293— 298, 4 pls.
1917) berichtet über die am 9. Juni 1913 stattge-
fundene Geburt eines Pferdehengstes und einer
Maultierstute durch eine Pferdestute.
Die Pferdestute war 191 2 zehn Minuten bevor
sie zum Eselhengst gebracht worden war, einem
Pferdehengst zugeführt gewesen, was bei der
Maultierzucht üblich ist, weil die Stute den Esel-
hengst sonst meist abschlägt. In diesen Fällen wird
natürlich eine Befruchtung durch den Esel beabsich-
tigt; die Einwirkung des Pferdehengstes soll sich
auf Steigerung der Erregung der Stute beschränken.
Die Stute und namentlich die beiden Fohlen
sind mehrfach in verschiedenen Lebensaltern
photographiert worden. Die Bilder sind der Ar-
beit beigegeben.
Die Mutterstute hat während ihres Lebens
neunmal gefohlt und bei drei Geburten Zwillinge
geworfen. Der fünfte Wurf brachte zwei Maultier-
hengste, der achte den Pferdehengst und die
Maultierstute und der neunte Wurf einen Maultier-
hengst und eine Maultierstute. Der zweite Wurf
der Mutterstute war eine Pferdestute gewesen, die
zwei Hengstfohlen von einem Pferdehengst ge-
worfen hat. Die Mutterstute hat also die Ver-
anlagung zu Zwillingsgeburten vererbt.
Wahrscheinlich stammt diese Veranlagung aber
schon von der Mutter dieser Stute, einem Oregon-
Pferd, denn eine Schwester der Mutterstute hat
ebenfalls Zwillinge getragen, die allerdings mit
neun Monaten verworfen wurden.
Daß es sich in jedem Fall um zweieiige Zwil-
linge handelt, folgt aus den jedesmal vorhandenen
Farbunterschieden. Außerdem sind die Zwillinge
in zwei Fällen verschiedenen Geschlechts. Beim
ersten Fall waren beides Hengste, aber der eine
schwarz, der andere braun. Im zweiten Wurf
waren der Pferdehengst und die Maultierstute, die
selbstverständlich zweieiig gewesen sind. Sie
differieren in Geschlecht und Zeichnung, obgleich
beide rotbraun waren, das Maultier etwas heller
als das Pferd. Das Maultier hatte einen kleinen
halbmondförmigen Bleß rechts von der Stirnmitte ;
das Pferd war ein einfarbiger Brauner mit schwarzer
Mähne, schwarzem Schwanz und schwarzen Füßen.
Im dritten Wurf unterschieden sich die beiden
Maultierfphlen durch das Geschlecht; außerdem
hatte die Stute einen weißen Stirnfleck und war
im allgemeinen dunkler mit nur wenig angedeu-
teter heller Partie um die Schnauze, wie das sonst
bei Eseln und Maultieren zumeist vorkommt. Der
kleine Hengst dagegen hatte diese hellere Zeich-
nung und war auch im ganzen heller.
Bei dem vierten Fall, in dem eine Halb-
schwester der „Mutterstute" Zwillinge hatte, wur-
den die Föten zwischen dem achten und neunten
Monat abortiert, ohne daß Notizen über Geschlecht,
Farbe usw. gemacht worden wären.
Der fünfte Fall waren Zwillinge, die eine Tochter
der „Mutterstute" gebracht hatte, beide gleichen
Geschlechts, aber in Farbe und Zeichnung ver-
schieden. Eins war ein Brauner wie die Mutter
und deren Vater, der andere ein Rotfuchs mit
großem weißem Bleß und weißen Füßen, ähnlich
wie die „Mutterstute" und deren Mutter, die
Oregon-Stute, und wie ein Vollbruder der „Tochter".
Man sieht also, daß in dieser Familie in jedem
F"all zweieiige Zwillinge geworfen wurden bei
gleichzeitiger oder fast gleichzeitiger Befruchtung
von zwei deutlich getrennten ungleichen Eiern
durch zwei ungleiche Spermatozoen. In den vier
Fällen, bei denen Beobachtungen notiert sind,
zeigt sich die Zweieiigkeit bei zweien durch ver-
schiedenes Geschlecht an, bei allen durch ver-
schiedene Färbung. Einer dieser Würfe hatte
Pferdehengst und Maultierstute in verschiedener
Farbe und Zeichnung enthalten.
Die Veranlagung zu Zwillingsgeburten scheint
durch die Stammutter dieser Zucht, die Oregon-
Stute in die Familie gekommen zu sein, denn
zwei ihrer Töchter haben mit verschiedenen
Hengsten Zwillinge gebracht.
Keine der Zwillinge werfenden Stuten stammte
selbst aus einem Zwillingswurf. Man darf aller-
dings nicht außer acht lassen, daß möglicherweise
in jedem Fall ein Zwilling zwar gebildet sein
kann, aber nicht zur Entwicklung gekommen zu
sein braucht.
Es wurde für möglich erachtet, daß die An-
wesenheit eines Maultierfötus die Entwicklung des
Pferdefötus hemmend oder störend beeinflussen
könnte. In dem untersuchten Falle jedoch waren
beide durchaus normal.
Im vorliegenden Beispiel wird man von Über-
befruchtung reden dürfen, denn die Befruchtung
der beiden Eier konnte nur in der gleichen Brunst-
periode in zehn Minuten Abstand stattgefunden
haben, und sowohl der Esel wie namentlich der
Pferdehengst können nur einmal befruchtet haben.
Mumford gibt in seiner Arbeit „The Bree-
ding of Animals" (New York, The Macmillon Co.,
191 7) sieben Beispiele für mehrfache Befruchtung.
Davon betreffen sechs Beispiele Zwillinge, von
denen einer ein Pferd, einer ein Maultier war;
aber sie stammten stets aus zwei auseinander-
liegenden Brunstzeiten. So war dann auch immer
einer der Zwillinge kleiner und weniger entwickelt
als der andere. In zweien dieser F'älle starben
beide bei oder bald nach der Geburt; von einem
Fall erwähnt der Autor nichts; von zwei weiteren
Würfen starb je ein P'ohlen, während im sechsten
beide am Leben blieben. Die Zahl der von
Mumford angegebenen Fälle zeigt, daß Pferd
und Maultier als Wurfgeschwister nicht so selten
sind, wie man an sich anzunehmen geneigt ist.
Sie können entstehen — wie Mumfords Bei-
spiele zeigen — durch Befruchtung in verschie-
denen Brunstzeiten, oder in der gleichen Brunst-
zeit bei Anwesenheit von zwei reifen Eiern im
Uterus. E. Mohr, Hamburg.
N. F. XXI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
293
Bücherbesprechungen.
Meirowsky, E. und Leven, L, Tierzeichnung;,
Menschenscheckung und Systemati-
sation der Muttermale r. Ein Beitrag zur
vergleichenden Morphologie der Haut. 79 S.
mit 283 Abbildungen im Text und auf 19 Tafeln.
(Sonderabdruck aus dem „Archiv für Derma-
tologie", Bd. 134.) Berlin 192 1, J. Springer.
Geh. 40 M.
Es ist ein noch wenig bearbeitetes, aber höchst
interessantes Gebiet, das von den Verff. hier be-
handelt wird. Sie tragen eine Fülle von Material
über Menschenscheckung und Muttermäler zu-
sammen und untersuchen das Verhältnis der
Menschenzeichnung zur Tierzeichnung. Und es
ist in der Tat erstaunlich, wie mannigfach die
Übereinstimmungen in der Art des Auftretens, in
Form und Lokalisation der Zeichnung (die stets
wiederkehrende bestimmte Lokalisation der Mutter-
mäler bezeichnet die Dermatologie als „Syslemati-
sation") bei Mensch und Tier sind. Das veran-
schaulichen die 283 (teilweise leider etwas kleinen)
Abbildungen, die im Text und auf 19 Tafeln der
Schrift beigegeben sind. Um nur einige Beispiele
herauszugreifen. Weiße Abzeichen bei im übrigen
pigmentierter Körperoberfläche sind bei den Säuge-
tieren weit verbreitet. Die Abzeichen treten mit
besonderer Vorliebe an ganz bestimmten Stellen
auf. Besonders häufig ist eine Blesse auf der
Stirn. Unter den Säugern (sie ist auch bei
Nichtsäugern, selbst bei manchen Wirbellosen zu
beobachten) bieten uns fast alle Gruppen, vor
allem aber die Haustiere, Beispiele in Hülle und
Fülle. Viele gescheckte Neger weisen eine solche
Stirnblesse in ganz ähnlicher Ausbildung auf. Nicht
selten ist bei den Tieren inmitten der Blesse eine
pigmentierte Insel, ähnlich bei den Menschen-
schecken. Von einer Manschettenbildung spricht
man, wenn der Körper pigmentiert ist, die Ex-
tremitäten aber weiß sind. Auch das Umgekehrte
(Stiefelung) kann der Fall sein , wie bei den
Russenkaninchen und den Hampshireschafen, die
weiß sind, aber schwarze Extremitäten, schwarze
Ohren, schwarze Nase und schwarze Schwanz-
spitze haben (Akromelanismus). Auch dafür bieten
uns die Menschenschecken Analoga. Sehr ver-
breitet ist die sog. Schwimmhosenzeichnung bei
Säugetieren ; die vordere Körperhälfte ist weiß,
die hintere ist pigmentiert, wie bei den Holländer-
kaninchen und den Meerschweinchen, bei den
halbroten bayerischen Schweinen usw. Dieselbe
Schwimmhosenzeichnung ist die häufigste Form
der großen Muttermäler des Menschen.
Da der erste der beiden Verff. an dieser Stelle
bereits selbst den Inhalt der vorliegenden Schrift aus-
führlich mitgeteilt hat,^) erübrigt sich ein eingehen-
des Referat, doch können wir diese Besprechung nicht
') M eirowsk y , E., Die angeborenen Muttermäler und
die Färbung der mensclilichen Haut im Lichte der Ab-
stammungslehre. Naturw. Wochenschr., N. F. Bd. ig, 1920.
schließen, ohne einige Worte der Kritik hinzugefügt
zu haben. Zunächst einmal : Die Schrift ist in einem
Tone der Selbstgefälligkeit geschrieben, den man in
wissenschaftlichen Abhandlungen wirklich nicht
aufkommen lassen sollte 1 Bezeichnend sind die
folgenden Sätze aus dem Schlußabschnitt: „Die
Naevusfrage war, wie Delbanco treffend be-
merkte (sie zitieren damit einen Referenten einer
eigenen früheren Arbeit — N.), auf einem toten
Geleise festgefahren. Jetzt ist sie wieder flott,
aus den Fesseln der für das Gesamtbild wichtigen
Einzelbeobachtungen befreit und in enge Be-
rührung mit den Lehren der allgemeinen Natur-
wissenschaften gebracht. ... In das „dunkelste
Afrika" der Dermatologie leuchtet das helle Licht
der Vererbungswissenschaft, der Geist Darwins,
Weismanns und Goethes, . . .". Was haben
denn nun eigentlich die Verff. für ein Problem
gelöst? Sie haben das Verdienst — das wurde
bereits eingangs betont und sei ihnen unbenom-
men — , em großes Tatsachenmaterial zusammen-
getragen und auf die weitgehenden Übereinstim-
mungen zwischen Tier- und Menschenzeichnung
hingewiesen zu haben. So wesentliche Analogien,
so sagen sie, können nicht auf einem Zufall be-
ruhen, die Systematisation der Muttermäler müsse
ebenso wie die Systematisation der Tierzeichnung
„keimplasmatisch bedingt" sein. Und
mit dieser immer wiederkehrenden „keimplasma-
tischen Bedingtheit" glauben sie helles Licht
über die Dermatologie zu ergießen! Ist damit
aber auch nur irgend etwas erklärt? Zugegeben
auch, daß es sich in vielen der von den Verff.
gesammelten Fälle um erbliche Erscheinungen
und um mehr als eine äußere Ähnlichkeit zwischen
Menschen- und Tierzeichnung handeln rnöge, aber
die große Mehrzahl der Fälle ist doch gänzlich
unanalysiert. Alles, was äußerlich (phänotypisch)
gleich oder ähnlich ist, wird kurzerhand in einen
Topf geworfen, es mag sich, um mit Lenz zu
sprechen, manche Blindschleiche unter den
Schlangen finden. Und wenn die Verff. für sich
die Priorhät in Anspruch nehmen, in die Der-
matologie das Licht der Vererbungswissenschaft
haben leuchten zu lassen, so sollten sie sich
wenigstens mit dieser Wissenschaft vertraut er-
weisen. Der eine der beiden Verff. bemerkt, daß
er sich auf besondere Anregung des anderen im
Felde dem Studium der Vererbungslehre Weis-
manns gewidmet habe. Dessen Keimplasma-
lehre habe sich dann als ein tragfähiges Funda-
ment zur Aufstellung der Keimplasmalehre der
Muttermäler erwiesen. Wir sind weit davon ent-
fernt, die Bedeutung Weismanns für die mo-
derne Vererbungslehre gering einzuschätzen, aber
wir sind denn doch im Laufe der letzten zwanzig
Jahre ein gut Stück über Weismann hinaus-
gekommen, und davon merkt man sehr wenig
beim Studium dieser Schrift und besonders des
ersten Kapitels, das sich betitelt „Die wichtigsten
294
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
Ergebnisse aus der Vererbungswissenschaft als
Einführung in die Grundlagen der Naevuslehre",
und in dem von „Keimplasmaerschütterung" und
„Genverwirrung" und manch anderem Absonder-
lichen die Rede ist. Über die Vererbung von
Farbe und Zeichnung bei den Säugetieren gibt
es heute bereits eine Fülle von Literatur. Aus
dieser Fülle führen die Verff. nicht viel mehr als
eine Arbeit an, und zwar gerade die schlechteste,
die existiert, die leider von der „Deutschen Gesell-
schaft für Züchtungskunde" herausgegebene Arbeit
von Po r zig über „Vererbung in der Kaninchen-
zucht". Nachtsheim.
Scheiner - Graff, Astrophysik. 448 S. mit
17 Taf und 254 Fig. Leipzig - Berlin 1922,
Teubner. Brosch. 125 M., geb. 145 M.
Simon Newcombs Astronomie für jeder-
mann. Herausgegeb. von Prof. Dr. Schorr und
Prof. Dr. Graff von der Sternwarte Hamburg.
395 S. mit 1 Titelbild, 3 Tafeln, 3 Sternkarten
und 89 Abb. Jena 1922, G. Fischer. Brosch.
33 M., geb. 42 M.
Lietzmann, H., Anleitung zur Himmels-
beobachtung mit kleinen Fernrohren.
58 S. mit 59 Abb. Jena 1922, G. Fischer.
Brosch. 12 M., geb. 18 M.
Vielleicht durch nichts tritt der gewaltige
Fortschritt der Astrophysik auf allen Gebieten so
deutlich in die Erscheinung, als durch einen Ver-
gleich der Sehe in ersehen Astrophysik von 1908
und von 1922, die nach Scheiners Tode von
Graff durchaus neu bearbeitet ist, so daß nur
der Name blieb. Es konnte auch nicht anders
sein. Nicht nur, daß ein jedes Gebiet wesentlich
erweitert worden ist, es sind in diesen 14 Jahren
soviel ganz neue Gebiete, ganz neue Begriffe und
Gesichtspunkte hinzugekommen, die zu berück-
sichtigen waren. Insbesondere hat die Forschung
am Fixsternhimmel ungeahnte Ergebnisse erzielt.
Man denke an die Beziehungen zwischen Spektren,
Farben, Bewegungen, Riesen- und Zwergsternen,
an die Photometrie mit der elektrischen Zelle, an
die Physik der kugelförmigen Sternhaufen und
der Spiralnebel, die erst jüngsten Datums ist, um
den hohen Wert des Werkes zu würdigen, das
die ganze moderne Astrophysik umfaßt, uner-
schöpflich als Nachschlagewerk, als Quelle für
Vorträge, zum Privatstudium für den Freund der
Sterne. Viele und sehr gute Abbildungen und
Tafeln unterstützen die Darstellung in vollkom-
mener Weise. Es berührt sehr wohltuend, daß
der Verf an geeigneten Stellen auch darauf hin-
weist, daß die Ergebnisse häufig noch der Be-
stätigungbedürfen, daß sie auf Schlüssen beruhen,
deren Voraussetzungen nicht immer festliegen,
so daß zwischen sicheren und zweifelhaften Re-
sultaten unterschieden wird.
Viel einfacheren Anforderungen genügt das
zweite Buch, ebenfalls von Graff in ausgezeich-
neter Weise bearbeitet. Es gibt eine zusammen-
fassende Darstellung der jedem gebildeten Laien
verständlichen astronomischen und astrophysikali-
schen Tatsachen, sowohl die Grundbegriffe, wie
auch die Instrumente, und die einzelnen Gruppen
der Himmelskörper. Es ist dem Stande der
Gegenwart entsprechend, mit besonderer Hervor-
hebung der Gebiete, die zurzeit besonders erfolg-
reich bearbeitet werden, wie die Physik der Fix-
sterne und Nebel. Jedem Liebhaber der Astro-
nomie, der in leichter Weise einen Überblick
haben will, gibt das Buch alles Gewünschte, und
ist daher auch als Geschenk eine wertvolle Gabe.
Das letzte Büchlein endlich wendet sich an
die Besitzer kleiner Fernrohre, die der Anleitung
bedürfen, um sich am Himmel damit zurecht zu
finden. So ist die Handhabung des Instrumentes
genau beschrieben, zahlreiche Kärtchen erleichtern
das Aufsuchen der Nebel, Sternhaufen und Doppel-
sterne. Dazu wertvolle, der Praxis entnommene
Winke zur Beobachtung von Sonne, Mond und
Planeten. Es ist sehr erfreulich, daß auch auf
die Vorteile der parallaktischen Fernrohre hinge-
wiesen wird, ohne die sich Messungen schwer
machen lassen. Allerdings scheint mir die Me-
thode, das Instrument mit Hilfe des Kompaß und
der Sonne in den Meridian zu bringen, doch bei
nicht allzu geringen Anforderungen an die Ge-
nauigkeit recht unzureichend. Da die Mittel an-
gegeben sind, in den Besitz genauer Zeit zu
kommen, so sind doch Meridiandurchgänge von
Sternen ungleich einfacher und genauer zu be-
nutzen. Die Billigkeit des Büchleins wird ihm
bei den sehr zahlreichen Fernrohrbenutzern eine
hoffentlich weite Verbreitung verschaffen.
Riem.
Muckermann, Hermann, Um das Leben der
Ungeborenen. Zweite, vermehrte Auflage
(6.— 10. Tausend). 78 S. Berlin u. Bonn 1922,
F. Dümmler. Geh. 9 Mk.
Der bekannte Jesuitenpater, einer der tat-
kräftigsten Vorkämpfer der Rassenhygiene, be-
handelt in dem ein Jahr nach seinem ersten Er-
scheinen bereits in zweiter Auflage vorliegenden
Büchlein die Frage der künstlichen Fruchtabtrei-
bung. Die Schrift ist entstanden im Anschluß an
ein Referat, das in einer Sitzung der sehr rührigen
Vereinigung für Familienwohl zu Düsseldorf er-
stattet und durch die seinerzeit von sozial-
demokratischer Seite dem deutschen Reichstag
vorgelegten Anträge betreffend Straffreiheit der
Eingriffe in das keimende Leben veranlaßt wurde
Anträge, die von Seh all may er treffend als eine
„Ausgeburt von maßlos individualistischer Auf-
fassung" bezeichnet wurden. Verf. will das Pro-
blem, wie er im Vorwort sagt, auf wissenschaft-
licher Grundlage gemeinverständlich erörtern. Das
geschieht auch. Muckermann will in erster
Linie als Biologe sprechen. Daß die Darstellung
einen ernsten ethisch- religiösen Hintergrund hat,
versteht sich bei dem Stande des Verf. von selbst.
N. F. XXI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
295
Die Form ist aber, wie eigens betont sei, so, daß
auch der in religiösen Dingen anders Denkende
ihr seine Zustimmung nicht versagen wird. Möge
das Büchlein das, was es erstrebt, den Schutz des
kommenden Geschlechtes, erreichen. Das am
Boden liegende Deutschland hat ein starkes Ge-
schlecht bitter notwendig. Nachtsheim.
von Lippmann, Prof. Dr. Edmund O., Zeit-
tafeln zur Geschichte der organischen
Chemie. Berlin 1921, JuHus Springer. 18 M.
„Ein Versuch" nennt sich das Büchlein be-
scheiden im Untertitel. Wir dürfen sagen, daß er
wohlgelungen ist. Auf insgesamt 67 Seiten wird
unter Voranstellung der Jahreszahlen eine schlag-
wortartige Übersicht über den Werdegang der
gesamten organischen Chemie vom Jahre 1500 ab
gegeben. Da fehlt denn kein irgendwie be-
merkenswerter StofT, keine Reaktion von allge-
meiner Bedeutung. Name des Entdeckers und
Angabe der Quelle, meist der Originalliteratur,
stehen dabei. Ein sorgfältiges Namen- sowie ein
Sachregister (vom Sohne des Verf.s bearbeitet)
gestatten, sich über jeden der aufgeführten Stoffe
schnell zu unterrichten. In Fußnoten wird für
Fachausdrücke, wie „Tautomerie", „Hystazarin"
usw. die ethymologische Erläuterung gegeben.
Der Zweck des Buches, dem allgemeinen ge-
schichtlichen Verständnis in chemischen und
medizinischen Kreisen zur Anerkennung zu ver-
helfen, ist, soweit eine solche tabellarische und
damit etwas trockene Übersicht das vermag, als
wohl erreicht zu betrachten. Man darf wünschen,
daß recht viele unserer Studierenden, dann aber
der Gebildeten im allgemeinen von den Zeittafeln
Gebrauch machen und sich dadurch zum Studium
der Geschichte der Chemie überhaupt anregen
lassen möchten! Es gibt keinen besseren Weg,
das „Philosophische" der Chemie, d. h. ihre
Stellung im Dasein und Werden der Gesamt-
wissenschaft zu erfassen. Ganz abgesehen davon
ist das Durchstudieren der Tafeln deshalb eine
äußerst anregende Angelegenheit, weil man immer
wieder über gewisse historische Merkwürdigkeiten
schlechthin staunen muß, so z. B., daß Anethol
schon 1540 kristallisiert erhalten, aber erst 300
Jahre später künstlich dargestellt werden konnte,
daß zwar Äthylchlorid schon Mitte des 18. Jahr-
hunderts wohlbekannt war, daß aber ein heut so
gebräuchlicher Stoff wie Phenacetin ganze 35 Jahre
alt ist.
Die Tafeln brechen mit dem Jahre 1890 ab.
Mancher wird das als einen Mangel empfinden.
Auch die Aufnahme gewisser Stoffe wird dis-
kutiert werden. Beispielsweise erscheint die zwei-
malige Aufführung der Darstellung von Formose
S. 52 und 53 nicht ganz gerechtfertigt. Im
übrigen darf man sich jedoch der Gabe des be-
deutenden Historikers der Chemie nachdrücklich
erfreuen. Möchte sie viele Leser und Benutzer
finden! H. Heller.
Zander, Enoch, Handbuch der Bienen-
kunde in Einzeldarstellungen. IV. Das
Leben der Biene. 195 S. mit 9 Tabellen und
138 Abbildungen. 2. erweiterte Auflage. Stutt-
gart (ohne Jahreszahl), Verlag von E. Ulmer.
Geb. 20 M.
, Obstbau und Bienenzucht. Eine
Werbeschrift zur Förderung eines verständnis-
vollen Zusammenarbeitens von Obst- und
Bienenzüchter. 48 S. mit 22 Abb. Stuttgart
1922, Verlag von E. Ulmer. Geh. 10 M.
Zanders populär - wissenschaftliches „Hand-
buch der Bienenkunde" hat sich schnell einen
großen Leserkreis erworben. Der rasche Absatz
der ersten Auflage ist dafür allein schon ein Be-
weis. Wer sich über das Leben und Treiben im
Bienenstaat unterrichten will, sei es, daß ihn die
Freude an der Natur zum Studium eines ihrer reiz-
vollsten Kapitel treibt, sei es, daß er selbst Bienen-
züchter ist oder werden will, dem kann diese mit
guten Abbildungen ausgestattete Bienenkunde
bestens empfohlen werden. Der vorliegende Band
des Werkes behandelt die Biologie der Biene.
Die letzten Jahre haben uns auf diesem Gebiete
manche wertvolle Erweiterung unserer Kenntnisse
gebracht — es sei vor allem an die schönen
Untersuchungen v. Frischs über das Sinnes-
leben der Bienen erinnert — ; die Neuauflage be-
rücksichtigt die jüngsten Forschungen bereits
größtenteils.
Der erste Abschnitt gibt uns ein Bild von der
Stellung der Biene im Tierreich. Es werden die
nächsten Verwandten der Honigbiene und sodann
deren verschiedene Rassen vorgeführt, woran sich
eine Darstellung der biologischen Eigenart der
Honigbiene schließt. Der zwehe Abschnitt ver-
schafft uns einen Einblick in den Bienenhaushalt.
Wir lernen den Bau des Stockes und seine ver-
schiedenen Insassen kennen, hören von den Lebens-
bedürfnissen der Biene und sehen schließlich das
Bienenleben im Kreislauf eines Jahres an uns
vorüberziehen. Der dritte und letzte Abschnitt
endlich behandelt den Verkehr der Biene mit der
Außenwelt. Wir lernen, wie sich die Biene außer-
halb des Staates zurechtfindet, und wie sie ihrer
Nahrung nachgeht, und das führt dann zu einer
Schilderung der so außerordentlich wichtigen
Stellung der Bienen im Haushalt der Natur, zu
einer Schilderung der Beziehungen zwischen
Bienen und Pflanzen.
Gerade dieses Kapitel wird noch ausführlicher
in der zweiten Schrift Zanders behandelt, die
sich in erster Linie an die Obst- und Bienen-
züchter wendet. Einmal infolge ihrer Blüten-
stetigkeit und dann infolge der großen Zahl der
in einem Volk vereinten Individuen spielt die
Honigbiene unter den Insekten als Pollenüber-
trägerin weitaus die größte Rolle. Ohne Bienen,
so kann auf Grund vielfältiger Erfahrungen gesagt
werden, kein ertragreicher Obstbau, Bienenzucht
und Obstbau gehören unbedingt zusammen. Den
Wert der deutschen Obsternte veranschlagt der
296
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
Verf. auf 500 Mill. Mark pro Jahr (nach dem
Geldwert vor dem Kriege berechnet!), und davon
entfallen % , mindestens aber % nach Berner
auf die Mitarbeit der Bienen, also 300 — 350 Mill.
Mark. Diese Zahlen zeigen den volkswirtschaft-
lichen Wert der Bienenzucht schon zur Genüge.
Schließlich noch etwas rein Äußerliches zu
der ersten der hier besprochenen Schriften Zan-
ders. Er bezeichnet seine „Bienenkunde" als
Handbuch. Das ist ein etwas zu anspruchs-
voller Name für das Werkl Ein Handbuch ist
dazu bestimmt, unser Gesamtwissen eines Gebietes
aufzunehmen. Das kann und will aber die
„Bienenkunde" Zanders gar nicht. Sie soll, wie
schon eingangs gesagt, eine auch für die Hand
des Laien bestimmte Einführung sein. Viel-
leicht bezeichnet der Verf bei einer Neuauflage,
die ich ihm gern für nicht zu ferne Zeit wünsche,
sein Werk als das, was es ist.
Nachtsheim.
Anregungen und Antworten.
Deutscher Monistenbund. Ein Werbeblatt des deutschen
Monistenbundes, das auch neulich einer Nummer der Naturw.
Wochenschr. (ohne Wissen der Schriftleitung. Die Red.) bei-
gelegt wurde, veranlaßt mich zur Niederschrift der folgenden
Überlegungen.
1. Der Monismus hat ein Gebäude errichtet, in dem es
nichts als Erfahrungstatsachen geben soll. Unsere Erfahrung
gründet sich auf Beobachtungen, die wir mit Hilfe unserer
Sinnesorgane und der uns zur Verfügung stehenden technischen
Hilfsmittel anstellen. Nun sind unsere Sinnesorgane und
technischen Hilfsmittel nach Zahl und Leistungsfähigkeit be-
schränkt, und es wird niemand behaupten wollen, daß wir
aliein durch diese alles Seiende erkennen können. Darum
muß es gestattet sein, zur Vertiefung unserer Erkenntnis neben
den Naturwissenschaften auch Geisteswissenschaften wie Er-
kenntniskritik und Logik, ja sogar Ethik und Ästhetik, heran-
zuziehen. Auch durch sie werden ,, wissenschaftliche Begriffe",
die das monistische Werbeblatt allein gelten läßt, geschaffen
und nicht nur „Phantasiegebilde" erzeugt.
2. Wenn man das Weltbild von einem möglichst einheit-
lichen Gesichtspunkte aus betrachtet, was ja ganz im Sinne
des Monismus ist, und wenn man sich eine neue Theorie zu
eigen macht, nach der die Materie eine Form der Energie ist,
so kann man sagen, der ganze Weltinhalt sei nichts anderes
als ein ungeheurer Energievorrat. Diese durchaus monistisch
klingende Darstellung hat einen wesentlichen Mangel, sie
nimmt auf eine wichtige Tatsache keine Rücksicht, nämlich
die, daß alles in der Welt einem dauernden Wechsel unter-
worfen ist, daß unendlich viele kleinere und größere Energie-
mengen unausgesetzt ihre Form verändern. Die stetige Ände-
rung, oder, was dasselbe ist, die Entwicklung des Wellganzen
unterliegt dem Gesetz des Wirkens, das von Wil heim Roux
in geistvoller Weise begründet wurde. Zum Wirken gehören
immer zwei Dinge, ein wirkendes und eines, auf das gewirkt
wird. Und ferner : kein Ding kann sich von sich selbst aus
verändern, zu jeder Änderung sind mindestens zwei Faktoren
nötig. Für das Weltganze ergibt sich daraus, daß die Gesamt-
energie, die nach monistischen Anschauungen ursprünglich
möglichst einheitlich zu denken ist, zunächst in einzelne
Energiemengen zerlegt werden mußte, ehe diese aufeinander
wirken konnten. Es muß daher ein übergeordnetes Prinzip
vorhanden sein, auf das die Energiezerlegung zurückzuführen
ist. Dieses Prinzip nennen wir, wenn wir eine triviale Be-
zeichnung vermeiden wollen, ein göttliches. Das innere
Wesen des göttlichen Prinzips werden verschiedene Menschen
sich sehr verschieden vorstellen, entsprechend ihrem Bildungs-
grad und ihrem Auffassungsvermögen. Unser Denken ist ge-
bunden, unser Vorstellungskreis durch unsere Organisation
beschränkt. Darum ist es naheliegend, wenn auch durchaus
nicht notwendig, daß man das götiliche Wesen mit mensch-
lichen Eigenschaften ausstattet, die bis zu einer überragenden
Größe gesteigert sind. Durch dieselbe Gedankenfolge kommt
man zum Verständnis der Vorstellung eines persönlichen
Gottes.
3. Man kann sehr religiös sein, ohne daß man alle Dog-
men einer Religionsgemeinschaft für glaubhaft hält. Die
religiöse Sprache ist reich an Bildern, auch das Jenseits ist
ein Bild. Daß es kein körperliches Fortleben nach dem Tode
geben kann, bedarf keiner besonderen Erörterung. Einer
fortlebenden Seele fehlt das Ichbewußtsein, da dieses eine
Folge des Zusammenbanges mit dem Körper ist. Das Fort-
leben einer Seele nach dem Tode können wir heute mit
Sicherheit nur in der Gedankenwelt überlebender Menschen
feststellen.
4. Nach dem Gesagten erübrigt es sich, auf die Aus-
führungen des monistischen Werbeblattes über weltliche
Schule, weltlichen Staat, Weltfrieden, Gesellschaftsordnung
und Rassenfragen einzugehen, zumal diese einen politischen
Einschlag haben, und ihre Diskussion nicht in eine natur-
wissenschaftliche Zeitschrift gehört. Nur die eine Bemerkung
zu machen kann ich mir nicht versagen, daß die Beschäftigung
mit dem Leben des Stifters der christlichen Religion einen
hohen sittlichen und erzieherischen Wert hat.
Prof. Dr. Hermann Triepel-Breslau.
Literatur.
Stark, Dr. Job., Natur der chemischen Valenzkräfte.
Leipzig '22, Verlag von S. Hirzel. Geh. 10 M.
Klut, Prof. Dr. Hartwig, Untersuchung des Wassers an
Ort und Stelle. 4. Aufl. Berlin '22, Verlag von J. Springer.
Brosch. 45 M.
Bauer, Prof. Dr. H., Chemie-Büchlein. Ein Jahrbuch
der Chemie. I. Jahrg. Stuttgart '22. Franckhsche Verlags-
buchhandlung.
iDlinIt: Hans-Adam Stolte, Mechanistische und vitalistische Strömungen in der Geschichte der biologischen Theorien.
S. 281. — Einzelbericbte: R. Keller, Azidität und Basizität. S. 287. G. Haberlandt, Parthenogenesis und
Nekrohormone. S. 289. H. Cloos, Tektonik und Vulkanismus. S. 290. W. R. B. Robertson, Maultier und Pferd
als Zwillinge, und die Erblichkeit der Zwillingsgeburten. S. 292. — Bücherbesprechungen: E. Mcirowsky und
L. Leven, Tierzeichnung, Menschenscheckung und Systematisation der Muttermäler. S. 293. Seh einer-Graff ,
Astrophysik. S. New comb, Astronomie für jedermann. H. Lietzmann, Anleitung zur Himmelsbeobachtung mit
kleinen Fernrohren. S. 294. H. Muckermann, Um das Leben der Ungeborenen. S. 294. E. O. v. Lippmann,
Zeittafeln zur Geschichte der organischen Chemie. S. 295. E. Zander, Handbuch der Bienenkunde in Einzeldarstel-
lungen. IV. Ders., Obstbau und Bienenzucht. S. 295. — Anregungen und Antworten: Deutscher Monistenbund.
S. 296. — Literatur: Liste. S. 296.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folgte 21. Band;
;r ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 28. Mai 1922.
Nummer 32.
[Nachdruck verboten.]
August Schulz f,
Von Vf. Wächter.
Am 7. Februar dieses Jahres schloß einer der
merkwürdigsten Botaniker, Dr. August Schulz
in Halle a. S., außeretatsmäßiger Professor an der
Universität, im 6o. Lebensjahre für immer die
Augen. Er starb in großer Dürftigkeit an einer
Lungen- und Rippenfellentzündung. Die sorg-
same und liebevolle Pflege seiner Braut konnte
den Tod nicht verscheuchen und so mußte der
Mann, der den Frühling und die ersten Frühjahrs-
blumen alljährlich mit Ungeduld erwartete, in
bitterer Winterkälte sein an Enttäuschungen
reiches Leben beenden.^)
Es war auf einer Exkursion in die Vogesen
vor mehr als einem Dezennium, als mir unter
den Anwesenden ein hagerer Mann mit einem
markanten Gesicht auffiel, den ich noch nicht
kannte. Seine langen Haare und die schön ge-
formte Stirn verdeckte ein großer runder Hut von
undefinierbarer Farbe, und ein etwas schütterer
ungepflegter rötlichblonder langer Spitzbart und
ein herabhängender Schnurrbart umrahmten einen
weichen Mund. Die Augen blickten außerordent-
lich gütig in die Welt und doch lag in dem Ge-
sicht ein Ausdruck von ein klein wenig Hoch-
mut, Selbstüberhebung oder wie man es sonst
nennen will, ein Ausdruck, wie man ihn bei Leuten
findet, die sich zurückgesetzt fühlen und sich doch
stark ihres Wertes bewußt sind. Ein weiter
Bozener Mantel umschlotterte die mageren Glieder
des Mannes, der in seiner Rechten eine Gitter-
presse trug, die neben einigem Löschpapier seine
ganzen Reiseutensilien barg, wie ich später erfuhr ;
weder Rucksack noch Schirm oder Stock ge-
hörten zu seiner Ausrüstung. Er hatte ein paar
Fachgenossen um sich versammelt und dozierte
in einer so interessanten Art, wie ich es bisher
von einem Systematiker oder Floristen noch nicht
gehört hatte. — Das also war August Schulz
aus Halle, wie man mir sagte, und als ich seine
nähere Bekanntschaft machte, da wußte ich, daß
wir ein Stück Weges auf dieser Welt zusammen-
gehen würden.
Als Botaniker hat man vielfach Gelegenheit,
originellen Menschen, besonders unter den Floristen,
zu begegnen, Menschen, die abseits der großen
Heerstraße wandern und lieber verwachsene
Seitenpfade aufsuchen, wie es ihr Beruf erfordert.
Wilhelm Raabe würde manche seiner Freunde
unter diesen Fachgenossen gefunden haben, die
') Fräulein Margarete Mindner, den Herren Fried -
rieh Faber, Dr. Julius Müller und K. Bernau bin ich
für Ihre freundliche Unterstützung meiner eigenen Kenntnisse
über den Verstorbenen zu großem Dank verpflichtet.
meistens neben ihrer Liebe zu den Kindern Floras
starke philologische und historische Neigungen
bekunden. Das war auch bei August Schulz
der Fall ; er verfügte außer über philologische
und historische Kenntnisse auch noch über ein
geologisches, zoologisches, geographisches, kunst-
historisches und literarisches Wissen, das weit
über das hinausging, was man von einem ge-
bildeten Menschen voraussetzt, so daß man den
Eindruck gewann, er könne ebensogut über andere
Gebiete Vorlesungen halten wie über Floristik,
Pflanzengeographie oder Biologie.') — Es ist kein
Wunder, daß er eine Reihe begeisterter Schüler
hatte, die ihm über das Grab hinaus die Treue
halten und die nicht begreifen können, daß man
einem solchen Mann gelegentlich die Lehrbe-
fähigung absprechen konnte. Seine Universitäts-
vorlesungen sollen allerdings nicht ganz leicht
verständlich für den Anfänger gewesen sein, wie
denn auch der Stil seiner wissenschaftlichen Ar-
beiten nichts weniger als populär war. In dem
Bestreben nach Gründlichkeit und unter dem
Zwang, in möglichster Kürze seine Anschauungen
darzustellen, verfiel er leicht in den Fehler, zuviel
zu sagen, wo er sich hätte beschränken müssen,
um ein Meister der Darstellung zu werden, wie
er es auf Exkursionen und in kleineren Zirkeln
war. Seine Schüler sind besonders begeistert von
den Nachsitzungen in Vereinen oder nach Ex-
kursionen, wo sie oft bis zum frühen Morgen
den Worten ihres Meisters lauschen konnten, ohne
zu ermüden. In diesen nichtoffiziellen Sitzungen,
in denen der Zwang des Uhrzeigers fortfiel, konnte
sich die ganze Persönlichkeit August Schulz'
ausleben, die ihre Wirkung auf seine Zuhörer
niemals verfehlte. Hier, im engeren Kreise, kam
natürlich auch die rein menschliche Seite des
Verstorbenen zur Geltung: sein Sarkasmus, seine
P"ähigkeit, den Vortrag durch Wiedergabe kleiner
Anekdoten zu beleben und seine humorvolle Art,
die Bitterkeit des alten Privatdozenten, der jüngere
Leute und sogar eigene Schüler in geachtete
Stellungen aufrücken sieht, zu versüßen. — Man
kann es verstehen, daß sich in diesem Manne,
dessen wissenschaftliche Leistungen auf dem Ge-
biete der Blütenbiologie, der Pflanzengeographie,
der Florengeschichte, der Geschichte der Botanik
und vor allem der Geschichte der Getreidearten
') Nähere biographische Daten und eine V^^ürdigung der
wissenschaftlichen Leistungen, sowie ein Literaturverzeichnis
finden die Leser im nächstens erscheinenden Generalver-
sammlungsbeft der Berichte der Deutsch, botan. Gesellschaft
aus der berufenen Feder von Prof. H. Harms.
29«
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 21
unvergessen bleiben, allmählich die fixe Idee fest-
setzen konnte, daß seine wissenschaftlichen Wider-
sacher ein Komplott geschmiedet hätten, um ihn
nicht aufkommen zu lassen. — Als es ihm
pekuniär noch einigermaßen gut ging und die
Resignation noch keinen Besitz von seiner Seele
ergriffen hatte, wußte er sich mit einem gewissen
Gleichmut in seine Lage zu schicken, und er
konnte darüber lachen, als ihm zu Ohren kam,
daß man die Studenten vor ihm, als Verderber
der Jugend, gewarnt hätte. War er doch in guter
Gesellschaft und fürchtete nicht den Schierlings-
becher, der dem Leben des griechischen Jugend-
verderbers ein Ende bereitete.
August Schulz hatte ein kleines Vermögen,
das ihn über Wasser hielt, und was er bei seinen
bescheidenen Ansprüchen sonst noch brauchte,
verschaffte er sich durch literarische Arbeiten
aller Art. So soll er für die „Fliegenden Blätter"
und andere Witzblätter gearbeitet haben, auch
für konservative Zeitungen war er tätig; eine
Zeitlang war er in einem Leipziger belletristischen
Verlag als Redakteur beschäftigt, und mehrere
Jahre lang schrieb er Musik- und Theaterkritiken
für das jetzt nicht mehr existierende Hallesche
Tageblatt. Von dieser literarischen Tätigkeit
haben sich merkwürdigerweise keine Belege in
seinem Nachlaß gefunden ; er muß alles vernichtet
haben, vielleicht, weil ihm die Sachen nicht mehr
gefielen. Es war eine wunderliche Eigentümlich-
keit von ihm, daß er, der sonst jeden Brief, jede
Notiz, jede Kritik über seine wissenschaftlichen
Schriften aufhob, alles verleugnete, was ihm nicht
mehr paßte, selbst manche seiner ersten botani-
schen Arbeiten. Damals, als er sich noch als
freier iVIann fühlte, sprach er gerne von dieser
nicht botanischen Tätigkeit. „Wissen Sie, ich
bin Journalist und pfeife auf die Geheimräte."
Wenn die „Geheimräte" ihm das wirklich übel
genommen haben sollten, so waren sie schlechte
Psychologen und verstanden es nicht, in der Seele
August Schulz zu lesen, dessen ganze Geistes-
richtung vollkommen die eines reinen Gelehrten
war und dessen journalistische Begabung, wenn
wir diese nach dem Stil seiner wissenschaftlichen
Publikationen beurteilen dürfen, sicher nicht seinen
Kenntnissen auf allen möglichen Gebieten adäquat
war. Wer August Schulz länger kannte, wer
wußte, daß das Forschen und Lehren ihm innerster
Lebensberuf war, der begreift, daß sein ganzes
Streben sich auf eine akademische Stellung kon-
zentrierte, und daß er diese nicht erreichen konnte,
ist für ihn viel tragischer als für jemanden, der
ein wenig anpassungsfähiger an das Leben, etwas
praktischer und weniger idealistisch veranlagt ist. —
Als August Schulz älter wurde und zu-
weilen die Hoffnung auf eine etatsmäßige Pro-
fessur auch innerlich aufgab, verschwand zuzeiten
sein befreiender Humor und mit ihm die Spann-
kraft; er wurde etwas „mürbe" und verbittert, und
seine politischen Anschauungen schlugen um. Er
„pfiff" nun nicht mehr auf seine „Geheimräte",
sondern wünschte sie samt und sonders an den
Galgen, wenn er gut aufgelegt war. Er bekannte
sich zum radikalsten Kommunismus und wäre
wahrscheinlich wegen seiner Ungeschicklichkeit
als erster von den vermeintlichen Genossen er-
schossen worden, wenn er in den Strudel hinein-
gerissen worden wäre. Wie in allen praktischen
Dingen versagte er auch in der Politik; er war
ein großes gutes Kind, das mit der Welt nicht
fertig zu werden wußte. Als er die Stellung eines
Bibliothekars an der Carolinisch-Leopoldinischen
Akademie der Naturforscher angenommen hatte
und Hilfsbibliothekar an der Universitätsbibliothek
wurde, vergaß er bald, daß er diese Stellungen
ursprünglich des Gelderwerbs wegen angetreten
hatte; er vertiefte sich so in das Bibliothekswesen,
daß er sich einbilden konnte, der geborene Biblio-
thekar zu sein, wie er früher glaubte, Journalist
zu sein. Seine große Gewissenhaftigkeit und die
Neigung, alles was er tat, mit wissenschaftlichem
Ernst zu betreiben, befähigte ihn natürlich, seinen
Posten auszufüllen und er wußte, für sich wenigstens,
seine Tätigkeit auf ein Niveau zu bringen, das
ihn innerlich einigermaßen befriedigte. Ich weiß
nicht, ob seine Art die volle Anerkennung seiner
Behörden gefunden hat, die er erwartete; jeden-
falls war er völlig niedergeschlagen, als die Leo-
poldina ihm seine Stellung, die jetzt, 1922, immer
noch 1800 M. jährlich eintrug, aus Geldmangel
kündigte. Er war so verwachsen mit der Bibliothek
und der Akademie, daß er sich selbst für einen
integrierenden Bestandteil dieses Institutes hielt,
daß sich als „Kaiserliches" Requisit aus dem
heiligen römischen Reiche Deutscher Nation durch
alle Fährlichkeiten der Weltgeschichte bis über
die Revolution hinaus erhalten hatte. Der „Kom-
munist" war stolz auf diese „Kaiserliche" Aka-
demie; sein Sinn für alles Historische und Tra-
ditionelle hätte sich aufgebäumt, wenn Adolf
Hoffmann seiner Zeit daran gedacht hätte, mit
dem „alten Plunder" aufzuräumen. Ihn schmerzte,
obwohl er hungern mußte, viel weniger der Ver-
lust der 1800 M., als daß man seine Stellung für
mehr oder weniger überflüssig zu halten schien.
Allerdings tat ihm auch der Verlust der kleinen
Summe weh, denn wenn man zum Leben in
heutiger Zeit knapp 10 000 IVI. zur Verfügung hat,
dann bedeuten 1800 IM. immerhin zwei Monate
Lebensunterhalt. Ich war zu dieser Zeit gerade
in Halle, wenige Wochen vor seinem Tode und
er führte mich an seinen Mittagstisch in einem
Wohltätigkeitsinstitut der inneren Mission, wenn
ich nicht irre. Man konnte dort für wenige Mark
ein frugales Essen haben; alte Pensionäre, arme
Studenten, kleine Rentner und was sonst mit der
Not des Lebens zu kämpfen hatte, waren unsere
Tischgenossen. Es war recht deprimierend für
mich, an diesem Ort der Darbenden mit einem
Mann zu sitzen, über den der greise Seh wein -
furth in einem Briefe an die Braut des Ver-
storbenen schrieb: „Unersetzlich scheint mir z. Z.
sein Verlust in der Erforschung der Getreidearten.
N. F. XXI. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
299
Er war nach Fr. Ko ernick es Tode der einzige
Botaniker, der diese schwierigen Fragen voll-
kommen beherrschte." August Schulz fand
das Essen ausgezeichnet ; er lebte noch so in der
Kriegszeit, daß es ihm nur auf den Kalorienwert
ankam. Geradezu rührend war es, als er, wie
wir bei einem gemeinsamen Freunde zu Gast
waren, alles ablehnte, was über das Notwendigste
hinausging, mit der Begründung, daß er sonst
am nächsten Tage das Gute entbehren müsse,
was ihm Qualen bereiten könne.
In den letzten paar Monaten seines Lebens
hielt ihn die Hoffnung auf endliche Bezahlung
seiner Lehraufträge in Spannung, weil er seine
Braut heiraten wollte. Seit dem Tode seiner
Mutter, für die er mitsorgen mußte, fühlte er sich
sehr vereinsamt, aber ein gütiges Geschick ließ
ihn vor nicht allzulanger Zeit in der Schwester
eines Jugendfreundes eine Frau finden, mit der
er den Rest seiner Tage zu verleben hoffte. Acht
Tage vor seinem Tode ging sein Wunsch in Er-
füllung; ganze 14000 M. wurden ihm zugebilligt,
so daß ihm, dem bald 60jährigen etwa 24000 M.
zur Begründung eines eigenen Haushaltes zur
Verfügung gestanden hätten.
Wie war es möglich, daß ein Gelehrter von
der Bedeutung AugustSchulz so enden konnte ?
Wie war es möglich, daß ein Mann von so sel-
tenem Idealismus immer noch, trotz allen Ent-
täuschungen im Leben, immer noch zu hoffen
wagte, daß ihm das große Los in den Schoß
fallen könne? Immer wieder wurde die Resig-
nation durch sein sanguinisches Temperament
verdrängt, das ihm in den letzten Jahren seines
Lebens noch die Kraft gab, sich in ein ganz neues
Gebiet, die Ägyptologie, einzuarbeiten, deren
Kenntnis ihm für seine Getreideforschungen uner-
läßlich zu sein schien. Wo finden wir den
Schlüssel zu diesem eigenartigen Charakter?
Sicher nicht allein in den äußeren Umstanden
seines vielgestaltigen Lebens, das ebenso inter-
essant wie ungewöhnlich verlief. Als Sohn eines
Beamten wurde er in seinen Knabenjahren von
einem Ort zum andern geschoben. In Stettin
geboren, als Protestant erzogen, fand er in Mün-
ster i. W. seine zweite Heimat, wo er in katho-
lische Kreise geriet, die einen dauernden Einfluß
auf den Jüngling gewannen, wie auf so viele,
denen der Rationalismus nicht liegt. Seine außer-
ordentlich strenge, auf Herkommen und Sitte ge-
richtete Lebensanschauung, seine Neigung zur
Romantik und Mystik, seine Liebe zur Musik,
seine Bewunderung der katholischen Charitas, der
Verkehr mit geistreichen Jesuiten — das alles
ließ ihn die katholische Kirche lieb gewinnen.
Sein langer Aufenthalt in Halle, dieser protestan-
tischsten aller Städte, vermochte nicht, seine
Jugendeindrücke zu verwischen. Er hat sich nie
wohl gefühlt in Halle; Westfalen blieb seine
eigentliche Heimat und die Weser war ihm der
Ganges des Abendlandes. Nie habe ich August
Schulz so wohlauf gesehen, wie vor einigen
Jahren, als wir von Höxter nach Corvey gingen
und in dem alten Kloster die schöne Bibliothek,
die einst Hoffmann von Fallersleben ver-
waltete, besichtigten. Dort vergaß er alle seine
Leiden, seine Schwerhörigkeit, seine halbe Lunge
und seine sonstigen leiblichen und seelischen Ge-
brechen. — Trotzdem schien er sich als Wohnort
keine andere Stadt als Halle denken zu können,
wo er seit seiner letzten Gymnasialzeit in schon
vorgerückten Jahren bis zu seinem Tode ohne
große Unterbrechungen lebte. Hier studierte er
anfänglich Philologie, gab das Studium aber auf,
weil er das für den Lehrberuf notwendige Ge-
sundheitsattest nicht erhalten konnte. Er wandte
sich dann der Medizin zu, und da er wegen seines
sich verschlimmernden Gehörleidens als prakti-
scher Arzt nicht tätig sein konnte, so wurde er
Spezialarzt für Augenkrankheiten. Auch diesen
Beruf mußte er aufgeben, da er wegen einer
Schwäche in der Hand keine operativen Eingriffe
machen konnte. Er war dann einige Zeit als
Polizeiarzt tätig, konnte aber auch diese Praxis
nicht lange Zeit ausüben, da er sehr empfänglich
für allerlei Hautkrankheiten war. Äußerst charak-
teristisch für August Schulz war die Eingabe
der Prostituierten an den Magistrat, man möchte
ihnen doch diesen Arzt lassen, der als erster sie
wie Menschen behandelt hätte. Sie hatten ge-
glaubt, daß man August Schulz gekündigt
hatte und wußten nicht, daß er aus eigenem An-
trieb die Stellung niedergelegt hatte. — Also mit
der Medizin war es auch nichts; er wollte sich
nun der Jurisprudenz zuwenden, mußte aber
wegen erneuter Erkrankung davon absehen. Er
verbrachte dann einige Jahre in Bädern und Kur-
anstalten, besonders im Riesengebirge und fing
wieder an, sich mit Botanik zu beschäftigen. Er
hatte schon früher eine Reihe von botanischen
Abhandlungen veröffentlicht und er beschloß, seine
naturwissenschaftlichen Studien wieder mit Ernst
aufzunehmen. 1893 verfaßte er eine botanische
Doktorarbeit und im Jahre darauf habilitierte er
sich als Privatdozent. Abgesehen von seiner
literarisch - wissenschaftlichen Arbeit entfaltete er
nun in den verschiedensten naturwissenschaftlichen
Vereinen eine reiche Tätigkeit und er fand hier
wegen seiner ausgezeichneten Exkursionsleitung,
seiner großen Lehrbefähigung und seines stets
liebenswürdig gefälligen Wesens gegen jedermann
die gleiche Anerkennung wie bei seinen Studenten.
Jeder, der irgendwie mit August Schulz zu
tun hatte, ist voll des Lobes über seine Hilfs-
bereitschaft, seine Güte und Opferwilligkeit.
Wer sich als Privatdozent habilitiert, will natür-
lich ordentlicher Professor werden; er weiß aber,
daß er durch die Habilitation keine Anwartschaft
auf eine Professur hat; er weiß, daß sehr tüchtige
Gelehrte ihre Dozentur ohne Erfolg ausübten und
er weiß vor allem, daß hervorragende Menschen
nicht über den Extraordinarius hinausgekommen
sind. Das alles wußte August Schulz natür-
lich auch; davon zeugt der erwähnte Ausspruch
30Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 22
über seinen Journalismus, wodurch er zum Aus-
druck bringen wollte, daß ihn äußere Mißerfolge
nicht von seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit
abbringen könnten. Da er in der Lage war, wenn
auch mit bescheidenen Mitteln, sein Leben in
äußerer Unabhängigkeit zu fristen, so blieb er
Privatdozent. Nach seinen früheren Mißerfolgen
auf anderen Gebieten und bei seinen vielen kör-
perlichen Leiden wäre es ihm auch unmöglich
gewesen, von neuem umzusatteln.
Wenn wir August Schulz in seinem Wesen
ganz verstehen wollen, so müssen wir Umschau
halten nach ähnlichen Charakteren und mir
scheint, daß Cervantes derjenige Schriftsteller
ist, der ihn uns am besten verstehen lehrt. Tur-
geniew hat einmal einen Vortrag über Hamlet
und Don Quixote gehalten und er nennt die
Geistesrichtungen dieser Männer die „zwei«grund-
legenden Richtungen des menschlichen Geistes".
Natürlich gibt es „nach der weisen Anordnung
der Natur keine vollständigen Hamlete, wie auch
keine vollständigen Don Quixote", sondern „das
sind die letzten Ausdrucksformen zweier Rich-
tungen". August Schulz war eine Don
Quixote - Natur und das war sein Verhängnis. —
Ludwig Braun fels, der Übersetzer des Don
Quixote, sagt von Cervantes, er stelle seinen
Landjunker „in einen beständigen und unversöhn-
lichen Gegensatz zu den Anschauungen und der
Handlungsweise des wirklichen Lebens und bringt
ihn dadurch in Lagen und Verhältnisse, die keine
Lösung gestatten, wenn der Junker sich nicht
dazu aufraffen kann, den Knoten zu durchhauen,
die Berechtigung seines phantastischen Strebens
aufzugeben, also die Unwahrheit und Torheit
seines Rittertums anzuerkennen; ein Endergebnis,
das nur mit dem Tode Don Quixotes eintreten
kann". Don Quixote „ist ein vortreffliches reines
Gemüt, er hat ein feines Gefühl, ist voll Anstand
und Höflichkeit ; kurz, er ist das Bild des wahren
Weisen, — solange man nicht an den wunden
Punkt rührt, an das Ritterwesen und dessen
Wiederherstellung". ,,Sein ritterlich begeisterter
Trieb bringt ihn stündlich in einen immer un-
möglicheren Gegenkampf mit dem Leben, aber
keine fühlbar schmerzliche Erfahrung kann ihm
ein Anlaß werden, den Glauben, durch den und
mit dem er lebt, aufzugeben oder nur eines Irr-
tums zu zeihen. Der Idealist gibt in jedem
Konflikt sich selbst immer recht." Turgeniew
in seinem oben zitierten Vortrag weist dann noch
auf eine andere Seite im Charakter Don Quixotes
hin: „Andererseits müssen wir auch an dem ehr-
lichen, wahrhaftigen Don Quixote die Neigung
zur Selbstverhcrrlichung und zum halb unbe-
wußten, halb unschuldigen Betrug feststellen, eine
Neigung, die fast immer mit der Phantasie eines
Enthusiasten zusammenhängt."
Wenn man diese Charakterschilderungen liest,
so ist man erstaunt, wie fast jeder Satz auf unsern
August Schulz paßt. Er stand in der Tat
in unversöhnlichem Gegensatz zu den Anschau-
ungen und der Handlungsweise des wirklichen
Lebens. Er war ernstlich überzeugt, daß ein
makelloser Lebenswandel und wissenschaftliche
Leistungen genügen, um zu einer Professur zu
gelangen. Es zeugt von einer geradezu phantasti-
schen Lebensauffassung, die Realitäten des Lebens
so ganz außer acht zu lassen. August Schulz
mußte doch die Methode kennen, nach der die
Berufungen erfolgen und er mußte wissen, daß
neben wissenschaftlicher Leistung eine ganze
Reihe von Faktoren ausschlaggebend sind, die
mit der Gelehrsamkeit nichts zu tun haben. Wie
wir gehört haben, soll seine Lehrbefähigung ge-
legentlich angezweifelt worden sein, auch sein
Gesundheitszustand mag hin und wieder aus-
schlaggebend gewesen sein, aber der eigentliche
Grund, weshalb er nicht berufen wurde, liegt doch
wohl anderswo, — in der Unfähigkeit, die „Tor-
heit seines Rittertums" aufzugeben und das Un-
vermögen , durch „keine fühlbar schmerzliche
Erfahrung" „den Glauben, durch den und mit dem
er lebte, aufzugeben". Der phantastische Glaube
an die „selbstverständliche" äußere Anerkennung
seiner Leistungen in Form einer Berufung war so
stark in ihm, daß er es absolut nicht verstehen
konnte, wie selbst seine in der Form allzuschroffen
Angriffe auf seine Kritiker ihm schaden könnten.
Zur Ehre unserer Wissenschaft muß jeder objektiv
urteilende Mensch anerkennen, daß die Leistungen
eines Forschers, mag er sein wer er will, im
großen und ganzen die gebührende Würdigung
finden. Man kann auch nicht behaupten, daß die
erfolgten Berufungen im allgemeinen ungerecht
seien. Aber man darf eben nie vergessen, daß
auch die größten Gelehrten Menschen mit mensch-
lichen Schwächen sind, und man darf es ihnen
nicht verargen, wenn sie bei gleichen Leistungen
demjenigen den Vorzug geben, der ihnen als
Mensch am geeignetsten erscheint, in ihre Ge-
meinschaft aufgenommen zu werden. Man hat
gesagt, die Schlußfolgerungen in den Arbeiten
August Schulz seien oft etwas phantasievoll,
aber ohne Phantasie läßt sich in den mehr „sub-
jektiven" historischen Wissenschaften noch weniger
erreichen als in den sog. exakten Wissenschaften.
Es wird aber selbst der ärgste Widersacher einem
Mann mit entgegengesetzter Anschauung aus
diesem Gegensatz keinen Strick drehen, wenn er
ein befähigter Kopf ist. Ich glaube daher nicht,
daß die Leistungen August Schulz' es sind,
die ihn Schiffbruch leiden ließen, sondern ledig-
lich die Art, wie er sich zur Welt und denjenigen
stellte, in deren Verband er aufgenommen wer-
den wollte. Es war eben seine Don Quixote-
Natur, die ihn hinderte, einzusehen, daß er hätte
das System der Berufungen bekämpfen müssen
anstatt die „Geheimräte". Es gibt ja in anderen
Ländern andere Systeme, die vielleicht gerechter
sind und wo lediglich die wissenschaftlichen
Leistungen — wenigstens theoretisch — maß-
gebend sind, wie in Schweden z. B. — Wenn
man mit Schulz darüber sprach, so gab er das
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auch zu, aber er blieb trotzdem bei seinem Wind-
mühlenkampf, „der Idealist gab sich selbst immer
recht". Was Turgeniew über die Neigung
Don Quixotes zur Selbstverherrlichung und
zum halb unbewußten, halb unschuldigem
Betrug sagt, den man fast immer in Zusammen-
hang mit der Phantasie eines Enthusiasten bringen
kann, stimmt auch bis zu einem gewissen Grade
fürAugustSchulz. Die „Selbstverherrlichung"
hielt sich immer in Grenzen, die nie unangenehm
wirkten, sie ging nie weiter als es die Abwehr
der gegen ihn gerichteten Angriffe erforderte und
kam stets in einer taktvollen und oft sympathischen
Weise zum Ausdruck; und was den „Betrug"
anbelangt, so tat dieser niemandem weh, da
August Schulz sich immer nur selbst betrog.
Wir hörten, daß er Publikationen, die ihm nicht
gefielen, verleugnete ; er wollte in seiner kommu-
nistischen Periode nichts von seiner konservativen
wissen; er sprach von seiner erst kürzlich er-
folgten Verlobung, wie wenn er schon 20 Jahre
verlobt sei; er übertrieb oft seine körperlichen
Leiden, aber alles ohne Absicht und Hinterge-
danken. Wahrheit und Dichtung gingen zuweilen
ineinander über und gerade das machte diesen
eigenartigen Menschen so anziehend, wenn man
mit ihm sprach. Er konnte nicht aus seiner Haut
und er vermochte den Knoten, der ihn mit der
Welt verband, nicht zu durchhauen; nur der Tod
konnte ihn lösen.
Als der Ritter von der Mancha auf dem Sterbe-
bette lag, wollte ihn sein alter Waffenträger
trösten und sagte, daß sie bald wieder einen
Ritterzug unternehmen würden. Don Quixote
aber antwortet ihm, daß das alles für immer vor-
bei sei. „Ich bin nicht mehr Don Quixote von
der Mancha, ich bin Alonzo Quirano, den man
einst wegen seines schlechten und rechten Wandeins
den Guten zu nennen pflegte, — Alonzo el Bueno."
So starb auch August Schulz. Als ich ihn
drei Tage vor seinem Tode besuchte, war auch
äußerlich alles von ihm gewichen, was an den
Ritter von der Mancha erinnerte; er lag da wie
ein Christus, der das Leid der Welt auf sich ge-
nommen hatte, ganz Güte, Liebe und Reinheit.
Sein Tod „erfüllt die Seele mit einer unaussprech-
lichen Rührung. In diesem Augenblick wird die
große Bedeutung dieser Gestalt jedem einzelnen
nahegebracht", wie Turgeniew vom Tode Don
Quixotes sagt.
Ich habe versucht, in diesen Zeilen den sonder-
baren Mann, der so viel leiden mußte, dem Ver-
ständnis der Nachwelt nahe zu bringen. Alles,
was Bewunderung, Freundschaft und Gerechtig-
keit vermochte, habe ich ihm zu teil werden
lassen. Und wenn auch größere, als August
Schulz in Armut und Elend gestorben sind —
auch Cervantes gehörte zu ihnen — , so bleibt
doch stets ein bitteres Gefühl gegen die Welt
zurück, die es zuließ, daß dieser deutsche Gelehrte
besonders in den letzten Jahren seines Lebens
unter den Nachwehen des Krieges so schwer zu
leiden hatte.
Das Vogelleben auf dem Koralleueilaud Laysau im Stilleu Ozeau.
[Nachdruck verboten.]
Von Prof. Dr. V. Büttel-
Fast inmitten des Stillen Ozeans etwas nörd-
lich vom Wendekreis des Krebses liegen, noch
innerhalb der Passatwinde, einige winzige Inseln,
die sich kaum über die Fluten erheben, darunter
die Insel Laysan. Von Honolulu ist sie etwa
800 Seemeilen entfernt, von Amerika und Asien
trennen sie Tausende von Meilen. So liegen diese
unbewohnten Koralleninseln mutterseelenallein und
nur zwei- bis dreimal im Jahre sendet eine Ge-
sellschaft in Honolulu ein Segelschiff dorthin, um
den auf Laysan vorkommenden Guano auszu-
beuten.
Vor rund 25 Jahren weilte auf diesem Eiland
ein deutscher Forscher Prof. Dr. Schauinsland,
Direktor des Naturhistorischen Museums in Bre-
men, um naturwissenschaftlichen Studien aller Art
nachzugehen. Wir wollen uns hier, nur mit seinen
überaus interessanten Schilderungen der Vogel-
welt auf dieser Insel beschäftigen, die so gut wie
gar nicht zur Beachtung gelangten , trotzdem
sie besonders auch nach der tierpsychologischen
Seite hin von Bedeutung sind und auch sonst so
überaus reizvoll erscheinen, daß ein allgemeineres
Interesse damit verbunden ist.
Reepen, Oldenburg i. Old.
Schauinsland berichtete über seine Reise
in einigen Feuilletons der Weser- Zeitung (1899)
und in einer Broschüre: „Drei Monate auf einer
Koralleninsel", die im gleichen Jahre in einem
wenig bekannten Verlage erschien und die seit
langem vergriffen ist.
Als Schauinsland in Laysan im Juni des
Jahres 1896 landete, war er zuerst enttäuscht.
„Wüßte man nicht," so schreibt er, „daß man
sich hier mitten im Stillen Ozean befände und
fast noch in den Tropen, so hätte man gewähnt,
eine der ostfriesischen Inseln vor sich zu haben;
ebenso wie diese tauchte sie aus dem Meere
empor, ebenso sandig waren ihre Ufer, ebenso
fahl ihr Grün. Laysan ist nur klein, drei eng-
lische Meilen lang und zwei breit; in zwei Stunden
kann man sie bequem umschreiten; ihre höchste
Erhebung beträgt etwa 30 Fuß, doch bleibt der
größte Teil der Insel noch bedeutend unter dieser
Höhe."
Wer nie auf einer Koralleninsel geweilt hat,
denkt sich die Bodengestaltung nicht so, wie
Schauinsland sie vorfand. So möge erwähnt
werden, daß der Boden im Innern der Insel fast
302
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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ausschließlich aus Sand gebildet wird. Es ist
aber nicht jener Quarzsand, den wir bei unseren
Nordseeinseln kennen, sondern er wird einzig und
allein aus Kalkpartikelchen zusammengesetzt,
welche von Korallen und Molluskenschalen her-
rühren, die durch Wogen und Stürme zerrieben
wurden. Auch Gesteine finden sich von mehr
oder minder fester Struktur; es sind zusammen-
gekittete Korallen und Muschelstücke, sowie Riffe,
die im Innern der Insel, besonders aber am Strande
zutage treten und am südöstlichen Teil der Insel
senkrecht ins Meer abfallen. Hier zerschellen an
diesem Riff die fast immer vom kräftigen Passat
hochanschwellenden Wogen. Bei Sturm steht
dort eine turmhohe Brandung, die ein erhabenes
Schauspiel gewährt. Der Guano, der am Aufbau
der Insel beteiligt ist, stellt durchaus keine schlecht
riechende Masse vor; er ist auf Laysan ein
sauberes, völlig geruchloses Mineral. Man findet
den Guano teils ziemlich dicht unter der Ober-
fläche in mehr sandiger Form, teils in der Tiefe
von mehreren Metern als festes Gestein, welches
mit Hacke und Schaufel gebrochen werden muß.
Die Entstehung dieses Stoffes findet hier offenbar
in anderer Weise statt, als auf den berühmten
völlig regenlosen Guanoinseln an der Küste Perus
und Chiles. Auf Laysan regnet es nicht selten
und bisweilen mit großer Heftigkeit. Schau-
insland erklärt sich daher den Vorgang der
Guanobildung auf folgende Weise. Während
außerordentlich langer Zeiträume wurde die Insel
von ungezählten Scharen brütender Seevögel be-
sucht. Ihre auf den durchlässigen Sand der Insel
abgelegten Dungmassen wurden durch den Regen
ausgelaugt, das damit getränkte Wasser sickerte
in die Tiefe und imprägnierte die dort befind-
lichen Kalksande und Gesteine. Es entstanden
chemische Verbindungen zum größten Teil phos-
phorsaure Kalke. Nicht selten fand Sc hau ins -
«t land von letzteren ganze Drusen schöner reiner
Kristalle. Verhältnismäßig häufig kommen in
diesen Lagerstätten Knochen und versteinerte
wohlerhaltene Vogeleier vor, aus denen es her-
vorgeht, daß schon damals die die Insel be-
völkernden Vogelscharen dieselben waren, wie
sie noch heute dort angetroffen werden, namentlich
waren es Albatrosse und einige größere Sturm-
taucher (Puffinus). Auch fand Schauinsland
in diesen Ablagerungen zahlreiche hartsamige
Früchte, Nüsse, Harzmassen und vor allem rund-
liche Bimsteinstücke, die sicherlich alle einmal
den Magen der gefräßigen Vögel passiert haben,
welche alle jenen auf dem Meere treibenden Stoff
wahllos verschluckten, als sie hungernd die Wasser-
oberfläche nach Nahrung durchspähten. Schau-
insland beobachtete mit Bestimmtheit, daß das
auch heute noch vorkommt und häufig hat er
sich darüber gewundert, welche kolossalen Bim-
steinbrocken so ein Albatrosmagen in sich be-
herbergen konnte.
Da das Vogcllcben auf Laysan nicht nur Be-
ziehungen hat zu den eben besprochenen Boden-
verhältnissen sondern auch zur Vegetation, so
folgen wir auch hier den Angaben des Forschers
nach dieser Richtung hin.
Zu den charakteristischen Pflanzen der Insel
gehört zunächst ein Gras mit langen schilfigen
Blättern (Eragrostis Hawaiiensis Hdb.), das an
niedrigen und somit fruchtbaren Stellen der Insel
mannshoch werden kann, an trockneren dagegen
nur die Höhe von einem Meter erreicht. Es
wächst nicht in zusammenhängenden Rasen,
sondern in einzelnen Büscheln, deren Wurzelstock
*/^ — '/,, Meter Durchmesser hat. Indem zwischen
den einzelnen Büschen ein mehr oder weniger
großer, freier Zwischenraum bleibt, bekommt
hierdurch die Vegetation der Insel, die über-
wiegend durch dieses Gras gebildet wird, ein
äußerst charakteristisches Ansehen. Neben jenem
Gras ist eine Melde (Chenopodium Sandwicheum
Mog.), die in Blättern und Blüten große Ähnüch-
keit mit unserer Gartenmelde besitzt, die häufigste
Pflanze der Insel. Sie bildet einen sich stark ver-
ästelnden Strauch von % — 2 Meter Höhe, dessen
Stamm in alten Exemplaren fast die Dicke eines
Armes erreichen kann. Dadurch, daß sich die
einzelnen Büsche bereits von der Wurzel aus
verästeln und außerdem auch durch das Inein-
andergreifen des Astwerkes der ziemlich dicht
nebeneinander stehenden Pflanzen wird ein Ge-
strüpp erzeugt, welches kaum zu durchbrechen
ist. Dieses bietet nicht nur das beliebteste Ver-
steck für die kleinen Landvögel der Insel, sondern
es wird auch von einigen dort brütenden großen
Seevögeln, den Tölpeln und den Fregattvögeln
ausschließlich zur Anlage ihrer Nester benutzt,
indem sie auf den Gipfeln der Büsche Äste zu-
sammenbiegen und diese mit abgebrochenen
Zweigen verflechten.
Hier stoßen wir schon auf etwas sehr Selt-
sames: Landvögel! auf dieser winzigen ozeanischen
Insel, die in ungeheurer Abgeschiedenheit aus den
Fluten des Pazifik auftaucht und Möven, die in-
folge des Platzmangels auf Büschen nisten. Doch
ich komme hierauf noch zurück.
Leider muß ich es mir versagen, manches aus
dem fesselnden Bericht Schauinslands über
die eigenartige Flora anzuführen, da es nicht in
direkter Beziehung zu dem Vogelleben steht, auf
das ich mich, um nicht zu ausführlich zu werden,
beschränken muß. Es sei nur erwähnt, daß fast
alle Blüten, selbst die ganz unscheinbaren, auf
Laysan einen höchst angenehmen Duft ausströmen,
obgleich die Insel eine große Armut an Insekten
aufweist und man doch anzunehmen pflegt, daß
Farbe und Duft der Blüte nur Lockmittel für die
Insekten sind, deren die Pflanzen zu ihrer Be-
fruchtung bedürfen. Alle einzelstehenden Pflanzen
zeigten, wenn sie niedrig sind, einen rosetten-
artigen Wuchs, wogegen die höheren mit ihren
Zweigen eine gewölbte, domartige Kuppel bilden.
Noch vor gar nicht langer Zeit müssen Palmen
in sehr großer Zahl auf der Insel vorhanden ge-
wesen sein. Schauinsland fand nur noch ihre
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
303
Stümpfe. Vielleicht sind sie von armen Schiff-
brüchigen abgeschlagen worden. So gab es
keinen schattigen Platz auf der ganzen Insel.
Den weitaus interessantesten Teil der Land-
fauna der Insel bildeten die Vögel. Ist es nicht
in der Tat wunderbar, daß hier auf diesem
winzigen Eiland mitten im unendlichen Ozean
fünf verschiedene Landvögel gefunden wurden,
die sonst nirgends auf der ganzen Erde mehr vor-
kommen ? Es sind eine Ente, eine Ralle und drei
kleine Singvögel. Sie sind nach Schauinslands
Ansicht, der Überrest der Fauna eines jetzt bis
auf diese kleinen Inselchen versunkenen Landes.
Die durchaus einleuchtenden Begründungen des
Forschers können hier nicht weiter behandelt
werden. Ich erwähne nur kurz, daß Schau ins-
land Basaltblöcke auf Laysan fand, die nicht
durch Boote herbeigebracht sein konnten, sondern
dem vulkanischen Kern der Insel entstammen
müssen.
Auch schon aus dem Benehmen der Landvögel
auf der Insel könnte man, so meint Schau in s -
land, den Schluß ziehen, daß sie nur die letzten
Überreste eines ehemals zahlreichen Vogelvolkes
sind.
Bevor ich nun dem Forscher selbst das Wort
gebe, erwähne ich, daß seine Frau als Assistentin
die Einsamkeit des Eilandes mit ihm teilte und
sich als ausgezeichnete Hilfskraft bewährte. Eine
Bretterbude, neben dem für den zeitweilig dort
weilenden Aufseher der Insel errichteten Gebäude,
diente ihnen als Aufenthaltsort und ein Teil des
Aufseherhäuschens als Laboratorium.
„Die Landvögel tragen, ich möchte fast sagen,
ein gedrücktes Wesen zur Schau, sie sind nicht
mehr die Herrscher in dem Gebiet, das sie be-
wohnen; nie sieht man sie lustig jubelnd in die
Lüfte steigen; nur niedrig über dem Erdboden
dahinfliegend schlüpfen sie von Busch zu Busch;
hart haben sie um ihre Existenz ringen müssen,
denn sie wurden gezwungen, sich an einen Aufent-
haltsort und an Lebensgewohnheiten anzupassen,
die ihnen ursprünglich ganz fremd waren. Nur
sie, die imstande waren, alle Wandlungen ihres
ursprünglichen Wohnsitzes mitzumachen, blieben
erhalten, die anderen gingen unter. Diese An-
passungen sind teilweise sehr interessant. Die
Herrschenden auf der Insel sind die Seevögel,
ihnen mußten sie sich unterordnen, durch sie
fristen sie zum Teil aber auch wieder ihr Dasein.
Der eine finkenartige Vogel (Telespiza cantans
Wils.), früher offenbar ein Körnerfresser, ist fast
ganz zur Fleischnahrung übergegangen. U. a. hat
er gefunden, daß die Eier der hier fast zu allen
Jahreszeiten brütenden Seevögel ebenso nahrhaft
wie wohlschmeckend sind; mit wenigen Hieben
seines starken, scharfen Schnabels öffnet er die-
selben und schlürft behaglich ihren Inhalt; so
dreist verfährt er dabei, daß seinetwegen die
brütenden Eltern nur höchst ungern ihre Eier
selbst auch nur für Augenblicke verlassen. Wech-
seln sie bei ihrem Brutgeschäft ab, — wenn z. B.
das Männchen gesättigt vom Meere zurückkommt
und sein Weibchen ablöst, damit auch dieses sich
Nahrung holen kann, — so stellt sich der freie
Vogel dicht an die Seite des brütenden hin und
schiebt ihn derartig vom Nest herunter, daß das
Ei kaum eine Sekunde freiliegt. Und doch ist
der kleine Räuber oft imstande, seinen Diebstahl
auszuführen. So hat sich auch die kleine, nur
wenige Zoll hohe, possierliche Ralle (Porzanula
Palmeri, Froh.) an ein ganz neues Leben gewöhnt ;
ihre Flugfahigkeit büßte sie völlig ein und sie
braucht ihre kurzen Flügelstummel selbst kaum
noch zur Unterstützung ihres Laufes, wenn sie
mit mäuseartiger Geschwindigkeit wie ein Schatten
über den Sand dahinhuscht. Ursprünglich mehr
ein Sumpfvogel und auf Würmernahrung ange-
wiesen ist sie hier fast ein Allesfresser geworden,
und namentlich sind es auch wieder die Seevögcl,
welche ihren Unterhalt zu decken haben. Wenn-
gleich sie mit ihrem dünnen Schnabel auch die
hartschaligen Eier selbst nicht öffnen kann, so
sah ich sie doch nicht selten an dem leckeren
Mahl teilnehmen, wenn ein Fink dieselben zer-
brochen hatte. Selbst Vogelleichen, die hier so
häufig sind, verschmäht sie nicht und reißt sich
von ihrem verwesenden Fleisch Fetzen los; da-
neben fängt sie geschickt die herumschwirrenden
Fliegen und zahllose Käfer. — Von den anderen
will ich nur noch den kleinen niedlichen roten
Vogel erwähnen (Himatione Freethii Roth). Sein
nächster Verwandter (H. sanguinea Gmel.) ist
noch einer der häufigsten Vögel in den höher
gelegenen Teilen der hawaiischen Inseln, wo er
das Auge des Beobachters erfreut, wenn er in
den Metrosideros- Bäumen umherhuscht und aus
ihren schönen granatroten Blüten , deren Farbe
sein Kleid wunderbar ähnelt, Honig, vielleicht
auch Insekten sammelt. Auf Laysan fehlt diese
Hauptnährpflanze, emsig schlüpft aber auch hier
der Honigsauger von Gebüsch zu Gebüsch und
sucht in den Blütenkelchen nach Nahrung, indem
er namentlich die großen Blumen des früher er-
wähnten Caparis - Strauches bevorzugt. Er bietet
ein gutes Beispiel dafür, wie durch Isolierung eine
neue Art entstehen kann. Trotz seiner großen
Übereinstimmung mit der hawaiischen Form
unterscheidet er sich von dieser dennoch durch
eine etwas andere Nuance seines roten Kleides,
durch einige bräunliche Federn an der Unterseite
des Schwanzes, die bei seinem hawaiischen Ver-
wandten weiß sind, und durch seinen etwas kür-
zeren Schnabel genügend von diesem, übrigens
ist er sicherlich dieser kolibriartige Vogel, den
Kittlitz nach dem Bericht des Schiffsarztes
Isenbeck, welcher die Insel 1828 kurz besuchte,
im Jahre 1834 erwähnt; in der Tat hat er eine
gewisse Ähnlichkeit mit einem Kolibri, wenn er
von Blüte zu Blüte schwirrt. Für denjenigen,
der zum erstenmal die Insel betritt, ist die Furcht-
losigkeit und das vertrauensselige Wesen der
meisten Vögel Laysans geradezu verblüffend.
Unsere Mahlzeiten hielten wir stets in Gemein-
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Schaft mit den hübschen, gelben Finken (Telespiza).
Hatten wir uns zu Tisch gesetzt, so kamen auch
sofort einige dieser kleinen, naseweisen Burschen
angeflogen und pickten an dem Brot, das vor
uns lag, ja sie waren dreist genug, sich auf den
Tellerrand zu setzen und mit uns den Reis und
den Speck zu teilen, wir mußten sie gleich den
zudringlichen Fliegen mit der Hand verscheuchen,
wollten wir unser Mahl ungeschmälert genießen.
Saßen wir über Mittag draußen im Schatten un-
seres Häuschens und ließen uns nach angestrengter
Arbeit vom Passat erfrischen, so fand sich auch
bald einer jener zierlichen, grauen Vögelchen
(Acrocephalus familiaris Rotsch.) ein, das sich auf
unser Knie oder auf die Lehne unseres Stuhles
setzte, um uns zutraulich anzugucken, oder sein
liebliches l.ied uns vorzusingen; ja einmal wählte
sich so ein kleiner Sänger die Kante des aufge-
schlagenen Buches, das ich in der Hand hielt,
aus, und gab sein Stückchen zum Besten. Oft-
mals flöteten die Finken, übrigens die besten
Sänger der Insel, wenn wir sie erhascht hatten,
sogar noch in unserer Hand, wenngleich ich es
dahingestellt sein lassen möchte, ob das wirklich
nur Zutraulichkeit oder nicht vielmehr der Aus-
druck einer gewissen Verlegenheit gewesen sein
mag. Unsere steten Genossen bei der Arbeit
waren die possierlichen Rallen. Kaum hatten wir
die Tür zu unserem Laboratorium geöffnet, so
kamen mit uns gleichzeitig einige dieser kleinen
Gesellen hinein und durchstöberten eifrig unsere
Sammlungen, um sich an den unzähligen Fliegen,
die um diese herumschwirrten, gütlich zu tun.
Äußerst komisch war es dann, wenn sie von Zeit
zu Zeit in ihrer Jagd inne hielten und vergnügt
ihren merkwürdigen Gesang herausschmetterten,
der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Geschnarr
einer helltönenden Weckuhr besitzt, ja sie suchten
es sogar möglich zu machen auf unseren Tisch
zu hüpfen, um dort ein Stückchen Fett oder
Fleisch, das wir beim Vogelabbalgen an die Seite
gelegt hatten , unmittelbar vor unseren Fingern
wegzupicken. Dieselbe Vertraulichkeit zeigten
auch die Seevögel. Nahmen wir unseren Weg
durch eine der Albatroskolonien, so wichen die
Tiere nicht nur nicht scheu vor uns zurück, son-
dern sie blieben ruhig auf ihrem Platz sitzen, so
daß wir ihnen aus dem Wege gehen mußten,
wollten wir sie nicht durdh unsere P'ußtritte ver-
letzen; häufig genug kamen wir dabei aber doch
in so nahe Berührung, daß sie uns höchst indigniert
in die Beine kniffen, was in Anbetracht ihres
kräftigen Schnabels uns durchaus kein Vergnügen
bereitete. Das war jedenfalls das Benehmen der
jungen Albatrosse ; aber auch die a 1 1 e n wandten
sich erst dann zur Flucht, wenn sie bemerkten,
daß wir wirklich Böses gegen sie im Schilde
führten. So haben wir denn auch alle Vögel
Laysans mit wenigen Ausnahmen (Ente, Hima-
tione und diejenigen Arten, welche die Insel nur
vorübergehend besuchten) erbeutet, ohne das Ge-
wehr dabei zur Hilfe zu nehmen, die Zutraulich-
keit ging bisweilen aber schon in Frechheit über.
Ein Fregattvogel nahm einst rasch von hinten
heranschießend einem heimkehrenden japanischen
Arbeiter die Mütze vom Kopf, hob sie hoch in
die Lüfte und ließ sie erst nach einiger Zeit
wieder fallen : dieses Spiel wiederholte er an meh-
reren Tagen hintereinander.
Alles deutet darauf hin, daß der Vogelwelt
Laysans Menschen und Menschenwerk ganz un-
bekannt geblieben sind, und daß die wenigen
Jahre, während welcher die Insel besucht wird,
nicht genügt haben, ihr diese Kenntnis beizu-
bringen. Eines Tages wurde ein kurzer Signal-
mast errichtet; ein vom Meere heimkehrender
Albatros, der bis dahin wohl nie ein solches Ding
gesehen hatte, flog mit einer derartigen Vehemenz
dagegen, daß ihm durch den Anprall der eine
Flügel, wie mit einem Messer durchschnitten,
vom Rumpfe gerissen wurde. Fast ebenso tragisch
verlief ein anderer Vorfall. Ein Japaner, vom
Eiersammeln mit zwei wohlgefüllten Körben am
Arm nach Hause eilend, wurde, als er nichts
ahnend, im Vorgefühl des leckeren Mahls einher-
schritt, ebenfalls von einem dahersausenden Albatros
mit solcher Gewalt in den Nacken getroffen, daß
er dahinstürzend sich in die Tiefe der Eierkörbe
versenkte. Eine Ausnahme von diesem Benehmen
machen, wie gesagt, die meisten Vögel, welche
auf der Insel nur als Gäste verweilen , ohne dort
zu brüten. Während unter diesen der Brachvogel
(Numenius tahitiensis Gm.) noch verhältnismäßig
dreist ist und dadurch zeigt, daß seine Heimat in
einer von Menschen noch ziemlich unbewohnten
Gegend liegt, so sind die Regenpfeiferarten und
namentlich der Goldregenpfeifer (Charadrius fulvus
Gm.) äußerst scheu und lassen sich hier, wo jede
Deckung fehlt, nur mit größter Mühe beschleichen.
Um sie zu erlegen, mußte ich, häufig viele hundert
Schritte platt auf der Erde kriechend, mich ihnen
nähern oder vom Meer aus, wenn sie am Strande
Nahrung suchten, sie schwimmend überlisten. Sie
haben in ihrer Heimat wohl schon zur Genüge
die Tücke des Menschen kennen gelernt.
Laysan ist ein wahres Vogelparadies, wie es
auf der Erde zum zweitenmal wohl kaum noch
zu finden sein wird. Während die Landvögel
aber nur eine untergeordnete Stellung einnehmen
und zufrieden sein müssen, wenn sie in ihm nur
geduldet werden, so sind die herrschenden und
tonangebenden die Seevögel; alles Übrige tritt
gegen diese zurück; sie drücken der Insel ihren
Charakter auf Aus einem großen Teil des nörd-
lichen Pazifik eilen sie hierher, um ihrem Brut-
geschäft obzuliegen, für welches gerade diese Insel
mit ihrem sandigen Boden geeigneter ist, als
viele andere, die zwar auch unbewohnt sind, aber
felsigen Grund haben und somit für alle jene
Sturmvögel und Taucherarten, welche ihr Nest in
oft metertiefen Höhlen anlegen, ungeeignet sind.
Ungeheuer sind die Mengen, die hier nisten.
Schon von weitem erblicken wir wahre Vogel-
wolken über der Insel und die Scharen der um-
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305
herflatternden Seeschwalben (Haliplana fuliginosa
Peak.), welche gerade im Begriff waren, sich Nist-
plätze auszusuchen, erschienen in der Ferne wie
schwärmende Bienen. Schwer ist, solch eine
Menge nach ihrer Zahl zu schätzen; sicherlich
waren es aber Zehntausende, vielleicht auch
Hunderttausende, die diese Vogelwolken bildeten.
So ist denn buchstäblich fast jeder Quadratfuß
Landes von brütenden Vögeln besetzt, so daß es
dem dahinschreitenden Wanderer, namentlich
während der Nachtzeit, kaum möglich ist, seinen
Fuß zu setzen, ohne daß die Vögel Gefahr laufen,
von ihm verletzt zu werden. Aber nicht nur in
horizontaler Richtung breiten sich die nistenden
Vögel auf der Insel aus, sondern auch in vertikaler,
so daß sie also nicht allein nebeneinander, sondern
auch über- und untereinander hausen. Weite
Strecken, namentlich dort, wo der Sand recht
locker ist und geringe Vegetation herrscht, sind
von den in Höhlen brütenden Vögeln — den
verschiedenen Arten von Sturmtauchern — ge-
radezu unterminiert. Nichts ist beschwerlicher,
als solche Stellen zu passieren 1 Fortwährend
bricht die dünne Decke über den Höhlen durch,
und bald sinkt man mit dem einen, bald mit dem
anderen Bein bis weit über das Knie ein. Dort,
wo Gebüsch, namentlich die strauchartige IVIelde
wächst, kommt es vor, daß nicht nur zwei Par-
teien, sondern sogar vier übereinander wohnen.
Auf den Wipfeln der Gesträuche haben die Tölpel
und Fregattvögel ihr Nest aufgeschlagen; tiefer
unten im Gezweig nisten mit Vorliebe einige der
niedlichen Landvögel (meistens Acrocephalus, bis-
weilen auch Himatione); unten auf der Erde,
noch von den Ästen beschattet, brüten die präch-
tigen Tropikvögel und noch tiefer im Boden zieht
der schwarze Sturmtaucher in seiner unterirdischen
Wohnung die junge Brut auf. In vier Stock-
werken wohnen hier also die Vögel und ein Ver-
gleich mit den Mietskasernen der großen Städte
ist wirklich naheliegend; wie dort die Menschen
aus Mangel an Raum sich von den Mansarden
bis zu den Kellerwohnungen herab einschachteln,
sind auch hier auf dem übervölkerten Eiland die
Vögel gezwungen, ein Gleiches zu tun.
Trotz dieser vorzüglichen Ausnutzung des zur
Verfügung stehenden Raumes würden aber alle
die Vogelarten, welche sich Laysan als Brutplatz
erkoren, doch nicht imstande sein, dort genügend
Platz zu finden, wenn sie alle gleich zeitig zu-
samenträfen. Sie müssen daher miteinander ab-
wechseln; ist eine Art mit ihrem Brutgeschäft
fertig, so macht sie der anderen Platz, während
sie die Insel verläßt, stellt sich die andere ein.
Es ist ein fortwährendes Kommen und Gehen,
und die Folge davon ist, daß man fast zu jeder
Jahreszeit brütende Vögel auf Laysan findet, eine
Tatsache, die selbst in den Tropen, in welchen
die ßrütezeit überhaupt eine viel unregelmäßigere
ist als in unseren Breiten, Beachtung verdient. So
hat sich denn durch eine wahrscheinlich schon
viele Jahrtausende währende Gewohnheit und An-
passung an die Verhältnisse ein ganz bestimmter
Turnus ausgebildet in der Ankunft und den Ab-
zug einzelner Arten. Während mehrerer Jahre ist
die Beobachtung gemacht worden, daß in der
Zeit vom 15. — 18. August die blauen Sturmtaucher
(Oestrelata hypoleuca, Salv.), welche fast die ganze
Insel mit ihren Höhlen unterminiert haben, auf
Laysan eintreffen, ohne daß eine Abweichung von
dieser Regel vorkommt. Deutlich haftet mir noch
der Abend des 17. August 1896 im Gedächtnis;
es war bereits stiller auf der Insel geworden, die
lärmenden Seeschwalben hatten ihre Jungen schon
groß gezogen und Tausende von heranwachsenden
Albatrossen hatten den Platz, wo ihre Wiege stand,
Lebewohl gesagt und waren hinaus geeilt auf das
unermeßliche Meer, das fortan ihre eigentliche
Heimat bilden sollte. Wir lenkten unsere Schritte
zurück von der Anhöhe, auf deren Spitze wir
nach dem Segel, das uns wieder von der Insel
nach bewohnten Gegenden führen sollte, aus-
spähten. Die goldenen Reflexe der untergehenden
Sonne verblaßten und die feine Sichel des be-
ginnenden Mondes begann silbern zu erglänzen;
da bemerkte das Auge, dem jede der charakte-
ristischen Bewegungen unserer lüftedurchfurchen-
den Genossen auf der Insel durch wochenlange
Übung vertraut war, eine neue Erscheinung. Von
dem verbleichenden Abendhimmel hob sich scharf
die Silhouette eines herrlichen P'liegers ab, der in
den kühnsten und zugleich zierlichsten Bewegungen
die Luft unhörbar fast ohne Flügelschlag durch-
schnitt. Die Art, wie er dahinstürmte, erschien
uns neu und wir wußten, daß ein neuer An-
kömmling unsere Insel erreicht hatte. Am nächsten
Abend waren es deren schon mehr und am dritten
erfüllten bereits Tausende die Lüfte. Es waren
kaum Taubengröße erreichende zierliche Vögel,
die von nun an so die Insel beherrschten, daß
dort, wo sie sich angesiedelt hatten, die wenigen
noch brütenden Pärchen der Tropikvögel, See-
schwalben usw. vor ihnen zurückwichen, gleich
als ob ihnen die Nähe der lärmenden, neuen Gäste
peinlich wäre. Auf dem Lande nur Nachtvögel,
nahmen sie von den unzählbaren, tief unterirdischen
Wohnungen wieder Besitz; beim hellen Monden-
schein konnte man sehen, wie sie emsig bemüht
waren, aus den seit Jahresfrist verfallenen Röhren
mit ihren zarten Füßchen den lockeren Sand zu
entfernen. Liebende Pärchen fanden sich und be-
haupteten wacker ihr erkorenes Fleckchen zum
Gründen eines Hausstandes gegen spätere Ein-
dringlinge. Ohne Zank und Streit und vielfaches
Geschrei ging es dabei nicht ab; kaum waren
einige Tage verflossen, da erscholl an jedem
Platz der Insel, der nur von Sand bedeckt war,
ihr nicht gerade wohllautender „Gesang". Unter
jedem Strauch, zwischen den Kisten, die wir vor
unserer Behausung aufgetürmt hatten und leider
auch unter unserem „Schlafgemach" ertönte ihr
Lied, das die Mitte hielt zwischen jenem, „das
Menschen rasend machen kann", und den Lauten
neugeborener Kinder, die höchstens nur zärtlichen
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Eltern Vergnügen bereiten. Die ganze Physio-
gnomie der Insel war mit einem Schlage ver-
ändert. Wie bewunderungswert ist doch jener
Trieb, der das Herz des Vogels erfüllt und ihn
antreibt, wenn er Tausende von Meilen entfernt
auf dem Weltmeere dahinschwebt, wieder jenem
Platz zuzueilen, wo seine Wiege stand, um nun
auch seinerseits Elternpflichten zu erfüllen 1 Wie
muß es unser Erstaunen hervorrufen, daß der
Vogel bis fast auf Stunden genau in jedem Jahr
die Zeit seiner Ankunft inne hält und wo ist der
Kompaß, der ihn durch Sturm und Wetter sich
durch die Meereswüste nach diesem winzigen
Erdenfleck leitet?
Wenige Monate später wird das Aussehen der
Insel von neuem durch eine Einwanderung noch
imposanterer Art als die geschilderte verändert.
In den letzten Tagen des Oktober erscheinen die
ersten Vorposten der prächtigen Albatrosse, und
wenige Tage darauf gewährt die Insel von einem
erhöhten Punkt den Anblick, als wäre sie dicht
mit großen Schneeflocken bedeckt. Es gibt kaum
ein Fleckchen Erde, von dem das blendend weiße
Gefieder eines Albatrosses sich nicht abhebt und
die Zahl dieser Vögel ist oft so groß, daß viele
nur mit ungünstigen Plätzen vorlieb nehmen,
viele wieder abziehen müssen.
Von den Invasionen der übrigen brütenden
Seevögel der Insel erwähne ich nur noch die
der Seeschwalben, die so mächtig ist, daß in den
ersten Tagen, in denen die Vögel noch keinen
festen Nistplatz sich ausgesucht haben, die Insel
von weitem den Eindruck macht als lagere eine
schwere Rauchmasse über ihr, so dicht ist die
Schar der flatternden Vögel.
Der Kampf um die Existenz ist, wie wir sehen,
nach keiner Richtung hin ein leichter; weitere
Erscheinungen können dies bekräftigen. So ist
es z. B. eigentümlich, daß alle Seevögel, die auf
Laysan brüten, nur ein Ei legen, während nahe
Verwandte von ihnen in anderen Breiten ein
größeres Gelege haben. Nur eine Art, ein
Tölpel (Sula cyanops Sund.) legt allerdings zwei
Eier, jedoch brütet er regelmäßig nur eins davon
aus. Ich kann mir dies Einkindersystem nur so
erklären, daß der Erwerb der Nahrung für sie ein
derartig schwieriger ist, daß sie, ohne leichtsinnig
zu sein, nur ein Kind groß ziehen können.
Der Aufenthalt auf der Insel ist für den Natur-
freund schon allein deswegen von so großem
Interesse, weil er Gelegenheit findet, in einem
Grade, wie zum zweitenmal wohl sonst kaum
noch auf der Erde die ihn umgebende Tierwelt,
insbesondere die Vögel, in ihren intimsten Re-
gungen kennen zu lernen. Wir sind in unserer
Heimat, die Jahrtausende unter menschlicher
Kultur steht, auch nicht mehr entfernt imstande,
die Tiere in ihrer Ursprünglichkeit zu beobachten,
weil diese in nur zu berechtigter Scheu vor dem
Menschen es demselben verwehren, andere als nur
die flüchtigsten Eindrücke von ihnen zu erlangen.
Auf Laysan dagegen zeigten sie sich, wie sie
wirklich sind, jede Spur von Scheu fehlte ihnen,
sie sahen in uns noch nicht ihren Feind, und wir
waren daher jeden Augenblick in der Lage (wes-
wegen jeder Irrtum ausgeschlossen ist), nicht nur
ihr Tun und Treiben, sondern ich möchte auch
geradezu sagen, ihr Seelenleben zu studieren und
ihre Charaktere zu erkennen. Wir sind selbst
erstaunt gewesen, bei jenen von der Mehrzahl
doch für niedrig gehaltenen Geschöpfen so viel
zu finden, was einen direkten Vergleich mit
menschlichen Eigenschaften zuläßt. So war es
z. B. leicht, die Vögel nach ihren Temperamenten
zu unterscheiden; daß der stets polternde, seine
Kinde scharf züchtigende und über jede Kleinig-
keit leicht in Ärger geratende Tropikvogel den
Typus des Cholerikers repräsentiert, war leicht
zu erkennen; schon dem kleinsten Daunenjungen
war dieses Temperament zueigen. Ein guter,
ruhiger, aber etwas beschränkter Junge war da-
gegen der Phlegmatiker Albatros. Das ganze
Gegenteil von ihm ist die zierliche, ewig beweg-
liche, sanguinische Seeschwalbe, die Tag und
Nacht für sich und die Ihren in fieberhafter
Tätigkeit ist und neben dem, was sie erreicht,
auch manchen Mißerfolg zu verzeichnen hat, wenn
sie in ihrer nervösen Hast Unvorsichtigkeiten be-
ging. Ein ausgemachter Melancholiker ist aber
der schwarze Sturmtaucher (Puffinus nativitatis
Streets) ; ruhig und still sitzt er am Tage in seiner
unterirdischen Wohnung; nachts aber ertönen aus
derselben Laute, die dem Neuling Entsetzen ein-
zuflößen geeignet sind; mit ihnen könnte ich nur
die Jammertöne eines an seinem Leben und der
Welt völlig verzweifelnden, tiefunglücklichen Men-
schen vergleichen. Lebhaft erinnere ich mich
noch des seltsamen Eindrucks, als wir in den
ersten Tagen unseres Aufenthaltes vor unserer
Behausung in dunkler Nacht von Hitze und Arbeit
des Tages ausruhten, und rings um uns herum
aus der Erde diese markerschütternden Töne
quollen. So kann nur ein von den entsetzlichsten
Gewissensqualen Gefolterter stöhnen und ächzen;
hier wurde es uns klar, warum die Portugiesen
diese Vögel „die Seelen der Verdammten" nennen.
Ganz außerordentlich anziehend ist es, das
Liebes- und Familienleben der Vögel
Laysans zu belauschen. Wie es ja allein der
ihnen anfangs noch unbewußte Trieb zur Erhal-
tung der Art ist, welcher sie auf die Insel führt,
so beherrscht dieser sie auch während ihres ganzen
Aufenthaltes daselbst; ist ihre Aufgabe, für die
nächste Generation zu sorgen, erfüllt, so verläßt
die weitaus überwiegende Mehrzahl derselben
auch wieder das Eiland.
Alle Seevögel Laysans leben in strenger Mono-
gamie und zwar ist ihre Ehe, soweit ich es be-
obachten konnte, meistens eine geradezu muster-
hafte. Die Pärchen hängen in rührender Liebe
aneinander; so sieht man z. B. die Sturmtaucher
stets nicht nur nebeneinander, sondern auch
einander zugewendet sitzen und sich stunden-
lang verliebt in die Augen schauen; von Zeit
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zu Zeit krauen sie sich gegenseitig zart die
Halsfedern, wobei die Geliebkoste recht behaglich
den Kopf senkt und sich diese Zärtlichkeiten
offenbar mit großer Genugtuung gefallen läßt;
nicht selten schnäbeln sie sich dann auch nach
Art der Tauben, unserem Küssen vergleichbar.
Wenn sie sich hierbei mit ihrem nadelspitzen,
krummen Schnabel nicht verletzen und wehe tun,
so ist das ein Zeichen, wie zart sie zu Werke
gehen müssen. Ich selbst habe nämlich häufig
gerade das Gegenteil von ihnen erfahren ; ein ein-
maliges Zubeißen genügte vollkommen, um auf
meinen Händen eine stark blutende Wunde her-
vorzurufen.
Ein anderes überaus reizvolles Liebesspiel ist
der Hochzeitsflug, wie ich ihn nennen will,
der schwarzen Seeschwalbe (Haliplana fuliginosa
Gm.), den ich bei keinem anderen Vogel in sol-
cher Schönheit ausgeprägt fand. An stillen Nach-
mittagen, wenn die Sonne schon zur Rüste ging,
sondert sich ein Pärchen, dem andere folgen, von
der übrigen Schar ab und eilt dem Meere zu,
bald langsam die Flügel schlagend, bald schießend,
bald fast ohne Bewegung dahinschwimmend. Jetzt
wieder führt es die kühnsten Wendungen aus und
erhebt sich im Dahinstürmen hoch in die Lüfte,
um sich dann ebenso plötzlich wieder zu senken.
Dabei hält sich Männchen und Weibchen — un-
mittelbar übereinander fliegend — so dicht bei-
sammen und führt jede Bewegung, jeden Flügel-
schlag, jede noch so unerwartete Wendung so
erstaunlich gleichmäßig aus, daß er den Anschein
hat, als ob nur ein Geist die beiden Körper be-
seele und ein Wille sie führe. Dieses Flugspiel
ist in der Tat durch seine Grazie ganz entzückend
und dadurch, daß offenbar nur Liebeslust und
völlige gegenseitige Hingabe es veranlassen, auch
für das Gemütsleben der Vögel höchst bemerkens-
wert. Könnte man nicht dieses wonnetrunkene,
aneinandergeschmiegte Durchschneiden der Lüfte,
das behagliche Wiegen, das Dahinstürmen in wil-
der Leidenschaft, mit dem feurigen Tanz eines
liebebeglückten Menschenpaares vergleichen ? Und
doch wie viel zarter, wie viel anmutiger erscheinen
hierbei die Kinder der Luft!
F"ast unwiderstehlich muß der Trieb, der
Elternfreuden teilhaftig zu werden, sein, welcher
den Vogel beherrscht. Albatrosse, denen man
die Eier raubte, blieben noch wochenlang auf
den Nestern sitzen; viele der zierlichen, kleinen
weißen Seeschwalben (Gygis alba Sparrm.), denen
ich zugunsten unseres Museums das Ei fortge-
nommen hatte, fand ich bei meinem Wieder-
kommen noch Tage lang auf einem runden Stein-
chen, einmal sogar auf der bleichen Schädel-
kapsel einer ihrer gestorbenen Schwestern, sitzen,
gleich als ob sie emsig weiterbrüteten. Dieser
Vogel erregt auch sonst durch die Art seines
Brütens unsere Verwunderung. Geben sich Lay-
sans Brutvögel überhaupt schon keine große Mühe
mit der kunstvollen Anlage eines Nestes, so geht
dieser doch darin am weitesten; gerade da, wo
er sich zufällig in dem hoffnungsfrohen Augenblick
befindet, läßt er sein Ei fallen, und so findet man
dasselbe auf dem kahlen Sande, auf der Salz-
kruste der Lagunenränder, auf den kahlen Stein-
klippen dicht am brandenden Meer und, was das
Erstaunlichste ist, nicht selten sogar in der Ast-
gabel eines Gesträuches. Nichts ist possierlicher
zu sehen, wie der Vogel selbst in dieser unbe-
quemen Lage das Ei vollständig mit seinem Körper
zu bedecken sucht; und wirklich gelingt es ihm
oft daraus ein kleines, reizendes Daunenjunges zu
erziehen, das ebenfalls Akrobatenkünste lernen
muß, um nicht von seinem schwankenden Sitz
herunterzupurzeln. — Rührend war es mir ein-
mal zu sehen, wie ein Tropikvogel, dem ich seinen
noch zarten Sprößling unserer Sammlung einver-
leibt hatte, am nächsten Tage das gleichalterige
Junge eines Nody (Anous stolidus L.) (allerdings
gegen den Willen seiner Eltern) adoptiert hatte,
um der Sehnsucht, Mutterpflichten zu erfüllen,
Genüge zu tun.
In ihrer Elternliebe zeigt die Mehrzahl der
von uns beobachteten Vögel einen großartigen
Zug von Selbstlosigkeit; waren die Jungen erst
ausgeschlüpft, so vermochte keine Drohung sie
vom Nest zu verscheuchen und bei den Sulaarten
und den Fregattvögeln mußte man geradezu Ge-
walt anwenden, um den sich heftig und empfind-
lich wehrenden Vogel von seinem Nest zu ver-
scheuchen. Gerade beim Fregattvogel, dem sonst
an List und Tücke reichen Räuber, war das am
auffallendsten; scheute er sich doch andererseits
gar nicht, in einem unbewachten Augenblick nicht
nur die Kinder der schwächeren Vögel, sondern
sogar die seiner eigenen Sippe zu verschlingen.
Bei dem Aufziehen der Jungen beteiligen sich
meistens Männchen und Weibchen gleichmäßig.
Mit geradezu pedantischer Pünktlichkeit (beim
Albatros und der schwarzen Seeschwalbe z. B.
zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags, beim Tropik-
vogel zwischen 9 — 10 Uhr vormittags) kommen
die Eltern mit reich gefülltem Kropf vom Meer
zurück, um ihre Kleinen zu sättigen. — Sind die
Jungen größer geworden, so heißt es, sie in den
Beruf und in die Arbeit einzuführen und sie mit
den Künsten eines echten, rechten Vogels bekannt
zu machen. So sahen wir denn täglich, wie die
Seeschwalben ihre eben flügge gewordenen Jungen
auf das Meer führten. Eine kurze Strecke eilte
die Mutter voran, und ununterbrochen ertönte ihre
Stimme — genau wie „weide weck" lautend —
bald anfeuernd, bald warnend; und regelmäßig
antworteten die gehorsamen Kleinen mit ihrem
zarten „Piep, Piep". Man sollte es kaum glauben,
welch eine große Ausdrucksfähigkeit dieser Vogel
(und auch andere) in seiner Stimme besitzt, um
alle möglichen Regungen seines Gefühllebens zum
Ausdruck zu bringen; nicht nur, daß er über zahl-
reiche, verschiedenartige Laute verfügt, auch die
Betonung ist eine äußerst mannigfaltige, und ein
geübtes Ohr hört es bald ebenso leicht wie die
Vogelgenossen selbst heraus, wenn die Stimme
308
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 22
Liebessehnsucht oder Haß, Flehen oder Fordern,
Ermunterung oder Warnung ausdrückt. Mir kam
dabei immer jener Volksstamm Nordostsibiriens
in den Sinn, bei deren Sprache ebenfalls ein und
dasselbe Wort ganz verschiedene Begriffe aus-
drückt, je nach dem es betont wird.
Unstreitig besitzen einige der Vögel den Hang
zum Spielen. Nur zu ihrer Lust offenbar er-
heben sich um die Mittagszeit manche der herr-
lichen Flieger so hoch über die Insel in die Luft,
daß sie kaum noch dem Auge erreichbar sind,
und ziehen dort stundenlang ihre Kreise. Voll
stimme ich den übrigen Beobachtern bei, welche
behaupten, daß der schwimmende Flug des
mächtigen Fregattvogels in jenen Höhen auch ein
verwöhntes Auge mit Entzücken erfüllen kann.
Noch bewunderungswerter, nicht nur in Anbe-
tracht der Schönheit, sondern ich möchte fast
sagen, in psychologischer Hinsicht, erschien mir
ein anderes Flugspiel, das auch nur dem Ergötzen
dient. Man sieht ja wohl auch bei uns eine An-
zahl Störche oder an den Meeresgestaden in den
Frühlings- und Sommermonaten Möven zu größerer
Anzahl vereinigt kreisen; wie unscheinbar aber
ist dieser Lufttanz gegenüber der großartigen
Vogelquadrille, an welcher wir uns häufig auf
Laysan zu erfreuen Gelegenheit hatten. An ziem-
lich windstillen und warmen Tagen, meistens
während der Mittagsstunden, sahen wir, wie sich
eine bis dahin ganz unregelmäßige Schar von
Seeschwalben, bisweilen Zehntausende zählend,
zu einer regelmäßigen Figur zusammen fügte;
sie bildeten einen ungeheuer großen Zylinder,
dessen unteres Ende sich bisweilen dem Meeres-
spiegel näherte, während das obere zu bedeuten-
der Höhe sich in die Lüfte erhob; an seiner
Peripherie bewegten sich Tausende und Aber-
tausende von Vögeln scheinbar ganz regellos hin
und her, indem die einen nach dieser, die anderen
nach jener Seite hinflogen, aber trotzdem herrschte
in dem Ganzen doch Ordnung und Gesetzmäßig-
keit; es erschien wie die wohl einstudierte Tour
eines Reigentanzes. Neben der kreisförmigen Be-
wegung der einzelnen Vögel auf der Zylinder-
fläche rückte nun die gesamte Masse, dabei auch
auf- und abwogend, gleichmäßig weiterschreitend
vor, meistens dem leichten Zug des Windes
folgend. Jeder Vogel unter all den Tausenden
beschrieb dabei, wie leicht ersichtlich, eine außer-
ordentlich komplizierte Linie, und doch sah das
Ganze rhythmisch und harmonisch aus. Als die
Jungen flügge zu werden begannen, war es höchst
possierlich mit anzusehen, wie auch diese sich
daran beteiligen wollten, meistens aber ,,Kohl"
machten und dann bald abschwenkten. Sehr
sonderbar ist es, daß bei diesem Tanz sich nicht
nur eine Vogelart beteiligte; stets war auch
eine ganz beträchtliche Anzahl von Fregattvögeln
dabei, die sonst mit den Seeschwalben durchaus
nicht auf gutem P'uße lebten, jetzt aber ganz
freundschaftlich am Spiel teilnahmen. Diese
beiden Arten waren stets in überwiegender Mehr-
zahl; hin und wieder sah man auch vereinzelte
Tropikvögel, weiße Seeschwalben und Tölpel
dabei, und nur ein- oder zweimal flog auch ein
Albatros mit.
So idyllisch ist das Vogelleben aber nicht
immer auf der Insel, es herrscht auch hier oft
Zank und Streit; die meiste Veranlassung dazu
bietet aber der große Wegelagerer, der Fregatt-
vogel; an anderen Wohnplätzen soll derselbe ja
wohl wie andere Vögel seine Nahrung aus dem
Meere holen; hier auf Laysan habe ich ihn nur
als Räuber kennen gelernt. Kommen die Sturm-
vögel, die Tölpel, die Tropikvögel beladen vom
Fischfang zurück, so erspäht sie der diebische
Geselle schon von weitem und sucht sich ihrer
Beute zu bemächtigen. Mit sausendem Flug, dem
an Schnelligkeit kein anderer auch nur entfernt
gleichkommt, erreicht er gleich einem Pfeil sein
Opfer und zwickt dasselbe mit seinem langen,
scherenartigen, vorne hakigen Schnabel so lange,
bis es, um nur entweichen zu können, seinen ge-
füllten Kropf entleert; wie ein Blitz schießt der
Räuber hinterher und hat den für ihn leckeren
Bissen schon lange in seinem unersättlichen Schlund
geborgen, bevor dieser fallend das Meer hätte
erreichen können.
Bemerkenswert ist es, daß die Fregatten da-
bei die kleineren Vögel nur zwicken und quälen,
nie aber ernstlich verletzen oder töten, denn sonst
würden sie sich ja ihrer Ernährer berauben. Voll
Mitleid sah ich oft, wie Tropikvögel, die vielleicht
halbetagelang fleißig gefischt hatten, unmittelbar
vor der Insel trotz aller ihrer Mühen und Künste,
dem Räuber zu entkommen, ihm schließlich doch
den Tribut zahlen mußten und nun mit leerem
Kropf zu ihrem Jungen kamen; traurig kauerten
sie sich neben ihm hin und das hungernde Kleine
sah verwundert auf die Mutter, die noch immer
mit der ersehnten Mahlzeit zögerte; es wurde un-
geduldig und in seinem Begehren drängender,
bis es dann schließlich statt der erhofi"ten Atzung
einige derbe Schnabelhiebe erhielt. So hatte die
Familie einen traurigen Tag; das Junge einen
hungrigen Magen und die Alte größere Arbeitslast.
Ich möchte die Schilderung der Vogelwelt
Laysans mit einigen Episoden ausdemAlbatros-
leben beschließen. Während unserer Anwesenheit
waren die kleinen, anfangs noch ganz hilflosen
Jungen beträchtlich herangewachsen, und hinter
jedem Grasbusch sah man das gutmütige Gesicht
eines wohlgenährten Albatroskindes, das durch
die Daunenhaube auf seinem Kopf, namentlich
dann, wenn der Wind hineinblies, einen recht
drolligen Anblick gewährte. Eines sah genau
ebenso aus wie das andere, wenigstens für unser
Auge, wenn auch nicht für das der Mutter; denn
kam diese reich beladen vom Meer zurück, so
erspähte sie bald unter all den Tausenden ihr
richtiges Kind, und sollte dieses auch vorgezogen
haben, lieber etwas spazieren zu gehen, als an
dem gewohnten Platz, wo seine Wiege stand, zu
warten. Bisweilen war es sehr komisch mitanzu-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
309
sehen, wie sich um solch eine Nahrung bringende
Albatrosmutter eine ganze Anzahl von Jungen
sammelte und von ihr Speise erbettelte; eine
Zeit hindurch ließ sich die Alte das ruhig ge-
fallen , dann aber hob sie gleichsam entrüstet
über die Dreistigkeit der heutigen Jugend Hals
und Kopf senkrecht empor, um einen heulenden
Klagelaut auszustoßen und dann sofort die sie
bedrängende Schar mit derben Schnabelhieben
zu züchtigen ; jetzt erst hatte sie Raum , um ihr
eigenes Kind zu sättigen, war das erfolgt, so
kauerte sie sich neben ihm nieder und einige
Stunden hindurch erfreute sich dann die Familie
einer behaglichen Ruhe im glücklichen Beisammen-
sein. Allmählich wuchsen den Jungen immer
mehr die Schwingen und täglich übten sie deren
Kraft, sie entfaltend und im laufenden Flug über
den Sand dahineilend. Gleichzeitig erwachte in
ihnen auch die Sehnsucht nach dem Meer, täglich
rückten sie ihm ein Stückchen näher und erstaun-
lich war es dabei zu beobachten, wie auch die-
jenigen, welche von ihrem Standort aus das Ge-
stade nicht sehen konnten, dennoch stets den
kürzesten Weg zu demselben einschlugen. Hatten
sie erst den Strand erreicht, so hielt es sie auch
nicht länger zurück, sich dem ersehnten Element
anzuvertrauen. Häufig genug mußten sie dieses
erste Wagnis mit dem Leben bezahlen; nament-
lich an solchen Stellen, wo an den steilen Ufern
die See mächtig brandete, findet man nach schwe-
rem Wetter oft die Leichen von nicht ganz flüggen
Albatrossen. Überblickt man das Leben dieses
Vogels auf jener Insel, so wird man geradezu
dazu gedrängt, es mit menschlichen Verhältnissen
zu vergleichen. Diejenigen , welche zuerst dort
ankommen, können sich die besten Plätze aus-
wählen, an denen sie ihre Jungen leicht und sicher
aufzuziehen imstande sind ; diese gedeihen prächtig
und treten wohlgerüstet in das Leben hinein.
(Berlin West !) Die letzten aber, welche sich mit
oder ohne Schuld verspätet haben, müssen mit
den schlechtesten Wohnplätzen vorlieb nehmen,
oft nur mit dem bei trockenem Wetter aus schie-
rem Salz bestehenden Ufer der Lagune, das nach
kurzem Regen mit einem scharfen, laugenartigen
Schlamm bedeckt ist. Hier sieht man auch die
größte Zahl von verkommenen Vogelkindern mit
struppigem Gefieder und wunden, von der Salz-
sohle angeätzten Beinen, hier herrscht die größte
Kindersterblichkeit, und Hunderte von Leichen
liegen umher. (Ärmlichste Kellerwohnungen der
Großstadt.) Nicht selten geht aber die Nach-
kommenschaft auch zugrunde, wenn die Eltern
selbst zu schwer im Kampf ums Dasein zu ringen
haben. Stürme verzögern ihre Wiederkunft, ver-
schlagen sie in ferne Gegenden, und kommen sie
dann nach Hause zurück, so finden sie ihre Kleinen
verhungert und verdurstet, wenn die Wogen ihnen
selbst nicht sogar ein frühzeitiges Grab bereiteten.
So erscheint es auch hier, als ob Reichtum und
Armut, Glück und Unglück auf der Erde, wie
dieselbe nun einmal ist, teils selbstverschuldet,
teils die notwendige Folge von Lebensbedingungen
ist, denen alle Organismen unterworfen sind,
und welche kraft der ihnen innewohnenden Natur-
gesetze über diesen stehen; vor ihnen müssen
sie sich beugen, ihnen können sie nicht entrinnen,
wie sehr sich ein höheres Gerechtigkeitsgefühl
auch darüber empören mag."
Man wird es begreiflich finden, daß es mich
gedrängt hat, diese wundervollen Schilderungen
eines einzigartigen Vogellebens der Vergessenheit
zu entreißen und ihnen eine weitere Verbreitung
zu geben, weil sie einerseits dem Tierpsychologen
eine Fülle von Anregungen und wertvollste Be-
obachtungen bieten und andererseits dem Natur-
freund so reizvolle Bilder einer menschheitsfernen,
ungestörten Vogeloase in ihrer ganzen Ursprüng-
lichkeit vor die Seele zaubern, wie sie uns bisher
in dieser besonderen Art kaum je gegeben wor-
den sind.
Bücherbesprechungen.
Geiger, Moritz, Die philosophische Be-
deutung der Relativitätstheorie. Vor-
trag, geh. im I. Zyklus gemeinverständl. Einzel-
vorträge, veranstaltet von der Universität Mün-
chen. Halle a. S. 192 1, Max Niemeyer. 5 M.
Eine ebenso kurze, wie vortreffliche Einführung
nicht nur in das im Thema genannte Problem,
sondern in die verschiedenen Grundrichtungen der
modernen Erkenntnistheorie überhaupt. Der Verf
arbeitet sehr fein die verschiedenen Einstellungen
heraus, durch die der Positi vismus, der Rea-
lismus und der Idealismus dem philosophi-
schen Gehalt der Relativitätstheorie teils entgegen-
kommen, teils sich mit ihm abzufinden versuchen.
Ich möchte meinen, daß die rein sachliche Dar-
stellung jener philosophischen Richtungen dadurch.
daß sie ständig auf den Lehrgehalt einer spezial-
wissenschaftlichen, wenn auch reich mit philoso-
phischem Geiste erfüllten Theorie sich bezogen
fühlen muß, an Klarheit viel mehr gewonnen hat,
als wenn, wie es üblich ist, jene Richtungen aus
sich selbst entwickelt worden wären, und möchte
wünschen, daß diese Methode der Darstellung
auch filr rein erkenntnistheoretische Arbeiten mehr
in Aufnahme kommen möchte. Eine Fülle von
Mißverständnissen und gemachten Problemen
würden dann entweder gar nicht auftauchen oder
doch dem kritischen Blick viel weniger leicht
entgehen.
Diese unsere freudige Zustimmung zu der
klaren Darstellungsart des Verf. und die ebenfalls
gern gewährte Anerkennung seines Rechts auf
3IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 22
Verteidigung seines idealistisch - aprioristischen
Standpunkts darf uns aber nicht hindern, manche
seiner Ergebnisse für sachlich bedenklich und
objektiv unrichtig zu halten. Der Positivismus
kommt z. B. unseres Erachtens viel zu schlecht
weg. Der Verf. sieht nur sein negatives Gesicht.
Allein es muß doch auffallen, daß man diese
philosophische Richtung eben Positivismus
und nicht Negativismus heißt. Unseres Er-
achtens sind Positivismus und Apriorismus durch-
aus nicht unvereinbar, obschon Mach und seine
Schule das in der Tat annehmen. Bezeichnend
für die Situation erscheint uns ein Wort eines
so ausgesprochenen Aprioristen wie Husserl,
der sich einmal als „den echten Positivisten" be-
zeichnet und dem Geiger, wenn ich nicht irre
und wie mir auch aus seinen Schlußsätzen her-
vorzuleuchten scheint, doch auch recht nahesteht.
Ich wenigstens sehe in jener Äußerung Hu sserls
mehr als eine geistreiche Entgleisung und möchte
glauben, daß die Phänomenologie Husserls,
die ich in der vorliegenden Form prinzipiell für ver-
fehlt und zu einseitig an Problemen der Psychologie,
dieser im Prinzipiellen immer noch allzu unfertigen
Wissenschaft, orientiert halte, dadurch, daß sie
sich mehr mit dem positiven Geiste des Positi-
vismus erfüllt, jene Gestalt annehmen könnte, die
man von einer Erkenntnistheorie der modernen
mathematischen Naturwissenschaft zu verlangen
berechtigt ist. Husserl ist meines Erachtens
von diesem königlichen Wege der Erkenntnis-
theorie, den er mit unübertrefi lieber Klarheit im
ersten Bande seiner „Logischen Untersuchungen"
(2. Aufl., Halle 191 3) gezeichnet hatte, in seinen
späteren Schriften leider dadurch wieder abge-
wichen und in psychologistische Netze geraten,
daß er seine Methode, statt sie an der logisch
charaktervollen Physik zu versuchen, an psycho-
logischen Problemen versuchte, die in ihrer er-
kenntniskritischen Aufhellung doch gänzlich von
derjenigen der Physik und Physiologie abhängig
sind. (Vgl. des Rezensenten Arbeiten in Heft 50,
1920 und Heft 25, 192 1 dieser Zeitschrift.)
Doch das nebenbei. Wie sehr Geiger auch
von der unseres Erachtens falschen Richtung der
Phänomenologie eingenommen ist, scheint mir
aus folgendem Satz der vorliegenden Schrift her-
vorzugehen (S. 39): „euklidisch ist der phäno-
menale, der anschauliche Raum, nichteuklidisch
die transphänomenale vierdimensionale Mannig-
faltigkeit". Nun ist es gewiß richtig, daß ein und
derselbe Gegenstand Objekt verschiedener Wissen-
schaften sein kann, aber doch nur dann, wenn
diese Wissenschaften in ihrem logischen Charakter
verschieden sind, ganz differente Ziele verfolgen.
So kann ein und dasselbe Buch, etwa eine wert-
volle Inkunabel, Gegenstand kunstgewerblicher
Betrachtungen, wie auch wirtschaftlicher und sogar
rein politischer Interessen sein. Nicht aber sind
zwei Wissenschaften möglich , die beide das
„Wesen", z. B. des Raumes, wie es als solches ist,
aufhellen wollen und dabei zu verschiedenen Re-
sultaten kommen. Eine von beiden Raumauffas-
sungen ist dann unbedingt falsch. Dabei ist es
ganz einerlei, ob man den Raum einmal „Eukli-
discher Raum", ein andermal „vierdimensionales
Kontinuum" heißt. Die Rekonstruktion verschie-
dener „Wesen", wo es sich doch nur um ver-
schiedene Worte handelt, ist mir immer typisch
für die sog. Phänomenologie erschienen.
Obschon ich den auch im obigen Zitat ge-
machten Versuch Geigers, Kants Lehren von
der Apriorität des Raumes und der Zeit den
Ergebnissen der Relativitätstheorie gegenüber zu
retten, für bedeutend geistvoller halte, als die
ähnlichen Bemühungen von S e 11 i n und Schnei-
der, muß ich ihn doch meines Erachtens als
ebenso verfehlt bezeichnen. Ich glaube nicht, daß
die in dieser Frage vertretene Position Reichen-
bachs ernsthaft widerlegbar ist.
Ganz unverständlich ist mir auch, wie Geiger
das phänomenale Farbenring -„Gesetz" a priori
nennen kann. Diese phänomenalen Aprioris sind
doch, wie Geiger selbst behauptet, nur für den
gültig, der sie sieht 1 (S. 32 unten.) Wie ein
solches, subjektiv bedingtes Apriori, ein „hölzernes
Eisen", wie ich meine, eine für alle gültige objek-
tive Wissenschaft, die doch auch G e i g e r schaffen
will, begründen helfen soll, das verstehe ich ein-
fach nicht. Hier scheinen mir verschiedene logi-
sche Dinge in die Form desselben „Wesens" ge-
preßt zu -sein.
Doch genug der sachlichen Polemik. Daß sie
an der Hand des Geiger sehen Schriftchens mög-
lich und notwendig war, ist mir ein treffliches
Omen für ihren zu eigenem Denken anregenden
Wert. Wir wünschen ihr recht viele und recht
— kritische Leser.
Adolf Meyer, Hamburg.
Schmidt, Prof. Dr. Heinrich, Philosophi-
sches Wörterbuch. 6. verb. Aufl. 71. — 80.
Tausend. Stuttgart 192 1, Verlag Alfred Kröner.
Wenn ein „philosophisches Wörterbuch" in
einer so ungeheueren Auflage erscheint , so muß
dieser Tatsache ohne Zweifel etwas tieferes zu-
grunde liegen als ein gewöhnliches Unterhaltungs-
bedürfnis des Publikums. Der Verf meint, daß
das Interesse für Philosophie in weitesten Kreisen
des Volkes erheblich gestiegen sei, was nicht be-
stritten werden soll. Aber der Erfolg eines Buches
hängt nicht allein vom Publikum ab, sondern auch
vom Autor. Es ehrt das deutsche Publikum, daß
es an einem philosophischen Buche Interesse
findet, dazu noch an einem „Wörterbuche", aber
es ehrt auch den Autor, daß er es verstanden
hat, der „großen Masse" zum Verständnis einer
scheinbar so aristokratischen Materie, wie es die
Philosophie ist, zu verhelfen. In keinem anderen
Lande, als dem der „Dichter und Denker" dürfte
ein Buch mit einem so nüchternen Titel so be-
gehrt sein, und wenn man aus Leserkreisen hört,
daß viele das „Wörterbuch" als Reiselektüre, als
Nf. F. XXI. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
3ii
ständiges Taschenbuch mit sich herumtragen,
dann kann der Autor zufrieden sein, und er wird
es sich gerne gefallen lassen, wenn der Kritiker
hier und da etwas auszusetzen findet. — Das
Buch ist ohne Zweifel tendenziös im Sinne eines
Monismus, wie ihn der Autor auffaßt, gestaltet,
was natürlich in den einzelnen Artikeln stark
zum Ausdruck gelangt. Ob aber das Geheimnis
des Erfolges in dieser Tendenz liegt, möchte ich
bezweifeln. Im Vorwort zur zweiten Auflage
gibt der Verf zu, daß die erste Auflage wohl
etwas zu subjektiv geraten sei; nach Auffassung
des Ref. ist selbst die vorliegende Auflage immer
noch etwas zu „subjektiv" und die nächste Auf-
lage sollte dem Bedürfnis unserer Zeit nach dem
Transzendenten etwas mehr Rechnung tragen.
Der Verf. braucht seinen eigenen Standpunkt
dabei nicht zu unterdrücken oder zu verschleiern,
und die Gefahr, als bloßer Kompilator zu gelten,
besteht auch dann nicht, wenn gewisse von der
Ansicht des Verf. abweichende Meinungen ob-
jektiv referiert werden. — Bei der großen Be-
deutung, die in dem Werke den naturwissen-
schaftlichen Forschungen und der Naturphilosophie
eingeräumt wird, sollten Probleme wie der Vita-
lismus z. B. nicht allzu einseitig im materialisti-
schen oder chemisch-physikalischen Sinne behan-
delt werden. Vergeblich hat Ref. nach dem
Namen Driesch gesucht, Reinke steht unter
dem Stichwort Dominante, aber nicht als eigenes
Stichwort. Engramm und Mneme findet man,
aber Semon fehlt; Euphorismus ist Stichwort,
aber der Schöpfer dieser Lehre, Müller-
Lyer fehlt. Bei der nächsten Auflage sollte
der Verf. die Namen aller Autoren, die überhaupt
in dem Buche vorkommen, ins Alphabet auf-
nehmen, wenigstens ganz kurz unter Hinweis auf
den zugehörigen Artikel. Der Raum kann leicht
gewonnen werden. — Unter dem Stichwort Spiri-
tualismus steht, daß dieser Begriff „häufig auch
als Idealismus bezeichnet" wird, und als Vertreter
des Spiritualismus wird u. a. auch Schopen-
hauer genannt. Schopenhauer aber identi-
fiziert diese Begriffe nicht und erklärt sich gegen
den Spiritualismus. — Unter dem Stichwort „Kon-
vergenz" ist auf die Fischähnlichkeit der Wale
hingewiesen; es wäre wünschenswert, auch ein
Beispiel aus der Botanik zu nennen, wie Kakteen
und sukkulente Euphorbiazeen. — Bei der Be-
handlung der „Entwicklungsmechanik" dürften
neben Roux die Namen Goebel, Klebs und
Vöchting nicht fehlen, da diese Botaniker vor
Roux zum Teil auf dem gleichen Gebiet tätig
waren, wenngleich sie eine andere Terminologie
haben. Bei „Instinkt" sollte auf Semon und
Schopenhauer hingewiesen werden, weil die
Lehren dieser beiden ohne Frage vielen das Ver-
ständnis des Instinktes erleichtern. Verdienstlich
wäre auch bei „Helmholtz" ein Hinweis auf
Schopenhauer, der Helmholtz des Plagiats
bezichtigt. — Doch ich möchte meinen Wunsch-
zettel hier nicht erweitern, um nicht den Schein
zu erwecken, als erkenne ich nicht die große
Arbeit an, die in diesem kleinen Buche steckt.
Nur den einen Wunsch will ich noch äußern,
nämlich daß es dem Verf bald vergönnt sein
möge, das hunderttausendste Exemplar in die
Welt zu setzen. Wächter.
Dürken , Bernhard und Salfeld, Hans, Die
Phylogenese. Fragestellungen zu ihrer
exakten Erforschung. Berlin 192 1, Bornträger.
18 M.
Zoologie und Paläontologie sind zwei Forschungs-
gebiete, die auf breiter Front zusammenstoßen
und stellenweise sich gegenseitig überdecken.
Dies gilt nicht allein für den rein morphologischen
Teil, sondern in demselben Maße für den bio-
logischen, wenn auch bei dem letzteren die Zu-
sammenhänge erst seit verhältnismäßig kurzer
Zeit berücksichtigt werden. Besonders Fragen
der Abstammungslehre, der Phylogenese, können
nur dann eine zuverlässige Lösung finden, wenn
die Vertreter der beiden Wissenszweige zusammen-
arbeiten, sich gegenseitig unterstützen und die
einen die Resultate der anderen verwerten. Dies
ist bis jetzt nicht immer geschehen. Um so mehr
ist ein Schritt in dieser Richtung zu begrüßen.
In zwei getrennten Abschnitten legen die beiden
Verff. ihre Anschauungen über die hierher ge-
hörenden Fragen dar.
Dürken stellt sich die Aufgabe, bestimmte
Seiten des Abstammungsproblems zu betrachten
und Fragestellungen zu formulieren, die auf
experimentellem Weg zu fassen sind. So sind
zwei Hauptprobleme zu erkennen: das Problem
der Mannigfaltigkeit der Formen und das Problem
der Zweckmäßigkeit. Beide enthalten zwei Teil-
fragen, nämlich die Betrachtung des rein for-
malen Ablaufs der Entstehung von Mannigfaltig-
keit bzw. Zweckmäßigkeit und das Suchen nach
der Ursache hierfür. Im weiteren wird nur das
Problem der Mannigfaltigkeit, zuerst in bezug auf
seine formale Seite, dann nach der kausalen
erörtert.
In der rezenten Fauna gelangt eine außer-
ordentlich große phänotypische Mannigfaltigkeit
zur Beobachtung. Ein bestimmter Phänotypus
entsteht als das Produkt aus Anlage (Genotypus)
und Milieueinwirkung. In der Generationenfolge
kann erbliche Mannigfaltigkeit des Phänotyps
durch Änderung des Genotyps, sei es durch
Mutation, sei es durch Bastardierung (Neukombi-
nation von Erbfaktoren), in gewissen Fällen wohl
auch indirekt durch Einwirkung eines veränderten
Milieus zustande kommen. Da für das Zustande-
kommen eines bestimmten Phänotyps in erster
Linie der Genotypus von ausschlaggebender Be-
deutung ist, so müssen auch die Genotypen der
rezenten Fauna außerordentlich mannigfaltig sein,
wobei sowohl quantitative als qualitative Diffe-
renzen vorkommen mögen. Verf. unterscheidet
zwischen karyogener und plasmogener Vererbung.
312
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 22
Unter karyogener Vererbung versteht er die Ver-
erbung durch feste Gene, die in Chromosomen
lokalisiert und gegen äußere Einwirkungen von
großer Widerstandsfähigkeit sind. Die plasmo-
genen Vererbungsträger sind diffus im Cytoplasma
verteilt und wenigstens zum Teil leicht veränder-
lich. Verf. stellt nun eine Hypothese des Ver-
laufs der Phylogenese auf, die eine Grundlage
für die Aufstellung bestimmter, exakten Methoden
zugänglichen Fragen bilden soll. Danach ist der
ganze Komplex der Erbträger von einem voraus-
zusetzenden Ausgangsstadium aus allmählich ent-
standen. Zunächst treten Gen-Vorstufen in plas-
mogener Form auf die entweder noch ganz un-
wirksam sein können, oder, wenn sie einen ge-
wissen Schwellenwert fast erreicht haben, pseudo-
progressive Formen bedingen. Ist der Schwellen-
wert erreicht, so ist ein solcher plasmogener
Erbfaktor zwar in den dauernden Bestand der
Keimzellen eingegegangen, jedoch noch nicht als
Gen , er wird dementsprechend nicht mendeln.
Die zweite Schwelle liegt da, wo ein plasmogener
Vererbungsträger in den karyogenen Komplex
übergeht, also zum eigentlichen Gen wird. Stets
wird die Erreichung des Schwellenwertes im
Phänotypus eine Salto - Mutante hervorrufen.
Werden die Merkmale immer mehr durch eigent-
liche Gene vererbt, so wird die Starrheit des
Organismus immer größer: es treten Exzessiv-
formen auf, wie sie von vielen Tiergruppen be-
kannt sind. Die andere Seite des Problems, näm-
lich die Frage nach der Ursache, führt zu einer
Besprechung des Problems der Vererbung er-
worbener Eigenschaften. Die Stellungnahme des
Verfs ist aus dem Vorstehenden zu entnehmen.
Ein Arbeitsprogramm bildet den Abschluß dieser
Betrachtungen.
Auf das Verdienst der Arbeit wurde eingangs
hingewiesen. Aus der Inhaltsangabe ist jedoch
zu ersehen, daß des Verf.s Ansichten über Ver-
erbung und Erscheinungen, die nicht unter diesen
Begriff fallen, sich mit den sonst vorherrschenden
nicht decken. So erscheint es zweifelhaft, ob die
aus solchen Anschauungen gewonnenen Vrage-
stellungen die Forschung erheblich fördern.
Auch der kurze Abschnitt Salfelds soll ein
Programm sein und Fragestellungen der Paläonto-
logie zum Abstammungs- und Vererbungsproblem
bringen. Die Grundlage bilden teils eigene Ar-
beiten, teils solche von Schülern. Der Verf. ver-
sucht Ergebnisse und Begriffe der Vererbungslehre
bei paläontologischen Untersuchungen zu ver-
wenden. Verschiedene Tiergruppen (besonders
Ammonoideen) wurden unter exaktester Berück-
sichtigung des „Zeitfaktors" gesammelt und nach
Mutationsreihen geordnet. Es erscheint jedoch
äußerst fraglich wie weit das so gewonnene Bild
den tatsächlichen Vorgängen entspricht. Die
Erblichkeitsuntersuchungen der letzten 20 Jahre
haben gezeigt, wie vorsichtig man mit der An-
nahme von Mutationen sein muß und daß Bastar-
dierung eine viel größere Rolle bei der Neubildung
von Formen spielt. Ob Mutation oder Bastar-
dierung vorliegt, wird jedoch bei fossilem Material
sehr schwer zu entscheiden sein. In den Teil-
fragen befinden sich die Ausführungen in starker
Anlehnung an die Hypothesen Dürkens, so
daß das über diese Gesagte hier in verstärktem
Maße gilt. Otto Kuhn.
Wien, W., Aus der Welt der Wissenschaft.
320 Seiten mit 3 Fig. im Text. Leipzig 192 1,
J. A. Barth. Geb. 60 M.
Es handelt sich hier um eine Sammlung von
Vorträgen und Aufsätzen Wiens aus älterer und
jüngerer Zeit, welche allen, die Interesse für
wissenschaftliche Fragen haben, hochwillkommen
sein wird. Sie gibt einen jedem Gebildeten ver-
ständlichen, bis in die Tiefen führenden vortreff-
lichen Einblick in die wichtigsten Probleme, die
die neuere Physik beschäftigen und in deren Zu-
sammenhang mit allgemeineren Fragen der mensch-
lichen wissenschaftlichen und praktischen Be-
tätigung.
An zwei Vorträge allgemeinen Inhalts, die sich
mit der Stellung der Universitäten im deutschen
Geistesleben und den Beziehungen der Physik zu
anderen Wissenschaften beschäftigen, reihen sich
5 Aufsätze über wissenschaftliche Persönlichkeiten,
nämlich Röntgen, den Zoologen Boveri,
Helmholt z, den im Kriege gefallenen Würz-
burger Physiker Mathias Cantor und den
französischen Mathematiker H. P o i n c a r e. Es
folgen 8 wissenschaftliche Vorträge speziellen In-
halts, die teils aus der Vorkriegszeit stammen,
teils auf Veranlassung der Heeresleitung im Kriege,
teils in der Nachkriegszeit gehalten worden sind.
Ref möchte besonders den letzten Vortrag über
„die Relativitätstheorie vom Standpunkt der Physik
und Erkenntnislehre" hervorheben, den er als eine
der vortrefflichsten kurzen, durchweg rein sach-
lichen kritischen Betrachtungen der Relativitäts-
theorie bezeichnen muß, die ihm bis jetzt be-
kannt geworden sind. Eine größere Zahl von
Anmerkungen, die dem Literaturnachweis und der
Ergänzung der älteren Vorträge dienen, bildet
den Abschluß des Bandes, dem weiteste Ver-
breitung zu wünschen ist. A. Becker.
Inhalt: VV. Wächter, August Schulz f. S. 297. v. Buttel-Reepen, Das Vogelleben auf dem Koralleneiland Laysan
im Stillen Ozean. S. 301. — Bücberbesprechungen: M. Geiger, Die philosophische Bedeutung der Relativitäts-
theorie. S.309. H. Schmidt, Philosophisches Wörterbuch. S.310. B. Dürken und H. Salfeld, Die Phylogenese.
S. 311. \V. Wien, Aus der Welt der Wissenschaft. S. 312.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 4. Juni 1922.
Nummer 33.
Goethes Naturanschauung in seinen Gedichten.
Von Wim. Troll-MÜQchen.
„Wer zu mir kommt, muß versuchen sich
über sich selbst hinauszumuten". Goethe.
Es scheint, daß die Gene für Naturforschung
und Poesie nicht weit auseinanderhegen und des-
halb gleichen Ausbildungsbedingungen unterliegen.
So könnte man sich wenigstens die eigenartige
Erscheinung erklären, daß sowohl Adalbert
C h a m i s s o , der Entdecker des Generations-
wechsels bei den Salpen, als auch Goethe sich
einen großen Namen in der Geschichte der Natur-
wissenschaften gemacht haben. Wie dem auch
sei, jedenfalls hat sich in Goethe eine groß-
artige und einzig dastehende Verbindung zwischen
Naturforscher und Dichter vollzogen. Seiner uni-
versellen Veranlagung und seinem stets aufs Ganze
gerichteten Blick entsprechend ist er in der Be-
trachtung der Natur nicht bei Einzelheiten stehen
geblieben, sondern verarbeitete seine Anschau-
ungen zu einem großen naturphilosophischen Sy-
stem, das er teils in seinen Schriften niederlegte,
teils aber poetisch gestaltete und in seine größten
Dichtungen aufnahm.
Wie in den Systemen der großen Philosophen,
so stehen sich auch in dem Weltbild von Deutsch-
lands größtem dichterischem Genius zwei Welten
gegenüber, die Welt der Ideen, des Geistes und
das Reich der Erfahrung, der Natur. Es ist ein
beinahe selbstverständlicher Ausfluß von Goethes
in allem nach Harmonie und Ausgeglichenheit
trachtendem Wesen, daß er die große „Kluft, die
zwischen Idee und Erfahrung befestigt scheint",
daß er „diesen Hiatus zu überwinden" strebte;
aber nun nicht etwa in der Weise, daß die eine
Seite der Wirklichkeit auf Kosten der anderen
bevorzugt wurde, also durch Einmünden in eine
einseitig-idealistische Weltanschauung. Davor be-
wahrte ihm, der stets darnach strebte, „daß alles
anschauende Kenntnis werde" und der von
sich bekannte: „Das Auge war vor allen das
Organ, womit ich die Welt faßte", davor bewahrte
ihn die Gegenständlichkeit seines Denkens. Be-
trachtete er es doch als eine „bedeutsame F"örder-
nis durch ein einziges geistreiches Wort", als der
Psychiater H e i n r o t h seine Weltbetrachtung mit
den Worten charakterisierte, „daß sein Denken
sich von den Gegenständen nicht sondere, daß
die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen
in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste
durchdrungen werden, daß sein Anschauen selbst
ein Denken, sein Denken ein Anschauen sei".
Vielmehr geht sein ganzes Streben darauf, den
beiden Seiten der Wirklichkeit in gleichem Maße
gerecht zu werden. Das gelang ihm dadurch.
daß er „Beobachtung und Denken gleichsam in
einen Akt zusammenschmolz" und seinen Geist
mit den Dingen „auf eine rationelle Weise gleich-
sam amalgamierte". Die Frucht dieser Be-
mühungen sind die denkanschaulichen „Urphäno-
mene", eine äußerst eigenartige und einzige
Schöpfung Goetheschen Geistes. Sie bilden
nach seiner Ansicht die Brücke zwischen den
beiden Hälften des „großen Doppelreiches" der
Wirklichkeit, den Grenzfall zwischen Erfahrung
und Idee, indem sich beide berühren; in ihnen
spielt die Idee in die Erfahrung herein und um-
gekehrt die Erfahrung in das Reich des Geistes.
Das „Urphänomen" läßt sich wohl restlos mit
dem Begriff des Typus identifizieren gegenüber
dem Einzelding, der Erscheinungsform. Es steckt
in ihm das uralte Problem des Menschengeistes,
die Frage nach dem Verhältnis von Sein und
Werden, die Frage nach dem beharrenden Grund
der Dinge inmitten der steten Veränderungen.
Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Frage-
stellung Goethes dahin zu formulieren: „Wie
ist das Sein mit dem Werden zu vereinigen? Wie
kann sich etwas beständig wandeln und doch in
einem festen Urgrund beharren?" Seiner Anlage
zur „anschauenden Kenntnis" entsprechend ver-
zichtet Goethe auf metaphysische Bestimmungen,
wie sie Piaton und Kant gegeben haben, setzt
an Stelle des Seins den Begriff des Typus und
erklärt das Werdende, sich Wandelnde als die
Erscheinungsform dieses Typus. „Es gibt ein
Bleibendes, ein Sein, aber dieses besteht weder in
den Platonischen weltfernen Idee, noch in Kants
unerkennbarem Ding an sich, sondern es ist die
im Spiel des Werdens an der Erscheinung sich
offenbarende Gattungsidee oder Urform. Indem
das Seiende wird, erscheint es" ; die Erscheinungen
sind vergänglich, das Seiende ist unvergänglich
und ewig.^) „Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig" sagt Goethe in seinem, in
dem Zyklus „Gott und Welt" enthaltenen, aus
den letzten Lebensjahren stammenden Gedicht
„Vermächtnis". Das ist auch der Sinn der Worte
des Chorus mysticus: „Alles Vergängliche ist nur
ein Gleichnis", eben ein Gleichnis des Ewigen,
Seienden, des Urphänomens, das als Auswirkung
der „Gott-Natur" in die religiöse Sphäre hinüber-
weist.
Auch bei Goethe steht also hinter den Er-
scheinungen der Dinge ein Beharrendes; aber es ist
etwas ganz anderes als Piatons Idee. Diesem
Nach Boucke.
314
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 23
erscheint die Wirklichkeit als durchaus un-
wirklich. Die uns umgebenden Dinge sind nur
„Schatten" der allein realen „Idee", die in starrer
Unveränderlichkeit in metaphysischen Tiefen
thront. Goethe dagegen erkennt die Wirklich-
keit an und legt gerade auf die reale Existenz
der Dinge das größte Gewicht, ein Standpunkt,
der dem Piatons diametral entgegengesetzt ist.
Goethes Frage geht dahin: Warum bleibt diese
Wirklichkeit ein geordneter Kosmos und warum
wird sie nicht bei dem ständigen Werden und
Vergehen, das wir schauen, ein Chaos? Warum
hält die Natur Maß in der Mannigfaltigkeit und
warum ordnen sich die Einzelwesen, anstatt in
willkürliche, launenhafte Gestalten auszuarten, in
bestimmten, umschriebenen Formenkreisen? Dieses
normgebende Prinzip war nach seiner denkan-
schaulichen Erfahrung das Urphänomen oder
modern ausgedrückt, der Typus. Dieses ist der
künstlerische Plan der Natur, nachdem sie
arbeitet. Die Natur selbst denkt Goethe als
schöpferisches Prinzip (vgl. Pia ton!), das
sich in der unendlichen Fülle der empirischen
Formen auswirkt und doch jedem einzelnen Wesen
eine abgeschlossene Individualität verleiht auf
Grund des als Urphänomen bezeichneten Planes.
Was sie schöpferisch immerwährend tut, ist ein
spielendes Versuchen, diesem Plan möglichst nahe
zu kommen, ist ein Spielen um diesen Plan
herum. Wir erkennen also mit Boucke in
Goethes Urphänomen gleichsam eine biologische
Umdeutung der Platonischen Ideenlehre, worin
die Erscheinung vollständig gleichberechtigt neben
der Idee steht: „Wir leben in einer Zeit, wo wir
uns täglich mehr angeregt fühlen, die beiden
Welten, denen wir angehören, die obere und
die untere, verbunden zu betrachten, das
Idelle im Reellen anzuerkennen . . .
Nachdem wir uns nun zu dieser Einsicht erhoben
haben, so sind wir nicht mehr in dem Falle, bei
Behandlung der Naturwissenschaften die Erfahrung
der Idee entgegenzusetzen, wir gewöhnen uns
vielmehr, die Idee in der Erfahrung auf-
zusuchen, überzeugt, daß die Natur nach
Ideen verfahre" (Goethe).
Die Urphänomene sah Goethe in einer Drei-
heit, als Urphänomen des Mineralreiches oder Ur-
gestein, als Urphänomet) des Pflanzenreiches oder
Urpflanze und als Urphänomen des Tierreiches,
als Urtier. Noch während seines Aufenthaltes in
Sizilien war er überzeugt von der realen Existenz
einer Urpflanze und glaubte sie in der prangen-
den P'ülle der Pflanzenwelt des öffentlichen Gartens
von Palermo auffinden zu können. Das war frei-
lich vergebliches Bemühen. Unter dem Einflüsse
Schillers wurde er dann doch, wenn auch
langsam und schwer, zu der Einsicht bekehrt, daß
das Allgemeine, von dem aus er das Besondere
zu erfassen suchte, daß das Urphänomen, also
auch die Urpflanze Idee sei, mithin nicht körper-
lich existiere, sondern nur als anschauliche Ab-
straktion aus der P^ülle der wirklichen Formen.
Die Urpflanze wurde ihm das formbildende Prin-
zip oder der künstlerische Bauplan der Natur, aus
dem sich unter Vermittlung der Gattungstypen
die sinnliche Erscheinungsform jeder einzelnen
Pflanze durch Metamorphose gesetzmäßig ableiten
lasse. Die Metamorphose bildet neben dem Ur-
phänomen den wesentlichsten Bestandteil der
Go et h eschen Anschauung von der Art, wie das
denkanschauliche Urbild in die Erscheinung ein-
geht oder mit anderen Worten, wie der anschau-
lich gedachte, geistige Typus im Einzelwesen zur
Realisation gelangt.
Diesem großen Gedankengebäude hat der
Dichter prägnantesten poetischen Ausdruck ge-
geben in einem kleinen, zwölfzeiligen Gedicht,
Parabase überschrieben, das er gewissermaßen als
Einleitung vor eine Reihe von Gedichten gestellt
hat, die seinen Inhalt näher ausbauen und von
denen die beiden bedeutendsten „Die Metamor-
phose der Pflanzen" und „Metamorphose der Tiere"
sind. Neben diesen Gedichten sind Goethes
Alterswerke, Wilhelm Meisters Wanderjahre und
vor allem der zweite Teil der Fausttragödie durch-
woben von naturphilosophischen Ideen; wenn
man das bis in die neuere Zeit herein übersehen
hat, so liegt das zum einen Teil wohl daran, daß
sie der Dichter stets in ein bezauberndes poeti-
sches Gewand gekleidet hat, zum anderen Teil
aber doch an der Unterschätzung dieses Gebietes
der Goetheschen Gedankenwelt, wie sie die
herrschende realistisch -materialistische Richtung
des deutschen Geisteslebens bis in die letzten
Jahrzehnte herein zur notwendigen Folge haben
mußte. In Wirklichkeit aber bildet seine Natur-
philosophie einen ganz wesentlichen Teil des Nähr-
gebietes, aus dem sich des Dichters Weltbild
formte und von dem aus es einzig restlos ver-
ständlich ist.
In dem Gedicht „Parabase" sind von be-
sonderer Bedeutung die letzten Verse:
Immer wechselnd, fest sicli haltend,
Nah und fern und fern und nah ;
So gestaltend, umgestaltend —
Zum Erstaunen bin ich da.
Den ersten beiden Teilen liegt das Begriffs-
paar Urphänomen — Metamorphose zugrunde. Die
lebenden Gestalten sind in einer steten Umwand-
lung begriffen, „immer wechselnd", aber sich fest-
haltend am Urphänomen, dem Typus, der als
organisierendes geistiges Prinzip, als „innere Form",
als unsichtbar wirkende beharrende Kraft ver-
hindert, das sich der schrankenlose Variations-
trieb in seinem zentrifugalen Streben ins Form-
lose verliert :
,,Denn Gesetze Bewahren die lebendigen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt."
Den Gedanken der durch das Urphänomen,
das „Urbild" geregelten „Umgestaltung" oder
Metamorphose drücken auch die Verse aus der
„Metamorphose der Pflanzen" aus:
„Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet
der andern;
N. F. XXI. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
315
Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz,
Auf ein heiliges Rätsel . . ."
Das „lösende Wort", das Christiane Vul-
pius, der das Gedicht gewidmet ist, das „heilige
Rätsel" deutet, wäre in der wissenschaftlichen
Sprache Goethes der Begriff des Urphänomens.
Noch deutlicher spricht sich der Dichter in
der „Metamorphose der Tiere" aus:
„Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild",
das „Urbild", das alles, „was in schwankender
Erscheinung schwebt", mit „dauernden Gedanken
befestigt", d. h. zur überindividuellen Wirklich-
keit erhebt.
Im gleichen Gedichte hören wir von „ge-
ordneter Bildung, die zum Wechsel sich neigt"
und in den „Urworten" ist von „geprägter Form,
die lebend sich entwickelt" die Rede; die Natur
gibt der „geprägten Form", dem Urphänomen,
in steterEntwicklung und Umwandlung
sinnliche Gestalt, nicht etwa in sprunghaften Ver-
änderungen. „Natura non facit saltus" war eine
Grundüberzeugung Goethes, für die er sein
Bestes einsetzte, ob sie hier im Zusammenhang
mit der organischen Metamorphose erscheint oder
in verschärfter Form als geologisches Problem
im Kampf zwischen Vulkanismus und Neptunis-
mus. In den wundervollen Worten des Thaies in
Faust II hat er sie poetisch eingekleidet:
Nie war Natur und ihr lebendiges Flieflen
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen,
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt.
Und an einer Stelle seiner Prosaschriften be-
kennt er: „Nach meinem Anschauen baute sich
die Erde aus sich selbst heraus".
Jedenfalls stellt sich Goethe das Leben als
einen ewigen Werdeprozeß vor, in dem es ein
Stillstehen, ein „Erstarren" nicht gibt, ganz im
Gegensatz zu Piaton. Das drückt Faust aus,
wenn er sagt : „Doch im Erstarren such' ich nicht
mein Heil". Und noch schöner, lebendiger die
Schlußstrophen des in „Gott und Welt" enthaltenen
Gedichtes „Eins und alles":
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Thun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden ;
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend bandeln.
Erst sich gestalten, dann verwandeln ;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen ;
Denn alles mu6 in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
In dem „Ewigen", dem „Sein" haben wir wie-
der das Urphänomen, das Sein im Gegensatz zum
Werden (vgl. das einleitend Gesagte !).
Der immerwährende Wechsel in der organischen
Formenwelt erscheint Goethe unter dem Bilde
eines Spieles : „Man denke sich die Natur, wie sie
gleichsam vor einem Spieltische steht und unauf-
haltsam au double! ruft, d. h. mit dem bereits
gewonnenen durch alle Reiche ihres Wirkens
glücklich , ja bis ins Unendliche wieder spielt
Stein, Tier und Pflanze, alles wird nach einigen
solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder
aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze
Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höheren
Ziele ist?" Wieder einmal redet er von „der
Form, mit der die Natur gleichsam nur immer
spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt".
Stein, Tier und Pflanze sind also in Goethes
Auge Spielzeug der Natur.
Hier eröffnet sich die Frage, ob Goethe ein
Überschreiten der „heiligen Kreise lebendiger
Bildung", womit das Urphänomen gemeint ist,
für möglich gehalten hat. In der „Metamorphose
der Tiere" heißt es zwar vom Urphänomen:
Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie;
Denn nur also beschränkt, war je das Vollkommene
möglich.
Doch scheint der Dichter sich nicht auf diese
Ansicht festgelegt zu haben nach einer sehr klaren
Stelle in der Geschichte der Farbenlehre: „Im
organischen Leben wird selbst das Unnütze, ja
das Schädliche selbst, in den notwendigen Kreis
des Daseins aufgenommen, um ins Ganze zu
wirken und als wesentliches Bindemittel disparater
Einzelheiten".
Goethes Ansicht berührt sich hier direkt
mit der Auffassung Goebels, des bahnbrechen-
den Forschers auf dem Gebiete der modernen
Pflanzenmorphologie. Es ist letzten Endes die
Frage nach der Berechtigung der teleologischen
Naturauffassung, die hinter diesen Zeilen steckt,
kurz ausgedrückt: Geht die Natur beim Hervor-
bringen von Formen auf Zwecke aus oder wirkt
sie sich ungebunden in Formen und Gestaltungen
aus, ohne Rücksicht auf „Ziel und Zweck"?
Goebel ist letzterer Ansicht und baut so weiter:
die Ergebnisse dieses „Gestaltungstriebes" oder
„Formenspieles" können verschiedener Art sein;
zunächst wird ein großer Teil der resultierenden
Gestaltungen einer besonderen Bedeutung ent-
behren, gleichgültig sein; ein anderer Teil wird
sich als vorteilhaft erweisen und endlich werden
sich auch unvorteilhafte, ja schädliche Verhält-
nisse entwickeln. Träger der letzteren werden
als lebensuntüchtig aussterben, Träger gleich-
gültiger Gestaltungsverhältnisse dagegen ruhig
fortbestehen neben den Trägern von vorteilhaften
Strukturen. Die Natur geht also nicht direkt
darauf aus, vorteilhafte Gestaltungsverhältnisse zu
schaffen, sondern sie „nimmt das Gute, wo sie es
findet" (Goebel), sie „nützt" unter den vielen
Möglichkeiten die vorteilhaften „aus". Auch
Goethe drückt die Idee der „Ausnutzung" aus,
wenn er sagt, daß, was nebeneinander stehe, wohl
füreinander, aber nicht absichtlich wegen ein-
ander da sei. Darin ist der Zweckgedanke ver-
bannt. Eckermann gegenüber ist er noch viel
deutlicher: „Die Frage nach dem Zweck, die
PVage Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich
3i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 23
Etwas weiter aber kommt man mit der Frage
Wie ? Denn wenn ich frage : Wie hat der Ochse
Hörner?, so führt mich das auf die Betrachtung
seiner Organisation und belehrt mich zugleich,
warum der Löwe keine Hörner hat und haben
kann. So hat der IVIensch in seinem Schädel
zwei unausgefüllte, hohle Stellen. Die Frage
Warum ? würde hier nicht weit reichen, wogegen
die Frage Wie? mich belehrt, daß diese Höhlen
Reste des tierischen Schädels sind, die sich bei
solchen geringeren Organisationen in stärkerem
Maße befinden und die sich beim Menschen trotz
seiner Höhe noch nicht ganz verloren haben."
Oder an anderer Stelle: „Und wie der Mensch
im allgemeinen denkt, so denkt er auch im be-
sonderen, und er unterläßt nicht, seine gewohnte
Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft
zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen eines
organischen Wesens nach dem Zweck und Nutzen
zu fragen. Dies mag auch eine Weile gehen, und
er mag auch in die Wissenschaft eine Weile da-
mit durchkommen; allein gar bald wird er auf
Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen
Ansicht nicht ausreicht und wo er ohne höheren
Halt sich in lauter Widersprüchen verwickelt.
Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse
habe Hörner um sich damit zu wehren. Nun
frage ich aber : Warum hat das Schaf keine ? und
wenn es solche hat, warum sind sie ihm um die
Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen?
Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der
Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er
sie hat."
Endlich sei eine Stelle aus einem Brief an
Z e 1 1 e r angeführt, die G o e b e 1 in seiner Organo-
graphie zitiert: „Es ist ein grenzenloses Verdienst
des alten Kant um die Welt, und ich darf sagen
um mich, daß er, in seiner Kritik der Urteilskraft,
Kunst und Natur nebeneinander stellte und beiden
das Recht zugesteht, zwecklos zu handeln. Natur
und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszu-
gehen, und haben's auch nicht nötig, denn Be-
züge gibt's überall und Bezüge sind das Leben."
Es ist nur konsequent im Sinne Goethes,
wenn Goebel zu dem Ergebnis kommt, „daß
die Natur in ihren Gestaltungen sozusagen künst-
lerisch verfährt, d. h. frei und ungebunden, nament-
lich ohne Rücksicht auf den Nutzen Gestaltungen
hervorbringt, teils nützliche, teils gleichgültige,
teils unvorteilhafte". Das war auch der Stand-
punkt Darwins, ein wesentlicher Zug seiner
Naturauffassung, der freilich von seinen Nachfolgern
übergangen worden ist.
Kehren wir zu unserem Gedicht „Parabase"
zurück, so gibt der Dichter in der zweiten und
dritten der oben daraus zitierten Verszeilen eine
nähere Bestimmung des ständigen Wechsels oder
der Metamorphose:
„Nah und fern und fern und nah.*'
Das Spiel der Formen liefert die mannig-
faltigsten Gestalten, die sich bald dem Urbild
nähern, bald sich aber auch weit von ihm ent-
fernen, eben ein ständiges Neigen zum Wechsel
unter der Leitung des Urphänomens, des „Ewig-
Einen, das sich vielfach offenbart", wie es im
gleichen Gedichte etwas weiter oben heißt.
Die Metamorphose äußert sich nun in zwie-
facher Weise, einmal dadurch, daß sie die im
Urphänomen festgelegte „innere Form" gestaltet
als auch die so erzeugten Formen umgestaltet:
„Erst sich gestalten, dann verwandeln" (Eins und alles),
„So gestaltend, umgestaltend" (Parabase).
Diesen Vorstellungen begegnen wir wieder,
wie W. Hertz, dem wir hier folgen, in seinen
leider bisher wenig beachteten Studien überzeugend
dargetan hat, im zweiten Teile des Faust in der
Mutterszene und der Gestalt des Proteus.
Die Mütter sind nicht, wie man bisher stets
annahm, der dichterische Ausdruck für die Ideen
Piatons, sondern die Go et besehen Urphäno-
mene. Von^ ihnen heißt es :
Die einen sitzen, andere stehn und gehn,
Wie's eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.
Anschaulich wird unserer Phantasie hier der
Sitz des Urgesteins, die Gebundenheit der an die
Scholle gefesselten Pflanzenwelt und die Beweg-
lichkeit des Tieres vorgeführt. „Diesen drei
Naturreichen gehören nun in drei voneinander nach
ihrer Haltung unterscheidbaren Verbänden die
den Urphänomenen untergeordneten Gattungstypen
an, der Gesamtzahl neben Urtier, Urpflanze und
Urgestein die gesellige Vielheit die Mutter aus-
macht." „Gestaltung, Umgestaltung", in der Para-
base „so gestaltend, umgestaltend", belehren uns
darüber, wie aus einem Typus, bzw. aus einem
Urphänomen ein tausendfältiges Reich von Lebe-
wesen hergeleitet werden kann. Es ist mit diesen
Worten eine Eigenschaft der Mütter bezeichnet,
ihre Erscheinung und ihr Auftreten. Die Mütter
aber sind nur das Spielzeug der Natur, die hinter
ihnen steht als die „schaffende Gewalt", der
„ewige Sinn". Nur die ewige Unterhaltung jenes
ewige Sinnes sind sie, der durch sie im Spiele
des Werdens dem Einzelwesen lebendige Form
verleiht, sie sind die Mittlerinnen zwischen Idee
und Wirklichkeit, eben die Urphänomene.
Interessant in Beziehung auf das Gedicht
Parabase ist auch die Gestalt des Proteus, den
Goethe mit mancherlei Zügen ausgestattet hat,
die er sonst der Natur beilegt, und von dem er
selbst sagt, er „könne für ein Symbol der Natur
gelten". Wenn er bei den Worten „Hierl und
Hier!" die Anweisung bekommt „bald nah, bald
fern", so ist das ein wörtlicher Anklang an die
Zeile unseres Gedichtes : „Nah und fern und fern
und nah". Und wenn seine hervorstechendste
Eigenschaft die ist, sich beständig zu verwandeln,
dabei aber doch derselbe zu bleiben, so ist das
eine Umgestaltung, ein ständiges Wechseln im
Festhalten. Wenn Proteus so das Schaffen der
Natur verkörpert, so ist er auch befähigt, der nach
N. F. XXI. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
317
Verkörperlichung trachtenden Homunkulusmonade
zum „Entstehen" und stufenweisen Aufsteigen in
der Leiter der Organismen weisen Rat zu er-
teilen.
Um endlich den Sinn der letzten Zeile des
Gedichtes klarzulegen, seien einige Aussprüche
Goethes selbst angeführt und zunächst bemerkt,
daß die Erkenntnis des Urphänomens für Goethe
überhaupt die Grenze menschlicher Erkenntnis
bedeutete. „Wir sind schon weit genug gegen
die Natur vorgedrungen, wenn wir zu den Ur-
phänomenen gelangen, welche wir in ihrer uner-
forschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Ange-
sicht erschauen, und uns sodann wieder rückwärts
in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das
in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend
und abertausend mannigfaltigen Erscheinungen
bei aller Veränderlichkeit unverändert offenbart."
Und zu Eckermann: „Das Höchste, wozu der
Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und
wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so
sei er zufrieden." Entsprechend heißt es im
Faust von dem die Natur verkörpernden Proteus,
er sage zuletzt doch nur, „was staunen macht
und in Verwirrung setzt". Weiter sagt G o e t h e :
„Vor den Urphänomenen , wenn sie unseren
Sinnen enthüllt erscheinen , fühlen wir eine Art
Scheu, bis zur Angst". Darum erschauerte Faust,
als Mephisto den Namen der Mutter nannte:
,,Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil."
Über die Kenntnis des Urphänomens hinaus-
zudringen, wäre ein vergebliches Bemühen, hier
beginnt für Goethe das Reich des Unerforsch-
lichen, das man nur schweigend verehren kann:
„Zum Erstaunen bin ich da."
Die Ablenkung des Fixsternlichtes im Schwerefeld der Sonne.
[Nachdruck verboten.]
Von Sigismund v. Kobbe, Coblenz.
In der Newtonschen Mechanik ist die
Bahn eines Massenpunktes im Anziehungsgebiet
der Sonne ausgedrückt durch die Kegelschnitts-
gleichung :
b-r (i -|- ^cosi/*) = v"; I. Keplersches Gesetz, (i)
(//, r ^ Polarkoordinaten 1 des Kegelschnitts.
E = Exzentrizität J Nullpunkt: Sonnenmitte
v^ Geschwindigkeit! . c , ■ ^ ^t, ■, ,-,
b = Beschleunigung 1 '"^ Scheitel (Perihel).
Streicht ein Fixstern Lichtstrahl, der demselben
Gesetz gehorcht, dicht am Sonnenrande
vorbei, so ergibt sich für den Scheitel :
r = r^ = 695 400 km = Halbmesser der Sonne
i// ^ O; cos ip =1
V = c = 300000 km/sec = Lichtgeschwindigkeit
b =:bo = 0,274 km/sec^ = Beschleunigung an der
Sonnenoberfläche.
Zur Berechnung von e haben wir:
1+6 =
bnr„
danach wird der Kegelschnitt (i)
C-... 0,954
I :b|, . . . 0,562
1 :r„ ... 4,158
eine flache Hyperbel, deren
Berechnung.^) I Asymptotenwinkel = tt — 2Afl;
wenn : sin A^, = 1 : e.
Hier ist 2Au die gesuchte
Ablenkung von der Geraden.
: Weil Ag sehr klein, so erhält
1 -)-«... 5,074 1 j^^jj jj^ Bogensekunden :
■ — "^ " " . ^ ^ arcrad in
Sek.
Q...
1 : s. . .
Ao...
5,314
4.326
9,640
') Das
Zeichen
A„ = ^ = '
Die Berechnung ergibt:
Ao = 0,437"
also : Ablenkung:
2A0 =^0,87"
dicht am Sonnenrande.
, . deutet den Logarithmus an.
(2)
Ist r der Scheitelabstand der Hyperbel von der
Sonnenmitte, so wird:
Qhr
Kr„
also : A =
Qh^rö
Drücken wir r^ und r in Bogenminuten aus:
r^ = 16'; so kommt:
Im Abstand r von der Sonnenmitte ist die
Ablenkung:
13-9
2A
Sek.
Mi
(3)
Nach der Relativitätstheorie entsteht
— vom „ruhenden" System S aus beurteilt — im
„bewegten" System S' eine Punktverschie-
bung, die sich als Verkürzung in der Richtung
der Bewegung äußert (Lorentz-Kontraktion I). Die
Wirkung dieser Punktverschiebung auf die ge-
krümmte Bahn eines Massenpunktes — oder
Lichtstrahls — stellt sich als Drehung jedes Bahn-
elements um den Krümmungsmittelpunkt dar.
Nun gilt die spezielle Relativitätstheorie unmittel-
bar nur für geradlinig, gleichförmig zueinander
bewegte Bezugssysteme; wir dürfen aber unsere
Koordinaten derart wählen, daß die zwar krumm-
linige Bewegung jeden Augenblick in die x-
Richtung fällt, und daß in der y-Richtung die
Normalbeschleunigung herrscht. — Wir
betrachten die Zentralkreisbewegung eines
Massenpunktes. Eine nach dem Mittelpunkt M
weisende Nullrichtung OM bilde das „ruhende"
System S; der Massenpunkt das „bewegte" Sy-
stem S'. — Trotz der „konstanten" Geschwindig-
keit V muß nicht allein die Normalbeschleunigung,
sondern auch die Tangentialbeschleuni-
gung berücksichtigt werden wegen der Längen-
und Zeitunterschiede in S und S'. — Für ein
Bahnelement gelten die Lore ntz- Trans-
formationen:
318
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 23
adt'
dt —
vdx
«dx'=:dx — vdt;
dy' = dy. (4)
I. Die Normalbeschleunigung bn = v-:a.
Hierfür gilt: dx'^o; also nach (4) 3. Gleichung:
dx = vdt; daraus und aus den beiden ersten Glei-
chungen (4) folgt: dt' = adt. (5)
dy , dy'
dt ' dt' '
und nach (5): u^ßu'.
du' , ^ du'
also : bn ;= a -
Gesetzt werde : u :=
(4) 4. Gl. : u dt ^
Nun ist : bn =
= u'dt
du
dt
bn'
dt'
oder : bn = bn' ( i
dt
dt" v-c^r (6)
Zur Berechnung der Verschiebung in der x-
Richtung drücken wir (6) durch den B o g e n 5-a aus,
dessen Verschiebung berechnet werden soll; wo:
a der Halbmesser, ^ ein beliebiger Winkel ist.
,du'
Nach (6) wird: — = — (i -\. Vom „ruhen-
a a \ c-/
den" System S aus beurteilt, erscheint der Krüm-
mungshalbmesser a der Bahn eines Massenpunktes
^aa'
S' verlängert. Wir multiplizieren mit — 5-; das
gibt: ^a'= ^a (i — ^).
Infolge der Normalbeschleunigung erhalten wir
die Verschiebung:
hj = .^y-a — ^a'= i9^a- —^. (7)
2. Die Tangentialbeschleunigung
b = V : t.
Nach (4) 3. Gl. und (5) ist:
dx' dx „ dx'
"dr~dt~~^~""dF*
Hier ist zu setzen:
dx , dx' , , ,
= dv ; , =^ dv ; also : dv ^ a-dv'.
dt
Nun ist:
b = ?; b' =
dt'
dv'
dt' " dt"
oder : b = b
also: b = «■--— =
dt
,dv'
dt'
(8)
Zur Berechnung der Verschiebung in der x-
Richtung drücken wir (8) durch den Bogen:
vt = ^a' aus :
V V / v-\"'-
Y^^TtI' sl ; multipliziert mit tt':
J ; oder: .9-a' = ^a I
vt' = vt I
Infolge der Tangentialbeschleunigung erhalten
wir die Verschiebung:
(9)
h., =: .>a — i'>a' = r'/a I —
Aus (7) und (9) ergibt sich : h, -f h, = h als
Gesamtverschiebung:
Diese Haupt formel leitet unmittelbar über
von einem nach der Newtonschen Mechanik be-
rechneten Bogen 0-a. zur Abweichung h , die ein
Massenpunkt beim Durchlaufen des Bogens &si
nach der Relativitätstheorie erfährt.
Zur Berechnung der Ablenkung des Fix-
sternlichtes im Schwerefeld der Sonne
setzen wir in (10):
v^c; dann wird: h = 2^a. (n)
Ist nun — vgl. (2) und (3) — die nach Newton
berechnete Ablenkung ausgedrückt durch den
Winkel: ^=:2A; so ergibt (11) die Winkel-
verschiebung: 2-9 = 4A; danach ist im
Sinne der Relativitätstheorie die Ablenkung
dicht am Sonnenrande:
4A„ = i,74" (12)
und die Ablenkung im Abstand r von der
Sonnenmitte: 4Ä^
Bogenminuten. ^)
27-8
Bogensekunden ; r in
(13)
Zusatz. NäherungsweiseBerechnung
der Perihelbewegung der Planetenbahnen.
Sonne und Fixsterne bilden das „ruhende"
System S; der Planet das „bewegte" System S'.
Zur Zeit t' ^ t = o gehe S' durch das Perihel P.
Nach einem Umlauf t = T wird in (10):
Unter Vernachlässigung der 4. Potenzen von
folgt:
3V-
2C-'
also:
3v-
h := 2 TT a — , -J- ^-^„ 1 ; oder : h = 5 tt a ■
\c^ ' 2c^r c^
2 a:^ große Achse. (14)
Für den Mittelwert: v^2iTa:T ergibt sich:
die lineare Perihelverschiebung:
, 20>T^a^ , ,
h = ^^. (15)
Dieser Wert ist gleich für alle Planeten-
bahnen eines Sonnensystems, wegen :
a^ : T" = const. — Zur Zeit T hat also der Pianet
die Stellung unter den Fixsternen, die er zur Zeit
t = o innehatte, wieder erreicht, aber noch nicht
das Perihel P. Dieses ist linear um
207r'*a^
:-T-
= 23,1 km
vorgerückt. Drücken wir die Perihelbewegung pe
in Winkelmaß aus, d. h. im Verhältnis des Bogens
zum Krümmungshalbmesser a(i — «-') im
Perihel, so kommt:
20 Tt^A^
pe = -^p^ö-, ST ; « = Exzentrizität. ( 1 6) ■')
^ c-T-(i —e^) ' '
') Die Allgemeine Relativitätstheorie liefert gleiche Werte.
^) Hier ist ohne weiteres die Kreisformel (10) zur Be-
rechnung der Perihelbewegung benutzt, obwohl der Kreis ein
Perihel g.ir nicht aufweist. Meiner Überzeugung nach ist aber
im Sinne der Relativitätstheorie die Punktverschiebung am
Kreise völlig gleichbedeutend mit der Perihelverschiebung, die
allerdings nur bei der Ellipse greifbare Gestalt annimmt.
') Die Allgemeine Relativitätstheorie ergibt:
2471'a''
N. F. XXI. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
319
Verstehen wir aber unter Perihelbewegung p die
Drehung der großen Achse {2 a) der Bahnellipse,
so dividieren wir (14) durch a; und erhalten für
je einen Umlauf:
V- 2?ra , ,
p=S.r.-^- v = -^. (17)
Soll p in Bogensekunden berechnet werden , so
ergibt sich :
p" ^ — 5" v^; p = arcrad in Sekunden und (i{
in 100 Jahren = H-Sekunden:
^, S^Q V- 2/ra
P"ormel (19) liefert folgende Werte für:
Merkur: 34,2"; Venus: 7,2"; Erde: 3,2"; Mars: 1,1",
(19)
Bücherbesprechungen.
Corning, H. K. , Lehrbuch der Entwick-
lungsgeschichte des Menschen. XI u.
659 S. mit 672 Fig. im Text (davon 105 far-
big). Wiesbaden 1921, Verlag von J. F. Berg-
mann. — Leinwdbd. 165 M.
Wie in seinem bekannten Lehrbuch der topo-
graphischen Anatomie bekundet der Verf. auch
in dem vorliegenden Lehrbuch der Entwicklungs-
geschichte des Menschen eine ungewöhnliche
Meisterschaft, verwickelte Verhältnisse so klar
vorzutragen, daß eigentliche Schwierigkeiten für
den Studierenden kaum mehr zu überwinden
bleiben. Überlegene Beherrschung des Stoffes
gestattet es ihm, das Wesentliche hervorzuheben,
eine vorzügliche Illustration unterstützt den Text
(sämtliche Figuren sind von Kunstmaler Dreßler
in Strichmanier ausgeführt), vor allem aber wird
der didaktische Erfolg durch eine höchst originelle
Gruppierung des Stofifes erzielt. Die vergleichende
Entwicklungsgeschichte, die in anderen Werken
oft zu sehr die Behandlung des Hauptthemas
überwuchert, ist hier rein Mittel zum Zweck, dient
lediglich dazu, das Verständnis für schwieriger
zu erfassende Vorgänge an Hand von einfacheren
Beispielen vorzubereiten. Einen Hauptvorzug des
Werkes stellt aber, wie schon gesagt, die originelle
Gruppierung des Stoffes dar. Einleitend wird (mit
anerkennenswert kritischer Zurückhaltung) das
Verhältnis von Embryologie und Phylogenie be-
sprochen. Darauf folgen eingehende Darstellungen
der Vermehrung der tierisclien Organismen, der
Befruchtungsvorgänge und der Entwicklungsvor-
gänge im allgemeinen (Kernteilung, Furchung
bei den einzelnen Vertebratenordnungen), der
Gastrulation und Keimblätterbildung und freien
Differenzierungsvorgänge an den Keimblättern.
Von ganz besonderer Klarheit und plastischer
Lebendigkeit ist die Schilderung der Abschnürung
des Embryos, der Bildung der äußeren Körper-
form, der Eihüllen und der Verbindung zwischen
Ei und Uterus. Die trefflichen, farbig angelegten
Figuren erleichtern sehr das Verständnis der Ent-
wicklungsgeschichte der einzelnen Organsysteme,
der gut zwei Drittel des ganzen Buches gewidmet
sind. Im Anhang werden die größtenteils erst
durch neuere Untersuchungen geklärten Probleme
der Lokalisation der organbildenden Substanzen,
der Abschnürung des Embryos vom Dotter und
der Teilungsvorgänge im Organismus (eineiige
Zwillinge und Drillinge, Doppelmonstra) be-
handelt.
Den einzelnen Abschnitten beigefügte Literatur-
übersichten ebnen dem Leser den Weg zur Spe-
zialliteratur und zu weiter eindringendem Studium.
Das vom Verlage glänzend ausgestattete Werk
verdient angesichts seines im Verhältnis zum
Gebotenen niedrigen Preises weiteste Verbreitung
und sollte in den Händen jedes Biologen sein,
der Entwicklungsgeschichte zu lehren hat oder
sich lernend und forschend mit ihr beschäftigen
will. M. Wolff (Eberswalde).
Vanino, Prof. Dr. Ludwig, Handbuch der
präparativen Chemie. I. Band: Anor-
ganischer Teil. Stuttgart 1921, P'erdinand Enke.
Die vorliegende zweite Auflage des bekannten
und beliebten „Hilfsbuches für die Arbeiten im
chemischen Laboratorium" ist dem Fortschritt
des in Frage kommenden Teiles der Chemie ver-
ständnisvoll angepaßt worden. Für den Benutzer
ist zu beachten, daß es sich nicht um ein Lehr-
buch, sondern um ein Arbeitsbuch handelt, das
für die Darstellung aller wichtigen anorganischen
Stoffe unmittelbare Vorschriften geben will, wo-
bei die Vertrautheit mit den üblichen Methoden
und Apparaten vorausgesetzt ist. Es fehlen ver-
ständigerweise die von der Industrie in größter
Menge und Reinheit gelieferten Stoffe ebenso wie
Sonderheiten von der Art des Holmiums. So-
weit der Berichterstatter aus eigener Erfahrung
mit der ersten Auflage urteilen darf, sind die An-
gaben in allem wesentlichen durchaus zuverlässig
und gestatten sofortige Präparation, ohne daß das
Studium der Literatur besonders nötig wird. Zahl-
reiche Tabellen und analytische Fingerzeige er-
höhen die Brauchbarkeit des Baches, das in einem
Anhang noch eine Reihe sehr wertvoller „Hilfs-
präparate und Ratschläge" für die Praxis im
Laboratorium enthält. (Man findet da Anstriche,
Kältemischungen, Klebmittel und dergleichen Nütz-
liches.) Das Buch ist für jedes einigermaßen be-
achtliche Laboratorium unentbehrlich.
Trotz der neuen Durchsicht ist das Werk nicht
frei von Druckfehlern. So ist z. B. die Formel
des Kaliumchlorochromats S. 380 falsch, in der
Tabelle S. 306 muß es heißen i cbm statt cm.
Auch sonst sind mir noch einige Errata im Ge-
320
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 23
dächtnis. Die Ausstattung des Buches ist vor-
züglich. H. H.
Bauer, Erwin, Die Grundprinzipien der
rein naturwissenschaftlichen Biolo-
gie und ihre Anwendungen in der
Physiologie und Pathologie. Heft 26
der Vorträge und Aufsätze über die Entwick-
lungsmechanik der Organismen, herausgeg. von
W. Roux. Berlin 192 1, J. Springer. 28 M.
Jede Naturwissenschaft muß zunächst ihre
eigenen Begrifife bilden; erst nachdem sie ein
gewisses Alter erreicht hat, besteht die Möglich-
keit, Begriffe anderer Naturwissenschaften in An-
wendung zu bringen und so ein einheitliches
System zu schaffen. Die Biologie ist eine noch
sehr junge Wissenschaft: auch sie muß ihre eige-
nen Begriffe und Grundprinzipien bilden. Eine
Betrachtung der vitalistischen und mechanistischen
Auffassungen führt notwendig zu dieser Forderung.
Verf. grenzt die Biologie ab durch eine Defi-
nition des Begriffes Lebewesen. Alle Lebens-
erscheinungen sind auf drei Grundprinzipien zurück-
führbar. Sie werden im folgenden gezeigt an
Tod, Wachstum, Vermehrung, Fortpflanzung.
Durch diese Anwendung lassen sich vier Ge-
setze formulieren, welche die Brauchbarkeit der
Grundprinzipien bestätigen. In einem weiteren
Kapitel werden Reizbarkeit und Anpassung, ferner
Organisationsgrad, Zuchtwahl und physiologische
Einheit unter den angeführten Gesichtspunkten
betrachtet. Auch Zelldifferenzierung, Regeneration,
innere Sekretion usw. finden durch die Grund-
prinzipien ihre Erklärung. Ebenso wie in der
Physiologie sind sie auch in der Pathologie an-
wendbar: beide Disziplinen suchen ja die Ursachen
für die regulatorischen Vorgänge im Lebewesen
zu ergründen. Atrophie, Entzündung, Geschwulst
lassen sich so biologisch erklären.
Die Schrift enthält manche wertvolle Gedan-
ken, die Biologie selbst wird jedoch von derartigen
rein theoretischen Abhandlungen wenig Nutzen
haben. Das Verständnis ist durch den Stil be-
trächtlich erschwert. Otto Kuhn.
Planck, Max, Physikalische Rundblicke.
Gesammelte Reden und Aufsätze.
168 S. Leipzig 1922', S. Hirzel. Geh. 26 M.
Es liegt hier eine sehr willkommene chrono-
logisch geordnete Sammlung von 8 Reden und
Aufsätzen Max Plancks aus den Jahren 1908
bis 1920 vor, die bisher an verschiedenen Stellen
einzeln zur Veröffentlichung gekommen sind und
sich erst jetzt in ihrer Zusammenfassung zu einem
Gesamtbild unserer physikalischen Naturauffassung
ergänzen können. Die behandelten Probleme
sind die folgenden: I. Die Einheit des physika-
lischen Weltbildes, 2. Die Stellung der neueren
Physik zur mechanischen Naturanschauung, 3. Neue
Bahnen der physikalischen Erkenntnis, 4. Dyna-
mische und statistische Gesetzmäßigkeit, 5. Das
Prinzip der kleinsten Wirkung, 6. Verhältnis der
Theorien zueinander, 7. Das Wesen des Lichts,
8. Die Entstehung und bisherige Entwicklung der
Quantentheorie.
Es handelt sich also in allen Fällen um allge-
meinere Fragen von grundlegender Bedeutung für
unsere gesamte Erkenntnis des physikalischen
Weltgeschehens, an denen kein Gebildeter achtlos
vorübergehen kann. Hervorzuheben ist die große
Sorgfalt und Tiefe ihrer Behandlung und die
außerordentlich klare, anschauliche und höchst an-
regende Sprache. Dem Kenner sowohl als jedem
naturwissenschaftlichvorgebildeten bietet es zweifel-
los hohen Genuß, mit dem Verf. auf der Grund-
lage der großen Mannigfaltigkeit unserer physi-
kalischen Einzelkenntnisse, zu denen die experi-
mentelle und theoretische Bearbeitung der Einzel-
gebiete geführt hat, fortzuschreiten zu allge-
meineren, beherrschenden Gesichtspunkten und
diese zu einem physikalischen Weltbild zu ver-
einen. A. Becker.
Collier, Dr. W. A., Einführung in die
Variationsstatistik. Mit 8 Abbildungen.
Berlin 192 1, J. Springer. 32 M.
Die zweckmäßige, kurze Zusammenstellung
der wichtigsten variationsstatistischen Methoden
ist für solche Mediziner und Biologen bestimmt,
die ohne Vererbungsforscher zu sein, gelegentlich
biologische Probleme mit statistischen Methoden
angreifen müssen. So hat der Verf. eine Anzahl
von Beispielen aus dem Gebiete der Immunitäts-
lehre herangezogen. Miehe.
Jäger, G., Theoretische Physik IV. Elek-
tromagnetische Lichttheorie und
Elektronik. Nr. 374 der „Sammlung Göschen".
Dritte, verbesserte Auflage. 146 S. mit 17 Fig.
im Text. Berlin und Leipzig 1921, Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger.
Gegenüber der zweiten Auflage zeigt der vor-
liegende Neudruck keine erheblichen Änderungen.
Wir können uns daher darauf beschränken, diese
in weiten Kreisen geschätzte , bei aller Kürze
außerordentlich sorgfältige theoretische Darstellung
der wichtigsten Fragen des behandelten Gebiets
erneut warm zu empfehlen. A. Becker.
Illbnlt: Wilh. Troll, Goethes Naturanschauung in seinen Gedichten. S. 313. S. v. Kobbe, Die .Ablenkung des Fix-
sternlichtes im Schwerefeld der Sonne. S. 317. — Bücherbesprechungen: L. Vanino, Handbuch der präparativen
Chemie. S. 319. H. K. Corning, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen. S. 319. E. Bauer, Die
Grundprinzipien der rein naturwissenschaftlichen Biologie und ihre Anwendungen in der Physiologie und Pathologie.
S. 320. M. Planck, Physikalische Kundblicke. Gesammelle Reden und Aufsätze. S. 320. \V. A. Collier, Ein-
führung in die Variationsstatistik. S. 320. G. Jäger, Theoretische Physik IV. Elektromagnetische Lichttheorie und
Elektronik. S. 320.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. IL, Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21, Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den ii. Juni 1922.
Nummer 34.
Zinn fünfzigjährigen Bestehen der Sächsischen Geologischen
.Landesuntersuchung.
Von Prof. Dr. E. Kreukel, Leipzig.
[Nachdruck verboten.]
Am 6. April blickte die Sächsische Geologi-
sche Landesuntersuchung auf eine fünfzigjährige
Tätigkeit zurück. Sie empfing an diesem Tage
eine Fülle von Ehrungen und Glückwünschen
seitens der Fachwissenschaft. In vollstem Maße
hat sie erfüllt, was ihrem ersten Leiter, Hermann
Credner, als Aufgabe bei der Begründung
dieser, weit über Deutschlands Grenzen durch ihre
hervorragenden Leistungen berühmten Stätte
wissenschaftlicher und praktischer Geologie vor-
gezeichnet wurde: „die möglichst genaue Erfor-
schung des geologischen Baues, des Mineral-
reichtums und der Bodenverhältnisse des König-
reiches, die Nutzbarmachung der gewonnenen
Resultate für Land- und Forstwirtschaft, für Berg-
bau und Verkehr sowie die übrigen Zweige tech-
nischer Betriebsamkeit".
Eine stattliche Zahl von Geologen mit be-
kannten Namen haben an den umfänglichen Ar-
beiten der Landesuntersuchung in diesen 50 Jahren
mitgewirkt, von denen hier, ohne Vollständigkeit
anzustreben, genannt seien: R. Beck, D. Brauns,
E. Dathe, C. Gaebert, A. Jentzsch, E.
Kalkowsky, G. Klemm, H. Müller, A.
Penck, A.Rothpletz, A.Sauer, M.Schrö-
der, E. Weiße.
Drei hervorragende wissenschaftliche Namen
standen an ihrer Spitze : Hermann Credner,
Hans Stille, Franz Koßmat. Unter des
letzteren Leitung ist eine, dem modernen Stande
der geologischen Wissenschaft entsprechende,
tiefschürfende Forschungsarbeit begonnen worden,
die — unterstützt von einem, mit den sich ver-
größernden Zielen wachsenden Stabe von treff-
lichen Spezialforschern , wie K. Pietzsch, R.
Reinisch, R. Grahmann, F. Härtel — in
den wissenschaftlichen wie praktischen Leistungen
der letzten Jahre das schlagendste Zeugnis von der
Notwendigkeit und dem Nutzen einer geologischen
Landesuntersuchung ablegt.
Für die mit der Gründung der Landesunter-
suchung einsetzenden speziellen Forschungen war
in Sachsen der Boden seit langer Zeit wie kaum
irgendwo vorbereitet. Als die Geologie in den
Ländern ringsum meist noch kaum beachtet und
geachtet wurde, hatten in Sachsen bereits die
seit dem frühen Mittelalter entdeckten reichen
Erzschätze das Verständnis für eine eingehende
Untersuchung des festen Untergrundes geweckt.
Bekannt ist, wie bahnbrechend die von der Berg-
akademie Freiberg ausgehenden Lehren für das
rasche Vorwärtsschreiten der geologischen Er-
kenntnis gewesen sind. Hier hatte man seit 1798
unter der Leitung wohl eines der besten der
älteren deutschen Geologen, Abraham Gott-
lob Werners, begonnen, Beobachtungen für
eine Übersicht des ganzen Landes zu sammeln.
Diese wurden später von C. F. Naumann —
zuerst ebenfalls in Freiberg, dann als Professor an
der Universität Leipzig tätig, wo er sein präch-
tiges, großzügiges Lehrbuch der Geognosie ver-
faßte — als Grundlage für seine, mit B. Cotta
herausgegebene große Karte verwendet, die als
„Geognostische Spezialkarte des Königreiches
Sachsen" im Maßstabe i ; 12OCOO in 12 Blättern
mit 5 Heften Erläuterungen in Freiberg 1834 —
1845 herauskam. Naumann, eine scharfsehende,
geniale Gelehrtennatur, schuf in ihr, weit hinaus-
gehend über die Vorarbeiten, ein Werk, das da-
mals unübertroffen in Europa dastand. Natur-
gemäß konnte diese erste geologische Aufnahme
Sachsens keinen Abschluß der geologischen Er-
kundung des Landes bedeuten, da mancherlei
Fragen damals einer Lösung noch gar nicht zu-
gänglich waren. Zudem war der Maßstab zu
klein, um allen Ansprüchen der Wissenschaft und
Praxis zu genügen — war doch Preußen 1862
dazu übergegangen, Spezialkarten i. M. 1:25000
herauszugeben.
Naumann, wie seine Mitarbeiter Cotta
und Geinitz, waren es noch, die die nötige
weitere Entwicklung der Landesuntersuchung in
einer Denkschrift vom Jahre 1870 mit Energie
verfochten. Diese bestand vor allem in der Auf-
nahme des Landes durch Spezialkarten i. M.
I : 25000. Viele Schwierigkeiten waren bis zu
ihrem Beginne zu überwinden : mußte doch zu-
nächst erst eine neue topographische Unterlage
hergestellt werden.
Nach Naumanns Tode wurde der dreißig-
jährige Hermann Credner — der, eben aus
Amerika zurückgekehrt, wohl in der Geologie
dieses Erdteiles besser Bescheid wußte als in der
heimischen — zum Leiter der geologischen
Landesuntersuchung ernannt. Mit der ihm eigenen
Schaffenskraft und Arbeitsfreude ging er ans Werk.
Im Laufe vieler Jahre wurden 126 Kartenblätter,
jedes von ungefähr 130 qkm Fläche, von den
oben genannten Mitarbeitern aufgenommen. Es
bedeutet das eine bewundernswerte Arbeitsleistung.
Gehört doch Sachsen zu den geologisch mannig-
fachsten Gebieten Deutschlands; waren hier doch
viele geologische Fragen kartographisch zu lösen,
für die bisher keinerlei Vorbild als Grundlage
^22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
dienen konnte. Der schwierige Vielfarbendruck
wurde von der graphischen Anstalt Gi es ecke
&Devrient in Leipzig in vorbildlicher Form
ausgeführt, die noch heute die Ausführung in den
Händen hat und vielen anderen deutschen Landes-
anstalten als Kunstanstalt dient.
Im Jahre 1895 war die gesamte Spezialauf-
nahme fertiggestellt. Ihre Blätter fanden eine
solche gute Aufnahme, daß eine ganze Anzahl
von ihnen in diesem Jahre bereits wieder ver-
griffen war. Man schritt daher zu einer Neuaus-
gabe der vergriffenen Sektionen. 62 Blätter
liegen in zweiter, mehrere in dritter Auflage
heute vor. Der Verbrauch hat sich in den letzten
Jahren so gesteigert, daß der Verkauf einzelner
Blätter gesperrt werden mußte. Der Druck eines
Blattes kostet gegenwärtig — ungerechnet die
Aufnahmekosten — etwa 100 IVIark; trotzdem
wird es zu einem viel geringeren Preise abge-
geben. Denn der Staat will mit den geologischen
Karten weniger verdienen , als der Allgemeinheit
nützen.
Trotz angestrengtester Aufnahmearbeit ist es
nicht möglich in den Neuausgaben der Spezial-
karten mit dem Verbrauche gleichen Schritt zu
halten. Denn eine Neuausgabe nach einigen Jahr-
zehnten bedeutet nicht einen einfachen Neudruck
des früher Dargestellten, sondern umfangreiche
selbständige Neubegehungen, gar nicht selten
eine völlige Umarbeitung nach den modernen
Anschauungen der Wissenschaft, die heute z. B.
eine sehr viel eingehendere Analyse des tekto-
nischen Baues verlangt. Hatte man die älteren
Blätter der Spezialkarte nur in der geringen Auf-
lagenhöhe von 200 Stück hergestellt — gegen-
wärtig ist sie viel höher — so hat deren wider
iLr warten schneller Absatz wesentlich dazu bei-
getragen, in gewissen Etappen wichtigere Neue-
rungen in den Neuauflagen der Karten darstellen
zu können.
Gewissermaßen die Endübersicht über die Auf-
nahmen bringen die beiden, weit verbreiteten
Übersichtskarten Sachsens, die 1908 i. M. i : 250000,
1910 i. M. 1 : 500000 erschienen sind. Vor allem
die kleine Übersichtskarte ist in den Schulen zu
großer Verbreitung gelangt. Durch vorzügliche
technische Ausführung und geschmackvolle Farben-
wahl gebührt ihnen fein hervorragender Platz
unter den geologischen Karten der Erde.
Neben der Aufnahme der Karten erfüllt die
Sächsische Landesuntersuchung eine Reihe wichti-
ger, der Allgemeinheit dienender Aufgaben. Ja,
ihre praktische Wirksamkeil vergrößert sich von
Jahr zu Jahr. Eine Reihe von umfangreichen
gründlichen Monographien stellt Erz- und Kohlen-
schätze des Landes dar; unter diesen seien die
Arbeiten von Mu eller über die Erzgebiete des
Erzgebirges, von Hausse über die Kohlen des
Plauenschen Grundes bei Dresden, von Etzold
über die sächsischen Braunkohlenlager genannt.
In der Begutachtung der Kohlenversorgung des
Landes hat die Landesuntersuchung neuerdings
wichtige Aufgaben zu erfüllen.
Die anfangs sehr geförderten, später leider
zurückgetretenen bodenkundlichen Aufnahmen, die
für die Landwirtschaft von allergrößtem praktischen
Werte sind, traten 191 8 wieder in den Vorder-
grund. Die Zeit wird nicht ferne sein, wo die
bereits 1872 angeregten agrogeologischen Karten
und Sonderdarstellungen an die Öffentlichkeit
treten, in den die speziellen agronomischen Unter-
suchungen sächsischer Böden niedergelegt sind.
Ein vorzüglich eingerichtetes Laboratorium unter-
stützt diese praktische Arbeit aufs beste.
Eine Fülle von Arbeit verursacht der Grund-
wasserdienst, der sich zu einem wichtigen Zweige
geologischer Tätigkeit ausgebildet hat. Viele
Hunderte von Brunnen werden regelmäßig auf
ihren Wasserstand beobachtet. In einem Lande
mit dichter Bevölkerung, hochentwickelter In-
dustrie und wachsendem Braunkohlenbergbau ist
eine wissenschaftlich beratene Grundwasserbe-
obachtung von größter Bedeutung.
Liegt noch heute der Schwerpunkt der rein
wissenschaftlichen Tätigkeit der Landesunter-
suchung überwiegend in den gebirgigen Teilen
des Landes, wo es gilt, Fragen allerschwierigster
Natur ihrer Lösung näherzuführen, nachdem
verheißungsvolle Anfänge z. B. in der Entwirrung
der Tektonik des Erzgebirges, des Elbtalschiefer-
gebirges gemacht wurden, so ist dagegen der
Schwerpunkt der praktisch-wissenschaftlichen Be-
tätigung aus den fast erschöpften Erzgebieten des
Erzgebirges hinab in das Flachland gewandert,
wo Industrie und Landwirtschaft ihren Hauptsitz
haben und intensivste Ausnutzung aller Schätze
des Bodens im weitesten Sinne dieses Wortes
verlangen.
Mögen nach den ersten, so erfolgreichen fünfzig
Jahren ihrer Tätigkeit andere fünfzig mit gleich
glücklichen Ergebnissen der Sächsischen Landes-
untersuchung beschieden sein 1
Alfoiiso Corti.
Ein Gedenkblatt zum 15. Juni.
(Nachdruck verboten.] Von Dr. (iolt fripll Brücklior. Grimma.
Als der Anatom Albert Kölliker im Jahre tomischen Wissenschaft verankert. Um so ver-
1854 für einen bestimmten Teil der Gehörschnecke wunderlicher ist es, daß die bis vor wenigen
die Bezeichnung „Cortisches Organ" einführte, hat Jahren erschienenen naturwissenschaftlich- und
er den Namen Corti für alle Zeiten in der ana- medizinisch-biographischen Nachschlagewerke uns
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
in
keinen Aufschluß über Cortis Lebenslauf geben
können. Als ich vor einigen Jahren von dieser
Tatsache Kenntnis bekam, bemühte ich mich,
diese Lücke in der deutschen biographischen
Literatur auszufüllen und stellte Nachforschungen
über den Lebensgang Cortis an.
Das Ergebnis meiner Bemühungen, das ich
teilweise bereits anderweit veröffentlicht habe,^)
ist zwar nicht so erfolgreich gewesen wie ich
gehofft hatte, doch will ich alles, was ich bisher
über den Lebensgang Cortis ermitteln konnte,
aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Geburts-
tages in folgender biographischen Skizze zu-
sammenfassen.
Alfonso Corti wurde am 15. Juni 1822 als
Sohn des Gutsbesitzers Gaspare-Guiseppe
Corti, Marchese die S. Stefano Belbo in Gam-
barana geboren. Als Jüngling entschloß er sich
Philosophie und Medizin zu studieren und bezog
die Universität Pavia. Später besuchte er die
Universität in Wien, wo er sich im Studienjahre
1846/47 als cand. med. immatrikulierte. Am
5. August 1847 wurde er auf Grund seiner Disser-
tation „De systemate vasorum psammosauri
grisei" zum Doktor der Medizin promoviert. Hier-
über findet sich im Rigorosenprotokoll der Medi-
zinischen Fakultät der Universität Wien folgendes:
„Corti, Alphonsus de, natus in Gambarana in
Sardinia die XV. Junii 1822, rom. cath., absolvit
studia philos. Paviae, medica partim Paviae partim
Viennae; subiit examina rigorosa medica, primum
die 9. Febr. 1847 bene per majora (sat bene),
secundum die 27. Julii 1847 sufficienter; disputavit
die 5. Aug. 1847 valde bene." —
Während seines Aufenthalts in Wien war Corti
eine Zeitlang Prosektor des berühmten Anatomen
Joseph Hyrtl; doch läßt sich nicht feststellen,
wie lange er sich in Wien aufgehalten hat. —
Die nächste Spur von Corti findet sich in Utrecht.
A. Kölliker, der im Jahre 1850 eine Reise
durch Holland, England und Schottland unter-
nahm, schreibt am 4. Sept. 1850 an C. Th. v. Sie -
bold folgendes: „Dampfschiff und Eisenbahn
führten mich schnell nach Arnhem und Utrecht,
und schon der folgende Mittag sah mich im
Observatorium microscopicum in Gesellschaft von
Schröder van der Kolk, Harting und
Verloren, sowie des eben in Utrecht anwesen-
den Marchese Corti, eines für die Naturwissen-
schaften begeisterten jungen Piemonisten, den Sie
aus seiner Schrift über das Gefäßsystem des
Psammosaurus griseus kennen werden". Hieraus
geht hervor, daß Corti in der Gelehrtenwelt
bereits einigermaßen bekannt geworden war und
') Brückner, Beiträge zu einer Biographie des Mar-
chese Alfonso Corti. Archiv für die Geschiebe der Natur-
wissenschaften und der Technik Bd. 5, S. 69 ff.
Brückner, Das Bildnis des Marchese Alfonso Corti.
Ebenda S. 207. Alfonso Corti ist nicht zu verwechseln
mit Bonaventura Corti, dem Entdecker der Protoplasma-
strömung. (Vgl. Brückner, Das Leben und die Schriften
des Abtes B. Corti. Archiv für die Geschichte der Natur-
wissenschaften und der Technik Bd. 4, S. 389 fr.)
daß es ihm leicht gelungen war, mit den be-
deutendsten Forschern Hollands in näheren Ver-
kehr zu kommen. Für seine spätere wissenschaft-
liche Entwicklung war sein Aufenthalt in Utrecht
zweifellos von großer Bedeutung. Denn damals
führte Harting die Anwendung von arseniger
Säure für die Herstellung mikroskopischer Präpa-
rate ein, von welcher IVlethode Corti bei der
Untersuchung der Gehörschnecke mit bestem Er-
folg Gebrauch gemacht hat. Leider läßt sich auch
die Dauer seines Verweilens in Utrecht nicht genau
feststellen; nur soviel ist sicher, daß er darnach
an der Universität Würzburg tätig gewesen ist.
Corti muß die Gewohnheit gehabt haben, an
keiner Hochschule ein öffentliches Amt zu be-
kleiden, sondern ist wohl lediglich als Privatge-
lehrter in Universitätsinstituten tätig gewesen.
Denn trotz genauer Durchsicht der Personal- und
Vorlesungsverzeichnisse der in Frage kommenden
Universitäten ist sein Name dort nirgends ver-
zeichnet. Dies findet seine Erklärung darin, daß
Corti vermögend gewesen ist, und daß ihm
diese angenehme finanzielle Lage ermöglichte, die
anatomische Forschung nur um ihrer selbst willen
und zu seiner persönlichen Freude pflegen zu
können, ohne die Bürden und die Verantwortung
eines Amtes auf sich nehmen zu müssen.
Nachdem Corti im Jahre 1850 in Müllers
Archiv für Anatomie und Physiologie seinen „Bei-
trag zur Anatomie der Retina" veröffentlicht hatte,
ließ er am 30. Juni 185 1 in der „Zeitschrift für
wissenschaftliche Zoologie" seine bedeutendste
Arbeit erscheinen unter dem Titel : Recherches
sur l'organe de l'ouie des mammiferes. Premiere
partie : lima(;on. Reiche Anerkennung erntete
Corti für seine Untersuchungen bei den zeit-
genössischen Anatomen, und es ist nicht un-
interessant, sie mit ihren eigenen Worten über
Cortis Forschungen urteilen zu hören.
Joseph Hyrtl in Wien äußert sich folgender-
maßen: „Mein ehemaliger Prosektor, Marchese
Alfonso Corti, hat das Verdienst eine sehr
sorgfältige und genaue Untersuchung über den
Bau der Lamina spiralis ofsea und membranacea
sowie der Nerven und Gefäße derselben vorge-
nommen zu haben, deren überraschende Ergeb-
nisse . . . allen späteren einschlägigen Unter-
suchungen zum Ausgangspunkt dienten."
A. Kölliker, der in die wissenschaftliche
Nomenklatur die Bezeichnung „Cortisches Organ"
eingeführt hat, spricht sich in seinen Werken aus-
führlich über Cortis Leistung aus. An einer
Stelle nennt er sie eine „ausgezeichnete und den
Gegenstand fast erschöpfende Abhandlung . . ., die
Frucht monatelanger, mühevoller Untersuchung".
In einem anderen Abschnitt von Köllikers Mikro-
skopischer Anatomie heißt es: „Ich habe . . . bei
einer vor kurzem unternommenen Erforschung
der Schnecke zwar die meisten und wesentlichsten
der Cor tischen Angaben zu bestätigen vermocht,
zugleich aber auch gefunden, daß dieser Autor
einen sehr wichtigen Punkt nicht ganz bis zum
324
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
Abschlüsse verfolgt hat und infolgedessen auch
mit Beziehung auf die Deutung gewisser Teile
auf Abwege gekommen ist. Indem ich mich so
ausspreche, will ich meinem Freunde Corti nicht
im geringsten zu nahe treten. Niemand weiß
besser als ich, mit welcher Ausdauer und welchem
Geschick derselbe monatelang mit dem so äußerst
schwer zu behandelndem Labyrinthe sich be-
schäftigte, und sicherlich wird jeder, der Corti
nachuntersucht, mit mir einstimmen , wenn ich
sage, daß nicht leicht eine monographische Arbeit
von solcher Exaktheit und Vollständigkeit zu
finden ist wie die seine. Allein wie es in allen
unsern Forschungen geht, so auch hier; jeder
führt den wissenschaftlichen Bau um ein gewisses
seinem Ziele näher, doch es ist keinem vergönnt,
denselben ganz zu enden."
Ein Jahr nach Erscheinen seines Hauptwerkes
hat Corti Deutschland den Rücken gekehrt,
denn im Jahre 1852 finden wir ihn in Turin. Dort
arbeitete er gemeinsam mit dem Professor Che-
valier Filippo de Filippi. Reiches ana-
tomisches Material bot sich ihnen, als der König
Victor Emanuel II. von Sardinien die Menagerie
in der Nähe von Stupinigi bei Turin auflöste und
dem Zoologischen Museum der Universität Turin
einen durch Asphyxie mit Kohlendioxyd getöteten
Elefanten für wissenschaftliche Zwecke zur Ver-
fügung stellte. Im Dezember 1852 berichtete
Corti in einem Briefe an Kölliker über das
Ergebnis seiner anatomischen Untersuchungen.
Von diesem Zeitpunkte an scheinen sich
Cortis wissenschaftliche Interessen immer mehr
verloren zu haben, bis er schließlich im Jahre 1854
auch die letzten Beziehungen zur Universität Turin
völlig löste. Im Jahre 1855 vermählte er sich
mit Maria Bettinzoli und zog sich dann in
seine Villa Mazzolino in der Nähe von Casteggio
(Provinz Pavia) zurück. Dort widmete er sich
mit so großem Eifer dem Weinbau, daß er in
der ganzen Gegend der Colli di Casteggio als
Autorität in diesem F"ache galt. Corti starb im
55. Lebensjahre am 2. Oktober 1876.')
') Da Cortis Bruder Luigi Corti (1823 — 88) eine
Zeitlang italienischer Bevollmächtigter in Beilin war, konnte
ich durch das dortige Italienische Konsulat erfahren, daß
AlfoDSo Cortis Sohn, Ga spare, in Taino (Provinz Como)
lebt. Auf meine briefliche Anfrage konnte ich jedoch keine
biographischen Einzelheiten über seinen Vater erfahren, da er
ihn bereits mit 14 Jahren verloren hat. — Die Quellen obiger
biographischen Skizze sind Mitteilungen der Universitäten
Wien und Turin, Angaben in einem italienischen Adelslexikon
und gelegentliche Notizen in der anatomisch-wissenschaftlichen
Literatur.
Mathematisches Neuland: Arnold Kowalewskis Buntordnnngslehre.
[Nachdruck verboten.]
Von Universitätsprofessor Dr. Hans Rlist, Königsberg i. Pr.
Wiederholt hat die mathematische Wissen-
schaft bedeutsame Anregungen auf das philosophi-
sche Denken ausgeübt, wie sie umgekehrt solche
von dort her empfangen hat. Es waren jeweils
nicht die schlechtesten und nicht die unbedeutend-
sten Philosophen, welche die Mathematik um
ganz hervorragende, ja epochemachende und um-
wälzende Entdeckungen bereichert haben. Nur
beispielsweise seien Cartesius als der Schöpfer
der analytischen Geometrie, Leibniz als Ent-
decker der Infinitesimalrechnung, Fechner als
der Urheber der Kollektivmaßlehre genannt.
Wie letzterer ganz besonders von psychologi-
schen und psychophysischen Untersuchungen her-
kam, so entstammen diesem Forschungsgebiete
die Anlässe, welche einen mit hoher Achtung
genannten Philosophen der Gegenwart zu seiner
außerordentlich bedeutsamen Entdeckung
eines völlig neuen Gebietes der mathe-
matischen Forschung und ihrer reichen
Anwendungsmöglichkeiten geführt haben.
Um die Jahrhundertwende standen sich die
reine Philosophie und die Experimentalpsycho-
logie wie zwei feindliche Schwestern gegenüber.
Da kam Arnold Kowalewski im Jahre 1902
auf den sehr fruchtbaren Gedanken, eine metho-
dologische Synthese beider Forschungs-
gebiete herzustellen und ihre Brauchbarkeit so-
gleich an einer ganz konkreten philosophischen
Frage vor Augen zu führen. Er suchte das Pessi-
mismusproblem durch eine systematische Ver-
gleichung der Lust- und Unlustauffassung aufzu-
hellen und legte die hauptsächlichsten Ergebnisse
seiner Forschung in den „Studien zur Psychologie
des Pessimismus" , Wiesbaden , J. F. Bergmann,
1904 (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens)
vor. Eine zweite Frucht dieser Arbeitsgemein-
schaft von reiner Philosophie und experimenteller
Psychologie war Kowalewskis Buch „Arthur
Schopenhauer und seine Weltanschauung", Halle,
C. Marhold, 1908. Hier gelang ihm durch „em-
pirische Sondierungen" über Lust- und Unlust-
erinnerung eine schlagende Bestätigung der
Schopenhauerschen Lehre von der Zusammen-
gehörigkeit großer Lust- und Schmerzdisposition.
Kowalewski hat, sagt Oswald Külpe, „in
glücklicher Form gezeigt, daß die experimentelle
Psychologie auch an größere F"ragen herantreten,
zu Ethik und Metaphysik in fruchtbare Beziehung
gebracht werden kann" (Göttirgische gel. Anzeigen,
Februar 1905). Ihre Bedeutsamkeit für die heute
wieder auflebende Seelendiätetik habe ich in
meinem Buche „Sittlichkeit und Gesundheit",
Bielefeld und Leipzig, Velhagen und Klasing,
1922, S. ']^ und 97) hervorgehoben.
Bei seinen Experimenten über die Auffassung
moralischer Wertunterschiede nach der „Methode
der paarweisen Vergleichung" ergab sich für
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
325
Kowalewski die Notwendigkeit, die zur Ver-
gleichung dargebotenen Paare oder Amben in
möglichst bunter Abwechslung folgen zu lassen,
um so die Reinheit des Ergebnisses zu sichern.
Am wenigsten leistete die von Külpe vorge-
schlagene lexikographische Anordnung der Paare,
weil hier das einzelne Element viel zu oft hinter-
einander und damit zu lange beobachtet wird,
während das Nachbarelement zwar wechselt, aber
in einer gleichbleibenden Abfolge. Besseres
leistete schon die von Jonas Cohn empfohlene
Art der Kombination, welche im wesentlichen
dem Dominoprinzip folgt, also jedes EJement
zweimal nacheinander zeigt, das eine IVIal rechts,
das andere Mal links vom Vergleichungselement.
Aber auch so entstand noch keine bunteste
Anordnung der Amben und ließen sich P'ehler
nicht ganz vermeiden, welche aus der Reihen-
folge der Versuche entsprangen.
Kowalewski versuchte daher eine Amben-
reihe zu konstruieren, in der möglichst viele
aufeinanderfolgende Amben lauter
verschiedene Elemente enthalten, so
daß die Wiederholung jedes einzelnen
Elementes möglichst hinausgeschoben
wird. Eine solche Ambenreihe stellt sich der
Versuchsperson nicht nur subjektiv, sondern auch
objektiv als eine bunteste Mischung der Elemente
dar, während der Experimentator die Reihe mit
Leichtigkeit herstellen und übersehen kann, weil
er ihr mathematisches Bildungsgesetz in Händen hat.
Damit war der Grundgedanke und der Grund-
begriff der „Buntord nungslehre" entdeckt
und ein ganz neues Gebiet der Kombinatorik
erschlossen, deren ruhmreiche Geschichte an den
Namen des großen Leibniz geknüpft ist, die
man aber seit ihrer großen Blüte am Anfange
des neunzehnten Jahrhunderts für abgestorben hielt.
Die Wiener Akademie der Wissen-
schaften hat sich das äußerst dankenswerte
Verdienst erworben, in den Jahren des Krieges,
seit 1915, in sieben aufeinanderfolgenden Ver-
öffentlichungen die tief dringenden Forschungen
Kowalewskis auf dem von ihm neu entdeckten
Wissensgebiete der gelehrten Welt vorzulegen,
nachdem Prof. Dr. W i r t i n g e r sofort die Be-
deutsamkeit der neuen Entdeckung erkannt hatte.
Nunmehr tritt der glückliche Entdecker mit
seinem wertvollen Funde ein zweites Mal vor die
Öffentlichkeit, um sie weiteren Kreisen bekannt
zu machen. Vor mir liegt: ,,Die Buntord-
nung", Mathematische, philosophische und tech-
nische Betrachtungen über eine neue kombinatori-
sche Idee von Arnold Kowalewski, a. o. Prof.
in Königsberg i. Pr. , Heft i : Entstehung und
mathematischer Ausbau der Buntordnungslehre.
Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, 1922.
Preis "18 Mark. 53 S. gr. 8". Dem Werte des
Inhalts entspricht die vornehme Ausstattung des
Buches, das gute Papier und der große, klare
Druck. Da sich das Werk an Mathematiker,
Philosophen und Techniker wendet, so wurde
eine Zerlegung des Ganzen in drei Hefte beliebt,
welche der Verbreitung der neuen Idee nützen
wird.
Das vorliegende erste Heft unterrichtet über
die Entstehung der Buntordnungslehre und ent-
wickelt ihren Inhalt unter fortwährender Bezug-
nahme auf die grundlegenden Akademieabhand-
lungen in einer auch einem größeren Leserkreise
verständlichen Form. Zunächst machen uns grund-
legende Betrachtungen mit den Grundbegriffen
der Buntordnungslehre bekannt, deren es fort-
schreitend immer neue zu entdecken und zu
fixieren gibt. Die Buntheitsmöglichkeiten werden
in Form von „Buntringen" erschöpfend berechnet.
Nach Kowalewskis Feststellung zerfallen alle
vollkommenen Buntringe der doppelten Fünfer-
amben in 12 isonome, 15 parisonome, 30 Hamil-
tonsche, 30 konservative, 60 unharmonische erster
und 60 unharmonische zweiter Art. Im ganzen
gibt es also 207 = 3" ■ 23 solche Buntringe.
Die folgenden Untersuchungen behandeln die
zu den Ambenbuntringen gehörigen Absenten-
ringe und ähnliche bunte Elemenlringe; bunteste
Ambenreihen und Ambenringe bei gerader Ele-
mentzahl; Temen- und Quaternenbuntringe; die
topologische Deutung von Buntordnungsproble-
men; bunte Konstellationsreihen und Konstella-
tionsringe; flächenhafte Buntordnungen; Neben-
ergebnisse.
Besonders hervorgehoben zu werden verdient
die Tatsache, daß gewisse rein mathematische
Probleme durch die Buntordnungslehre in eine
neue Beleuchtung gerückt worden sind, so nament-
lich Hamiltons Dodekaederproblem und Steiners
Theorie der Dreiersysteme. Die Freunde des
Schachspiels werden sich freuen, daß im Zusam-
menhang mit dem soeben erschlossenen Erkenntnis-
gebiet auch neue Typen von Rösselsprüngen
gefunden worden sind. Auch in die Mathematik
der höheren Raumarten greift die neue Forschung
hinein, sofern nur in solchen gewisse „Buntnetze"
zu voller Schönheit verwirklicht werden können,
d. h. so daß ihre Fäden sich niemals schneiden.
Das zweite Heft soll die philosophische
Auswertung des neuen Wissenszweiges bringen.
Das dritte Heft wird die bedeutsamsten prak-
tischen Nutzungswege aufzeigen, die der Bunt-
ordnungsidee in der experimentalpsychologischen
Technik, in der Fabrikorganisation, im Handels-
betrieb, in der Landwirtschaft (Buntsaat 1), Medizin,
Chemie (Elementverbindungen!), Erziehungs-
kunst, Spielindustrie, Kunstgärtnerei und Orna-
mentik offen stehen. Es ist zu hoffen, daß sich
auf diesen Gebieten Nutzanwendungen der Bunt-
ordnungslehre ergeben, welche einen nicht ge-
ringen Beitrag zur Wiederherstellung unseres
Wirtschaftslebens liefern. Aber auch weit darüber
hinaus erbringt die rein wissenschaftliche Ent-
deckung als solche einen neuen Beweis für die
Kraft und Sieghaftigkeit des deutschen Geistes.
326
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
Alfred Wegeners Theorre der Koutinentalverschiebungen und die Tiergeographie.
Von Dr. Wilh. R. Eckardt,
Leiter des Meteorologischen Observatoriums Essen.
[Nachdruck verboten.]
Es kann wohl kein Zweifel darüber herrschen,
daß Alfred Wegeners Theorie der Konti-
nentalverschiebungen z. T. als richtig sich er-
weisen wird. Für das Paläoklima und manche
große Grundfragen der Tiergeographie sind be-
sonders wichtig die aus ihr hergeleiteten Polver-
schiebungen im Laufe der Erdgeschichte, die für
manche Erdperioden von We gener und Koppen
im allgemeinen richtig erfaßt worden sein dürften.
Denn ohne Annahme solcher Verlagerungen
kommt die Paläoklimatologie ebensowenig aus
wie der historische Zweig der Biogeographie.
In diesem Zusammenhange möchte ich hier
nur kurz das Problem des Aussterbens der süd-
amerikanischen Equiden behandeln, das dem Bio-
logen, Geographen und Geologen bis heute viel
Kopfzerbrechen verursacht hat.
Obwohl der Hauptherd der Pferdeschöpfung
in Nordamerika lag, von wo aus im Laufe des
Tertiärs auch alle übrigen Festländer — ausge-
nommen natürlich Australien — ihre Equiden-
formen erhielten und weiter umbildeten, fanden
bekanntlich die Spanier, welche Amerika zuerst
betraten, kein einziges Pferd, weder wild noch
domestiziert, vor, während heute zahlreiche Herden
verwilderter Pferde auf den südamerikanischen
Steppen sich herumtummeln, und zwar bereits
seit Ende des 16. Jahrhunderts. Dagegen kommen
Gegenteil ! dort finden wir nur Puma und Jaguar,
im Osten aber Löwe, Tiger, Leopard, Bär usw.
Auch der vorzeitliche Jäger kann die Pferde in
Amerika nicht ausgerottet haben, da seine Jagd-
geräte und Jagdmethode viel zu primitiv waren,')
und weil die fossilen Funde die hierfür in Frage
kommenden menschlichen Artefakte vermissen
lassen. An das Auftreten von Seuchen, die die
Herden hinwegrafften, ließe sich denken, aber
eine solche Hypothese schwebt völlig in der Luft.
IVI. E. können wir der Lösung der Frage nur
dann näher kommen, wenn wir bedenken, daß
auch die Urwildpferde, wie fast alle Pferdeartigen,
Steppentiere gewesen sind und somit die trockene
Grasebene als ihre natürliche Heimat und Nahrungs-
stelle besaßen, daß also für ihr Verschwinden
wohl Änderungen des Klimas und des Pflanzen-
wuchses, übermäßige Zunahme der F"euchtigkeit
und Vorrücken des Waldes verantwortlich ge-
macht werden müssen. Hierauf hat bereits
L. Heck,-) allerdings nicht in bezug auf die
südamerikanischen Pferde, hingewiesen. Solche
Klimaänderungen sind aber in Südamerika tat-
sächlich vom Tertiär bis zur Gegenwart vor sich
gegangen. Bekanntlich liegen die Reste großer
ausgestorbener südamerikanischer Tiere, wie z. B.
von Megatherium, Mylodon, Macrauchenia u. a.
meist im Pampaslehm eingebettet, jener ausge-
Pferde fossil in den Pampaschichten, in den etwas dehnten Lößformation, die sich außen an das mit
älteren Ablagerungen von Paranä, sowie in den Grundmoräne bedeckte Gebiet älterer Vereisung
Monte HermosoSchichten vor, während sie in den nördlich von Patagonien anschließt. Alfred
Santa Cruz-Schichten fehlen. Einige der argenti- Wegener^) selbst bemerkt hierzu treffend:
nischen fossilen Pferde gehören der typischen „Man erkennt allgemein an, daß diese Fauna nur
Gattung EqtiKS an, während andere wegen des in warmem Klima gelebt haben kann, ist aber
einfacheren Baues ihrer Molaren und der be- bestrebt, sie ins Tertiär oder wenigstens Altquartär
deutenden Länge der Einschnitte im Schädel
unterhalb der Nasenbeine unter dem Namen Hip-
pidiniH zu einer besonderen Gattung zusammen-
gefaßt werden. Eine dritte Gattung unterscheidet
sich von der letzteren durch eine große Ver-
tiefung in den seitlichen Gesichtsknochen, die den
Tränengruben der Hirsche entspricht.') Alle diese
ausgestorbenen südamerikanischen Pferde sind aber
zu denjenigen Gruppen- zu rechnen, die von
Norden her eingewandert sind. Warum diese
Equiden aber gerade in einem für ihr F'ortkommen
doch so geeigneten Lande, wie etwa Argentinien,
ausgestorben sind, erscheint auf den ersten Blick
mehr als rätselhaft, wenn wir doch bedenken, daß
im heutigen Südamerika sich mehrere Millionen
verwilderter Pferde seit über 300 Jahren dort
herumtreiben und vortrefflich gedeihen. Denn
kein Raubtier gefährdet und gefährdete die Pferde
in der Neuen Welt mehr als auf der Ostfeste ; im
') Lydekltcr, Die geographische Verl>reitunf; und geo-
logische Entwicklung der Säugetiere. 2. .Aufl. lena i')oi.
S. 104.
zu setzen, um nach Analogie mit Europa für das
Tertiär ein warmes Klima zu retten, während die
Tiere doch in dem Produkt der großen Vereisung
eingebettet liegen, also erst lebten, als der Wind
bereits den Staub von der abgetrockneten Grund-
moräne entführen konnte. Jedenfalls wird man
zugeben, daß diese Tiere nicht gleichzeitig mit
der Vereisung gelebt haben können, und daß des-
halb jedenfalls eine Revision der Altersbestim-
mungen für Südamerika nötig ist." Auf Grund
dieser und anderer Erwägungen kommt A.We ge-
ner zu dem Ergebnis, daf3 Patagonien im Dilu-
vium auf etwa 30" Süd zu liegen kam und wohl
ganz frei von Gletschern gewesen sein dürfte,
während die Hauptvereisung daselbst nicht wie
bei uns wirklich ins Diluvium, sondern noch in
das Tertiär fiel.
Eine solche Verlagerung des Poles hätte aber
') W. So er gel, Das Aussterben diluvialer Säugetiere
und die Jagd des diluvialen Menschen. Jena 1902. S. 33,
'') Brehms Tier leben. 4. Aufl. Säugetiere. 3. Bd.
') Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. 2. Aull.
Braunschweig 1920. S. I03/4.
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
327
auch eine bedeutende Verschiebung der Klima-
zonen nach sich ziehen müssen, und zwar der-
gestalt, daß das südamerikanische Festland im
Diluvium noch weit mehr Tropenkontinent unter
gleichzeitigem Vorrücken der amazonischen Hylaea
bis weit nach Süden war. Einem solchen Klima
mit mächtiger Pflanzendecke aber hätten die Pferde
weichen müssen, selbst dann, wenn zur Zeit des
niedrigen Sonnenstandes ein Steppenhimmel sich
über dem Südhorn des Kontinentes einstellte,
denn dann versiegten auf diesem übrigens sehr
kleinen Räume wohl die Wasserstellen, und
weiteren Wanderungen zum feuchteren Norden
bot die tropische Hylaea vorzeitig Halt. Einem
solchen Klimawechsel mußten wohl die verschie-
denen südamerikanischen Equidenformen, wenn
auch nicht unbedingt gleichzeitig, so doch nach-
einander erliegen. Denn einmal kann das Pferd
als vollendetste Anpassung an die Steppe im
Tropenklima nicht lange aushalten, und als in-
direkte Wirkung des Tropenklimas käme wohl
auch die Pflanzennahrung in Betracht, die in den
immer feuchten Tropen jedenfalls eine andere ist
als in den subtropischen Steppen, wo die heute
noch lebenden Equiden, dem kräftigen Bau ihrer
Molaren entsprechend, fast ausschließlich harte
Grasnahrung zu sich nehmen. Es wäre jedenfalls
eine dankbare Aufgabe der südamerikanischen
Paläontologen, einmal darauf zu achten, ob sich
nicht an dem fossilen IVIaterial die Frage des
gleichzeitigen oder nacheinander erfolgenden Aus-
sterbens der in ihrem Molarenbau verschiedenen
südamerikanischen Equidenformen beantworten
läßt, wie O.Abel') meint. Man kann auf Grund
des Gesagten sich daher der Ansicht von L. v o n
U b i s c h '') anschließen : „In vielen Fällen ist die
Verschiebungstheorie geeignet, uns einfachere
Lösungen der Verhältnisse zu geben als jede
andere frühere Theorie. Wegen er ist also
durchaus berechtigt, die Tiergeographie als wesent-
liche Stütze seiner Theorie heranzuziehen. Aber
einen Beweis können wir in der Tierverbreitung
für die Verschiebungstheorie noch nicht erblicken."
') Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere. Stutt-
gart 1912. S. 504/5.
'-') Wegeners Kontinental- Verschiebungstheorie und diu
Tiergeographie. Verh. der Physikal. -med. Gesellschaft zu
Würzburg 1921.
Einzelberichte.
Neue Beobachtungen an uusern entoniophileii
Moosen.
Unter den Moosen nehmen die zur Familie
der Splachnaceae gehörenden Gattungen Tayloria,
Tetraplodon und SplacJiimni infolge ihrer ab-
weichenden Lebensweise eine besondere Stellung
ein. Splaclimoit und Tetraplodon leben nämlich
fast ausschließlich auf den Exkrementen ver-
schiedener Tiere oder auf Tierleichen und auch
Tayloria bevorzugt Örtlichkeiten , die reich an
organischen Stoffen sind. Mit dieser engen An-
passung an ganz bestimmte und sehr beschränkte
Wohnplätze hängt es sicherlich zusammen, wenn
die zu kleinen Klümpchen verklebten Sporen in
der Regel durch gewisse Fliegen verbreitet wer-
den. Um die Insekten anzulocken, ist in vielen
Fällen die Apophyse (der oberste Teil des Kapsel-
stiels) zu einem deutlichen Schauapparat umge-
staltet. Bei Splacliniiiii liifc/im und .S'. nibnim,
zwei nordischen Moosen, die in Deutschland noch
nicht beobachtet wurden,') gleicht sie z. B. einem
breiten, glänzenden, gelb oder rot gefärbten Schirm.
Der Insektenanlockung dient auch der eigenartig
süßliche Aasgeruch, den viele dieser Moose aus-
strömen. Über den Entstehungsort und die Aus-
strömungsstellen, sowie über die besondere Natur
dieses auffälligen „Duftes" hat F. v. Wettste i n -)
in letzter Zeit eingehende Untersuchungen ange-
stellt, über die hier in aller Kürze berichtet wer-
den soll.
Als Bildungsherd des Geruches wurde die
Apophyse ermittelt; denn selbst nach Entfernung
der Kapseln hielt der Geruch auch weiter unver-
mindert an. Da nun die Apophysenwand eine
deutlich entwickelte Kutikula besitzt, können als
Austrittsstellen für die Riechstoffe nur die Spalt-
öffnungen in Frage kommen. Genaue mikro-
skopische Untersuchungen haben nun gezeigt, daß
sich die Spaltöffnungen besonders bei den am
weitesten differenzierten Formen {Splacliniim lu-
fcii)n und S. rubriini) zu deutlichen „Duftorganen"
umwandeln. Am Ende der Sporogonentwicklung
strecken sich nämlich die die Schließzellen der
Spaltöffnungen umgebenden schmalen Nebenzellen
noch mehr in die Länge und krümmen sich auch
etwas nach außen. Dadurch wird die Spalt-
öffnung um I — 2 Zelltiefen über die Oberfläche
der Apophysenwand emporgehoben und die
Atemhöhle bedeutend erweitert. Zugleich geht
mit dem Zellsaft eine Veränderung vor sich; er
wird stärker lichtbrechend und flüchtiger. Wahr-
scheinlich sondert er jetzt als Stoffwechselendpro-
dukt den Riechstoff ab, über dessen chemische
Natur F. v. Wettstein vorläufig nur sagen kann,
daß er zur Indolgruppe gehört, wie bekanntlich
auch alle die übrigen Substanzen, die als „Duft-
stoffe" bei den Aasfliegenblumen wirken. Ob
') Von der Verbreitung unserer einheimischen entomo-
philen Moose ist zu sagen, daß sie infolge des steten Rück-
ganges der Weidewirtschaft immer seltener geworden sind. An
vielen Standorten namentlich der Ebene sind sie wohl für
immer verschwunden.
'■^j Vgl. Fritz V. Wettstein, Splachnaceenstudien I.
Entomophilie und Spaltüftnungsapparat. ( »sterreich. bot. Zeit-
schrift 1921.
32(S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
die Moose den angelockten Fliegen als Ent-
schädigung für den lebenswichtigen Dienst der
Sporenübertragung irgendwelche Nährstoffe bieten
oder ob die Insekten von den Moosen einfach
„zum Narren gehalten werden", konnte noch nicht
genau festgestellt werden. Die Fraßspuren, die
an den Apophysen nicht selten zu beobachten
sind, deuten vielleicht darauf hin, daß hier irgend-
welche nahrhaften Stoffe für die Insekten bereit
liegen. Jedenfalls kann man den weiteren Unter-
suchungen F. V. Wettsteins über diese merk-
würdigen Laubmoose mit ihren einzigartigen An-
passungserscheinungen mit Interesse entgegen-
sehen. E. Schalow (Breslau).
Über den Urspruiig der Getreidearten.
Die Literatur über den Ursprung unserer
Kulturgewächse ist recht umfangreich. Sowohl
Botaniker,') als auch Philologen^) haben sich
mit dieser Frage beschäftigt, und immer noch ist
man nicht einig darüber, wo die Urheimat vieler
Kulturpflanzen zu suchen ist, und welches ihre
wilden Stammformen sind. Denn darüber ist
man sich klar, das die angebauten Gewächse von
irgendwelchen wilden herzuleiten sind. Das hier
Gesagte bezieht sich auch auf die Getreidesorten,
den Hafer, die Gerste, den Roggen, den Weizen,
den Mais, von welchen auch nahestehende wild
wachsende Verwandte bekannt sind.
Bekanntlich unterscheiden sich die wildwachsen-
den Getreidearten von den angebauten vor allem
dadurch, daß sie eine brüchige Ährenspindel be-
sitzen; demnach fallen bei der Reife nicht die
Körner allein von der Ährenachse ab, sondern
diese zerfällt in mehrere Stücke mitsamt den daran
haftenden Körnern. Dies ermöglicht eine raschere
Aussaat, als bei den Formen ohne brüchige Ähren-
spindel, bei welchen die Körner viel länger an
der Ähre sitzen bleiben und die daher, wie die
Kulturformen des Getreides, leicht geerntet wer-
den können.
Brüchig sind z. B. der Wildhafer — Avena
fatua und Avena sterilis, der wilde Weizen —
Triticum dicoccoides, die Wildgerste — Hordeum
spontaneum, der Wildroggen — Seeale monta-
num. In der Kultur sind dann, nach der land-
läufigen Meinung, die nicht brüchigen Formen
entstanden, aber auf welche Weise dies zustande
gekommen, ob durch Verlust eines oder mehrerer
die Brüchigkeit der Spindel bedingender Erb-
faktoren, oder auf eine andere Weise, darüber
sind die Arbeiten noch nicht abgeschlossen.^) Es
ist bis jetzt noch nicht gelungen, die wilden Ge-
') Z. B. A. deCandolle, L'origine des plantes cultivees 1883.
Schulz, Beiträge zur Kenntnis der kultivierten Getreide
und ihrer Geschichte. H-dUc 1913.
Körnicke, Arten und Varietäten des Getreides. iSSt;.
') Z. B. Hehn, Kulturpflanzen und Haustiere u. a.
") Siehe z. B. die Arbeiten von v. U bisch, in Zeitschr.
iür ind. Abstammungs- nnd Vererbungslehre 14, 1915 und
Schiern ann, ebenda 26, IQ2I, wo auch die betrefTende
Literatur angeführt ist.
treidearten (z. B. Seeale montanum) durch Kultur
in die entsprechende Kulturform überzuführen.
Und was hier über die Brüchigkeit der Ähren-
spindel gesagt ist, bezieht sich auch auf die
übrigen Merkmale, wie z. B. den perennierenden
Wurzelstock des wilden Roggens, die stärkere
Behaarung der Spelzen bei manchen wilden For-
men usw.
Unlängst sind in russischer Sprache zwei Ar-
beiten erschienen, welche das Problem des Ur-
sprungs unserer Getreidearten von einer ganz
anderen Seite anfassen, nämlich: N. Vavilow,
„Über den Ursprung des kultivierten Roggens" und
Robert Regel t, „Zum Problem des Ursprungs
der kultivierten Gerste". •■)
Vavilow wendet sich vor allem gegen die
Verfechter der Meinung,-) der wilde perennierende
Roggen, mit zerbrechlicher Ährenspindel und
kleinen Körnern, sei die Stammform des ange-
bauten Roggens. Der wilde Roggen, Seeale
montanum Gurs., welcher in den Gebirgen der
Mittelmeerländer, in Kleinasien, Turkestan, Asien,
Zentralasien und im Kaukasus vorkommt, ist eine,
dem kultivierten Roggen nahestehende selbständige
Art. Ebenso sind der wilde Hafer, Avena fatua,
die wilde Gerste (Hordeum spontaneum), sowie
die wilden Weizenarten Triticum dicoccoides und
Triticum aegilopoides Link, nicht die Stamm-
formen der entsprechenden kultivierten Getreide-
arten, sondern nur nah verwandte Formen von
diesen. Der kultivierte Roggen, Seeale cereale,
kommt noch jetzt als Unkraut in den Weizen-
und Gerstenfeldern Südwestasiens, nicht selten in
ungeheurer Menge vor, und ist von hier aus in
Kultur genommen worden.
Vavilow faßt die Ergebnisse seiner Unter-
suchung in folgende acht Thesen zusammen.
1. Der wilde Roggen (Seeale montanum Guss.)
mit brüchiger Spindel, kleinem Korn und mehr-
jähriger Wurzel ist nicht die Stammform des
kultivierten Roggens, sondern nur eine ihm nahe-
stehende selbständige Art.
2. Der in Europa kultivierte Roggen (Seeale
cereale) ist als Unkraut in den Gersten- und
Weizenfeldern in Persien, Afganistan, Turkestan,
Buchara, Syrien überaus verbreitet, d. h. in
Ländern, welche gegenwärtig .den Anbau dieses
Getreides gar nicht, oder fast gar nicht kennen.
Es fehlen auch Angaben darüber, ob der Anbau
von Roggen in früheren Zeiten in Südwestasien
verbreitet war. Auch der Name des Roggens
bei den Persern, Sarten, Arabern, in Kleinasien
und in Afganistan — Pschon-Dar, Dshon-Dar,^)
Gandum-Dar,*) weist daraufhin, daß dieses Ge-
') Bulletin of applied botany, St. Petersburg Band X,
1917. Russisch mit englischem Resume. Beide .■\rbeiten sind
schon im Jahre 19 17 gedruckt worden, konnten aber die
Druckerei, welche sich in Dorpat (Estländische Republik) be-
findet, erst im Jahre 1922 verlassen.
-) Wie z. 11 F. ngler und D u x in der Neuauflage von
II eh D, Kulturpflanzen und Haustiere, Schulz, Komi c ke u. a.
') D. h. sich in dtr llerste befindend.
*) 1). h. sich im Weizen befindend.
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
329
treide schon in alter Zeit bei den Ackerbauern
des Orients eher als Unkraut, denn als Getreide-
art bekannt war.
3. Dieser, als Unkraut wachsende Roggen
unterscheidet sich im allgemeinen nicht von dem
kultivierten Roggen aus Europa, und zerfällt wie
dieser in eine Reihe kleiner konstanter Formen.
Es kommen jedoch im Orient auch endemische
Formen (z. B. mit roten Ähren) vor, welche dem
Westen unbekannt sind.
4. Dieser Roggen ist nicht eine Getreideart,
welche früher im südwestlichen Asien angebaut,
später aber durch andere Getreidearten verdrängt
wurde, wie es einige Reisende geglaubt. Er ist
vielmehr ein typisches Unkraut, wie Centaurea
cyanus, Agrostemma githago, Lolium temulentum,
Camelina linicola, Spergula maxima, welche auch
nur als Unkräuter bekannt sind, und von denen
die letzteren zwei auch angebaut werden.
5. In nördlicheren Gegenden und im Gebirge
wurde aus dem Unkraut eine Kulturpflanze, welche
zuerst im Gemenge mit Weizen und Gerste oder
auch anderen Pflanzen (z. B. noch jetzt in
Schugnan, Zentralasien) angebaut wurde. Später
erst begann die Reinkultur des Roggens.
6. Die Stammpflanze des kultivierten Roggens
ist also aller Wahrscheinlichkeit der in Südwest-
asien als Unkraut wachsende Roggen.
7. Der Ursprung des Roggenbaus liegt also
im südwestlichen Asien, wo der Roggen als Un-
kraut der Weizen- und Gerstenfelder weit ver-
breitet ist und wo es endemische Roggenformen
gibt. Die Gegenden westlich vom Puma (Schug-
nan, Roschan), das türkische Armenien und einige
Gegenden von Kleinasien sind wohl als Heimat
der Roggenkultur anzusehen.
8. Der Anbau von Roggen hat viel später
begonnen als der des Weizens und der Gerste,
da der Rogen ja schon vordem als Unkraut in
den Kulturen dieser Getreidearten verbreitet war.
Auch historische und archäologische Gründe
sprechen für diese Annahme.
Die Arbeit von Robert Regel über den
Ursprung der Gerste bildet gleichsam eine Er-
gänzung und P'ortsetzung der Vavilowschen Schrift.
Der Verf spricht sich für einen gleichsam poly-
phyletischen Ursprung der kultivierten Gersten-
formen aus und faßt seine Untersuchungen folgen-
dermaßen zusammen.
Sechszeilige Gerstenformen kommen auch jetzt
noch sporadisch nicht als Unkraut inmitten der
Bestände der wilden zweizeiligen vor, wie z. B.
im Leukoranschen Kreise in Transkaukasien.
Einige von den jetzt angebauten Gerstenrassen
(Hordeum hiberneum , Hordeum hibernaculum)
stellen nichts anderes als kultivierte, ursprünglich
wilde, Gerstenrassen dar.
Die angebaute zweizeilige Gerste (vor allem
die Formen var. nutans und var. nigricans), des-
gleichen auch einige Formen der angebauten
sechszeiligen (var. nigrum) sind Kreuzungsprodukte
zwischen der wilden zweizeiligen Gerste und der
wilden sechszeiligen (var. pallidum), wobei infolge
der Jahrtausende alten Kultur, die heterozygoten
Formen, wie z. B. die mit brüchiger Ährenspindel,
ausgemerzt wurden, so daß sich die heute ange-
bauten Gerstenarten als reine konstante (homo-
zygote) Arten erweisen.
Die wilde in Kleinasien, Zentralasien bis
nach Arabien hinein verbreitete zweizeilige Gerste,
aus mehreren Rassen bestehend (Hordeum korshius-
kianum, H. leucoremicum), unterscheidet sich von
den angebauten Formen vor allem durch die
Brüchigkeit der Ährenspindel, und steht diesen
viel näher als der wilde Roggen dem kultivierten.
Diese Brüchigkeit der zweizeiligen Gerste ver-
schwand nach Regel infolge der Kreuzung mit
wilden sechszeiligen Gerstenrassen, welche eine
feste Ährenspindel besitzen. Diese Behauptung
muß noch experimentell geprüft werden. Ein
anderes Merkmal ist die Winterhärte der wilden
zweizeiligen Gerstenrassen, während die kultivierten
zweizeiligen Gersten bekanntlich nur als Sommer-
getreide gebaut werden können. In dieser Hin-
sicht läßt sich der Übergang von den wilden
zu den kultivierten Formen nach Regeis An-
nahme durch progressive Mutation erklären, wobei
eine neue Eigenschaft, nämlich die Fähigkeit, den
Lebenszyklus im Laufe eines Sommers zu voll-
enden, erworben wurde. Vielleicht stammt aber
diese Eigenschaft von wilden noch nicht näher
bekannten Sommerformen der zweizeiligen Gerste
her, welche aber, laut neueren Funden in Zentral-
asien (Pamir), in Persien und Transkaukasien
wachsen sollen.
Ungeklärt ist vorläufig noch die Frage über
die Herkunft mancher anderer kultivierter Gersten-
formeh, wie z. B. von var. parallelum, coeleste,
trifurcatum, macrolepis, ') nudum u. a. Möglicher-
weise sind sie durch Mutation aus den Formen
nutans, nigricans, pallidum und nigrum entstän-
den. Die nackten Gerstenformen, welche ganz
isoliert dastehen, haben vielleicht besondere, vor-
läufig unbekannte, Stammformen.
Wir sehen also, daß Robert Regel einen
polyphyletischen Ursprung der \'erschiedenen an-
gebauten Gerstenrassen annimmt, wobei eine
große Rolle die Kreuzung zwischen zweizeiligen
und sechszeiligen P'ormen spielt, durch welche
er den Verlust der Brüchigkeit der Ährenspindel
bei den kultivierten Gersten zu erklären versucht.
Die bis dahin noch ungeklärte Frage des Über-
gangs vom Wintergetreide zum Sommergetreide
behandelt eine zweite, 1921 erschienene Arbeit
von Vavilow und Kusnetzowa betitelt:
Über die Genesis der Sommer- und Winter-
getreide, Berichte der landwirtschaftlichen Fakulät
der Universität Saratow, Heft i, 1921. Russisch
mit englischem Resume. Die Verff. kreuzten den
') Siehe hingegen die Untersuchungen von E. Schie-
rn a n n , Zeitschr. f. indukt. Abstammungs- und Vererbungs-
lehre XXVII, 1921 (Genetische Studien an Gerste, II), laut
welchen die natürlichen Macrolepisformen einen hybriden
Ursprung haben.
330
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
Winterweizen Triticum compactum var. Werne-
rianum mit dem Sommerweizen, Triticum \ulgare
var. lutescens und erhielten in der Fg -Generation
unter 500 Pflanzen 234 konstante Sommerformen
und 266 (also ca. 50 ^'/„) mendelnde. Daraus,
sowie auch aus anderen Kulturversuchen folgern
sie , daß die Sommerform über die Winterhärte
dominiere, letzteres Merkmal also rezessiv ist. Es
können daher Wintergetreide durch Kreuzung
zwischen zwei Sommergetreidearten entstehen.
Aber auch umgekehrt können Sommerformen
durch Kreuzung zwischen Winterformen erhalten
werden. Die Behauptung ist daher falsch , daß
die Wintergetreidearten älter als die Sommer-
getreidearten sind, dies sei nur ein vereinzelter
Fall, aber nicht allgemein. Alle krautigen zwei-
jährigen Winterformen besitzen auch entsprechende
Sommerformen , mit welchen sie Bastarde bilden
können. Der Mensch hat nur unbewußt die ihm
für die Kultur passenden Rassen ausgewählt, er
hat es nicht vermocht die konstante Winterform
in eine konstante Sommerform überzuführen.
Dies ist der Gedankengang der beiden Verff.,
deren Untersuchungen ein neues Licht auf den
Ursprung der Sommergetreide werfen, sie können
uns auch den von Robert Regel gesuchten
Übergang von den wilden Gerstenformen zu den
kultivierten Sommerformen erklären. Sie sind
aber auch wichtig in ökologischer und pflanzen-
soziologischer Hinsicht.
Ich hoffe, daß die etwas ausführlichere Refe-
rierung der genannten drei russischen Arbeiten,
welche jetzt sehr schwer erhältlich sind, Interesse
erregen wird. Sie geben uns nämlich neue Ge-
sichtspunkte zur Beurteilung der Frage des Ur-
sprunges der Getreidearten, sie zeigen uns, daß
sogar solche Eigenschaften, wie die der Sommer-
und Wintergetreide, durch die Analyse der Nach-
kommenschaft geprüft werden können, sie zeigen
aber auch, wie wichtig die Untersuchung der
zahlreichen, noch wenig bekannten Getreideformen
Vorder- und Zentralasiens ist, wo aller Wahr-
scheinlichkeit die Urheimat vieler unserer Kultur-
pflanzen liegt. C. Regel.
Der diiuii^>te Fadeu sichtbar gemacht.
(Mit 3 Abbildungen.)
Wieder eine Großtat in der Welt des Kleinen.
Wir verdanken sie dem berühmten holländischen
Physiologen und Erfinder des Saitengalvanometers,
Prof. W. E i n t h o V e n in Leiden. ') Das letztere,
für Naturwissenschaft und Heilkunde gleich wich-
tige Instrument sowie eine ganze Reihe neu er-
fundener und verbesserter Apparate sind auf die
Benutzung mikroskopisch dünner Fäden ange-
wiesen. Es ist daher sehr wesentlich, zu wissen,
wie weit ihr Durchmesser verringert werden darf,
bis sie für das mikroskopisch sehende Auge oder
') Pflügers Archiv Bd. 191, 1921, S. 60— 9S: W. Kin-
h o V e n , Ober Beobachtung und Abbildung dünner Käden.
für die noch empfindlichere photographische Platte
unsichtbar werden. Man wird fragen: „gibt es
denn überhaupt so dünne Fäden und woraus be-
stehen sie?" Am besten eignen sich solche aus
unserm häufigsten Mineral, dem Quarz, herge-
stellte: sie kann man noch fn einer Stärke von
'/jiiuo mm mit bloßem Auge sehen, wenn man
hellfarbige vor einem dunklen Hintergrund auf-
spannt und diesen durch eine Reihe Glühlampen
mit weißem Reflektor bestrahlt. Oder noch
besser, wenn man dunkle Fäden gegen einen
hellen Hintergrund, z. B. eine matte F'ensterscheibe,
1
i-^-Ä. ..-^j
•■^•. .-1
Abb. lA. Abb. 1 B. Abb. 2.
Ein Quarzfaden von '^/loooo ™"' Durch- Kaden, dessen Durch-
messer bei iSoofacher Vergrößerung messer auf höchstens
photographiert: Abb. lA bei voller ^/.„„„(i,, mm geschätzt
Blendenöffnung des Objektivs von 0,95, wird.
Abb. I B bei Verengerung auf 0,18.
I
L 1___J L
Abb. 3A. Abb. 3B. Abb. 3C.
Derselbe Kaden von ''/n.ooo """^ Durchmesser bei iSoofacher
Vergrößerung und Objektivblendenöffnung 0,95 photographiert:
.«Vbb. 3A bei BeleuchtungsblendenöfTnung 0,95, Abb. 3B bei
Verengerung auf 0,12, Abb. 3C bei Verengerung auf 0,05.
bei sonst verdunkelter Tagesbeleuchtung, frei im
Rahmen aufspannt. So konnten durch fünf Be-
obachter noch in 6 — 10 m Entfernung bei einem
Gesichtswinkel von 2,1—3,2 Bogensekunden
'/loooo t""^ dünne Drähte erkannt werden. Dieser
Versuch zeigt zugleich, wie außerordentlich über-
legen der tagesbeleuchtete Faden in seiner Sicht-
barkeit für unsere Augen den Lichtpunkten, z. B.
Sternen des Nachthimmels, ist. Denn nach Ver-
suchen des Astronomen Hooke konnte von 100
Menschen nur einer zwei Sterne dann noch von-
einander unterscheiden, wenn ihr gegenseitiger
scheinbarer Abstand 60 Bogensekunden betrug.
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
33'
Bergmann fand für das Unterscheiden benach-
barter Lichtpunkte mit bloßem Auge einen Ge-
sichtswinkel von 51,6, Tob. Mayer einen solchen
von 94, Einthoven dagegen, wie gesagt , für
den Abstand der beiden Ränder einer den Seh-
hintergrund durchschneidenden Fadenlinie nur
einen Winkel von 2 — 3 Bogensekunden.
Um ganz dünne Fäden zu sehen, zu photo-
graphieren und zu messen, benutzt man das Ultra-
mikroskop, bei dem durch ein zweckmäßig ange-
brachtes Linsensystem die Strahlen einer starken
elektrischen Lichtquelle auf den Faden vereinigt
werden. In sein Spezialmikroskop mit langem
Tubus schob Einthoven eine kleine Kupferröhre
von oben durch die Öffnung des sehr starken
Ze iß sehen Objektivs. Diese Röhre hatte einen
Boden mit einem kleinen Loch in der Mitte als
Blende für die angrenzende Linse, deren Licht-
durchlaß also dadurch verkleinert wurde. Zum
Messen diente ein Meßokular mit einer so ge-
wählten Gradeinteilung, daß jeder Grad '/jug^mm
Fadendurchmesser bedeutete. Beleuchtet wurde
der zu untersuchende, völlig frei aufgespannte
Faden in seiner ganzen Länge elektrisch, parallell
zu dem verengerungsfähigen Schlitz einer Blende.
Was die Quarzfäden selbst betrifft, so lassen sie
sich nach Einthovens Behandlungsweise schießen
oder blasen, befestigen, übernehmen, unter das
Mikroskop bringen und noch weiter elektrisch
aufspalten und verdünnen. Man kann sie dann '
mikroskopisch mühelos betrachten und so gut
vergleichen, daß man z. B. einen Faden von
'/loooo ^"^ Stärke ganz deutlich von einem mit
^'loooo "^"^ unterscheidet. Bei der mikroskopischen
Betrachtung zeigte sich noch erstaunlicher als bei
der mit unbewaffnetem Auge die Überlegenheit
des Fadens gegenüber dem kleinsten Funktkörper.
Während für den letzteren Siedentopf und
Zsigmondy 4 — 7 millionstel mm Durchmesser
berechneten, fand Einthoven, „daß jeder existier-
bare Faden, wie dünn er auch sein mag, ultra-
mikroskopisch sichtbar gemacht werden kann".
„Nimmt man an", so faßt der Gelehrte sein Er-
gebnis zusammen, „daß bei gleichbleibender Be-
strahlung eines Fadens die Menge des durch ihn
zurückgeworfenen Lichtes proportional seinem
Durchmesser zu- und abnimmt, so wird der Durch-
messer des dünnsten sichtbaren Fadens auf
0,2X10 "millionstel mm berechnet. Zur Ver-
gleichung diene, daß der Durchmesser eines
Wasserstoffmoleküls ungefähr eine Million mal
größer ist". Also der dünnste Faden darf noch
eine Million mal dünner sein für die Sichtbarkeit
als ein Staubteilchen!
Das sind die nach verschiedenen Methoden
übereinstimmend errechneten idealen Grenzwerte.
Wie steht es nun um die praktische Wirklichkeit ?
Einthoven versuchte zunächst einen Quarz-
faden von "Viooüo '""i Durchmesser bei iSoofacher
Vergrößerung mit voller Blendenöffnung von 0,95
zu photographieren. Das ist ihm, wie man auf
Abb. I A sieht, ausgezeichnet gelungen : man kann
alle kleinen Unebenheiten der P'adenfläche scharf
erkennen. Es wurde zur Aufnahme die allgemein
übliche Trockenplatte und photographische Papier-
sorte benützt, bei der Entwicklung und Fixierung
der Negative weder Verstärkungs- noch Ab-
schwächungsmittel angewandt. Die Abb. i B ist
bei der kleinen Blendenöffnung von 0,18, sonst
unter gleichen Umständen gewonnen: man sieht,
daß die Ränder dieses viel breiteren, lange nicht
so kontrastreichen und scharfen Bildes undeutlich
und die kleineren Unebenheiten verschwunden
sind. Die eigentümlichen Wülste sind keine Ver-
dickungen des Fadens selbst, sondern sie sind bei
der Aufnahme dadurch entstanden , daß kleine,
sich an den beiden Fadenrändern zufällig gegen-
überstehende Unebenheiten, durch Lichtbeugung
verbreitert, sich im Bilde übereinander geschoben
haben. Abb. 2 stellt Einthovens und wohl
die überhaupt bis jetzt erreichte höchste Leistung
dar. Es ist ihm gelungen, einen Quarzfaden von
etwa ■'/looooo ™"^ Durchmesser herzustellen, im
Mikroskop zu befestigen und unter Benützung
eines apochromatischen Objektivs mit voller
Öffnung 0,95 bei iSoofacher Vergrößerung zu photo-
graphieren. Das Bild ist nicht so scharf wie das
des 7ioooii ^^ dünnen Fadens, aber man kann
selbst hier noch die kleinen Unebenheiten eines
früher überhaupt nicht für möglich gehaltenen
Fadengebildes deutlich erkennen.
Die auf den Bildern zutage tretende jeweilige '
Dicke des Fadendurchmessers stimmt übrigens
nicht ganz mit der Wirklichkeit überein. Denn
es kommt ganz darauf an, ob für eine bestimmte
Aufnahme aus technischen Gründen neben der
schon besprochenen verschieden großen Objektiv-
blendenöffnung eine größere oder kleinere Be-
leuchtungsblende gewählt werden muß. Außer-
dem kann man sich leicht vorstellen, wie sehr
die geringste Erschütterung während der Auf-
nahme eines so fabelhaft dünnen Gebildes seinen
Durchmesser um das Vielfache vergrößern muß.
Aber gerade aus diesem Umstand geht anderer-
seits klar und deutlich hervor, daß die hier ab-
gebildeten und nachgemessenen Fadendurchmesser
beim Objekt selbst nicht größer, sondern eher
kleiner, unter Umständen viel kleiner als "'loooo
bzw. ''/looooii '"f" s^i" müssen.
Wie sehr es bei der Aufnahme auf die größere
oder kleinere Blendenöffnung für die Lichtquelle
ankommt, sehen wir an Abb. 3. Derselbe ziem-
lich glatte Faden von ''/joooo "^"^ Durchmesser,
bei iSoofacher Vergrößerung und voller Objektiv-
Blendenöffnung photographiert, zeigt links das aus
Abb. I A und 2 bekannte Bild ohne die besagten
Lichtbeugungsverschwommenheiten. Diese sind
bei Abb. 3A und C nicht ganz vermieden, aber
da bei dem mittleren Bild der Beleuchtungsschlitz
auf 0,12 verengert wurde, treten sie nun in ganz
anderer Weise zutage als bei Abb. i B. Man
sieht: der Faden ist wie in der Mitte gespalten,
rechts und links begrenzen ihm helle Streifen.
Auf Abb. 3C, hergestellt bei 0,05 Lichtblende,
332
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
ist diese Begrenzung durch weiße Streifen noch
schärfer, ja auf diesem Bilde sieht man links noch
dreifache, rechts gar vierfache, völlig gesonderte,
wellenförmige Beugungslinien, die das von dem
dünnen Faden zurückgeworfene Licht vermöge
dessen starker Zusammenfassung erzeugt hat. War
doch schon bei der voll und breit beleuchteten
Aufnahme des Bildes 3 A, die bei Bogenlichtbe-
strahlung auf eine wenig empfindliche Platte statt-
fand, bei einer Beleuchtungsdauer von ' j.j Sekunde
der Faden 3 240000 mal stärker belichtet als die
dunkle Platte. Kein Wunder, daß Einthoven
selbst noch bei '/loo Sekunde Beleuchtungsdauer
auf dieser selben gewöhnlichen Plattenart be-
friedigende Aufnahmen erzielte. Der Gelehrte
zweifelt aber nicht, daß man bei Gebrauch von
besonders empfindlichen Platten die Beleuchtungs-
zeit wesentlich kürzen kann und dadurch noch
bessere Aufnahmen erhalten wird.
Hermann Radestock.
Prüftafel für Ferurohre.
Während bisher die Prüfung von Fernrohren
gewöhnlich an geeigneten Himmelsobjekten,
namentlich Doppelsternen , direkt vorgenommen
wurde, hat jüngst W. Volkmann eine sehr
brauchbare Prüfiafel gezeichnet, die es gestattet,
Fernrohrprüfungen jederzeit auch im Zimmer und
'bei bequemer Lage des Beobachters auszuführen.
Auf einem Diapositiv von 6X8 cm sind hell auf
dunklem Grund die verschiedensten Himmels-
objekte (Planeten und Doppelsterne) sowie einige
Maßstäbe in solcher Größe dargestellt, daß sie
aus 20 m Abstand genau in der richtigen schein-
baren Größe gesehen werden. Erleuchtet man
diese Platte von der Rückseite, am besten unter
Benutzung einer Mattscheibe, und stellt sie aus
20 m Entfernung im Fernrohr scharf ein, so kann
man feststellen , ob das Fernrohr imstande sein
wird, beispielsweise die Venusphasen, Saturnringe
und Jupitermonde zu zeigen und Doppelsterne
der verschiedenen Distanzen aufzulösen. Strahlen-
förmig nach 8 verschiedenen Richtungen einge-
tragene Parallelenpaare von 20" Abstand lassen
auch eine Prüfung sowohl des Fernrohrs wie des
Auges in bezug auf Astigmatismus ausführen.
Durch Abbiendung des- Fernrohrobjektivs auf
kleinere < )ffnungen läßt sich ein Urteil darüber
gewinnen, ob die Randstrahlen gleiche Brennweite
haben wie die zentralen oder nicht, in welch
letzterem Falle die Bildchen nach Abbiendung
schärfer erscheinen. In der Schule eignet sich
die Prüfplatte auch sehr gut dazu , den Schülern
im Vormittagsunterricht einen Begriff von der
Feinheit astronomischer Messungen zu geben und
sie auf das, was man ihnen am Abend mit den
gegebenen Hilfsmitteln in natura zeigen kann,
zweckmäßig vorzubereiten. Für Schulen, denen
ein Raum von 20 m Länge nicht zur Verfügung
steht, wird die Tafel auch für Abstände von 10 m
bzw. 5 m hergestellt. Sic ist zu beziehen von
der Firma Leppin und Masche in Berlin SO,
Engelufer. F. Kbr.
i'ber die Beziehuugeu der Spiralnebel zu der
Milchstraße
stellt Sanford in Lick Observatory Bulletin
Nr. 297 eingehende Betrachtungen an. Das reich-
haltige, teils mit dem Fernrohr durch direkte
Beobachtung, teils durch Aufnahmen mit sehr
verschiedenen Instrumenten erhaltene Material
zeigt zunächst sogleich, daß diese Art Nebel,
deren es nach Keelers Schätzungen mehrere
Hunderttausend gibt, sich an den Polen der
Milchstraße häufig finden und daß ihre Dichtig-
keit nach der Milchstraße hin langsam nachläßt,
liier aber plötzlich ganz aufhört. Aber auch zu
beiden Seiten der Milchstraße ist die Verteilung
unsymmetrisch, es gibt da Stellen von ausnahms-
weise starker Anhäufung, auch eine am Rande
der Milchstraße, so daß deren Verhalten in star-
ken Instrumenten mit langen Belichtungen studiert
wurde. Ferner läßt sich zeigen, daß die Nebel
nördlich der Milchstraße etwas dichter liegen als
südlich davon. Es scheint sich hier aber eine
Art Absorption geltend zu machen, die manche
Ausnahmen des Auftretens uns vortäuscht. F'erner
tritt ein Zusammenhang zwischen der Verteilung
der Nebel und ihrer Helligkeit einerseits und ihrer
Größe andererseits hervor. Hier sind auch die
sog. Spindelnebel mit einzurechnen, die offenbar
nichts anderes sind als Spiralnebel, mehr oder
weniger von der Seite gesehen, bisweilen ganz
von der Kante, als ein sich in der Mitte ver-
dickender Strich. Jedenfalls ist sicher, daß die
größere durchschnittliche Helligkeit weiter draußen
außer der Milchstraße liegt, während die ihr zu-
nächst liegenden meist die an Ausdehnung größeren
sind. Die Tatsache, daß diese Nebel riesige Be-
wegungen bis zu 1800 km in der Sekunde zeigen,
und zwar fast stets von der Sonne fortgerichtet,
ist unerklärbar, vielleicht ist die Deutung der
Linienverschiebung in diesem Falle falsch. Nach
dem Spektrum handelt es sich um Sternhaufen,
die soweit entfernt sind, daß man sie eben als
Nebel auffaßt, sie müssen also demnach ungeheuer
weit entfernt sein, so daß man meint, daß diese
Nebel unserer Milchstraße gleichgeordnete, von
ihr unabhängige Systeme sind. Die merkwürdige
Verteilung in bezug auf die Milchstraße soll sich
dadurch erklären lassen, daß hier dunkle Massen
vorgelagert sind, die ebenso die dunklen Stellen
der Milchstraße bewirken, wie diese Nebel hier
abblenden. Da doch aber die Gasnebel in der
Milchstraße vorkommen , so ist diese Erklärung
unvollständig, falls man nicht das Band der dunklen
Nebel hinter der Milchstraße annehmen will. Viel-
leicht sind also die weißen Nebel ganz gleich-
mäßig über den Himmel verteilt, und es sind nur
äußere Gründe, die uns ihre scheinbare Verteilung
vortäuschen. Ilicr liegt also noch viel Rätsel-
haftes vor. Riem.
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
iii
Bücherbesprechungen.
Goldschmidt, R., Ascaris. Eine Einführung in
die Wissenschaft vom Leben für Jedermann.
296 S. mit 163 Abb. Leipzig 1922, Theod.
Thomas. Geh. 66 M,, geb. 78 IVI.
Wenn ein Forscher von anerkanntem Rufe sich
entschließt, ein populäres Werk zu verfassen, so
tritt man mit großen Erwartungen an dasselbe
heran; das gilt auch für das Goldschmid tsche
Werk. „Der Gedanke des Verfs war, eine ge-
meinverständliche Biologie zu schreiben, die mög-
lichst viele Tatsachen und Probleme der gesamten
Wissenschaft vom Leben auf engem Räume in
lesbarer F"orm vereinigte" (S. 6). Diesen Ge-
danken so zu verwirklichen, daß die Biologie eines
bestimmten Tieres als Grundlage verwendet wird,
ist schon wiederholt versucht worden, am treff-
lichsten vielleicht in Huxleys klassischer Schilde-
rung des Flußkrebses. Wenn hier der Lebens-
gang eines wohlbekannten Parasiten, des Spul-
wurmes, als roter Faden für ein umfängliches
Buch gewählt wurde, so überrascht das etwas.
Und das Überraschungsmoment, die geistreiche
Verknüpfung oft dem Laien selbstverständlich
erscheinender Dinge mit weit schauenden Pro-
blemen und scheinbar ganz fernliegenden Tat-
sachen, ist es auch, welches einem großen Teile
des Buches den Charakter verleiht und es zu
einer anregenden Lektüre gestaltet. Form, Farbe,
Anpassung — Leben und Zweckmäßigkeit —
Haut, Atmung — Lymphe, Muskeln, Bewegung
— Nerven und Sinnesorgane — Gehör und
Gleichgewichtsorgan, das zentrale Nervensystem
— Erwerb der Nahrung — Verdauung, Stoff-
wechsel, Ausscheidung — Geschlecht, Fort-
pflanzung, Befruchtung — Kern, Chromosomen,
Geschlechtsbestimmung — Mendelsche Gesetze
und Vererbungslehre — Entwicklungsgeschichte.
Das ist die Fülle der Fragen, welche in mehr
oder minder lockerem Zusammenhange mit der
Titelfigur in den einzelnen Kapiteln behandelt
werden. In leichtem, manchmal etwas zu glattem
Plaudertone werden die Grundprobleme einer
großen Wissenschaft gestreift. Persönliche Er-
lebnisse sind überall in Fülle eingestreut, nament-
lich solche aus den Tropen und aus Amerika, wo
das Werk zum Teil während der Kriegsjahre
entstand. Die Behandlung des Stoffes ist nicht
ganz gleichmäßig. Geradezu vorbildlich ist die
Darstellung der Fragen, welche sich um das Ver-
erbungsproblem gruppieren (Abschnitt 9 — 11); es
ist nicht zu bezweifeln, daß es hier gelang, ein
verwickeltes Netz von Tatsachen klar und an-
regend, auch dem Laien überzeugend, zu entfalten.
Dem engen Raum und wohl auch dem Zwecke
des Buches entsprechend, sind die allgemein bio-
logischen und physiologischen Abschnitte weniger
ausführlich gehalten, und hier ist auch mancherlei
in den Einzelheiten etwas weniger geglückt. Die
Darstellung der Bierbereitung (S. 17) konnte ver-
mieden werden; daß im Korallenriff kein er-
bitterter Kampf ums Dasein herrscht (S. 49) wird
sicher nicht allgemein angenommen werden ; vom
Nervensystem einer Qualle (S. 1431 und von der
Ernährung des Seesternes (S. 160) bekommt der
Leser leicht ein schiefes Bild. Hier und mancher-
orts sonst noch dürfte eine Überarbeitung, auch
in stilistischer Beziehung, angebracht sein, ebenso
wie die Ersetzung einiger Abbildungen (z. B. i,
34b, 35, 71, 89b) sehr wünschenswert wäre. Un-
verständlich ist es, daß sich im Schlußabschnitte
bei der Behandlung des Entwicklungskreises von
Parasiten Verf. den Hinweis auf die ganz merk-
würdigen Wanderungen des jungen Spulwurmes
vor seiner Ansiedelung im Darme entgehen ließ.
Möge das baldige Erscheinen einer Neuauflage
Gelegenheit bieten, die vorhandenen Schönheits-
fehler zu beseitigen und das Ganze auf den Stand
der Vererbungskapitel zu bringen. „Dies Buch
will sich an jeden wenden, der lesen kann, an
den bildungsbedürftigen Bürger und Arbeiter und
nicht zuletzt auch an die Jugend' (S. 6). Zu-
sammenfassend darf man wohl sagen, daß die
Lösung dieser Aufgabe in erheblichem Umfange
geglückt ist und daß insbesondere für die Jugend
das Buch eine reiche Quelle der Anregung sein
wird. H. Prell (Tübingen).
Klaus, A., Atome, Elektronen, Quanten.
Die Entwicklung der Molekularphysik in ele-
mentarer Darstellung. 100 S. mit 7 Fig. im
Text. Berlin 1921, Winckelmann u. Söhne.
Geh. IS M.
Bavink, B., Grundriß der neueren Ato-
mistik. Mit einem Anhang: Elementare Ab-
leitung einiger wichtiger mathematischer Formu-
lierungen. 130 S. mit 41 Abb. Leipzig 1922,
S. Hirzel. Geh. 25 M.
Die beiden vorliegenden Bändchen verfolgen
im wesentlichen den gleichen Zweck. Sie wollen
weiteren Kreisen eine volkstümliche Darstellung
der Entwicklung der Molekularphysik geben, in-
dem sie mit möglichster Vollständigkeit alle Er-
scheinungsgebiete einer kurzen Betrachtung unter-
werfen, welche auf die molekulare bzw. atomistische
Unterteilung der Materie, der Elektrizität und der
Energie hinweisen. Die große Summe hierher-
gehöriger Einzelkenntnisse wird in beiden Fällen
mit Geschick und Sorgfalt zusammengestellt, so
daß der Leser volles Verständnis gewinnen kann
für die große Bedeutung, welche die durch die
gesamte Erfahrung fest begründete atomistische
Auffassung für die Erkenntnis der physikalischen
Erscheinungswell besitzt.
Während die erstgenannte Schrift den ge-
waltigen Stoff in kurzen Zügen mehr andeutungs-
weise anführt, geht die zweite auf einzelne
wichtigere Punkte etwas ausführlicher ein. Sie
hebt besonders die neuesten Forschungsergebnisse
über den Aufbau der Atome hervor, wie sie
3U
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
einerseits in der Bohrscheii Theorie niedergelegt
und andererseits aus der Hochfrequenzstrahl- und
Kanalstrahlenanalyse deriVIaterie gewonnen worden
sind. Bei Lesern ohne ausreichende Grundlagen
könnten diese weitführenden Darlegungen aller-
dings auf Schwierigkeiten stoßen. In der Hand
des Lehrers würden aber wohl beide Bändchen,
wie es die Verff. offenbar erstreben, auch dem
fortgeschrittenen Schüler zugute kommen können.
A. Becker.
Timerding, H. E., Die Fallgesetze. IVIathe-
matisch- Physikalische Bibliothek Band 5. Zweite
Auflage. 51 S. mit 25 Fig. im Text und einem
Bildnis Galileis. Leipzig u. Berlin 192 1, B. G.
Teubner.
Es liegt hier eine anspruchslose und doch in-
haltsreiche und mit großer Sorgfalt und Voll-
ständigkeit behandelte elementare Darstellung der
Fallgesetze vor, die infolge ihrer Betonung der
geschichtlichen Entwicklung manches zu sagen
weiß, was sich selten in größeren Lehrbüchern
findet. Lehrende und Lernende seien daher an-
gelegentlich auf das Bändchen hingewiesen.
A. Becker.
Meth, Paul, Theorie der Planetenbe-
wegung. Zweite umgearbeitete Auflage. IVIit
14 Fig. 54 S. Mathem. - physikal. Bibliothek
Nr. 8. Leipzig u. Berlin 1921, Teubner. Kart. 5 M.
Die Schrift leitet das Newtonsche Gesetz
nicht in der üblichen Weise aus den Bewegungs-
gleichungen ab, sondern bedient sich der IVIethode
des Hamilton sehen Hodographen, die einleitend
auseinander gesetzt wird. Auf dieser Grundlage
werden dann die Keplerschen Gesetze abge-
leitet, ihre Bedeutung erörtert und an Beispielen
veranschaulicht. Aus den Keplerschen Gesetzen
wird dann das Newton sehe Gesetz abgeleitet,
seine Gültigkeit und Anwendungen besprochen.
Es wird gezeigt, wie die IVIassen der Planeten und
iMonde aus dem dritten Gesetz folgen, was der
Satz von der Erhaltung des Schwerpunktes be-
deutet, und wie auch unter gewissen Umständen
die Massen von Doppelsternen erhalten werden
können. Den Schluß bilden kurze Betrachtungen
von allgemeinem Wert, über die Erhaltung der
Energie bei der Planetenbewegung, wobei die
Bahnform in Beziehung tritt zur Summe der
kinetischen und potentiellen Energie, und über
das wesentlichste des Dreikörperproblems, das
die Planetenstörungen und die Stabilität des
Sonnensystems betrifift. Wer nicht die umfang-
reichen Lehrbücher über dies Gebiet benutzen
will, findet in dem kleinen Buche alles Wesent-
liche in klarer und leicht verständlicher Weise
dargelegt. Riem.
Gramberg, E., Pilze der Heimat. 2 Bände
mit 116 farbigen und 20 schwarzen Tafeln.
Leipzig 192 1, Quelle und Meyer. 108 M.
Die dritte Auflage des ausgezeichneten Pilz-
atlasses von Gramberg unterscheidet sich von
den früheren, abgesehen von kleinen Textver-
besserungen und -Vermehrungen, hauptsächlich
durch die Einfügung von Schwarzbildern nach
Photographien, die eine Anzahl von Pilzen in
ihrer natürlichen Umgebung darstellen. Sie
reihen sich den bekannten durchweg vorzüglichen
Tafeln würdig an. Jeder dargestellten Pilzart ist
eine ausführliche Beschreibung gewidmet, die
zweckmäßigerweise unmittelbar neben dem farbigen
Bilde steht. In diesen Textstücken ist neben der
Verwendungsmöglichkeit auch auf ähnliche und
verwandte Pilze hingewiesen. Ein allgemeiner
Teil gibt eine verständige Übersicht über die
Lebensweise, Physiologie und Morphologie der
Pilze sowie Winke über ihre wirtschaftliche Ver-
wendung. Vielleicht überiegt sich der Verf., ob
er in einer neuen Auflage die Sexualitätsfrage
nicht entweder ganz unerörtert läßt, oder aber,
natürlich mit tunlicher Berücksichtigung des ver-
fügbaren Raumes, etwas ausführlicher behandelt.
Die jetzt auf S. 72 des 2. Bandes stehende kurze
Bemerkung, daß bei den Basidiomyzeten keine
Sexualität, unter den Askomyzeten eine solche
„nur bei den niederen" vorkomme, würde nicht
ganz dem Stande unserer Kenntnisse entsprechen.
Miehe.
Das Rätsel der 1 luiidstrahleu
Zeitschrilt finde ich in einer Besprechung meiner Schrift unter
obigem Titel (sie erscheint eben in verbesserter und erweiterter
Auflage) die Bemerkung des Herrn Referenten, man habe
beim sideriscben Pendel wohl auch mit diesen PulsstöScn zu
rechnen. Eine erschöpfende Behandlung dieser Frage bietet
meine seit zwei Jahren vorliegende Schrift; „Die Wünschel-
rute, das siderische Pendel und der dynamische Kreis" (Ver-
lag von Johannes Baum, Pfullingen in Würlt.).
Die vom Herrn Referenten mehrfach beobachtete Aus-
löschung einer Klamme durch die entgegengehaltenen Finger-
spitzen findet eine einfache Erklärung auf der gleichen
Grundlage.
Diese Flamme ist ein, leicht in Schwingung bzw. Pulsa-
lion zu versetzender, brennender Gaswirbel. Ist der Puls-
Anregungen und Antworten,
Nr. 17 (S. 238) dieser schlag in der genäherten Fingerspitze ein zur Flamme harmo-
nischer dann gerät sie ins Zittern und sie erlischt bei abso-
luter Konkordanz beider.
Am besten gelingt der Versuch , wenn in die Gasleitung
eine größere Flasche eingeschaltet wird, die als Druckaus-
gleicher dient; ich bediente mich einer 5 Liter haltenden
Wulflschen Flasche.
Die Flamme muß aus einem aufgesetzten Röhrchen (oder
Brenner) von Speckstein , Metall — weniger gut von Glas
von '■'|^ — 2 mm Lumenbrenner und mittelst eines in die Lei-
tung eingeschalteten Schraubenquetschhahns fein reguliert
werden. Je nach der Öffnung und dem Drucke — also stets
variabelcn Veihältnisen — ist eine Höhe der Flamme von
3 — 8 mm angezeigt. Um den Einfluß des Herzstoßes und des
Arterienpulses auszuschließen, ist eine Wand von Glas oder
N. F. XXI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
335
Pappe zwischen dem Körper des Experimentators und der
Flamme einzuschalten.
Daß keinerlei unbelsannte „geheimnisvolle" Handstrahlen
mitsprechen, läßt sich leicht dartun. Der Versuch gelingt
auch, wenn .Metronomschläge mittels einer Holzstange der
Flamme genähert werden, oder die Schwingungen einer tiefen
Baßsaite (auf einem Monochord) der Flamme durch einen
llolzstab zugeführt werden. Die Versuche lassen sich mit
den Mitteln einer Schulsammlung vielfach modifizieren und
recht amüsant gestalten.
Das Anschlagen einer Stimmgabel im gleichen Räume,
Jas Rasseln mit Schlüsseln bringt die Flamme, wenn dazu
gestimmt, zum Erlöschen: das bekannte Experiment der sen-
sibelen Flammen.
Es ist zu bedauern, daß in den mit okkulten Fragen sich
beschäftigenden Kreisen der physikalischen E.xperimentierkunst
zu wenig Beachtung geschenkt wird; es würden sonst eine
ganze Menge irriger Vorstellungen bald zum Aussterben ge-
bracht werden und die freiwerdenden Kräfte zum Erforschen
der noch verbleibenden zahlreichen, vorläufig noch rein
okkulten, Tatsachen Verwendung finden.
(Man vergleiche auch meinen Aufsatz über angebliche
photographische Strahlen in den Psych. Studien [Verlag Mutze,
Leipzig], der im Junihefte erscheinen soll.)
Alb. Hofmann.
Preußische Biologische Anstalt auf Helgoland. Im Som-
mer 1922 muß das bisher abgehaltene fünfwöchige meeres-
liiologische Praktikum der Biologischen Anstalt leider wegen
vorübergehenden Raummangels ausfallen ; dagegen soll im
Anschluß an den von Prof. Prell und Dr. Alverdes ange-
kündigten zweiwöchigen Kursein botanisches Prakti-
kum der Biologischen Anstalt stattfinden und zwar voraus-
sichtlich vom 4. September ab. Dasselbe dauert minde-
stens eine Woche. Wer Zeit und Geld hat kann noch eine
weitere Woche arbeiten. Auf besondere Wünsche wird Rück-
sicht genommen. Die Leitung liegt in den Händen von Ge-
heimrat Prof. Dr. Oltmanns- Freiburg undDr. Nicnburg-
Helgoland. Behandelt wird die Morphologie und Öko-
logie der Meeresalgen. Die Teilnehmer haben den
Nachweis zu erbringen, daß sie an einer Universität minde-
stens ein Semester im großen zoologischen oder botanischen
Praktikum gearbeitet haben. Für Platzgebühr und besondere
Unkosten werden von jedem Teilnehmer 30 Mark erhoben.
Anmeldungen zu diesem Praktikum sind bis spätestens 15. Juli
an die unterzeichnete Stelle zu richten, die weitere Auskunft
erteilt. Ein Mikroskop ist mitzubringen.
Die Direktion der Biologischen Anstalt.
Das 200000. Mikroskop. Um der Zusammenarbeit und
der Anerkennung der Verdienste der Wissenschaft um die
Technik sichtbaren Ausdruck zu geben, hat die Firma E. Le i tz
einem seit Jahrzehnten geübten schönen Brauche folgend, die
Fertigstellung ihres 200000. Mikroskops in würdiger Weise
dadurch gefeiert, daß sie dieses Jubiläums-Instrument einen
hervorragenden Vertreter der Wissenschaft, dem um die
wissenschaftliche Mikroskopie hochverdienten Forscher Prof
Martin Heidenhain, Direktor des Anatomischen Instituts
an der Universität Tübingen, als Ehrengabe zugeeignet hat.
Das Instrument, einer Reihe gleicher Instrumente der laufen-
den Erzeugung des Werkes entnommen, ist ein Universal-
Instrument in des Wortes bestem Sinne, dessen Vielseitigkeit
nicht durch Kompromisse, sondern durch weitgehende Aus-
wechselbarkeit seiner Teile erreicht ist. Dadurch ermöglicht
es alle Arten mikroskopischer Untersuchungen bis zur Ultra-
mikroskopie nicht nur, wie dies noch immer allgemein Brauch
ist, bloß einäugig, sondern mit Benutzung einer von der ge-
nannten Firma schon vor Jahren eingeführten Einrichtung auch
binokular auszuführen.
Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß die Firma
E. Leitz das looooo. Mikroskop ihrer Erzeugung Robert
Koch, dem Altmeister der Bakteriologie, und das 150000.
dem nicht minder verdienten Bekämpfer der Syphilis, Prof.
Dr. Ehrlich, als Ehrengabe zugeeignet hatte.
W. Peter- Zittau macht in Nr. 14 der Naturw. Wochen-
schr. gegen die .\uffassung von Nachtsheim, daß die Ent-
stehung blinder Höhlenformen eventuell auf dem Auftreten
einer dominanten augenlosen Mutation beruhen könne, die
ohne Selektion allein infolge der Dominanzver-
hältnisse die Stammrasse bald verdrängen solle, geltend,
daß nach Hardy (1908) „die Nachkommen der Stammform
und der (dominierenden) Mutante während aller Generationen
immer in demselben Zahlenverhältnis zueinander bleiben, vor-
ausgesetzt, daß keine Sorte im Kampf ums Dasein bevorzugt
ist". Plate, der in der 3. Auflage von „Selektionsprinzip
und Prinzip der Artbildung" (1908) auch annahm, daß die
Nachkommenschaft von dominierender Mutante und rezessiver
Stammform sich zunächst im Verhältnis von i : i vermehre,
kam dabei jedoch zu anderen Schlüssen. Nehme man näm-
lich an, daß die Anzahl (n) der Nachkommen jedes Paares
4 betrage, so erhalte man bei fortgesetzter Kreuzung von
dominierender Mutante (D) und rezessiver Stammform (R),
die im Anfang wegen der überwiegenden Anzahl der Stamm-
formen wahrscheinlich sei, allerdings zunächst in den auf-
einander folgenden Generationen F, , F^, F3 usw. die Formen •
(in F,) 4 DR; (inFoiS DR + SRR; (inFj) 16 DR + 16 RR usw.
Es verdoppelte sich also bei n = 4 in jeder Generation die
Anzahl der DR-Kinder und der RR-Kinder. Bei der be-
ständigen Zunahme der DR müssen aber nach Plate statt
der fortgesetzten Kreuzungen DRXRR schließlich auch Ver-
bindungen von DRXDR stattfinden. So komme man weiter
zu den Verbindungen DD X DD -j- DR X l^K + RR X RR-
Als Nachkommenschaft würde man in diesem Fall, wenn
n = 4 angenommen wird, erhalten 4 DD -j- 4 DR (äußer-
lich =D) -|- 4 RR und damit wäre dann die Überlegenheit
von DR gesichert.
Der von Hardy formulierte Satz, daß die Nachkommen
der Stammform und der Mutante während aller Generationen
in demselben Zahlenverhältnis zueinander bleiben, würde da-
her die Nachtsheimsche Annahme nicht ausschließen.
Nach Plate sollte im Gegenteil „die große deszendenz-theo-
retische Bedeutung der echten Mend eischen Kegel" gerade
darin bestehen, ,,daß sie zeigt, wie eine aus wenigen Indi-
viduen bestehende Varietät (Singularvariation) die volkreiche
Stammform (Pluralvariation) zu verdrängen vermöge — ohne
daß der Kampf ums Dasein — hierb'ii mitwirke". Aus dem
Hardy sehen Satz folgt daher die Ungültigkeit der Nachts-
heim sehen Annahme noch nicht. Der Har d y- Plat esche
Satz ist aber, wie ich im Biologischen Zentralblatt (1910,
S. 593 ff-) gezeigt habe, überhaupt nicht richtig. Das Zahlen-
verhältnis der Nachkommen von rezessiver Stammform und
dominierender Mutante bleibt in den folgenden Generationen,
auch wenn keine der beiden Formen im Kampfe ums Dasein
bevorzugt ist, durchaus nicht gleich^ von Generation
zu Generation tritt vielmehr die Anzahl der dominierenden
Mutanten immer mehr zurück bis sie schließlich gegenüber
der Anzahl der RR-Nachkommen verschwindet. Plate hatte
die Tatsache nicht in Betracht gezogen, daß sich bei der
.\achkommenschaft von rezessiver Stammform und domi-
nierender Mutante die Anzahl der DR-Formen wohl in jeder
folgenden Generation, wenn man vom Kampf ums Dasein
absieht, verdoppelt, daß sieh die RR-Formen aber in einem
außerordentlich viel schnellerem Tempo vermehren. Er über-
sah die Nachkommenschaft der RR-Kinder. Es läßt sich dies
am einfachsten an einem Schema zeigen. Behält man die
Pia leschen Vora"ussetzungen und Bezeichnungen bei, so gehen
aus dem Paare D X R ia den aufeinanderfolgenden Gene-
rationen folgende Formen hervor:
Gene- Gesamtzahl der Anzahl der DR- und RR-
rationen Nachkommen Kinder
Fl = 4 = 4 DR
Fo = 16
SDR
+
8 RR
F3 = 64 = 16 DR -f 16 RR -f JzKR
Fl = 256
= 32 DR+32 RR-f 64 RR+128 RR
In der 3. Generation (F,) stehen also nach dem Schema
den 16 Bastarden DR mit dem Habitus der dominierenden
Mutante 48 RR-Kinder gegenüber; in der 4. Generation (F^)
den 32 DR-Kindern 224 RR-Kinder usw.
Man kann für diese Verhältnisse eine allgemeine Formel
330
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 24
ableiten. Aus dem Schema ergibt sich, wenu man die An-
zahl der Kinder aus jeder einzelnen Paarung durchweg = n
setzt, in der raten Generation im ganzen die Anzahl von
n"' Kindern. Von diesen n"> Kindern sind, wie gleichfalls das
Schema zeigt ,
1 .m -I
DR-Kinder d. b. es gilt für die DK
Kinder die Kormel : - • nm DK. Die Anzahl der KK-
Kinder in der raten Generation ist daher, da es nur DR- und
RR-Kinder gibt, ^ nm — j j . nm oder L — — nm.
Wir erhalten so die Formel :
Kn, = |-1 .nmDR-l-fl — / ' r^lnm RR.
i^r
Nach dieser Formel vermehren sich unter den Nach-
kommen bei einer Kreuzung von rezessiver Stammform und
dominierender Mutanten die beiden Formen in den aufein-
anderfolgenden Generationen in folgenden Verhältnissen. Es
erscheinen in der Generation;
K, = n DR (da = I ist); ferner in den Geiii-rationen :
2
Ka= ' n' DK -f '-n«RR;
F3 = — nS DR + »/^ n» RR ;
F« = -^ n* DR + % n» RR ;
15,
Die Anzahl der RR-Kinder nähert sich daher
mit wachsendem mimmermehrdem Werte nm , d i e
Anzahl der DR-Kinder wird dagegen ein imraer
kleinerer Bruchteil
von nm. Plate hat die
Richtigkeit dieser Feststellung in der 4. Auflage seines
.Selektionsprinzipes ausdrücklich anerkannt.
Wenn daher auch die betreffende Na ch tsh ei msche
Annahme sicher falsch ist , so ist sie es nicht wegen der
Geltung des Hardy- Plat eschen Satzes; aus ihm ließe sich
im Gegegteil auf dem Plateschen Wege gerade ihre Richtig-
keit erweisen; sie ist vielmehr falsch, weil auch derHardy-
sche Satz falsch ist und unter den Nachkommen einer Kreuzung
von rezessiver Stammform und dominierender Mutante die
Stammformen und Mutantformen sich in den folgenden Gene-
rationen nicht das Gleichgewicht halten, sondern die letzteren
im Verhältnis zu den Stammformen rapid abnehmen.
H. Kranichfeld.
Nochmals die Kontraktionstbeorie. Wenn die Streiche,
die Herr Dr. Fricke in Nr. 15 der Naturw. Wochenschr.
gegen die Kontraktionshypothese führt, sie zu Falle iu bringen
vermöchten, so würde sie es nicht wert sein, daß man sich
um sie bemühte. Aber sie steht doch etwas fester, als Dr.
Fricke glaubt. Ich hatte in meinem Aufsatze die Hypothese
in Schutz genommen und gezeigt, daß die neueren Forschungs-
ergelinisse keineswegs dazu zwingen, sie aufzugeben, sondern
im Gegenteil ihre Richtigkeit bestätigen. Gegen meine Argu-
mente wendet sich Dr. Fricke mit keinem Worte; er muß
sie also wohl gelten lassen. Er greift nur eine meiner ein-
leitenden Bemerkungen an, wo ich darauf hingewiesen hatte,
dafl für die Erde die Kontraklionshypothese gleichsam a priori
feststehe, weil eine ganze Reihe von Gründen, die ich an
einem anderen Drte aufgezälilt habe, die Anwendung der
Meteoritenhypothese auf ihre Entwicklung verbiete. Dr.
Fricke gibt sich nicht die Mühe, diese Gründe zu wider-
legen. Bis dies geschehen ist, darf ich sie also ebenfalls als
zu Recht bestehend betrachten.
Daß durch die neueren astronomischen Forschungen die
Entwicklung der Riesensterne zu Zwergsternen „bewiesen" sei,
habe ich nicht behauptet. Beweisen lassen sich nur mathe
matische Lehrsätze. In den Erfahrungswissenschafien gibt es
stets nur einen höheren oder geringeren Grad von Wahr-
scheinlichkeit. Die neueren astronomischen Forschungen
haben es nun in der Tat wahrscheinlich gemacht, daß die
Sternentwicklung den angegebeneu Gang geht. Natürlich gibt
es immer einige Gelehrte, die sich der allgemein herrschenden
Ansiclit nicht anschließen. Wenn sie wünschen, daß ihre ab-
weichende Ansicht Anerkennung finde, so müssen sie aber
imstande sein zu zeigen, daß ihre Auffassung der gegnerischen
überlegen sei. Vorläufig bezweifle ich sehr, daß dies bei
Dr. Frickes Ansichten über die Entwicklung der Welt-
körpcr zutrifft.') Er hat auch verraten, was ihn letzten Endes
veranlaßt, der Kontraktionshypothese seine Anerkennung zu
versagen. Es sind die „trostlosen Zukunftsaussichten", die
sie seiner Meinung nach bietet. Also nicht aus objektiven,
in der Sache liegenden, sondern aus subjektiven Gründen,
weil gewisse letzte Konsequenzen der Hypothese gewissen
vorgefaßten Meinungen widersprechen, lehnt Dr. Fricke
sie ab. Dazu ist zu sagen, daß die von ihm berührten letzten
Fragen noch lange nicht leif für eine exakte wissenschaftliche
Behandlung sein dürften, und daß man sich aus diesem Grunde
nicht verleiten lassen darf, nach ihnen den Wert wissenschaft-
licher Hypothesen zu beurteilen. Wenn mehr oder weniger
tröstliche Zukunftsaussichten wissenschaftlicher Forschung die
Zielrichtung vorschreiben dürften, dann könnte man es auch
den Verfechtern kirchlicher Dogmen nicht verargen, wenn sie
sich berufen fühlten, die Wissenschaft zu reformieren, weil
ihre trostreichen Glaubenssätze den wissenschaftlichen Er-
gebnissen wegen der trostlosen Gewißheit, daß uns die letzten
und höchsten Ziele wissenschafilicber Forschung doch immer
unerreichbar bleiben, überlegen seien. Nölke.
') E. Wiechert, auf den Dr. Fricke sich beruft, ist
keineswegs Gegner der Kontraklionshypothese. Er schließt
sich durchaus der herrschenden Ansicht an, daß die Sternent-
wicklung, vom Gasnebelzustande ausgehend, das Stadium der
Riesen- und Zwergsterne durchlaufe, ergänzt diese Vorstellung
aber durch die Annahme eines Kreislaufs des kosmischen
Geschehens. Seiner Meinung nach vergrößern die Zwergsterne ■
durch Aufnahme kosmischer Meteoritenmaterie ihre Masse, bis
sie schließlich, zu Massenriesen geworden, durch eine Ex-
plosion auseinandergerissen werden. Dabei zerstreut sich der
größte Teil ihrer Materie in Meteoritenform durch den Welt-
raum, wo sie von neuem das Material für das Wachstum der
wandernden Gestirne bilden. -Als Rest aber bleibt ein Gas-
nebel zurück, der wieder die gewöhnliche Entwicklung vom
(Raum-) Riesen zum Zwerge durchläuft.
Inhalt: E. Krenkel, Zum fünfzigjährigen Bestehen der Sächsischen Geologischen Landesuntersuchung. S. 321. G.Brück-
ner, Alfonso Corti. S. 322. II. Rust, Mathematisches Neuland: Arnold Kowalewskis Buntordnungslehre. S. 324.
W. R. Eckardt, Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebungen und die Tiergeographie. S. 326. — Einzel-
bericbte: F. v. Weltstein, Neue Beobachtungen an unseren entomophilen Moosen. S. 327. N. Vavilow und
R. Regel, Über den Ursprung der Getreidearten. S. 32S. W. Einthoven, Der dünnste Faden sichtbar gemacht.
(3 Abb.) S. 330. W. Volkraann, Prüftafel für Fernrohre. S. 332. Sanford, Über die Beziehungen der Spiral-
nebel zu der Milchstraße. S, 332. — Bücberbesprecbungen: R. G ol dsch m id t , Ascaris. S. 333. A.Klaus, Atome,
Elektronen, Quanten. S 333. B. Bavink, Grundriß der neueren Atomistik. S. 333. H. E. Timerding, Die Fall-
gesetze. S. 334. P. Meth, Theorie der Planetenbewegung. S. 334. E. Gramberg, Pilze der Heimat. S. 334. —
Anregungen und Antworten: Das Rätsel der Ilandstrahlen. S. 334. Preußische Biologische Anstalt auf Helgoland.
S. 335. Das 200000. .Mikroskop. S. 335. Entstehung blinder Höhlenformen. S. 335. Nochmals die Kontraktions-
Iheorie. S. 336.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pälz'schcn Buchdr. Lippert & Co.- G. m. h. II., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den i8. Juni 1922.
Nummer }85.
Bemerkungen über Standorte und Verbreitung der deutscheu
Farnkräuter.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Hugo Fischer.
„Farnkräuter" wäre ein unrichtiger Ausdruck,
wenn er sich auf die ganze Klasse bezöge, weil
es ja in den Tropenländern auch Farnbäume gibt.
Innerhalb Europas darf man aber schon von
„Farnkräutern" sprechen. Zu verwerfen ist aber
die Bezeichnung „Farrenkraut" ; das mag dem
Dichter hingehen , wenn es ihm im Reim und
Rhythmus nicht anders passen will, aber in Prosa-
schriften sollte man trotz allen dichterischen
Schwunges die unrichtige Schreibweise vermeiden,
denn die „F"arren" gehören zum lieben Vieh; eine
engere Beziehung zwischen Farn und Farren ist
auch darum abzuweisen, weil die Farne zum Vieh-
futter gänzlich ungeeignet sind.
In Einteilung und Benennung habe ich mich
an L. Diels, inEnglerPrantl, Die natür-
lichen Pflanzenfamilien, i. Teil, 4. Abtlg.,
angeschlossen. Ascherson und Graebner,
Synopsis, gehen mir in der Zusammenlegung
der Gattungen etwas zu weit. Doch billige ich
die Einziehung der alten Gattung Phegopteris,
obwohl gerade die drei deutschen Vertreter eine
gut abgegrenzte Gruppe darstellen. Autoren-
namen lasse ich fort, nicht aus grundsätzlicher
Abneigung, sondern weil die Zwecke, die man
mit ihnen verbindet, in den folgenden Zeilen gar
nicht in Frage kommen. Volksnamen unserer
Pflanzen weiß ich sehr zu schätzen; wenn ich auf
die deutschen Namen hier verzichte, so geschieht
es, weil es für die wenigsten Arten wirkliche
Volksnamen gibt, die meisten sind nur Ver-
deutschungen, wie der „nördliche Streifenfarn" u. a.
Zuweilen sind aber Volksnamen geradezu falsch :
so hörte ich für Blechnum spicant die Bezeich-
nung „Steinfarn", die Art kommt aber an oder
auf Steinen kaum vor, sondern auf humosem
Boden. —
Es ist ein oft beklagter Übelstand, daß F"und-
Ortsangaben gewöhnlich den Standort nur sehr
allgemein bezeichnen, während doch gerade alle
näheren Umstände das Vorkommen einer be-
stimmten Art an einer bestimmten Stelle erst recht
interessant machen. So findet man bei Farnen
oft angegeben: „an Mauern". Es ist aber, wegen
der Kalkfrage, von welcher noch die Rede sein
wird, ein großer Unterschied, ob die Mauer mit
Kalkmörtel gebaut ist, oder ob es eine „Feld-
mauer", aus Granit-, Schiefer- oder dgl. Steinen,
ohne erhärtendes Bindemittel aufgeschichtet, ist.
Erst aus genauen Beschreibungen des Standortes,
in seinen chemischen, physikalischen und oiko-
logischen Besonderheiten können wir die Be-
dingungen wirklich erkennen, an die das Vor-
kommen der Arten gebunden ist.
Denn auch die Lehre von der geographischen
Verbreitung der Pflanzen hat, wie die Botanik
überhaupt, längst aufgehört, eine „beschreibende"
Wissenschaft zu sein; sie ist zur Erforschung der
natürlichen Ursachen vorgedrungen und schreitet
auf diesem Wege weiter fort. In der floristischen
Forschung nun ist eine sehr umfangreiche und
höchst dankenswerte Kleinarbeit geleistet von
Dilettanten, die oft mit größter Begeisterung für
die Sache doch nicht den weiten Blick verbanden,
der alle jene Zusammenhänge überschaut, und so
erklärt sich wohl vielfach die Ungenauigkeit in
den Standortsangaben. Der Sammler ist ja natür-
lich vor allem stolz darüber, eine seltene Pflanze
an einer „neuen" Stelle gefunden zu haben und
begnügt sich wohl damit. Gerade für seltene,
oder in jener Gegend seltene Arten ist aber die
Besonderheit des einzelnen Fundortes von größter
Bedeutung; ist die Pflanze selten, so heißt das
oft, daß sie in jener Gegend sich nicht recht
heimisch fühlt, daß besondere Bedingungen er-
füllt sein müssen, solche chemischer oder physi-
kalischer oder oikologischer Art, um ihr das Ge-
deihen an einem Fleck doch zu gestatten. So
erreichen viele Pflanzen die Nordgrenze ihrer Ver-
breitung etwa auf Kalkboden, der wärmer (I) ist
als andere Unterlagen, oder sonst an Stellen, die
besonders günstig geartet sind.
Die Bedingungen des Vorkommens und der
Verbreitung einer Art sind, abgesehen von den
historischen Beziehungen, von zwei Seiten zu be-
trachten : die Eigenart der Pflanze und die Eigen-
art des Standortes ; beide müssen zueinander passen,
wenn erstere sich an einer Stelle behaupten soll.
Wir können in solcher Hinsicht auch von Innen-
und von Außenbedingungen sprechen. Die
ersteren zu analysieren ist natürlich nicht leicht,
und so ist es denn, wie jüngst Fitting in einem
gedankenreichen Vortrag ') betont hat, gerade die
physiologische Seite einer „Pflanzengeographie auf
physiologischer Grundlage", welche noch recht
viele dunkle Stellen aufweist. Die Außenbeding-
ungen sind leichter festzustellen. Einteilen können
wir sie in solche chemischer, physikalischer (klima-
tischer), oikologischer und historischer Art. Welche
Bedeutung der letztgenannte Punkt hat, dafür sei
an die Tatsache erinnert, daß Deutschlands heutige
')Hans Fitting; Aufgaben und Ziele einer vergleichen-
lii'n Physidiogie auf geograjihischer («rundhige, Jena 1922.
338
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
Pflanzenwelt in ganz hervorragendem Maße und
unverkennbar von der längst vergangenen Eiszeit
abhängig ist. Die Oikologie, die ja vielfach Zu-
sammenhänge auch mit der geschichtlichen Ent-
wicklung hat, knüpft an die Lehre vom „Kampf
ums Dasein" an. Wenn wir auch heut überzeugt
sind, daß Darwin die Wirkung seiner „Natur-
auslese im K. u. D." in ihrer Tragweite für die
Entstehung der Arten überschätzt hat, so
ist doch nicht minder gewiß, daß dieselbe für die
natürliche Verbreitung der Arten von ganz
beträchtlichem Einfluß ist. Eine Art von Tieren
oder Pflanzen kann eben nur da vorkommen,
wo der Kampf um die Erhaltung des Einzelwesens
und um die Fortpflanzung seiner Art nicht so
hart wird, daß die Art ihm nicht mehr gewachsen
ist. Sie kann sich nur da ansiedeln und er-
halten, wo die Umwelt ihr die Möglichkeit dazu
gewährt. Darum ist es ein wenig naiv, wenn
jemand in der Anpassung einer Art an ihren
Standort etwas besonders Wunderbares findet; ein
wahres Wunder wäre das Gegenteil : das Vor-
kommen einer Art an einer Stelle, der sie ganz
und gar nicht angepaßt wäre.
Wenn eine Pflanzenart recht unfruchtbare und
anscheinend wenig günstige Stellen „mit Vorliebe
aussucht", so kann es daran liegen, daß sie besseren
Boden wirklich nicht verträgt, wie Nardus stricta
und andere Sandgräser, die auf gedüngtem Land
bald eingehen, — oder aber daran, daß durch die
ungünstigeren Bedingungen die Wettbewerber
zurückgehalten werden. Das gilt wohl von allen
l'^elsritzen und Mauern bewohnenden Pflanzen. —
Eines der interessantesten und umstrittensten
Gebiete in der Lehre von der Verbreitung der
Pflanzen ist die Kalkfragc. Die ältere Botanik
machte nach dem Vorgang von U n g e r einen
dicken Strich zwischen „Kalk- und Kieselpflanzen",
in neuerer Zeit ist diese Grenze bedeutend ins
Schwanken gekommen. Wir müssen auf diese
Frage hier hindeuten, weil sie gerade auch für
unsere Farnkräuter nicht ganz unwesentlich ist.
Es konnte das festgestellt werden, daß die Be-
schränkung der Kalkpflanzen auf Kalk, der Kiesel-
pflanzen auf (kalkarmen) Kieselboden keine voll-
kommene ist, daß nämlich doch Ausnahmen nicht
allzuselten sind. Auch scheinbare Ausnahmen
sind beobachtet: Kieselpflanzen können im Kalk-
gebirge in einer so dichten Humusanhäufung
stehen, daß ihre Wurzeln mit dem Kalk gar nicht
in engere Berührung kommen; oder es kann in
kalkarmem Gestein stellenweise eine Anreicherung
mit Kalk stattgefunden haben ; so z. B. beschreibt
Wirt gen, Flora der Rheinprovinz, einen Stand-
ort des Kalkfarnes Nephrodium Robertianum im
rheinischen Schiefergebirge (meist kalkarmer De-
von- bzw. Silurschieferj mit den Worten : ,,wo
herabrieselndes Bergwasser seinen Kalkgehalt ab-
gesetzt hat".
Zweifellos gibt es wirkliche Kalk- und
Kieselpflanzen, doch ist es eine Regel, die auch
Ausnahmen verträgt. Die Versuche sind gelungen,
Kalkpflanzen auf Kieselboden, Kieselpflanzen auf
Kalkboden zu kultivieren ; aber es gehört doch
immer sorgsame Pflege dazu, und eben dieser
Umstand beweist, daß Organisationsunterschiede
doch vorhanden sein müssen. Kalkreicher Boden
erschwert den Pflanzen, die an ihn nicht gewöhnt
sind, die Aufnahme der lebensnotwendigen Eisen-
und Phosphorsalze, ist wohl auch auf den Kali-
stoffwechsel nicht ohne Einfluß; worin die Ab-
neigung der Kalkpflanzen gegen Kieselboden be-
steht, ist schwieriger zu sagen. Auch in der
Natur findet man zuweilen Kalkpflanzen auf Kiesel-
boden, oder umgekehrt, dann meist in Phallen, wo
eine naheverwandte, dem Boden eigentlich zuge-
hörige Art fehlt, also nicht als Mitbewerber um
den Standraum in Frage kommt. Einen solchen
Fall hat z. B. Nägeli beschrieben. U'ir müssen
dabei der auffallenden Erscheinung gedenken, daß
gerade nächstverwandte Arten oft nicht den
gleichen Standort teilen, sondern so verschiedene
Neigungen verraten, daß sie sich gegenseitig nicht
den Platz streitig machen, einander vielmehr aus-
weichen. An solchen nächstverwandten, aber ver-
schiedene Standorte bewohnenden Artenpaaren, an
welche die Beobachtungen von Unger anknüpfen,
fehlt es auch unter den Farnen nicht. Von weiter
hier anknüpfenden Fragen soll unten gelegentlich
der „Serpentinfarne" noch näher die Rede sein
(s. bei Nr. 36).
Ein gewisser Kalkgehalt fördert ganz unge-
mein die Tätigkeit der Bodenbakterien ; ich selbst
habe in Versuchen gefunden, daß in Ackererde
durch geringe Kalkbeigabe die Zahl der auf
Platten angehenden Keime auf das 50- bis 100 fache
anstieg. Das kann auch auf die in solchem Boden
wurzelnden Pflanzen nicht ganz ohne Einfluß sein,
wenngleich nähere Beziehungen hier noch nicht
aufgedeckt sind — wie denn überhaupt die Boden-
bakteriologie noch heute zu einem sehr großen
Teil aus ungelösten P'ragen besteht. Bezüglich
der Kalkpflanzen ist ferner auch darauf hinge-
wiesen worden, daß Kalkboden an den sonstigen
Pflanzennährstoffen reicher zu sein pflege als
Kieselboden. Was den Stickstoff betrifft, so
wissen wir, daß die beiden ihn am kräftigsten
aus der Luft assimilierenden Bakterienarten, Ba-
cillus amylobacter und Azotobacter chroococcum,
kalkhaltigen Boden verlangen. Auch kaim man
in den Hochgebirgen (Alpen, Tatra) sehen, wie
die Kalkberge meist durch reichere Vegetation
und größere Artenzahl vor den kalkärmeren (Ur-
gestein, Schiefer usw.) ausgezeichnet sind. Anderer-
seits ist aber zu betonen, daß eine aus Ziegel-
steinen und Kalkmörtel gebaute Mauer wohl nicht
als „nährstoffreicher" Standort aufgefaßt werdeii
kann.
Eine recht interessante Feststellung jener Art
konnte ich im Jahre 1908 am Ausgang des Fisch-
bachtales machen, das von Norden, vom Hunsrück
her, in die Nahe mündet. Die Felsen des wohl
silurischen Schiefergesteins petrographisch zu analy-
sieren, war ich weder ausgerüstet noch erfahren
N. F. XXI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
339
genug, doch fiel es sehr deutlich auf, daß die
einen viel reicheren Pflanzenwuchs, auch bezüglich
der Artenzahl, trugen, als die anderen, die auch
schon als Gestein betrachtet mehr quarzitisch, also
an Pflanzennährstoffen ärmer waren als jene. Es
war hier eine gewisse Abstufung deutlich zu er-
kennen, die besonders in den die einzelnen Fels-
gruppen bewohnenden Arten von Farn-
kräutern ihren Ausdruck fand. Auf den nähr-
stoffärmsten Preisen stand nur das kalkscheue
Polypodium vulgare, auf anderen gesellte sich das
ebenfalls kalkscheue Asplenum septentrionale hin-
zu, auf wieder anderen fehlte das erstgenannte,
während neben A. sept. nun A. trichomanes auf-
trat, auf nochmals anderen fand ich nur noch
dieses, neben dem ziemlich kalksteten Ceterach
officinarum. Diesen viererlei Stufen entsprach
nun auch nach Individuen- und Artenzahl der
Bestand an Blütenpflanzen, die damals, Ende Au-
gust, schon stark vorüber waren, und bezüglich
derer ich mir keine Notizen gemacht habe. Jeden-
falls boten aber diese Felsgruppen ein pflanzen-
geographisch höchst interessantes Bild, schon
wegen ihres ziemlich nahen Nebeneinander.
Soviel von den allgemeinen pflanzengeo-
graphischen Gesichtspunkten ; nun noch ein paar
Worte von den Farnen als solchen. Jeder Laie
kennt sie, jeder Dichter braucht sie, wenn er die
Poesie des deutschen Waldes schildern will. Durch
die ungemeine Zierlichkeit ihrer meist fein ge-
fiederten Wedel sind sie das Entzücken jedes Be-
schauers, der einigen Schönheitssinn hat. Ihre
Verwendung in der Blumenbinderei ist bekannt,
nicht minder ihre Brauchbarkeit zur Belebung
schattiger Stellen in Gärten, wo Blütenpflanzen
nicht mehr recht gedeihen wollen. Leider sind
sie zu sehr an feuchte Luft angepaßt, um sich in
unseren Zimmern wohlzufühlen ; um so mehr
sind sie für Luxusglashäuser und Wintergärten
zu empfehlen, wofür freilich ausländische Arten
sich meist besser eignen als unsere einheimischen.
Wissenschaftlich interessant sind die Farne als
ein sehr alter Zweig am Stammbaum des Pflanzen-
reichs, der namentlich einen uralten Charakterzug
bewahrt hat: Die „Wedel" der F'arne werden oft
als „Blätter" bezeichnet, aber nur teilweise mit
Recht. Die paläontologische „Urpflanze" kannte
noch keinen Unterschied zwischen Seitensproß und
Blatt, erst allmählich haben sich die beiderlei
Dinge voneinander getrennt entwickelt, der Sproß
wächst „unbegrenzt" — was natürlich nur theo-
retisch gemeint sein kann — an seiner Spitze
weiter, das Blatt stellt frühzeitig sein Spitzen-
wachstum ein und wächst, nachdem dieses vollendet
ist, noch an der Basis weiter, bis auch dieses
Wachstum sein Ende erreicht. Die „Wedel" der
Farne nun — ich vermeide absichtlich, „Blätter"
zu sagen — sehen zwar wie Blätter aus, haben
auch die Stellung am Hauptstamm und den ana-
tomischen Bau wie Blätter, aber sie haben anderer-
seits ein lang andauerndes Spitzenwachstum, wie
echte Sprosse. Das Interessanteste an dem lange
Jahre durchgeführten Streite, ob es echte Sprosse
oder echte Blätter seien, ist also schließlich das,
daß keine Partei ganz, und jede etwas im Recht
warl Als Kuriosum, als Zeichen dafür, wie weit
man zuweilen im morphologischen Schematismus
gegangen ist, sei der eine Punkt angeführt: es ist,
allen Ernstes, gesagt worden, wenn die Farnwedel
Sprosse seien, dann müsse man die Spreuschuppen
als die Blätter dieser Sprosse ansehen. —
Wir gehen nun die einzelnen Arten der deut-
schen Flora durch, wobei ich einige seltene, erst
am Südfuß der Alpen vorkommende Arten übergehe.
1. HymoiopliylliiDi ütnhndgciisc, der einzige
deutsche Vertreter einer mit fast 200 Arten in
den Tropenländern verbreiteten Familie, ein un-
gemein zartes, Feuchtigkeit liebendes Pflänzchen,
in Deutschland nur an einer einzigen Stelle, im
Uttewalder Grunde der „Sächsischen Schweiz"
gefunden (die Angabe „bei Wehlen" bedeutet
wohl den gleichen Standort?), aber seit etlichen
Jahren verschwunden und nicht wieder aufge-
funden; infolge Abholzung des oberhalb befind-
lichen Waldes ist die Stelle zu trocken geworden,
um dem zarten und seltenen Pflänzchen länger
die Existenzmöglichkeit zu bieten. Nahe unserer
Grenze findet es sich in Luxemburg; über dieses
Vorkommen hat Klein inNaturw.Wochenschr. 1916
ausführliche Mitteilungen gebracht. H. t. hat eine
besondere Vorliebe für Sandstein, der dank seiner
Porosität Wasser aufsaugt und lange festhält, also
für P"euchtigkeit liebende Pflanzen der rechte Stand-
ort ist. Im übrigen Europa findet es sich vor-
wiegend in einiger Nähe der atlantischen Küsten,
immer in feuchterem Klima, übrigens weit über
die Erde verbreitet, so in Südafrika, auf den
Westafrikanischen Inseln, in Mittel- und Süd-
amerika, in Australien, Neu-Seeland usw. Schade,
daß wir dieses Gewächs kaum noch als lebenden
'Bürger der deutschen Flora ansehen dürfen.
2. Afliyn'/iin filix femiiia , ausgesprochener
Waldfarn, der meist zusammen mit Nephrodium
filix mas und N. spinulosum bzw. dilatatum den
Boden schattiger, humoser Wälder, besonders
Waldschluchten, schmückt, meist unter den ge-
nannten die häufigste Art. Kalkboden scheint
ihnen allen nicht zuzusagen, im Kalkgebirge finden
sie sich nur an besonders begünstigten Stellen,
bei weitem nicht so häufig wie sonst in Gebirgs-
wäldern. Nicht selten auch in Felsritzen, doch
lieber in Urgestein, Schiefer oder Sandstein als
auf Kalk. Es steigt in den Gebirgen bis über
2000 m hoch, wird aber meist schon in geringerer
Höhe von der nächsten Art (s. d.) abgelöst.
Weitere Verbreitung: fast ganz Europa, Algerien,
West- und Nordasien, Nordamerika, Peru, Java.
Die in eine große Zahl von „Formen" zerfallende
Art eignet sich ihrer zierlichen Plederung wegen
besonders für den Garten, ist auch dankbar.
3. Aih. alpesfre, der vorigen täuschend ähnlich,
doch bei einiger Übung auch von oben zu unter-
scheiden ; ganz sicher an der Form der Sori. Auch
diese Art bevorzugt kalkarmen Boden. Sie kommt
340
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
nur in Gebirgen von etwa 800 m Höhe an vor,
oft in großen Mengen, ganz wie 2. Im Riesen-
gebirge habe ich an mehreren Stellen die Über-
gangszone untersucht, in welcher beide Arten
durcheinander vorkommen; niemals habe ich eine
Zwischenform gefunden, stets scharf und deutlich
entweder die eine oder die andere Art. Wenn
es richtig wäre, daß, wie der Lamarekismus be-
hauptet , der Standort die Artmerkmale hervor-
ruft, dann müßte man folgerichtig erwarten können,
daß an der Verbreitungsgrenze Zwischenformen
(abgesehen von etwaigen Kreuzungen) auftreten —
eben das ist nicht der F"all, es ist überliaupt nur
einmal, von Christ am h'eldsee des Schwarz-
waldes, e i n S t o c k gefunden worden, der zwischen
beiden Arten die Mitte hielt, der wohl hybrider
Herkunft war. Verbreitung der Art: deutsche
Mittelgebirge (Vogesen, Schwarzwald, Thüringer
Wald, Harz, Fraiikenwald, Böhmerwald, Erzge-
birge, sehr viel im Iser-, Riesen- und Altvaterge-
birge), Alpen, Karpathen, weiter in Schottland,
Mittelfrankreich, Pyrenäen, Skandinavien, Lapp-
land, Kaukasus, Kleinasien, fraglich in Amerika.
4. cys/ii/^/rn\ //-i/i^/l/s. Zierlicher, schatten-
liebender Farn , in P"elsritzen aller Gesteinsarten,
an Mauern, alten Baumstubben und Baumwurzeln,
selten auf offenem Boden. Die subalpine var.
regia bevorzugt Kalk, wenn auch niclit ausschließ-
lich. Die Hauptart jedoch ist, obwohl als typische
Felsritzenbewohnerin durch ihre Wurzeln mit
der Unterlage in engster Berührung, doch ausge-
sprochen bodenvag, d. h. auf verschiedensten Ge-
steinen gleichermaßen vorkommend. Häufig in
bergigen Gegenden und Gebirgen, im I'lachlande
seltener; weiterhin in ganz Europa bis Spitzbergen,
in Asien bis zum Himalaja, Nordafrika, Nord-
amerika bis Grönland, Chile, Neuseeland, Tas-
manien, Kerguelen.
5. C. Hii'iilaiiii, subalpin und kalkstet, weniger
in Felsritzen als im stark mit Kalkbrocken durch-
setzten Humus an feuchten Hängen. Vereinzelte
Standorte in der Schwäbischen Alb, häufiger in
den bayrischen, schweizerischen und österreichi-
schen Kalkalpen, südöstlich bis Dalmatien. Weiter
in der Hohen Tatra , in den siebenbürgischen
Karpathen; Schottland, Skandinavien; Pyrenäen,
Apenninen; Nordrußland, Kamtschatka, Nord-
amerika.
6. C. siidr/ica. der vorigen sehr ähnlich, stellen-
weise mit ihr gemeinsam auf Kalk, doch häufiger
(so im Altvatergebirge) auf kalkarmem Gestein,
also als bodenvag zu bezeichnen; von seltenem
und weit zerstreutem Vorkommen: ein Standort
in den bayrischen Alpen; dann Hohe Tatra,
Siebenbürgen, weiter in Norwegen, Nordrußland,
Kaukasus, Ostsibirien.
7. XepJirodiinn Drxopkris (diese und die
nächsten zwei Arten früher als Gattung Phego-
pteris), P'arn der schattigen humosen Waldstcllen,
dort rasenbildend, seltner in F"elsenspalten , fast
ausschließlich auf kalkarmem Gestein. Recht
verbreitet durch das ganze Gebiet, auf den Nord-
secinseln fehlend, desgleichen in der immergrünen
Region südlich der Alpen. Weiter in Gebirgen
Südeuropas und Kleinasiens, Nordasien bis Japan,
Nordamerika innerhalb der gemäßigten Zone.
8. X. RoherHaiiitui, der vorigen in Wuchs und
Aussehen sehr ähnlich, doch ausgesprochen kalk-
hold und weniger auf schattige Standorte be-
schränkt. Wächst im Kalkgeröll an Berghängen,
seltner in Mauerritzen, selten auf Baumstubben
oder in kalkarmem Waldboden. Wegen ihrer
Vorliebe für Kalk ist die Art mehr als die vorige
auf bergige Gegenden beschränkt, im F"lachlande
wohl nur mit Bruchsteinen eingeschleppt; immer-
hin ermöglicht die leichte Verbreitung der Sporen
durch den Wind auch Besiedelung solcher Punkte,
die vom typischen Vorkommen weit entfernt
liegen. So sah ich einmal einen einzelnen Stock
in Schlesien (wo die Art sonst selten ist) in einer
Gartenmauer am Wege von Schweidnitz nach
den Költschenbergen. N. R. steht auch in den
Trümmern des Heidelberger Schlosses und auf
dem anderen Neckarufer in der Ruine auf dem
Heiligenberg; die Formation ist Buntsandstein,
der Baustein desgleichen , die Art wächst dort
nur in den gemörtelten Mauern. Sie ist in
Deutschland weit seltener als die vorige Art, doch
ziemlich weit verbreitet; weiter in fast ganz Europa,
in Afghanistan, in Nordamerika.
9. A'. p/if<;ijpf(vis, an ähnlichen Standorten wie
7, aber noch etwas mehr Schatten und Feuchtig-
keit liebend, in Wäldern gern die Böschungen
der Wegränder mit dichtem Rasen überziehend.
Die Art meidet Kalk, findet sich aber, oft in
Mengen, in Felsritzen von Gneiß, Tonschiefer u. a.
kalkarmen Gesteinen. Beiläufig: man darf Fels-
spalten nicht schlechthin als „trockenen" Standort
ansehen — im Gegenteil! Der stark humose
Boden, aus verwesten Flechten, Moosen und
Resten anderer Pflanzen hervorgegangen, saugt
sich bei Gelegenheit voll Wasser, und der Fels
schützt dieses vor dem Verdunsten. Die Art ist
durch ganz Nord- und Mitteleuropa verbreitet;
weiter auf Korsika, in den Pyrenäen, Apenninen,
in Serbien, Kleinasien, im Kaukasus und Himalaja,
Nordasien bis Japan, Nordamerika.
Bemerkung: Während die Mehrzahl unserer
Farne in Rosettenform wächst, die größeren Arten
oft jene „Körbe" bildend, die ebenso charakte-
ristisch wie dekorativ wirken, haben die Arten 5
bis 9 einen ganz anderen Wuchs: von dünnem,
langhinkriechendem Erdstamm steigen die Wedel
einzeln auf, so daß bei dichtem Zusammenstehen
eine Art Rasen gebildet wird. Ähnlichen Wuchs
zeigt von den deutschen Arten nur noch die
nächstfolgende Art, dann in größerem Maßstabe
der „Adlerfarn", Pteridium, und die einzige deut-
sche Polypodium-Ari.
10. .V. /'/(■lvM('>'is, von allen deutschen Farnen
die wasserliebendste Art, deren Erdstamm ent-
weder geradezu im Wasser von Teichrändern
und Gräben, oder doch im stark durchnäßten Boden
von Waldsümpfen kriecht. N. t. bevorzugt daher
N. F. XXI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
341
das Flachland und wird im Gebirge je höher je
seltener. Findet sich in fast ganz Europa, doch
weniger im südlichen Teile, in Algier, Vorder-
asien, Himalaja, Nordasien bis Japan, Vorderindien.
Nordamerika.
II. .\'. iiiuiitaiimii (auch ^\'. Oiinptiris) führt
seinen Namen insofern mit Recht, als es ganz
vorwiegend das Bergland, wenn auch oft das
niedere Bergland, bevorzugt. Es liebt stark hu-
mosen, selbst torfigen Boden, die zattgrünen,
leicht welkenden Wedel verraten Anpassung an
feuchten Standort, der dafür nicht immer beson-
ders schattig zu sein braucht. Im Flachland ist
es selten, steigt in den Hochgebirgen etwa bis
1500 oder 2000 m hinauf. Kalk scheint es zu
meiden, was bei der Vorliebe für sauren Unter-
grund nicht wunderbar ist. An geeigneten Stellen
findet sich N. m. manchmal in IWenge, zuweilen
mehr als die sonst häufigeren großen Waldfarne.
In Deutschland weit verbreitet, von den Vogesen
bis zu den Sudeten, doch nicht überall. Un-
richtig (!) ist die aus einer Flora in die andere
aufgenommene Angabe: „häufig im Riesen- und
Isergebirge". Das Riesengebirge kenne ich ziem-
lich gut, aber der Stellen, wo ich N. m., dabei
z. T. in einzelnen Stöcken , gesehen habe, sind
nicht viele. Erst wenn man von Schreiberhau
die Straße nach Neu weit geht, über den Sattel
zwischen Riesen- und Isergebirge, sieht man die
Art in größeren IVIengen, und im Isergebirge selbst
ist sie wirklich sehr häufig. Auffallend ist das,
infolge gleichartiger Standortsansprüche, häufige
Zusammenvorkommen mit Blechnum spicant. Am
Südfuß der Alpen wird die Art seltener, findet
sich aber in Ober und Mittelitalien, auf Korsika,
in Nordspanien, Frankreich, Großbritannien, Ru-
mänien, Westrußland, Südskandinavien, Dänemark,
außerdem in Madeira.
12. S. fili.x iiids, von ganz ähnlicher Verbrei-
tung und meist an den gleichen Stellen wie
Athyrium filix femina, doch meist etwas spär-
licher, was vielleicht von der Ausrottung durch
Menschenhand herrührt, da der ,. Wurmfarn" von
altersher als Bandwurmmittel geschätzt ist; typi-
scher Bewohner des Waldhumus, zuweilen in
Felsritzen. Seltner, wenn auch nicht fehlend, im
Kalkgebirge, auch zuweilen in gemörtelten Mauern;
im Hochgebirge bis etwa 2000 m aufsteigend. In
Deutschland weit verbreitet, weiter durch ganz
Europa und den größten Teil von Asien , Java,
Reunion, Madagaskar, Algier, Madeira. Nord- und
Südamerika.
13. .^'. rigidiiin, subalpin und kalkstet, beson-
ders Geröllhalden bewohnend, auch an Felsen;
in den Alpen von 11 70 — 2200 m, doch gelegent-
lich auch tiefer herabsteigend. In den deutschen
Alpen an wenigen Stellen, überhaupt von sehr
zerstreuter Verbreitung, im Jura Frankreichs und
der Schweiz, in der ganzen Alpenkette hier und
da, vereinzelt am Dürrenstein in Niederösterreich;
übrigens in Norwegen (?), Nordengland, Pyrenäen,
Balkanhalbinsel , Mittelmeerländer (Europa wie
Afrika), Kleinasien, Syrien, Cypern, Afghanistan,
Kalifornien.
14. N. cristatinn , mittelgroßen Stöcken des
N. filix mas ähnlich, doch durch die langen und
hochaufgereckten fertilen Wedel auffallend, eine
im ganzen seltene Art, welche Waldsümpfe und
beschattete Moore bewohnt, ohne doch so sehr
wie N. thelypteris das offene Wasser zu suchen.
Sie kommt hier und da im norddeutschen Flach-
land, in Süddeutschland ziemlich selten vor und
dringt wenig in die Gebirge hinauf, obwohl ihr
zusagende Standorte dort wohl auch zu finden
wären, und die Art sonst klimatisch nicht an-
spruchsvoll ist , freilich auch im nördlichsten
Europa fehlt. Außer Deutschland im nördlichen
l'Vankreich, im mittleren Rußland, am Kaukasus,
in Westsibirien, Japan, im östlichen Nordamerika.
15. A\ spiiiulosnin bildet mit 2, 12 und 16
die Gruppe der „großen Waldfarne'', meist etwas
seltener, zuweilen häufiger als 1 2 und selbst 2.
Es bevorzugt humosen Standort, findet sich gern
im Geröll kalkarmer Gesteine, auch an Baum-
stümpfen, zuweilen an Bachrändern beständig vom
Wasser überflutet, selten auch als „Überpflanze"
(Epiphyt) auf lebenden Bäumen, sehr selten im
Kalkgebirge (in 2 Wochen, in denen ich im Juli-
August 1921 die Schwäbische N\h durchstreift,
habe ich ein einziges Exemplar dieser Pflanze ge-
sehen). Meidet keineswegs die Ebene, scheint
sich aber doch in gebirgiger Umgebung heimischer
zu fühlen. N. s. findet sich außer dem äußersten
Norden in ganz Mittel- und Nordeuropa, in Ober-
italien, Korsika, Balkanhalbinsel, Nordasien und
Nordamerika.
16. i\. tlildlatuiii wird vielfach als „Schatten-
form" von 15 bezeichnet, ist aber zweifellos weit
mehr als bloße Standortsmodifikation. Es bevor-
zugt besonders feuchthumose und schattige Plätze,
ohne doch an helleren Stellen gänzlich zu fehlen.
So ging ich einmal eines Abends im August 1910
von Tetschen ein Stück weit in die „Sächsische
Schweiz" hinein (beiläufig: ein schönes und hoch-
interessantes Landschaftsbild!); an der die Elbe
begleitenden Straße war rechter Hand die Berg-
wand z. T. durch Mauern abgestützt, aus ohne
Mörtel übereinander geschichteten Steinen, deren
einzelne die Jahreszahl 1904 bzw. 1907 trugen,
die Mauer war also noch recht jungen Alters. Aus
ihren Ritzen wuchsen massenhaft junge Pflänzchen,
z. T. schon mit fast handlangen Wedeln, hervor,
wohl durch Sporenaussaat von den älteren Stöcken
stammend, die in dem oberhalb gelegenen Walde
häufig waren. Sie alle aber zeigten schon ganz
deutlich die Merkmale des N. dilatatum, das sich,
beiläufig bemerkt, schon in den ersten Stadien
des Vorkeims durch die tonnen- bis fast kugel-
förmigen Zellen des Keimfadens von N. spinu-
losum und allen anderen mir in dieser Hinsicht
bekannten Farnarten unterscheidet. Wird die
Pflanze starker Besonnung ausgesetzt, etwa durch
Abholzen des sie beschattenden Waldes, dann
krümmen sich die Fiederchen stark nach unten
342
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
ein, eine physiologische Reaktion , die als be-
sondere Varietät (!) unter dem Namen recurvata
beschrieben worden ist. Der sehr stattliche Farn
liebt die Ebene, in der er auch nicht völlig fehlt,
entschieden weniger als das Gebirge, wo er bis
über 2000 m aufsteigt. Im Riesengebirge findet
er sich stellenweise massenhaft über der Baum-
grenze zwischen den Steinblöcken, welche einige
der Hauptgipfel bedecken ; sehr schön z. B. am
Reifträger. Außer Deutschland in fast ganz Europa,
in Nordasien und Kleinasien, wie in Nordamerika;
geht in Europa sowohl nördlich wie südlich über
die Verbreitungszone von N. spinulosum hinaus.
17. Polystichiin loucJiifis, felsliebend, subalpin;
trotz seiner nahen Berührung mit dem anstehenden
Gestein bodenwag. Denn es findet sich in den
Mittelgebirgen (Vogesen, Schwarzwald, Riesenge-
birge) auf kalkarmem Urgestein, in den bayrischen
Alpen und in der hohen Tatra auf Kalk. Die
Art scheint besonders leicht aus verwehten Sporen
aufzugehen, denn sie ist oft in einzelnen Stöcken
weit entfernt von ihrem eigentlichen Wohngebiet
aufgefunden; so von mir im Jahre 1903 an einem
Schieferfelsen (künstlichen Straßeneinschnitt) un-
weit Monschau (Montjoie) im Hohen Venn. Trotz-
dem ist ihr Vorkommen in den Mittelgebirgen
auf wenige Standorte beschränkt. Sie findet sich
in fast ganz Europa, auch in den Gebirgen
Spaniens, Italiens und der Balkanländer, auf
Korsika, Sizilien, Kreta, Kleinasien, Kaukasus,
Nord- und Mittelasien, Nordamerika bis Grönland.
18. P. lobatiim, sehr charakteristische, doch
ziemlich veränderliche Art, dadurch merkmürdig,
daß sie meist nur in ganz wenigen Exemplaren
an einem Standort vorkommt. Bevorzugt schattige
Waldstellen mit kiesig humosem Boden, und ist
mehr kiesel- als kalkliebend, findet sich aber in
humusreichen Wäldern auch in den Kalkalpen.
In den Kalkbergen der Schwäbischen Alb sah ich
(in 2 Wochen) ein einziges Stück, an einem Felsen
am Aufstieg von Laufen an der Eyach zum Lochen-
horn ; die Pflanze machte nicht den Eindruck, als
ob sie sich dort besonders wohl fühle. Die Art
ist im Flachland selten, in den Mittelgebirgen
trifft man sie hier und da, auch manchmal an
helleren Stellen, in den Alpen steigt sie bis 1500
und 2000 m auf. In fast ganz Europa außer dem
höchsten Norden, in Rußland nur in den Ostsee-
provinzen und in der Südwestecke, in Kleinasien,
Kaukasus, Nordpersien.
19. P. aciilcafiiin (aiigulare), der vorigen nahe
verwandt, ebenfalls formenreich und in manchen
Formen nahe an solche von 18 streifend; von
ähnlichem Vorkommen wie diese, aber eine mehr
südliche Art und in Deutschland seltener, wärmere
Lagen bevorzugend; in manchen Standortsan-
gaben mit 18 verwechselt. So steht bei Corneli-
münster, südlich von Aachen, P. lobatum und
nicht aculeatum, wie ich im Jahre 1903 gemein-
sam mit F. Wirtgen feststellen konnte. In
F3eutschland auf den Südwesten beschränkt, in den
sudlichen Schweizer Alpen, weiter Tirol mit
Voralberg, Südostalpenländer bis Dalmatien, Sieben-
bürgen, England, Irland, Frankreich, Miltelmeer-
länder. Westafrikanische Inseln, Kamerun, Kili-
mandjaro, Abyssinien, Kapland, Komoren, Klein-
asien, Kaukasusländer, Himalaja.
20. P. Braitnii, an ähnlichen Standorten wie
18 und 19, mit denen es einen Formenkreis bildet,
von noch zerstreuterer Verbreitung, ebenfalls oft
nur in wenigen Stücken an einer Stelle. Be-
sonders in Gebirgswäldern, in Vogesen, Schwarz-
wald, Odenwald u. a., Eibsandsteingebirge, Ober-
lausitz, vereinzelt in der Sudetenkette, häufiger
vom Altvatergebirge bis in die Karpaten; in Süd-
böhmen und bei Passau angegeben. In den
Alpen der Schweiz, von Bayern, Tirol und weiter
bis Kärnten und Krain und an einigen Stellen
der Balkanhalbinsel.
21. Stnithioptcris germanica, habituell durch
die dicht geschlossenen „Körbe" auffallend; sehr
gesellig wachsend, infolge vegetativer Vermehrung
durch Seitenknospen der Erdstämme. Von sehr
eigenartiger Verbreitung; denn obwohl dieser
Farn von einer großen Zahl deutscher Standorte
bekannt ist, muß man ihn doch zu den seltneren
Arten zählen, die Fundorte liegen meist recht
weit auseinander. Er bevorzugt Bachufer auf
kiesig-moorigem Untergrund, besonders scheinen
ihm kleine Tälchen im Wald zuzusagen, die er
dann mit seiner Vegetation ganz ausfüllt; auf
Kalk ist er selten. Im norddeutschen Flachland
mehr im Osten verbreitet als im Westen; zer-
streut in den Mittelgebirgen , häufiger in den
Alpenländern, wo S. g. bis 1500 m aufsteigt, aber
in tieferen Lagen sich in manchen Tälern massen-
haft findet. Weiter in Dänemark, Skandinavien,
Rußland, Obenitalien, Sizilien, Kleinasien, Kaukasus,
ganz Nordasien, im östlichen Nordamerika.
22. Woodsia ilvensis, an Felsen oder in stei-
nigem Waldhumus, schattiger oder lichter gestellt;
bevorzugt Urgestein oder Basalt, Trachyt, Phono-
lyth ; sehr selten auch Kalk. Selten im Schwarz-
wald, Harz usw., häufiger an den Kuppen der
Rhön, der Oberlausitz, des Böhmischen Mittel-
gebirges, einmal in Schlesien, dort auf Gneis in
tiefem Waldesschatten. Weiterhin in den Alpen
und Karpaten; auf Island, in Großbritannien,
Skandinavien, Finnland, Nordrußland, Krim, Kau-
kasus, Kleinasien, Süd- und Ostsibirien, Amur-
gebiet, in Nordamerika bis Grönland.
23. IV. alpina, die kleinere Alpenform der
vorigen, doch wohl als Art zu trennen, felsliebend,
kalkmeidend. Findet sich an je einer Stelle im
Riesengebirge (Basalt der Kleinen Schneegrube)
und des Altvaters (Kessel), desgl. in der Hohen
Tatra, zerstreut in den Schweizer und Tiroler,
auch Salzburger und Kärntener Alpen, bis 2200 m
ansteigend. Außerdem in Großbritannien, auf den
Pyrenäen, Nordrußiand, im Ural, in Nordasien
und Nordamerika. (Eine dritte Art, //' glabclla,
alpin und kalkstct in den Südtiroler Dolomiten,
ebenfalls weit über die Erde zerstreut.)
24. Blechiinm spicanl, an feuchten, humosen,
N. F. XXI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
343
schattigen Stellen — verkümmernd, wo der Wald
abgeholzt ist. Von seinem häufigen Zusammen-
vorkommen mit Nephrodium montanum war oben
unter 1 1. die Rede. Auch von B. s. gilt, was
dort von der Notiz „häufig im Riesen- und Iser-
gebirge" gesagt ist : im eigentlichen Riesengebirge
ist die Art ausgesprochen selten, erst wenn man
von Josephinenhütte westwärts nach dem Iser-
gebirge hinaufsteigt, sieht man sie in größeren
Mengen; wirklich häufig ist sie an vielen Stellen
des Isergebirges. In ganz Deutschland verbreitet,
nur in Ostpreußen fast fehlend, auch sonst im
Flachland entschieden seltener als in den Gebirgen,
in denen unser Farn bis 2400 m emporsteigt.
Weiter in West- und Nordeuropa, doch wenig in
Rußland, Gebirge der IVIittelmeerländer bis Ma-
rokko, Syrien, Kleinasien, Kaukasus, Nordatlan-
tische Inseln, Kamtschatka, Japan, westliches
Nordamerika.
25. Scvlopciidriiiiit vulgare, an schattigen,
feuchten Hängen oder Felsen, gern auf Kalk,
doch zuweilen auch auf Tonschiefer u. a. Gestein,
nicht oft an Mauern (wegen zu starker Austrock-
nung ?), aber gern, z. B. öfter in den Rheingegen-
den, in den Mauern von Brunnen. In Westdeutsch-
land häufiger als im Osten, in Schlesien nur an
einer Stelle in wenigen Stücken, im ganzen Alpen-
gebiet verbreitet. Außerdem in Großbritannien,
vereinzelt in Norwegen, Schweden und Dänemark,
auf den Azoren und Madeira, in den Mittelmeer-
und den Balkanländern, Südwestrußland, Kaukasus,
Armenien, Persien, Turkestan, Japan, Nordamerika,
Mexiko.
26. CeteracJi o/ficii/ar/ii/i , kalkliebend , ohne
kalkstet zu sein, an trockenen Felsen und an
Mauern, durch die lederige Beschaffenheit und die
unterseitige starke Spreuhaarbekleidung der bei
Austrocknung sich nach oben einkrümmenden
Wedel wohl an Trockenschutz angepaßt. Eine
südliche Pflanze, die in Belgien und Mitteldeutsch-
land ihre Nordgrenze erreicht, und in Deutsch-
land fast ganz auf den Westen beschränkt ist,
freilich auch noch an zwei Stellen in Böhmen
vorhanden. Ein Fundort ist bei Bregenz ange-
geben, von da findet sich die Art erst wieder in
Südtirol, und weiter östlich durch Steiermark und
Krain bis Ungarn und Montenegro. Ferner in
Großbritannien , P" rankreich , Portugal , auf den
Nordatlantischen Inseln , im Mittelmeergebiet bis
zur Krim , in den Balkanländern , im Kaukasus,
Armenien, Persien, Turkestan, Afghanistan, Hi-
malaja, Nordafrika.
27. Aspkii/iDi in'c/ioßiuuics, bodenvage Felsen-
pflanze, oft auch massenhaft an alten Mauern, an
kiesigen, etwas feuchten Abhängen, auch auf ver-
morschten Baumstümpfen , in den Bergen viel
häufiger als in der Ebene, in allen Gebirgen und
auf allen Gesteinsarten verbreitet, nur sehr nähr-
stoffarme quarzitische Gesteine meidend, doch im
Kalkgebirge meist seltener als 29., in den Alpen
bis i6oo m aufsteigend. Ungemein weit über die
Erde verbreitet: Europa, Nordafrika, Nordatlanti-
sche Inseln, Westasien, Himalaja, China, Japan,
Australien, Tasmanien, Neuseeland, Hawai, fast
ganz Amerika, Kapland, Madagaskar.
28. A. ifihiltciiiiinii, ausgesprochene Serpentin-
pflanze, nur ganz ausnahmsweise auf anderes Ge-
stein , gelegentlich auch auf Mauern übergehend.
Auf Felsen und im Geröll der Serpentinberge in
Nordbayern, Sachsen, Schlesien, Böhmen, Mähren,
Steiermark und Ungarn, auch von Davos in der
Schweiz angegeben.
Anmerkung : Die Art ist olme Zweifel mit 27
und 29 nahe verwandt; durch die unten braun,
oben grün gefärbte Spindel lag der Verdacht, es
könne ein Bastard der beiden sein, recht nahe,
was ja auch der Name andeutet. Doch hat 28 ein
Merkmal, das keine der beiden anderen Arten be-
sitzt : den Habitus, der durch die steile Aufrich-
tung der Wedel, namentlich der fertilen, und
durch die Wagrechtstellung der in ihren Stielchen
gedrehten F"iedern bedingt ist. Den wirklichen
Bastard A. trichomanes > viride fand ich i. J.
191 5 im Königlichen Garten zu Oliva bei Danzig,
in dem Alpinum, das dort Garteninspektor Wocke
angelegt hatte; die beiden Eltern standen nicht
weit davon. Die dort entstandene Bastardpflanze
sah aber ganz anders aus als A. adulterinum 1
29. A. virt'dc, Felsenpflanze, mit Vorliebe auf
Kalk, und in den Alpen diesen entschieden be-
vorzugend, oft zusammen mit 5 "nd 8, aber auch
auf anderem Gestein. Sowohl im Riesengebirge,
wie im Schwarzwald habe ich die Art an isoliert
stehenden Gneisfelsen gesehen , an denen von
einer Kalkanreicherung durch herabrinnendes
Wasser (s. Einleitung) nicht die Rede sein konnte.
Zuweilen auch an gemörtelten Mauern; im allge-
meinen mehr Schatten und Feuchtigkeit liebend
als 27. In der Ebene sehr selten, in den nord-
deutschen Gebirgen verstreut, im süddeutschen
Jura etwas verbreiteter, in allen kalkreichen Teilen
der Alpenkette, stellenweise häufig, bis über
2000 m, bis Dalmatien, Westungarn, im Westen
der Balkanhalbinsel. Weiter in Nordeuropa,
höhere Gebirge von Spanien und Italien , Klein-
asien, Kaukasus, Sibirien, im gemäßigten Nord-
amerika.
30. A. laiiccolaliiiii bewohnt beschattete Preisen
meist kalkarmer Gesteine; atlantische Pflanze,
deren Verbreitungsgrenze in unser Gebiet nur im
äußersten Westen übergreift : je ein Standort in
der Pfalz und im Elsaß. Weiter in Irland und
Süd- und Westengland, Frankreich, Spanien, Por-
tugal, Azoren, Madeira, Kanaren, St. Helena; Süd-
europa bis zu den griechischen Inseln, Nordafrika.
31. A. /viittiiiiini, die zierliche, an Blätter der
Schafgarbe erinnernde Pflanze ist ausgesprochen
kalkhold, findet sich an feuchten, schattigen Felsen
oder Mauern. Im ganzen selten, nur im Schweizer
Jura stellenweise häufig; zwei Standorte im süd-
lichen Baden, einer in der Schwäbischen Alb ;
vereinzelt von den Seealpen, nach Osten immer
seltener, bis Vorarlberg, je ein Standort in Belgien
und Westfrankreich. Weiter in England, Frank-
344
Naturwissenschaltliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
reich, Pyrenäen, Nord- und Ostspanien, Kreta,
Turkestan, nordwestliches Indien. Eine vorwiegend
durch kräftigeren Wuchs unterschiedene Unterart,
A. Hallen', ist von ähnlicher Verbreitung, doch
auf deutschem Boden noch nicht gefunden.
32. A. septentrioualc, durch seine mehr einem
Gras als einem Farnkraut ähnliche Tracht den
Eindruck einer xerophilen Pflanze machend, aber
nicht sehr gegen Vertrocknen geschützt, denn in
heißen Sommern findet man an sonnigen Felsen
oft vom August oder schon von Ende Juli an
sämtliche Wedel völlig verdorrt (vgl. dazu Nr. 34).
Die Art bewohnt Felsen oder Feldmauern, findet
sich fast nie auf Kalk. Auf anstehendem Fels
von Granit usw., von Tonschiefer und Sandstein
ziemlich häufig, im Hachlande naturgemäß seltner,
weil es an passenden Standorten mangelt. Sonnige
oder doch helle Plätze werden entschieden bevor-
zugt; im Schatten bringt es die Pflanze nicht zur
Sporenbildung. In fast allen Gebirgen Europas,
bis zu 2500 m IMeereshöhe, weiter in Nordafrika,
Kleinasien, Kaukasus, Hochgebirge Mittelasiens,
in Neumexiko und Kalifornien.
33. .L fissnui, seltene, Kalkfelsen und -Geröll
bewohnende Art, an wenigen Stellen der bayrischen
Alpen gefunden, in vereinzelten Standorten über
die Alpenkette zerstreut, bis 2000 m hinauf; von
den Ostalpen bis auf die Balkanhalbinsel, auch in
Süditalien.
34. A. rufa murnria, ausgesprochen kalkholde
Art, die ihren Namen „Mauerraute" mit Recht
trägt, denn geeignete Mauern (natürlich solche
mit Kalkmörtel) bedeckt sie oft zu Hunderten,
während man im Kalkgebirge oft recht lange
suchen kann, bis man einen einzelnen Stock oder
einen kleinen Bestand davon findet. Das Pflänz-
chen ist trotz seines zarten Aussehens besser auf
Trockenschutz angepaßt als 32, selbst an der Süd-
seite von Mauern, die doch leichter austrocknen
müssen als größere Felsblöcke, findet man es auch
in heißen Sommern meist noch frisch. Die Art
wächst gelegentlich auch, z. B. im Südharz, auf
Gips, wo auch 8 vorkommt; man darf wohl an-
nehmen, daß durch Verwitterung ein Teil des
CaSO^ in CaCOj übergegangen sei. Einmal sah
ich die Art auch auf Serpentin (am Geiersberg
beim Zobten in Schlesien), auch das ist nicht allzu
auffallend, da Serpentin ein Magnesiagestein, und
Mg mit Ca chemisch nahe verwandt ist. Über-
rascht war ich, auch einmal, bei Eimelrod am
Nordrande des Sauerlandes, die Art in zwei
Exemplaren auf Devonschiefer zu sehen. Mit ein
paar mitgenommenen Gesteinsstücken habe ich
dann, mit sehr primitiven Hilfsmitteln, eine Art
von Analyse vorgenommen, die mir einen ge-
wissen Kalkgehalt dieses Schiefers gezeigt hat.
Die Mauerrautc ist, obwohl nicht an Naturgestein
gebunden, doch in den gebirgigen Teilen Deutsch-
lands viel häufiger wie im Flachland, kommt je-
doch noch auf einigen Nordseeinseln vor. Sonst
in fast ganz Europa, Nordafrika, Asien bis zum
I iimalaja und Nepal, im gemäßigten Nordamerika.
35. A. adiaiituvi nigrum, durch überwinternde
Wedel ausgezeichnet, an Felsen, auf steinigem
Waldboden, auch an Baumwurzeln, fast nie auf
Kalk, im rheinischen Schiefergebirge gern in
(ungekalkten) Weinbergsmauern. In Deutschland
nur im gebirgigen Teil (einer der nördlichsten
deutschen Standorte an Felsen des Ruhrtales bei
Essen), doch nicht in höhere Lagen hinaufgehend,
und im Westen weit häufiger als im Osten, doch
auch in Schlesien noch an einigen Stellen, ver-
einzelt noch in Ungarn. Sonst in Belgien, Hol-
land, Südschweden, Südnorwegen, Großbritannien,
Frankreich , Mittelmeergebiet , Balkanhalbinsel,
Persien, Afghanistan, Afrikanische Inseln, Hochge-
birge im tropischen Afrika, Kapland.
36. -i. sirpeiitini ic/tinifüli/imi, als Unterart
zu 35 gestellt, von der sie durch zarteres, nicht
überwinterndes Laub abweicht. Typische Serpen-
tinpflanze, in Felsen und auf steinigem Boden,
auch in Wäldern, selten auf anderem Untergrund.
Auf seinem zugehörigen Substrat häufiger als die
Hauptart auf dem ihrigen, dort auch meist in
größerer Zahl als 28. Findet sich auf Serpentin-
bergen von Nordbayern und Nordböhmen, Sachsen,
Schlesien (Zobtengebirgel), auch an einzelnen
Stellen weiter östlich und südöstlich bis Sieben-
bürgen und Bosnien , außerdem in Schottland,
Frankreich, Spanien, Balkanländer, in den Apen-
ninen, in Transkaukasien und Südchina. Eine
zum gleichen Formenkreis gehörige Unterart,
A. onoptcris, ist in Deutschland nur vom Zobten-
gebirge bekannt, sonst von südlicher Verbreitung:
Mittelmeergebiet bis zum Südfuß der Alpen,
Irland, Portugal, Bulgarien, Nordatlandische Inseln,
Portoriko, Hawaiinseln.
Anmerkung: Wie und wodurch eigentlich diese
Serpentinfarne, 28 und 36, entstanden sind, ist noch
recht strittig. Zwar ist eine Abhandlung von Sade-
beck, 1887, bekannt, nach welcher bei fortge-
setzter Kultur auf serpentinfreiem Boden die
beiderlei Formen in der 5. bzw. 6. Generation
in A. viride bzw. A. adiantum nigrum zurück-
geschlagen seien, nachdem zuvor nur je einige
Wedel die Eigenschaften von 29 bzw. 35 gezeigt
hätten. Doch ist diese Mitteilung angezweifelt
worden, so von Ascherson (vgl. Synopsis), der
mir auch persönlich versicherte, die Sache sei sehr
ungewiß, es habe niemals jemand die Züchtungs-
ergebnisse Sadebecks gesehen. Letzterer be-
richtet übrigens, es sei ihm nicht gelungen, aus
den Stammarten durch Kultur auf Serpentin die
Serpentinformen zu erzielen. Die Frage läßt zwei
Möglichkeiten zu : entweder hat die Stamm-
form auf ihrem zugehörigen Boden die Varietäten
abgespalten , welche außer anderen Merkmalen
noch die Eigenschaft hatten, auf keinem anderen
Boden so gut zu gedeihen wie auf Serpentin, oder
auf Serpentin gelangte Abkömmlinge der Stamm-
arten sind durch die neue Unterlage morpholo-
gisch und physiologisch abgeändert worden, durch
„direkte Hcwirkung". Nun wissen wir ja, daß ein
ungewohnter Standort die Pflanzengestalt „modi-
N. F. XXI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
345
fizieren" kann, aber nahezu alle Vererbungsforscher
sind darin einig, daß solche Modifikationen nicht
erblich sind! Jedenfalls ist dieses für eine
große Zahl von Fällen direkt bewiesen. Auch
gibt es in der gesamten Pflanzenwelt der Serpentin-
standorte nicht mehr als drei (1) abgeänderte
Pflanzen, außer den beiden Farnen nur noch
Cerastium arvense var. alsinifolium , an einer
einzigen solchen Stelle gefunden. Man vergleiche
auch was unter 3, 37 und 40 gesagt ist, besonders,
daß die stark behaarte Form des Adlerfarns zwar
Kalkboden bevorzugt, daß aber meistens, wo die
Art auf Kalk vorkommt, nicht die Varietät,
sondern der Typus sich findet; also: es ist nicht
der Kalk, der die Abweichung hervorruft. Die
Erzeugung erblicher Abänderungen durch „direkte
Bewirkung" findet also auch in den hier be-
sprochenen Fällen keine Bestätigung. Nach allem,
was darüber bekannt ist, entstehen neue Formen
stets nur in einzelnen Stücken, die ihre Eigen-
schaften, wenn sie erhaltungsfähig sind, auf ihre
Artgenossen übertragen können; was aber die
Ursache des Auftretens neuer Formen (von
Kreuzungen abgesehen) eigentlich sei, das bleibt
noch zu erforschen.
37. Ptcridiiiiii aquiliiiuin, der bekannte, durch
seine weithinkriechenden Erdstämme meist herden-
weise wachsende „Adlerfarn", bevorzugt entschie-
den Sandboden, nur nicht die allzu sterilen und
trockenen Sandfelder; er wächst viel in Heiden,
auch in Wäldern, und meidet im allgemeinen
Kalk , ohne ihn doch gänzlich zu fliehen. Eine
stark behaarte Varietät, lanuginosum, scheint
kalkhaltigen Boden zu bevorzugen, ist aber nicht
die typische Form aller Kalkstandorte. Die Art
ist in ganz Europa mit Ausnahme des hohen
Nordens häufig, sonst fast über die ganze Erde
verbreitet, fehlt nur in eigentlichen Wüsten- und
Steppengebieten.
38. ^Ulosonis crispits, alpine Geröll- und
F"elsenpflanze von 1000 bis rund 2500 m Meeres-
höhe, nur auf kalkarmem Boden. Außer den
Alpen im Riesengebirge, im Schwarzwald, Vo-
gesen, Bayrischen Wald; im Harz (Königskutsche
am Steinberg bei Goslar) früher, doch lange aus-
gerottet; an je einer Stelle in Luxemburg und
im Hohen Venn, nicht weit davon mehrere Stand-
orte in den belgischen Ardennen. In den Alpen
ostwärts bis Steiermark und Kärnten; weiter in
Nordeuropa, Großbritannien, im mittleren Frank-
reich, in den Pyrenäen und den Gebirgen Spaniens,
Apenninen, Korsika, Bulgarien, Kleinasien, Afghani-
stan. Die Art scheint sich nicht leicht zu ver-
breiten, auch sind die Sporen schwierig zur Kei-
mung zu bringen.
y^. Nvflwlaciia ]\laraiüiu',^\jA\\z\\&, an steinigen
Hängen, mit Vorliebe auf Serpentin wachsende
Art, an wenigen Stellen in Mähren, Niederöster-
reich, Steiermark, sonst im Mittelmeergebiet,
Nordatlantische Inseln, Portugal, Südwestfrankreich,
Balkanhalbinsel, Abyssinien, Südwestasien bis zum
Himalaja.
40. Polypodiurn vulgare, eine unserer häufig-
sten Arten, wächst gern auf schattigem, etwas
steinigem Boden, auch an Felsen und Mauern,
doch sehr selten auf Kalk; im Flachland oft auf
alten vermorschten Baumstubben , zuweilen auch
als Epiphyt auf Kopfweiden u. a. ; es bevorzugt
nährstoffarme Standorte, und scheint sich an oder
auf Sandsteinfelsen besonders wohlzufühlen. Die
sehr seltenen Vorkommen auf Kalk oder in den
Ritzen gemörtelter Mauern erklären sich wohl
weniger durch Wahllosigkeit der Art, als durch
eine besondere, nur morphologisch nicht unter-
scheidbare „physiologische" Rasse. So wächst
z. B. typisches Aconitum napellus in der Eifel
nur auf Dolomit, ohne auf den nahen Devon-
schiefer überzugehen, während die gleiche Art
sonst allenthalben auf kalkarmen Böden zu Hause
ist. Auch die „spezialisierten Formen" vieler ^
parasitischer Pilze könnte man als Beispiel an-
führen ; sie sind für uns durch nichts anderes
unterscheidbar, als durch die Fähigkeit bzw. Un-
fähigkeit, bestimmte Arten von Wirtspflanzen zu
befallen. — P. v. ist über die ganze nördliche
Zone der Erde, bis über den Polarkreis, verbreitet,
findet sich außerdem in Mexiko, Südafrika, auf
den Kerguelen- und Hawaiinseln.
41. Osmil II i/ii rcgalis, der stattliche „Königs-
farn", liebt den Schatten der Wälder und feuchten
humosen, auch torfigen Untergrund, wächst gern
in der Nähe der Bachränder. Er ist leidlich
häufig in Nordwestdeutschland, meidet aber die
höheren Gebirge und wird nach Osten immer
sehener, schon in ganz Osterreich nur an wenigen
Stellen. Übrigens im größten Teil von Europa,
zumal im Westen und Süden, in West-, Süd- und
Ostasien, auch in Afrika einschließlich vieler seiner
Inseln und in einem großen Teile von Amerika.
Wichtig als der einzige europäische Vertreter
einer kleinen, nur 11 Arten zählenden Familie,
welche den Übergang bildet von den jüngeren
leptosporangiaten Polypodiaceae zu den älteren,
vielfach ausgestorbenen, jetzt fast ganz tropischen
eusporangiaten Farnen.
Von diesen kommt bei uns nur eine wenig
artenreiche Familie vor, die Ophioglossaceae:
42. Ophioglussuni vnlgatinn, 43. Bofrychiiiin
hinaria, 44. B. raiiiusinii, 45. B. siiuple.x, 46. B.
mafricariae , 47. B. virgiiiiaiiinn, die wir sum-
marisch behandeln können, da sie an den Stand-
ort ziemlich gleiche Ansprüche stellen, sie be-
wohnen meist trockene Wiesen oder Heiden, ge-
legentlich Dünen, auch zuweilen Wälder; 42 liebt
etwas mehr die Feuchtigkeit. Eigentlich häufig
ist keine Art, am verbreitetsten noch 42 und 43 ;
die anderen sind ziemlich bis sehr selten und weit
zerstreut. In den Bergen gehen 43 und 46 am
höchsten hinauf, bis über die Baumgrenze; 47 in
Deutschland nur in den Bayrischen Alpen und in
Ostpreußen. Auch diese sechs Arten sind weit
über Europa und die anderen Erdteile verbreitet.
Diese weite Verbreitung vieler F'arnarten ist
darum von besonderem Interesse, weil sich ihr
346
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
kaum etwas aus dem ganzen Reich der Blüten-
pflanzen an die Seite stellen läßt (daß manche
Arten erst durch den Menschen als „Unkräuter"
weithin verbreitet worden sind, ist ein besonderer
Punkt, von dem hier nicht weiter die Rede sein-
soll). Jene weite Verbreitung erklärt sich wohl
zum Teil aus der leichten „passiven Wanderungs-
fähigkeit" der staubfeinen Sporen, aber wohl auch
aus dem hohen Alter der ganzen Klasse; — wo-
bei wir freilich nicht vergessen dürfen, daß fast
alle Arten unserer Liste von 2 bis 40 zu der
geologisch jüngsten aller Familien der Filices
gehören.
Farnbastarde sind in unserem Gebiet ziem-
lich viele gefunden, doch meist als große Selten-
heiten in vereinzelten Stücken. Merkwürdig ist,
daß der häufigste von allen, ^hpkninn ^crmaiii-
c/ii/i, gerade von zwei Elternarten mutmaßlich
abstammt, die wir als morphologisch einander
recht fernstehend ansehen müssen: A. septentrio-
nale und A. trichomanes, in deren Gesellschaft
die Hybride regelmäßig gefunden wurde. Daraus
geht also hervor, daß A. g. nur auf Kieselgestein
bzw. an Feldmauern vorkommt. Es ist immerhin
eine seltene Pflanze, aber doch in Deutschland an
mehreren Hunderten von Stellen gesammelt. Die
Angaben in den Floren beziehen sich freilich viel-
fach auf Plätze, an denen A. g. heute nicht mehr
vorhanden ist. Es ist ein übler Mißbrauch, solch
seltene und interessante Pflanze gleich mit Stumpf
und Stiel auszurotten, wo es doch mit den Ein-
legen einiger Wedel genug wäre. Einige Formen
sind als Rückkreuzungen mit einer der beiden
Eiterarten bezeichnet worden; das kann zutreffen,
denn wenn auch A. g. sich vermutlich nur aus
apogamen Vorkeimen fortpflanzt, so erzeugen
diese doch Antheridien mit seh wärm fähigen Samen-
fäden, so daß eine erneute Kreuzung wohl mög-
lich sein könnte. Andererseits ist zu bemerken,
daß, wie wir von Blütenpflanzen wissen, auch ein
einfacher Bastard mehr zu dem einen als zu dem
anderen Elter hinneigen kann (patrokline und
metrokline Bastarde). — Xephrodiiiin rcnioiiiiii.
der Bastard von N. filix mas und N. spinulosum
bzw. N. dilatatum, ist viel seltener, nur an wenigen
Punkten bisher gefunden ; an den meisten Stellen,
welche die Eiterarten gemeinsam bevölkern, wird
man diese Hybride vergeblich suchen.
Über die neuen Zeißscheu Mikroskop-Okjektive und Okulare.
I Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. MllX Wolff (Eberswalde).
Bislang waren nur die Apochromate nebst den
zugehörigen Kompensationsokularen, und m. W.
übereinstimmend von allen Firmen, die sich mit
der Erzeugung von solchen beschäftigten, unter
Befolgung einer gewissen Ratio bezeichnet wor-
den, die eine leichte Berechnung der resultieren-
den Vergrößerung ermöglichte und sich also vor-
teilhaft von der Willkür unterschied, mit welcher
man Achromate und zugehörige Okulare durch
Buchstaben oder Ziffern zu kennzeichnen pflegte.
Wie bekannt, beruht jenes von Abbe aufge-
stellte Klassifikationsprinzip auf der Übervergröße-
rung der Kompensationsokulare, die im Verhältnis
2:4; 6:8:12:18 abgeglichen ist. Das mit Nr. 2
bezeichnete Kompensationsokular erhöht bei einer
(mechanischen I) Tubuslänge von 160 mm die
Eigenvergrößerung des Apochromaten auf den
zweifachen Betrag, die andern tun das in dem
durch ihre Nummer ausgedrückten Maße und im
entsprechenden Verhältnis zu der soeben ange-
gebenen des „Schwerokulars" Nr. 2.
Da die Apochromate immer außer der num.
Apertur auch die Äquivalentbrennweite (in mm
ausgedrückt) auf ihrer Fassung eingraviert
tragen, nach der man sie ja zu benennen pflegt,
— 8 mm - Apochromat, 3 mm-Apochromat usw.,
— kennt man ohne weiteres die zur schnellen Berech-
nung der resultierenden Vergrößerung, ohne daß
irgendeine Messung erforderlich wäre, notwendigen
Zahlen. Immerhin muß eine wichtige Größe, die
Eigenvergrößerung des Objektives erst be-
rechnet werden. Sie ist gleich der Weite des
deutlichen Sehens (in mm ausgedrückt, also=^ 250)
dividiert durch die Äquivalentbrennweite des Ob-
jektives (ebenfalls in mm ausgedrückt).
Die bei der Kombination eines Apochromaten
mit einem Kompensationsokular resultierende
Vergrößerung (NB.l für eine Projektion auf 250 mm)
ergibt sich also sehr einfach, indem man die aus
der bekannten Äquivalentbrennweite berechnete
Eigenvergrößerung des Objektivs mit der durch
die Okularnummer ausgedrückten Übervergröße-
rung des Okulars multipliziert. Der 16 mm-
Apochromat a. e. hat eine Eigenvergrößerung von
2 CO
- = iq,i;. Mit dem Kompensationsokular 4
16
resultiert demnach die Gesamtvergrößerung
15,5-4=- 62.
Diese Berechnung ist also zwar einfach, aber
die Bezeichnung der Elemente gestattet doch
nicht, durch einfache MuUiplikation bequemer
Zahlen sofort die Vergrößerung des Systems zu
finden. Und, wie gesagt, bei den achromatischen
Objektiven und Okularen hatte die Bezeichnung
bisher überhaupt keine Beziehung zur Eigen-
bzw. Übervergrößerung. Hier mußte die Ver-
größerung gemessen, oder, wenn es nicht auf
größte Genauigkeit ankam, den Zusammenstellun-
gen in den Katalogen entnommen werden. Es
wird kaum einen Mikroskopiker gegeben haben,
der die aus der Kombination von in einem halben
Dutzend Objektiven und ebenso vielen Okularen
resultierenden Vergrößerungen auswendig gelernt
hätte !
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
347
Diesem Zustande hat nun die Firma Carl
Zeiß ein Ende gemacht. Ihre neue Bezeichnung
von Objektiven und Okularen macht alle Tabellen
überflüssig. Man hat lediglich die Nummer des
Objektivs mit der des Okulars zu multiplizieren
und erhält dann ohne weiteres die erzielte Ver-
größerung. Und zwar gilt das für alle von ihr
erzeugten Mikroskop - Objektive und -Okulare,
Apochromate und Achromate, Kompensations-
wie gewöhnliche Huygenssche und orthoskopische
Okulare.
Die Objektive haben durchweg als Nummer
den Wert ihrer „Einzel Vergrößerung" erhalten,
d. h. der Vergrößerung, in der das reelle Zwischen-
bild, welches vom Objektiv bei richtiger Einstellung
nahe am oberen Ende des Tubus entworfen
wird, das Objekt abbildet.
Die Okulare haben durchweg den Wert ihrer
Lupenvergrößerung als Nummer erhalten.
Wie die folgende Zusammenstellung sämt-
licher Einzelvergrößerungen (= Nummern!) der
neuen Zeißschen Objektive und der Lupen-
vergrößerungen der neuen Zeißschen Okulare')
zeigt, sind die Vergrößerungswerte von Objek-
tiven und Okularen auf derart bequeme, runde
Zahlen gebracht werden, daß die Multiplikation
von Objektiv- und Okular-Nummer, die die resul-
tierende Vergrößerung ergibt, ohne weiteres
schnell im Kopfe ausgeführt werden kann ; ein
Blick auf Objektiv- und Okular-Nummer, — und
man hat die Vergrößerung der betreffenden Kom-
bination. Und zwar mit einer den früher benutzten
Tabellen mindestens ebenbürtigen (Tcnauigkeit,
da Zeiß (im Gegensatz zu vielen sonst ebenfalls
hervorragend arbeitenden Firmen, bei denen diese
Werte starken Schwankungen unterworfen sind,
wie schon der Einblick in die einzelnen Jahrgänge
ihrer Preislisten lehrt) die Vergrößerungswerte
(Einzelvergrößerung der Objektive) bis auf wenige
Prozente genau einhält.
') Auf die Bedeutung der Sebfeldzahleu der Ukulare
werde ich am Schluß noch näher eingehen.
l'bcr
iehl
der uc
ucn Nuinmt
rn der Zeit
Achromalc
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Obje
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Nr.
3 5
6 8
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20
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60
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Trockensysteme
mit fester Ver-
größerung
Nr.
1-1,5 1,5-2
1,2-2,5
Trockensysteme
mit variabeler
Vergrößerung
Nr.
6
40
90
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Wasser-
immersionen
Nr.
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9° .00
XX
Homogene
Ölimmersionen
XX wir
i mit der Aper
tur 1,3
und I,
[ gebau
t!
Huygenssche Okulare
( )rthoskopischc
Okulare
Kompensationsokul
ir
Nr.
4
s
7 ; 10
15
12.5
17
2S
S 7 10
'5
20
Sehfeld-
zahl
24
23
18 14
8
16
>3
6.5
23
23 1 18 13
II
8
348
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
Um einen Anhalt für den Vergleich mit den lare Nr. 4, 5, 7, 10, 15 mit den älteren Nrn. i,
gebräuchlichsten älteren Objektiven zu geben, sei 2, 3, 4, 5 annähernd übereinstimmen,
erwähnt, daß der Achromat Nr. 8 mit dem frühe- ^^ entsprechen sich also, wie die resultieren-
ren A, der Achromat Nr. 40 (mit der Apertur ^^^^ Vergrößerungen zeigen, folgende Kombina-
0,65) mit dem früheren D, die homogene Ohm- jj^^^^,^ ^^^ ^^^^n ^^^ ^^r alten Objektive und
mersion Nr. 90 mit der früheren >/,.," (mit der okulare annähernd:
Apertur 1,25), daß ferner die Huygensschen Oku-
Neu
c Bezeichnung
Iluygen
sehe 1
ikulare
4
5 '
7
10
15
>
8
32
40
50
80
]20
3-
1
0
1
40
160
200
280
400
600
yo
360
1
450
630
900
1350
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die von
der Firma Carl Zeiß durchgeführte Normung
ihrer sämtlichen Mikroskop-Objektive und Okulare,
die eine so bequeme Berechnung der Vergröße-
rung ermöglicht , einen Fortschritt bedeutet , der
nicht hoch genug bewertet werden kann. Daß
sich die Firma zu dieser Normung entschloß, ver-
dient gerade in heutiger Zeit besondere An-
erkennung, da sämtliche Objektive und Okulare
ja zu diesem Zweck einer kostspieligen Umkon-
struktion unterworfen werden mußten. Bei Ver-
öffentlichungen von Zeichnungen u. dgl. (sofern
die Projektion mittels Zeichenapparates auf eine
in natürlicher Sehweite stehende Zeichenfläche
erfolgte) ist es künftig nur notwendig, das aus
Objektiv- und Okular-Nummer gebildete Produkt
(z. B. 40-5) beizufügen, um nicht nur die ver-
wendete Objektiv- Okular -Kombination, sondern
auch die resultierende Vergrößerung ausreichend
genau anzugeben.
Außerdem teilt Zeiß jetzt aber bei seinen
sämtlichen Okularen noch ein wichtiges Datum
mit, die sog. Sehfeldzahl, die der Leser in
der obenstehenden Tabelle unter den Okular-
nummern findet. Das Produkt von Okularnummer
und Sehfeldzahl ist gleich dem Durchmesser (in
mm) des vom Mikroskop (gleichgültig mit welchem
Objektiv) bei Benutzung des betreffenden Okulars
in 250 mm Entfernung projizierten virtuellen Bil-
der. Es gibt also Okular 4 in 250 mm Entfer-
nung einen Lichtkreis von 424 = 96 mm Durch-
messer; in 500 mm Entfernung ist der Lichtkreis
natürlich doppelt so groß, = 192 mm Durch-
messer, usw. Die Sehfeldzahl ist also sehr wichtig
für alle mikrophotographischen Arbeiten. Sie
gestattet schon am Mikroskopiertisch über die
Plattenformate, die zur Verwendung kommen
sollen, oder über die für eine Aufnahme erforder-
liche Okularnummer, falls man auf ein bestimmtes
Alte
Bezeichnung
Huygenssche
Okulare
I
2
3
4
5
>
A
42 54
79
97
130
3-
1
0
D
175 220
35°
38s
550
1, II
410
515
750
920 1
1280
Format sich festlegen muß, zu disponieren. Das
ist dann stets von Bedeutung, wenn das ganze
Gesichtsfeld abgebildet werden soll.
Der aus der Sehfeldzahl als Zähler und der
Objektivnummer als Nenner gebildete Quotient
dagegen gibt in mm den Durchmesser der kreis-
förmigen Objektebene an, die mit dem verwen-
deten Okular und Objektiv auf einmal übersehen
werden kann. So würde bei der Kombination
des Achromaten Nr. 40 und des Huygensschen
Okulars Nr. 5, dessen Sehfeldzahl 23 ist, ein
flächenhaftes Untersuchungsobjekt einen Durch-
messer von - ' 1,1 0,575 mm haben dürfen, um
gerade noch voll überblickt werden zu können.
Die Vergrößerung wäre dabei 40-5 = 200 fach.
Genau dieselbe Vergrößerung erhält man auch,
wenn man das, annähernd dem alten Objektiv C
entsprechende neue Objektiv Nr. 20 mit dem,
ebenfalls angenähert dem alten Okular Nr. 4 ent-
sprechenden neuen Okular Nr. 10 kombiniert,
dessen Sehfeldzahl 14 ist. Man sieht sofort, daß
man mit dieser Kombination ein nicht unbeträcht-
lich größeres Objekt auf einmal überblickt, denn
seine größte Ausdehnung darf nunmehr schon
"/gj = 0,7 mm betragen. Diese bequeme Be-
rechnung der größten zulässigen Ausdehnung
eines in einem Gesichtsfelde abzubildenden Unter-
suchungsobjektes wird sehr häufig praktische
Bedeutung erlangen , besonders wenn Hilfskräfte
(Zeichner, Photographen, Bedienung des Projek-
tionsapparates) kurz darüber instruiert werden
sollen, mit welcher Kombination zu arbeiten ist,
und zwar vor allem dann, wenn es sich um eine
größere Zahl von Präparaten handelt, die sonst
einzeln zu diesem Zweck durchgesehen werden
müßten. Das wird, wenn man sich der Sehfeld-
zahl bedient, überflüssig, sofern man die ungefähre
Größenordnung der zu untersuchenden Objekte
kennt.
N. F. XXI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
349
Die besprochenen Neuerungen in der Bezeich-
nung mikroskopischer Objektive und Okulare er-
scheinen mir wichtig genug, um eine kurze Be-
handlung zu rechtfertigen. Denn man wird
künftig ohne Zweifel bei Neuanschaffungen stets
Instrumenten den Vorzug geben, deren Objektive
und Okulare in der geschilderten Weise genormt
sind.
Einzelberichte.
Der Farbensinu der Bleue.
Im Jahre 1913 sprach der Ophthalmologe
C. V. Heß die Meinung aus, daß die Honigbiene
keine Farben sehe, sondern nur verschiedene
„Helligkeitswerte" unterscheiden könne. Dem-
entgegen wurde nun der Farbensinn der Bienen
durch die sinnreichen Versuche des Zoologen
K. v. P^risch sicher erwiesen, v. Frisch hat
Bienen auf eine Farbe, z. B. auf Blau dressiert;
wenn er ihnen dann unter einer Anzahl ver-
schieden abgestufter Graupapiere, welche ver-
schiedene Helligkeiten darstellten , die Dressur-
farbe darbot, fanden sie diese sofort heraus. Würde
das Bienenauge das Blau nur als ein bestimmtes
Grau sehen, so hätten die Bienen die Dressurfarbe
zweifellos mit einem der Graupapiere verwechselt,
das den gleichen Helligkeitswert wie das Blau
besaß. Die Versuche wurden in solcher Mannig-
faltigkeit dargestellt, daß alle Einwände ausge-
schlossen waren;
1. Die Graupapiere waren in genügend starker
Abstufung vorhanden und die Bienen konnten
nicht einmal die verschiedenen Grau mittlerer
Helligkeit voneinander unterscheiden.
2. Die Bienen erkannten das farbige Papier
nicht etwa an einem für die Bienen vielleicht
wahrnehmbaren spezifischen Geruch der Farbe.
Die Versuche gelangen nämlich ebensogut, als
sämtliche Versuchspapiere mit einer großen Glas-
platte bedeckt wurden.
3. Das farbige Papier hob sich nicht durch
besonderen Glanz von den Graupapieren ab. Als
nämlich die Graupapiere mit Firnis überzogen
wurden, war das Ergebnis ebenso positiv wie
vorher.
4. Daß die Bienen einen ausgeprägten Orts-
sinn besitzen, ist unbestritten. Um nun zu ver-
hindern, daß die Bienen etwa durch ihren Orts-
sinn das farbige Papier wieder auffinden könnten,
wurde die Anordnung der Versuchspapiere häufig
gewechselt.
5. Da zu den Versuchen immer neue, von
den Dressurpapieren verschiedene , ganz reine
Papiere verwendet wurden, ist es nicht möglich,
daß die Bienen durch einen spezifischen Bienen-
geruch oder durch Verunreinigungen von Putter-
mitteln (Zuckerwasser oder Honig) zum Farben-
papier hingelenkt wurden.
Weiterhin untersuchte v. Frisch aufs ein-
gehendste die Beschaffenheit des Farbensinns,
wobei er zu folgenden Ergebnissen kam : Für das
Bienenauge ist das Spektrum am langwelligen
Ende verkürzt. Ein reines Rot wird also nicht
von Schwarz unterschieden. Die Biene kann nur
„kalte" und „warme" Farben unterscheiden. Sie
verwechselt Orangerot mit Gelb und mit Grün,
Blau mit Violett und Purpurrot. Das Spektrum
besteht für die Biene also aus zwei Hälften, einer
gelben und einer blauen. Dazwischen bleibt ein
indifferenter Teil des Spektrums, denn die Bienen
können ein Blaugrün weder zu der ersten noch
zu der zweiten Hälfte zählen und verwechseln
dieses Blaugrün mit Grau. Der Farbensinn der
Biene zeigt somit weitgehende Übereinstimmung
mit dem Farbensinn eines rotgrünblinden Menschen.
Was die Blütenfarben betrifft, so werden den
Bienen weiße, gelbe und blaue Blüten auffallend
erscheinen. Blaue und purpurrote ') Blumenfarben,
die so häufig vorkommen, müssen stärker hervor-
treten als gelbe, da das Blattgrün für die Biene
auch ähnlich wie gelb aussieht. Die Farben,
welche die Biene nicht wahrnimmt, kommen als
Blumenfarben nur selten vor; es gibt nur sehr
wenig scharlachrote Blumen bei uns, die von
Bienen besucht werden. Auch das Blaugrün ist
als Blütenfarbe sehr selten. Anders liegen die
Verhältnisse natürlich bei Blumen, die von anderen
Tieren besucht werden, z. B. von Schmetterlingen
oder von Vögeln; für Vögel ist gerade die rote
Farbe auffällig.
Auch die Kontrastfarben im Innern der Blüten
hat man als Anpassung an den Insektenbesuch
gedeutet, vor allem da, wo sie als „Saftmale" auf-
treten. V. Frisch hat nachgewiesen, daß die
Bienen tatsächlich auf Farbenkontraste reagieren,
natürlich nur solche, die auch für das Bienenauge
Kontraste darstellen; z. B. gelb- blau, schwarz-
weiß. In der Natur kommen bei Immenblumen
auch nur solche Farbendifferenzen vor, die auch
für das Bienenauge als Gegensätze wahrgenommen
werden.
Zu all seinen Versuchen hat v. Frisch Pig-
mentfarben verwandt (sog. Herin gsche Papiere,
oder Anstrichfarben). Da diese aber stets Wellen-
längen eines breiten Spektralbereiches reflektieren
und zwar die verschiedenen Wellenlängen in ver-
schiedenem Maße, so werden die früheren Ver-
suche durch neuere Experimente mit Spektral-
farben in erfreulicher Weise ergänzt. A. Kühn
und R. Pohl dressierten die Bienen auf physi-
kalisch-monochromatisches Licht und entwarfen
') Da die Bienen das Rot nicht sehen, erscheinen ihnen
solche Farben, die aus Hlau und Rot bestehen, wie z. B.
Purpurrot, als Blau.
350
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
zu dem Zweck ein Quecksilberspektrum auf eine
horizontale Tischplatte, wobei das Spektrum be-
liebig gedreht und verschoben werden konnte.
Im wesentlichen kamen Kühn und Pohl zu den
gleichen Ergebnissen wie v. Frisch.
Bei der Dressur wurden alle Farben bis auf
eine abgeblendet und die Bienen auf diese dressiert.
Nun wurde auf einem frischen Papierblatt wieder
das ganze Spektrum in anderer Lage entworfen.
Die Bienen fanden immer unter den anderen
Spektralfarben die Dressurfarbe heraus. Die
Wellenlängen des Spektralbereiches ca. 400 bis
440 Uli (violett bis blau) einerseits und ca. 540 bis
580 iij^i (grün bis gelb) andererseits werden da-
nach durch das Bienenauge voneinander unter-
schieden. Besonders wichtig ist auch das Ver-
halten gegen Ultraviolett, v. Frisch konnte mit
seinen Pigmentfarben die Wirksamkeit des Ultra-
violetts nicht beobachten; die Dressurversuche
mit dem Linienspektrum gehen deshalb über das
mit den Pigmentfarben Erreichte hinaus. Kühn
und Pohl fanden, daß das Bienenauge für ultra-
violettes Licht empfindlich ist (wie dies bei Ameisen
schon früher bekannt war) und daß „Wellen in
der Umgebung von 365 /<;t (ultraviolett) sowohl
von spektral unzerlegtem Licht als auch von dem
Spektralbereich ca. 400 — 440 //(( (violett bis blau)
und auch von dem Bereich ca. 540 — 580 ftu (grün
bis gelb) qualitativ unterschieden werden".
Durch weitere Versuche wurde gezeigt, „daß
auch die Linie 492 /(/< (blaugrün) von den übrigen
Linien des Quecksilberspektrums und von spektral
unzerlegtem Licht unterschieden wird", v. F r i s c h
fand, daß die Bienen Blaugrün mit Grau ver-
wechselten. Das erklären Kühn und Pohl da-
durch, daß sie eine starke Weißverhüllung für
das Bienenauge beim blaugrünen Pigmentpapier
annehmen. Sie fanden nämlich, daß das betreffende
Papier „von 492 ///< bis 365 /(/< abwärts in steigen-
dem Maße reflektiert", also Strahlen von sehr
verschiedener Wellenlänge enthält.
Aus allen den Versuchen mit den Pigment-
papieren und mit den Spektralfarben geht her-
vor, daß die Biene Farbensinn besitzt und daß
der von ihr wahrnehmbare Teil des Spektrums
nach dem kurzwelligen Ende hin verschoben ist
gegenüber dem uns sichtbaren Teil. Der ihr
sichtbare Teil des Bandes ist fast gleich lang wie
der uns sichtbare Teil. Ob die Bienen die Farben
subjektiv so wie wir empfinden, bleibt allerdings
fraglich und tut nichts zur Sache. Das Wesent-
liche ist, daß die Bienen die Lichtstrahlen ver-
schiedener Wellenlänge zu unterscheiden ver-
mögen.
Oswin Mutschier
(Zoologisches Institut d. Techn. Hochschule,
Stuttgart).
Literatur.
C. V. Hefl, Experimentelle UntcrsucUuiigen über den au-
geblichen Farbensinn der Bienen Zoologisehe Jahrbücher
Bd. 34, 1913.
Karl V. Krisch, Uer Farbensinn und der Forraensinn
der Biene. Zoolog. Jahrbücher Bd. 35, 1914.
A. Kühn und R. Pohl, Dressurfähigkeit der Bienen
auf Spektrallinien. Die Naturwissenschaften Heft 37, 1921.
Zur Bedeutung der Keimdrüsenzwischenzellen.
„Beweise" und „Gegenbeweise" der Anhänger
und Gegner der Zwischenzellentheorie folgen in
rascher Folge, ohne die Entscheidung in der
Frage nach der Bedeutung der Zwischenzellen
der Keimdrüsen herbeizuführen. Die Forscher,
die behaupten, die Zwischenzellen lieferten die
Sexualhormone, bleiben auf ihrem Standpunkt
ebenso bestehen, wie diejenigen, die den inter-
stitiellen Zellen der Geschlechtsdrüsen eine rein
nutritive Bedeutung zusprechen, sie also als Zellen
mit trophischer Funktion bezeichnen. Daß hier
in beiden Lagern vorgefaßte Meinungen eine
große Rolle spielen, darüber besteht für mich
kein Zweifel. Ja, meistens sind die „Beweise"
für oder gegen die Zwischenzellentheorie wenig
„beweiskräftig". So kommt es, daß man auf ge-
radezu groteske Widersprüche stößt, die nur
durch klinische Erfahrungen aus der Welt geschafft
werden können, denn hier scheinen dem Tier-
experiment stets Schwierigkeiten im Wege zu
stehen. Dazu kommt, daß zwischen der inkre-
torischen Funktion von tierischen und mensch-
lichen Keimdrüsen gewisse Unterschiede bestehen.
An dieser Stelle sei über eine neue Mitteilung
berichtet, die Anhänger der St ei nach sehen
Lehre: A. Lip schütz, F. Bormann und K.
W a g n e r in der Deutschen Medizinischen Wochen-
.Schrift (Nr. 10, 48. Jahrg., 1922) „über Eunuchoi-
dismus beim Kaninchen in Gegenwart von Sper-
matozoen in den Hodenkanälchen und unterent-
wickelten Zwischenzellen" veröffentlichen. Wäh-
rend die Gegner Steinachs feststellen, daß
sekundäre Geschlechtsmerkmale fehlen können,
obwohl Zwischenzellen in den Keimdrüsen vor-
handen sind, teilen hier die Verff. mit, daß sie
an Kaninchen ausgesprochenen Eunuchoidismus
beobachteten, trotzdem Spermatozoen vorhanden
waren. Ja, die Zwischenzellen waren sogar —
in einem Fall ganz besonders — unterentwickelt.
Diese Ergebnisse bestärken die Verff. in der An-
sicht, daß von den interstitiellen Zellen die In-
kretion ausgehe, die auf die äußeren Sexual-
charaktere ihren Einfluß ausübt. Es wird hier
also nicht nur ein Gegenbeweis den obenge-
nannten Feststellungen der Gegner der Zwischen-
Zellentheorie gegenübergestellt, sondern ein neuer
Beweis für die Lehre von der inkretorischen
Funktion des Interstitiums geliefert. Die Verff.
stellen folgende Schlußfolgerungen, die sie aus
den Versuchsergebnissen ziehen , zusammen (sie
seien wörtlich der Mitteilung entnommen) :
„I. Es kann Eunuchoidismus bestehen, auch
wenn die Spermatogenese bis zur Ausreifung von
Spermatozoen gediehen ist.
2. Das spermatogene Gewebe allein für sich
N. F. XXI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
351
kann die innersekretorische Funktion des Testikels
nicht besorgen.
3. Die Rolle der Zwischenzellen ist mit ihrer
postulierten trophischen Funktion nicht erschöpft.
Auch wenn die trophische Funktion erledigt ist,
kann bei Unterentwicklung der Zwischenzellen
Eunuchoidismus vorhanden sein.
4) Die Zwischenzellen bilden bei den Säuge-
tieren einen integrierenden Bestandteil des inner-
sekretorischen Apparates des Testikels."
Die Verff. sprechen wohl von einem „inte-
grierenden') Bestandteil des innersekretorischen
Apparates", den die interstitiellen Zellen bilden
sollen. Sie behaupten aber grundsätzlich, daß
eine Produktion von Hormonen in den Zwischen-
zellen auf jeden Fall stattfinde. Auch die ver-
mittelnden Theorien werden negiert, wie die von
') In diesem Wort liegt die Bedeutuog: „zum Ganzen ge-
hörend". Darauf sei besonders aufmerksam gemacht. In
diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß das Wort ,, Puber-
tätsdrüse" in der Abhandlung vermieden ist.
Berblinger, daß das spermatogene Gewebe
die Sexualhormone produziere, in den Zwischen-
zellen aber die Resorption erfolge.') Die Verff.
halten eine derartige Auffassung für unbegründet,
obwohl manches dafür spricht, wie auch die
Untersuchungen von Harms am Bidderschen
Organ zeigen.
Die Versuchsergebnisse von Lipschütz und
seinen Mitarbeitern stellen wohl eine Stufe in der
Entwicklung des Problems dar, zeigen aber von
neuem, daß hier unüberbrückbare Widersprüche
vorliegen, solange die klinischen Erfahrungen
ungenügend sind und solange andere Theorien
nur dann wirklich berücksichtigt werden, wenn
sie IVIaterial für die eigene Anschauung liefern.
Gustav Zeuner.
') Ich nenne diese Theorie vermittelnd, weil sie wohl
die Produktion von Hormonen in den Zwischenzellen, nicht
aber den Anteil dieser Zellen am Vorgang der inneren
Sekretion negiert.
Bücherbesprechungen.
Linnes Föreläsningar öfver Dyrriket.
IVled understöd af Svenska Staten för Uppsala
Universitet utgifna och försedda med förklarande
anmärkningar af Einar Lönnberg. 8". XIII,
607 S. Uppsala, Berlin 191 3.
Obwohl vor bereits 9 Jahren erschienen, haben
Linnes „Vorlesungen" nicht die Beachtung ge-
funden, die sie allein schon durch die beiden auf
dem Titel genannten Autoren verdient hätten.
Sind sie doch in keiner zoologischen Bibliographie
auch nur erwähnt, oder in einem der bekannteren
Referierorgane besprochen.
Linne hielt vor der Universität Uppsala von
1744 — 1777 etwa 20 Vorlesungen über Natur-
geschichte, die zu Beginn des Werkes angeführt
werden. Drei davon behandelten in den Jahren
1748 — 52 das Tierreich. Sie wurden offenbar
von seinen Schülern eifrig nachgeschrieben. 41
solcher Kolleghefte aus den Jahren 1746—71
liegen in den Bibliotheken zu Uppsala usw. Frl.
Greta Ekelöf hat sie zu vorliegendem Werke
zusammengestellt, E. Lönnberg sie bearbeitet,
unter möglichster Anlehnung an die Originale.
Das Ganze ist sozusagen ein Lehrbuch der
damals bekannten Tierkunde, in dem nach einer
allgemeinen Einleitung („Prolegomena") die Grup-
pen des Tierreiches in absteigender Reihe be-
handelt werden, bis auf die Arten herunter.
Selbstverständlich ist von binärer Nomenklatur
noch keine Rede ; die Arten werden, außer durch
ihre schwedischen und lateinischen Vulgärnamen,
durch kurze lateinische Definitionen , wie damals
üblich , bezeichnet , z. B. : „Felis cauda elongata,
auribus aequalibus. Catus. Katta". Ebenso selbst-
verständlich steht die Systematik noch nicht auf
der Höhe der 10. Auflage des Systema Naturae.
Die Fische z. B. sind nach Artedi angeordnet,
beginnend mit der Seekuh, genus Trichechus, sp.
Manatus, der die wichtigsten Wale und Delphine
folgen; dann erst kommen die heutigen Fische.
Unsere heutigen Ordnungen heißen Classes (im
ganzen 6); dann kommen die Ordines, z.T. heu-
tige Ordnungen, z. T. Familien, dann die genera
(238), schließlich die Arten. Die Klasse der
Quadrupedia umfaßt 6 Ordines, 34 gg. und ist
auf 81 Seiten behandelt. Nach Li nn escher Auf-
fassung beginnt sie mit der Ordo Anthropomorpha,
mit den genera Homo, Simia, Bradypus. Die
Vögel werden in 6 Ordines und 35 gg. auf
68 Seiten behandelt, die Amphibia (heutige Rep-
tilien und Amphibien) in 10 gg. auf 18 S.,
die Pisces (siehe oben) in 53 gg. auf 42 S., die
Insecta (heutige Arthropoden) in 60 gg. und
927 Species auf 75 S., die Vermes (die übrigen
damals bekannten Wirbellosen) mit den Ordines
Replilia, Zoo- und Litophyta in 31 gg. auf
75 S. Besonders den größeren Gruppen werden
ausführliche geschichtliche, anatomische und bio-
logische Übersichten vorausgeschickt; nach den-
selben Gesichtspunkten, besonders aber auch nach
ihrer medizinischen, z. T. auch nach der ökono-
mischen Bedeutung, sind die Arten behandelt.
So sind Linnes Vorlesungen eine reiche
Fundgrube nicht nur für den Kulturhistoriker und
den historisch interessierten Zoologen, sondern
für letzteren schlechthin; denn die Bedeutung
Linnes als Naturforscher gibt seinen Ausführun-
gen besonderen Nachdruck.
Den vollen Wert erhält das Werk aber erst
durch die ausführlichen, 216 S. umfassenden An-
merkungen Lönnbergs, die in erster Linie na-
türlich die 191 3 gültigen Namen sonst schwer
352
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 25
erkennbarer oder zweifelhaft bleibender Arten
geben, aber auch sonst die Verbindung der
Linneschen Angaben mit der Jetztzeit herstellen
und wertvolle oder wichtige Erläuterungen zu
seinen Ausführungen enthalten. Bei den Insekten
erfreute sich der Herausgeber dabei der Mitarbeit
von Aurivillius, Tullgren und Trägärdh.
Den Schluß bilden auf 27 Seiten IVlitteilungen
über die in den Vorlesungen genannten Personen
(120), eine Arbeit, für die viele Biologen dem
Herausgeber besonderen Dank wissen werden.
Es wäre zu wünschen, wenn durch diesen
Hinweis das interessante und wertvolle Werk der
Unbeachtetheit entrissen würde, in die es ganz
unverdienterweise geraten ist. Reh.
Auerbach, F., Raum und Zeit, Materie
und Energie, eine Einführung in die
Relativitätstheorie. 134S. m. 30 Textabb.
Leipzig i92i,Dürrsche Buchhandlung. Geh. 14M.
Felix Auerbach hat bereits durch eine
Reihe volkstümlicher Darstellungen physikalischer
Wissensgebiete gezeigt, daß er es vortrefflich ver-
steht, wissenschaftliche Probleme in einer Weise
zu behandeln, die der Voraussetzung der Allge-
meinverständlichkeit ebenso wie der vollen, auch
den Kenner befriedigenden Strenge zu genügen ver-
mag. Auch die schwierige Aufgabe, die er sich
mit der vorliegenden Betrachtung der Relativitäts-
theorie gestellt hat , ist in dieser Hinsicht als
meisterhaft gelöst zu bezeichnen. In anspruchs-
losem Unterhaltungston, nur naturwissenschaft-
liches Anschauungs- und logisches Denkvermögen
voraussetzend, durchweg bezugnehmend auf ein-
fache konkrete Beispiele des täglichen Lebens,
führt er den Leser von der klassischen zur speziellen
und schließlich zur allgemeinen Relativitätstheorie,
deren voller Gedankeninhalt ihm nahe gebracht
wird , ohne daß er sich recht eigentlich der
Schwierigkeiten bewußt wird, die in ihr liegen.
Vielleicht ebnet hier der Verf., der selbst ganz
auf dem Boden der Einstein sehen Theorie steht,
den Weg sogar allzusehr. Sofern er aber alle
Gesichtspunkte, welche die Entwicklung der
Theorie geleitet haben, mit voller Klarheit her-
vorhebt, wird die Möglichkeit der Kritik für den
aufmerksamen Leser nicht ausgeschaltet.
Ref steht nicht an, diese Schrift als die beste
ihm bekannte wirklich volkstümliche Darstellung
des vollen Uinfangs der Relativitätstheorie zu be-
zeichnen, deren besondere Vorzüge in der mög-
lichsten Vermeidung abstrakter Betrachtungen und
der fortlaufenden Bezugnahme auf konkrete, dem
Verständnis ohne weiteres zugängliche, anschau-
liche Beispiele liegen. Sie erreicht damit zweifel-
los, daß jeder Leser am Schluß mit Befriedigung
feststellen kann, daß er von der Relativitätstheorie
jedenfalls gründlich erfahren hat, „um was es sich
handelt". A. Becker.
Paehler, Fr., Die Auskunft. Heft III. Physik.
91 S. Heidelberg, W. Ehrig.
Das vorliegende Heft bildet den die Physik
betreffenden 1 eil einer vom Verf. herausgegebenen
,, Sammlung lexikalisch geordneter Nachschlage-
büchlein über alle Zweige von Wissenschaft, Kunst
und Technik", die dem bildungsbedürftigen Laien
schnell und kurz Auskunft geben wollen über alle
wichtigeren in das betreffende Gebiet einschlagen-
den Fragen, die etwa bei der Lektüre oder bei
Vorträgen auftreten könnten. Das physikalische
Wörterbuch kann in dieser Hinsicht als gut ge-
eignet bezeichnet werden. Die Auswahl der
Stichwörter ist gut getroffen, und ihre Definition
erscheint klar und einwandfrei; ganz besonderer
Wert ist auf biographische Angaben gelegt worden.
Natürlich vermag eine solche kurze Zusammen-
stellung nur beschränkten Ansprüchen zu genügen.
A. Becker.
Kayser, H. , Lehrbuch der Physik für
Studierende. Sechste verbesserte Auflage.
562 S. mit 349 in den Text gedruckten Ab-
bildungen. Stuttgart 192 1, F. Enke.
Daß das erstmalig im Jahre 1890 erschienene
Kays er sehe Lehrbuch in seiner im wesentlichen
ursprünglichen Bearbeitung auch heute noch sich
der Wertschätzung der Studierenden erfreuen darf,
verdankt es zweifellos der großen Übersichtlich-
keit und Klarheit, mit der es die elementaren
Grundlagen der Experimentalphysik in einem
Umfang behandelt, wie er etwa dem Bedürfnis
derjenigen entspricht, die Physik als Nebenfach
haben. Diesem Leserkreis werden auch die in
jeder Neuauflage dem jeweiligen P^ortschritt der
F"orschung folgenden kurzen Ergänzungen und
Verbesserungen im allgemeinen genügen, wenn
auch der Fortgeschrittenere an manchen Stellen
eine gründlichere Berücksichtigung der neueren
physikalischen Kenntnis wünschen möchte. Die
vorliegende Auflage erwähnt zum erstenmal die
Relativitätstheorie und die Quantentheorie. Die
erstere wird im Anschluß an die Betrachtung des
Stoßes auf etwa 2 Seiten besprochen, die letztere
bei der Behandlung der Strahlungstheorie kurz
angedeutet. Die Darstellung der Gitterbeugung
gibt schließlich Gelegenheit, auf die Laue sehe
Entdeckung der Beugung der Hochfrequenzwellen
hinzuweisen. A. Becker.
IlihMit: H. Kischer, Bemerkungen über Standorte und Verbreitung der deutschen Farnkräuter. S. 337. M. Wolff,
i'ber die neuen Zeißschen Mikroskop-Objektire und Okulare. S 346. — Einzelberichte: Der Karbensinn der Biene.
S. 349. A. I.ipschütz, K. Bormann und K. Wagner, Zur Bedeutung der Keimdrüsenzwischenzellen. S. 350. —
Bücberbesprecbungen: Linne, Forclasningar öfer Dyrrikel. S. 351. F. Auerbach, Raum und Zeit, Materie und
Energie, eine iMnführung in die Relativitätstheorie. S. 352. Kr. Paehler, Die .Auskunft. S. 352. H. Kayser, Lehr-
buch der l'hysik für Studierende. S. 352.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. 11. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Kischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
T ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 25. Juni 1922.
Nummer 26.
Der österreichische Anteil am Böhmischen Massiv.')
(Oberösterreichisches Mühlviertel und niederösterreichisches Waldviertel.)
,rbocen.i Von OskaF Kcudc.
[Nachdruck verbocen.]
I. Das oberösterreichische Mühlviertel (im
ganzen das Bundesland Oberösterreich nördlich
der Donau) und das niederösterreichische Wald-
viertel (im ganzen das durch Donau und Man-
hartsberg begrenzte nordwestliche „Viertel" des
Bundeslandes Niederösterreich) sind Stücke des
Böhmischen Massivs. Böhmerwald (und Bayrischer
Wald) wie innerböhmische Rumpffiäche gehen
ohne jede geographische Grenze von tschecho-
slowakischem auf österreichischen Boden über.
Vielleicht ist das westliche Mühlviertel bis zur
meridionalen Senke der Feidaist -) (den Oberlauf
hat sie vom Stegmühlbache angezapft: 3; 166)
mit dem deutlich nordwest-südöstlichen (harzyni-
scher) Streichen seiner Hauptrücken enger mit
der Entwicklung von Böhmer- und Bayrischem
Wald verknüpft (i ; 12 ff.), das übrige östliche Land
aber mit den Schicksalen der innerböhmischen
Rumpffläche (2 ; 242 f.) : was bedeuten würde, daß
die Grundzüge des Reliefs beider Gebiete ver-
schiedenartig und möglicherweise im Böhmer-
waldanteil stärker durch Brüche bestimmt wären.
Sokol (9 und 10) hält die (über einer Rumpf-
fläche sich erhebenden) Gipfel und Rücken des
Böhmerwaldes für das Abtragungsergebnis eines
ältesten ersten Zyklus, die innerböhmische Rumpf-
fläche dagegen für das Endstadium eines, durch
eine Hebung unbekannten Alters eingeleiteten
zweiten Zyklus,^) der im Gebiete des Böhmer-
waldes zwar die erste Fastebene neuerlich zer-
talte, die »Zwischental formen« und damit die
Böhmerwaldhöhen als Reste eines ersten Zyklus
stehen ließ, beziehungsweise bloß um einige Meter
erniedrigte. Zur Kreidezeit hätte der Böhmer-
wald also schon als ziemlich hohes, dem heutigen
ähnliches Gebirge aufgeragt. Die tertiären (mio-
zänen) Krustenbewegungen mit erneuerter Hebung
aber führen einen dritten Zyklus herauf, bei dem
die Arbeit der fließenden Gewässer im bereits
»reifen« Böhmerwald „an die durch den vor-
handenen und unterbrochenen Zyklus erzeugten
Vorbedingungen gebunden" ist (10 a; 294).'') Die
heutigen Formen des westlichen Mühlviertels
wären also mit dem dreizyklischen, das übrige
Gebiet mit seinem zweizyklischen Vorland in Zu-
sammenhang zu bringen. Puffer (3; 169 f.) läßt
dagegen Böhmerwald und innerböhmische Rumpf-
fläche gemeinsam als Reste eines (postkarbonischen
und präkretazischen) Rumpfes von einer ober-
miozänen Aufwölbung und Zerbrechung betroffen
werden und sieht in der jüngeren Oberfläche des
Böhmerwaldes (Senkenlandschaften zwischen
Rücken und Quellgebiet der Flüsse: Fernlinge :^
Restberge) gegenüber der alten der innerböhmi-
schen Rumpffläche (die frühere Fastebene mit
einzelnen höheren Kuppen widerstandsfähigeren
Gesteins: Härtlinge ^ Monadnocks) nur die Folge
einer ungleich stärkeren Verwerfung.^) Nach
dieser Anschauung wären zur Erklärung der
heutigen Formen des westlichen Mühlviertels,
z. B. auch mancher Talprobleme (8; 426) in
größerem Ausmaße die Wirkung von Brüchen
heranzuziehen, die für die übrigen Teile als Ganzes
neben bloßen Verbiegungen keine so wesentliche
Rolle spielen. Grund (4; 180 f.) ist freilich für
das Waldviertel zu genaueren Schlüssen ge-
kommen. Er unterscheidet zwei jüngere Störungs-
phasen, welche die alte Rumpffläche betrafen.
Während der ersten, die im Prä-Miozän begann,
entstand u. a. das Einbruchsbecken von Hörn,
wurde „die Rumpffläche am Ostrande in der
F"lexur emporgewölbt und durch Erosion zertalt";
im Westen lag damals die den Störungen ange-
paßte neue Hydrographie in der Höhe der Rumpf-
fläche, im Osten hielt sie sich an bereits be-
stehende, in die Rumpffläche eingeschnittene
Täler. Dieser Teil geriet durch eine diese Störungs-
phase abschließende miozäne Senkung unter den,
in rund 490 bis 500 m Höhe liegenden Spiegel
des (ersten) Mediterranmeeres, das in die Täler
und in die übrigen Hohlformen des Randgebietes
eindrang und seine Höhen auf Koslen der Rumpf-
fläche in eine Abrasionsebene verwandelte. Eine
zweite (postmiozäne) Störungsphase brachte eine
neuerliche, wiederum ungleichmäßige Hebung
•) Die wichtigste Literatur ist am Ende des Aufsatzes
zusammengestellt; wo im Text Literaturbelege gegeben sind,
weist, in Klammern gesetzt, eine erste Ziffer auf die ent-
sprechende des Literaturverzeichnisses, eine zweite auf die
Seitenzahl der betreffenden Arbeit hin.
■-) Sie verläuft westlich von dem bekannten, zur Maltsch
hinabführenden Kerschbaumer Sattel (707 m) etwa über den
Markt Oberhaid zum Moldauknie {l ; 15). Puffer (3; 166)
denkt hier an eine wirkliche tektonische Senke.
') Skizze bei loa; 293.
*) Die Veränderungen des Böhmerwaldes seit der Kreide-
zeit bestehen für Sokol im wesentlichen eben bloß in einer
tertiären Erosionsbeiebung, die einige kafionartige Talstrecken
schuf. O.Lehmann (8; 424 ff.) hat sich gegen die Sokol-
schen Annahmen (daß der Böhmerwald auch im Tertiär noch
ein ansehnliches Erosionsgebirge gewesen ist, die Entwicklung
von Engen und Weitungen der Täler auf eine schräge Hebung
des Landes mit südlichem Anstieg zurückzuführen sei) ge-
wendet und ist zugunsten der (Puffer sehen) Schollentheorie
als Arbeilshypothese eingetreten.
") Es sei hier nochmals betont, daß Sokol (loa) die
Schollenhypothese Puffers für den Böhmerwald ablehnt.
354
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
einzelner Teile (im Osten größer als im Westen),
wodurch auch die folgende Zertalung verschieden
intensiv gestaltet wurde.')
2. Landschaftlich ergibt sich für den ganzen
Anteil Österreichs am Böhmischen Massiv ein ge-
wisser einheitlicher Charakter. Überall kann man
von einer eigentümlichen, oft schwermütig stim-
menden IVIonotonie der sanft geschwungenen
Höhen sprechen, die in auffallendem Gegensatz
steht zur Enge zahlreicher Talstrecken, die be-
sonders bei den donauwärts gerichteten Flüssen
sich immer wieder findet.-) Auch die tiefe (7 bis
8 m abwärts) reichende Verwitterungsschichte
hat durch Begünstigung von Rutschungen und
Gekriech mit ihren die schroffen Unebenheiten
mildernden Wirkungen zur Verstärkung des
Plateaucharakters beigetragen ; um so schärfer der
Gegensatz, der sich zwischen den dichter be-
siedelten, stellenweise ziemlich intensiven Land-
bau treibenden Höhen und den kaum bevölkerten,
auf den steilen Gehängen ein schweres Waldkleid
tragenden Tälern auftut (i a; 106). Eine kleine
Änderung des landschaftlichen Ausdrucks bringt
höchstens die Gesteinsverschiedenheit beiderseits
einer Linie mit sich, die von der nördlichen nieder-
österreichischen Landesgrenze am Hohen Stein
') Durch eine breite , bald abradierte Pforte flutete das
Mediterranmeer z. B. zwischen Pernegger Wald und Man-
hartsberg über Eggenburg ins (prämiozäne) Horner Becken
hinein (Hörn liegt rund 309 m hoch) und erfüllte es mit
den Produkten seiner zerstörenden Tätigkeit; die verwickelte
Geschichte des erst nach dem Miozän wieder ausgeräumten
Horner Beckens angedeutet bei Grund (4; 177 f.).
^) „Diese Schluchten sind oft so schmal, daß man, auf
der Höhe der Plateauwelle stehend, über sie hinwegsehen
kann, ohne ihrer gewahr zu werden" (i; 15). Und ähnliche
Beobachtungen finden sich bei M. Michl (5; 220 f.), die
einerseits die starke Zertalung des südseitigen .Abfalles (zur
Donau) hervorhebt, andererseits als besonders eindrucksvoll
nach dem steilen Aufstieg die Wanderung über das 850 —
900 m hohe, flachwellige, fast gar nicht gegliederte Hochland
schildert; ,,die weite Fläche, die sich mit einer kaum merk-
lichen Wellenlinie gegen den Horizont abgrenzt, unterbrach
nur hier und da die Silhouette eines spitzen Kirchturms oder
einer etwas höher ansteigenden Bodenschwelle". Oder,
wiederum übereinstimmend, die Charakteristik bei Mayer
(6; 12), der erwähnt, wie die langgestreckten, in ihren For-
men oft einander gleichenden Höhen, von der Entfernung be-
trachtet, eintönig, langweilig wirken; „zwischen den Höhen
aber entspringen in der Nähe der flachen Sättel in sumpfigen
Mulden und nassen Wiesen die Bäche, die sich nach kurzem
Laufe tiefe, viel gewundene und oft schwer passierbare Rinn-
sale graben , häufig eher als Schluchten , denn als Täler zu
bezeichnen; da eilt das braune Wasser über mächtige Blöcke
dahin, hier und da einer Mühle, einer Säge, einem Hammer
eine wegen der sommerlichen Trockenheit unsichere Wasser-
kraft bietend . . . die Einsamkeit trägt dazu bei, den schwer-
mütig schönen Anblick dieser Talgründe zu einem unvergeß-
lichen zu machen." Leicht ist es , von irgendwo die Hoch-
fläche, die durch die 100 bis 200 m die Umgebung über-
ragenden Höhenzüge an vielen Punkten gewellt erscheint, zu
überschauen; man sieht da, und Mayer zitiert hier Franz
Ed. Sueß, „in der Kegel weithin zerstreute Kirchtürme und
weiße Mauerwände entfernter Ortschaften oder Meierhofe, da-
zwischen Ackerland , auf dem Kartofi"eln oder Korn gebaut
werden, und allzu regelmäßig umgrenzte dunkle Flecken von
Waldbestand. Lange Baumreihen bezeichnen die Straßen, die
gezwungen sind, die engen Täler zu vermeiden und nach ver-
schiedenen Richtungen ganz beträchtlich auf- und nieder-
steigend, die Ortschaften und Höfe miteinander verbinden."
(680 m) in leichter südsüdwestlicher Biegung über
Zwettl zur oberösterreichischen Landesgrenze am
linken Donauufer zieht.*) A. Grund (4; 167)
hat diesen Wechsel östlich von Gmünd (an der
Franz Josefsbahnstrecke) so geschildert: „In ganz
flachen Geländewellen , die mit sanftem Gefälle
ineinander übergehen, wogt die Oberfläche auf
und ab. Sie bekommt im Granit noch ihr be-
sonderes Gepräge durch die herausgewitterten
Blöcke, die auf den Hügeln herumliegen.-) Große,
geschlossene Wälder mit zahlreichen Teichen, in
deren dunklem moorigen Wasser der ernste Nadel-
wald sich düster spiegelt, bezeichnen den wenig
fruchtbaren Granitboden." Sobald man aber (bei
Vitis) den Gneisboden betritt, bekommt die Wald-
bedeckung größere Lücken durch Feld- und Wiesen-
flächen und hört vor allem die Blockbestreuung
der Hügelwellen auf; „aber sonst bleibt auch hier
der Charakter der sanftwelligen Fastebene ge-
wahrt, in den flachen Mulden nehmen die Ge-
wässer als Abflüsse mooriger Wiesen ihren Ur-
sprung, soweit nicht die Mulden zu seichten Teich-
flächen gestaut sind".^) Die Entstehung der, oft
kanonartigen Engstrecken der Täler, von denen
wir vorhin wegen ihres landschaftlichen Gegen-
satzes zu den Höhen sprachen, ist durchaus noch
nicht widerspruchslos klargestellt. Puffer hat
neben epigenetischer Bildung für die Engen viel-
fach antezedente Erosion in die aufsteigenden
Schollen und Schollenteile (für die Weitungen das
Vorhandensein von Senken) angenommen (8; 417).
Lehmann, der ein zu häufiges Heranziehen
epigenetischer Talentstehung in unseren Gebieten
zurückweist, will Engen (und Weitungen) durch
Schollenbildung allein erklären können, nach
Sokol (loa; 290 f.) nehmen sie doch (gegen
Lehmann) von einer schrägen Hebung des
Landes mit südlichem Anstieg (ohne Schollen-
bildung) ihren Ausgang.*) Und ähnlich hat
') Auf den Granitblock östlich von Zwettl zwischen Kamp
und Thaya genügt es an dieser Stelle hinzuweisen ; auch öst-
lich von Eggenburg ragt noch einmal Granit auf.
'') Die ,, matratzenartig übereinander getürmten" Felsblöcke
erwähnt auch Hackel (I ; 17) als typisches Kennzeichen
nicht bloß des Böhmerwaldes (auf oberösterreichischem Boden;
Hochfichtel, Sternstein), sondern auch der höher gelegenen
Teile des Mühlviertels (Greinerwald). Diese Erscheinung der
Block- oder Felsenmeere findet sich in den meisten deutschen
Mittelgebirgen. Das in die Klüfte des Urgesteins eindringende
Regenwasser läßt die Grenzflächen schneller verwittern ; die
hierbei zwischen den Fugen gebildeten lockeren Massen aber
werden durch Abspülung und Auswaschung entfernt, so daß
ein Trümmergewirr übrig bleibt.
') An die allmählich vertorfenden Hochmoore auf den
Höhen der Plateauwcllen, die sich über einem tonig und
wasserundurchlässig gewordenen Verwitterungslehm bilden,
erinnert auch Hackel (i ; 16).
*) „Das Vorhandensein von breiten, reifen und engen,
jungen Tälern in einem und demselben Gebirge kann man
durch eine vertikale und zugleich horizontale Veränderung der
Erosionsbasis erklären. Es muß dann ein neuer Zyklus mit
engen. V-förmigen Tälern anfangen. In denselben Zyklus
werden die breiten, aus dem reifen Stadium des vorangehen-
den Zyklus hervorgegangenen Täler als «frühreif« übernommen.
Infolge der seitlichen Verschiebung der Erosionsbasis können
sich diese frühreifen Täler nicht merklich vertiefen" (9 ; 445).
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
3SS
M. Brust die Engen der Donaunebenflüsse west-
lich von Linz als jugendliche Talbildung infolge
einer (gegenüber dem westlichen Teil stärkeren)
Hebung aufgefaßt und auch die unfertigen Ge-
fällsverhältnisse dieser Flüsse (Stufenmündungen,
Gefällsknicke im Unterlaufe), die der Tiefenerosion
der Donau noch nicht nachgekommen wären, zu-
gunsten seiner Annahme angeführt.
3. Das Böhmische Massiv betritt im Westen
als Passauer Wald österreichischen Boden;
dieses im Ameisberg (940 m) gipfelnde Stück des
Bayrischen Waldes , das hier nicht „als Rücken-
zug, sondern als Plateauwelle" (i ; 13) auftritt,
erstreckt sich südwärts als Sauwald (876 m) über
die Donau hinaus, im Osten reicht es bis zu
einem dreieckförmigen, wohl tektonisch bedingten
Streifen niedrigen Landes, der im Westen von
der Kleinen, im Osten von der Großen Mühl
' durchmessen wird und dessen Nordende etwa bei
dem Orte Rohrbach liegt. In den Nordwestteil
Oberösterreichs sendet auch der Böhmerwald
noch seine Ausläufer hinein; nahe der Grenze
gegen den tschechoslowakischen Staat erhebt sich
der Hochfichtel (1337 m) im Zuge des Haupt-
kammes, der sich dann östlich des Sattels von
St. Oswald-Aigen (790 m) in mehrere, auch gegen
Süden sich vorschiebende und nach Osten hin
verflachende Rücken auflöst. Solche Rücken sind
jenseits des Aigner Sattels das St. Thomagebirge
(1032m) und der Stern wald (Sternstein 1125 m),
im Süden eine Anzahl unter dem Namen des
Linzer Waldes zusammengefaßte Züge ; sie
gipfeln im St. Johannesberg (850 m), Oberneu-
kirchen (867 m), Lichtenberg (926 m), Pöstling-
berg (537 m) und, jenseits der Donau, im Kirn-
berg (525 m). Die Flüsse hat Puffer im
Böhmerwald meist für konsequent, an seiner
Peripherie jedoch größtenteils für antezedent ge-
halten (3; 169), im besonderen den Oberlauf der
Gr. Mühl und die, bei Haslach in sie mündende
Helfernberger Mühl als konsequente Grabenflüsse,
den Unterlauf der Gr. Mühl als antezedent mit
jugendlichem Erosionstal angesprochen, den Ober-
lauf der Gr. Rotel als antezedent (3; 166); der
Oberlauf der Gr. Mühl und die Helfernberger
Mühl liegen also nach ihm in tektonischen Furchen
der herzynischen (nordwest-südöstlichen) Richtung.
Nach M. Brust (la; 106) kommt in den meri-
dionalen Unterläufen der Mühlviertelflüsse die alte
Landabdachung gegen das Miozänmeer hin zum
Ausdruck. Noch nicht genannte Flüsse unseres
Gebietes sind die Kleine Mühl (westlich von der
Großen), die Kleine Rotel (als rechtsseitiger Neben-
fluß der Großen), der > Haselgraben <; nördlich von
Linz, die Gr. Gusen (die im südlichen Ausgang
des Beckens von Gallneukirchen links die Kl.
Gusen aufnimmt) und die Feidaist; die ihr von
links zuströmende Waldaist gehört bereits den
ins Gebiet der innerböhmischen Rumpffläche
weisenden Teilen an.
4. Die mittlere Höhe unseres Anteiles an der
innerböhmischen Rumpffläche beträgt zwischen
400 und 600 m, seine Abdachung ist im wesent-
lichen nach Süden und Osten gerichtet. Folgende
Teile führen bekanntere Namen. Östlich von der
Feldaister Senke erhebt sich der P"reiwald (die
Gruppe der Tiergartenberge), in seinen südlichen
Ausläufern Grein er Wald geheißen, der die
Maltsch und Lainsitz nach Norden zur Moldau,
Waldaist und Kl. Naarn gegen Süden, Zwettl und
Gr. Kamp gegen Osten zur Donau entsendet; er
gipfelt nahe der tschechoslowakischen Grenze im
Viehberg (im m), Tischberg (1073 m), Aichel-
berg (1041 m) und Ochsenberg (1024 m).^) Süd-
östlich reiht sich der Weinsbe rger Wald (1039m)
an, der nach Südwesten die Gr. Naarn, den Sar-
mingbach und die beiden Isperbäche gegen Süden,
den Weitenbach gegen Südosten und den Kl. Kamp
wie die Krems gegen Osten zur Donau schickt.^)
Ostlich von der Gr. Isper gewinnt der gegen
Südosten zur Platte von Maria Taferl absteigende
Ostrong im Peilstein 1060m, zwischen Weiten-
und Spitzer Bach der Jauerling 959 m.^) Öst-
lich des Spitzer Baches gipfeln die Wachauer
Höhen in Sandlberg (722 m) und Kuhberg (715 m),
um sich jenseits der Krems über Gföhler Wald
(644 m) und über den Kamp hinaus gegen Geras
hin allmählich abzudachen. Auch östlich und
südlich der obersten (deutschen) Thaya steigt die
Rumpffläche des Waldviertels in den beiden Zügen
des Wieninger Berges (Predigtstuhl) zu 718 m
und des Speisenberges zu 667 m, am Massivrande
südlich von Eggenburg der Manhartsberg zu
536 m auf. Während Puffer (2; 249 ff.) diese
Erhebungen (auch 4; 170 und 176) wie die Gruppe
der Tiergartenberge als Härtlinge (Partien wider-
standsfähigsten Gesteins) betrachtet, faßte er
Greiner- und Weinsberger Wald mit ihrem über-
wiegend nordsüdlichen Streichen als Riedel (höher
gelegene Zwischenstücke zwischen zwei Tälern)
auf, die durch die in gleicher Richtung verlaufen-
den Donaunebenflüsse aus einem einst westöstlich
ziehenden, infolge der tertiären (Verwerfungen
und) Verbiegungen gebildeten Landblock heraus-
geschnitten wurden ; und eine ähnliche Entstehung
durch jüngere Aufbiegung schreibt er dem oben
erwähnten Höhenzuge: Sandlberg und Gföhler
Wald mit der Fortsetzung bis über Geras hinaus
zu. Für eine gegen Norden und Süden gestellte
Muldenauf biegung hält Grund (4; 167) das Ge-
lände beiderseits der Linie Gmünd-Vitis; quer zu
dieser Linie verläuft übrigens heute die europäische
') Der Tischberg und Aichelberg auf niederösterreichi-
schem Boden (jener der höchste Berg des Waldviertels), die
beiden anderen Berge in Oberösterreich gelegen.
^) Einige Bemerkungen über den Weinsberger Wald, über
die Isperklamm und das Weitental bei M. Michl {5; 221 ff.).
Genaueres über die einzelnen Teile des Waldviertels in der
Landeskunde von Niederösterreich (7; 138 ff.); auch Mayer
gibt einen guten Überblick (6; 11 ff.).
^) Die Bergrücken an der Donau machen trotz geringerer
absoluter Erhebung infolge der tief eingeschnittenen Täler,
aus denen sie ansteigen, durch ihre relativ stärkeren Höhen-
unterschiede einen großartigeren Eindruck als die absolut
höheren Züge des Weinsberger- und des Freiwaldes, die ihre
Umgebung blofi 100 bis 200 m überragen.
556
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXl. Nr. 26
Wasserscheide zwischen Moldau (durch die Elbe
zur Nordsee), in die die Lainsitz mit ihren Seiten-
gewässern fließt, und der durch die March zur
Donau (Schwarzes Meer) gehenden Thaya.^) Die
östlichsten Teile des Massivs (östlich der 500 m-
Isohypse) stellen hingegen die Abrasionsebene des
brandenden Mediterranmeeres dar, aus dem der
Manhartsberg als Insel herausgeragt haben muß;
dieses Mediterranmeer ertränkte die in einer Flexur
gegen Osten hinabtauchende prämiozäne Berg-
und Tallandschaft des östlichsten Waldviertels, so
daß heute auch vor dem geschlossenen »Steilab-
fall« des Massivs einige Granitrücken aus dem sie
rings umgebenden Tertiär auftauchen.-) Die
Täler der Waldviertler Flüsse sind (nach Puffer)
fast ausnahmslos ■') Erosionstäler mit deutlichen
Anzeichen epigenetischer Bildung ; wo sie von
den weicheren jungtertiären Aufschüttungen, mit
denen aus Nordwesten kommende Ströme das
Waldviertel stark überdeckten, auf das schwerer
angreifbare Urgestein übertraten, mußten sie einen,
an Stromschnellen oder Wasserfällen sich auf-
zeigenden Gefällsknick erfahren ; das scharfe Knie,
mit dem z. B. Krems und Kamp von der Ost-
zur Südrichtung übergehen, wird auf Anzapfung
dieser Flüsse durch die Donau zurückgeführt
(2; 247 ff. und 251 f.). Doch dürfte die Talge-
schichte unseres Gebietes nicht durchweg so
einfach sein. Grund hat Teile des sehr eigen-
artigen, mehrfach die Richtung wechselnden
Thayalaufes untersucht und sich bemüht, die ver-
wickelte Entstehung klarzulegen. Die beiden
lehrreichsten Ergebnisse sind, daß im oberen
Thayagebiet die Hydrographie dem Zuge der
Monadnock-Rücken angepaßt sind und daß das
Tempo der (gegenwärtig zu Ende gekommenen)
Hebung des Massivs, welche die Thaya zum Ein-
schneiden zwang, in einzelnen Teilen gegen den
Ausgang der Hebung hin ein schnelleres wurde
(von unterhalb Raabs bis Waydhofen „wandert
ein Gefällsknick im Thayatal aufwärts, der den
Oberlauf dieses Flusses noch nicht erreicht hat":
4; 169 ff.). Und eine ähnlich verwickelte (und
stellenweise mit der Thaya übereinstimmende)
Geschichte glaubt Grund auch für die merk-
würdige Hydrographie des Kamp annehmen zu
müssen; Epigenese bzw. prämiozäne Anlage des
Tales werden herangezogen, um das Vorbeifließen
des Kamps am Horner Becken durch höheres
Land und seinen Durchbruch zwischen Horner
'■) Diese Wasserscheide ist postmiozänen Alters ; im Mio-
zän (als das Wittingauer Becken hoch zugeschüttet war) nahm
wahrscheinlich noch die Lainsitz ihren Lauf über sie hinweg
durch das Thayatal nach Osten (4; 168 f.).
^) Z. B. der Hochsteiner Berg (334 m) bei Pillersdorf,
die Granitkuppe bei Schrattenthal, der Kücken vom Keldberg
(370 m) bei Groß Kcipersdorf bis zum Kalvarienberg (414 ra)
bei Eggenburg (4; 175 f.).
') Der (auch bereits an anderer Stelle erwähnte: „Das
Donautal in Osterreich", in dieser Zeitschrift 1922, S. 189 f.)
Talzug, dessen westliches Stück der obere Weitenbach benutzt,
wäre nach Puffer (2; 251) ein Graben; ebenso fließe der
TafTabach in einer Senke.
Wald (rechts) und Buchberg (links) erklären zu
können.
5. Wie die Landschaft so zeigt auch das Klima
für unser ganzes Gebiet eine gewisse Einheitlich-
keit. Beide können, zumal in den höheren Teilen
als verhältnismäßig rauh bezeichnet werden. Im
Mühlviertel bleibt die Temperatur in allen Monaten
durchschnittlich um 0,5^0 hinter dem allgemeinen
Mittel des ganzen Landes zurück (Januar — 3,7"
gegenüber — 3,3", Juli 16,2" gegenüber 16,6",
Jahr 6,3" gegenüber 6,8" C) und das Waldviertel
unterschreitet bis zu looo m Höhe die gleichen
Lagen der niederösterreichischen Alpen im Herbst
um 0,5 '', im Winter um 0,3" C. Die mittlere
Jahrestemperatur nimmt von 8,1" im oberöster-
reichischen und 8,2" im niederösterreichischen
Donautal bei 200 m bis zu 4,5" C in looo m
Höhe ab; überhaupt unterscheiden sich die mitt-
leren Temperaturen für die verschiedenen Höhen-
stufen im Mühlviertel höchstens um 0,2" von jenen
des Waldviertels, so daß „das Waldviertel mit
Rücksicht auf die Wärmeverhältnisse als die natür-
liche Fortsetzung des Mühlviertels angesehen wer-
den" kann (11 a; 91. Vgl. auch die folgende
Tabelle). Die Niederschlagsmengen sind (im Ver-
hältnis zu den östlicheren Landschaften) nicht
gering ; sie nehmen im ganzen Gebiete von Westen
nach Osten ab (lOa; 97 u. lOb; 27). Die Nieder-
schlagsmengen des Passauer Waldes (80 — 97 cm)
steigern sich an den Südabhängen des Böhmer-
waldes bis über 100 cm, gehen dann in der
niedrigeren Senke der Aist bis unter 70 cm herab
und erheben sich wieder im höheren Grenzgebiet
zwischen Oberösterreich und Niederösterreich auf
80 bis 90 cm; daran schließt sich eine schmale,
nordsüdlich (quer über obersten Kamp und Weiten-
bach) verlaufende Zone mit 70 bis 80 cm ; bei-
nahe der ganze übrige Teil des Waldviertels hat
aber 55 bis 60 cm Niederschlag, also geringere
Mengen als irgend ein Teil des Mühlviertels, das
Becken von Hörn bleibt sogar unter 50 cm. Was
die Verteilung des Niederschlags auf die einzelnen
Monate betrifft, so fallt im Mühlviertel der meiste
Niederschlag im Juli, der wenigste im Januar,
Februar und November; im Waldviertel ist der
Juni am niederschlagsreichsten, Februar und No-
vember sind am niederschlagsärmsten, dann folgen
Dezember und Januar.
6.1) Die prähistorische Besiedlung unseres Ge-
bietes dürfte sich bloß auf seinen Ostrand (und
das Donautal) beschränkt haben, die keltischen
Bojer mögen von Norden her höchstens in einige
Tiefenfurchen wenig zahlreich vorgedrungen sein.
Germanische Markomannen und Quaden, die sich
von Böhmen und Mähren her auch über unser
ganzes Gebiet ausgebreitet haben werden, sind
seit Christi Geburt längs der Donau die Nach-
barn des römischen Imperiums; zwischen beiden
ergeben sich in diesen als Waldland doch ziem-
lich abgeschlossenen Gegenden kriegerische und
•) Hauptquellen i ; 33 ff. und 12; 5 ff.
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
357
Höhenstufe
Winter
Frühling
Sommer
Herbst Januar
Juli
Jahr
( Mühlviertel
400 m <
1 Waldviertel
—2,3
—2,1
7.2
7,1
16,5
16,5
7.5
7.7
—3,3
—3,1
17,3
17.3
7.2
7.3
( Mühlviertel
600 m <
( Waldviertel
—2,9
—2,8
6,1
6,0
15,4
15.4
6,7
6,8
—3,7
-3,6
l6,2
16,2
6.3
6,4
r Mühlviertel
800 m ^
\ Waldviertel
-3.5
—3.4
4.9
4,9
14.3
14.3
5.9
5,9
—4.1
—4.1
I5.I
15,'
5.4
5,4
( Mühlvierlel
1000 m '
1 Waldviertel
—4,1
—4.1
3.8
3,8
13,0
13.1
5,1
5,0
-4,5
—4,7
14,1
14,0
4.5
4.5
Mittlere Temperaturen im oberösterr. Mühlviertel und niederösterr. Waldviertel
in verschiedenen Seehöhen (in C ").
friedliche Beziehungen von wechselvollem Inhalte.
Auch die Völkerwanderungszeit (die Rugierherr-
schaft) läßt unser Waldland überwiegend unbe-
rührt. Slawen sind seit dem Ende des 6. oder An-
fang des 7. Jahrhunderts von Südosten her in unser
Gebiet eingedrungen , den fruchtbaren Boden an
Waldrand und in Senken bevorzugend; nur der
Westen (westliches Mühlviertel) und der Norden
bleiben von slawischen Siedlungen so gut wie frei
(Ortsnamen bei i; 34 f. und 12 ; 88 ff.). Die spätere
Karolingerzeit ändert hier nicht viel; die bayrische
und fränkische Kolonisation greift nördlich der
Donau über einen schmalen Streifen kaum hinaus,^)
das (freilich kurzlebige) Großmährische Reich hat
unsere Landschaften in seine Machtsphäre einbe-
zogen. So hat sich auch die vom 8. bis 10. Jahr-
hundert an einsetzende slawische Besiedlung aus
dem Norden ungestört vollziehen können, zu Ende
des 12. Jahrhunderts darf das böhmisch-niederöster-
reichische Grenzgebiet als nicht schlecht be-
siedeltes, freilich auf leichtere Böden beschränktes
Slawenland gelten; Straßendörfer sind im Wald-
viertel die typische Dorfform (12; 13 ff. und 22).
In dieses Slawenland, dessen Waldmassen aller-
dings völlig ungerodet und unbesiedelt bleiben,
dringt, nachdem die spärliche deutsche Koloni-
sation seit der Wende des 8. zum 9. Jahrhunderts
durch den Magyarensturm zu Anfang des 10. Jahr-
hunderts vernichtet worden war, von der 2. Hälfte
des 10. Jahrhunderts, außerhalb des engsten Donau-
tales wohl erst von looo an (12; 27), zunächst
im unmittelbaren Anschluß an bestehende Sied-
lungen langsam die (anfangs gewiß ebenfalls dünne)
deutsche Siedlungsschichte ein, im Mühlviertel
hauptsächlich von Süden, im Waldviertel von
Süden und Osten her (12 ; 26 f.).") Zu Ende des
') Über den allgemeinen Charakter dieser ersten schwachen
Karolingischen Kolonisation s. 12; 43 f.; ihre wesentliche Be-
deutung liegt darin, daß sie der späteren Kolonisation die
Wege vorgezeichnet hat.
'■') Weder das in seiner Expansionsrichtung doch wesent-
lich gegen Osten orientierte Böhmen verwendete besondere
Energie auf die Gewinnung des Waldviertels , ,,noch gab es
hier von österreichischer Seite eine Veranlassung zu einer
Grenzkolonisation in gleichem Maße wie gegen Ungarn"
(12; 53).
II. Jahrhunderts ist die von Passau (durch Ver-
gebung an Ministerialen) ausgehende Kolonisation
des westlichen Mühlviertels kaum viel über die
Donau hinaus fortgeschritten (l; 38 f.),') durch
das Donautal selbst ist schon im 10. Jahrhundert
hier wie im Waldviertler Anteil (12; 23) eine
größere Kolonisationswelle hindurchgegangen;-)
am Ausgang des 11. Jahrhunderts ist im Wald-
viertel schon ein etwa 20 km breiter Streifen
westlich vom Manhartsberg in den fruchtbareren,
klimatisch begünstigteren Teilen kolonisiert (i2; 20 f.
und 23 f.).^) Um die Mitte des 12. Jahrhunderts
ist man im Mühlviertel meist die Müsse aufwärts
nach Norden bis in Höhen von ungefähr 700 m
gekommen,*) nördlich einer im einzelnen recht
verschlungen verlaufenden Linie, die etwa südlich
von Rohrbach über Oberneukirchen, Zwettl (an
der Gr. Rotel), Freistadt, St. Oswald, Königs-
wiesen (an der Gr. Naarn) zur niederösterreichi-
schen Grenze zieht, bleibt über zwei Menschen-
alter bis ins 13. Jahrhundert hinein der große
»Nordwaldi ganz unberührt (i; 40 ff. und 52ff.).*)
') Im Westen der Gr. Mühl in den ehemals unter passau-
ischer Herrschaft stehenden Gebieten herrschen im allgemei-
nen als Siedlungstypus Weiler und kleine Dörfer (l; 57 f.),
als Hausform das Alpenhaus (l; 68f.).
^) Für diese älteste, vorzüglich dem zehnten Jahrhundert
angehörende, deutsche (sicher an die slawische anschließende)
Besiedlung ist in den Donauebenen des Mühlviertels (und im
Gallneukirchner Becken längs Aist und Gusen) die Anlage
geschlossener Orte (Haufendörfer) charakteristisch ; es sind das
die ,, niedrig gelegenen, mit fruchtbarem, tertiärem Boden geseg-
neten*' und leicht zugänglichen Gebiete (I ; 50) Die typische,
doch nicht alleinige Hausform ist hier der große Vierkant
(l; 67 ff.).
^) Den Verlauf der Waldgrenze im Waldviertel um 1100
erhält man im allgemeinen als Grenzlinie der Rodungs- Orts-
namen (Endungen -schlag und -reut); sie zieht von Drosen-
dorf südwärts bis Pernegg, weicht dem Horner Becken und
Gföhler Wald aus, geht erst westlich bis Allentsteig, dann un-
gefähr südwärts bis gegen Raxendorf bzw. Mühldorf im Spitzer
Graben, endlich westwärts parallel dem Donaulauf bis zur
oberösterreichischen Grenze (St. Oswald). ,,Aber noch im
12. Jahrhundert steht das Waldviertel der übrigen Ostmark
einigermaßen fremd gegenüber" (12; 2 1 u. 27).
*) Der (sehr weit gegen Süden reichende) Verlauf der
Nordwaldgrenze im 12. Jahrhundert auf Taf. 2 bei Hack el (l).
^) In den während der zweiten Besiedlungsperiode, haupt-
sächlich also im II. und 12., weniger im 13. Jahrhundert
358
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
Im Waldviertel hat sich die Kolonisation zwischen
iioo und II 50 gegen Westen und Norden vor-
geschoben; die neue Grenze zieht vom Ispertale
nach Norden gegen IVIartinsberg, zu den Quellen
der Gr. Krems, ihr ein Stück folgend und dann
genau gegen Norden bis Zwettl und von da weiter
bis gegen Vitis nahe der Thaya; von hier wieder
in nordöstlicher Richtung nach Weikertschlag an
der tschechoslowakischen Grenze (12 ; 28). So
ist im Mühlviertel dem folgenden Jahrhundert
mehr zu tun übrig geblieben als im Waldviertel.
Erfolgte hier noch in der zweiten Hälfte des 12.
Jahrhunderts die Kolonisierung in westnordwest-
licher Richtung gegen Weitra, bis zur Mitte des
13. Jahrhunderts dann in den beiden letzten Ge-
bieten nach Norden gegen Litschau und nach
Westsüdwesten gegen Gr. Gerungs hin (i2; 28),
so ist dort die Urbarmachung des ganzen Nord-
waldes bis an die Moldau und Maltsch ein Werk
erst des 1 3. Jahrhunderts, worauf die eine Rodung
bezeichnenden Ortsnamenendungen hindeuten. Gibt
es im Wald viertel schon nach 1250 kein größeres
zusammenhängendes Gebiet mehr, das unbesiedelt
wäre und auch kirchlicher Organisation entbehrt
hätte (12; 28), so ist im Mühlviertel erst Ende
des 13. Jahrhunderts die friedliche, die Slawen
aufsaugende Kolonisation im wesentlichen zum
Abschluß gebracht, Ende des 14.(1383) Jahrhunderts
gehört das ganze Mühlviertel im \A'esten gegen-
über Bayern, d. h. den Passauer Bischöfen (i ; 45)
bereits zu Österreich.') Was die Herkunft der
Kolonisten betrifft, so dürften es im Mühlviertel
zum größeren Teil Bayern , nur im äußersten
Westen, im Norden und Nordosten wie an der
Donau Franken gewesen sein.'-) Auch im Wald-
viertel gehörte zweifellos die Mehrzahl der Kolo-
nisten dem bayrischen Stamme an; doch scheint
auch hier sehr viel (12; 81 ff.) für eine nicht ge-
ringe fränkische Einwanderung im Gefolge des
fränkischen Kaiserhauses wie des fränkisch-baben-
bergischen Markgrafengeschlechtes zu sprechen.'')
kolonisierten Gebieten des Müblviertels, aber selbst in Teilen
des am spätesten besetzten Nordwaldes herrscht östlich der
Gr. Mühl (und südlich einer i ; i;l genau beschriebenen, im
allgemeinen mit der Nord waidgrenze übereinstimmenden Linie;
also in verhältnismäßig weiten Gegenden), vom Gallneukirchner
Becken abgesehen, die Einzelsiedlung, wohnt der größte Teil
der Bevölkerung in einzclstehenden Gehöften, die charakte-
ristische I lausform ist der kleine Vierkant (i ; 67 u. 69). In
den übrigen Nordwaldstrecken überwiegt wieder die auf die
Kolonisation des 13. Jahrhunderts zurückgehende dorfmäßige
Siedlung als Typus der, in der Regel auf -schlag endenden
Waldhufendörfer (i; 54 f.), die charakteristische Hausform ist
hier das sog. fränkische Haus (l ; 67 u. 69).
') Der Passauer Wald südlich der Donau war auch noch
später zwischen Bayern und Österreich geteilt und kam erst
1779 n>'' der Beendigung des bayrischen Erbfolgekrieges an
Österreich.
^) Ortsnamen: bayrisch die Endungen auf -ing, -gschwend,
-schlag, -reit, fränkisch die Endungen auf -reut, -heim, -hausen,
Zusanimenselzungcn mit franken- ; auch dialektisch ergeben
sich Unterschiede (i; 46f.).
') A. Haberlandt (13; 2) weist darauf hin, daß sich
die fränkische Mundart in Niederösterreich, besonders im
Waldviertel, rein erhalten habe. Kr betont (13; 5), daß die
(hier wohl planmäßig von den Ministerialen für ihre Grün-
Als ganzes genommen ist die Kolonisation
im Mühlviertel ein rein wirtschaftlicher Vorgang
gewesen, die politische Grenze wird nicht zielbe-
wußt festgelegt, sie schwankt gegen Böhmen in
ihrem Verlaufe und in ihrer zeitlichen Fixierung
(Besitzungen beiderseits der Landesgrenze in den-
selben Händen 1).') Dagegen folgt im Waldviertel,
das einerseits eine Mittelstellung einnimmt zwischen
jenen Gebieten, in denen die Kolonisation ausge-
sprochen militärischen Charakter trägt wie im
östlichen Niederösterreich und denen, wo sie zu-
nächst nur eine wirtschaftliche Expansionsbe-
wegung war wie im Mühlviertel (12 ; 81), anderer-
seits den Übergang darstellt von einer „rein grund-
herrlichen Expansion zur planmäßigen norddeut-
schen Kolonisation" (12; 72),-) der wirtschaftlichen
Erschließung sogleich die politische Grenzbildung
(die Landesgrenze ist im großen und ganzen auch
Guts- und Ortsnamengrenze).*) Daß die wirt-
schaftliche Ausbreitung überdies im Mühl- gegen-
über dem Waldviertel bloß etwa halb soweit nach
Norden sich vorschob, mag sich daraus erklären,
daß im niederösterreichischen Marklande viel
,, größere wirtschaftliche und vor allem politische
Energien" zu Gebote standen (i2; 18 f.). Es ist
wenigstens für das Waldviertel wahrscheinlich, daß
gleich die erste Kolonisation ziemlich schnell den
Ausbau des ganzen Landes in Angriff nahm; die
Mehrzahl der heute bestehenden Ortschaften wer-
den schon bis zum Abschluß der ersten Koloni-
sationsperiode um 1250 in den Urkunden genannt.
7. Unser Massivanteil ist wenig dicht bevölkert
und eigentlich arm an größeren Orten. Dies
hängt vor allem mit der wirtschaftlichen Struktur
des Gebietes zusammen, die ja wiederum das
Ergebnis mannigfacher Umstände ist: der Acker-
dungen übernommenen: 12; 70) Straßendörfer in weitgehen-
dem Maße den Bodenformen angepaßt sind, indem ,,die
Häuserreihen eng den unregelmäßigen Talfurchen folgen"; im
oberösterreichischen Grenzgebiet herrschen als Siedlungsform
der Kolonisation des 13. Jahrhunderts ,, wegen der ungünstigeren
wirtschaftlichen Verhältnisse Dörfer mit besser bestifteten und
darum weiter auseinandergebauten Gehöften vor (Waldhufen-
dörfer)". Nebenbei bemerkt sei, daß im Waldviertel als Ge-
höfteform vielfach der Dreiseithof zu linden ist.
') Die Festlegung der Grenze gegen Böhmen erfolgte
im einzelnen wahrscheinlich ,,ganz allmählich durch Konsoli-
dierung und Abgrenzung der verschiedenen Gutsbezirke"; da-
her fehlte es auch während des ganzen Mittelalters nicht an
Grenzstreitigkeiten (12; 19). Als nach 1526 Böhmen mit
Österreich vereinigt wurde, „geriet auch der Grenzverlauf
vielfach in Vergessenheit; so wurde z. B. erst Ende des
18. Jahrhunderts die Grenze des Mühlviertels gegen Böhmen
neu bestimmt" (1; 44).
■^) Grundherren, Kitter und Ministerialen besitzen einen
weitgehenden Anteil an der Organisation der Kolonisierung,
doch kommt es zu keiner Verselbständigung der Masse der
Kolonisten gegenüber den Grundherren (12; 81). Über Vor-
gang und Organisation der Kolonisierung bis zum Ende des
ersten Drittels des II. Jahrhunderts im allgemeinen und als
Voraussetzung der Besiedlungsgeschichte des Waldviertels:
einerseits 12; 42 tT. und 461!"., andererseits mit geändertem
Charakter seit ca. 1030 12; 49 fl'.
'■'} Die Grenze des Waldviertels gegen Böhmen wird (bis
auf einen kleinen Rest in der Gegend von Raabs zu Ende
des 13. Jahrhunderts — 12S2 — ) bereits zu Ende des 12. Jahr-
hunderts (II 79, 1185) festgelegt {12; 16 f.).
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
359
bau leidet unter der Rauheit des Klimas und
Kargheit des Bodens, große Flächen nimmt daher
noch immer der Wald ein, die Entwicklung der
Großindustrie ist relativ gering, das Mühlviertel
besitzt keine einzige westöstliche Eisenbahnlinie.
Die mittlere Dichte des ganzen Mühlviertels mag
heute rund 67 betragen, doch bleibt mehr Land
darunter als darüber; nur das Gallneukirchner
Becken und die Mühlsenke sind stärker bevölkert,
unter dem Mittel halten sich weite Waldstrecken
(Böhmerwaldausläufer, Freiwald, an der nieder-
österreichischen Grenze der Weinsberger Wald)
und die Gebiete der Einzelsiedlung. Noch dünner
besiedelt (unter 58 im Mittel) ist das Waldviertel
und auch hier bewirken nur einige wenige besser
bevölkerte Teile — die Industriegebiete im Nord-
westen haben stellenweise eine Dichte von über
90 — diese (geringe) Höhe, große Flächen wie
die Ostabdachung des Freiwaldes und Weinsberger
Waldes erreichen nicht einmal sie. Die meist die
allzu engen Täler meidenden, auf den Höhen er-
bauten Märkte des Mühlviertels, die das Gebiet
der Einzelsiedlung durchsetzen, sind klein geblie-
ben, da sie nur ganz lokale Bedürfnisse zu be-
friedigen haben; selten haben sie mehr als 600
Einwohner; das Gebiet der Einzelsiedlung aber,
historisch als gutsherrliche Anlage verständlich,
doch nicht notwendig durch die Landesnatur be-
dingt, nimmt verhältnismäßig große Flächen ein.
Auch im Waldviertel hat die größere Zahl der
Ortschaften bloß örtliche Bedeutung als Markt-
mittelpunkte eines kleineren Verkehrsgebietes.
Übersicht über die wichtigste Literatur.
I. A. Hackel, Die Besiedlungsverhältnisse des ober-
österreichischen Mühlviertels in ihrer Abhängigkeit von natür-
lichen und geschichtlichen Bedingungen (== Forschungen zur
deutschen Landes- und Volkskunde, XlV/i). Stuttgart 1912.
I a. M. Brust, Die Exkursion des geographischen In-
stituts der Wiener Universität ins österr. Alpenvorland und
Donautal (= Geogr. Jahresbericht aus Österreich , Bd. IV,
1906, S. 86—118).
2. L. Puffer, Physiogeographische Studien aus dem
Waldviertel (= Monatsblätter des Vereins für Landeskunde
von Niederösterreich, VI. Jahrg., Nr. 16, April 1907, S. 241 fl.).
3. Derselbe, Der Böhmerwald und sein Verhältnis zur
innerböhmischen Rumpffläche (= Geographischer Jahresbericht
aus Österreich, Bd. VIII, 1910, S. 113 — 170).
4. A. Grund, Die Pfingstexkursion der Prager Geo-
graphen ins niederösterreichische Waldviertel (= ebenda,
Bd. .XI, 1915, S. 166— iSi).
5. M. Michl, Bericht über die Exkursion ins Waldviertel
1912 (= ebenda, Bd. X, 1912, S. 2l6ff.).
6. J. Mayer, Niederösterreich, nach seinen Landschaften
geschildert (= 56. Jahresbericht der Staatsrealschule im 7. Wie-
ner Gemeindebezirke). Wien 1907.
7. G.Rusch, H.Vetters, Fr. Koenig, H. Pabisch,
Landeskunde von Niederösterreich. 3. Aufl., Wien (o. J.)
1908.
8. O. Lehmann, Bemerkungen zu Puffers .Ansichten
über die Formen des Böhmerwaldes {= Mitteilungen der
Geogr. Gesellschaft in Wien, 60. Bd., 1917, S. 4140.).
9. A. Sokol, Morphologie des Böhmerwaldes (= Peter-
manns Mitteilungen, 1916, S. 445 ff.).
10. a) Derselbe, Zur Beurteilung der Ansichten Puffers
über die Böhmerwaldformen und b) Erwiderung darauf durch
O. Lehmann (= Mitteilungen der Geogr. Ges. in Wien,
61. Bd., 191S, S. 290 ff.).
11. a) Th. Schwarz, Kliroatographie von Oberöster-
reich. Wien 1919. b)J. Hann, Klimatographie von Nieder-
österreich. Wien 1909.
12. Fr. Heilsberg, Geschichte der Kolonisation des
Waldviertels (:= Jahrbuch des Vereins für Landeskunde von
Niederösterreich, N. F. Bd. VI, 1907).
13. A. Haberlandt, Volkskunde von Niederösterreich
(= Heimatkunde von Niederösterreich, 12). Wien 1921.
14. Aufsätze von A. Strassacker über Landschaft und
Wirtschaft des Waldviertels, Fr. Biffl über Ortsnamen und
Hausformen des Waldviertels in »Studien zur Heimatkunde
von Niederösterreich«, herausgeg. von A. Becker, Wien 1910.
NB. Der oberösterreichische Anteil bedürfte noch einer
gründlichen Erforschung, hier mangelt es vollständig an neuerer
Literatur; die .Studie Grabers in Peterm. Mitteilungen Bd. 48
(1902) S. 121 ff. wurde nicht erwähnt, da ihre Ergebnisse stark
bestritten sind. Das Waldviertel wird in Kürze eine kleine
Monographie durch R. Rosenkranz (= Heimatkunde von
Niederöslerreich, Heft 2) erhalten.
Einzelberichte.
Taxiu, ein Alkaloid der Eibe.
Über die Giftstoffe der Eibe (Taxus baccata)
war bisher nur wenig bekannt. Nunmehr ist es
E. Winterstein und D. Jatrides gelungen,
ein definiertes Alkaloid, dem die Forscher den
Namen Tax in geben, zu isolieren.^) Die Rein-
darstellung des Stoffes unterliegt insofern gewissen
Schwierigkeiten, als die Menge in Form von Alka-
loid gebundenen Stickstoffs in den Blättern der
Eibe nur 0,04 "'„ beträgt. In den getrockneten
Nadeln des Baumes finden sich etwa 0,7 — 1,4 "/o
wahrscheinlich reinen Taxins.
Will man das Taxin aus den Nadeln in Frei-
heit setzen, so digeriert man mehrere Tage mit
I proz. Schwefelsäure bei einer Temperatur, die
') Zeitschr. f. pbysiolog. Chemie 117, S. 240, 1921.
15 Grad nicht übersteigen soll. Durch aufein-
anderfolgendes Alkalisieren mit Ammoniak, Aus-
äthern und Abdampfen des Äthers erhielt man
eine sirupöse Masse, die im Vakuum in eine rein
weiße, blättrige, leicht zerreibliche Substanz über-
ging, die das Taxin darstellt. Bisher gelang es
nicht, es in kristallinischen Zustand überzuführen.
Das Taxin ist duftlos, hat stark bitteren Ge-
schmack, ist unlöslich in Wasser und Petroläther,
dagegen leicht löslich in Säuren sowie in den
gebräuchlichen organischen Lösungsmitteln. Neben
den üblichen Alkaloidfällungen sind einige Farb-
reaktionen kennzeichnend: mit konz. Schwefel-
säure befeuchtet wird der Stoff tief veilfarben,
mit konz. Schwefelsäure und Kaliumbichromat
tritt ublaue Färbung auf Nimmt man konz.
Schwefelsäure und Phosphormolybdänsäure, so
erhält man eine grüne Farbe.
36o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
Wichtiger als diese mehr zur Analyse verwert-
baren Eigenschaften sind die Versuche Winter-
steins, etwas über die Konstitution des Stoffes
zu ermitteln. Durch Molekulargewichtsbestimmung
ist die empirische Formel Cg-HjjOjoN sicher ge-
stellt, die durch ein Pikrat und ein Pikrolonat
gestützt wird. Bei der Spaltung des Taxins mit
verdünnten Säuren entstehen neben anderen, nicht
näher erkannten Stoffen Zimt- und Essig-
säure. Im übrigen ließ sich wahrscheinlich
machen, daß der Stickstoff nicht einem hetero-
zyklischen System angehört.
Wichtig ist endlich die physiologische Unter-
suchung des neuen Stoffes. Das Taxin ist ein
spezifisches Herz glft. Intravenös einem Kaninchen
einverleibt, genügen 0,004 — 0,005 Si ^^ den Tod
herbeizuführen. Zunächst tritt beschleunigtes
Atmen, erhöhter Puls ein, dann verlangsamt sich
der Herzschlag, um schließlich in Diastole über-
zugehen, worauf der Tod unter Krämpfen und
Bluldrucksenkung eintritt. Die Erscheinungen
entsprechen mithin im wesentlichen den bei Eiben-
vergiftungen auch sonst beobachteten, so daß
man im Taxin das eigentliche Gift dieses Baumes
zu erblicken hat. H. Heller.
Znr Theorie der Substitutionsvorgänge.
Die Substitution, d. h. der Eintritt chemischer
Gruppen in Verbindungen unter Verdrängung von
einem oder mehreren Wasserstoffatomen, ist ein
wichtiges Mittel, von einer gegebenen Stamm-
substanz sich herleitende Abkömmlinge zu ge-
winnen. Bekanntlich wird beispielsweise dem
Benzol die Nitrogruppe — NO., leicht substituiert,
wenn Benzol mit Salpetersäure behandelt wird.
Über den feineren Verlauf dieser wie der meisten
Substitutionen ist man bisher allerdings keines-
wegs im Klaren. Gewiß scheint nur, daß einer
jeden Verdrängung von Wasserstoff eine An-
lagerung der verdrängenden Gruppe voraus-
geht. Welches aber die Bedingungen interatomarer
und intermolekularer Art sind, die zu einer An-
und nachheriger Einlagerung führen, ist noch
ein durchaus offenes Problem. 1899 hat Thiele
die ersten experimentell gestützten Ansichten über
die Frage ausgesprochen. Nach Thiele ist uns
die Wirkungsweise der sog. „doppelten", unge-
sättigten Bindungen verständlich geworden. Die
vier nach den Ecken eines Tetraeders strebenden
Valenzeinheiten des Kohlenstoffatoms suchen nach
Möglichkeit diese symmetrische Anordnung bei-
zubehalten. Werden nun zwei von ihnen mit
zwei anderen eines zweiten Kohlenstoffatoms ver-
einigt, so daß wir das Bild einer „doppelten"
Bindung gewinnen, so entsteht mithin eine
Spannung. Baeyer, der diese Vorstellung
schuf, deutet damit die leichte Lösbarkeit der
doppelten, also scheinbar um so festeren Bindungen.
Thiele ging weiter, indem er die Störung des
Valenzgleichgewichtes allgemein für die Leichtig-
keit von Umsetzungen überhaupt, von Substitu-
tionen im besondern verantwortlich machte. Ins-
besondere studierte er auch den Einfluß benach-
barter Gruppen auf die Substitutionsfähigkeit.
Es ist bekannt, daß dem Phenol, C^HsOH,
eine ganz bedeutend größere Reaktionsfähigkeit
zukommt als seiner Stammsubstanz, dem Benzol
CßHg. Obwohl also scheinbar der Kohlenstoff-
sechsring des Benzols erhalten geblieben ist und
lediglich eines seiner Wasserstoffatome durch eine
Hydroxylgruppe ersetzt ist, ist die Willigkeit des
Ringes zu weiteren Substitutionen ganz bedeutend
gesteigert. Thiele deutete das durch die An-
nahme, das Phenol enthalte gar keine OHGruppe,
sondern bilde eine tautomere P"orm mit einer
CO-Gruppe einerseits, einer CHjGruppe anderer-
seits, im Sinne der Formel
Man hätte also einen Chinon ähnlichen Stoff mit
der dieser Verbindungsklasse eigenen hohen
Reaktionsfähigkeit vor sich. Diese Auffassung
wie verwandte Deutungen sind durch das Experi-
ment widerlegt worden. In einer wichtigen
Untersuchung von K. H. Meyer und L e n h a r d t')
wurde nämlich nachgewiesen, daß Phenoläther,
z. B. C,;Hr,0-C.,H5, fast eben so reaktionsfähig
sind wie das Phenol selbst. Da in diesen
Stoffen laut Formel
C— O-QHs
/
weder eine CO-Gruppe, noch eine chinonartige
Struktur vorliegen kann, so ist Thiel es Theorie
unhaltbar. Meyer formulierte stattdessen eine
auch durch anderweitige Befunde gestützte Theorie.
Aus dem F"ormelbild des Phenoläthers ist ersicht-
lich, daß, wenn man die Kekulesche Schreib-
weise des Benzolrings anerkennt, an dem sub-
stituierten C-Atom eine Doppelbindung und eine
— 0-C.,H5 Gruppe sitzen. Es zeigte sich nun,
daß ganz allgemein Doppelbindungen in den ver-
schiedenartigsten Kohlenstoffsystemen immer dann
eine besonders hohe Reaktionsfähigkeit besitzen,
wenn in ihrer unmittelbaren Nähe eine OH Gruppe,
Amino- oder Dimethylaminogruppe sich befinden.
Diese Gruppen „aktivieren" die ohnehin nicht
eben stabile Bindung, die so zur „aktiven
Doppelbindung" wird. Auch das Phenol
gehört zu der großen Stoffkiasse, die jener aktiven
Doppelbindung teilhaftig ist. Hieraus erklärt sich,
wenigstens in erster Annäherung, seine unver-
hältnismäßig hohe Reaktionsfähigkeit.
Um die Brauchbarkeit dieser Theorie zu prüfen,
handelt es sich um die Feststellung der Eigen-
') Annalen d. Chemie 398, S. 66, 19 13.
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
361
Schäften einfachster Verbindungen, die jene
Bindungsverhältnisse aufweisen. Denn in ihnen
muß die aktive Doppelbindung vorherrschend
wirksam sein, der Molekülrest dagegen in den
Hintergrund treten. Ein solch einfaches Beispiel
zu geben, ist K. H. Meyer und H. Hop ff*)
neuerdings gelungen. Sie stellten das (bisher un-
bekannte) Dimethyl-vinyl-amin von der
Formel
CH, = CH • N(CH3)3
dar. Dieses Amin stellt eine leicht bewegliche
Flüssigkeit von äußerst hoher Reaktionsfähigkeit
dar, wie es die Theorie erwarten ließ. Schon
nach wenigen Stunden ist der Stoff polymerisiert.
Er addiert leicht Brom und läßt sich mit Nitra-
nilin sofort in einen Azokörper überführen.
Während also das jenem Stoff zugrundeliegende
Äthylen- CH., = CH.> von vergleichsweise träger
Umsetzungsfahigkeit ist, wird die in ihm ent-
haltene Doppelbindung durch den angefügten Rest
bedeutend „aktiviert", und es entsteht ein Stoff,
der dem für die Azoverbindungen hochwichtigen,
weil leicht kuppelnden Dimethyl-anilin völlig
zur Seite gestellt werden kann.
Die Doppelbindung, gleich in welcher Um-
gebung sie sich befindet, ist mithin zu den Um- '
Setzungen befähigt, die im allgemeinen als für
Phenole, Anilin usw. kennzeichnend gelten, in
allen Fällen, in denen sie durch unmittelbar be-
nachbarte aktivierende Gruppen hinreichend un-
gesättigt gemacht ist. Umgekehrt darf man die
leichte Substitutionsfähigkeit des Phenols der in
ihm gegebenen aktiven Doppelbindung zuschrei-
ben. Der Substitution geht eine Addition an der
aktivierten Doppelbindung voraus!-) Die nahe-
liegende Folgerung ist, daß Substituenten an einer
aktivierten Doppelbindung besonders fest haften
müssen. In der Tat ist dem so. Meyer kann
zeigen, daß beispielsweise Brom am Benzolring
um so fester sitzt, d. h. um so schwerer abge-
spalten wird, je leichter es sich ursprünglich ad-
dierte. *) Noch nicht ganz geklärt erscheint ledig-
lich der Einfluß aktivierender Gruppen auf die
Molekularrefraktion. *)
Bisher galt die Regel, daß aromatische Stoffe
substituieren, Fettverbindungen dagegen ad-
dieren. Durch die Kuppelung von M esi ty len,
also einem reinen Benzolkohlenwasserstoff, zu
einem Azokörper ist Meyer endlich auch
der Nachweis gelungen, daß selbst jener auf-
fallende Gegensatz im Verhalten der beiden
großen Klassen der organischen Verbindungen
verschwindet, wenn durch „Aktivieren" im oben
erläuterten Sinne für hinreichende Beweglichkeit
der Bindungen im Benzolring gesorgt ist. ^) Als
Aktivatoren haben im Falle des Mesitylens die
') Ber. d. D. Chem. Gesellsch. 54, S. 2274, 1921.
^) Ebenda 54, S. 2265, 1921.
') Ebenda S. 2269.
') Vgl. hierzu v. Auwers, Ber. d. D. Chem. Gesellsch.
54, S. 3000. 1921.
») Ber. d. D. Chem. Gesellsch. 54, S. 2283, 1921.
Methylgruppen zu gelten, — gewiß ein be-
merkenswertes Ergebnis. Es scheint geeignet, die
von H. Kauffmann betonte Wirkung der
„Häufung" von Gruppen auf den Gesamtcharakter
eines Stoffes verständlich und in erster Annähe-
rung erklärlich zu machen. ') H. Heller.
Die Desensibilisierung des Bronisilbers.
Im Jahre 1873 entdeckte Herm. Vogel die
sog. „optischen Sensibilisatoren". Wie ihr Name
zum Ausdruck bringt, sind dies Stoffe, die optisch
empfindlich machen, die insbesondere die Unemp-
findlichkeit der photographischen Bromsilberplatte
gegen die Strahlen großer Wellenlänge (roter bis
grüner Teil des Spektrums) aufheben. Die Emp-
findlichkeit der Platte gegen Tageslicht, d. h.
Licht aller Wellenlängen wurde durch solche
Sensibilisatoren nicht gesteigert, wohl aber war
es möglich, wie jedem Lichtbildner bekannt ist,
die Wirkung roter, kreßgefärbter und verwandter
Gegenstände auf die Platte zu erhöhen. Die
Photographie in natürlichen Farben beruht zum
wesentlichen Teil auf den optischen Sensibili-
satoren.
Die umgekehrte Wirkung, eine Desensi-
bilisierung des Silberbromids, hat man auf-
fallenderweise nie auch nur aus theoretischen Er-
wägungen bearbeitet; vermutlich deshalb, weil
der Lichtbildner begreiflicherweise stets nach
einer Erhöhung bzw. Verfeinerung der Empfind-
lichkeit der Platte strebte. Nun gibt es allerdings
einen Fall, in dem man die Empfindlichkeit jeder
Platte gern auf ein Mindestmaß herabgesetzt sähe,
— die Entwicklung des Bildes auf der belichteten
Platte. Naturgemäß muß, solange das empfind-
liche Silberbromid auch nur in Spuren in der
Schicht vorhanden ist, der Zutritt des Lichtes
auf ein Mindestmaß eingeschränkt werden. Die
zu diesem Behufe meistbenutzte Dunkelkammer
hat man seit einigen Jahren schon zu umgehen
versucht, es sei an die Verfahren von Ludwig,
Lumiere und von Freund erinnert. In der
Regel beruhen sie darauf, die Entwicklerflüssigkeit
mit einem roten Farbstoff anzufärben, der ähn-
lich wie das rote Glas der Lampe in der Dunkel-
kammer wirken sollte.
Erst in jüngster Zeit gelang es Lüppo-
C r a m e r, einen Entwicklungsprozeß auszuarbeiten,
der auf der Wirkung eines D esensibilisators
beruht und die Nachteile der erwähnten Verfahren
dadurch vermeidet, daß die Lichtempfindlichkeit
des Silberbromids an sich herabgesetzt wird. ')
Als Desensibilisatoren erwiesen sich die Oxyda-
tionsprodukte einiger Entwickler, in erster
Linie des Amidols. Unter ihrer Einwirkung
gelingt es, Entwicklungen bei ganz hellem
gelben Licht vorzunehmen. Der Umstand,
') Kauffmann, Beziehungen zwischen physikalischen
Eigenschaften und chemischer Konstitution. Stuttgart 1920.
") Zeitschr. f. angewandte Chemie 35, S. 69, 1922.
362
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
daß die derart wirkenden Stoffe der Konstitution
nach Farbstoffe sind, veranlaßte dann Lüppo-
Gramer, unter den in diese Gruppe fallenden
Verbindungen eine Reihe besonders wirksamer
auszuwählen, die eine bedeutende Schwächung
der Lichtempfindlichkeit des Silberbromids be-
wirken. Als bestgeeignet erwies sich das Pheno-
safranin, der einfachste Vertreter der Safranine
überhaupt. ^) Schon in äußerst geringer Menge
dem Entwicklerbade zugesetzt gestattet es, eine
Entwicklung bei gelbem Licht (Kerzenlicht!) vor-
zunehmen, wobei die Platte dem Bade zur An-
sicht entnommen und bis in die letzten Feinheiten
entwickelt werden kann.
Die hohe Bedeutung dieser Entdeckung, die
übrigens bereits praktisch mannigfach bestätigt
ist, liegt nicht allein in der Aussicht, nunmehr
auch panchromatische, also hochrotempfindliche
Platten leicht entwickeln zu können und auch im
übrigen die Entwicklung weit einfacher als bisher
auszugestalten, sondern ebenso auf theoretischem
Gebiet. Durch das Safraninverfahren ist der Be-
weis einer weitgehenden Herabsetzung der Emp-
findlichkeit des Silberbromids geliefert. So un-
klar, wie man sich, trotz der nach Hunderten
zählenden Arbeiten über die Theorie der Bild-
entstehung noch immer ist, so erscheint es doch
sicher, aus der Desensibilisation Rückschlüsse auf
die Lichtreaktionen des Bromsilbers im allgemeinen
ziehen zu dürfen. Einen Anfang in dieser Rich-
tung sind die Erwägungen von Lüppo-Cramer
selbst. Nach ihm wird das unter dem Einfluß
des Entwicklerlichtes photochemisch nascierende
Silber durch die Safranine alsbald oxydiert, kann
also zu Schleierbildungen keinen Anlaß geben.
Da sich Desensibilisation schon in oxydierten
Amidolentwicklern nachweisen läßt, so ist diese
Erklärung wahrscheinlich. Die Oxydationsprodukte
oxydieren ihrerseits wieder. Dem Safranin
kommt die Formel
/\/'\/\
NH,-
I ^Cl
zu. Der naheliegende Angriffspunkt der Oxyda-
tion sind offenbar die Amidogruppen. Ersetzte.
Lüppo-Cramcr diese stufenweise durch Sauer-
stoff oder Hydroxyl , so nahm die Desensibilisa-
tionsstärke ab, um schließlich im amidogruppen-
freien Safranol von der F'ormel
0-.
ganz aufzuhören. (Die Oxydation des Anilins zum
Chinon ist ein bekanntes einfacheres Beispiel für
die Leichtigkeit der Oxydation und folgenden
Desoxydation der Amidogruppe. Ref.)
H. Heller.
Der Kiefernspaiiiicr und seine Schmarotzer.
Die Vermehrung schädlicher Schmetterlinge
ist dadurch begrenzt , daß Schlupfwespen und
Raupenfliegen in den Raupen und Puppen
schmarotzen und um so häufiger auftreten, je
größer die Zahl der Schmetterlinge und Raupen
geworden ist. In dem Zoologischen Institut der
Universität in Posen hat Prof. Sitowski die
Parasiten des Kiefernspanners (Bupalus pini-
arius L.) studiert, der als Schädling in den Wäldern
der Tiefebene von Sandomierz massenhaft aufge-
treten war.*) Im Jahre 1918 wurden durch
Schlupfwespen über 72 '% der Kieferspannerpuppen
vernichtet (50 "/q durch Anomalon biguttatum
Grav., 12 "Iq durch Heteropelma calcator Wesm.,
10 "/o durch Ichneumon nigritarius Grav. und ver-
einzelte durch Ichneumon pachymerus Ratz.,
rufipes Gr., pallidifrons Gr. und albicinctus Gr.).
Massenhaft traten auch Raupenfliegen auf, die
ihre Eier in die Raupen legten, hauptsächlich
Lydella (Dexodes) nigripes Fall, und selten Car-
celia excisa Fall. Man findet die Made der Fliege
im 7. — 9. Segment der Raupe. Als der Kiefern-
spanner im Jahre 1916 massenhaft auftrat, und
mehrere Tausende von Hektaren des Waldes zer-
störte, waren nur wenige Raupen mit Parasiten
infiziert. Aber im folgenden Frühjahr fand Si-
towski die Raupenfliegenmaden schon in 25 "/(,
der Raupen und im September schon in 60 "/q.
Die Zahl der Kiefernspanner mußte also rasch
zurückgehen. Aber auch die Vermehrung der
Raupenfliegen hatte ihre natürliche Grenze. Denn
in den Maden der Raupenfliege trat als sekun-
därer Parasit eine kleine SchlupTwespe auf, welche
die F"liegenmaden im Innern der Raupe anzu-
stechen vermag (Mesochorus politus Grav.).
Abgesehen von den Parasiten aus der Klasse
der Insekten wirkte auch eine auf Protozoen be-
ruhende Epidemie (Polyederkrankheit) bei der
Vertilgung der Kiefernspannerraupen mit, und
auch diese nahm von Jahr zu Jahr an Ausdehnung zu.
Die ganze Untersuchung liefert ein neues Bei-
') Lüppo-Cramer, Neß-itiventwicklung bei hellem
I.icht (Safraninverfahren). Leipzig 1922, Liesegangs Verlag.
') Bulletin de l'Academio des sc. de Cracovie. Juillet 191S.
— Travaux de l'Univcrsitc de Poznan, Seclion d'agriculture
et de sylviculture 1922 (polnisch).
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
363
spiel zu der Lehre vom Kampf ums Dasein in
dem Sinne, daß der ungehemmten Vermehrung
einer Tierart meistens die Vermehrung ihrer
natürlichen Feinde entgegentritt.
H. E. Ziegler (Stuttgart).
Pflanzenreste aus Pfahlbauten.
Für die sorgsame Untersuchung einiger in
Pfahlbauten bei Schussenried (Württemberg) auf-
gefundenen Pflanzenreste sind wir G. Lindau^)
zu Dank verpflichtet. Dadurch erfahren die älte-
ren Angaben von O.Heer über die Pflanzen der
Pfahlbauten (in Mitteil. d. antiq. Gesellschaft zu
Zürich 1865) eine wertvolle Ergänzung. Es kann
jetzt als sicher gelten, daß schon zur Pfahlbauzeit
bei Schussenried Eichen, Kiefern, Aspen {Poptd/is
ircDuila L.), Linden {Tilia plalypltyllos Scop.J und
Eschen vorkamen. Von menschlichen Nährpflan-
zen konnten festgestellt werden: Weizen {Triti-
cum fenax A. et Gr. var. ridgarc (Vill.) A. et
Gr.), Gerste (Hordeum polysfi'cliinii Hall. var.
hexasticJwn Doli.), Himbeere und Haselnuß {Cory-
lus avcllana L. f. oblonga G. Andr.). Vielleicht
wurden auch noch einige Knötericharten {Poly-
goinim coiivulv/iliis L. und F. mite Schrank) an-
gebaut. Stcllaria media, Triticum repeiis L. und
Atriplex hastatum L. müssen auch damals schon
verbreitete Unkräuter gewesen sein. Zur Her-
stellung von Matten wurde Aira caespitosa L.,
die Rasenschmiele verwendet, deren Blätter an
den stark vorspringenden, sehr rauhen Nerven
leicht kenntlich sind. Außerdem konnten noch
zwei Sumpfmoose {Drepaiiocladiis lycopodioides
und Calliergü)! cordifolium) ermittelt werden, die
aus Pfahlbauten bisher noch unbekannt waren.
E. Schalow (Breslau).
Di- und Triphenylblei.
Die Verbindungen der Metalle mit organischen
Gruppen sind in mehrfacher Hinsicht von Bedeu-
tung. Einesteils gestatten sie infolge der eindeu-
tigen Wertigkeitsverhältnisse bei organischen
Resten (wie Methyl-, Phenyl- und anderen Resten)
eine Bestimmung der ausgezeichneten Wertigkeits-
stufen der Metalle selbst. Andererseits ermög-
lichen sie einen Vergleich mit solchen Verbin-
dungen, in denen das Metall durch Kohlenstofi"
vertreten ist, also mit rein organischen Verbin-
dungen. Die so gewonnenen Parallelen lassen
ihrerseits Rückschlüsse auf die Natur des Kohlen-
stoffs hinsichtlich seiner Stellung im periodischen
System zu. Neben dem Silizium, dem dem
Kohlenstoff nächst verwandten Element, ist das
Blei zu derartigen vergleichenden Studien gern
herangezogen worden. Aus der Existenz des
Tetraphenylbleis, eines leicht zu erhaltenden,
') Vgl. G. Lindau, Das Pfahldorf Riedschachen bei
Schussenried und ähnliche Lokalitäten. Verhandl. bot. Ver.
Prov. Brandenb. 63. Jahrg. 1920/21.
recht beständigen Stoffes, ließ sich der bündige
Beweis für die Vi er Wertigkeit des Bleis herleiten.
Aus den anorganischen Verbindungen des Bleis
läßt sich nun folgern, daß die Stufe der Zwei-
wertigkeit dieses Metalls die beständigere ist.
Nicht so bei den organischen Verbindungen des
Bleis. In ihnen zeigt sich vielmehr ein Bestreben,
gerade die vierwertige Stufe zu gewinnen. Da-
neben aber tritt auch die anorganisch bisher
nicht festgestellte drei wertige Form des Bleis
auf.
1 9 1 9 zuerst beschrieb Erich Krause') einige
Verbindungen, die sich vom dreiwertigen Blei
herleiten. Neuerdings gelang es ihm, in Gemein-
schaft mit G. Reißaus, unter anderem das be-
sonders interessante Triphenylblei darzu-
stellen. '-) Dieser Stoff von der Formel Pb(C8H5)3
läßt sich darstellen aus Phenylmagnesiumbromid
und Blei(lI)chlorid. ^) Er steUt (mit i Molekül
Kristallbenzol) gut kristallisierende, diamant-
glänzende Rhomboeder dar, die an der Luft ver-
wittern, ohne sich zu zersetzen. Seine
Lösungen sind blaßgelb gefärbt; die Farbe ver-
stärkt sich beim Erhitzen und geht beim Ab-
kühlen wieder zurück. Diese Erscheinungen
deuten darauf hin, daß im Triphenylblei das Me-
tall einen nicht völlig „gesättigten" Bindungs-
zustand hat, sondern offenbar freie Valenzbeträge
aufweist. Damit tritt der Stoff in unmittelbare
Parallele zum Triphenylmethy 1 C(QH5)3, in
dem der Kohlenstoff die Stelle des Bleis ein-
nimmt. Ebenso wie der hier dreiwertig anzu-
sprechende Kohlenstoff bestrebt ist, in den Zu-
stand der gesättigten Vierwertigkeit überzugehen,
so strebt das Blei den vierwertigen Verbindungs-
zustand an : schon beim Erhitzen geht das Tri-
phenylblei in Bleitetra phenyl über. Der un-
gesättigte Charakter des Stoffes kommt auch in
einer sehr willigen Addition von Jod zum Ausdruck.
Der Vergleich des Bleis mit dem in der glei-
chen Gruppe des periodischen Systems stehenden
Kohlenstoff zeigt mithin weitgehende Analogie.
Nicht so der des Bleis in Kohlenstoff bindung
mit Blei in anorganischer Verkettung! In dieser
wird, wie erwähnt, die Zwei Wertigkeit bevorzugt,
d. h. die gesamten Valenzbeträge des Bleiatoms
drängen sich zu zwei ausgesprochenen Kraftfeldern
zusammen. Dem Kohlenstoff gegenüber lockern
sich diese Felder: die Vierwertigkeit wird nicht
nur leicht erreicht, sondern bevorzugt, so daß
niedrigere Wertigkeitsstufen gelockerte Kraftfelder
enthalten, also minder gesättigte Verbindungen
von entsprechender Farbigkeit sind. Dies ist
mehr noch als am Triphenylblei zu erkennen
am Diphenylblei, dessen Auffindung und Eigen-
schaften Krause in der gleichen IWitteilung be-
schreibt.
") Ber. d. D. Chem. Gescllsch. 52, S. 2165, 1919.
") Ebenda Bd. 55, S. S8S, 1922.
^) Über diese Schreibweise vgl. „Zum Nomenklaturpro-
blem in der organischen Chemie" v. Verf., Naturw. Wochen-
schrift N. F. Bd. XIX, S. 257.
364
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
Diphenylblei stellt ein blutrotes Pulver
dar, dessen Lösungen die gleiche Farbe aufweisen.
An der Luft ist es außerordentlich unbeständig,
auch unter den meisten anderen Bedingungen
zersetzt es sich mit Leichtigkeit. So verbindet
es sich sofort mit Jod, reduziert augenblicklich
Silbernitratlösung usw. In Lösung befindet sich
Diphenylblei, laut Molekulargewichtsbestimmung,
in monomolekularer Form, also, da die rote Farbe
in festem Zustand erhalten bleibt, auch in diesem,
so daß man es wirklich mit einem Abkömmling
des zweiwertigen Bleis zu tun hat.
Die hier nur angedeuteten Eigenschaften einer
zweiwertigem Blei verketteten organischen
Verbindung, die übrigens an mehreren Homologen
wiederkehren, sagen über die Wertigkeitsverhält-
nisse also das Gegenteil dessen aus, was man aus
anorganischen Bleiverbindungen zu folgern ge-
wohnt ist. Der Widerspruch löst sich jedoch
sofort, wenn man bedenkt, daß im ersten Falle
der Kohlenstoff, im zweiten die sehr andersartigen
Nichtkohlenstoffelemente die Valenz des Bleis be-
anspruchen. Man erfährt aufs neue die Bestäti-
gung der Erkenntnis, daß die Wertigkeit eines
Elementes nicht eine diesem immanente Eigen-
schaft ist, die etwa aus der Anzahl der im äußer-
sten Ring befindlichen Elektronen gedeutet
werden könnte. Was wir ,Wertigkeit' nennen ist
die Resultante aus den Kraftfeldern aller dem
jeweiligen Zentralelement verbundenen Atome.
Wechsel der Wertigkeit ist also nichts Auf-
fallendes , sondern notwendig. Der Umstand,
daß neben den zwei- und den vi er wertigen
Zustand nun auch der vergleichsweise recht be-
ständige dreiwertige Zustand des Bleis (IV.
Gruppe des periodischen Systems!) tritt, beweist,
daß die Vorstellung der Valenz als gerichteter
Einzelkraft in höchstem Grade unzulänglich ge-
worden ist. Auch der Versuch , ihr im Atom-
modell von Rutherford und Bohr eine feste
Grundlage zu geben , ändert an dieser Sachlage
nichts.
(Berichterstatter betont, daß die aus den Be-
funden Krauses gefolgerten Betrachtungen über
Wertigkeit und Kraftfeldbelastung in allem seine
persönliche Auffassung sind. In der Krause-
schen Arbeit fehlen derartige Folgerungen gänz-
lich.) H. Heller.
Bticherbesprechunsen.
Plate, S., Fauna et anatomia ceylanica.
Zoologische Ergebnisse einer Ceylonreise, aus-
geführt mit Unterstützung der Ritterstiftung
1913/14. Bd. L 76 Abb. und 29 Tafeln. 8".
364 S. Jena, G. Fischer.
Die in der Jenaischen Zeitschrift zur Veröffent-
lichung gelangenden Untersuchungen an den zoo-
logischen Ceylonsammlungen Pia t es gelangen in
dem Werk „Fauna et anatomia ceylanica" zu-
sammengefaßt zur Herausgabe, welches somit ein
Seitenstück zu Plates „Fauna chilensis" (in den
Supplementbänden der Zoolog. Jahrbücher) dar-
stellt. Namentlich wer sich mit der ceylonischen
Tierwelt beschäftigt, wird es begrüßen, daß somit
diese Arbeiten nicht verstreut werden, sondern
die wichtige zoologische Ceylonliteratur um ein
neuzeitliches Werk vermehrt wird. Der erste
Band liegt soeben vor. Er enthält folgende Ar-
beiten: Zunächst drei von Plate, über welche
schon während des Krieges an dieser Stelle be-
richtet wurde : „Über zwei ceylonische Temno-
cephaliden", „Übersicht über biologische Studien
auf Ceylon" und ,,Die rudimentären Hinterflügel
von Phyllium pulchrifolium Serv. $". F"erner zwei
Molluskenarbeiten: Ch. Kretzschmar, „Das
Nervensysten und osphradiumartige Sinnesorgan der
Cyclophoriden" und E. Schneider, „Das Darm-
system von Cyclophorus ceylanicus". Ferner :
I'". Prinzhorn, „Die Haut und die Rückbildung
der Haare beim Nackthunde". Diese Unter-
suchung beruht auf einem von Plate aus Ceylon
lebend mitgebrachten Nackthund und seiner mit
normalen Hunden zu Vererbungsstudien ge-
züchteten Nachkommenschaft; sie beschäftigt sich
mit der Histologie des Haarrudiments und findet,
daß die zur Anlage gelangenden Haarbälge sich
regelmäßig mit einem Hornlamellenpfropf anfüllen,
der die weitere Entwicklung des Haares hindert;
Vergleiche zeigen, daß auch die als Anpassung
eingetretene Haarrudimentation bei Zetazeen und
Sirenen sowie an den Labia minora des Menschen
oft auf einer solchen Einwucherung des Stratum
corneum der Epidermis in primitiv gebliebene
Haarbälge beruht. — R. Vogel bringt „Be-
merkungen zur Topographie und Anatomie der
Leuchtorgane von Luciola sinensis", endlich
F. Preiß eine Arbeit „Über Sinnesorgane in der
Haut einiger Agamiden". Die Befunde an diesen
Eidechsen tragen den Untertitel : „Zugleich ein
Beitrag zu r Phylogenie der Säugetier-
haare" und treten für die Maurersche Hypothese
der Ableitung des Säugetierhaars von Hautsinnes-
organen, wie sie bei Amphibieniarven vorhanden
sind, ein, welche Hypothese ja nicht nur berühmt,
sondern auch umstritten ist, aber dem Ref. stets
ziemlich gut begründet erschien. Man darf sagen,
sie wird durch die vorliegende Arbeit verbessert.
Was Preiß hinzufügt, ist etwa folgendes: Auch
die Reptilien haben, wie seit 1868 und späterhin
genauer bekannt ist, Hautsinnesorgane vom ähn-
lichem Bau wie die Amphibienlarven und wasser-
lebigen Urodelen, insbesondere gleichfalls mit
knospenförmig angeordneten, innervierten epi-
dermalen Zellen, einem Kranz von Deckzellen
und dem bekannten Kutiszapfen am Boden. Sie
liegen in den Schuppen, oft deren freiem Rand
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
36s
genähert, in Gruppen und durchbohren die dicke
Hornschicht, freilich nicht ganz, sondern ein
dünnes Häutchen verhornter Epidermiszellen zieht
deckelartig über sie hinweg und trägt ein gleich-
falls aus solchen Zellen bestehendes Tasthaar.
Nun findet sich, daß das Säugerhaar mit dem
Hautsinnesorgan der Reptilien mehr Ähnlichkeit
hat als mit jenem der Lurche. (Und das ist ge-
rade, was wir bei der heute wohl sichergestellten
Reptilien herkunft der Säugetiere fordern
müssen. Ref.) Da würde man zwar das eben
erwähnte Tasthaar zu sehr betonen, wenn man
es so verstände, als ob aus ihm, dem Besitz der
heutigen Eidechsen, das Säugetierhaar entstanden
wäre. Gewichtiger ist, daß jene Organe, wie ge-
sagt, in Gruppen und meist dem Hinterrand
der Schuppe genähert stehen : denn wo bei Säugern
neben den Haaren Schuppen vorkommen, wie es bei
Beuteltieren und niederen Plazentaliern am Schwanz
sehr häufig der Fall ist, da stehen jene gleichfalls
in Gruppen, nur hinter dem Rand der Schuppen,
unter ihm hervorragend , selten eins auf der
Schuppenspitze; das ist wohl mehr Ähnlichkeit
als Unterschied, zumal bei der indisch-ceylonischen
Baumagame Otocryptis ein starker Stachelkiel die
Organe bedeckt und bereits scheinbar auf die Unter-
seite bringt. Nicht minder gewichtig ist der durch-
führbare Vergleich zwischen dem Haarwechsel
und dem wiederholten Abwerfen und Erneuern der
Reptilienorgane, bei der Häutung nämlich: Beim
Beginn der Wachstumsperiode der Epidermis legt
sich unter der alten Sinnesknospe eine neue an;
das alte Organ bleibt mit dem jungen stets in
Verbindung, die verbindenden Zellen zwischen
beiden werden zum Sinneshaar des neuen Organs.
Das histologische Bild ähnelt dem der in der
Tiefe des Follikels erfolgenden Haarbildung na-
mentlich durch eine schützend die junge Knospe
überlagernde Schicht vom Stratum intermedium
der Epidermis. — Somit sind die Hauptbedenken,
die man gegen Maurer aussprach, behoben, und
es bleibt, daß die Haare aus Hautsinnesorganen
hervorgingen. Wahrscheinlich in dem Maße, wie
sie durch ihre eigene Verlängerung und gleich-
zeitige Ausbildung zum Wärmeschutz die
Schuppen verdeckten, ohne die Tastfunktion je
zu verlieren, machten sie die Schuppen entbehr-
lich und führten somit deren Verdrängung herbei.
V. Franz, Jena.
Kretschmer, Ernst, Medizinische Psycho-
logie. Ein Leitfaden für Studium und Praxis.
300 S. Leipzig 1922, Georg Thieme.
Der Verf. führt uns in die komplizierte Struktur
der menschlichen Seele an der Hand ihrer Ent-
wicklungsgeschichte ein und verwendet dazu am
ausgiebigsten die Völkerpsychologie. Hiermit
wird die Grundlage gegeben für das Erforschen
der Seele durch naturwissenschaftliche Methoden.
Wir werden dem Verf von vorneherein zugeben
müssen, daß er sich in den Kapiteln, die sich
mit der fertigen Seele des Kulturmenschen be-
fassen und die von den „seelischen Apparaten",
von den Trieben und Temperamenten, von den
Persönlichkeiten und Reaktionstypen handeln, von
diesen Gesichtspunkten in erfreulicher Weise hat
leiten lassen. Ob die Einteilung des Verf. die
richtige ist, ob hier und da schärfere Definitionen
am Platze wären, vermag der Ref. nicht zu ent-
scheiden. Aber eins ist außer Zweifel: das Buch
ist — alles in allem genommen — mit einer
solchen Klarheit und mit einer so hervorragenden
Sprachbeherrschung geschrieben, daß es ebenso
mit Genuß wie mit Erfolg gelesen werden kann.
Der Verf fesselt, weil er nicht schematisiert. Er
beherrscht aber den Gegenstand und die Dar-
stellungsmittel so weit, daß die führenden Ge-
danken sich nie verlieren. — Niemand wird durch
eine derartige Lektüre ein fertiger Psychologe
werden können. Wer aber überhaupt für psycho-
logische Probleme Interesse hat, wird Anregung
und Belehrung finden. Nun ist aber das Buch
im wesentlichen für Ärzte und Studierende der
Medizin geschrieben. Das findet schon seinen
Ausdruck darin, daß alle fließenden Übergänge
vom normalen psychischen Geschehen zu den
pathologischen Vorgängen in weitem Maße be-
rücksichtigt sind, oft so, daß die Grenzgebiete
ganz in den Vordergrund treten. Das wird den
ernstlich mit psychischen Problemen beschäftigten
Nichtmediziner nicht stören, werden uns doch
manche Regungen des Seelenlebens erst bei ihrer
Übertreibung ins Krankhafte ganz besonders gut
verständlich. Rein für den Mediziner bestimmt
sind aber die Schlußkapitel über Begutachtungen
vom psychologischen Standpunkt aus und über die
Psychotherapie. Hier lernen wir also die prak-
tische Verwertung der Methoden der Seelen-
forschung kennen, desgleichen ihre Anwendung
zur Behandlung „nervöser" Menschen. Diesen
ungemein wichtigen Kapiteln wird nur ein ver-
hältnismäßig kurzer Raum gewidmet, und das ist
ein gewisser Mangel. Ich möchte empfehlen, in
einer Neuauflage diese Kapitel etweder weiter
auszuarbeiten und dadurch das Buch für Mediziner
noch brauchbarer zu gestalten, oder ganz wegzu-
lassen, dafür manches Vorhergehende noch breiter
auszuführen und die Freudsche Psychoanalyse mit
hineinzunehmen. Dadurch entstände dann eine
für weitere Kreise rückhaltlos empfehlenswerte
Seelenlehre. Der Verf darf sich für eine solche
Aufgabe für besonders legitimiert halten.
Huebschmann (Leipzig).
Weiser, Dr. Martin, Das Atom. Eine gemein-
verständliche Darstellung. Dresden 1922, Emil
Pahl.
Hier ist wirklich einmal die gemeinverständ-
liche Darlegung eines dem Nichtfachmann sehr
schwer zugänglichen Gebietes gelungen 1 Von
vornherein wendet sich der Verf. verständiger-
weise nicht an Laien, sondern an Leute, denen
366
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
wenigstens die Grundvorstellungen der Chemie
keine begrifflichen Schwierigkeiten mehr machen.
Im übrigen geht es sofort in medias res, in ge-
radezu militärisch frischer Weise werden die Er-
gebnisse der neueren Strahlenforschung erläutert,
ihre Auswertung für die Atomstruktur in bündiger
Weise gezeigt, und den Beschluß bildet eine
knappe Erklärung des Phänomens der Stickstoff-
spaltung. So gut wie ni chts Überflüssiges findet
sich in dem 64 Seiten starken Heftchen I Gewiß
eine Leistung angesichts der Überfülle der hier
in Betracht kommenden Arbeiten, angesichts auch
des Wortschwalls, dessen sich die leider zahl-
reichen „populären" Darsteller dieses Gebietes zu
bedienen pflegen. Der Name Einstein wird in
dem Zusammenhange genannt, der ihm seinen
guten Klang verschaff"! hat; von dem, was heute
unter ,, Relativitätstheorie" mißverstanden wird, ist
also nicht die Rede. Logisch im Aufbau, äußerst
klar in der Darstellung, mit meist durchaus ver-
ständlichen Abbildungen (Ausnahme: S. 36) ver-
sehen stellt das Büchlein eine höchst erfrischende
Gabe dar, deren Studium angelegentlich empfohlen
werden kann allen denen, die sich mit Ergeb-
nissen vertraut machen wollen, deren experimen-
telle Grundlegung restlos zu verfolgen ihnen aus
bekannten Gründen versagt blieb.
Als gelinden Schönheitsfehler merkt der Be-
richterstatter die etwas zu ausführliche Darstellung
des Kapitels Röntgenröhren an. Auch eine Reihe
Druckfehler müssen getilgt werden, so S. 57 letzte
Zeile, S. 20 (Geschwindigkeit der Kanalstrahlen);
S. 14 ist versehentlich von einer „Abscheidung
von Jonen" an den Elektroden die Rede.
H. H.
Dahl, Fr., Grundlagen einer ökologi-
schen Tiergeographie. 113 Seiten. 8".
II Textabbildungen, 2 Karten. Jena 1921,
G. Fischer. Preis geh. 22 M., geb. 28 M.
Der Verf. behandelt die Tiergeographie unter
starker Betonung der Notwendigkeit, zur Erklärung
der feststellbaren Erscheinungen in jedem Falle
auch die ökologischen Verhältnisse viel mehr als
bisher in Betracht zu ziehen. Fehlt irgendwo
eine Tierart, so muß man wissen, ob sie dort
geeignete Lebensbedingungen — „Biotope", wie
Verf. sagt, und wir haben ein Fremdwort mehrl
— fände. Aranea (Epeira) silvicultrix findet sich
nur im Norden Europas, z. B. Finnland, und in
Nordbayern — weil sie flechtenbewachsene Krüppel-
kiefern auf feuchtem, aber nicht moorigem Boden
verlangt. „Eine gründliche ökologische Unter-
suchung wird vielleicht noch manches andere
sog. „Eiszeitrelikt" der Ebene als Truggebilde
entlarven." Folgt man den Ausführungen des
Verf. weiter, so findet man ungemein viel An-
regendes. Von Einzelheiten sei aus der Fülle
des Stoffes nur noch eins hervorgehoben : IVIada-
gaskar ist bekanntlich für jeden Tiergeographen
ein hochinteressantes Problem, und man neigt
heute für die Besiedelung dieser Insel mit Säuge-
tieren zur Annahme einer ehemaligen Land'ver-
bindung, vor allem mit dem nahen Afrika (da die
Lemuria - Hypothese sich wohl erledigt hat).
Dahl bekämpft jene Annahme zwar nicht —
aber er braucht sie selber gar nicht, sondern be-
tont, daß Hippopotamus (fossil) und Potamochoe-
rus von vornherein in näherer Beziehung zum
Wasser stehen und Centetidae, Lemuridae und
Viverridae Tiere sind, die entweder klein oder
Klettertiere sind, also verhältnismäßig leicht eine
kleine Wanderung auf natürlichen Flößen machen
konnten. Wir wollen nicht sagen, daß damit das
letzte Wort über die Herkunft der madagassischen
Säuger gesprochen wäre, doch verdient die
Betrachtung Aufmerksamkeit. — Die versprengte
Verbreitung von Papio wird damit erklärt, daß
sich vielleicht die Gattung Mandrill sich aus jener
heraus entwickelt und sie aus den von ihr selbst
beanspruchten Urwaldgebieten verdrängt habe.
Das ganze Buch Dahls ist mehr eine Pro-
grammschrift, reich an methodologischen und
allgemeinen Erörterungen und ungleich in der
Berücksichtigung der einzelnen Tiergruppen (Spin-
nen, Isopoden und Säugetiere bevorzugt), als
geradezu eine Tiergeographie. Eine solche wird
gleichwohl in den Schlußkapiteln im Überblick
geboten. Nur wer einigermaßen in die schweben-
den Probleme eingearbeitet ist, wird das Buch
mit größerem Gewinn lesen. Das heißt aber zu-
gleich, daß der Forscher an ihm kaum vorbei-
gehen kann. Betonen möchte ich noch, daß nicht
alles mit der ökologischen Betrachtung erklärt
werden kann und soll. Sondern sie muß mit der
geschichtlichen — die Verf. nicht außer acht
läßt, aber weniger betont — Hand in Hand gehen.
Diesem Ziele näher zu kommen, möge das Dahl-
sche Buch helfen. V. Franz.
Stern, E. , Die krankhaften Erscheinun-
gen des Seelenlebens. Allgemeine Psycho-
pathologie. 764. Band der Sammlung „Aus
Natur und Geisteswelt". Leipzig und Berlin
1921, B. G. Teubner.
Es ist fraglos ein Zeichen der Zeit, daß die
Literatur über psychologische Fragen einen großen
Aufschwung genommen hat. Das große Publikum
verlangt nach derartigen Büchern. Ich habe schon
an anderen Stellen die Frage aufgeworfen, ob das
nur mit dem Wissensdurst, mit dem Streben
nach Verinnerlichung zusammenhängt. Hier muß
man wohl sehr skeptisch sein. Denn ein großer
Teil dieses Strebens nach Erkenntnis der seelischen
Vorgänge kommt sicher erst auf einem Umwege
zustande, nämlich über den Hang nach dem
IMystischen. — Nun ist es aber keine Frage, daß,
da jene Bestrebungen nun einmal bestehen, es
am besten ist, ihnen in der richtigen Weise ent-
gegenzukommen, nützend und richtig belehrend.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man allen
den Autoren, die in gemeinverständlicher Weise
N. F. XXI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
367
über psychologische Dinge schreiben, nur dank-
bar sein, sofern sie die Sache vom streng wissen-
schaftlichen Standpunkt aus anfassen. Zu diesen
gehört auch der Verf. des vorliegenden Buches,
das sich mit den krankhaften Erscheinungen
des Seelenlebens beschäftigt. Dies ist ein be-
sonders heikles Gebiet. Bei Besprechung des
Buches von Ilberg über Geisteskrankheiten
(Nr. 6, 1920) wurde schon auf die Gefahren hin-
gewiesen, die dem empfindlichen Laien drohen,
wenn er selbst bei sich allerhand Symptome
wiederfinden wird, die in psychiatrischen Werken
als Zeichen der geistigen Erkrankungen genannt
werden. Solche Gefahren drohen natürlich auch
in diesem Büchlein. Aber wir müssen uns auch
damit abgeben und müssen uns fragen, ob es
trotzdem empfehlenswert ist. Diese Frage kann
anstandslos bejaht werden. Der Leser darf aber
nicht eine unterhaltende, spannende Lektüre er-
warten. Wir haben hier ein kleines Lehrbuch
vor uns, das studiert sein will. Der Verf. führt
uns über die Methoden der Psychopathologie und
die normalpsychologischen Grundbegriffe ganz
allmählich in die krankhaften Störungen des
Seelenlebens ein und behandelt diese dann durch-
aus lehrbuchmäßig, objektiv und ich glaube auch
in so verständlicher Weise, daß gebildete Laien
werden folgen können.
Huebschmann (Leipzig).
Brehm, Alfred, Kleine Schriften. 319 S. 8".
Mit einem Bildnis des Verfassers und 26 Abb.
auf 8 Tafeln. (Sammlung „Kultur und Welt".)
Leipzig 1921, Bibliographisches Institut. Ge-
bunden 37 M. (zuschlagfrei).
Jeder, der „Brehms Tierleben" auch nur von
ferne kennt, kann sich sagen, daß die uns hier
gebotene Sammlung etwas Gutes ist. Da handelt
sichs nicht um die Frage, inwieweit „Brehm"
wissenschaftlich sei oder inwieweit bloß populär
oder an Kritik nicht auf der Höhe der Jetztzeit
stehend, sondern einzig und allein um die unge-
suchte Größe der Naturschilderung des Mannes,
bei dem auch der Gelehrteste zuweilen gern in
die Lehre geht. Es werden hier vierundzwanzig
Bilder aus dem Tierleben geboten, meist aus alten
Jahrgängen 1859 bis 1871 der „Gartenlaube"
sowie aus einigen anderen Quellen seit 1855,
ferner zwölf afrikanische, nordeuropäische und
morgenländische „Reiseskizzen eines Naturforschers"
aus verschiedenen Quellen gleichen Alters. Be-
sonders ergreifend ist das letzte Stück, „Zwei
Weihnachtsabende". Eine wissenschaftliche Neu-
redigierung, wie sie das jetzt dreizehnbändige
„Tierleben" unter zur Straßens Leitung be-
kanntlich zu einem uns Heutigen wertvollen Nach-
schlagewerk gemacht hat, ist hier unterblieben,
sicher mit Recht. In der Ausstattung des Buches
mit Bildern aus jenem Werk hat eine sehr glück-
liche Hand gewaltet, denn da begegnen wir
wieder so manchem vortrefflichen Bild aus den
älteren „Tierleben"-Auflagen, das in der neuesten
durch ein Farbenbild oder — eine F"orderung der
Zeit — ein Lichtbild ersetzt wurde. Auch muß
man dankbar sein, daß als Titelbild Brehms
Bildnis aus dem Jahre 1869 wiedererscheint, das
in der Neuauflage des ,, Tierlebens" aus nicht zu
durchschauenden Gründen zwei weniger ein-
drucksvollen hat weichen müssen. Somit ist der
Buchschmuck auch von dem nicht zu gering zu
veranschlagenden Wert, den Einheitlichkeit ver-
leiht, da alle Bilder Holzschnitte und fast alle aus
der Zeit sind, wo die heute aussterbende Zunft
der Holzschneider noch etwas konnte. Da man
ästhetische Gesichtspunkte bei der Betrachtung
dieses Buches nicht zurückdrängen kann noch
soll, darf gesagt werden, daß die Bilder, mindestens
die nicht ganzseitigen, wohl noch besser im Text
zu bringen wären, da auch der alte „Brehm" zer-
legte Tafeln nicht kennt. Oder verlangt das
Publikum durchaus so und so viele ,, Tafeln" ? Papier
und Leineneinband sind von der vor dem Kriege
gewohnten Güte.
Nicht zum wenigsten empfiehlt sich das Buch
als Geschenkwerk für tierliebende Jugend. Aber
auch für Erwachsene kann es nicht veralten.
V. Franz, Jena.
Kaufmann, H. P. , Lehrbuch der Chemie
für Mediziner und Biologen. I. Anorga-
nischer Teil. 156 u. 41 S.
An diesem „Lehrbuch" wäre manches auszu-
setzen, wenn man eben den gebräuchlichen Maß-
stab dessen anlegt, was man gewöhnlich ein Lehr-
buch nennt. Das Buch ist kein Lehrbuch in die-
sem Sinne. Der Verf. bringt keine theoretische
Einleitung über die der Chemie eigenen Begriffe,
sondern tritt von vornherein in die Besprechung
der einzelnen chemischen Stoffe und ihrer Eigen-
schaften ein, bei deren Auswahl den Interessen
der Mediziner und Biologen überhaupt in weitem
Maße Rechnung getragen wird. Die wichtigsten
theoretischen Begriffe werden jeweils, wenn sie
zum Verständnis nicht mehr zu entbehren sind,
an passender Stelle besprochen. Der Verf. ist
sich selbst bewußt, daß bei dieser Methode dem
Lernenden anfänglich manches unklar bleiben
wird. Er glaubt aber, daß nach der Durch-
arbeitung des ganzen Buches die Ordnung und
Gesetzmäßigkeit der regellos anmutenden Vor-
gänge ersichtlich werden muß, und empfiehlt des-
wegen nach der ersten Durcharbeitung sein Buch
noch einmal durchzulesen. Ich kann dem bei-
pflichten und bin der Meinung, daß die Methode
des Verf. sich bewähren muß. Das Buch ist nicht
geeignet zum Einpauken für ein Examen, wohl
aber als Wegweiser für den Studierenden, der
außerdem Kolleg und Praktikum nicht versäumt.
Dadurch, daß zum Schluß noch eine sehr klare
Anleitung zur Ausführung einfacher Versuche ge-
geben ist, wird die Brauchbarkeit des Buches noch
erhöht. Hoffentlich folgt bald der zweite Teil,
368
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 26
der die organische Chemie enthalten soll. Wird
er so gut wie der erste, so wird man ein Werk
vor sich haben, das den Bedürfnissen der Medizin
oder andere biologische Fächer Studierenden voll
gerecht sein wird.
Huebschmann (Leipzig).
Mannheim, Prof. Dr. E., Pharmazeutische
Chemie. IV. Übungspräparate. 2. Auflage.
Berlin und Leipzig 192 1, Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger. 9 M.
Da erfahrungsgemäß der praktische Apotheker
so gut wie alle pharmazeutischen Präparate von
der Industrie bezieht, die sie in der Regel billiger
und besser herstellt als es im Kleinbetrieb mög-
lich ist, so ist eine Ausbildung im Präparieren
gerade solcher Stoffe nicht mehr zeitgemäß.
Die Mannigfaltigkeit an Wissenschaft, die vom
Pharmazeuten in seinen akademischen Prüfungen
gefordert wird, schließt es ebenfalls aus, daß er
sich die feinen Sonderkenntnisse selbst im Che-
mischen aneignet, die doch nun einmal nötig sind,
um in jeder Richtung befriedigendes Präparieren
zu gewährleisten! Versagt doch die Mehrzahl
der Pharmazeuten selbst in der Analyse, wie Be-
richterstatter immer wieder feststellen mußte.
Ein Buch wie das vorliegende erscheint ihm da-
rum grundsätzlich entbehrlich, in Anbetracht der
bereits vorhandenen reichen pharmazeutischen
Literatur.
Von diesen Erwägungen abgesehen, kann dem
Bändchen, das in der bekannten Ausstattung der
Sammlung Göschen erschien, das Zeugnis großer
Gewissenhaftigkeit in allen Angaben ausgestellt
werden. Die zu verarbeitenden Stoffmengen er-
fordern allerdings den Geldbeutel eines — Apo-
thekenbesitzers. H. Heller.
Register zum Zoologischen Anzeiger Band 36
bis 40 und Bibliographia zoologica vol. 18 bis 22.
V und 695 Seiten. 8". Leipzig 1922, W. Engel-
mann. Preis 280 M.
Es handelt sich nicht, wie man nach dem
Titel annehmen könnte, um ein Register zu den
genannten Bänden (1910 [Juli] bis 191 2) des
Zoologischen Anzeigers, sondern um eins zu den
diesen angehängten Bänden der Bibliographia
zoologica, welche bekanntlich, solange sie erschien,
d. i. bis 1916, die gesamte zoologische Lite-
ratur registrierte. Da letzteres selbstverständlich
nicht anders als hinterherfolgend geschehen kann
und der zeitliche Abstand zwischen dem Erschei-
nen einer Arbeit und ihrer Registrierung in der
Bibliographie ein sehr verschiedener, noch nicht
einjähriger bis etwa zehnjähriger war, so darf
man nicht erwarten, daß das vorliegende Register
einen bestimmten Zeitraum vollständig umfaßte.
Zu etwas Vollständigem wird es vielmehr erst
zusammen mit den gleichartigen früheren und den
wohl zu erwartenden späteren Registern und mit
der Taschenbergschen Bibliotheca zoologica des
gleichen Verlags, welche die ältere Literatur, aus
den Jahren 1846 bis 1880, registriert und durch
die Bibliographia zoologica und deren Register-
bände fortgesetzt wird. — In der Nomenklatur
wird möglichst der Leunis-Ludwigschen „Synopsis
der Tierkunde" gefolgt. Das Register enthält:
I. alle Autoren nebst den von ihnen verfaßten
Artikeln in Schlagwörtern, 2. alle systematischen
Namen, soweit sie aus den Titeln der Aufsätze
oder den in der Bibliographie beigegebenen No-
tizen zu entnehmen waren, insbesondere alle auf-
geführten neuen Gattungsnamen; bei diesen und
Speziesnamen wurde auch das Wohngebiet ange-
geben.
Durch diese Art der Anlage wurde das Re-
gister so wenig umfangreich wie möglich gestaltet.
V. Franz, Jena.
Schilder, Paul, Über das Wesen der Hyp-
nose. 32 S. Berlin 1922, Julius Springer.
Der gebildete Laie habe Anspruch darauf,
„auch außerhalb der Varietes etwas über Dinge
zu erfahren, die, ihrer Natur nach an die großen
Probleme der Menschheit streifend, das Interesse
der Allgemeinheit erwecken müssen". • — So der
Verf. in seinem Vorwort. Er bringt dann eine
sehr interessante Studie, die in dem Satze gipfelt,
„daß der psychologische Zustand der Hypnose
ein Zustand der Wiederkehr des Undifferenzierten
ist", „eine Rückkehr zu einer früheren Stufe der
Entwicklung, psychoanalytisch gesprochen eine
Regression". — Die Ausführungen des Verf sind,
wie gesagt, sehr interessant, aber ein wirklicher
Laie in psychologischen Dingen wird ihnen doch
nicht zu folgen vermögen.
Huebschmann (Leipzig).
Inhftlt: O. Kende, Der österreichische Anteil am Böhmischen Massiv. S. 353. — Einzelberichte: E. Winterstein
und D. Jatrides, Taxin, ein Alkaloid der Eibe. S. 359. K. H. Meyer und H. Hopff, Zur Theorie der Substi-
tutionsvorgänge. S. 360. Lüp p o-C ramer , Die Desensibilisierung des Bromsilbers. S. 361. Sitowski, Der Kiefern-
spanner und seine Schmarotzer. S. 362. G. Lindau, Pflanzenreste aus Pfahlbauten. S. 363. E. Krause, Di- und
Triphenylblei. S. 363. — Bücberbesprechungen: S. Plate, Fauna et anatomia ceylanica. S. 364. E. Kretsch-
mer, Medizinische Psychologie. 8.365. M. Weiser, Das Atom. S. 365. Kr. Dahl, Grundlagen einer ökologischen
Tiergeographie. S. 366. E. Stern, Die krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens. S. 366. A. Brehm, Kleine
Schriften. S. 367. II. P. Kaufmann, Lehrbuch der Chemie für Mediziner und Biologen. S. 367. E. Mannheim,
Pharmazeutische Chemie. S. 368. Register zum Zoologischen Anzeiger. S. 36S. P. Schilder, Über das Wesen der
Hypnose. S. 368.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m, b, H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 2i. Band;
sr ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 2. Juli 1922.
Nummer JJ7.
Die Eiszeit in Deutschland und der vorgeschichtliche Mensch.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. K. Olbricht-Breslau.
Mit 3 Abbildungen.
Vor eineinhalb Jahren berichtete ich in dieser
Zeitschrift kurz über „den Verlauf des Eiszeit-
alters in Nordeuropa" (35. Band, S. 311 bis 316)
und ergänzte diesen Aufsatz durch eine Berech-
nung über „die Dauer der Eiszeit" (36. Band,
S. 229).
Im Anschluß an eigene zum Teil schon im
Druck befindliche Forschungen und in Anlehnung
an wichtige Neuerscheinungen berichte ich in
folgenden Zeilen über den Verlauf der Eiszeit in
Deutschland und die Bedeutung derselben für die
Landschaftsformen unseres Vaterlandes. Da es
sich immer deutlicher herausstellt, daß die eiszeit-
lichen Klimaschwankungen über die ganze
Erde hin gleichzeitig erfolgten, schneide
ich auch hin und wieder die Frage nach der
Parallelisierung der Ablagerungen ver-
schiedener Vereisungs gebiete an. Ist
diese doch auch von allergrößter Bedeutung für
die Chronologie der eiszeitlichen menschlichen
Kulturen!
Dementsprechend gliedere ich die folgenden
Betrachtungen in drei Hauptteile.
I. Der Verlauf der Eiszeit in Norddeutschland.
II. Die Dauer der Eiszeit.
III. Eiszeit und Mensch im deutschen Ver-
eisungsgebiet und die Entwicklung der Besiedlung
Deutschlands nach der Eiszeit.
I. Von der ältesten Vereisung, die in
den Alpen durch die älteren Deckenschotter
vertreten wird und deren Ablagerungen in Nord-
amerika als „oldest drift" (Jerseyau) bekannt sind,
besitzen wir im nordeuropäischen Vereisungsge-
biet keinerlei Ablagerungen.
Wir dürfen daraus nicht den Fehlschluß ziehen,
daß sie überhaupt nicht vorhanden gewesen sind,
sondern wir müssen eher annehmen, daß sie
später wieder zerstört, beziehungsweise
bis zur Unkenntlichkeit umgelagert
wurden. Die Ablagerungen dieser ältesten Ver-
eisung (Günzeiszeit) erreichten — wie aus Ana-
logien mit den Alpen gefolgert werden muß —
wahrscheinlich nur die südlichen Randgebiete der
Ostsee, kamen später, einschließlich des nur wenig
entwickelten Lößgürtels, in die Abtragungszone
der Hauptvereisung und wurden so ganz zerstört
oder umgelagert.
Ein wichtiger Punkt für diese Fragestellungen
ist die englische Ostküste bei Cromer, deren
Forest beds (F der Karte) unter Moränen der
Hauptvereisung liegen und Bildungen der ältesten
Sonst im nordeuropäischen Vereisungsgebiet
nirgends bekannten Zwischeneiszeit sind. Unter
diesen Forest beds mit ihrer warmen und tertiäre
Anklänge zeigenden Fauna (Elephas meridionalis,
El. antiquus, Rhinoceros merckii) lagern die Chilles-
fords beds mit deutlich nordischem Ein-
schlag und vor allem 22 "/q arktischen und 50"/^
nordischen Mollusken. In ihnen kann man
nur die letzte Fernwirkung eines ältesten
Inlandeises sehen.
Bei der geringen Ausdehnung und kurzen
Dauer dieser ältesten Vereisung (bedingt vielleicht
durch das damals noch wenig aufgewölbte Skan-
dinavien mit seinen ausgedehnten jungtertiären
Einebnungsflächen) erklärt es sich, daß die warme
pliozäne Tierwelt nur wenig verdrängt wurde
und in der ältesten Zwischeneiszeit wieder nach
dem mittleren Europa zurückwanderte.
Da die Mosbacher Sande und die Ab-
lagerungen von Mauer faunistisch enge Be-
ziehungen zu den Forest beds aufweisen, möchte
ich auch diese beiden Ablagerungen in das älteste
Interglazial stellen. Wir erhalten hierdurch für
den Homo heidelbergensis ein außerordent-
lich hohes Alter, auf das aber auch andere Er-
scheinungen hinweisen. In Nordamerika stammen
aus dieser Zwischeneiszeit die im Staate Iowa
erschlossenen Aftonian Beds mit einer starke
tertiäre Anklänge zeigenden Fauna. Da findet
sich nicht nur das später ausgestorbene Pferd und
der Kolumbuselefant vereint mit dem aus kühleren
Abschnitten dieser Zeit hier zum erstenmal auf-
tretenden Mammut (Elephas primigenius), sondern
auch das aus Südamerika eingewanderte Mylodon
als Vertreter der Riesenfaultiere.
Nunmehr folgt die zweite oder Hauptver-
eisung, deren freien Eisrand wir nur im russischen
Flachland finden, während sich in Mitteleuropa
das Eis an den Gebirgen staute und nicht zur
vollen Entfaltung kam und im niederrheinischen
Tiefland endlich infolge späterer jüngerer Senkungs-
vorgänge von den Schottern des Rheins, der
Maas und den Ablagerungen flacher sandiger
Meere überschüttet wurde. Das nordische Inland-
eis ergoß sich auch über den Ostsporn Südeng-
lands (Karte, wo M den Rand der Haupt- oder
Mindelvereisung bedeutet). In Schlesien
überschritt das Eis auch die Wasserscheide zwischen
Oder und March und schüttete in das Beczwatal
einen großen Sandrkegel, in den sich in der
folgenden Zwischeneiszeit der Fluß ein über 60 m
tiefes Tal eingrub.
Der periglaziale zur Hauptvereisung gehörige
370
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
Durch das Zeichen von Grasland ist das unvereiste Gebiet zwischen den Alpengletschern und dem skandinavischen Inlandeis
wiedergegeben. Die Lü6e sind punktiert. Die wagerechte Strichelung bezeichnet Flüsse mit Scholterterrassen. Der äußerste
Rand des nordischen Inlandeises ist durch eine dick gestrichelte Linie (M) gekennzeichnet, wobei die Gebirge, an denen das
Eis sich stauen mufite, senkrecht gestrichelt wurden. Die Pfeile bezeichnen die Richtung der den Löß aufwehenden Eisföhne,
die gekreuzelte Linie die Begrenzung der diluvialen Depression, die, wie ein Vergleich mit dem schematischen Profil lehrt,
wahrscheinlich das Zungenbecken des Inlandeises der Hauptvereisung ist. Die von Ostseebuchten erfüllten Teilzungenbecken
der Ostsee, die aus der Würmeiszeit stammen, sind wagerecht gestrichelt. Die den Ancylussee entwässernden Klußrinnen, die
durch die Litorinasenkung von der Ostsee überflutet wurden, sind ebenfalls zwischen den dänischen Inseln eingezeichnet.
Das Altmoränengebiet mit seiner eisenschüssigen Verwitterung ist schräg schraffiert, die Fundorte diluvialer Kulturen sind
durch liegende Kreuze bezeichnet. Alle übrigen Bezeichnungen sind im Text erklärt.
älteste Löß (iVIindellöß) ist in der folgenden
Zwischeneiszeit zumeist wieder abgetragen worden
und findet sich in großer Erstreckung unter den
jüngeren Lößen nur in den russischen Steppen
(Steilküste bei Odessa) und in Ungarn, wo er in
großer Ausdehnung am Steilufer der Donau von
Budapest bis Belgrad aufgeschlossen ist. In
Deutschland sind nur wenige nicht ganz sichere
Reste bekannt, so vor allem bei Achenheim (bei
Straßburg). Auch in der eigenartigen 2,25 m
mächtigen Lettenbank, welche die Maurer Sande
über der Fundschicht des Homo heidelbergensis
durchzieht, möchte ich einen fluviatil umgelagerten
ältesten Löß sehen, wofür auch andere Erschei-
nungen sprechen.
Auf die Haupt vere isung folgt eine
lange warme Zwischen eiszeit mit An-
deutungen heißen mediterranen Klimas und aus-
gedehnten Abtragungsvoigängen, das ist die „große
Interglazialzeit" der Schweizer Geologen.
In ihr wanderte die an warmes Klima ange-
paßte Tier- und Pflanzenwelt teilweise zurück, wie
vor allem die Funde der Tegelenstufe am Nieder-
rhein zeigen, die sogar Magnolien enthalten. Der
Altclefant (Elephas antiquus) und das Merckiische
Nashorn (Rhinoceros mcrckii) sind weit verbreitet,
die heute nur in Nordafrika und Vorder- und
Südasien lebende Corbicula fluminalis wandert bis
nach Dänemark. Häufig ist die Paludina dilu-
viana und ein breiter Meeresarm mit warmer
lusitanischer Molluskenfauna flutet über tiefe offen-
bar als Zungenbecken dieser Hauptvereisung (2. T.
Linstows „diliiviale Depression") entstandene eine
vergrößerte Ostsee darstellende Senken weit nach
West- und Ostpreußen. Die Alpen erstickten in
dieser Zwischeneiszeit wahrscheinlich in ihrem
eigenen Schutt, der sie bis über 2000 m verhüllte
und von einer warmen Pflanzenwelt bewachsen
war (Funde der pontischen Alpenrose in der
Höttinger Breecie). Das weist auf ein trockenes
Steppenklima hin, welches möglicherweise zum
Teil dadurch bedingt war, daß der Westeuropa
in großer Breite umgebende Flachseegürtel ver-
landet war und die regenspendende See viel weiter
westlich lag.
Wichtiger aber sind die auf warmes heißes
Klima hinweisenden Verwitterungserschei-
nungen, die vor allem die Deckenschotter der
Südalpen zu dem leuchtend roten lateritartigen
Feretto umwandelten. In abgeschwächtem
Umfange konnte ich ähnliche Erscheinungen an
zahlreichen Stellen Süd-Hannovers und Schlesiens
N. F. XXI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
37t
im Liegenden der dortigen Rißmoränen beobachten.
Vielfach sind die älteren Ablagerungen der Haupt-
vereisung stark verkittet. Die Feuersteine sind, wie
die gleichaltrigen Fäustel der Chelelen und Alt-
acheuleen in Frankreich, mit leder- bis blutroter
Patina überzogen und manche der völlig ver-
morschten Geschiebe zeigen schalenartige Ab-
sonderung, gewaltige Manganrindenbildung und
wüstenlackähnliche Politur. Derartig dunkelrote
Verwitterungsdecken (Laimenrinden) überziehen
auch den ältesten Löß. Daß auch die unteren
Abteilungen des chinesischen Lößes rot-
braun verfärbt sind, ebenso die älteren Teile der
Pampaslehme Südamerikas, ist ein weiterer wich-
tiger Hinweis auf die Universalität dieser Er-
scheinungen, auf die auch jeder Erklärungsver-
such der Eiszeit sich einstellen muß.
Auf die Länge dieser Zwischeneiszeit weisen
nicht nur mächtige tiefgehende Zer-
setzungserscheinungen — vor allem in
den alpinen Schottern — hin, sondern auch die
Tatsache der weitgehenden Abtragung des ältesten
Löß und der zugehörigen Glazialbildungen, wie
endlich auch die starke Hebung der Alpen, die
erheblich größer war, als in den folgenden jüngeren
Abschnitten des Diluviums.
Da in der Hauptvereisung das Renntier bis
Nordspanien wanderte, und umgekehrt in der
großen Zwischeneiszeit wärmeliebende südliche
Mollusken sich bis zum mittleren Europa ver-
breiteten, kann man aus diesen Verbreitungser-
scheinungen, erweitert durch die klimatischen
Faktoren — Ausbreitung der Eisdecken einerseits,
der Roterden andererseits — den Schluß ziehen,
daß die Hauptvereisung etwa ein Verschieben der
Klimaverhältnisse Europas um 18 Breitenkreise
nach Süden, die große Zwischeneiszeit eine solche
von etwa 10 Breitenkreisen nach Norden bedeutet.
Das sind rohe Annäherungswerte für die relative
Länge beider Zeiten — vorausgesetzt daß die
eiszeitlichen Klimawellen wie alle Wellenerschei-
nungen eine gewisse Regelmäßigkeit zeigen — ,
deren Bedeutung wir noch kennen lernen werden.
Es folgt die vorletzte oder Rißvereisung
(Rj der Karte). Sie erreichte in den Alpen, die
in der vorhergehenden Interglazialzeit um mehr
als 200 m gehoben wurden, die größte Ausdeh-
nung. Im nordeuropäischen Vereisungsgebiet
bleiben ihre Moränenwälle jedoch hinter dem
Verbreitungsgebiet der Hauptvereisung zurück
und auch in Nordamerika erreicht diese als
lllinoiandrift bezeichnete Vereisung nicht die
Ausdehnung der älteren Kansasvereisung.
Im schlesisch polnischen Grenzgebiet hat das In-
landeis den Karpathenrand nicht mehr erreicht, so
daß die aufgestaute obere Oder eine 50 m über dem
Fluß gelegene Hochterrasse bildete. Im Saale-
gebiet drang das Eis bis in die Gegend von Jena,
im Leinetal bis Alfeld und vermengte seine
Sandr bei Hameln bis an die Weser vorstoßend
mit der durch Aufstau dieses Flusses entstandenen
mittleren Weserterrasse. *) Am Niederrhein end-
lich wurden die von Krefeld und Kleve bis an
die Zuidersee sich hinziehenden Moränenwälle
aufgepreßt, wobei durch Stauwirkung die mäch-
tige breite Hauptterrasse entstand, unter
welcher das warme Tegeleninterglazial erbohrt
wurde.
Nicht erweisbar ist es, ob das Eis noch Süd-
ostengland erreichte. Es ist jedoch nicht ausge-
schlossen, daß die Moränenwälle bei bei Norwich
(R? auf der Karte) den äußersten Rand der Riß-
vereisung bezeichnen, zumal das über den Forest-
beds lagernde Glazialdiluvium eine Zweiteilung
anzudeuten scheint und deutliche Endmoränen-
wälle aus der Mindeleiszeit sonst nirgends erhalten
sind. Nur eine Untersuchung an Ort und Stelle
mit den im alpinen und norddeutschen Gebiet
ausgebauten Methoden könnte diese Frage ein-
wandfrei entscheiden, da die vorhandenen Be-
schreibungen der Aufschlüsse dazu nicht ausreichen.
Eine wichtige Phase bei dem Abschmelzen
des Rißeises bezeichnen die Moränenwälle an der
Ems und Glatzer Neiße (R2 der Karte), die in
annähernd gleicher Entfernung vom Rande des
letzten Würmeises liegen. Eine noch jüngere
Staffel wird in Schlesien durch mit Zungen-
becken verknüpfte Moränenwälle angezeigt, die
von Görlitz über die Liegnitzer Gegend (nördlich
von Lüben) bis zu den Wartenberger Höhen zu
streichen scheinen. Vielfach weisen langgestreckte
Hügelzüge, die verebneten Drumlins nicht un-
ähnlich sind, auf die Eisbewegung hin. In groß-
artigem Umfange finden wir solche Formen zwi-
schen Breslau und dem Zobten, sowie südöstlich
von Liegnitz. Wir müssen aus ihrer Anordnung
schließen, daß das Eis in südöstlicher Richtung floß.
Die randlichen Löße der Rißver-
eisung erreichen ihre größte flächenhafte Aus-
bildung in Osteuropa und Ungarn, wo sie bis
Odessa und Belgrad verfolgt werden können.
Auch in Südbelgien und Nordfrankreich sind sie
weit verbreitet und überlagern die Terrassen des
Somme- und Seinetales, die also älter sein müssen
und zumeist in der großen Interglazialzeit auf-
geschüttet wurden, wie ihre warme Fauna mit
großen Dickhäutern zeigt.
Inzwischen hat sich das Mammut weiter ent-
wickelt und seine Reste finden wir vielfach in
Moränen und Lößen der Rißvereisung vereint
mit polaren Säugern wie Wollnashorn, Renntier,
Elch und Moschusochse.
Die Löße der Rißeiszeit sind auch in der
Oberrheinischen Tiefebene weit verbreitet, sowie
im Wesergebiet südlich von Hameln und in
Thüringen vor allem in der Gegend südlich von
Erfurt. Auch die unteren Teile der Löße des
Donautales in der Wachau stammen aus dieser
Zeit.
Die Ablagerungen der Rißvereisung wurden
') Die ältere Weserterrasse entstand durch Aufstau des
Flusses am Rande der Hauptvereisung und ihre stark verwach-
senen Formen sind ein weiterer Beweis für die Länge der
grofien Interglazialzeit.
5^^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 2;
in der folgenden Rißwürminterglazialzeit
(der letzten Interglazialzeit der norddeutschen
Geologen) zu ausgeglichenen Altmoränen ver-
ebnet, denen vor allem Seen und frischere End-
moränenwälle fehlen. Das Klima war wärmer,
wie das der Jetztzeit, so daß die Altmoränen stark
eisenschüssig und die Löße zu braunroten Laimen-
rinden verwitterten, oder stark verlehmten, wie
die Göltweiger Zone. Auch entstanden in trocke-
nen Zeiten „vergrabene" Schwarzerden, wie sie
vor allem aus Rheinhessen bekannt wurden.
Doch sind die eisenschüssigen Verwitterungs-
rinden weniger stark ausgeprägt, wie in der vor-
hergehenden Zwischeneiszeit. Vor allem fehlen
die intensiv vermorschten Geschiebe und die IVIan-
ganrinden und lederbraunen Patinierungen. Ab-
lagerungen dieser Interglazialzeit sind recht häufig.
Das sind vor allem die Kieselgur- und Süß-
wasserkalklager der Lüneburger Heide mit
ihrer der heutigen durchaus gleichenden Lebewelt.
iVIit stellenweise mehr als 20 m IVIächtigkeit weisen
sie auf eine nicht unbeträchtliche Länge dieser
Zwischeneiszeit hin. Ebenso finden wir in der
Lüneburger Heide mehr als 20 m mächtige Ver-
witterungsrinden. Auf die Wichtigkeit des Inter-
glazials von Hernösand (250 krp nördlich von
Stockholm) mit seiner gemäßigten Flora wies ich
schon früher hin.
In Mitteldeutschland gehört in diese Zwischen-
eiszeit der berühmte Kalktuff von Weimar- Tau-
bach-Ehringsdorf, der 19 m mächtig ist und in
seinen mittleren Schichten das Merckiische Nas-
horn und den Altelefanten mit anderen warm ge-
mäßigten Säugern enthält.
Daß auch in Nordamerika in dieser Zeit wär-
mere Klimaverhältnisse vorlagen als heute, zeigen
die interglazialen Ablagerungen von Toronto und
die Sangamonbeds in Illinois. Zahlreiche Andeu-
tungen von Krustenbewegungen liegen aus dieser
Zeit für Norddeutschland vor. Nur durch solche
konnten die Kreidehorste von Möen und Rügen
emporgehoben werden, die von dem letzten In-
landeis stellenweise als wurzellose Schollen ver-
schleppt wurden. Auch die Trebnitzer Hügel
mit ihrem mehrere Kilometer langem ganz gerad-
linig verlaufenden Südabbruch kann man wohl
nur tektonisch erklären und in diese Zwischen-
eiszeit setzen, da sie aus Rißdiluvium bestehen
und der Würmlöß schon in den in sie eingetieften
Tälern lagert. Auch andere Höhenrücken wie
die Dalkauer Berge bei Glogau halte ich für ver-
waschene Horste (T auf der Karte bedeutet tek-
tonische Linien).
Die Grenzen der letzten Vereisung
(Würmeiszeit, in Amerika Wisconsin) sind
schon verhältnismäßig gut festgelegt.
Ihre Moränenwälle werden wegen der frische-
ren Formen als Jungendmoränen bezeichnet.
Die äußersten Jungendmoränenwälle streichen von
Plozk an der Weichsel über das Warteknie bei
Kolo zur Lissa Gora, lassen sich weiterhin über
Lissa nach Grünberg verfolgen, wo schön ent-
wickelte Jungmoränenwälle Braunkohlen aufge-
staucht haben. Dasselbe gilt von dem wunder-
vollen bogenförmigen Moränenwall, den die Gör-
litzer Neiße bei Muskau durchbricht. Von hier
aus streichen Jungendmoränenwälle über Sprem-
berg in die Dübener Heide (südöstlich von Dessau)
und lassen sich über Köthen und Kalbe bis
Magdeburg verfolgen. Weiter westlich hat das
Würmeis die Täler der Aller und Weser nicht
mehr überschritten (W auf der Karte) und seine
äußersten gut erkennbaren Endmoränen bilden
die Höhen der Wingst zwischen Stade und Bremer-
haven.
In Schleswig- Holstein tauchen die Jungmoränen-
gebiete, überragt von inselartig aufragenden Alt-
moränenhöhen mit eisenschüssiger Verwitterung,
infolge jüngerer Senkungsvorgänge unter die Nord-
see, so daß die auf der Karte dargestellte ge-
strichelte Fortsetzung hypothetisch bleibt. Eine
solche Altmoräneninsel bildet auch den Kern von
Sylt mit dem berühmten Roten Kliff.
Die äußersten Sandr des Jungmoränen-
gebietes kontrastieren durch ihre hellen gelb-
lichweißen Farben lebhaft von den eisenschüssig
verwitterten Altmoränen und verknüpfen sich
mehrfach mit breiten sandigen Schuttkegeln
der von Süden kommenden und am Eisrande ge-
stauten Flüsse. Bei der Görlitzer Neiße ist dieser
Schuttkegel, in den sich der Fluß später 20 m tief
eingrub, besonders gut entwickelt, aber auch Bober,
Spree, Saale, Elbe und Weser zeigen Terrassen-
bildungen, die mit dem Aufstau am Rande des
Inlandeises in Zusammenhang stehen.
Aus dem Vorhandensein derartiger Schutt-
massen, welche die Flüsse nach N verfrachteten,
müssen wir schließen, daß das Vorland wenig
durch Pflanzenwuchs gefestigt war, von regen-
spendenden Winden überweht wurde und einen
tundraartigen Eindruck machte. Eine solche
periglaziale Tundra überzog wahrscheinlich
das ganze unvergletscherte Deutschland zwischen
dem skandinavischen und alpinen Vergletsche-
rungsgebiet, wie dies auf der Karte für die
Mindelvereisung dargestellt ist. Bewegungen des
durchfeuchteten, gefrierenden und dann wieder
auftauenden Bodens spielten im hügeligen Ge-
lände sicher eine Rolle. So erklären sich wahr-
scheinlich die Steinströme und Blockmeere, die
im deutschen Mittelgebirge so zahlreich sind;
aber auch die ausgedehnten Gehängeschuttdecken,
die teilweise von Löß überlagert werden, und
leider bisher von geologischer Seite recht stief-
mütterlich behandelt sind.')
') In großem Umfange beobachtete ich solche Gehänge-
schuttdecken im Böhmerwald, in den Bergen südlich von
Hildesheim — hier stellenweise unter- und überlagert von
Lößen — , sowie in der Lüneburger Heide. Hier entstanden
sie in der Tundrazeit beim Abschmelzen des Würmeises, als
die Landschaft mit ihren großen Höhenunterschieden (vgl.
meine Höhenkarte der Lüneburger Heide in Petermanns Mit-
teilungen 1910, 11. Teil, Tafel 21) mehrere Jahrtausende ohne
schutzende Pflanzendecke lag und stark zertalt wurde. Dieser
natürlichen Erklärung steht die gekünstelte durch keinerlei
N. F. XXI. Nr. z^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
373
Einen besonders interessanten Fall stellt der
unter einer dünnen Lößdecke lagernde Schutt-
strom vom Breiten Berge bei Striegau dar. In
ihm wurden Renntierknochen gefunden als erster
paläontologischer Beweis des Alters derartiger
Bildungen.
Die periglaziale Tundra reichte wohl kaum
bis zum Eisrande, sondern es schob sich das von
den Eisföhnen übervvehte Randgebiet ein, das mit
seinen Dreikanterpflastern große Teile vor allem
Schlesiens und Südposens bildet. Diese Eisföhne
bliesen aus den Schottern, Moränenlehmen und
Sandern den feinen Staub heraus und verfrachteten
ihn als Löß bis an den Rand der Mittelgebirge,
auf die er stellenweise bis über 400 m Höhe
herauf geweht wurde. So entstand zur Würm-
eiszeit der jüngere Löß mit seiner hellgelben
Farbe und fehlenden rotbraunen Laimenrinde.
An vielen Stellen verlehmte er später, so in
großen Teilen Schwabens und im südlichen Ober-
schlesien. Der jüngere Löß überhüllt in großer
Mächtigkeit (im Durchschnitt 5 bis 10 m) die
älteren Löße und ist auf der Karte punktiert
wiedergegeben. Er bedeckt auch einen großen
Teil Ungarns und reicht nach Südosten bis an
das Schwarze Meer bei Odessa. Es läßt sich so
auf der Karte leicht feststellen, daß die periglaziale
Trockenzone sich strichweise bis 600 km vom
Eisrande entfernte, es also keine Schwierigkeiten
macht, die Löße Nord- und Mitteldeutschlands,
sowie auch großer Teile von Süddeutschland als
Erzeugnisse der Eisföhne des großen nordischen
Inlandeises anzusehen. Daß die Alpen nicht auch
in das Bereich dieser Trockenzone gerieten, haben
sie wohl nicht zum wenigsten der Tatsache zu
verdanken, daß sich die Kämme der Mittelgebirge
dazwischenlegen und die wohl nur in den unteren
Teilen der Atmosphäre sich bewegenden Eisföhne
am Vordringen aufhielten, während die R lesen -
gebirgsvergletscherung sich im Schutze
des über 700 m hohen Bober- Katzbachgebirges
entwickelte.
Der Reichtum des Löß an arktischen Säugern
zeigt, daß auf der periglazialen Tundra große
Herden von Elchen, Renntieren, Moschusochsen
und Mammuten weideten und daneben scharen-
weise kleine Nager lebten. Interessant sind die
Funde von Predmost (17 der Karte), die zur An-
nahme berechtigen, daß die mittelhohen Gebirge
als Waldinseln die Tundra überragten und zahl-
reiche Waldtiere beherbergten. Die höchsten
Teile der Mittelgebirge ragten aus dem peri-
glazialen Trockenraum in das Bereich westlicher
regenspendender Winde und trugen lokale
kleine Gletscher, die Karnieschen aushobelten
und mit Moränenwällen Seen abdämmten. Solche
zwingende Beobachtungen zu beweisende Deutung Stollers
gegenüber, wonach über der Heide eine riesige tote Eismasse
liegen blieb, allmählich in ihre Teile zerfiel und durch ihre
Schmelzwässer die Täler ausfurchte. Das Abbrechen dieser
riesigen ,, toten Eismasse" soll die „Auskehrung des Eibtales"
verursacht haben.
Bilder zeigen Vogesen, Schwarzwald, Böhmerwald,
Erzgebirge und Riesengebirge, aber auch am Alt-
vater und Glatzer Schneeberg sind Spuren un-
deutlich entwickelter Karnieschen angedeutet (auf
der Karte die Dreiecke mit den Anfangsbuch-
staben der Gebirge).
Das Jungmoränengebiet unterscheidet sich
nicht nur durch das Fehlen eisenschüssiger Ver-
witterung und das Vorhandensein ausgedehnter
kalkhaltiger weniger verlehmter Geschiebemergel
von dem Altmoränengebiet, sondern auch durch
die Landschaftsformen. Die Endmoränenwälle
sind frischer und in geschlossenerem Zusammen-
hang erhalten, zahlreiche Seen sind einge-
streut — meist lange vom Eise ausgehobelte
Rinnenseen. Auf den Grundmoränenböden
finden sich kleine trichterartige Solle und die
Flüsse werden von deutlicher erhaltenen Ter-
rassen begleitet.
Die Lößbildung bezeichnet das Maximum
der Vorstoßphase jeder Vergletscherung und
setzte ein, sobald das jeweilige Inlandeis eine ge-
nügende Größe erreicht hatte.
Die Maximalausdehnung der Eisdecke be-
zeichnet einen klimatischen Wendepunkt. Offen-
bar unter dem Einfluß eines wärmer werdenden
Klimas überwiegt von neuem das Abschmelzen
das Vorrücken und das Gletscherende schmilzt
allmählich ab, wobei vielfach die Verdunstung
eine wichtige Rolle scheint, so daß ausgedehnte
nicht von Schmelzwässersanden überlagerte Grund-
moränendecken in großer Ausdehnung unter dem
abschmelzenden Eise zum Vorschein kommen.
Schon diese Darstellung zeigt, wie gedankenlos
es ist, von einem „Rückzug" der Gletscher zu
sprechen.
Zahlreiche Endmoränenwälle mit stellenweise
vorgelagerten Sandern zeigen Unterbrechungen
des Abschmelzens an. Da kein einziger lebender
Gletscher dauernd seinen Rand an derselben Stelle
liegen hat, sondern bald vorrückt und dann das
Vorland zu Moränenwällen aufpreßt, bald ab-
schmilzt, so widerspricht es der Wirklichkeit, in
diesen meist als Staumoränen gebildeten Moränen-
wällen „Stillstandslagen" zu erblicken. Es han-
delt sich um die jeweiligen Enden kurzer
Vorstöße, welche die Abschmelzphase unter-
brechen, um versteinerte Obertöne der
großen glazialen Klimawellen.
Die dem abschmelzenden Inlandeise entströ-
menden Schmelzwässer sammeln sich in den
Urstromtälern an, deren Verlauf im einzelnen
noch recht verwickelt i*t, zumal nicht jedes dieser
Täler einer und derselben Eisrandlage angehört.
Vielfach scheinen ältere Täler den abschmelzen-
den Wassermassen als Leitlinien gedient zu haben.
Die wichtigste Phase während der Abschmelz-
zeit bildet die baltische Endmoräne. Ist
doch der Unterschied der Landschaftsformen
zwischen ihrem Vorland und Hinterland ein derart
großer, daß manche Geologen (z. B. Wolff) in
374
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
ihr den Rand einer neuen selbständigen Vereisung
erblicken.
Zum ersten Male betonte ich die damals be-
sonders von Machatscheck, Wahnschaffe,
B r a u n - Greifswald und Gagel bekämpfte An-
sicht der größeren Selbständigkeit dieses End-
moränengürtels, indem ich 1909 von einem bal-
tischen Vorstoß sprach, der auf ein wär-
meres Zwischenstadium folgte.
Die Forschung der Folgezeit hat meine Ver-
mutung aufs schönste gerechtfertigt, indem bei
der Kartierung sich herausstellte, daß die balti-
sche Endmoräne tatsächlich bei einem Vorstoß
entstand, der auf eine etwas wärmere — wenn
auch arktische — Zwischenphase folgte, deren Vor-
handensein besonders Heß v. Wichdorff durch
das Auffinden der masurischen Intersta-
dialablagerungen erbrachte. Ihnen folgten
ähnliche Funde in Schleswig-Holstein. Das
sind an Mollusken reiche bis 1,8 m mächtige
Kalke, deren Flora einen „etwas arktischen" Ein-
schlag zeigt und die von Decktonen bis 12 m
Mächtigkeit überlagert und von dem sie über-
schreitenden Eisvorstoß stark gestört und zer-
quetscht wurden. Im Vergleich mit postglazialen
Ablagerungen zeigt es sich, daß die Dauer dieser
von mir als baltische Schwankung bezeichneten
Phase mindestens ein Jahrtausend umfassen muß.
Die Karte zeigt, daß der baltische Moränen-
gürtel (mit B bezeichnet) ungefähr den äußersten
Jungendmoränen parallel geht und nur in Hinter-
pommern erheblich zurückbleibt. Darin erblicke
ich die stauende Wirkung des hohen hinter-
pommerschen Landrückens, der bekanntlich im
Turmberg die höchste Erhebung Norddeutschlands
trägt. Die abfließenden Schmelzwasserströme
sammelten sich in dem auf der Karte punktiert
angedeuteten Thorn-EberswalderUrstrom-
tal.
Mit dem baltischen Vorstoße ist eine kurze
Phase neuer Lößbildung verbunden. Die
hierbei entstandenen Löße sind höchstens zwei
Meter mächtig, vielfach sandig-lehmig entwickelt
und unterscheiden sich auch durch das Fehlen
von Kindein von den älteren Lößen. Man kann
sie als jüngster Löß oder baltischer Löß
bezeichnen (fi des Profils).
Im allgemeinen lagern sie an den nordöstlichen
Hängen der Lüneburger Heide und des Fläming;
das sind die in der Literatur als Feinsande und
Flottlehme bezeichneten Bildungen, deren Lößnatur
noch nicht von allen Geologen (Stoller hält
sie noch heute für ein „üissediment") anerkannt
wird, obwohl sie stellenweise auf deutlichen
Pflasterzonen mit vereinzelten Dreikantern liegen.
Durch die breite Lücke zwischen Fläming
und der Lüneburger Heide wurden die jüngsten
Löße weiter nch S geweht und dementsprechend
auch (einkörniger. So entstand der etwa 2 m
mächtige Bördelöß. Auch in Nordamerika finden
sich jüngste bis höchstens 2 m mächtige Löße auf
den äußersten Jungendmoränenflächen. Sie ent-
sprechen offenbar dem norddeutschen baltischen
Löß. Bei der Verbreitung der Flottlehme zeigt
sich besonders schön das Gesetz, welches die
heutige Verbreitung der Löße beherrscht. Alle
Löße sind nur Reste einst viel ausge-
dehnterer Aufschüttungen, die unter
dem Einfluß der heute — und auch in den
Zwischeneiszeiten — wehenden Westwinde
auf weiten Strecken wieder abgetragen
sind, und nur an solchen Stellen in
größerem Umfange lagern, die im
Schatten dieser Winde liegen. Daher die
große Verbreitung in der Bonner und Thüringer
und Schlesischen Bucht, daher ist starke Ver-
breitung gerade an den westlichen Hängen nord-
südgestreckter Täler, oder an den Ostabhängen
der Höhenzüge in der Lüneburger Heide, des
Fläming, des Annaberges oberhalb Oppeln, des
Zobten und des polnischen Mittelgebirges.
Das Hinterland der baltischen Endmoräne zeigt
besonders frische Landschaftsformen, gut erhaltene
Solle, frische Terrassen und wenig entkalkte Ge-
schiebemergelböden. Reich ist es an langge-
streckten, im Grundriß ovalen Drumlins-
hügeln, die häufig in ganzen Schwärmen auf-
treten und meist saumartig den Innenrand der
baltischen Endmoräne begleiten. Die Drumlins
werden am besten als subglaziale Exarations-
formen erklärt, wobei entweder hügelartige
Grundmoränengebiete, oder Endmoränenwälle
„umgepreßt" wurden. Für die letztere Auffassung
scheint es sehr wichtig und durch nähere Einzel-
untersuchungen zu erhärten, daß die Drumelins
der nördlichen Neumark aus „begrabenen" Mo-
ränenwällen entstanden zu sein scheinen, die
weiter östlich — wo das baltische Eis den hier
höheren Sandrücken nicht mehr zu überschreiten
vermochte — unzerschnitten auftauchen und sich
bis an die Weichsel verfolgen lassen. Schon
diese „Diskordanz" der Endmoränen wäre ein
Beweis für die selbständige Stellung der baltischen
Endmoräne (auf der Karte sind diese Moränen-
wälle gestrichelt angedeutet).
Nach diesem Reichtum an Drumlins könnte
man die baltische Endmoräne direkt als Drum-
linphase des abschmelzenden Würmeeises be-
zeichnen. In diesem Wort liegt aber eine tiefere
Bedeutung, denn Drumlins finden wir nicht nur
bei den alpinen eiszeitlichen Vorlandgletschern in
einer bestimmten Entfernung innerhalb der Jung-
endmoränenwälle (auf der Karte sind auch im
Alpenvorlande die Drumlinschwärme gestrichelt),
wir finden sie sogar in einer ähnlichen Lage in
Nordamerika, wo sie wie in Deutschland den süd-
lichen Rand der Ostsee, so hier den Südsaum der
großen Seen begleiten. Auch die alpinen Drum-
lins liegen außerhalb der großen meist durch
Seen — Bodensee! — angedeuteten Zungenbecken,
die in Norddeutschland dem einheitlichen Zungen-
becken der Ostsee mit seinen durch Buchten
(Lübecker Bucht, Stettiner Bucht, Danziger
I
N. F. XXI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
375
Bucht usw.) bezeichneten Nebenzungenbecken ent-
sprechen.
Das ist ein weiterer wichtiger Hin-
weis auf die Universalität und Gleich-
zeitigkeit der eiszeitlichen Klima-
schwankungen.
Innerhalb der Drumlinzone liegt auch der
Niagara fall, auf dessen Bedeutung für die eis-
zeitliche Zeitbestimmung ich noch zu sprechen
kommen werde.
Wohl ziemlich allgemein parallelisiert man die
baltische Endmoräne mit dem Bühlstadium der
Alpen. Diese zuerst von mir vertretene Ansicht
kann nicht mehr aufrecht gehalten werden, sondern
es muß die baltische Schwankung mit
der alpinen Laufenschwankung gleich ge-
setzt werden. Beide sind mit Drumlins verknüpft
und entsprechen Vorstößen, die auf Zeiten
stärkerer Abschmelzung folgten. Für das Bühl-
stadium, welches auch in den Alpen innerhalb
der Zungenbecken liegt und dessen Selbständig-
keit von zahlreichen Forschern ') sogar bestritten
wird, kommt in Nordeuropa nur eine Moränen-
lage in Frage, die nicht südlich des Ostseebeckens
liegt. Das sind möglicherweise die Moränenwälle
im südlichen Schonen (Scanische Phase), deren
östliche Fortsetzung leider von der Ostsee über-
flutet wurde, aber restweise in Gotland auf Dago
und in Estland zum Vorschein zu kommen scheint.
Diese Moränenstaffel ist um so wichtiger, weil
bis zu ihr die Messungen de Geers südwärts
reichten.
Mit dem Abschmelzen des Eises über die
Ostsee beginnt für Norddeutschland die Post-
g 1 a z i a 1 z e i t.
Die letzte Phase beim Abschmelzen des skandi-
navischen Inlandeises liefert die großen End-
moränenwälle, die sich von Christiania durch
Mittelschweden ziehen und dann jenseits der Ostsee
in wundervoller Ausbildung die Finnische Seen-
platte begrenzen. Vergleichende Längenmessungen
mit dem alpinen Rhein-- und Rhonegletscher
machen es wahrscheinlich, daß wir es hier mit
einem Gegenstück zu dem alpinen Gschnitz-
stadium zu tun haben.
Beim Abschmelzen des Inlandeises lag Fenno-
skandia offenbar infolge isostatischer Gegen-
wirkungen zum Ausgleich der Eisbelastung tief.
Das Eismeer stand in Verbindung mit der Ost-
see, aus der Südschweden als Insel ragte. Das
ist das Yoldiameer, dessen am Rande des ab-
schmelzenden Inlandeises gebildeten Jahres-
schichten zeigende Bändertone die de Geersche
Chronologie ermöglichten.
Als das Inlandeis etwa die Eisscheide erreicht
hatte und der Druck nachließ, hob sich das ent-
lastete Land und infolge der Verbindung Däne-
marks mit Südschweden wurde die Ostsee zu
einem Binnensee. Das ist der Ancylussee,
dessen Beginn noch in die Abschmelzzeit fällt.
') Penck selbst betrachtet jetzt im Inntal die dem Bühl-
vorstoß zugeschriebenen Moränen als Würmmoränen !
Allmählich wurde das Klima wärmer und
kontinental trocken. Das ist die Allerödzeit,
die warme boreale Zeit der schwedischen Geo-
logen. In ihr war die Kiefer der herrschende
Baum, Ulme und Hasel wanderten nach Norden.
Nach einem kurzen Kälterückschlag, der vielleicht
dem Daunstadium der Alpen entspricht und sich
in den dänischen Mooren zeigt, begann etwa
gleichzeitig mit der Litorinasenkung, in der
die Ostsee weit nach Süden flutet und ehemalige
Binnenseen als Förden ertränkt, eine neue warme
Zeit, die bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert
reicht und ihren Höhepunkt um das Jahr 5000
vor Christus zu haben scheint. In ihr erreicht
die Waldgrenze ihre höchste Lage, die Haselnuß
erreicht ihre höchste nördliche Ausdehnung und
Trockenpflanzen, wie Stipa pennata, und die
wärmebedürftige Wassernuß wandern bis in die
Gegend der mittelschwedischen Seen. Gegen
heute muß die Temperatur dieser Zeit etwa
2 Grad wärmer gewesen sein.
In nachchristlicher Zeit sinkt die Temperatur
nochmals, die Baumgrenze senkt sich um 150
bis 200 m und ausgedehnte junge Moränenwälle
entstehen im skandinavischen Hochgebirge. Das
sind die altrezenten Moränen der alpinen
Gletscher, für die der von Frech vorgeschlagene
Namen Tribulaunstadium recht passend er-
scheint. Da die heutigen Gletscher weit hinter
diese Moränenwälle abgeschmolzen sind, haben
wir wohl das Maximum dieser kühlen Zeit schon
hinter uns und befinden uns am Ende des Eis-
zeitalters, dessen Nachzuckungen diese postglazialen
Klimaschwankungen wahrscheinlich sind.
Schwieriger ist es, in Deutschland die Spuren
dieser postglazialen Schwankungen festzustellen.
In der trockenen Ancyluszeit scheinen unsere
Binnendünen in der heutigen Grundform ent-
standen zu sein, ebenso die gewaltigen mit Ter-
rassen verknüpften Schuttkegel, welche die Flüsse
der nördlichen Lüneburger Heide weit ins Elbtal
schoben und die sicher jünger sind als die von
N ins Elbtal mündenden Sandrkegel des bal-
tischen Vorstoßes und die Flottlehmlöße. Funde
weisen darauf hin, daß diese Schuttkegel und Ter-
rassen schon in vorneolithischer Zeit aufgeschüttet
wurden. Da damals wahrscheinlich — wie unter-
getauchte Wälder zeigen — der größte Teil der
Nordsee Festland war, wurde hierdurch die
Trockenheit des Klimas, die in der Schuttkegel-
und Dünenbildung zum Ausdruck kam, noch ver-
stärkt. Noch in vorneolithischer Zeit entstand
dann der ältere Torf der norddeutschen Moore
und die Dünen bewuchsen.
Etwa mit Beginn des Neolithikums setzt dann
eine lange warme Zeit ein, in welcher die Steppen-
pflanzen sich weit verbreiteten, der Waldwuchs
in den regenärmeren Gebieten Grassteppen wich
und hier vermodernde Pflanzen sich zu der für
Trockenklimate bezeichnenden Schwarzerde
anhäuften. Diese finden wir auf Löß nicht nur
in Mittelschlesien und in der sächsischen Tief-
376
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
landsbucht, sondern auf Geschiebemergel auch bei
Meve und Hohensalza. Diese große Trockenzeit
bedingte wahrscheinlich die starke Zunahme
der Besiedlung der deutschen Löß- und
Schwarzerdegebiete mit Beginn des Neolithikums,
während vorher der den Wald meidende Mensch
zumeist als Mesolithiker an den Küsten und im
waldärmeren Belgien und Westfrankreich siedelte.
Eine geologische Bildung dieser Zeit, in der
die Dünen teilweise von neuem überwehten,*) ist
der Grenzhorizont der Moore. Etwa um das
Jahr 300 nach Christus hört die Bildung des
Grenzhorizontes auf und der jüngere Torf,
dessen Weiterbildung noch heute fortzudauern
scheint, setzt sich ab. Das ist der Stand nach
der Frage der postglazialen Klimaschwankungen,
wenn wir nur auf sicher zu beobachtende Tat-
sachen aufbauen.
II. Die Dauer der Eiszeit hat seit langem
die Geologen beschäftigt, da mit ihr auch die
Lösung der Frage nach dem Alter der
Menschheit eng zusammenhängt.
Wie ich in dieser Zeitschrift schon eingehen-
der ausführte, gelang mir eine Fortentwicklung
der Ergebnisse der Messungen de Geers und
seiner Schüler, wobei ich von der Annahme aus-
gehe , daß die Länge der einzelnen Ver-
eisungen eine Funktion der Maximal-
mächtigkeit der in ihnen gebildeten
Eiskuchen ist. Ich habe durch neuere Karten
diese Messungen vervollständigt und erhalte fol-
gende Zahlen:
Würmvereisung 55000 Jahre (davon iSooo
seit dem baltischen Vorstoß)
Rißvereisung 1 10000 Jahre
Mindelvereisung 125000 Jahre
Günzvereisung 50000 Jahre?
Diese Zahlen gelten aber nur für die Zeiten
vom Vorrücken der Gletscher von der Eisscheide
bis zum Maximalstadium und für das Abschmelzen
bis zur Eisscheide zurück.
Da in den Zwischeneiszeiten das Klima wärmer
war als das heutige, gilt es auch hierfür Zahlen
zu erhalten, die dann zwischen die Glazialzahlen
eingeschoben werden müssen.
Ganz absehen möchte ich bei diesen Rech-
nungen von den Talvertiefungen in den Alpen,
die uns nur relative Werte („Gefühlswerte") geben,
aber sonst unbrauchbar sind. Denn sie setzen
eine gleichmäßige Hebung voraus, die nicht
beweisbar und auch nicht gerade wahrschein-
lich ist.'')
') Bei den spärlichen Forschungen über den Bau der
deutschen Binnendünen ist es vielleicht interessant, daß die
Grabungen auf der Düne der Schwedenschanze bei Oswitz-
Breslau unter einer alten Humusdecke orangegelbe Dünen-
sande, darüber gelblich- weiße feststellten. Ebenso sind nach
Keil hack an der Swinemündung die älteren Dünen Gelb-
und BraundUnen, die seit der Entstehung des jüngeren Torfes
gebildeten hingegen Weißdünen.
') Das gilt auch von der neuesten Berechnung Hans
und Richard Lehmanns (Mannus 13. Bd., S. 269 usw.),
welche auf der Talvertiefung im Saalegebiet beruht und z. B.
für die gesamte Würmeiszeit nur 25000 Jahre annimmt
Aus der Mächtigkeit der Verwitte-
rungsrinden schließt Penck, daß die Riß-
würmzwischeneiszeit dreimal so lange dauerte,
wie die Postglazialzeit, die Mindelrißzwischeneis-
zeit sogar zwölfmal so lange. Das zeigt aber
neue Schwierigkeiten. Was haben wir als Post-
glazialzeit zu betrachten? Ist es wahrscheinlich,
daß die Verwitterungsmächtigkeit direkt propor-
tional der Zeit ist, oder nicht eher wahrscheinlicher,
daß in warmen Klimaten — wie das auch die
Bodenforschungen und Beobachtungen in den
Tropen lehren — die Verwitterung schneller vor
sich geht? Und hängt nicht zuletzt die Mächtig-
keit der Verwitterungsböden auch von dem Ma-
terial, seiner Höhenlage und der Möglichkeit der
Sickerwasserzirkulation ab? Überall also Unsicher-
heiten und Erschwerungen.
Schließen wir die letzten Fragestellungen ein-
mal aus und nehmen an, Zeiten wie die Mächtig-
keit der in ihnen entstandenen Verwitterungs-
decken verhielten und bezeichnen wir als Post-
glazialzeit die Zeit, die seit dem Abschmelzen des
Eises bis zur Eisscheide verfloß. Da diese etwa
1 1 000 Jahre beträgt , erhielten wir für die Riß-
würmzeit 33000, für die Mindelrißzeit 1 20000
Jahre. Diese Zahlen sind nun sicher für die Haupt-
zwischeneiszeit mit ihrem heißwarmen Klima zu
groß, aber auch für die letzte Zwischeneiszeit mit
ihrer eisenschüssigen Verwitterung noch um einen
kleinen Betrag zu kürzen.
Eine andere Berechnungsmöglichkeit erwähnte
ich vorher, indem ich darauf hinwies, daß sich
die Länge der Mindeleiszeit zu derjenigen der
darauf folgenden großen Interglazialzeit etwa wie
9 : 5 verhielt. Aus der Proportion 1 2 5 000 : x = 9 : 5
erhalten wir x = 70 000 Jahre als Länge der
großen Interglazialzeit. Da aber auch diese Be-
rechnung noch nicht ganz einwandfrei ist, emp-
fiehlt es sich, für sie einen Mittelwert von etwa
90000 Jahren und für die Rißwürmzwischeneiszeit
etwa 28000 Jahre zu nehmen (d. h. nur 7 "/„
weniger), ebensoviel für die erste Zwischeneiszeit.
Die ganze Eiszeit vom Beginn der Günz-
vereisung bis zum Abschmelzen des Würmeises
bis zur Eisscheide hätte dann etwa 500000 Jahre
gedauert, wozu noch 4000 Jahre (Schätzung von
W e r t h) für die Ancyluszeit und etwa 7000 Jahre
für die Zeit nach dem Maximum der Litorina-
senkung (nach Keilhack) kämen. Für die Zeit
nach dem Abschmelzen bis zur Eisscheide ergäbe
das etwa 1 1 000 Jahre , wobei aber die Ancylus-
zeit noch etwas länger gedauert haben kann, für
die Zeit seit der Bildung der baltischen Endmoräne
etwa 30000 Jahre. Dafür haben wir zwei weitere
Kontrollen.
Die eine ist das Muotadelta am Vierwald-
stättersee, dessen Alter Heim auf etwa 16 000
Jahre berechnet. Dieses liegt nach meinen Um-
rechnungen auf das skandinavische Gebiet über-
tragen an einer Stelle, die den Endmoränen
Schönens entsprechen würde , für welche die
N. F. XXI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
377
obige Rechnung mit de Geer kombiniert 5700
-\- 4000\-j- 7000 = 16700 Jahre ergibt.
Die zweite Kontrolle gibt der Niagarafall,
dessen Schlucht zu ihrer Eintiefung etwa 30000
Jahre brauchte. Dieser Fall entspricht aber in
seiner Lage in der Drumiinzone einem Stadium,
das ungefähr gleichalt mit der baltischen End-
moräne ist.
Meine Chronologie ergibt hierfür 18000 -j-
4000 -j" 7000^ 29000 Jahre. Auch das scheint
in Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Be-
rechnung des Alters des Niagarafalls entgegen-
stehen, eine erstaunliche Übereinstimmung und
wir dürfen wohl sagen, daß wir einer
brauchbaren Glazialchronologie recht
nahe gekommen sind. Aber auch die Be-
deutung der Möglichkeit, Glazialablagerungen
verschiedener Vereisungsgebiete miteinander zu
vergleichen und zu parallelisieren, wird hierdurch
so recht in ihrer ganzen Tragweite klar und man
lächelt darüber, daß noch vor 12 Jahren der
Geograph B r a u n • Greifswald schreiben konnte,
daß für eine Parallelisierung „keinerlei Be-
dürfnis vorliege" und ein Geologe wie Gagel
die Möglichkeit einer solchen auf das schärfste
bekämpfte.
III. Wir kommen zum letzten und wichtigsten
Teile, der Frage nach dem Alter und der Weiter-
entwicklung des Menschen.
Lösse
Klimakurve der Eiszeit
Einleitend gebe ich eine Klimakurve der Eis-
zeit, in deren Länge jedes Millimeter 5000 Jahren
entspricht. Die wagerechte Linie ist die heutige
Temperatur, die unteren Wellenberge glaziale, die
oberen interglaziale Zeiten. Wie jede Wellenbe-
wegung — man denke an die Erdbebenwellen —
zeigt die eiszeitliche Klimakurve also ein An-
schwellen bis zum Maximum und dann wieder
ein Abschwellen. Als Nachläufer kann man die
postglazialen Klimaschwankungen betrachten.
Ihnen entsprechende dürften auch die Eiszeit ein-
geleitet haben. Aus Gründen besserer Über-
sichtlichkeit sind die Oberwellen nicht mit
eingezeichnet. Hierfür verweise ich auf meine
frühere Kurve.
Einen besseren Überblick der Chronologie der
eiszeitlichen Kulturstufen soll die Schemazeichnung
vermitteln.
w
■- -
R
liiiillfllD
M
riiiiiiiiijii
Magdalenien 1
ISoiutröen } Klingenkultur
jAurignacien j
Mousiörien |
Oberes Acheulöcn [ Faustkeilkultur
Unteres Acheul6en
Ghelleen
Eolithikum
X hom. heid. ^
WürmlöB
Mindellöß Rißlöß
diluviale Depression
Sie zeigt einmal, wie die Ausräumungsgebiete
der verschiedenen Vereisungen sich auch der
Größe ihrer Ausdehnung anpassen. Die das
Zungenbecken der Würmvereisung ausfüllende
Ostsee ist eingezeichnet. Die Verlängerung ihres
Spiegels bis zu dem Aufschüttungsgebiet der
Mindelvereisung zeigt die wahrscheinliche Lage
des warmen die Stelle der heutigen Ostsee ein-
nehmenden Meeres der Hauplinterglazialzeit. Die
Löße sind punktiert und durch senkrechte Striche-
lung die Verbreitung der rotbraunen Verwitte-
rungsrinden wiedergegeben, die auch die Alt-
moränen überdecken. Zur besseren Veranschau-
lichung sind die Eisföhne, die vom Würmeis und
dem baltischen Eise herabwehten, eingezeichnet.
Zur Ergänzung des Profiles dient die Übersicht
mit Einschreibung der betreffenden Kulturstufen.
Da der nur lokal verbreitete baltische Löß (ß des
3;8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
Profils) kein Kulturinventar geliefert hat, ist er in
dieser Übersicht weggelassen.
In Zusammenhang mit der Klimakurve, in
welcher die Klingenkultur als Eburn^en zusam-
mengefaßt ist, läßt sich die Kulturentwicklung
des Eiszeit menschen gut überblicken und zahlen-
mäßig festlegen.
Der älteste menschliche Fund ist der Heidel-
bergmensch (i),') dessen Alter aller Wahrscheinlich-
keit nach auf mehr als 400 000 Jahre anzusetzen
ist. Da auch in England anscheinend sehr alte
z. Zt. in vielen Einzelheiten noch stark umstrittene
Funde gemacht sind und in Europa auch Pithe-
kiden mit sehr menschlichem Zahnbau im jüngsten
Tertiär vorkommen, erhält die Lehre von der
europäischen Urheimat d er Menschheit
immer weitere Stützen.'-^) Der Heidelbergmensch
ist wahrscheinlich Träger der Eolithkultur.
Chelleen und Altacheuleen liegen nach
einwandfreien Feststellungen unter dem Rißlöß
an verschiedenen Stellen des Sommetales (I., 11).
Ihre Verknüpfung mit einer warmen Fauna und die
lederbraune (nach Sa ras in „wüstenartige") Pati-
nierung, die an die der in Ägypten gefundenen
Feuersteine erinnert, und Beweise dafür, daß beide
Kulturen einer warmen Zwischeneiszeit sind. Die-
selbe Patinierung zeigt ein Teil der als Acheuleen
anzusprechenden Funde von IVlarkkleeberg (2),
die z. T. wohl erst sekundär durch Umlagerung
aus einer alten Oberfläche in die Sandr der Riß-
eiszeit gelangt sind.
Da die typologische Methode mit ihrem starren
Festhalten an alten Begriffen die Möglichkeit einer
Parallelisierung sehr erschwert und sehr viel Un-
heil angerichtet hat, schlägt Wiegers für das
Chelleen die Bezeichnung Halberstädter Stufe
und für das untere und obere Acheuleen die Be-
zeichnungen Hundisburger Stufe (3) und
Markkleeberger Stufe vor, um auch hier die
größere Selbständigkeit der deutschen Forschung
zum Ausdruck zu bringen. Die obere Faustkeil-
stufe reicht bis in die Rißvereisung, wie die Funde
von Markkleeberg und in Nordfrankreich zeigen,
wo Fäustel im Rißlöß gefunden sind.
Eine Interglazialkultur ist dagegen das nun
folgende untere Mousterien, für welches Hauser
die Bezeichnung Micoquien eingeführt hat. In
Deutschland ist es am schönsten in den Kalk-
tuffen bei Weimar (Ehringsdorf und Taubach)
vertreten (6), weshalb Wiegers mit Recht vor-
schlägt, von einer Weimarer Stufe — besser
Weimarer Zeit — zu sprechen. Hier sind auch
Skelettfunde gemacht, die zeigen, daß die Träger
dieser ■ Kultur, wie der des Acheuleen der Ne-
') Die eingeklammerten Zahlen bezeichnen die Kundorte
auf der Übersichtskarte.
'') Vergleiche hierzu meinen Aufsatz: Gedanken über die
Entwicklung der menschlichen Kultur und die Ausbreitung
des Menschengeschlechts. (Naturw. Wochenschr. 1921, Nr. 33),
dessen Darlegungen durch die Forschungen von W. C.
Matthew (The tertiary sedimentary record and its problems,
New Haven 19' 5) auch für die Säugetiere bestätigt werden.
andertalmensch gewesen ist. Ein inter-
glaziales Alter zeigt auch das Mousterien des
südlichen Polens (Ojkow nördlich von Krakau),
welches unter dem Würmlöß auf verwitterten
Grundmoränen der Rißeiszeit liegt (20).
Naturgemäß ist auf Funde dieser älteren Kul-
turen in dem später vom Würmeis begrabenen
Gebiet kaum zu rechnen, da diese dann meist
umgelagert worden sind. Hierfür ist es von
größter Wichtigkeit, daß doch Spuren sich in den
Interglazialschichten gefunden haben. Das sind
unzweifelhafte Spuren verbrannter Hölzer bei
Bispingen (7) und ein Skelettfund bei Wester-
weyhe in dem der Bispinger interglazialen Kiesel-
gur entsprechenden Süßwasserkalklager. Ahnliche
Brandspuren wurden im Interglazial bei Posen (19)
beschrieben. ') Unklar ist noch das Alter eines
im Geschiebemergel der Würmeiszeit gefundenen
Faustkeils bei Wustrow- Niehagen (8 der Karte).
Das obere Mousterien (nach Wiegers
die Sirgensteiner Stufe — 2i — ), lagert in
den unteren Schichten des Würmlöß und wird
bald abgelöst von dem Aurignacien, welches
mit dem Solutreen zusammen eine typische Löß-
kultur ist, also dem Höhepunkt der Würmeiszeit
angehört. Beide Kulturen sind von Löß begraben,
der stellenweise bis 10 m Mächtigkeit über sie
geweht worden ist.
Das Aurignacien finden wir in Deutschland
bei Metternich (15) und vor allem in den Lößen der
Wachau oberhalb von Wien, weshalb Wiegers
von einer WillendorferStufe spricht. Haupt-
fundorte des Solutreen sind Canstatt (13) und
Pfedmost (17), nach dem die Bezeichnung P red -
mosterStufe geprägt wurde. Den Beginn der
Abschmelzzeit leitet das Magdalenien ein, die
Thainger Stufe (14) nach Wiegers. Es
findet sich über dem älteren Jungpaläolithikum in
zahlreichen Höhlen und ist mit diesem bis weit
nach Rußland herein verbreitet. Dies spricht für
eine weite Ausbreitung der Menschheit gegenüber
dem — in geologisch alter Lagerstätte I — enger
begrenzten Altpaläolithikum. Das Jungpaläolithi-
kum wird von den P'ranzosen nach den aus Renn-
tierhorn gefertigten Waffen auch als T a r a n d i e n
bezeichnet, der daneben gebrauchte Namen
Eburneen weist auf die häufige Verwendung
der Zähne des kurz nach dem Höhepunkt der
Würmeiszeit aussterbenden Mammuts hin. Besser
erscheint uns der deutsche Ausdruck Klingen -
kultur nach den jetzt zierlich hergestellten
Klingen, von denen die wundervollen Lorbeer-
blattspitzen des Solutreen an Schönheit voran-
stehen. Eine starke Besiedlung zeigen auch die
Höhlen des südlichen Polen und des nördlichen
Mähren.
Wie die Funde zeigen, hielt sich der plumpe
Neandertalmensch bis in die ältesten Phasen der
') Wichtige Mitteilungen von neuen altsteinzeitlichen
Kulturstufen der Gegend um Halle machen Hans und
Richard Lehmann in ihrem Aufsatz über ,,die ältere
Steinzeit in Mitteldeutschland" (siehe oben).
N. F. XXI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
379
Klingenzeit, wurde aber nachher von der jüngeren
Aurignacrasse verdrängt. Es sind dies Er-
scheinungen, wie sie sich heute noch überall da
abspielen, wo höhere und tiefere Rassen aufein-
anderstoßen. In den günstigsten Fällen ver-
mischten sich beide Rassen (Pfedmost), vielfach
jedoch erfolgten wahrscheinlich Kämpfe, die mit
kannibalischen Siegesmahlen endeten (Krapina).
In der ersten Hälfte der VVürmeiszeit ver-
schwindet also der Neandertaler und macht der
zierlicher gebauten mit besserem Sprachvermögen
(Ausbildung des Kinns) ausgestatteten Aurignac-
rasse Platz.
Diese entwickelte sich wahrscheinlich in der
letzten Zwischeneiszeit im Ostseegebiet und wurde
mit der sie begleitenden kalten Fauna beim Vor-
stoßen des Würmeises nach Süden verdrängt.
Das Aurignacien und Solutreen (auch Mammut-
zeit genannt) werden an vielen Stellen IVlittel-
deutschlands gefunden. Die großartigsten Stationen
liegen bei Willendorf (18) und Pfedmost (17),
weshalb Wiegers von einer Willend orfer
und Predmoster Stufe spricht.
Die letztere dauerte etwa bis zum Höhepunkt
der Würmvereisung und entwickelte sich zur
Kultur des Magdalenien, oder der jüngeren
Renntierzeit. Wie schon dieser Name besagt,
treten aus Renntierknochen angefertigte Nadeln,
Speerspitzen und Harpunen immer häufiger auf
und das Mammut stirbt in den jüngeren Phasen
aus. Die Steinwerkzeuge verkümmern zu den
mikrolithischen Formen. Großartige in Südfrank-
reich und Nordspanien aufgefundene Höhlen-
malereien geben einen tieferen Einblick in
diese Zeit.
In Deutschland finden wir das Magdalenien
an zahlreichen Stellen sowohl im Mittelgebirge
(vor allem im Rheintal und in Höhlen), als auch
vereinzelt im Gebiet der jüngsten Vergletscherung
(Lübeck, untere Haveltone). Der großartigste
Fundplatz ist das Keßler Loch bei Thaingen (14)
nordöstlich von Schaffhausen, welches wie der
gleichaltrige Abfallhaufen von Schussenried (19)
im Gürtel der Jungendmoränen liegt. Daher die
Bezeichnung Thainger Stufe. Zu ihr gehören
auch die Funde am Felsen des Schweizerbild des
bei Schafifhausen , dicht am Rande der Jungend-
moränen. Das Alter des Magdalenien des Schweizer-
bildes berechnet Nüesch auf Grund einer
Schätzung der Mächtigkeit der Breccienbildung
auf 24000 Jahre. Diese Zahl paßt durchaus in
den Rahmen der nordeuropäischen Chronologie,
welche die Zeit zwischen dem Maximum der
Würmvereisung und dem Abschmelzen bis zu den
mittelschwedischen Endmoränen vom Jahre 40 000
bis 15000 geschehen läßt.
Dem abschmelzenden Inlandeis folgt der Mensch
und entwickelt sich allmählich zum heutigen
Europäer.
Das vom Eise verlassene Gebiet überzieht sich
mit einer dichten Walddecke, das Renntier wird
durch den Hirsch ersetzt und dementsprechend
verfertigt der Mensch seine Waffen — jetzt meist
Harpunen — aus Hirschgeweihen und züchtet
den Hund. Zugleich bestattet er seine Toten
nach bestimmten religiösen Grundsätzen, wie es
die Funde der Ofnethöhle zeigen. Das ist die
von Wiegers als Of netstufe') bezeichnete
den Übergang zwischen der Eiszeit und Nach-
eiszeit darstellende in das Ende der Abschmelz-
phase fallende Kultur. Besser bezeichnet man
diese Zeit der Hirschgeweihharpunen nach den
geologischen Kriterien als Ancyluskultur.
In der folgenden Periode bleiben die Hirsch-
geweihharpunen. Es erscheinen als Neuerwerbung
die ersten noch plumpen Tongefäße und an der
Schneide geschliffene Beile, dazu endlich das Rind
und Wohngruben.
Das ist die Litorinakultur, von welcher
wir in Deutschland wichtige Funde aus der Kieler
Föhrde haben, wo die Siedlungen infolge der
Senkung heute mehr als 10 m unter dem Meeres-
spiegel liegen. Gleich alt ist in Frankreich das
Campignien, in Dänemark die Kultur der Muschel-
abfallhaufen (Kjökkenmöddinger).
Ancylüs- und Litorinakultur bezeichnet man
auch als Übergangssteinzeit oder Mesolithi-
kum. Da das Land meist dicht bewaldet ist,
siedelt der Mensch überwiegend an der Küste
und an den Binnenseen; er nährt sich von Fisch-
fang und Sammelwirtschaft.
Erst im folgenden Neolithikum erfindet er den
Ackerbau und besiedelt in großem Umfange die
ausgedehnten sich jetzt bildenden Grassteppen. ^)
Diese bleiben auch bis in die Karolingerzeit sein
wichtigstes Wohngebiet. Erst vom Jahre 1000
an wird der Wohnraum zu eng und in großem
Umfange werden die Waldgebirge gerodet. —
Das ist in großen Zügen der Gang der Be-
siedlung des deutschen Bodens, der mit den um-
liegenden Landschaften sich immer deutlicher als
die Urheimat des Menschengeschlechtes und die
Geburtsstätte jüngerer hochentwickelter Menschen-
typen erweist.
Die folgende Tabelle soll versuchen, die Er-
gebnisse der vorliegenden Betrachtungen über-
sichtlich zusammenzufassen.
Siehe Seite 380.
Zurückblickend stellen wir fest, daß die erste
brauchbare Chronologie der eiszeitlichen Kulturen
in Frankreich geschaffen wurde. Da dieses außer-
halb der großen Vereisungsgebiete liegt, mußte
naturgemäß das Hauptgewicht auf faunistisch-
typologische Methoden gelegt werden.
Die Forschungen Pencks und Brücknets
ermöglichten die Übertragung der typologisch ge-
wonnenen Ergebnisse auf des alpine Eiszeitschema,
das in seinen Grundlinien feststeht, aber im
einzelnen noch wandlungsfähig ist. Ist doch jetzt
') Schmidt betont hierbei die auffallendeD Ähnlich-
keiten dieser Kulturstufe nach der Ofnethöhle (22) benannten
Stufe mit derjenigen der Tasmanier.
'') Vgl. E. Schalow, Zur Entstehung der schlesischen
Schwarzerde. (Beihefte zum Bot. Centralblatt 1921, S. 466 usw.).
38o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
Geol. Alter
Kulturstufe
Rasse
Länge (Jahre
Hauptstätten
in Deutschland
Günzeiszeit
Eolithikum
Heidelbergmensch
4- 200 000
I. Interglazial
Mindeleiszeit
Hauptinterglazial
Chelleen
1 00 000
Halberstadt
Hundisburg
Unteres Acheuleen
Wettin und Wangen
Neanderlha.er
RiBeiszeit
Oberes Acheuleen
70000
Markkleeberg, Metz,
Achenheim
Jüngeres Interglazial
Unteres Mousterien
60000
Weimar
Oberes Mousterien
20000
Sirgenstein
Aurignacien
40000
Willendorf, Koblenz
Aurignacmensch
Solutreen
Pfedmost, Cannstatt
Magdalenien
Thaingen, Haveltone
Heutiger Europäer
Ancyluskultur
6 coo
Ofnet, Haveltone
Alluvium
Litorinakullur
Eilerbeck bei Kiel
Neolithikum
Metallzeit
3000
Löfigebiete
4000
(1921) Penck selbst geneigt, die Höttinger
Breccie in das Hauptinterglazial zu stellen und
den bisher dem Bühlvorstoß zugeschriebenen Ge-
schiebemergel in die Würmeiszeit, womit der
Achenschwankung die wichtigste Stütze ent-
zogen wird.
Viel günstiger als im alpinen Gebiet liegen
die Verhältnisse in Norddeutschland, wo sich die
regionale Verbreitung der in den Alpen
eng gedrängten Ablagerungen mit einer gründ-
lichen Untersuchung, vor allem durch die Kar-
tierung der Landesanstalt, paart. Von hier aus
hat die Neugliederung der Kulturen des Eiszeit-
menschen auszugehen, dies erkannt und begründet
zu haben ist ein großes Verdienst von Wiegers.
Wir blicken jetzt freier und werden nicht zu
Sklaven der Typologie, in die wir mühsam das
Glazialschema einzwängen.
Zugleich ermöglichte die Weiterausspinnung
der Forschungen de Geers die ersten nicht nur
relativen Zahlenangaben über die Dauer der Eiszeit.
Aber überall tauchen neue h'ragestellungen
auf. Aus was für Vorfahren entwickelten sich
unsere Diluvialrassen, die nicht ohne weiteres
voneinander ableitbar sind r Welches Alter haben
die den europäischen Stufen entsprechenden Kul-
turen außerhalb Europas? Wie sind die Lücken
zwischen den einzelnen Stufen zu erklären?
Hier ist die Forschung noch im Muß und
neue wichtige Ergebnisse sind in Kürze von ver-
schiedenen Seiten zu erwarten. Eine Voraus-
setzung hierfür ist jedoch, daß alle neuen Funde
eiszeitlicher Kulturen möglichst bald der Wissen-
schaft zugänglich gemacht werden , damit ihre
Einreihung und Verwertung erfolgen kann.
Geheimnisvolle Andeutungen und Verdäch-
tigungen anderer Forscher, wie sie von Otto
Ha US er') aus neuerdings öfters durch die Presse
gingen, nützen in dieser Form der Wissenschaft
nichts und erregen höchstens das Mißtrauen der
Laien, den sie unnötigerweise voreingenommen
machen.
') Eine dankenswerte Mitteilung von Hugo Möte-
findt über ,, Neuere Funde aus der älteren Steinzeit" (Nalurw.
Wochenschr. 1922, S. 207), weist darauf hin, daß es sich bei
den meisten Ilauserschen Kunden in Thüringen um belang-
lose Eolithen handelt und nur bei Sangerhausen Klingen des
Aurignacien mit Resten einer Lößdecke verknüp(t sind.
Wichtijrste ueuere Literatur.
Pcnck, Die Höttinger Breccie und die Inntalterrasse bei
Innsbruck. Abh. d. preuß. .Akademie der Wissenschaften. 1920.
Leverett, Comparison of North American and Euro-
pean glacial deposits. Zeitschrift für Gletscherkunde 1909/10.
Wiegers, Diluvialprähistorie als geologische Wissen-
schaft. Abh. d. preuß. geol. Landesanstalt, Heft 84, 1920.
Wah nsc h a f f c -S c h uc h t , Geologie und Oberflächen-
gestahung des norddeutschen Flachlandes. 4. Aufl. Stuttgart
1921. Ist wichtig durch eine Fülle von Literaturangaben, wo-
bei jedoch nur die aus dem Jahrbuch der Landesanstalt stam-
menden Arbeiten vollständig verarbeitet sind, während manche
wertvolle Arbeiten dem Vcrt. entgangen sind.
Wähle, Die Besiedlung Südwestdeutschlands in vor-
römischcr Zeil nach Ihren lalUrlichen Grundlagen. XII. Be-
richt der römisch-gcrni mischen Kommission. 1920.
N. F. XXI. ^ir. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
381
Heim, Geologie der Schweiz. Leipzig 1917.
Richarz, Die geologischen Grundlagen der Zeitbestim-
mung vom Bühlvorstoß bis jetzt. Korrespondenzblatt f. An-
thropologie usw. 1920, S. 63 — 67. Übt eine berechtigte Kri-
tik an den Methoden von Nüesch und Heim und der Un-
sicherheit der durch sie errechneten Zahlen.
Seh midie, Die diluviale Geologie der Bodenseegegend.
Die Rheinlande Heft S, 1914. Mustergültige Darstellung der
Geschichte des diluvialen Rheingletschers und wertvolle Er-
weiterung der Bearbeitung desselben Gebietes durch Penck
(Alpen im Eiszeitalter S. 396—440). Besonders wichtig ist die
Feststellung der Selbständigkeit des älteren Deckenschotters,
von dem schon verkittete Gerolle im jüngeren Deckenschotter
gefunden wurden (S. 80) und die glänzende Darstellung der
Drumlinlandschaft und ihrer Entstehung (S. 93 — 112).
Interessante Feststellungen wirft auch Josef Bayer in
seinen neuesten Arbeiten auf (vor allem : Spaniens Bedeutung
für die Diluvialchronologie; Mitt. anthr. Ges. Wien 1921,
S. 48 — 64), wenngleich seine Parallelisierungen sich nicht mit
den Beobachtungen im norddeutschen Diluvium in Überein-
stimmung bringen lassen und sonst anfechtbar sind.
Einzelberichte.
Das Memellaud.
Über Land und Bevölkerung des Memelge-
bietes, auf das nach Artikel 99 des Friedensver-
trags von Versailles Deutschland verzichten mußte,
unterrichtet ein Aufsatz in der Zeitschrift „Wirt-
schaft und Statistik" (herausgegeben vom Statisti-
schen Reichsamt, 2. Jahrg., Nr. i). Das Memel-
gebiet ist ein Streifen von 270813 ha, auf dem
zurzeit rund 150000 Einwohner leben. Die Grenzen
werden gebildet von der alten deutschen Grenze
von Nimmersatt bis zur Memel, von dem Strom
selbst und einer Linie in seiner Verlängerung über
die kurische Nehrung, schließlich von der Ostsee.
Der Boden ist mit Ausnahme der Ostseeküste
fruchtbares Ackerland. Große Waldbestände liegen
verstreut in allen Gegenden. Etwa 90 v. H. der
Gesamtfläche wird land- und forstwirtschaftlich
genutzt; der bäuerliche Betrieb überwiegt durch-
weg. Im Jahre 191 3 betrug der Ernteertrag un-
gefähr 5020 t Weizen, 44800 t Rogen, 15300 t
Gerste, 50500 t Hafer, 213400 t Kartoffeln,
61 900 t Futterrüben, 64 t Winterraps und -rübsen
und 286200 t Heu. Das ganze Memelgebiet ist
mehr zum Futteranbau als zum Anbau von Körner-
früchten geeignet. So ist denn auch seit jeher
die Viehzucht die Hauptbeschäftigung der Be-
völkerung gewesen. Im Dezember 1920 wurden
gezählt 31 471 Pferde, 69956 Rinder, 23052 Schafe,
76980 Schweine, 706 Ziegen und 255000 Stück
Geflügel. Handel und Industrie sind im Memel-
gebiet von wesentlicher Bedeutung. 191 3 liefen
799 Schiffe mit 310360 Br.-Reg. -t in den
Memeler Hafen ein, 790 mit 306649 Br.-Reg.-t
gingen aus. Der Gesamtwert der Ein- und Aus-
fuhr stellte sich auf 113,4 Millionen Mark. Im
Jahre 1920 betrug der Eingang 790 Schiffe und
der Ausgang 795. Der Handel mit Holz nimmt
die wichtigste Stelle ein. Die Grundlage gibt
der heimische Waldbestand ab.
Von den 150 000 Einwohnern spricht fast die
Hälfte litauisch als Muttersprache, doch weicht
der Dialekt wesentlich von dem in Kowno ge-
sprochenen ab. Die Stadt Memel selbst zählt
rund 31000 Einwohner. Von 100 Erwerbstätigen
gehörten 60,5 der Landwirtschaft, 13,7 der In-
dustrie und 8,3 dem Handel und Verkehr an.
E. W. Neumann.
Röntgenstralileii als Katalysatoreiigift.
Katalysatoren werden durch eine Reihe von
Stoffen, auch wenn diese in geringer Menge vor-
handen sind, unwirksam gemacht. Man spricht
geradezu von einer „Vergiftung" des Katalysators.
Als Katalysatorengifte stehen Blausäure, Schwefel-
wasserstoff, Kohlenoxyd, Arsenverbindungen in
erster Linie, bemerkenswerterweise alles Stoffe,
die auch für den menschlichen Organismus stark
giftig sind. Da Röntgenstrahlen im Organismus
tiefgreifende Veränderungen hervorzurufen ver-
mögen, die nachweislich vielfach auf einer Be-
einflussung organischer kolloidaler Systeme be-
ruhen, so suchten Robert Schwarz und W.
Friedrich') nach der umgekehrten Parallele im
Anorganischen. Es zeigte sich, daß Röntgen-
strahlen in ähnlicher Weise wie die oben ge-
nannten StofTe „vergiftend" auf gewisse Kataly-
satoren wirken.
B red ig hat die Umstände näher studiert,
unter denen Hydroperoxyd HjOj zerfällt. Er
fand, daß dieser Zerfall (in Wasser und Sauer-
stoff) durch geringe Mengen kolloidalen Platins
katalytisch stark beschleunigt wird. Schwarz
und Friedrich bestrahlten nun, unter sorgfältiger
Ausschaltung aller Fehlerquellen, ein 30proz.
Hydroperoxydpräparat , dem ein Platinsol (Ge-
halt: 0,02 g Platin im Liter) zugesetzt war, mit
Röntgenstrahlen aus einer Coolidgeröhre mit
Wolframantikathode. Es erwies sich, daß die
Zerfallsgeschwindigkeit beträchtlich gelähmt wurde
gegenüber einem unbestrahlt gebliebenen Präparat.
Die Verzögerung betrug bis zu 77 "/o- Wurde
das Hydroperoxyd allein bestrahlt, so verlief
die Katalyse normal. Bestrahlte man jedoch das
Platinsol allein und setzte es nachher dem Hydro-
peroxyd zu, so zeigte sich eine gleiche Lähmung
wie wenn beide Stoffe miteinander gemischt der
Bestrahlung ausgesetzt gewesen waren. Die
Röntgenstrahlen wirken mithin nur auf den
Katalysator ein.
Welcher Art ist die Wirkung der Röntgen-
strahlen auf das Platinsol? Es konnte festgestellt
werden, daß weder der elektrische Ladungssinn
des Soles noch die Wanderungsgeschwindigkeit
') Berichte d. Deutschen Chem. Gesellschaft 55, S. I040,
1922.
382
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
durch die Bestrahlung beeinflußt werden. Somit
kann es sich nur um eine Veränderung des Dis-
persitätsgrades handeln. Darauf deutet auch, daß
nach etwa 16 Stunden die Vergiftung ver-
schwunden war. Der Katalysator hatte sich erholt.
Die theoretische Erklärung dieser Erscheinung
ist nicht restlos gelungen. Die Autoren nehmen
die von Haber aufgestellte Theorie der Hydro-
peroxydkatalyse als Ausgangspunkt ihrer diesbe-
züglichen Darlegungen. Danach ist für die Kata-
lyse Sauerstoff nötig, der im Platin gelöst
oder chemisch gebunden vorhanden ist. Nimmt
man an, daß durch die Röntgenbestrahlung aus
dem ja in allen Fällen anwesenden Wasser
Wasserstoff abgespalten wird, so ist denkbar,
daß dieser den im Platin vorhandenen Sauerstoff
unwirksam macht. Alsdann nämlich ist es un-
möglich, daß die erste Stufe der Katalyse völlig
überwunden wird, die nach Haber in der
Gleichung yH^Oa + nPt = Pt„Oy -f yH^O ausge-
drückt ist. Infolge der Anwesenheit des Wasser-
stoffs käme es nicht zur Bildung der Zwischen-
verbindung PtnOy. Wasser wurde durch Röntgen
strahlen in keiner Weise derart verändert, daß
Lähmungserscheinungen auftraten. Die Vergiftung
ist also nicht auf etwa entstandenes Ozon oder
auf Stickoxyde zurückzuführen.
Eine belangvolle Parallele zu diesen Versuchen
ist ferner die Einwirkung von Röntgenstrahlen
auf solche organischen Fermente, die den Zerfall
des Hydroperoxyds gleichfalls zu katalysieren ver-
mögen. Von solchen wurde Katalase unter-
sucht. Es zeigten sich die der Art und Weise
nach gleichen Lähmungserscheinungen wie beim
Platinsol. Auch bei der Katalase trat nach etwa
16 Stunden Erholung und, auffallenderweise!, so-
gar erhöhte Wirksamkeit auf die Zersetzungs-
geschwindigkeit ein. H. Heller.
Nene Forschungeu über Nebelflecke.
Die im Jahre 191 8 erschienene Publikation
„Studies of the Nebulae made at the LickObser-
vatory", die bei uns erst vor kurzem bekannt
wurde, enthält eine Reihe recht bemerkenswerter
Ergebnisse über die sog. planetarischen oder „Gas"-
nebel , deren wichtigste hier nach einem von
Becker in der „Himmelswelt" gegebenen Bericht
zusammengestellt werden mögen.
Die Anzahl der planetarischen Nebel ist im
Vergleich zu den nach Tausenden zählenden Ne-
beln und Sternhaufen der Generalkataloge recht
gering, es gibt deren nur 150, als Hauptrepräsen-
tanten derselben seien der Orionnebel, der Amerika-
nebel und der Ringnebel in der Leyer genannt.
Auch unter den 200000 beobachteten Stern-
spektren des neuen Draper Katalogs hat sich nur
ein Objekt gefunden, das seinem Spektrum nach
zu den Gasnebeln zu rechnen ist. Die kleineren
und kleinsten der planetarischen Nebel gehören
ebenso wie die großen, diffusen Nebel fast aus-
schließlich der Milchstraße an, während die größe-
ren und helleren gleichmäßig über den ganzen
Himmel verteilt sind. Die Gasnebel gehören also
dem Milchstraßensystem an, so daß die entfern-
testen von unserem Standpunkt aus sich in der
Milchstraße selbst zusammendrängen, die näheren
dagegen sich auch auf andere Stellen der Him-"
melskugel projizieren. Dies wird auch durch die
bei 6 Objekten von van Maanen gefundenen
Parallaxen bestätigt.
Die absolute Helligkeit M, d. h. diejenige, in
der das Objekt aus einer Entfernung von 32
Lichtjahren (entsprechend 0,1" Parallaxe) erschei-
nen würde, bestimmt sich, wenn m die schein-
bare Helligkeit und n die Parallaxe ist, nach der
Formel M = m + 5 + log ^- Danach ist die
durchschnittliche Helligkeit der 6 Nebel, deren
Entfernung bekannt ist, nur 9,1"; während die
Durchmesser Werte zeigen, die den der Neptuns-
bahn durchweg um das 40- bis 50 fache über-
treffen, wie folgende Tabelle zeigt:
Durchmesser
Nr. desN.G.C. Parallaxe M in Erdbahn-
halbmessern
2392 0,022" 6,7 2 100
6720 0,008 9,2 10 000
6804 0,022 10,1 I 450
6905 0,015 10,4 3 100
7008 0,016 8,8 5900
7662 0,023 9,7 I 350
Die Formen der Gasnebel sind mannigfache.
Curtis unterscheidet sieben Typen. Die Nebel
sind teils schraubenförmig, ringförmig, scheiben-
förmig, teils auch Nebelsterne.
Verschiebungen der Spektrallinien wurden von
Campbell und Moore bei 125 Gasnebeln fest-
gestellt. Sie ergeben eine Annäherung zur Sonne
im Betrage von durchschnittlich 29,6 km in der
Sekunde, allerdings bilden 4 ausgedehnte Nebel
mit nur 4,0 km Annäherung und besonders die
Nebel in der großen Kapwolke mit einer von der
Sonne fort gerichteten Geschwindigkeit von
276 km wichtige Ausnahmen. Wilson glaubt,
daß die abnorm hohe Geschwindigkeit der Nebel
derKapvvolke auch der ganzen Wolke einschließ-
lich der darin enthaltenen Wolf-Rayet-Sterne und
P - Cygni - Sterne, sowie der Sterne mit hellen
Wasserstofflinien zukommt, die außerhalb der
Wolke in deren Nachbarschaft gänzlich fehlen.
Pickering hält die Kap wölke für einen großen,
der Sonne relativ nahen Spiralnebel. Auch sonst
zeigen die Spiralnebel meist große Geschwindig-
keiten.
Auch Rotationen der Nebel lassen sich nach
dem Dopplerschen Prinzip durch Verschiebungen
der Spektrallinien erkennen. Für den Ringnebel
in der Leyer wurden insbesondere folgende Werte
gefunden :
Bahngeschwindigkeit eines Teilchens
in 25" Abstand vom Kern 1,4 km/sec.
Parallaxe 0,004"
Entfernung 800 Lichtjahre
Masse 13,8 Sonnenmassen
Rotationsperiode 132900 Jahre
N. F. XXI. Nr. 2;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
383
In dem berühmten Spiralnebel im Sternbild
der Jagdhunde (Messier 51 oder N.G.C. 5194)
konnte van Maanen durch Vergleichung zweier
mit einem 60 zölligen Reflektor hergestellten,
photographischen Aufnahmen , die um 1 1 Jahre
auseinander liegen, innere Bewegung feststellen.
Die erste Aufnahme wurde im Februar 1910, die
zweite im April 192 1 gewonnen. Der Nebel hat
sich in dieser Zeit gegen die benachbarten Fix-
sterne jährlich um -j- o,oo6" in Rektaszension und
um -f-o,CXDi" in Deklination bewegt, außerdem
zeigt sich aber noch eine innere Bewegung, die
nicht in einer bloßen Rotation besteht, da neben
einer tangentialen Drehbewegung von jährlich
0,019" irn Sinne O — N — W — S eine radiale Ver-
schiebung der leuchtenden Gebilde nach außen
hin gemessen wurde, die 42 "/(, der Tangential-
bewegung beträgt. Es findet also in dem Nebel
eine spiralige Bewegung längs der Arme im Be-
trage von jährlich 0,021" zusammen mit einer ge-
ringen, nach außen gerichteten radialen Bewegung
von 0,003" statt.
Die in den Gasnebeln auftretenden Spektral-
linien sind außer den Wasserstofflinien H« bis H^
mehrere Linien des Helium, auch die als HcC, H;',
Hii', Hi' bezeichneten Linien der c Puppis- Serie,
die ebenfalls dem Helium zugeschrieben werden,
sowie die noch nicht mit bekannten Elementen
identifizierten Hauptnebellinien 4959 N, und
5007 Nj. Die Kerne der Gasnebel zeigen außer-
dem heile Bänder und ein recht intensives, konti-
nuierliches Spektrum, dessen Energieverteilung
nach der Planckschen Gleichung auf eine Tem-
peratur von etwa 50000" schließen läßt. Diese
Kernsterne sind durch die bei 4051, 4686 und
4633 gelegenen Bänder den Wolf-Rayet-Sternen
sehr ähnlich. Bei 365 /</< setzt ganz unvermittelt
da, wo die Balmerserie des Wasserstoffs aufhört,
ein kontinuierliches Spektrum ein, wie es von
der Bohrschen Atomtheorie für den Wasserstofif
gefordert wird. Kbr.
Bücherbesprechungen.
Petersen, H., Histologie und mikrosko-
pische Anatomie. I. und IL Abschnitt:
DasMikroskop und allgemeine Histo -
logie. 132 S. mit 122 z. T. farbigen Abbil-
dungen im Text. München u. Wiesbaden 1922,
J. F. Bergmann. 42 M.
Das vorliegende Werk stellt den allge-
meinen Teil eines Lehrbuches der Histologie
und mikroskopischen Anatomie dar, dessen Schluß-
(und Haupt-) Teil, ca. 37 Druckbogen stark, so
bald als möglich folgen soll. Die allgemeinen
Probleme, welche nach des Verf s Auffassung sich
aus der hier abgehandelten Lehre von der als
Zelle organisierten lebenden Substanz ergeben,
sind, wie der Verf. hervorhebt, mehr, als das bis-
her in den einschlägigen Lehrbüchern üblich war,
betont worden. Die Arbeit ist Hermann Bruns
gewidmet, dem Verf. des meistumstrittenen mo-
dernen Lehrbuches der Anatomie, der Petersen
offenbar nicht wenig beeinflußt hat. Dem Re-
ferenten will es auch nach der Lektüre dieser
Arbeit scheinen, als ob doch die der Fahne von
Bruns folgende jüngere Anatomengeneration all-
zusehr „ad usum delphini" schriebe, was schließ-
lich mit der Not der heute hastig auf das Exa-
men dressierten, kaum noch im früheren Sinne
des Wortes in ein Studium sich vertiefenden
akademischen Jugend entschuldigt werden könnte,
wenn nicht bei jeder Gelegenheit die klassische
anatomische Lehrbuchliteratur, als ob sie dem
Wißbegierigen Steine statt Brot gereicht hätte, ab-
fällig kritisiert würde. Wohl wird mancher ori-
ginelle Gedanke, manche didaktisch sehr geschickte
Methode der Stoffbehandlung in dieser Brunsschen
Schule herausgearbeitet. Aber von der impo-
santen Größe der Klassiker — es seien nur
Henle,Gegenbaur, Fürbringer genannt —
sind sie doch weit entfernt. Es wird viel zu viel
verglichen, Nachbargebieten (z. B. technischen
Disziplinen) Zugehöriges in den Kreis der Be-
trachtungen einbezogen, anstatt streng systematisch
das Gebäude der Disziplin zu entwickeln und
scharf von der Nachbarschaft zu sondern, vor allem
aber die vielen, in rein deskriptiver Hinsicht be-
stehenden Lücken auszufüllen. So hat nach
des Ref. Überzeugung die Entwicklungsmechanik
nichts in einem histologischen Lehrbuch zu suchen.
— Allein es kann heute über alles dies nicht gut
mit dem Verf. gerechtet werden. Zumal man
sich andererseits viel Gutes von seiner Arbeit
versprechen darf. Was er behandelt hat (Mikro-
skop, Anatomie der Zelle, Theorie der lebendigen
Struktur, Beobachtungsmethoden, die Lebenser-
scheinungen der Zellen — um nur einige wichtigste
Kapitel herauszugreifen), ist mit anerkennenswerter
Klarheit und Prägnanz zur Wiedergabe gelangt,
die durch ungewöhnlich gute Illustrationen
wirkungsvoll unterstützt wird. Die Literatur wird
sorgfältig zitiert.
So kann das Buch, wenn es auch im Zeichen
einer Übergangsperiode steht, die mit ihrem Be-
mühen, den Stoff in neue Formen zu gießen,
neue Problemstellungen zu geben, bevor die alten
genügend erschöpft sind, nicht immer eine glück-
liche Hand zu haben scheint, doch warm empfohlen
werden. M. Wolff (Eberswalde).
Stark, Prof Dr. Johannes, Natur der chemi-
schen Valenzkräfte. Mit 4 Fig. Leipzig
1922, S. Hirzel. 10 M.
Ein Vortrag des großen Physikers, des Nobel-
preisträgers von 1920, der zuerst klar die Ge-
384
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 27
danken der elektrischen Natur der Valenzkräfte
aussprach , auf denen das ganze Gebäude der
heutigen Valenzlehre ruht. Auffallend gepflegt
im gedanklichen sowohl wie im stilistischen Auf-
bau, bildet der Vortrag ein ungemein lehrreiches
Seitenstück zu der neulich hier besprochenen
Schrift von Kossei (Naturw. Wochenschr. N. F.
XXI, S. 112, 1922). Lehrreich insbesondere des-
halb, weil der unbedenklichen Selbstsicherheit des
Letzteren hier die vorsichtige, fast möchte man
sagen : weise Bescheidenheit des echten Physikers
entgegensteht, dem die Erfahrung alles, die
Rechnung nur ein Hilfsmittel ist. Fast alle
heutigen Theoretiker freilich halten es mit dem
Primat der IVIathematik. . . Immerhin muß man
der (von Stark nicht geteilten) Theorie von
Rutherford und Bohr zugestehen, daß sie
viele exakte Erfahrungen quantitativ deckt.
Starks Theorie hingegen ist über qualitative
Beschreibung nicht recht hinausgekommen.
Die Schrift ist sehr zu empfehlen. H. Heller.
Romeis, B., Taschenbuch der mikrosko-
pischen Technik. IX und 472 S. m. 5 Flg.
im Text und mehreren Tabellen. 9. u. lO. um-
gearbeitete und erweiterte Auflage des Taschen-
buches der mikroskopischen Technik von
Alexander Böhm und Albert Oppel.
München und Berlin 1922, Verlag von R. Olden-
bourg. — Preis geb. 70 M.
Das seit Jahrzehnten in allen zoologischen und
histologischen Laboratorien am meisten gebrauchte
Taschenbuch, dessen vorausgegangene Auflage
ebenfalls von Romeis sehr glücklich bearbeitet
worden war, weist auch in der vorliegenden eine
IMenge neuer Nachträge auf. Abgesehen von
diesen haben vor allem die Abschnitte über
Knochen, Zähne, IVIuskel und Vital fär-
bung eine neue, übersichtlichere Darstellung er-
fahren. Eine sehr willkommene Bereicherung ist
ein Kapitel über das Messen mikroskopischer
Präparate und über die (vorzüglich von Hammer
ausgebildeten) Methoden einer genauen Mengen-
bestimmung von Organen und Organteilen. Über
die Prinzipien der mikrometrischen Messungs-
methoden wird der Anfänger ja im allgemeinen
orientiert sein. Damit ist es aber nicht getan.
Denn es sind allerhand technische Einzelheiten
zu beachten, über die leider auch in den Kursen
viel zu wenig Aufklärung gegeben zu werden
pflegt, und über die sich die Mehrzahl der sonst
zur Verfügung stehenden Handbücher ausschweigen.
Und doch sind exakte Bestimmungen nur bei
Beachtung dieser Einzelheiten zu erhalten (z. B.
Beseitigung der Parallaxe, Behandlung der Objek-
tive mit Korrektionsfassung usw.).
Vermißt hat der Ref. eigentlich nur eine Dar-
stellung der ChloracethylGefriertechnik, die doch
— vor allem, wenn nicht tagaus, tagein am Mikro-
tom gearbeitet wird — bequemer, billiger, aber
sonst in den Resultaten ebensogut, wie die
Kohlensäuretechnik ist, sich auch in Gestalt des
vom Ref. angegebenen kleinen Zimmermann-
schen Mikrotoms gut eingebürgert hat, ferner die
Erwähnung der Methode des Aufklebens von Ge-
frierschnitten mit Mallorys Celloidin. Das wäre
vielleicht in einer Neuauflage nachzutragen.
Jedenfalls ist das Taschenbuch auch in seiner
vorliegenden Gestalt dasjenige Werk, was dem
angehenden und fortgeschrittenen Mikroskopiker
in erster Linie empfohlen zu werden verdient.
M. Wolff (Eberswalde).
Müller, L. R., Über die Altersschätzung
bei Menschen. 62 S. Berlin 1922, Julius
Springer.
Während man bei vielen Pflanzen und bei
manchen Tieren das Alter „bestimmen" kann,
kommt für den Menschen nur eine „ungefähre
Schätzung" in Betracht, die, wie Verf. zeigt, zu-
dem mit zahlreichen F"ehlerquellen behaftet ist.
Diese Altersschätzung hat rein wissenschaftliches
Interesse für die Anthropologie, praktisches aber
auch für Ärzte und Juristen und schließlich für
jedermann. Der Verf. stellt in dieser Schrift die
Anhaltspunkte zusammen, die bei der Alters-
schätzung berücksichtigt werden müssen und gibt
dazu im Text 87 lehrreiche photographische Re-
produktionen. So werden die Merkmale am
Skelett , dem Fettpolster, der Haut, den Augen,
den Ohren, dem Mund, den Händen, den Ge-
schlechtsorganen besprochen, sodann die Wand-
lungen des Seelenlebens. Auch die den Alters-
merkmalen zugrunde liegenden Zellveränderungen
werden behandelt, sodann die Schätzung des
Alters des Menschengeschlechtes und des Alters
eines einzelnen Volkes. — Wenn auch der Verf.
zum Schluß noch einmal betont, daß von einer
wissenschaftlichen Methode der Altersbestimmung
beim Menschen nicht die Rede sein kann, so ist
doch seine Schrift als ein sehr interessanter und
lesenswerter Versuch zu bezeichnen. Die Aus-
stattung des Büchleins ist, was das Papier, den
Druck und insbesondere die Abbildungen betrifft,
auf einer bemerkenswerten Höhe.
Huebschmann (Leipzig).
Inhalt: K. Olbricht, Die Eiszeit in Deutschland und der vorgeschichtliche Mensch. (3 Abb.) S. 369. — Einzelberichte:
Das MemcUand. S. 381. R. Schwarz und W. Friedrich, Röntgenstrahlen als Katalysatorengift. S. 381. Becker,
Neue Forschungen über Nebelflecke. S. 382. — Bücherbesprechungen: 11. Petersen, Histologie und mikroskopische
Anatomie. S. 383. J. Stark, Natur der chemischen Valenzkräfte. S. 3S3. B. Rom eis, Taschenbuch der mikro-
skopischen Technik. S. 384. L. R. Müller, Über die Altersschätzung bei Menschen. S. 384.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. 11. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
•-T ganzen Reihe 37. Hand.
Sonntag, den g. Juli 1922.
Nummer ä8.
Der Rhythmus im Leben der Pflanze.*)
[Nachdruck verboten.] Von HugO Miche,
Alljährlich erleben wir das eindrucksvolle Schau-
spiel, wie sich im Lenz das kahle Geäst der
Bäume und Sträucher mit grünem Laube und die
Erde mit einem grünen Teppich von Kräutern
bekleidet, wie dann aber später im Herbst die
grüne sommerliche Pracht zu vergilben beginnt,
wie die Blätter zu Boden taumeln, die Kräuter
absterben und verdorren, bis nur kahles Zweig-
werk in die winterliche Luft ragt und im kalten
Boden, dem Auge verborgen, die dauerhaften Teile
der Stauden und Kräuter schlummern. Und wenn
auch manche Pflanzen mit ihrem Laube einem
oder gar mehreren Wintern zu trotzen vermögen,
so beteiligen sich auch sie in gleicher Weise an
dem allgemeinen Treiben im Frühjahr und an
der Ruhe im Winter. So offenbart sich im Leben
unserer Gewächse ein ausgeprägter Rhythmus, ein
Wechsel zwischen intensiver, sich in Wachstum
und Neubildung äußernder Tätigkeit und zwischen
Ruhe, die äußerlich den Eindruck völligen Still-
standes macht.')
Der aufmerksame Beobachter der Pflanzenwelt
findet aber noch viel mehr Anzeichen eines rhyth-
mischen Geschehens, die weniger auffallend sind
als jene Sommer -Winterperiodizität: periodisch
öffnen und schließen sich die Blüten der Tulpen,
Frage auf: was wohl ihre Ursache sein mag.
Viele wird vielleicht schon das Aufwerfen dieser
Frage verwundern. Nichts sei doch einfacher,
meinen sie, zu beantworten, als diese Frage. In
der einen Jahreshälfte begüngstigen Wärme und
Licht das Wachstum, in der anderen werde es
durch Dunkelheit und Kälte gehemmt. Die
Pflanzenwelt stehe einfach unter der Fuchtel der
Sonne und folge ihrem Gebot.
Das damit aber das Problem nicht erledigt ist,
lehrt uns schon eine aufmerksame Beobachtung
unserer heimischen Flora. Zunächst einmal treiben
ja durchaus nicht alle Pflanzen zu gleicher Zeit
aus, wie sie es doch tun sollten, wenn sie sich
nur nach dem Thermometer richteten. Manche
Sträucher öffnen ihre Laubknospen, sobald die
erste Wärme einsetzt, also schon im Februar, ja
sogar Ende Januar, wie z. B. der Stachelbeer-
strauch und seine Verwandten ; diesen vorwitzigen
folgen dann andere nach; zeitig, aber nicht so
früh, beginnen auch verschiedene Bäume, Weiden,
Linden, Birken, Kastanien, Pappeln. Dagegen
verharren Esche und besonders Buche, Eiche
und Akazie in starrer Ruhe und stechen noch
anfangs Mai aus dem allgemeinen Grün mit ihren
kahlen Ästen heraus. Sogar individuelle Unter-
des Krokus unter dem Temperaturwechsel der schiede gibt es, Bäume der gleichen Art zeigen
wetterwendischen ersten Frühlingstage, Löwen-
zahn und Mittagsblume entfalten ihre strahlenden
Kronen nur dem hellen Lichte, und verbergen
sie im Dunkeln ; -) allnächtlich sind die Blätter
des Klees, der Bohne, der Akazie abwärts ge-
schlagen, jeden Morgen heben sie sich wieder dem
Lichte entgegen.^) Und wenn wir mit feinen
Methoden den Verlauf des Längenwachstums
messen,*) oder das Wuchern eines Schimmelpilzes
auf der Agarfläche beobachten, oder mit dem
Mikroskop die Kernteilungsvorgänge in den
wachsenden Vegetationspunkten verfolgen,*) oder
das Wachstum der Stärkekörner oder andere in-
time physiologische Vorgänge untersuchen, die
sich innerhalb des Stoffwechselgetriebes der
lebenden Zellen abspielen, so gewahren wir wie-
derum überall Rhythmen verschiedenster Art.
Alle sind sie zweifellos auf das feinste aufein-
ander abgestimmt, sie können schließlich auch in
größere Rhythmen zusammenklingen, die sich in
auffälligen Erscheinungen offenbaren. Die ein-
drucksvollste dieser Art ist wohl die periodische
Wachstumstätigkeit, die die heimische Vegetation
im Wechsel der Jahreszeiten zeigt. Wir wollen
den Versuch machen, diese einer wissenschaft-
lichen Analyse zu unterziehen und werfen die
oft, obwohl nebeneinanderstehend, eine bedeutende
Phasendifferenz, ja nicht selten schlagen gar die
Äste desselben Individuums nicht zu gleicher
Zeit aus. Staffelweise sehen wir also das grüne
Kleid der Erde entstehen. Ferner wachsen durch-
aus nicht, wie man erwarten sollte, die Triebe,
*) Nach einer am 23. Mai 1922 in der Landwirtschaft-
lichen Hochschule zu l^erlin gehaltenen Festrede.
M Allgemeine Darstellungen des Rhythmus z. B. bei
H. Kniep, Über den rhythmischen Verlauf pflanzlicher Le-
bensvorgänge. Naturwissenschaften 1915, Heft 36/37, sowie
H. Schroeder, Die Pflanze im Wechsel der Jahreszeilen.
Nalurw. Wochenschr. Bd. XIX, S. 52, 1920.
''} Literatur bei R. Stoppel, Über den Einfluß des
Lichtes auf das Ofi'nen und Schließen einiger Blüten. Zeitschr.
f. Botanik Bd. 2, S. 369, 1910.
") Vgl. z. B. W. Pfeffer, Beiträge zur Kenntnis der
Entstehung der Schlaf bewegungen. Abhandl. der Math.-Phys.
Kl. d. Kgl. Sächsischen Akad. d. Wissensch. Bd. XXXIV,
Nr. I, 1915 und R. Stoppel, Die Abhängigkeit der Schlaf-
bewegungen von Phaseolus multiflorus von verschiedenen
Außenfaktoren. Zeitschr. f. Botanik Bd. 8, S. 609, 1916.
*) Vgl. z. B. H. Sierp, Untersuchungen über die durch
Licht und Dunkelheit hervorgerufenen Wachstumsreaktionen
bei der Koleoptile von Avena sativa und ihr Zusammenhang
mit den phototropischen Krümmungen. Zeitschr. f. Botanik
Bd. 13, S. 113, 1921.
*) G. Karsten, Über embryonales Wachstum und seine
Tagesperiode. Zeitschr. f. Botanik Bd. 7, S. I, 1915.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
die aus den Knospen hervorkommen, den ganzen
Sommer weiter, solange es die Gunst des Klimas
gestattet.*) Bei der Buche und Eiche z. B. sehen
wir nämlich, wie der etwa Mitte Mai anhebende
Frühlingsschub bereits Ende Mai, spätestens An-
fang Juni zu Ende ist, also mitten im besten
Wetter die Zweigspitzen sich zur Ruhe begeben
und in Knospenschuppen einschließen, ebenso wie
die Kirsche, schon während sie blüht, die Knospen
für das nächste Jahr ausbildet, innerhalb welcher
dann etwa im Juli die zarten Blütenanlagen ent-
stehen, das Hochzeitskleid, das bestimmt ist, den
Baum im nächsten April zu schmücken.')
Ganz merkwürdig ist nun aber, daß nicht
wenige Bäume unserer Wälder nach dem ersten
Frühlingsschube noch einen zweiten, oft sogar
noch einen dritten Schub im selben Sommer
machen.*) So bricht z. B. an der Eiche ein
Fünftel der einige Wochen vorher gebildeten
Knospen von neuem auf, und die sommerlich-
dunkle Krone belebt sich durch neue helle Blatt-
büschel, die nach zwei Wochen ausgewachsen
sind. Meist folgt dann im August noch ein
dritter Schub, der ebenfalls nur auf einen Teil
der Krone beschränkt ist, und zieht man die
Eiche im Gewächshause, so pflegt die Zahl der-
artiger Schübe ganz regelmäßig vier zu betragen.
Also alljährlich ein großer allgemeiner Haupt-
schub und eine Anzahl ihm folgender Teilschübe.
Diese als „Johannistriebe" bezeichneten Neubil-
dungen sind nun keineswegs, wie vielfach ange-
nommen wird, etwas Absonderliches oder gar
Pathologisches; sie gehören vielmehr durchaus in
den normalen Entwicklungszyklus von Eiche,
Buche und anderen Bäumen hinein. In anderen
Fällen treten sie nur gelegentlich in Erscheinung.
So sahen wir z. B. im vergangenen Jahre, das
klimatisch von der Norm abwich, hier in Berlin
im September die schon gänzlich entblätterten
Roßkastanienbäume von neuem ausschlagen und
sogar ein zweites Mal blühen, d. h. einen Teil
der für den nächsten Frühling bestimmten Knospen
schon vor dem Winter entfalten, und in dem
heißen und trockenen Sommer 191 1 konnte man
ähnliches vielfach beobachten.
Auch die Tätigkeit der Wurzeln ist periodisch,*)
die Periode ist aber wiederum bei einzelnen
Arten auffällig verschieden voneinander. So nimmt
z. B. die Tanne ihre Nährsalze hauptsächlich von
Februar bis Mitte Mai, die Fichte dagegen erst
von Mitte Mai bis Mitte Juli auf, beide nahe
verwandten Bäume zeigen also im gleichen Klima
einen verschiedenen Rhythmus dieser physiologisch
so wichtigen Funktion.'")
Ähnliche Zweifel an der direkten Wirkung
des Klimas stoßen uns auf, wenn wir den Laub-
fall betrachten. Es zeigt sich nämlich auch hier,
daß er keinesfalls eine einfache Folge der Kälte
oder der Lichtabnahme sein kann. Zunächst ein-
mal gibt es ja auch bei uns nicht wenige aus-
dauernde Gewächse, die den Winter über ihr
Laub behalten, deren Blätter also eine über ein
Jahr hinaus sich erstreckende Lebensdauer haben.
Die Blätter der Stechpalme leben über zwei Jahre,
die des Efeus und der Preißelbeere fast 2^1^
und die Nadeln der Fichte gar bis 6 Jahre.'') Das
Abwerfen solcher mehrjähriger Blätter geschieht
auch durchaus nicht immer im Herbst, die Kiefer
z. B. läßt den Hauptteil ihrer zum Abwurf be-
stimmten Nadeln im Frühling fallen. Auch die
winterkahlen Pflanzen werden nicht unmittelbar
durch den Frost genötigt, ihre Blätter abzuwerfen.
Denn in der Regel werden schon lange vorher,
im Sommer, am Blattstiel die Trennungsgewebe
ausgebildet, durch die später der Blattwurf ein-
geleitet wird. Desgleichen vollziehen sich schon
lange, bevor die Faust des Winters zupackt, im
Blatte gewisse physiologische Vorgänge, die auf
den Fall hindeuten. So wandern manche Stoffe,
wie Phosphor-, Stickstoff-, Kaliverbindungen aus
dem Blatte aus, der grüne Farbstoff in den Chloro-
plasten wird zerstört, während die gelben erhalten
bleiben.'-)
Wenn nun auch, wie sich aus den soeben
mitgeteilten Tatsachen ergibt, die Periodizität
unserer Pflanzen gewiß nicht unmittelbar vom
Rhythmus des Klimas verursacht wird, so könnte
man sich doch vorstellen, daß sich der gegen-
wärtige Zustand zu einem wesentlichen Teil durch
die äonenlange Einwirkung des Klimas auf den
Pflanzenwuchs herausgebildet habe, indem sich
dieser allmählich an jenes anpaßte. Dann müßte
man erwarten, in solchen Ländern die kein aus-
geprägt periodisches Klima besitzen, eine Vege-
tation ohne Rhythmus anzutreffen. Zwischen
den Wendekreisen zu beiden Seiten des Äquators
nun umzieht eine Zone, die sog. Tropenzone, die
Erde, in welcher der starke Wechsel von Kälte
und Wärme fehlt, und wenn auch in diesem
Gürtel gewisse Schwankungen anderer Art, näm-
lich solche zwischen Trockenheit und Feuchtig-
keit vorkommen können, so gibt es doch auch
tropische Landstriche, wo selbst diese Schwan-
kungen sich weit außerhalb der etwa dem Pflanzen-
wuchs gefährlichen Grenzen halten, und wo das
ganze Jahr hindurch Tag für Tag dieselben
idealen Bedingungen für das Gedeihen der Pflanzen
herrschen. Solche, wie man sagt, „immerfeuchten"
Tropengegenden, zu denen z. B. das westliche
Java, gewisse Gebiete Kameruns gehören, gleichen
•) Vgl. M. Bus gen, Bau und Leben unserer Waldbäutne.
2. Aufl. Jena 1917.
') Askenasy, Aber die jährliche Periode der Knospen.
Bot. Zeitg. 1877.
"} H. L. Späth, Der Johannistrieb. Berlin 1912.
") M. Plaut, Über die morphologischen und mikrosko-
pischen Merkmale der Periodizität der Wurzel usw. Festschr.
z. Feier des 100 jährigen Bestehens der Kgl. Würltemb. Land-
wirtsch. Hochsch. Hohenheim. S. 129.
'") E. Ramann und H. Bauer, Trockensubstanz, Stick-
stoff und Mineralstoffe von Baumarten während einer Vege-
tationsperiode. Jahrb. f. wissensch. Botanik Bd. 50, S. 67,
1912.
") Angaben bei Büsgen 1. c. S. 218.
") N. S w a r t , Die Stoffwanderung in ablebenden Blättern.
Jena 1914.
N. F. XXI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
387
einem das ganze Jahr hindurch mit aller Kunst
gleich warm, gleich hell und gleich feucht ge-
haltenen Treibhaus. Wenn irgendwo, so müssen
wir hier Auskunft über unsere Frage nach dem
Rhythmus erhalten. Sehen wir nun, welchen An-
blick uns dort das Pflanzenleben bietet.
Auf den ersten Blick scheint es unseren Er-
wartungen zu entsprechen. Das ganze Jahr hin-
durch bedeckt die Erde ein Pflanzenkleid von er-
staunlich gleichmäßiger Dichte und Üppigkeit,
in dem des Blühens und Wachsens kein Ende ist.
Dieser dauernde Rausch der grünen Farbe, dieser
überwältigende Sieg der Vegetation übertäubt
alle anderen Eindrücke. Sobald wir aber be-
ginnen, durch längere Zeit hindurch die so unge-
heuer mannigfaltigen Bäume zu beobachten, die
die gründämmrigen Urwälder zusammensetzen,
sehen wir zu unserer Überraschung, wie überall
rhythmische Erscheinungen hervortreten, und daß
die Zahl aperiodisch fortwachsender Pflanzen da-
gegen ganz geringfügig ist. Aber während bei
uns die Rhythmik uniformiert ist, gewissermaßen
unter einheitlichem Kommando exerziert, läuft
dort alles wie ein führerloser Haufe durcheinander.
Als physiognomisch bestimmend greifen wir wieder
Treiben und Blattfall heraus.'-'')
So gibt es viele Bäume dort, z. B. riesige
Feigenbäume, Verwandte des Gummibaumes, bei
denen oft binnen weniger Tage die gesamte Laub-
masse in dichtem Fall zu Boden sinkt, so daß
der Baum kahl aus der grünen Umgebung heraus-
ragt. So steht er einige Tage, dann treiben die
Knospen aus und in zwei bis drei Wochen hat
sich das riesige Blätterdach wieder völlig erneuert.
Diese Vorgänge wiederholen sich periodisch, bei
manchen Bäumen alle 5, bei manchen alle 4, ja
bei anderen alle 2 Monate. Dann gibt es andere
Bäume, bei denen die Rhythmik insofern weniger
deutlich hervortritt, als der Schub nicht so plötz-
lich und explosiv erfolgt und auch der Blattfall
sich über einen längeren Zeitraum ausdehnt und
so das Ende des letzteren noch in den Anfang
der Triebperiode hinübergreift. Solche Bäume
sind dann immer grün, da sie nie kahl stehen,
sind aber gleichwohl einem deutlichen periodischen
Wachstum unterworfen. Bei anderen Bäumen
kommt das immergrüne Kleid auf andere Weise
zustande. In regelmäßigen Intervallen treibt
immer ein Teil der Knospen aus. Da häufig
solche mit außerordentlicher Geschwindigkeit
herausstürzenden Triebe anfänglich samt ihren
weißlich oder rötlich gefärbten Blättern schlaff
herabhängen, so hat man eines Tages das wunder-
volle Schauspiel, daß sich in der dunkelgrünen
Krone weiße oder rötliche Wimpel im Winde
wiegen. Oft genug läßt sich nun feststellen, daß
") Vgl. hierzu G. V o 1 k e n s , Laubfall und Lauberneue-
rung in den Tropen. Berlin 1912; S. Simon, Studien über
die Periodizität der Lebensprozesse der in dauernd feuchten
Tropengebieteu heimischen Bäume. Jahrb. f. wissenschaftl.
Botanik Bd. 54, S. 71, 1914; A.F.W. Schimper, Pflanzen-
geographie auf physiologischer Grundlage. S. 260. Jena 1908.
solche verschiedenen Perioden bei den Individuen
ein und derselben Pflanzenart nicht etwa zu
gleicher Zeit eintreten, vielmehr, trotzdem letztere
nahe beieinander stehen, zu ganz verschiedenen
Zeiten. So kann man nebeneinander Bäume der-
selber Art antreffen, von denen der eine ganz
kahl, der andere voll belaubt ist. Die Individuen
folgen also einem individuellen Rhythmus, der
sich auch darin zeigt, daß z. B. oft die Steck-
linge einer Pflanze dem gleichen Rhythmus ge-
horchen wie der Mutterstamm. Noch merk-
würdiger ist, daß vielfach die Zweige eines und
desselben Baumes nicht synchron arbeiten. Dann
sieht man, wie einige Äste ganz kahl, andere mit
reifem Laube geschmückt sind, wieder andere
austreiben, und zieht man noch die in meinen
Erörterungen zunächst ausgeschaltete Blührhyth-
mik hinzu, so wird das Bild noch bunter. So
blühen z. B. an dem berühmten tropischen Obst-
baume, dem Mangobäume, nacheinander die
einzelnen Hauptäste, und demgemäß sind auch
die Früchte in verschiedenem Zustande der Ent-
wicklung. Solche Bäume vereinen dann alle die
Phasen der Entwicklung, die sich bei uns in den
Jahreszeiten folgen. Ein wirklich gleichmäßiges
Treiben derart, daß für jedes neugebildete Blatt
ein altes abfällt und alle Blätter in ganz gleich-
mäßiger Folge entstehen, also jener Fall, den wir
in jenen gesegneten Strichen als Regel erwarten
sollten, ist ziemlich selten. Die Palmen z. B.
wachsen recht gleichmäßig; die Kokospalme ent-
wickelt jährlich etwa 12 Blätter und stößt dafür
12 ab. Kompliziert ist auch das Bild, das uns
die Vegetation in solchen Tropenländern zeigt,
wo ausgeprägte Trocken- und Regenzeiten vor-
kommen. Hier tritt meist, ganz ähnlich wie bei
uns, auch in der Physiognomie der Landschaft
eine deutliche Rhythmik hervor; aber sie wird
auch hier ebensowenig durch den Wassermangel
bzw. Überfluß eindeutig bestimmt, indem die dort
wachsenden Pflanzen keineswegs alle in ihren
Phasen übereinzustimmen brauchen, z. B. nicht
alle der Regel folgen, in der Trockenzeit im blatt-
losen Zustand zu blühen und in der Regenzeit
ihr Laub zu erneuern.
Wie würden sich nun in bezug auf ihre Rhyth-
mik die Pflanzen verhalten, wenn wir sie aus
ihrem heimatlichen Klima in ein anderes ver-
setzen würden ? wenn wir z. B. heimische Pflanzen
in ein gleichmäßiges Tropenklima und tropische
in das unserige verpflanzten ? Nun, die letzteren
würden, sofern es sich um ausdauernde Formen
handelte, dem ersten Winter zum Raube fallen,
und selbst wenn wir sie in einem Warmhaus der
winterlichen Kälte entziehen würden, doch unter so
verhältnismäßig abnormen Bedingungen wachsen,
daß man nicht allzuviel daraus schließen kann.
Immerhin wäre es ganz interessant, einmal fest-
zustellen, wie sich etwa tropische Bäume mit
genau bekannter heimischer Rhythmik in unseren
großen Glashäusern verhalten würden, die ja
immer in bezug auf das Licht und trotz aller
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
Technik auch in bezug auf die Temperatur ein
deutlich rhythmisiertes Klima aufweisen. Auch
unsere einheimischen Pflanzen kann man durch-
aus nicht überall in die Tropen versetzen ; in den
heißen Niederungen wird der Versuch, nament-
lich wieder bei Holzgewächsen mit Sicherheit
mißlingen. Dagegen halten sich viele Bäume im
tropischen Gebirgsklima ganz gut und viele Jahre
lang. So gibt es in Hakgalla auf Ceylon, 1800 m
ü. M. eine Anpflanzung von Stieleichen, Pyra-
midenpappeln und Obstbäumen und am iVIassiv
des Pangerango in Java in 1500 m Höhe eine
ganze Menge Bäume aus Ländern mit Sommer-
Winterklima. Auf dem Gipfel des Pangerango
selber in 3000 m Höhe gedeiht gar eine Buche,
die dorthin vor etwa 60 Jahren verpflanzt wurde.
Alle diese künstlich angesiedelten Bäume zeigen
im einzelnen ein verschiedenes Verhalten, stimmen
jedoch darin überein, daß sie durchaus nicht
aperiodisch wachsen. Sie sind zwar vielfach
immergrün, ihre Aste treiben aber periodisch aus,
oft ist sogar eine weitgehende Unabhängigkeit
der Äste eingetreten, so daß an ein und dem-
selben Exemplar alle Jahreszeiten vertreten sind. ^*)
Pfirsichbäume, aus europäischem Saatgut auf der
Insel Reunion erzogen, ließen gut erkennen, wie
sich ganz allmählich die heimische Periode ver-
änderte, sie warfen anfänglich noch jährlich das
Laub einmal ganz ab, wurden aber, indem die
Periode des gänzlichen Kahlstehens immer kürzer
wurde, schließlich „immergrün". ^^) Damit ist
aber natürlich nicht gesagt, daß sie wirklich
aperiodisch geworden wären, d. h. wirklich gleich-
mäßig gewachsen wären. Wir können vielmehr
aus anderen Erfahrungen mit den gleichen Bäumen
mit Sicherheit vermuten, daß auch diese Pfirsich-
bäume noch ruckweise trieben. Immerhin zeigten
sie, wie erst allmählich die inneren Dispositionen
eine Verschiebung erfuhren, wie langsam die ge-
wohnten Schwingungen in neue kompliziertere
übergingen.
Aus diesen interessanten Beispielen geht so-
viel hervor, daß Bäume, die einem mit dem
mörderischen iVlittel des Frostes operierenden
Klima entrückt wurden , allmählich frei neuen
rhythmischen Dispositionen folgen, die aus dem
Getriebe ihres Innenlebens hervorgehen, und daß
sie dabei nach unseren Begriffen in die wunder-
lichste Unordnung geraten.
Sehr viel Aufschluß geben uns weiter die
höchst interessanten Versuche, die Ruheperiode
einheimischer Pflanzen experimentell zu beein-
flussen, sie wo möglich zu brechen. Man hat
Eichen jahrelang in Gewächshäusern kultiviert.^")
Sie machten, wie ich dies schon vorher erwähnte,
iährlich mehrere Schübe, trieben früher aus, be-
hielten ihr Laub länger, wuchsen aber ruckweis,
d. h. blieben ebenso periodisch wie vorher. Frei-
lich ließ sich so der schwankende Lichtfaktor
nicht konstant machen. Man hat deshalb zu
starker künstlicher Beleuchtung gegriffen und
Buchen nach Eintritt ihrer normalen herbstlichen
Ruhe zu verschiedenen Zeiten einem solchen
Dauerlicht ausgesetzt.'') Jetzt gelang es, ihre
Knospen im September nach einem Lichtbade
von 10 Tagen zum Austreiben zu veranlassen, im
November beginnend , brauchte man dazu aber
38, im Dezember 26, Mitte Februar 14 und An-
fang März nur 8 Tage. Es erfolgte in allen Fällen
mithin das Austreiben früher, als es in der freien
Natur draußen geschehen wäre. Aber der Reiz
des Dauerlichtes war doch nicht zu allen Zeiten
der Winterruhe gleich wirksam. Das stimmt gut
mit den Ergebnissen jener Versuche am Flieder
überein, die vor allem zur Klärung des Ruhe-
problems und überhaupt zu seiner exakten F"or-
mulierung beigetragen haben.'*) Es handelte sich
da um die für die gärtnerische Praxis wichtige
Frage, den Flieder vorzeitig zum Treiben und
Blühen zu bringen. Daß man dies etwa von
Ende Dezember an dadurch erreichen kann, daß
man die Zweige in die Wärme bringt, war be-
kannt. Man kann das auch bei anderen blühen-
den Zweigen im Spätwinter erreichen. Es ließ
sich nun zeigen, daß man durch Anwendung eines
besonderen Reizes das Austreiben sehr beschleu-
nigen kann, nämlich durch Ätherdämpfe. Solche
narkotisierten Zweige des Flieders ließen sich
Ende August und Anfang September gut „früh-
treiben", wie der Gärtner sagt. Desgleichen
glückte dies von Ende November an mit zuneh-
mender Sicherheit. Aber — und das war das
Auffallende — im September und Oktober ließen
sich die Zweige nicht durch den Ätherrausch aus
ihrer Ruhe aufwecken. Auf Grund solcher Er-
fahrungen kann man nun den Begriff der Ruhe
wesentlich schärfer fassen und die Gesamtheit der
winterlichen Untätigkeit in zwei Abschnitte glie-
dern, nämlich in eine eigentliche Ruheperiode
und eine Periode, die wir als „Starre" bezeichnen
wollen, indem wir unter Ruhe einen Zustand ver-
stehen, in welchem auch bei günstigen Außen-
bedingungen kein Wachstum erfolgt, unter Starre
dagegen einen solchen, in welchem eine Pflanze
trotz völliger irmerer Bereitschaft durch einen ins
Minimum getretenen äußeren Faktor, wie z. B.
Wärme, Wasser am Treiben gewaltsam gehindert
wird. In der Ruhe gleicht der Organismus einer
Uhr, deren Werk durch einen Mangel gehemmt
ist, und die nicht geht, auch wenn das Pendel
angerührt wird, in der Starre einer Uhr, deren
Werk gangbereit ist, aber noch auf das Anrühren
'•') H. Dingler, Über Periodizität sommergrüner Bäume
Mitteleuropas im Gebirgsklima Ceylons. Sitzungsber. d. Kgl.
Bayerischen Ak. d. Wissensch. Math. -Physik. Kl. Jahrg. 191 1,
S. 217.
">) Edm. Bor dag e, A propos de l'heredite des carac-
tt-res acquis. Bull, scientif. de la France et de la Belgique
7. Serie, Bd. 54, 1910.
'") G. Bert hold, Untersuchungen zur Physiologie der
pflanzlichen Organisation Bd. II. Leipzig 1904.
") G. Klebs, Über das Treiben der einheimischen
Bäume, speziell der Buche. Abh. d. Heidelberger Ak. der
Wissensch. Math.-naturw. Kl. 3. Abhandlung. 1914.
'") W. Juhannscn, Das Ätherverfahren beim Früh-
treiben. 2. Aufl. 1906.
N. F. XXI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
389
des Pendels wartet. Nach dieser Definition ist
der F"lieder, und mit ihm sinngemäß andere bei
uns ruhende Pflanzen in ähnlicher Weise, etwa
von Ende Dezember an in Starre, vorher ruht er.
Aber auch diese Ruhe ist nicht gleichmäßig tief,
wie man bemerkt, wenn man durch starke Mittel
versucht, sie zu stören. Zu Beginn der Ruhezeit
hat man damit einen gewissen Erfolg, desgleichen
dann, wenn sie sich dem Ende zuneigt. In der
mittleren Zeit gelingt es aber auf keine Weise,
die Hemmung im Uhrwerk des Stoffwechsels zu
beseitigen. Wir müssen uns also vorstellen, daß
sich gegen Ende der Wachstumsperiode mit zu-
nehmender Stärke antagonistische Vorgänge ent-
wickeln, die zum Stillstand des Wachsens führen,
und sich auch darüber hinaus zu einer maximalen
Höhe steigern, dann aber wieder ebenso allmäh-
lich abklingen. Später hat man noch eine große
Zahl anderer Mittel kennen gelernt, durch welche
die Ruhezeit verkürzt werden kann.''') Es gelingt,
durch Warmwasserbehandlung, durch Verwundung,
durch Injektion mit Wasser, durch Radiumbestrah-
lung, durch Sauerstoffentziehung, durch Azetylen,
ja durch den Rauch des Holzfeuers die Prozesse,
die während der Ruhe verlaufen, so zu beein-
flussen, daß sie abgekürzt wird, ohne daß aber
ihr Wellencharakter verwischt, oder gar die Ruhe
ganz beseitigt wird. Auch starkes Dauerlicht ge-
hört offenbar zu solchen Reizen, wie uns vorhin
das Beispiel der künstlich beleuchteten Buche
zeigte, deren Knospenruhe zu verschiedenen
Zeiten sehr ungleich tief ist. Vielfach hat man
auch einen Faktor für die allmähliche Herstellung
der Triebbereitschaft während der Ruhe wirksam
gefunden, der offenbar normal bei unseren Pflanzen
eine Rolle spielt, nämlich die Abkühlung. Viele
Pflanzen brauchen notwendig eine Abkühlung, um
normal auszutreiben und fortzuwachsen. Bekannt
ist, daß die Kartoffel im Herbst nicht sofort aus-
treibt, auch wenn sie warm und feucht gehalten
wird, daß sie dagegen zu vorzeitigem Keimen
gebracht werden kann durch eine vorhergehende
Abkühlung. -") Dementsprechend haben Eschen
und Linden länger als ein Jahr in laublosem, un-
tätigem Zustande verharrt, wenn sie nach Eintritt
des Blattfalls ins Warmhaus verbracht, also der
normalen Abkühlung entzogen wurden. Wurden
sie jedoch zwischendurch genügend kräftig und
lange abgekühlt, so wurde diese Ruhezeit ganz
erheblich verkürzt.-') Ähnliches zeigt sich auch
sehr hübsch bei den winterannuellen Gewächsen,
wie beim Wintergetreide. "-) Dieses entwickelt
sich nämlich, wenn es im Frühjahr ausgesät wird,
nicht normal. Trotz üppiger Bestockung gelangt
es nicht zur Blüte. Das liegt aber nicht daran,
daß die Zeit zur Vollendung seines Lebenszyklus
zu kurz ist, sondern daran, daß es notwendig in
seiner Jugend eines hinreichend kräftigen Ab-
kühlungsreizes bedarf. Der ist beim Sommer-
getreide überflüssig. Auch zweijährige Gewächse,
wie Kohl, Runkel- und andere Rüben, entwickeln
sich nur dann zu normal blühenden Pflanzen, wenn
sie am Ende ihrer ersten vegetativen Lebens-
periode einer Kälteeinwirkung ausgesetzt werden.
Da wir eben vom Blühen sprachen, lassen
sich hier einige Bemerkungen einschalten, die von
allgemeinerem Interesse sind. Ich bin bisher auf
diese eigentümliche Wachstums- und Bildungs-
tätigkeit, trotzdem sie in einem besonders auf-
fälligen Rhythmus verläuft, nicht eingegangen,
um das Bild nicht zu verwirren. Die mehrjährigen
Pflanzen bei uns blühen ja gewöhnlich jedes Jahr
und zwar meist zur Zeit der Frühjahrstrieb^
periode, z. T. vor dem Laubschube, wie der
Haselstrauch , der Herlitzenbaum , die Magnolien
und Forsythien, die also alle in laublosem Zu-
stande blühen, oder mit dem Laubschube, wie
die Kirsche, oder am Ende des Frühjahrstriebes,
wie die weiblichen Kätzchen der Birke, oder
schließlich noch später, wie die prachtvoll blühende
Katalpa, ein aus Ostasien stammender Baum un-
serer Anlagen, und die Waldrebe. Auch in den
Tropen schmücken sich die Bäume periodisch
mit ihrem Hochzeitskleide, entweder in ihrer gan-
zen Krone oder an einzelnen Ästen. In tropi-
schen Ländern mit typischen Regenzeiten treten
die Bäume häufig in den blühreifen Zustand gegen
Ende der Trockenzeit, wenn sie noch kahl da-
stehen. Manche sind dann beladen mit brennend-
rotem Blütenschmuck und stehen gleich riesigen
Hochzeitsfackeln in der Landschaft. Im ganzen
spielen aber die Blüten durchaus nicht eine so
bestimmende Rolle im tropischen Landschafts-
bilde, wie bei uns z. B. im Frühjahr. Wenige
Pflanzen blühen fortgesetzt, wie z. IB. die Kokos-
palme, die mit lobenswerter Regelmäßigkeit ihre
Blüten und Früchte entwickelt.
Also auch das Blühen ist an einen periodisch
wiederkehrenden Zustand gebunden. Sehr merk-
würdig ist es, daß diese Perioden länger als ein
Jahr, unter Umständen Jahrzehnte lang sein
können. So blühen gewisse Bäume des tropischen
Asiens ziemlich regelmäßig alle 6 Jahre, und für
eine Bambusart wird sogar angegeben, daß sie in
einem etwa 32 jährigen Turnus blüht. '-^J Solche
lange Perioden gibt es bei uns nicht. Immerhin
läßt sich bei uns Ähnliches beobachten, wenn die
Üppigkeit des Blühens und Fruchtansatzes in Be-
tracht gezogen wird. Bekannt ist ja, daß der
Apfelbaum nicht alle Jahre gut trägt, im Unter-
schiede vom Kirschbaum, die Buchen streuen nur
alle 5 — 8, die Eichen in noch längeren Intervallen
'") H. Molisch, Das Warmbad als Mittel zum Treiben
der Pflanzen. Jena 1919; weitere Literatur bei F. Weber,
Studien über die Ruheperiode der Holzgewächse. Sitzungs-
berichte d. Kaiserl. Akad. d. Wissensch. in Wien. Math.-
naturw. Kl. Abt. I, 125. Bd., 5. u. 6. Heft, 1916.
-") H. MüUer-Thurgau, Über Zuckeranhäufung in Pflan-
zenteilen infolge niederer Temperatur. Landwirtsch. Jahrb.
Bd. II, S. S18, 1S82.
■•^') F. Weber a. a. O. S. 22.
'') G. Gaßner, Beiträge zur physiologischen Charakte-
ristik Sommer- und winterannueller Gewächse, insbesondere
der Getreidepflanzen. Zeitschr. f. Botanik Bd. lo, S. 417,
1918.
■'■') Vgl. Schimper (siehe Anm. 13) S. 270.
390
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
besonders reichen Segen aus und für Koniferen,
Haselsträucher sind ebenfalls rhythmisch wieder-
kehrende Zeiten reichen Samenansatzes beobachtet,
während Linden, Birken, Ahornbäume und Erlen
alljährlich mit annähernd gleicher Kraft blühen
und fruchten. -*) Wenn auch alle diese Rhythmen
nicht sehr regelmäßig sind und auch gewiß weit-
gehend durch klimatische Faktoren modifiziert
werden können, so läßt sich doch auch hier kein Zu-
sammenhang mit großen Witterungsschwingungen
feststellen. Jedenfalls zeigen sie Schwankungen,
die weit über die übliche Sommer- Winterperiodik
hinausgreifen.
Wenn wir nun noch einen Blick auf den Ver-
lauf des Längenwachstums irgendeines wachsenden
Organs werfen, so bemerken wir wiederum, daß
es durchaus nicht stetig verläuft. Selbst unter
völlig gleichen Außenbedingungen zeigt ein junger
wachsender Pflanzenteil in aufeinanderfolgenden
Zeitabschnitten nicht die gleichen Zuwachsbelräge,
vielmehr beginnt er in langsamem Tempo, steigert
dieses immer mehr bis zu einer Höchstge-
schwindigkeit, um es dann wieder bis zum völligen
Stillstande zu verlangsamen. Das erste Scheiden-
blättchen des Hafers z. B. zeigt in aufeinander
folgenden 1 2 - Stunden - Intervallen bei gleich-
mäßiger Wärme und im Dunklen 4, 14, 22,
24, 13, 8, I mm Zuwachs.'''*) In diesem ganz
allgemein charakteristischen Wachstumsverlauf
offenbart sich das, was man als die „große
Wachstumsperiode" bezeichnet. Innerhalb der-
selben treten noch kleinere Rhythmen hervor, die
mit dem Wechsel von Tag und Nacht zusammen-
fallen. Doch sind diese Oszillationen, obwohl sie
vom Tag -Nachtwechsel reguliert werden, doch
gewiß nicht durch diesen unmittelbar hervorge-
rufen, denn sie dauern auch bei ganz gleichen
Außenbedingungen fort. Steckrüben, die bei
gleichmäßiger Wärme im Dunklen austreiben,
zeigen die gleichen Schwankungen des Längen-
wachstums ihrer Triebe, wie die im F'reien be-
findlichen, und das gleiche nahm man an Bohnen-
keimlingen wahr.-")
Das Tatsachenmaterial, das ich ausbreitete, hat,
wie ich hoffe, die Vorstellung von der Rhythmik
im Pflanzenleben soweit belebt, daß wir den Ver-
such machen können, einige theoretische Erörte-
rungen anzustellen. Die Frage lautet: ist der
rhythmische Wechsel von Treiben und Ruhe eine
Folge gleichlaufender äußerer Rhythmen, oder
liegt die Periodizität im Wesen der Lebensvor-
gänge selber begründet? oder, um in der Sprache
der Pflanzenphysiologie zu sprechen : ist sie in-
duziert oder autonom? Diese Frage hat in der
letzten Zeit einen sehr lebhaften Streit der Mei-
''*) Vgl. Hüsgen (s. Antn. 6) S. 297.
'"") Sier ]) , s. Anm. 4.
'^") J. Baranetzky, Die tägliche Periodizität im Längen-
wachstum des Stengel. Mcmoires de l'Acad. des sciences de
St. Petcrsbourg. 7. Serie, Hd. 27, Nr. 2, 1879; E. God-
lewski, Über die tägliche Periodizität des Längenwachstums.
Anzeiger der Akad. d. Wissensch. in Krakau. 1889.
nungen entfesselt. Sie ist auch nicht von der Art,
daß eine wirklich überzeugende und einfache Ant-
wort möglich wäre. Vielmehr hängt ihre Be-
antwortung ebenso wie bei ähnlichen grundsätz-
lichen biologischen Fragen ganz und gar von der
prinzipiellen Einstellung ab, die den einzelnen
Forscher bei der Beurteilung von Lebensvor-
gängen überhaupt bestimmt. Diese kommen,
soviel ist allgemein zugestanden, zuwege durch
das Reagieren innerer, d. h. mit der vererbten
Struktur gegebener und somit im spezifischen
Bau des Lebensträgers, des Protoplasmas be-
gründeter und schwer weiter analysierbarer
Faktoren auf äußere Faktoren, Chemikalien und
Physikalien. Keine Lebenserscheinung kann allein
durch das eine oder das andere hervorgerufen
werden. Laufen nun Vorgänge in einem leben-
den System auch bei experimentell hergestellter
Konstanz der äußeren Faktoren ab, so bezeichnet
man solche als autonome, eigengesetzliche, ant-
wortet aber die Pflanze auf eine bestimmbare
äußere Veränderung bei Konstanz der übrigen
Bedingungen mit einer bestimmten Lebensäuße-
rung, so nennen wir diese eine „induzierte". Die
einen haben nun die Neigung, die Innenbe-
dingungen als das wesentliche, den festen Pol
anzusehen, und schreiben den Außenfaktoren nur
eine bescheidene Rolle als Modifikatoren zu, die
anderen, tief beeindruckt von gewissen Erfolgen
der Experimentierkunst, heften den Blick auf die
Wirksamkeit der Umweltfaktoren und meinen, es
liege nur an der Unvollkommenheit unserer Er-
fahrungen und unserer Methodik, wenn so manches
nicht auf die Wirkung äußerer Veranlassung
zurückgeführt werden könne. Im Prinzip müsse
das möglich sein, und solche Naturen spielen
wohl gar mit dem Homunculusproblem und
träumen, es könne eines Tages gelingen , das
Leben aus seinen Bedingungen künstlich zusam-
menzusetzen, wenn man nur erst diese Bedingungen
kennen gelernt hätte. Den einen ist die lebendige
Substanz ein bei aller Schmiegsamkeit im einzelnen
doch starres unzugängliches Phänomen, das sich
in einer grundsätzlichen Vereinzelung gegenüber
allen anderen Phänomenen befindet, die uns in
der Natur umgeben, ein Geheimnis, ein Rätsel,
ungelöst und unlösbar. Dem anderen ist der
Lebensstoff ein weiches Wachs, aus dem die
Umwelt knetet, was sie will und der Experimen-
tator sich zu kneten vermißt, was man von ihm
verlange. Auch im Periodizitätsproblem stehen
sich diese verschiedenen Auffassungen gegenüber.
Die eine Seite meint, die Schwankungen der
Lebenstätigkeit gehen Schwankungen äußerer Be-
dingungen parallel, wenn wir auch diese Parallelität
noch nicht überall durchschauen,'-'') die Gegen-
seite versichert, der Rhythmus müsse primär in
der Eigenart des Ablaufs des lebendigen Ge-
"') So Klebs in zahlreichen Publikationen. Vgl. Über
das Verhältnis von Wachstum und Ruhe bei den Pflanzen.
Biol. Zentralbl. Bd. 37, S. 373, 1917.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
391
schehens begründet liegen, die Umwelt könne ihn
höchstens modifizieren. Eine wirkliche Einigung
ist schwer möglich, aber — und das ist wieder
erfreulich — , jene so gegensätzlichen Einstellungen
ergänzen sich in ihren Wirkungen vortrefflich.
Der frisch zupackende Rationalist bringt manchen
neuen Zug, manche neue Tatsache bei, an deren
Aufsuchung und Auffindung den idealistischen
Forscher die leicht resignierte Färbung seiner
philosophischen Gesamtauffassung hindert, wie ihn
diese andererseits besser befähigt, die Dinge in
ihrer Tiefe und in ihrem Zusammenhange zu er-
fassen und dadurch die Probleme vor materialisti-
scher Verflachung zu bewahren. So ist auch hier
durch rege experimentelle Untersuchung manches
als von außen beeinflußbar nachgewiesen, manche
wichtige und interessante Einzelheit gefördert
worden, ohne daß diese allein die Frage zu ent-
scheiden vermocht hätte.
Überblicken wir die verschiedenen Tatsachen,
die wir kennen lernten, namentlich das so merk-
würdige Verhalten der tropischen Pflanzen, so
weisen alle gleichsinnig auf eine starke innere
Komponente hin. Man kann sich das Nebenein-
andervorkommen so vieler individueller, subindi-
vidueller und spezifischer Rhythmen in demselben,
so außerordentlich gleichmäßigen Klima kaum
anders vorstellen , als daß sie auf dem Grunde
starker innerer Periodizitäten zustande kommen,
und daß unsere heimische, vertraute Vegetations-
rhythmik nur einen speziellen Fall darstellt, dem
das stark periodische Klima seinen Stempel auf-
prägte.
Wie nun aber diese starke für die Pflanzen
charakteristische innere Periodik etwa noch weiter
analysierbar ist, das ist eine sehr schwierige Frage,
die uns sofort tief in das Getriebe des lebendigen
Stoffwechsels hineinführt. Ein buntes Getriebe,
in welchem sehr verschiedene Teilprozesse ver-
laufen, die nicht alle an die Oberfläche des Sicht-
oder Faßbaren emportauchen. Das Wasser durch-
strömt den Körper und läßt seine anorganischen
Bestandteile in der Pflanze zurück, in den grünen
Teilen werden am Lichte Kohlenhydrate gebildet,
aus beiden Quellen schöpft die Pflanze das Mate-
rial für ihre komplizierten Synthesen , sie spaltet
die Stoffe wieder durch Enzyme, um aus den
Teilstücken wieder anderes aufzubauen oder sie
als Abfälle liegen zulassen. Und dabei wächst
sie dauernd.
Das ist eine besonders merkwürdige Eigen-
tümlichkeit der Pflanze. Sie wächst, solange
sie lebt, Leben ist bei ihr im Gegensatz zum
Tier untrennbar mit Wachsen verknüpft, d. h. mit
dauernder Zellteilung und Vermehrung des jungen
embryonalen Plasmas. Ein, wenigstens über
längere Zeiträume sich erstreckendes Leben ohne
Wachsen, scheint es bei der Pflanze überhaupt
nicht zu geben. Sie baut dauernd an, während
das Tier sich zeitlebens mit seinem Haus begnügt,
nachdem es fertig geworden ist. Theoretisch
wäre nun wohl denkbar, daß alle die zahllosen
Einzelvorgänge, die im lebenden Plasma verlaufen,
so genau aufeinander abgestimmt sind, daß ein
ganz stetiges Fortwachsen resultierte, das Ausmaß
der Assimilation und der Atmung, der Wasser-
aufsaugung und der Transpiration, der Synthesen
und der Spaltungen, der Speicherung und des
Verbrauches in jedem Zeitdifferential streng unter
dem Kommando der meristematischen Zonen
stünde. Aber wahrscheinlich ist diese Art wohl
nicht, viel plausibler erscheint es, daß ein nach-
einander naturgemäßer und vernünftiger wäre, als
dies nebeneinander, so wie wohl niemand, den
das Schicksal mit der Verwaltung von fünf Ämtern
bedacht hat, gleichmäßig an allen arbeitet, son-
dern sich auf eine Periodizität einrichten muß.
So werden auch im Haushalte der Pflanze bald
diese, dann wieder andere Funktionen in den
Vordergrund treten. Eine ist ja auf alle Fälle
überall auf der Erde periodisch, das ist die Assi-
milation, wodurch auch in den Tropen ein 12-
Stunden Rhythmus zum mindesten für diese Funk-
tion gegeben sein würde. Es ist nun gut vor-
stellbar, daß solche aus der Einteilung des phy-
siologischen Innengetriebes entspringende Periodik
sich schließlich, leicht sichtbar, in den Wachs-
tumsrhythmen zeigt und so bei den Organismen
besonders hervortritt, deren auffälligste Eigentüm-
lichkeit eben in dem lebenslänglichen Wachstum
besteht.
Dazu kommt noch eine zweite, mit dieser zu-
sammenhängende Eigentümlichkeit, das ist näm-
lich die räumliche Verteilung des Wachstums auf
zahlreiche begrenzte Stellen, wodurch der kolonie-
artige Charakter des Pflanzenindividuums bedingt
wird. Wenn auch auf einem Stamme sitzend und
von einem Wurzelsystem mit Wasser versorgt,
arbeiten doch alle die zahllosen Zweigenden räum-
lich weit getrennt voneinander und sind relativ
selbständig, wie sie es ja auch absolut werden
können, wenn sie als Stecklinge abgetrennt wer-
den. Daß auch durch diesen eigenartigen Kom-
plex von relativer Eigenwirtschaft und von gegen-
seitiger Verknüpfung der Astsysteme ein Gesamt-
kontinuum erschwert und Periodik begünstigt
wird, ist ebenfalls gut vorstellbar. In den Tropen
sehen wir ja in der Tat, wie die einzelnen Äste
auseinanderarbeiten, und die Neigung ist auch
bei unseren Bäumen vorhanden, ja wir müßten
uns eigentlich wundern, daß sie es nicht noch
viel mehr tun, wenn wir nicht wüßten, wie un-
barmherzig die Schere des Winters jede eigen-
sinnige Knospe erfaßt.
Und schließlich gibt es noch eine dritte,
abermals mit dem dauernden Wachstum der
Pflanze in Verbindung stehende Eigenheit der
pflanzlichen Organisation, das ist nämlich die
ganz auffällige Kurzlebigkeit der Zellen, die
sich nicht mehr teilen, d. h. also der fertigen
Körperzellen. Alle sich von den Meristemen,
d. h. den dauernd embryonal bleibenden Kom-
plexen abzweigenden, die An- und Umbauten
des Pflanzenkörpers zusammensetzenden, sog.
392
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
„Dauerzellen" verdienen diesen Namen inso-
fern nur in sehr beschränktem Sinne, als sie in
Wahrheit nur eine überraschend kurze Zeit am
Leben bleiben. Die Protoplasten sterben bald,
und nur ihre festen Zellgehäuse dauern. So leben
immer nur die Meristeme der Enden und die
Kambiummantelschichten innerhalb der Zweige,
Stämme und Wurzeln, sowie d i e Gewebe in ihrer
Nachbarschaft, die vor nicht allzu langer Zeit aus
jenen hervorgingen, alles andere ist tot und ver-
mehrt entweder das starre leblose Gerüst im
Innern oder wird als nutzloser Ballast in Gestalt
von Borken und Blättern abgestoßen. Diese Ab-
stoßung ist schlechthin eine Notwendigkeit, die
sich aus der lebenslänglichen Wachstumstätigkeit
und der geringen Lebensdauer der nicht mehr
teilungstätigen Zellen ergibt. Das Tier ist dem-
gegenüber ganz anders organisiert, Kambien und
Vegetationspunkte fehlen ihm, es wächst auch im
allgemeinen nur während seines ersten Entwick-
lungsstadiums; ist dies beendet, so finden Neu-
bildungen nur in sehr beschränktem Umfange
statt. Dafür haben aber seine Körperzellen wohl
allgemein ein langes Leben ; wenigstens weiß man
z. B. von den Nervenzellen, daß sie ebenso alt
werden, wie das Individuum selber.'-^) So fehlt
auch eine Abscheidung toten Gewebes in dem
Umfange, wie er für die Pflanze notwendig ist,
ganz. Wieder können wir vermuten, daß in dieser
dauernd notwendigen Abstoßung lebloser Teile
eine Komplikation des pflanzlichen Stoffwechsels
liegt, die sich leicht zu einem die Rhythmik be-
günstigenden Moment ausbildet, das das Tier
nicht kennt. Gleichwohl zeigt auch das Tier sehr
auffallende kleinere und größere Rhythmen.
Rhythmische Nahrungsaufnahme, rhythmische
Ausscheidung von Stoffwechselendprodukten,
Brunstperioden, Schlaf und Wachen sind bekannt
genug, und der Winterschlaf vieler Tiere erinnert
ja sehr an das Verhalten ausdauernder Pflanzen
in unserem Klima. Ob auch im pflanzlichen Stoff-
wechsel Ermüdungsstoffe vorkommen, wie sie im
tierischen nachgewiesen wurden, weiß man nicht.
Sollten sich solche finden, so hätten wir eine
schöne Einzelheit entdeckt, ohne damit die
Rhythmik selber erklärt zu haben. Denn in der
Anhäufung wachstumshemmender Produkte wäh-
rend des Wachsens, in der damit sich allmählich
steigernden Hemmung des letzteren und Über-
führung in die Ruhe, sowie in der nachfolgenden
Beseitigung der Ermüdungsstoffe käme ja selbst
wieder ein rhythmischer Vorgang zum Ausdruck,
der zur Erklärung auffordert.
Zum Schluß möchte ich noch dem reizvollen
Gedanken nachgehen, wie in unserem Klima sich
die Pflanzen mit ihren Rhythmen, die, wie wir
glauben möchten, eng mit inneren Eigenheiten
des Lebensablaufes zusammenhängen, in den
-') E. Kor seh eil, Lebensdauer, Alter und Tod. Beilr.
zur Pathol. Anatomie usw. Bd. 63, 1917. S 81 des Sonder-
druckes.
Hauptklimarhythmus einfügen. In einem ganz
gleichmäßigen Klima, wo keiner der Außen-
faktoren zu irgendeiner Zeit auffallend ins Mini-
mum tritt, leben sich die Pflanzen schrankenlos
aus ohne gemeinsame Uniformierung ihrer Rhyth-
men. In unserem Klima jedoch wo ein Teil des
Jahres das Pflanzenwachstum unmöglich macht, ja
das Leben der Pflanze bedroht, können offenbar
nur solche Pflanzen existieren, deren Rhythmus
nicht in Widerspruch mit dem klimatischen ge-
rät, die außerdem frostbeständig sind und schließ-
lich, gleich der aufgezogenen , aber nicht ange-
rührten Uhr, einen längeren erzwungenen Starre-
zustand überstehen können. Unsere Pflanzen
können sich nun ganz verschieden in den Klima-
rhythmus harmonisch einordnen. Die kurzlebigen,
einjährigen, besser einsömmrigen Pflanzen durch-
laufen ihren Lebenszyklus rasch ein oder gar
mehrere Male und überdauern den Winter mit
Samen, eine Rhythmik der ganzen Generationen!
Die zweijährigen Pflanzen teilen ihr Dasein in
zwei Hälften, wachsen vegetativ im ersten Sommer,
überdauern mit unterirdischen oder bodennahen
Teilen den Winter und enden im zweiten Sommer
mit der Blüte. Auch die winterannuellen Pflanzen,
wie das Wintergetreide, fügen sich hübsch mit
ihren besonderen Fähigkeiten in den khmatischen
Rhythmus ein. Das Wintergetreide keimt nach
besonders kurzer Samenruhe schon im Herbst,
übersteht, da es frostbeständig ist, die erzwungene
Starre im Winter und gewinnt durch den Kälte-
reiz die Fähigkeit, im nächsten Sommer zu reifen.
Das Sommergetreide dagegen, an rascher Keimung
durch längere Samenruhe gehindert, keimt erst
im Frühjahr, entgeht dadurch, frostempfindlich
wie es ist, der Winterkälte, braucht sie aber auch
nicht, da es ohne Kältereiz seinen Lebensgang
normal beenden kann. Beide Pflanzen entsprechen
vortrefflich unserem Klima. Alle die anderen
Pflanzen, die perennierenden, müssen ihre Rhyth-
men so einrichten, daß sie nicht mit dem Klima
in Widerspruch geraten. Frosthart überstehen
sie den Winter, in den sie gleichzeitig eine Haupt-
ruheperiode verlegen. Im Sommer könnten sie
mehrere Triebperioden haben, wenn die letzte
vor dem Winter sicher zu Ende geht. In Wahr-
heit ist das aber nicht verwirklicht bei uns. Nur
die Johannistriebe schieben sich, aber nur als
partielle Unterrhythmen, ein. Offenbar sind zwei
volle Triebperioden mit dazwischen eingeschalteter
Ruhe zu lang. Nur ausnahmsweise kommt etwas
Ähnliches zustande, wie voriges Jahr bei den
vorhin erwähnten Kastanienbäumen. Das unge-
wöhnlich zeitige Frühjahr ließ sie ihr Laub rasch
entwickeln. Kam dadurch schon der P'rühjahrs-
schub ungewöhnlich alt in den Sommer, so be-
schleunigte dessen außerordentliche Dürre seinen
Abschluß, die völlige Ruhe setzte sehr zeitig ein,
so daß sie wenigstens teilweise im Herbst so weit
abgeklungen war, daß sein warmes und feuchtes
Wetter das neue Austreiben erlaubte. Hier zeigte
sich, wie das Klima modifizierend eingreifen kann.
N. F. XXI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
393
Würde irgendeine Pflanze spontan anderen Rhyth-
men folgen, so würde sie unbarmherzig von dem
gestrengen Winter ausgemerzt werden. Es hält
sich in einem bestimmten Klima immer nur das,
was ihm angepaßt ist, wobei wir die Frage ganz
unerörtert lassen, wie diese Anpassung zustande
kam. Demgemäß können sich auch Pflanzen in
neuen Gegenden ansiedeln, bzw. angesiedelt wer-
den, wenn ihre rhythmischen Eigenschaften den
dort waltenden klimatischen Perioden nicht wider-
sprechen. Man sieht es an der Kartoffel, die
wenigstens dann, wenn sie Winters vor der Kälte
geschützt wird, bei uns existenzfähig ist, man
sieht es auch an den Charakterpflanzen der süd-
italienischen Landschaft, den Agaven und Kaktus-
feigen, die obwohl aus Mexiko stammend, sich in
das mediterrane Klima einfügen konnten, während
das z. B. der Sojabohne bei uns nicht recht ge-
lingen will.
Solche Überlegungen tun dar, welche Bedeu-
tung das Problem des Rhythmus auch für die
geschichtliche Entwicklung der Pflanzendecke hat,
für Wanderungen und Siedlungen von Pflanzen.
So kann man z. B. wahrscheinlich machen, -")
daß das Schneeglöckchen mit seiner ganz eigen-
tümlichen Rhythmik, pflanzengeschichtlich aus
dem Mittelmeergebiet stammt. Ende Mai bereits
ist es von der Erdoberfläche verschwunden, nach-
dem es schon Mitte Februar erschienen ist, seine
Zwiebel verschläft also 8—9 Monate des Jahres.
Doch ist diese Periode nur etwa bis Anfang Ok-
tober ein wirklicher Schlaf, später eine Starre.
Denn es treibt zu dieser Zeit sofort, wenn es in
die Wärme gebracht wird, wie es auch sofort
im Frühling bei der ersten Wärme hervorkommt.
Das deutet auf eine Heimat mit hoch- und spät-
sommerlicher Trockenzeit und mildem Winter,
wie sie das Mittelmeergebiet darstellt. Tatsäch-
lich ist hier die Sippschaft des Schneeglöckchens
weit verbreitet und eingesessen. Die Maiblume
dagegen schließt sich ganz an den heimischen
Klimarhythmus an. Sie treibt im April, dauert
mit den Blättern bis zu Ende August und ruht
dann, und zwar wirklich, denn sie läßt sich jetzt
im warmen Zimmer nicht erwecken. Dement-
sprechend ist auch die ganze Sippschaft außerhalb
des Mittelmeergebietes, von Mitteleuropa durch
den entsprechenden Gürtel Asiens hindurch ver-
breitet. Der Waldmeister schließlich ruht bei
uns gezwungen, für ihn ist der ganze Winter eine
Zeit der Starre, die zu jeder Zeit sofort durch
Erwärmung gehoben wird. Er entbehrt ganz
einer größeren Rhythmik, hält sich aber wegen
seiner Frostbeständigkeit und Fähigkeit lange Starre-
zeiten zu überdauern. Anderenfalls müßte er mit
dieser aperiodischen Veranlagung sofort verschwin-
den. Es ist nun auffallend, daß des Waldmeisters
Sippschaft ganz überwiegend in den Tropen be-
heimatet ist. Er ist also vielleicht ein kleiner
Pionier, der sich keck ins periodische Klima vor-
wagte. Ja selbst von unserer Eiche ist vermutet
worden, daß sie nicht dem allerältesten Uradel der
mitteleuropäischen Pflanzengesellschaft angehört.''")
Sie ist augenscheinlich nicht ganz gut unserem
Klima angepaßt. Sie treibt spät, hat ausgeprägte
Zwischenschübe, viele Individuen werfen ihre
Blätter nicht beizeiten ab, sondern lassen sich
vom Frost überraschen , behalten dann oft die
ganze trockene Belaubung, bis sie kurz vor dem
Frühjahrstrieb abfällt. Auch die Verwandten der
Eiche sind alle in einem entschieden weniger
stark periodischen Klima ansässig als es das
unsrige ist.
'^"j L. Diels; Das Verhältnis von Rhythmik und Ver-
breitung bei den Perennen des europäischen Sommerwaldes.
Ber. d. deutsch. Botan. Gesellsch. Bd. 36, S. 337, 1918.
^"J W. Magnus, Der physiologische Atavismus unserer
Eichen und Buchen. Biolog. Zentralbl. Bd. 33, 1913.
Sollen wir die Goldwiischerei am Oberrheiii wieder aufuehiueii^
[Nachdruck verboten.
Von Dr. I. L. Wilser,
Privatdozent für Geologie an der Universität Freiburg i. B.
Heute, da mehr denn je alle Bodenschätze
ausgenützt werden, begegnet dem Geologen häufig
die Frage, ob die früher an den Rheingestaden
zwischen der Schweiz und dem rheinischen Schie-
fergebirge so blühende Goldwäscherei nicht wieder
aufgenommen werden könnte. Gold ist das ein-
zige Metall, dessen Wert unabhängig von Angebot
und Nachfrage bleibt, also beständig ist. Ver-
möchten wir dieses Edelmetall in reicherem Maße
im eigenen Lande zu beschaffen , würde es wohl
in den nächsten Jahrzehnten mit den Reparations-
leistungen über die Grenze nach Westen ver-
schwinden, aber es entledigte uns mit der Zeit
von unseren „Goldverpflichtungen"; wir würden
wieder frei.
Im Jahre 1910 betrug der Goldverbrauch
Deutschlands etwa 210 Mill. Mark; heute kommen
dazu die in Gold zu entrichtenden Zwangsleistungen
und die Ergänzung unserer verausgabten Bestände
an Gold und Goldeswerten, so daß wir nunmehr
über das zwölffache vom Frieden jährlich nötig
haben. Vom Bedarf 1910 wurden einundzwanzig
Zweiundzwanzigstel durch Einfuhr von Feingold
u. dgl. aus Großbritannien, Rußland, Transvaal
usw. gedeckt, nahezu ein Zweiundzwanzigstel
durch Einfuhr von Golderz aus Siebenbürgen,
Nordamerika und Australien, während nur ein
verschwindend kleiner Restteil aus deutschen Vor-
kommen gewonnen werden konnte.
In der Natur findet sich das Gold entweder in
Gängen und Lagern fest im Gestein verwachsen
(als Einsprengung z. B. in Quarz, Schwefelkies u. a.)
394
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
als „Berggold", oder aus diesem durch Wasser
aufgearbeitet und verfrachtet lose in Schuttauf-
häufungen, in sog. Seifen als „Waschgold".
Alte und junge Flußschotter sind die gebräuch-
lichsten Lagerstätten. Von diesen ausgehend
hat man erst verhältnismäßig spät die Ursprungs-
plätze in den Gebirgen gefunden. Die bedeutend-
ste einheimische, seit uralten Zeiten betriebene
goldliefernde Lagerstätte ist die von Reichenstein
i. Schi., die heute Gold aber nur als Nebenprodukt
bei der Arsengewinnung aus Arsen- und Arseni-
kalkies abwirft. Ähnlich liegen die Verhältnisse
bei Altenberg, ebenfalls in Schlesien, wo die
goldführenden Gänge ihres Kupfer-Blei Pyrit- und
Arsengehaltes wegen abgebaut werden können.
Andere mit Gewinn ausbeutbare Berggoldvorkom-
men kennen wir bisher in Deutschland nicht, und
es besteht wenig Aussicht, solche aufzufinden.
In welchem Maße die Bergbetriebe von Neubulach
bei Calw im württembergischen Schwarzwald, das
goldhaltige Grünbleierze fördert, und die des
Fichtelgebirges in der Bayreuther Gegend wirt-
schaftlich zu gestalten sind, bleibt abzuwarten.
Nicht aussichtsreicher sind die Möglichkeiten,
in Deutschland aus Seifen durch Waschen Gold
zu beschaffen. Wohl wurde aus Sanden von
Bächen und Flüssen früher an viel mehr Stellen,
als wir heute ahnen, das Edelmetall gewaschen,
aber es standen eben Zeit und Lohn in geringe-
rem Werte, und die Überschwemmung mit Gold-
mengen aus anderen Erdteilen war noch nicht
möglich oder fühlbar. Rhein, Isar, Eibe, Eder im
Waldeckschen, Schwarza im östlichen Thüringer-
wald, schlesische Bäche und neuerdings der Nord-
westrand der Eifel sind vor allem viel genannt
worden. Von manchen anderen Stellen ist uns
der „Reichtum" nur des Lokalnamens wegen noch
in Erinnerung. ') -) ^)
') De ecke machte 1906 darauf aufmerksam, daß Flüsse,
die schon im Altertum als goldführend bekannt waren , ähn-
lich heißen, so die elsässische Thur, die Dora Ballea, der
Duero, der Ihrac. Hebro u. a. m.
-) Sämtliche bis 1904 bekannt gewordenen Goldfundorte
sind aufgezählt bei C. Hintze, Handbuch der Mineralogie.
I. Bd., S. 244 ff.
') Die bekanntesten deutschen, aber nicht betriebenen
a) Berggoldvorkommen (auf Gängen oder Lagern im
festen Gebirge, eingesprengt meist in Quarz, Schwefelkies
und andere Sulfide),
Hohenstein, zwischen Chem'nitz und Glauchau,
Reichmannsdorf und Steinheide im Thüringer Wald,
Tilkerode, RammeUberg u. a. am Harz,
Eisenberg b. Korbach (VYaldeck).
b) Waschgoldvorkomracn (durch Wasser zusammen-
geschwemmt, lose meist in Sanden und Kiesen),
Rhein,
Isar, Ammer, Inn, Salzach, Donau,
Wasserläufe am Nordfuß des Riesengebirges
zwischen Bunzlau- Löwenberg- Goldberg-
Nikolsladt,
Wasserläufe am Nordfuß des Erzgebirges,
Schwarza i. Thür. Wald , damit Saale
und Elbe,
Würmer, Mombckke und Eder i. Waldeck-
schen
im grobkörnigen Siubensandstein der oberen Keuper-
formation bei Maulbrona und im Eilstal in Württemberg.
Am längsten und ausgiebigsten bestand wohl
am Rhein zwischen Basel und Mainz die Übung
Gold aus Sanden zu waschen. Wahrscheinlich
haben die Kelten das Geschäft schon betrieben;
im Mittelalter war es bei den Franken in großer
Blüte *) ebenso im Badischen um die Mitte des
letzten Jahrhunderts, und noch heute leben an
den Rheingestaden Leute, die in ihrer Jugend
dieser Arbeit nachgegangen sind. Seit etwa der
letzten Jahrhundertwende ist sie aber restlos ein-
gestellt, denn Ertrag warf sie nicht mehr ab, zu-
letzt im Mittel einen Tagelohn von etwa 2V2 M.
Es verlegte sich daher auf das Goldwaschen im
allgemeinen nur, wer nichts besseres zu tun hatte,
ebenso wie der Bauer oder seine Familie dieser
Arbeit nachging, wenn Fischerei, Feld und Wald
der Hände nicht bedurften, oder wenn besonders
günstige Verhältnisse lockten. Um einigen Vor-
teil wenigstens zu haben, wartete man meist die
Beihilfe der Natur ab, die durch Hochwasser
reichere ,, Goldgründe" ansammelte oder bloßlegte.
Das Gold findet sich in den kiesig-sandigen
Aufschüttungen des Rheintales als feinste messing-
gelbe rundliche Plättchen von etwa 0,5 zu 0,7 mm,
höchstens I mm Größe und etwa 0,1 mm Dicke,
also in Flitterchen, die etwa 0,05 mgr wiegen,
deren somit 20000 aufs Gramm gehen. Unterhalb
Basel sind sie eine Spur größer, gegen Mannheim
zu kleiner. „Die reichsten Goldgründe liegen
zwischen Kehl und Dachslanden, namentlich beim
Dorfe Helmlingen" (Leonhard a. unten a. O.).
Dem spezifischen Gewicht nach steht Gold
ziemlich hoch, ist etwa 7 mal schwerer als Sand
und etwa 4 mal schwerer als Zirkon- und Eisen-
teilchen, die in den Rheinsanden häufig sind.
Tritt irgendwo Verlangsamung der Strömung und
damit Verringerung der Transportkraft ein , so
müssen diese schweren Teilchen schnell zu Boden
sinken und sich anreichern , während andere,
leichtere noch fortgetrieben werden. Ahnlich
sammeln sich die schwereren Partikelchen, wenn
die Strömung anschwillt und das Leichtere vom
Grund und vom Ufer wegspült. So kommt es,
daß sich in stilleren Buchten, z. B. an Abzweigungen
von Altrheinarmen, Ansammlungen schweren gold-
und eisenhaltigen Sandes absetzen, oder daß bei
Mittel- und Hochwasser das Schwermetall an den
(im
Hinterland
Bcrggold)
Bemühungen, das Gold aus dem Mceiwasser zu gewinnen,
führten bisher zu keinem wirtschaftlich verwertbaren Erfolge.
Man nimmt im allgemeinen 0,0044 g Gold in 1000 kg Meer-
wasser an. Die Verteilung soll unregelmäßig sein.
') Gothein schreibt in ,, Wirtschaftsgeschichte des
Schwarzwaldes": ,,An der Greoze des Schwäbischen und
Fränkischen Stammes hatte die Goldwäschcrei ihren Haupt-
sitz und hier hat sie auch ihre erste (deutsche) literarische
Erwähnung gefunden", im Evangelienbuch des Olfried
von Weii3enburg etwa 86S. Zweifellos gründet sich der
Rheingoldmythus auf diesen Edelmetallgehalt der Rheinsande.
Die Edda spricht von ,,Breisacher Gold". Zu Cäsars Zeiten
wanderte viel Gold vom Rhein nach Rom, das damals erst
statt der Kupfer- die Goldwährung einführte, wie Neu-
mann in seinem .Aufsatz ,, Goldwäscherei am Rhein" angibt
(vgl. Zeitschrift für Berg-, Hütten- und Salinenwesen, 51. Bd.,
Berlin 1903).
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
395
alten Plätzen liegen bleibt, während leichtere
Teilchen fortgeschwemmt werden. Es ist ganz
offenbar nicht di e Neuzufuhr , sondern
nur die oft wiederholte lokale Um-
lagerung bzw. Auswaschung des Unter-
grundes das Ausschlaggebende für die
Goldsandbildung. Die Niederterrasse
ist also als der wesentliche Edel metall-
träger anzusehen. Daß auch die Hochterrasse
bis an die randlichen Gebirge hinan Gold ent-
hält, beweisen einige auf dieser gelegene, früher
ebenfalls Gold fördernde Ortschaften.
G. Leonhard berichtet 1854 in „Beiträgen
zur mineralog. und geognost. Kenntnis des Groß-
herzogtums Baden": „Goldgründe bilden sich ge-
wöhnlich an Punkten, wo der Fluß die Ufer oder
Inseln weggeschwemmt hat. Der fortgeschwemmte
Sand setzt sich dann in einiger Entfernung wieder
als Sandbank ab, deren der Strömung zugekehrter
Teil das meiste Metall enthält. Der reichere
Sand liegt gewöhnlich zwischen größeren Ge-
schieben und in geringer Tiefe. Nach jeder Flut
pflegt man die Goldgründe auszubeuten; dieselben
zeigen sich um so reicher, je langsamer sich das
Wasser zurückzieht." Ähnlich schrieb A. Dau-
bree 1854 (nach Leonhard): „Die gewöhnlich
reichsten Goldgründe liegen etwas talwärts von
Ufern oder Inseln, die der Strom abwäscht, fast
immer zwischen gröberem Geschiebe; dann an
einigen anderen Stellen, wo sie durch Fort-
waschung des feineren und leichteren Sandes sich
als reicherer Rückstand anhäufen konnten. Es
kommt aber in geringerer Menge auch außerhalb
des jetzigen Rheinbettes vor."
Es ergibt sich hieraus ganz klar, daß die Kor-
rektion der Rheinufer, die das Gestade festlegt
und die Abflußgeschwindigkeit vergrößert, die
Goldgrundbildung verhindert. Der Rhein „ost"
nicht mehr, wie die Anlieger im Oberland sagen.
Schon 1833 hatte C. F. Hänle in Buchners
Repert. d. Pharmaz. 1833, XLV. Bd., S. 467—468
mitgeteilt: „Dieser Goldsand ist nicht erst neuer-
lich angeschwemmt; er bildet bei Lahr (und so
in der ganzen Rheinebene) eine zusammenhängende
Schichte unter Tonmergel, oft mehrere Stunden
vom jetzigen Rheinlaufe entfernt (doch ungefähr
in dessen jetzigem mittlerem Niveau) kann aber
nur auf den periodischen und im Rheine selbst
entblößten Bänken bearbeitet werden, weil das
ihn sonst bedeckende fruchtbare Land zu teuer
ist" (vgl. Neues Jahrb. f. Min. usw. 1835, S. 719).
Nach den erörterten natürlichen Bildungsver-
hältnissen der Goldgründe (auch Griene genannt)
am Rhein hatte Waschen keinen Sinn, wo vor-
wiegend große Gerolle, starke Strömung und hohe
Ufer vorhanden waren, auch nicht weiter abseits
vom Strom. Daher fanden sich oberhalb Basel
wenig Gewinnungsplätze, an den flachen Ufern
von Basel abwärts bis gegen Mainz standen aber
allenthalben Waschbänke und zwar vorwiegend,
wo die Altrheine mit ihrem gewöhnlich ruhig
fließenden Wasser abzweigen und zu Mittel- und
Hochwasserzeiten eine lokale Umlagerung und
Auswaschung und damit Anreicherung des Gold-
gehaltes bewirkten. An älteren verlandeten Armen
wusch man nur selten, denn die sonst vom Rhein
besorgte Vorarbeit mußte dort von Menschen-
hand geleistet werden, auch fehlte es landeinwärts
meist an dem zum Waschen unentbehrlichen
fließenden Wasser.
Als Lieferanten sind bekannt geworden Istein,
Altbreisach und die meisten Orte auf dem Hoch-
gestade vom Nordkaiserstuhl bis gegen Speyer,
während unterhalb Mannheim sehr wenig und
unterhalb Mainz gar nicht gewaschen worden sein
soll (vgl. M. Schwarzmann, Goldgewinnung
am Rhein, 23. Bd. d. Verhandlung d. naturwissen-
schaftl. Ver. Karlsruhe i. B. 1910). Die besten
Verhältnisse fanden sich seit Alters zwischen Kehl
und Daxlanden. Ebenfalls als vorteilhaft wird
noch die Gegend der Germersheimer Brücke und
die von Philippsburg genannt.
Zur Auffindung guter Goldbänke leitet die
infolge des reichen Eisen- und geringeren Sand-
(Ouarz)gehaltes dunkle (rötlich- schwarze) Farbe
der Lager. Sie ruhen linsenförmig meist in ge-
wöhnlichem Kies eingeschlossen und messen bei
völlig regelloser Verteilung bis 200—300 qm an
Ausdehnung und bis zu 20 cm an Dicke. Zur ersten
Prüfung über Würdigkeit wusch man eine Schaufel
voll Sand zur Probe und zählte darin die Flitter-
chen. Aus der Philippsburger Gegend z. B. wird
berichtet, daß bei diesen Proben öfters bis 20 und
zuweilen selbst bis 40 und 50 Goldplättchen ge-
funden wurden. Ein alter Goldwäscher, Reiß,
sagte dort aus, „daß er schon Lagen mit bis 70,
einmal sogar mit bis 100 Goldplättchen auf die
Schaufel gehabt habe". „Doch soll das Abdecken
des Goldsandes viel Arbeit machen. Im Winter
1897/98 hat Reiß in wenigen Wochen für 70 M.
Gold ausgewaschen und auch sonst im Mittel
einen Taglohn von 2 M. 50 Pfg. erreicht." (Vgl.
Erläuterungen zur geolog. Spezialkarte von Baden,
Blatt Philippsburg, S. 18/19.)
Nach Daubree (Mem. s. 1. distribution de
l'or dans le gravier du Rhin et sur l'extraction
de ce metal. Bull, de la soc. geol. de France.
III. Bd., 1845/46 und Annales des mines Bd. X,
1846. Vgl. dazu Neu mann. Die Goldwäscherei
am Rhein. Zeitschrift für Berg-, Hütten- und
Salinenwesen, Bd. 51, 1903, S. 35) enthielt (wohl
in der Straßburger Gegend):
Siehe Tabelle Seite 396.
Nr. III wird als die gewöhnliche Waschsorte
bezeichnet, die einen Durchschnittsertrag gab. Da
stromabwärts die Goldplättchen kleiner werden,
müssen sich z. B. in der Philippsburger-Speyerer
Gegend 40 — 50 Flitterchen in etwa 40 g amalga-
mierbarem Sand finden, um einen Durchschnitts-
ertrag zu liefern.
Ein Arbeiter verwusch im Tage etwa 4 cbm
Sand.
Neu mann gibt in dem oben genannten Auf-
396
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
Sandsorte
ia 1 cbm Sand 1
in I cbm Sand
in I Tonne Sand
9
Verdienst in
Stunden (1846)
auf Probeschaufel
finden sich
Nr. I
2,9 kg Goldsand
zum Amjlgamieren
1,011 g Gold
0,562 g Gold
1 (nie über 0,7 g)
8,90 Mk.
70—80 Flitterchen
Nr. 11
—
0,438 M
0,243 g Gold
3.75 ..
1 25-30
Nr. III
2 kg
0,243 ..
0,132 „
1,94 ..
10 — 12 „
Nr. IV
0,4 l<g
0,015 "
0,008 ,,
0,11 „
I ..
Satze auf Grund von Nachforschungen in badischen
Ministerialakten folgende, seit 1821 zwangsmäßig
nach Karlsruhe aus dem ganzen Lande eingeliefer-
ten Goldmengen an:
fiSoo — 09
L1810 — 19
1S20— 29 68,903
1830—39 83,331
1840 — 49 67,225
1850-59
1860—69
11,450 kg Rheingold"!
28,989 „ „ J
(1822 von 136 Wäschern)
(1832 „ 405 „ )
37.983
7.372
Über 1874 hinaus wurden die Akten wegen zu
geringer Anlieferung nicht geführt. ^)
Ähnlich berichtet Leon ha rd a. a. O., daß
von 1804 bis 1834 etwas über 3 Zentner Gold
zur großherzoglichen Münze nach Karlsruhe ge-
bracht worden seien, wofür seit 1821 der wahre
Wert bezahlt wurde. Die Ablieferung des ge-
wonnenen Goldes war seit 1821 Zwang, aber das
Gewerbe frei. Die Zahl der Goldwäscher im
Badischen soll 1832 etwa 400 betragen haben
zusammen an 37 Orten und man darf wegen des
guten Ankaufpreises und der an den Waschplätzen
staatlich ausgeübten Kontrolle wohl annehmen,
daß ziemlich die ganze Ausbeute zur Ablieferung
gelangte. Wenn dem aber so ist, ergeben sich
alsjahresausbeute im ergiebigsten Jahrzehnt 8,333 kg,
auf 400 Wäscher verteilt für den einzelnen jähr-
lich nicht volle 21 g, was in Vorkriegswährung
ausgedrückt (i g reines Gold = 2,78 Mark)
58,38 M. sind. Dabei bleibt aber noch zu berück-
sichtigen, daß das angelieferte Rheingold nach wieder-
holten Analysen nur 934 Tausendstel Gold und
66 Tausendstel Silberbeimengung enthielt. Der
mittlere Tagesgewinn soll 2 M. gewesen sein, so
daß also etwa 29 Arbeitstage oder rund i Monat
Waschtätigkeit jährlich auf den einzelnen Wäscher
entfielen. Man sieht, es kann sich bei der ganzen
Rheingoldgewinnung lediglich um beiläufige Ge-
legenheitsarbeit gehandelt haben , die nie ein
Nährberuf gewesen sein wird. Für die Jahre
1850 — 59 gehen die Zahlen schon über die Hälfte
zurück. Das Anschwellen der Produktion in den
dreißiger Jahren mag auf den seit 1821 mit dem
Weltmarktpreis ausgeglichenen Ankaufslohn und
auf die manchenorts günstige Waschgelegenheit
') Kür die bayrische Pfalz lauten die Zahlen:
1825 — 29 12,295 ^S Kheingold
'830—39 18,099 ..
1840 — 49 22,350 „ „
1850—59 8,111 „ „
1862 bis August 278,6 g „
Das meiste Gold wurde 1853 in Kandel gewonnen.
Schmelzen bestanden in Speyer, Germersheim und Kandel.
während der Uferarbeiten für die Rheinkorrektion
zurückzuführen sein.
Wenden wir diese Ergebnisse auf die Frage
an, ob heute aus den Rheinsanden wieder Gold
gewaschen werden könnte oder sollte. Der Fein-
gehalt an Gold im Plättchen ist wie gesagt
93,4 "/o, der Rest besteht aus Silber (nach Döbe-
reiner mit einer Spur von Platin). Lauteres
Gold kostete das Kilogramm vor dem Kriege
2780 M. Um diesen Ertrag nur annähernd zu
erzielen, müßten in der ertragreichsten Gegend
also 41 15 cbm Sand der gewöhnlichen Sorte ge-
waschen und 8230 kg Goldsand chemisch be-
handelt werden, wozu die Durcharbeitung einer
etwa 204 m im Geviert, also über 41000 qm
großen, im Mittel 0,1 m dicken Sandbank nötig
wäre. Da sich die Lager aber, wie oben ange-
führt, immer nur einzeln und nur bis zu 200 —
300 qm ausdehnen, müßten über 200 Linsen auf-
gesucht und ganz ausgebeutet werden. Welche
Mengen an Kies dabei abzuräumen sind, um an
die metallhaltigen Lagen heranzukommen und
welche Kulturbodenwerte damit verloren gehen,
läßt sich gar nicht abschätzen. Die Bloßlegung
und Ansammlung des Edelmetalles besorgte für
den alten, leichtbeweglichen bäuerlichen Gelegen-
heitsbetrieb eben der Strom. Wo und wann die
natürlichen Verhältnisse günstig erschienen, stellte
man die Waschbänke auf. Seit der Fluß infolge
der Korrektion die Ufer nicht mehr einreißt, nicht
mehr „ost", ist bezeichnenderweise das Gold-
waschen zurück- und dann mit der Verteuerimg
der Löhne im Ausgang des letzten Jahrhunderts
schließlich völlig eingegangen.
Es zeigt sich: Einzelbetrieb ist nicht mehr
lohnend, und Großbetrieb, wie ihn sich manche
Techniker denken, ist wegen der Lagerung der
Goldplättchen undurchführbar. Die zu be-
wegenden Kies- und Sandmassen stehen
in keinem w irtsch aftl iche n Verhält nis
zu der gewinnbaren Edelmetallmenge.
Überdies kann ein Großbetrieb kein Wanderbetrieb
sein, was aber zur Erfassung der verstreuten Gold-
gründe nötig wäre. Baggerung beispielsweise,
von der für die Wiederaufnahme der Rheingold-
wäscherei von mancher Seite viel erhofft wird,
stellte sich vor dem Kriege auf etwa 40 Pfg. für
den Kubikmeter Kies, so daß durch 0,143 g Gold
in I cbm die Baggerunkosten als aufgewogen
gelten könnten. Die Mittelsorte Sand (Nr. III,
vgl. oben) enthält im cbm an Rheingold 0,243 S-
Über die Hälfte des Ertrages würde also durch
N. F. XXI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
397
die Baggerunkosten verschlungen. Bedenkt man
aber, daß die metallführenden Lagen nur verein-
zelt in taube eingebettet sind, die erst abgeräumt
werden müssen , bevor man an die Goldgründe
gelangt, so reicht schließlich die Goldförderung
nicht mehr aus, um die Baggerung zu bestreiten.
Wie mir von technischer Seite gesagt wird,
läßt sich heute mit neuzeitlichen Anlagen ein
Sand mit 2 g Goldgehalt in der Tonne noch
wirtschaftlich mit Erfolg verarbeiten. Der cbm
unseres Rheinsandes müßte danach also
etwa 4 g Gold enthalten, also etwa
zwanzigmal mehr, als in der Durch-
schnittssorte und etwa viermal mehr,
als in den besten Lagen bisher gefun-
den wurde. Und, was die Hauptsache ist, es
müßte aller Sand und Kies, der bewegt wird,
goldführend sein. Wie wenig die Natur dieser
Forderung aber entspricht, ist oben gezeigt worden.
Eine Gewinnung auf den Rheinterrassen land-
einwärts gegen das Gebirge zu, was Witt ich
und Ragotzy in der Zeitschrift für praktische
Geologie 1921 vorschlugen, dürfte noch unwirt-
schaftlicher werden, da in diesen Gebieten zu den
erörterten Schwierigkeiten — vor allem dem
teuern, wenn hier überhaupt durchführbaren Ge-
ländeerwerb — noch meist der Mangel an Wasch-
wassers kommt.
Durch Verbesserung der Aufbereitungsmethode
(z. B. mehr Sand waschen und besser aus-
waschen) größere Ausbringung zu erziehlen, dürfte
wohl möglich sein, eine ^\'irtschaftlichkeit
kann sich aber auch dann noch nicht
ergeben. Nach Dufrenoy enthält der Gold-
sand 2 "/o Magneteisen, 3 — 4% Titaneisen und
Eisenglanz, über 90 "/'(, Quarz, Spuren von Zirkon.
Welche Aufbereitungsmethode die geeignetste
wäre, mögen die Techniker entscheiden. An
Cyanidlaugerei sei, sagt N e u m a n n, gar nicht zu
denken.
Ob unter besonders günstigen Verhältnissen
eine Wascherei als Neben betrieb bei Sand- und
Tongewinnung aus den Rheinterrassen ertragreich
zu gestalten wäre, müßte von Fall zu Fall unter-
sucht werden. Viel Hoffnung darf man sich auch
hier nicht machen.
Noch einiges über die Herkunft der Gold-
plättchen. Sie ist seit langem festgestellt. Der
Alpenrhein, längs dem am betriebsamsten im nörd-
lichen Graubünden Gold gewaschen wurde (Berg-
gold im Farpaner Rothorn und angeblich im
Calanda), vermag dieses nicht ins badische Land
zu tragen, weil die Wässer im Bodensee geklärt
werden. Es läßt sich aber auch in der Aare
Gold nachweisen, was die zur Mitte des ver-
gangenen Jahrhunderts sehr zahlreichen Wäsche-
reien von Waldshut über Brugg, Aarau, Ölten,
Aarwangen dartun. Westlich des Einflusses der
Großen Emme in die Aare findet sich aber kein
Gold mehr, sondern nur in der großen Emme
selbst und in deren Zuflüssen, die von Napf, einem
1407 m hohen zwischen Luzern und Bern gelegenen
Molasseberg herkommen. Alle an diesem ent-
springenden Bäche bringen das Edelmetall. Orte
wie Langnau, Summiswald, Luthern, Hergiswil u. a.
sind dadurch weiter bekannt geworden. In die
Kleine Emme gelangt ebenfalls Gold vom Napf,
damit in die Reuß und bei Brugg wiederum in
die Aare und dann zum Rhein. Am Napf selbst
liegt das Gold schon nicht mehr an seiner ur-
sprünglichen Bildungsstelle, sondern auch schon
in Kiese und Sande eingeschwemmt, in der Nagel-
fluh des Oberen Miozäns, die Flüsse und Bäche
aus den sich auftürmenden Alpen an deren Rande
zur Tertiärzeit zusammengeschwemmt haben.
Vereinzelt fanden sich Goldfünkchen in weißen
Quarzitgeröllen der Nagelfluh eingeschlossen, worin
man einen Hinweis auf die Heimat des Goldes
hat, die demnach in Quarzgängen des alpinen
Grundgebirges gelegen haben muß. Obgleich
unzählige solcher Quarzgänge in den westlichen
schweizerischen Zentralalpen bekannt sind, fand
man sie nie so reichlich goldführend, daß anderes
als wissenschaftliches Interesse diesem Berggold
zugewandt worden wäre. Größerer Goldreichtum
dieser Gänge in früheren Zeiten ist kaum anzu-
nehmen; vielleicht mag es sich um obere, ver-
witterte und dadurch an Metall angereicherte
Zonen gehandelt haben, die zum Napf verfrachtet
wurden, oder was näher liegt, das Gold in den
Nagelfluhbänken ist schon ausgeschlämmt, so wie
wir es weiterhin noch reicher angesammelt in den
Goldgründen des Rheines treffen.
Aus dem Schwarzwald stammt das Rheingold
erwiesenermaßen nicht, obgleich das Edelmetall
auch dort anzutreffen ist. Gothein berichtet
1892 auf Grund von Urkundenstudien in seiner
„Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes": „1243
wurde das Goldwaschen noch allerorts im Schwarz-
wald getrieben, Rench, Kinzig, Mühlenbach (ein
Nebenfluß der Kinzig), Elzach, Dreisam, Wiese,
Brig, Breg, Donau werden namentlich aufgeführt.
Später aber scheint es sich, da alle anderen Nach-
richten fehlen, auf den Rhein allein beschränkt
zu haben." Die Ursprungslagerstätte des Goldes
mag in den arsen- und schwefelkieshaltigen Erz-
gängen des Gebirges gesucht werden, wohl auch
in Quarzzügen und — worauf Geheimrat De ecke
hinwies — in den weitverbreiteten Porphyren,
wie ja Gold zumeist an saure Gesteine gebunden
ist.') Bemerkenswerterweise sind aus Nordamerika
Goldfunde in Schwerspat- und Flußspatgängen
bekannt geworden , deren geologische Position
unseren Schwarzwälder Verhältnissen in vielem
sehr gleicht. (Siehe Zeitschrift für praktische Geo-
logie 1893, S. 79 und 1896, S. 276.) Weitere
Untersuchung unserer Schwarzwäldischen Gänge
wird wohl noch manch überraschendes Ergebnis
zutage fördern.
') Ob nicht auch in dei
in den Uralschen in Rußland :
badisclien Graniten wie z. B.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 28
Die menschlichen Skelettreste aus dem
Weimarer Kalktuff.
Seit Alexander Portis im Jahre 1878 seine
Untersuchungen über die diluviale Säugetierfauna
von Taubach bei Weimar schrieb, in der auch
zum erstenmal von menschlichen Werkzeugen im
Kalktufif die Rede war, ist die Literatur über die
Kalktufife des Ilmtals außerordentlich angewachsen.
Die Schnecken und Pflanzenreste, die Feuerstein-
werkzeuge und die geologischen Alters- und Ent-
stehungsverhältnisse des Tuffes sind Gegenstand
zahlreicher Veröffentlichungen geworden; zu ihnen
gesellt sich nun eine neue, die erheblichen An-
spruch auf Beachtung fordert: Die menschlichen
Skelettreste aus dem Kämpfeschen Bruch im
Travertin von Ehringsdorf bei Weimar von Hans
Virchow, 141 Seiten, 42 Abb. im Text und
8 Tafeln. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1920.
Am 8. Mai 1914 wurden in dem Kämpfeschen
Bruch 11,90 m unter der Oberkante und 2,90 m
unter dem sog. Pariser ein menschlicher Unter-
kiefer (vgl. die Abb.) und am 2. November 1916
im selben Horizont Skelettreste eines Kindes von
etwa 10 Jahren mit einem nicht vollständigen
Unterkiefer und einigen Zähnen des Oberkiefers
gefunden.
Deutschland ist nicht reich an Funden von
diluvialen Skelettresten; allerdings befindet sich
unter diesen der älteste menschliche Skelettrest
überhaupt, nämlich der Heidelberger Unterkiefer
und das Schädeldach aus dem Neandertal, das
der ganzen altdiluvialen Rasse den Namen ge-
geben hat. Aus diesem Grunde stellen die
Weimarer Funde eine wesentliche Bereicherung
unserer diluvialen Vorgeschichte dar und sie er-
weitern den Wert des Weimarer Kalktuffs, der
unsere beste deutsche diluviale Kulturstätte enthält.
Es ist daher begreiflich, daß die beiden Unter-
kiefer das lebhafteste Interesse in der Gelehrten-
welt fanden und es hat nicht an kühnen Aus-
wertungen derselben gefehlt. Gewisse Abwei-
chungen im Bau des Kiefers, wie alveolare
Prognathie und die schmale, lange Form des
Alveolarbogens, die merkwürdige Gestaltung der
inneren Oberfläche des. Unterkiefermittelstückes,
die Größe der Eckzähne deuten nach Schwalbe,
der den ersten Ehringsdorfer Kiefer untersuchte,
dahin, daß er zweifellos den niedrigsten Zustand
anzeige, der dem der Anthropoiden (Schimpanse)
näherstehe als dem der bekannten anderen Unter-
kiefer der Neandertalrasse. Trotzdem erklärte
Schwalbe den Unterkiefer nicht als eine neue
besondere Form, wies ihm aber die tiefste Stelle
innerhalb der Neandertalrasse zu.
Klaatsch, der phantasievollste unter den
deutschen Anthropologen, hat die Ansicht ver-
treten, daß von den beiden diluvialen Menschen-
rassen die Neandertalrasse mit dem Gorilla, die
Aurignacrasse mit dem Orang eng verwandt sei.
Einzelberichte.
daß
ersiere mitsamt der diluvialen F"auna des
Altelefanten (Elephas antiquus) aus Afrika, letztere
mit dem Mammut (Elephas primigenius) aus Asien
stamme und daß der Altelefant mit dem afri-
kanischen, das Mammut mit dem indischen Ele-
fanten verwandt sei. Diese Voraussetzung ist
l'oterkiefer von Ehringsdorf. a von oben, b von unten.
nun allerdings ein gründlicher Irrtum. Schon
So er gel hat überzeugend nachgewiesen, daß
Europa und die Mittelmeerländer stets das Ver-
breitungsgebiet des Elephas antiquus waren, daß
der Elephas primigenius sich aus dem antiquus
entwickelt und das gleiche Verbreitungsgebiet wie
jener besessen habe; daß der Elephas africanus
N. F. XXI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
399
von Formen abgeleitet werden müsse, die dem
pliozänen Stegodon bombifrons nahestehen; daß
der Elephas indicus dem östlichen, Elephas anti-
quus dem westlichen Nachkommenzweige des
Elephas platifrons entstamme. Außerdem kommt
das Mammut und seine Begleitfauna nicht seit
der letzten Eiszeit, in der die Aurignacrasse ein-
gewandert ist, sondern bereits seit dem Ausgang
der ersten Zwischeneiszeit bei uns vor. Trotzdem
werden die phantastischen Ideen Klaatschs
von einigen seiner Anhänger auch heute noch
vertreten, und diesen genügte die eine Tatsache
der Enge des Alveolarbogens am Ehringsdorfer
Unterkiefer, um einer neuen Menschenrasse das
Wort zu reden, deren Urvater zur Abwechselung
nicht Gorilla und Orang, sondern diesmal der
Schimpanse gewesen sein soll.
Diesen Phantasien ernst und sachlich begegnet
zu haben, ist das große Verdienst Hans Vir-
chows. Er hat die Skelettreste gründlichst
untersucht und die Ergebnisse in seiner bekannten,
etwas nüchtern und trocken anmutenden Art in
der oben genannten ausgezeichneten Monographie
niedergelegt. Virchow kommt zunächst zu der
fundamentalen Erkenntnis, daß der Unterkiefer
unter allen Knochen des Skelettes besonders zur
Variabilität neige. Er beweist dieses durch Ver-
gleich des Ehringsdorfer Kiefers mit den anderen
längst bekannten z. B. Krapina, Le Moustier,
Spy u. a. Virchow schließt sich dabei der
Ansicht des bekannten Zoologen Matschie an,
daß es bei zahlreichen Säugetieren, besonders den
Anthropoiden Lokal formen gäbe, die unter-
einander zahlreiche und große Unterschiede auf-
weisen können, obwohl sie zu einer einheitlichen
Art gehören, und er erweitert die Gültigkeit dieser
Ansicht auch auf die altdiluvialen Menschen. Die
bisherigen P'unde reichen nicht aus, um die
Neandertalrasse, deren große Gleichartigkeit auch
von Schwalbe und Boule übereinstimmend
zugegeben wird , in mehrere Unterrassen zu
trennen.
Auch die Ehringsdorfer Reste machen davon
keine Ausnahme, sie stellen keinen neuen Typus
dar, denn ihre Besonderheiten fallen durchaus in
die Variationsbreite des Neandertalers und die
alveolare Prognathie des älteren Unterkiefers ist
sehr wahrscheinlich auf krankhafte Veränderungen
zurückzuführen. Virchow hat ein ausgedehntes
Beweismaterial von Anthropoiden, diluvialen und
rezenten Menschen herangezogen; seine Mono-
graphie gibt daher weit mehr als ihr Titel ver-
spricht; es ist keine Beschreibung der Ehrings-
dorfer Kiefer allein, es ist schlechthin eine Mono-
graphie des menschlichen Unterkiefers überhaupt.
Dr. Fritz Wiegers.
Bücherbesprechungen.
Krause, R., Mikroskopische Anatomie
der Wirbeltiere in Einzeldarstellungen.
I. Säugetiere. Mit 75 Originalabbildungen im
Text. VI + 186 Seiten. Groß- 8». Berlin und
Leipzig 1921, Vereinigung wiss. Verleger.
Walter de Gruyter & Co. 48 M.
Ein sehr zuverlässiges Werk über den feineren
Bau der verschiedenen Organe — Abbildungen
sämtlich original — mit Anweisungen zur histo-
logischen Mikrotechnik. Das Technische mußte
zwar bei schwierigen Punkten etwas kurz be-
handelt werden, da wird manchmal eine schwierige
Methode nur genannt, nicht beschrieben; um so
dankenswerter sind eine Anzahl Anweisungen zu
einfachen technischen Handgriffen. Bezüglich des
mikroskopischen, natürlich nicht etwa (was zu
weit führen würde) zytologischen Aufbaues des
Organismus gibt das Buch jede gewünschte Aus-
kunft, da es vor der Histologie, dem Gewebebau,
auch stets die mikroskopische oder mit Lupe er-
kennbare Detailanatomie der Organe behandelt.
Der vorliegende Band I behandelt das Kanin-
chen, in Vorbereitung sind: II. Vögel und Rep-
tilien, III. Amphibien, IV. Fische, Zyklostomen und
Leptokardier. Ausstattung recht gut, Preis mäßig.
V. Franz, Jena.
Verworn, M. , Aphorismen. 39 S. kl. 8"
Mit einem Bildnis des Verfassers. Jena 1922
G. Fischer.
Frau Josephine Verworn hat diesfe im
Nachlaß des verstorbenen Gatten gefundenen
Aphorismen der Öffentlichkeit übergeben. Ob
sie von ihrem Verf. für diesen Zweck gedacht
waren, darüber hat er sich nie geäußert. Sie sind
ein wesentlicher Ausdruck seines innersten
Fühlens und Denkens. „In jeder Wissenschaft
steckt nur soviel Wert, wieviel sie zur mensch-
lichen Kulturentwicklung beizutragen vermag...";
so wie dieses Wort bewegen sich viele in den
höheren Sphären des Denkens. Doch findet sich
auch eine Mahnung zur ständigen Rückkehr auf
den Boden der Erfahrung. 1917 wird bedauert,
daß das deutsche Volk nicht genügend vor seiner
eigenen Regierung auf der Hut gewesen ist, 19 19
aber beklagt Verworn den Glauben Deutsch-
lands an die Schuldlüge. — Da die politischen
Betrachtungen nicht das Wesentlichste an dem
Schriftchen sind, sei noch ein Wort allgemeineren
Inhalts wiedergegeben: „Jeder Mensch hält sich
für so wichtig, wie ihm seine Umgebung sich
einzubilden gestattet." Solcherlei findet sich noch
viel darin. V. Franz.
400
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. Ft XXI. Nr. 28
Anregungen und Antworten.
Auf die Bemerkurgen von Herrn Dr. F is c h e r in Nr. II
dies. Jahrg.s zu meinem Aufsatz „Homöopalhie und moderne
Biologie" 1921, Nr. 44 erlaube ich mir folgendes zu er-
widern, nur in äußerster Kürze einige Schiefheiten zurecht-
rückend, indem ich in bezug auf das Tatsachenmaterial abge-
sehen von meiner Schrift ,,Das biologische Grundgesetz in
der Medizin" Gmelin, München, noch auf die beiden Schriften
von Prof. Schulz ,,Similia similibus curantur", Gmelin, Mün-
chen und „Rudolf Arndt und das biologische Grundgesetz",
Greifswald, aufmerksam mache. Ich meine, wenn man das
darin angesammelte Material vorurteilslos auf sich wirken
läßt, kann man nicht mit Herrn Dr. Fischer sagen: Die
Physiologie lehrt, daß die Wirkungen quantitativ verlaufen;
und wenn sie es wirklich lehrt, so muß sie eben umlernen,
denn Tatsachen stehen über jeder Lehre. Das biologische
Grundgesetz will sagen , daß kleine Dosen reizen und große
lähmen, da nun Reiz und Lähmung entgegengesetzte Zustäude
des Organismus sind, so ist damit schon gegeben, daß ein
und derselbe Reiz je nach der Dosierung eine entgegen-
gesetzte Wirkung haben kann. Man verdunkelt sich die An-
gelegenheit unnötig, wenn man wie Dr. Fischer schreibt
,ln der Mehrzahl der Fälle wird es sich wohl um die Häu-
fung bzw. die Übertreibung der Wirkung handeln". Was
heißt übrigens in der Physiologie ,, Übertreibung"? Wenn
Sublimat in kleiner Dosis die Kohlensäureproduktion bei der
Hefe anregt, in weniger kleiner indifferent wirkt und in
größerer Dosis sie herabsetzt und schließlich die Zellen ab-
tötet, so ist das eben keine quantitative Wirkung im Sinne
von Fischer, es wirken vielmehr kleine Dosen umgekehrt
wie große. Dasselbe gilt vom Adrenalin, bei dem große
Dosen gefäßerweiternd wirken, kleine ,, dagegen" gefäßver-
engernd; das gleiche kann man erweisen beim Alkohol,
Chloroform, den Röntgenstrahlen, dem Radium und soweit
mir bekannt ist, von der ungeheuren Mehrzahl, wenn nicht
von allen Reizen, die einen Organismus treffen, insbesondere
machen die Bakterien und ihre Produkte keine Ausnahme.
Prof. H an s Mu ch schreibt (Pathologische Biologie); „Je ver-
dünnter die Vakzine, desto besser", in seiner neuesten Schrift
, Spezifische und unspezifische Reiztherapie" macht er auf die
Bedeutung des b. G. aufmerksam, da es gestattet, eine große
Anzahl von anscheinend sich widersprechenden Tatsachen
unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu betrachten. — Ich
denke also Herr Dr. Frisch er beruft sich zu unrecht auf die
Physiologie, wenn er die durchgchends umgekehrte Wirkung
kiemer und großer Dosen bezweifelt ; ob das b. G. im strengen
Sinne ein Gesetz ist, will ich trotzdem dahingestellt sein lassen,
das nimmt ihm aber kaum etwas von seiner Bedeutung für
Physiologie und Medizin. — Was nun den Versuch betrifft,
mittels des b. G. die Homöopathie dem modernen Verständ-
nis zu erschließen, so kann man ja darüber diskutieren, und
ich selbst deute ja in meinem Aufsatz an, daß sowohl Gegner
als Anhänger die Sache z. T. anders sehen, was jedoch Herr
Dr. Fischer gegen die Homöopathie einwendet, ist eine
falsche Schlußfolgerung aus dem b. G. Da kleine Dosen er-
regen und große lähmen, so folgt aus dem b. G. durchaus
nicht, daß Kaffee in kleinen Dosen ein gutes Schlafmittel sei,
denn erst große Dosen werden irgendwann eine lähmende
Wirkung haben. ' Dr. med. R. Tischner.
Über eine weiße Gyromitra esculenta. Gelegentlich einer
vom Bunde zur Förderung der Pilzkunde unternommenen
Wanderung nach der Morchclgegend zwischen Königswuster-
hausen und dem Spreewald wurde ich von einem Bundes-
mitgliede, Frl. Gertrud Hahn, auf eine weiße Morchel auf-
merksam gemacht, die am Rande eines Kiefernschlages wuchs.
Der Schlag befindet sich auf dem Westhang des 4g m hohen
Dubrowberges, einer mit Kiefern bestandenen sandigen Höhe.
In diesem Schlage findet man alljährlich Morcheln zwischen
den Kiefernstümpfen, je nach der Witterung von Februar bis
Mai. An der angegebenen Stelle traf ich etwa 15 weiße
Morcheln auf einer Fläche von etwa 150 qm an. Ringsum
wuchsen nur braune Morcheln. Irgendein Unterschied zwischen
den Standorten der braunen und der weißen Morcheln in Be-
zug auf Bodenbeschaffenheit, Feuchtigkeit und Belichtung war
nicht zu bemerken. Die weißen Exemplare waren bis 8 cm
hoch und breit und glichen — makroskopisch wie mikro-
skopisch — bis auf die kremweiße Farbe den braunen. Über-
gangsformen konnte ich nicht entdecken. Offenbar handelt
es sich bei der weißen Morchel um ein einziges Individuum,
dessen Myzel im Boden eine Kreisfläche von ca. 14 m Durch-
messer durchzieht und in unregelmäßigen Abständen über die
ganze Fläche verteilt, nicht etwa nur an der Peripherie, seine
Fruchtkörper emporsendet.
Anscheinend liegt ein Fall von Albinismus vor, der bei
Morcheln und vielleicht überhaupt bei Pilzen noch nicht be-
kannt geworden ist. lis wäre empfehlenswert, die Stelle all-
jährlich wieder zu besuchen. An einem so gut gekennzeich-
neten Individuum, wie es die weiße Morchel ist, ließen sich
Beobachtungen über Lebensdauer und räumliche Ausdehnung
des Morchelmyzels, auch wohl über die Frage der angeblichen
Ausrottung der Pilze durch das Abernten der Kruchtkörper
anstellen. W. Herter (Berlin-Steglitz).
Lichtwellen. In der Zeichnung sind die quer zur Erd-
bahn laufenden Wellen ausgezeichnet, die längs der Erdbahn
punktiert. Die Theorie vom ruhenden Äther ist (unter Weg-
lassung alles Nebensächlichen) in 1, die Längenkürzung von
Lorentz in 11, die Zeitverdehnung von Einstein in 111,
die totale Mitführung des Erdälhers in IV versinnbildlicht.
L ist der Lichtpunkt, B der Bildpunkt.
I: Übereinstimmung der Phase (Koinzidenz) wird nicht
erzielt.
II : Durch Verkürzung des Armes längs der Erdbahn im
Verhältnis 3 ; 2 wird Koinzidenz erzielt.
III: Durch Verspätung vom Schwingungsauftakt längs der
Erdbahn im Verhältnis 2 : I wird Koinzidenz erzielt.
IV: Beide Arten von Wellen sind identisch; Koinzidenz
entsteht von selbst.
II ist unmöglich, weil der Mi ch eis on versuch nur der
Grenzfall für n=l aller Luft- Wasser-Versuche nach Mas-
cart ist und die Verkürzung mit n wechselt (Zentr.-Zeitg. f.
Optik u. Mech. 1922, Nr. 12).
III ist unmöglich, weil der leuchtende Punkt beiden
Lichtwegen gemeinsam ist.
I ist experimentell widerlegt; demnach bleibt m. E. nur
IV übrig.
An merk. Die Zeilverdehnung von Eins lein ist eine
Verspätung vom Auftakt, keine Verlangsamung vom Tempo.
Prof. Dr. Strehl in Hof.
luhalt: H. Miehe, Der Rhythmus im Leben der Pflanze. S. 385. I. L. Wilser, Sollen wir die Goldwäscherei am
Oberrhein wieder aufnehmen? S. 393. — Einzelberichte: H. Virchow, Die menschlichen Skelettreste aus dem
Weimarer Kalktuff. (l Abb.) S. 398. — Bücherbesprechungen: R. Krause, Mikroskopische Anatomie der Wirbel-
tiere in Einzeldarstellungen. S. 399. M. Vcrworn, Aphorismen. S. 39<1- — Anregungen und Antworten: Homöo-
pathie und moderne Biologie. S. 400. Über eine weiße Gyromitra esculenta. S. 400. Lichtwellen. (I Abb.) S. 400.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Nfue Folge 21. Band;
ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den i6. Juli 1922.
Nummer 39.
Euklidische Geometrie, Physik und die Vierdimensionalität der Materie.
Von Dr. .1. Voigt.
[Nachdruck verboten.] Mit 1 1 Abbildungen.
Zu den Grundanschauungen der Euklidischen entstehen. Der Vorgang läßt sich bekanntlich
Geometrie gelangen wir durch Abstraktion. Die leicht mit Hilfe eines Fadens oder einer ge-
weitestgehende Abstraktion verlangt der Begriff zeichneten Linie versinnbildlichen; Papier oder
„Punkt", denn er bildet die Grenze — das Tafel dienen dabei als — allerdings bereits vor-
„Differential" — des Begrifflichen in der Mathe-
matik überhaupt; wir müssen dabei das Vor-
handensein von etwas sinnlich unfaßbarem aner-
kennen. Wenn wir jemanden zu diesem Begjiff
hinführen wollen, pflegen wir von sinnlich wahr-
nehmbaren Dingen — etwa einer Kegelspitze —
auszugehen und darauf hinzuweisen, daß weder
die feinsten technischen Hilfsmittel noch die tat-
sächliche Beschaffenheit des Stoffes das herzu-
stellen gestatten, was wir uns unter einem
exakten Kegel oder einer Kegelspitze vorstellen
müssen, und wenn wir so bei der idealen Form
eines in Gedanken aufgebauten Gegenstandes an-
gelangt sind, ist der letzte Schritt zur völligen
Abstraktion nicht mehr schwer; die Spitze oder
besser die Grenze der idealen Körperspitze gegen
die Umgebung bezeichnen wir als Punkt. Wir
formulieren schließlich so: Der Punkt hat keine
Dimension.
Haben wir uns diese Erkenntnis zu eigen ge-
macht, dann können wir aufbauend weitergehen
und sagen: Durch die Bewegung eines Punktes
entsteht eine Linie. Sinnlich wahrnehmbar ist die
so erhaltene Linie auch nicht, aber wir kommen
ihr doch in einer Beziehung näher als dem
Punkt, denn den Weg, den der Punkt zurücklegt,
können wir messend verfolgen und sagen daher,
die Linie hat eine Dimension. — Allein, wenn
wir uns nun mit Punkten und Linien näher be-
schäftigen und die gewonnenen Ergebnisse anderen
übermitteln wollen, so brauchen wir sinnlich
wahrnehmbares Hilfsmaterial und deuten Punkte
und Linien mit Hilfe von Bleistift oder Kreide
auf Papier oder Tafel an. Damit entfernen wir
uns wieder vom Abstrakten und gehen denselben
Weg zurück, der uns zum Ideellen hingeführt
hat, aber das schadet nichts, solange wir dessen
eingedenk bleiben, daß es sich bei unseren
Figuren nur um grobsinnliche Ausdrücke für
völlig abstrakte Verhältnisse handelt. Bei allen
geometrischen Betrachtungen läuft also immer
eine unbewußt geleistete Geistesarbeit nebenher.
Durch die Bewegung eines Elementes von
handene — Ebene.
Durch die Bewegung einer Fläche wiederum
entsteht ein sog. „Körper", d. h., aus der Be-
wegung eines zweidimensionalen entsteht ein
dreidimensionales Element. — Der Sprachge-
brauch erlaubt es, auch von der Entstehung einer
bestimmten Dimension oder von Elementen der
ersten, zweiten oder dritten Dimension zu reden.
— Zur Veranschaulichung des letzterwähnten
Vorgangs bedient man sich mit Vorliebe der Er-
zeugung von Rotationsfiguren, indem man z. B.
eine kreisförmige Fläche um ,einen Durchmesser
oder ein Rechteck um eine Mittellinie dreht; sehr
instruktiv macht man den Vorgang klar, indem
man beispielsweise die Entstehung eines Prismas
durch Herausheben der Grundfläche aus ihrer
ursprünglichen Ebene zeigt (Abbildung i).
Damit sind wir in das Gebiet der Stereometrie
gekommen.
Wenn wir jetzt auf die aufgestellten Grund-
sätze zurückschauen, dann können wir sie in
einen allgemeinen Satz zusammenfassen, der
folgendermaßen lautet: Aus der Bewegung von
Elementen der n'«° Dimension entstehen Elemente
der (n + 1)"=" Dimension. Allerdings haben wir
diesen Satz nur in bezug auf die 3 ersten Glieder
von n richtig befunden. Da sich nun jede Linie
auf die Einheit von der Größe a, jede Fläche auf
die Einheit a'- und jeder sog. Körper auf die
Einheit a" zurückführen läßt, so lassen sich die
Einheiten in eine geometrische Progression ordnen
und wir erhalten die Reihe a, a'-, a^ usw. —
Folgerichtig müssen wir nun durch die Bewegung
eines Elementes 3'"' Dimension zu einem Ele-
ment der vierten mit der Einheit a' kommen.
Das Anschauungsexperiment versagt jedoch
hierbei. Lassen wir nämlich z. B. eine Kugel um
einen Durchmesser oder um eine außerhalb ihrer
selbst liegende Achse rotieren, so sehen wir im
ersten Falle nichts Neues, im zweiten F'alle einen
Ring mit kreisförmigem Querschnitt entstehen.
Nehmen wir im zweiten Falle andere Körper, so
erhalten wir ebenfalls Ringe, natürlich mit ent-
null Dimensionen haben wir ein Element mit sprechenden Querschnitten; wählen wir andere
einer Dimension erhalten; verfolgen wir die Be- Bewegungsrichtungen (gerade, krumme Wege),
wegung einer Linie, dann sehen wir eine Fläche, so ändert sich prinzipiell nichts an dem Ergebnis :
also aus der Bewegung eines Elementes mit einer Wir erhalten Körper mit einem Querschnitt, der
Dimension ein solches mit zwei Dimensionen der Projektion des Ausgangskörpers auf eine senk-
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 29
recht zur Fortbewegungsrichtung gedachte Ebene
entspricht, aber jedenfalls (jebilde, bei denen wir
keinen Grund haben, ihnen mehr als Drei-
dimensionalität zuzusprechen.
Woran liegt das?
Wenn unsere Betrachtungen überhaupt einen
Sinn gehabt haben — und das wird man doch
nicht bestreiten wollen — dann miissen wir einen
Fehler gemacht haben. Entweder hat also der
aufgestellte Satz keine allgemeine Gültigkeit, oder
wir haben bei dem ständigen Wechsel zwischen
Veranschaulichtem und Abstrakten einen Fehl-
sprung getan. Früher war man allerdings ge-
neigt, die Frage einfach dahin zu beantworten,
daß man sagte, es gäbe eben keine vierte Dimen-
sion und das Fortschreiten der Reihe a, a-, a^,
a* usw. habe lediglich arithmetische Bedeutung.
Nachdem man jedoch auf Grund der Relativitäts-
theorie Einsteins die Welt als vierdimensionales
Kontinuum und die Materie als vierdimensional
anzusehen hat, erscheint es doch nicht überflüssig
zu untersuchen, ob sich die Entstehung der vierten
Dimension aus der dritten nicht doch ableiten läßt.
Natürlich ist der Begriff der vierten Dimension
uns noch ganz ungewohnt, neuartig und schwie-
rig ; zudem ist er djjrch Einstein-lVIinkowsky
in ganz anderem Zusammenhang erkannt
worden. Obige Frage kann daher zunächst so
beantwortet werden: Weil es unserem Vorstellungs-
vermögen nock nicht gelingt, vierdimensionale
Dinge als solche zu erkennen. Wenn wir unser
Vorstellungsvermögen aber eingehend und objektiv
prüfen, läßt sich sogar einsehen, daß es uns selbst
dreidimensionale Dinge nicht erkennen läßt und
daß wir mit unserer Anschauungsweise bereits in
der zweiten Dimension stecken geblieben sind.
Dann muß aber auch unser Stereometriebegriff
falsch seini
Die Frage, wie haben wir uns eigentlich die ste-
reometrischen P'ormationen vorzustellen, erscheint
auf den ersten Blick lächerlich. Wenn wir sie
aber genau beantworten sollen , so kommen wir
einigermaßen in Verlegenheit, denn die Antwort,
als abstrakte Formen , genügt nicht. Nehmen
wir z. B. einen Kubus an und gehen von einem
beliebigen Modell aus, um nach dem bewährten
System der Abstraktion zum Ziele zu gelangen ;
dann haben wir uns das Materielle an diesem
Würfel fortzudenken. Das wird uns verhältnis-
mäßig leicht gelingen, es bleiben dann sinnlich
nicht wahrnehmbare Kanten und Flächen übrig.
Das sind aber Elemente der ersten und zweiten
Dimension und mit der Materie ist demnach auch
das ,, Dreidimensionale" verschwunden.
Übrigens betrachteten wir — und tun dies
zum Teil auch jetzt noch — die materiellen Kör-
per auch als dreidimensional. Man wird be-
haupten, die Dreidimensionalität der ,, Körper"
lasse sich damit begründen, daß zur Bestimmung
der Lage eines Punktes oder einer Fläche oder
des Verlaufs einer Kante an ihnen drei Projek-
tionen auf ebensoviel sich schneidende Ebenen,
also drei Koordinaten erforderlich seien. Das ist
aber lediglich ein äußerlicher Umstand, der nur
unser Verhältnis zu solchem Körper, nicht aber
eine ihm selbst zukommende Eigenschaft aus-
drückt. Zur „Erfassung" der Gestalt aller sicht-
baren Dinge haben wir — und es ist der in der
Technik fast allein gebräuchliche Übermittlungs-
weg — eine mehrfache Projektion auf Ebenen
nötig. Das bedeutet aber nichts anderes, als die
Auflösung des Körperlichen ins Flächenhafte,
Zweidimensionale, weil wir eben nur Zweidimen-
sionales jeweils zu „erfassen" vermögen. Die Ur-
sache liegt vor allem im Bau unseres Auges, das,
wie die photographische Platte, an sich nur ein
flächenhaftes Bild liefert. Das Sehen mit zwei
Augen liefert bekanntlich zwei Bilder, die auf sich
schneidenden Ebenen projiziert sind. Auch der
Tastsinn bringt uns nicht weiter.')
Um es kurz zu sagen: Unsere sog. stereo-
metrischen Gebilde sind nichts als aneinander-
gestellte Flächen, welche einen bestimmten Raum
innerhalb eines größeren abgrenzen und daher
einen absoluten Raum Zur Voraussetzung haben.
Unsere Grundanschauung über die dreidimensio-
nalen Körper ist also falsch, denn wie wir uns
vom Begriff der absoluten Zeit freigemacht haben,
so müssen wir uns auch von dem des absoluten
Raumes loslösen; wenn wir dies aber tun wollen,
dann dürfen wir dreidimensionale Gebilde nicht
mehr mit Bezug auf ihre — etwaige — Umgebung
oder von einer solchen aus betrachten , sondern
müssen ihr eigentliches Wesen zu ergründen
suchen. Die Anhaltspunkte hierzu soll uns ihre
nach dem behandelten Prinzip erfolgende Ent-
stehungsweise liefern.
Abb. I.
Abb. 2.
Wir haben in Abb. i ein Prisma entstehen
lassen, indem wir seine Grundfläche parallel zu
sich selbst aus ihrer ursprünglichen Lage beweg-
ten. Wir betrachten nun den Fall, daß sich
') Nur Raum grenzen können wir wahrnehmen. Die
Brechung oder die Krümmung der Fläche erscheint uns als
räumliches Ereignis, obgleich sie die undurchdringliche Grenze
bildet, die zwischen uns und dem Räumlichen selbst gezogen ist.
Wenn wir vor einer Mauer stehen, so sind wir uns über
die uns zugekehrte Kläche sofort im klaren, über die Dicke
,, empfinden" wir nichts; angesichts einer Gebirgswand sind
wir nicht imstande zu entscheiden, ob wir uns vor einem
Höhenzug oder einem Hochplateau befinden. Wir haben
keine Empfindung für das räumlich Dreidimensionale, sonst
müßten wir in diesen Fällen irgendeinen Eindruck über die
dritte Art der Ausdehnung empfangen. Die Beschäftigung
mit physiologisch-psychologischen Dingen liegt jedoch nicht
im Rahmen der vorstehenden Abhandlung.
N. F. XXI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
403
gleichzeitig zwei solcher Rechtecke, die in
verschiedenen Ebenen liegen und eine gemein-
schaftliche Seite haben, in ähnlicher Weise be-
wegen, so daß (Abb. 2) ein ebensolches Prisma
entsteht.
Dies eine Beispiel, dem sich leicht viele ähn-
liche zur Erzeugung der verschiedensten bekannten
stereometrischen Formen an die Seite stellen
ließen, mag genügen, um zu erkennen, daß wir
durch ganz verschiedene Bewegungsvorgänge zu
einer und derselben stereometrischen Form ge-
langen können. Dann aber erhebt sich die Frage:
Sind alle diese „Körper", die sich äußerlich gar
nicht voneinander unterscheiden, untereinander
identisch.' — Offenbar sind sie es nicht,
denn ihre Entstehungsursache muß doch irgend-
einen Einfluß auf ihre „räumliche", ihre „innere",
ihre „individuelle" Beschaffenheit ausüben I —
Wenn wir dies anerkennen, dann kommen wir
dazu, ihnen eine durch ihre Entstehungsweise be-
dingte Struk tu r zuzuschreiben und haben dann
nicht mehr rein stereometrische, sondern stereo-
logische Gebilde.
Es ist klar, daß wir mit der Aufstellung eines
solchen Begriffs den Bereich der Euklidischen
Geometrie verlassen haben und in das Gebiet
der Physik gekommen sind. Wir haben dieses
Bewegungsprinzip hier beim Übergang der zweiten
in die dritte Dimension zur Geltung gebracht,
aber es ist selbstverständlich, daß sich dasselbe
in ähnlicher Weise ebensogut auf frühere Über-
gänge übertragen ließe. Obgleich es daher viel-
leicht logischer wäre, mit den folgenden Unter-
suchungen bei den niederen Dimensionen einzu-
setzen , wollen wir aus praktischen Gründen auf
dem einmal beschrittenen Wege weiter fortfahren.
Wir nehmen deshalb an, daß zweidimensionale
Elemente bereits vorliegen und beschäftigen uns
eingehend mit der Entstehung der dritten Di-
mension.
Abb. 3.
Abb. 4.
Die Richtungen der Dimensionen nennt man
Koordinaten und ordnet sie in ein Koordinaten-
system ein. Wenn wir also von der zweiten Di-
mension ausgehen, so betrachten wir ein System
mit zwei Koordinaten als gegeben.
Abb. 3 stelle ein solches (rechtwinkliges) System
dar und damit nun eine dritte Koordinate zustande
kommt, muß sich dieses System O bewegen.
Vergegenwärtigen wir uns solchen Vorgang
zeichnerisch, dann erhalten wir etwa das Bild
nach Abb. 4.
Danach hätte sich unser System von o nach
o* bewegt; es müßte daher jetzt in o' sein und
wir hätten die 3. Dimension o o' erhalten. Wir
dürfen jedoch nicht außer acht lassen, daß es sich
bei unserer Aufgabe nicht um relative, sondern
um absolute Bewegung handeln soll. Bei der
Annahme jedoch, daß sich das System nun in o^
befinde, müßten wir o als einen festgelegten Punkt
ansehen und damit wären wir wieder ganz von
der Vorstellung eines absoluten Raumes befangen.
Wir haben es also nicht etwa mit einem Orts-
wechsel zu tun, sondern nach Aufhören der Be-
wegung erhalten wir unser zweidimensionales
System einfach wieder zurück und können nicht
von einer dritten Dimension sprechen. D. h., die
Dimension existiert nicht schon , wenn einmal
eine Bewegung stattgefunden hat, sondern nur,
solange eine Bewegung zwischen O und o^
stattfindet. Wenn 00* daher einer Dimension
entsprechen soll, dann müssen fortwährend
Systeme von o nach o' unterwegs sein I
Ein solcher Vorgang ist zunächst natürlich
sehr schwer vorstellbar, der gewohnte Umgang
mit Materie und den sog. konservativen Kräften
ist uns dabei äußerst hinderlich. Wir können
jedoch unserem Vorstellungsvermögen etwas zu
Hilfe kommen, wenn wir annehmen, daß unser
System nach einer gewissen Zeit die Bewegungs-
richtung ändert, etwa in umgekehrtem Sinne,
dann erhallen wir eine Koordinate aus
V . t = o o'
das Vorzeichen ist dabei nicht von Bedeutung.
Auf Grund solcher Betrachtungen sind wir
gezwungen, unseren allgemeinen Satz von der
Entstehung einer (n + i)'«° Dimension dahin auf-
zufassen, daß wir unter Bewegung schlechthin
eine dauern d gleichgerichtete, oszillierende oder
rotierende Bewegung zu verstehen haben. Auf
die letztere Bewegungsart wollen wir noch näher
eingehen und zwar werden wir das zunächst
wieder ganz im Sinne unserer früheren An-
schauungsweise tun.
Zu diesem Zwecke lassen wir eine Kreis-
linie, Abb. 5,
Abb. 5. Abb. 6.
um den in der Abbildung angedeuteten Durch-
messer als Achse rotieren. Wir erhalten dann
natürlich eine Kugeloberfläche, d. h. ein
zweidimensionales Element. — Nichts hindert uns,
den angegebenen Kreis nicht als Linie, sondern
als Kreisfläche zu betrachten. Dann müssen
404
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 29
wir bei der Rotation eine Kugel, d. h. ein drei-
dimensionales Element erhalten.
Wir machen jetzt ein ganz ähnliches Experi-
ment mit einem Rechteck, das sich gemäß Abb. 6
um eine Mittellinie drehen soll.
Die vier sich rechtwinklig schneidenden Linien
müssen dann eine Zylinderoberfläche, die recht-
eckige Fläche muß einen körperiichen Zylinder
liefern.
Man wird nach der bisher üblichen Betrach-
tungsweise schwerlich einen Unterschied zwischen
den entstandenen Oberflächen und den körpei-
lichen Gebilden angeben können, der aber doch
vorliegen muß. Uns sollen hier vor allem dia
dreidimensionalen Gebilde interessieren und da
uns ihre lediglich „stereometrische" Auffassung
nicht mehr befriedigt, so wollen wir sie auf ihre
„Struktur" untersuchen. Wir können dabei weiter
nichts feststellen, als daß sich bei beiden Bei-
spielen alles konzentrisch um die Achse dreht.
Legen wir durch die Kugel oder durch den
Zylinder senkrecht zur Achse Schnitte, so können
die Schnitte nur Strukturkreise liefern, durch
deren Mittelpunkte die Achsen gehen. Schnitte
parallel zu den Achsen müssen ein anderes, aber
bei beiden strukturell gleiches Bild ergeben. Da
nun aber die Wahl des Kreises und des Recht-
ecks als Ausgangsflächen eine rein willkürliche
war, so müßte allen mit den beliebigsten Grund-
flächenfiguren erzeugten Rotationskörpern ein
und dieselbe Stfuktur eigen sein. — Dies ist aber
ein Unding, denn wir müssen logischerweise ver-
langen, daß aus der Rotation einer Kreisfläche
nur eine Kugel, aus der Rotation einer Recht-
ecksfläche nur ein Zylinder entstehen kann, und
es ist ganz selbstverständlich, daß eine Kugel
eine von der eines Zylinders vollständig ver-
schiedene Struktur haben muß.
Um aber zu stereologischen Gebilden mit
individueller Struktur zu gelangen, genügt es nicht
mehr, lediglich den Übergang von der zweiten in
die dritte Dimension physikalisch zu behandeln.
Was wir jetzt mit „Dimension" bezeichnen, ist
nicht mehr ein Ruhezustand, sondern ein Be-
wegungsvorgang, kein statischer, sondern ein
kinetischer Begriff. Wir müssen daher die Ent-
stehung von Elementert der ersten und zweiten
Dimension in analoger Weise vor sich gehen
lassen, wie wir es vorhin prinzipiell für das Zu-
standekommen der dritten besprochen haben.
Unter diesen Gesichtspunkten gelangen wir in
etwa folgender Weise zu einer Kugel. Wir nehmen
zunächst die — sagen wir — oszillatorische Be-
wegung eines Punktes unter Entstehung einer
Linie an (Abb. 7 a); sodann soll der eine
Wendepunkt des so entstandenen „Radius" eine
kreisförmige Bewegung um den anderen machen (b)
und die nun entstandene I<"läche schließlich um
einen beliebigen Durchmesser rotieren (c), damit
eine Kugel entsteht.
Ferner lassen wir eine Linie in gleicher Weise
wie nach Abb. 7 a gemäß Abb. 8 a entstehen,
diese Linie führe
Abb. 7.
.\bb. S.
eine oszillatorische Bewegung parallel zu sich
selbst aus (b), so daß ein Rechteck gebildet wird
und dieses drehe sich um eine Mittellinie (c),
wodurch ein Zylinder zustande kommt.
Die beiden soeben angeführten Beispiele sollen
natürlich keinen Anspruch darauf machen, eine
korrekte Antwort auf die Frage zu geben, wie
eine Kugel oder ein Zylinder nun wirklich er-
halten wird. Die Lösung dieser Aufgaben würde
eine gründliche mathematische Durcharbeitung
des Problems erfordern, zu der dem Verf. die
Mittel durchaus fehlen. Sie sollen lediglich
prinzipiell den Strukturunterschied zwischen Kugel
und Zylinder erkennen lassen und tun dies trotz
ihrer Unvollkommenheit einigermaßen befriedigend.
Je mehr man sich nämlich in sie hineindenkt, je
mehr wird man erkennen, daß die Bewegung auf
jeden Schnitt durch die Kugel eine Fläche mit
ineinander verschlungenen Kreisen darstellt, so
daß man also an jeder Stelle gewissermaßen eine
Kugel in der anderen sitzend vorfinden müßte.
Bei dem Zylinder liefert der Querschnitt senk-
recht zur Achse eine ähnliche kreisförmige Struktur,
während der Längsschnitt nur Parallelbewegung
zur Achse ergibt. In beiden Fällen ist also der
ursächliche Zusammenhang zwischen Struktur und
äußerer Form gewahrt und das ist der Angel-
punkt, um den sich die ganze Auffassung dreht.
Soweit wir uns mit rein theoretischen Betrach-
tungen abgeben wollen, mag dies — andeutungs-
weise — genügen. Da wir aber Anspruch darauf
gemacht haben, physikalische Vorgänge zu be-
schreiben, muß die Kontrollierbarkeit unserer
Folgerungen an den Dingen der Natur selbst dar-
getan werden.
Rein äußerlich sind, wie bekannt, gewisse
stereometrische Formationen den natürlichen Kri-
stallen mit nicht zu übertreffender Genauigkeit
auf den Leib geschnitten. Aber wir finden bei
N. F. XXI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
405
den Kristallen weit mehr, nämlich eine weit-
gehende Analogie für .das Postulat eines Zusam-
menhangs zwischen äußerer Form und räumlicher
Struktur 1 Diese Analogie tritt in den Erschei-
nungen der Hemiedrie usw., des Isomorphismus
sowie in denjenigen der Kristalloptik zutage; das
wichtigste Vergleichsmoment aber bildet die
Eigenschaft der Kristalle, die es erlaubt, aus einem
größeren Objekt an einer beliebigen Stelle ein
kleineres herauszuspalten, das genau dieselben
physikalischen Eigenschaften wie der Mutterkristall
aufweist. Die Analogie erscheint hiernach so
vollständig, daß man versucht sein könnte, die
Kristalle als wirkliche Repräsentanten dreidimen-
sionaler Art anzusprechen.
Unsere früheren euklidisch - stereometrischen
Gebilde konnten allerdings nur wesen- und ge-
wichtslos sein. Nachdem wir aber physikalisches
Gebiet betreten haben, müssen wir doch im Ver-
folg unserer Untersuchungen über die Entwick-
lung der Dimensionen irgendwo auf Eigenschaften,
die der sog. JVIasse eigentümlich sind, also zu-
nächst auf Schwere stoßen. Das Materielle an
den Kristallen brauchte also kein unbedingtes
Hindernis für die Annahme, zu der wir durch
jene Analogie verführt wurden, zu sein, sie stößt
aber auf starke Bedenken, wenn wir nicht nur die
physikalische, sondern auch die chemische Be-
schaffenheit der Kristallsubstanz berücksichtigen. —
Chemisch völlig verschiedene Substanzen können
demselben kristallographischen System angehören,
also strukturverwandt sein. Isomorphe Kristalle
von Verbindungen gruppenweise zusammengehöri-
ger Elemente können übereinanderwachsen und
bieten so ein Bild vollständiger Strukturidentität.
Die Übereinstimmung zwischen solchen Kristallen
ist also eine rein morphologische, aber keine sub-
stantielle. Wollen wir das mathematisch zum
Ausdruck bringen, dann müssen wir etwa sagen,
das Morphologische an diesen Kristallen ist drei-
dimensional und läßt sich daher auf die Einheit
a^ zurückführen, soll aber auch das Substantielle
mit zum Ausdruck gebracht werden, dann sind
Indices erforderlich ; man müßte also z. B. etwa
schreiben :
a^ schwarz, D = 7,25, .... (Bleiglanz)
a^ weiß, D = 2,i6, .... (Kochsalz).
Solche Glieder passen jedoch nicht in unsere
Reihe a, a-, a^, a*, a* usw. und wir erkennen, daß
der Materie offenbar ein höherer Exponent als 3
zukommt. Die Größe desselben ist also näher
zu bestimmen.
Die Mittel zur Lösung dieser Aufgabe kann
uns nur die modernste Wissenschaft, die Atom-
physik, liefern. Sie betrachtet das Atom als aus
positiver Kernladung und negativen Elektronen
bestehend, sie kennt keinen Unterschied zwischen
Masse und Energie mehr, es gibt nur Energie-
zentren und Bewegung, hier gehen nur Beziehun-
gen zwischen meßbaren Größen; Bilder, x'\n-
schauungsmodelle, an sich unrichtig, vermitteln
dennoch in unentbehrlicher Weise die Verständi-
gung und erleichtern die Ausdrucksweise.
Eine dem Atomkern und den Elektronen ver-
wandte Erscheinung ist der Helmholtzsche Wirbel-
ring, von dem es heißt, er sei Bewegung in einer
reibungslosen Flüssigkeit, mit den sog. konser-
vativen Kräften weder hervorzubringen noch zu
zerstören. Als man sich die Wirkungen der Ener-
gien noch nicht ohne den Äther vorstellen
konnte, hat man diesen auch als Träger solcher
Wirbelringe betrachtet. Die heutige Physik nimmt
dem Äther gegenüber eine Stellung ein, welche
von der früheren jedenfalls sehr verschieden ist,
und vermag auch ohne ihn auszukommen. Läßt
man nun den Äther vollständig aus dem Spiele
und erinnert sich des über „Dimensionen" Ge-
sagten, was ist dann ein solcher Wirbelring.'' —
Dann ist ein Wirbelring ein Nichts in einem
Nichts, entstanden aus der Bewegung von Punkt,
Linie und F"läche , ein wahrer Repräsentant der
dritten Dimension 1
Man kann wohl auch sagen: Der Wirbelring
ist ein Energiezentrum von mathematisch be-
stimmter Form und genau berechneten Eigen-
schaften. Was Atomkern und Elektronen anbe-
trifft, so hat man die erste Annahme, daß man
es bei ihnen mit Helmholtzschen Wirbelringen
zu tun habe, fallen lassen, aber ähnliche Gebilde,
deren konstruktive Eigenschaften zu berechnen
z. Z. wohl eine der schwierigsten Aufgaben der
höheren und höchsten Mathematik ist, wird man
sich unter Kern und Elektronen vorzustellen haben,
und wir sprechen sie deshalb ebenfalls als Re-
präsentanten dritter Dimension an.
Kern und Elektronen sind in ständiger Be-
wegung; durch Bewegung von Elementen dritter
Dimension aber müssen Elemente der vierten
entstehen. Das Atom ist also vierdimen-
sional, damit ist der Exponent bestimmt und
die Einheit der Materie mit dem Glied a^ in
unserer Reihe einzusetzen. Ebenso wie durch die
Bewegung verschieden vieler Elemente zweiler
Dimension untereinander strukturverschiedene
Prismen usw. (vgl. Abb. 2) gebildet wurden, so
müssen aus der Bewegung ungleicher Mengen
Kerne und Elektronen „struktur" - verschiedene
Atome und Moleküle, verschiedene chemische
Elemente und Verbindungen entstehen.
Die „Welt" ist nach Einstein-Mi nkowsky
ein vierdimensionales Kontinuum. Sie ist endlich,
aber unbegrenzt, genau so wie die Oberfläche
einer Kugel. Am Sternenhimmel sehen wir die
Fixsterne, die unserer Sonne ähnlich sind, von
denen jeder also auch sein Planetensystem haben
wird. Man war überrascht, im Aufbau der Materie
eine unserem Planetensystem ähnliche Kombi-
nation zu finden. Im Atom sind es dreidimen-
sionale Elemente, welche durch ihre Bewegung
die vierdimensionale Materie erzeugen , die Be-
wegung dessen, was wir Materie nennen, muß
daher die Entstehung der fünften Dimension zur
P'olge haben. Es drängt sich daher die Annahme
4o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 29
auf, daß die Planetensysteme untereinander zu
einem fünfdimensionalen „Homokontinuum" in ähn-
lichem Verhältnis stehen, wie die Atome zur
IVIaterie. Es würde allerdings über unsere Be-
griffe gehen, die Bewegung der Fixsternsysteme
als „Ganzes" zu erfassen. Nach der Einstein-
Minkowskyschen Auffassung des vierdimensionalen
Kontinuums muß sich dieses zu einem fünf-
dimensionalen Homokontinuum wie die Kreislinie
zur Kreisfläche oder die Kugeloberfläche zum
Kugelkörper verhalten, letzteres also endlich und
begrenzt sein. Als Konsequenz solcher Über-
legung können wir unserer Einheitsreihe noch
das Glied a' hinzufügen.
Glieder höherer Ordnung lassen sich heute
nicht voraussehen. Vorläufig werden wir übrigens
genug daran zu tun haben, uns mit der Vier-
dimensionalität unserer eigensten Welt vertraut
zu machen.
Von den dreidimensionalen Elektronen kann
bekanntlich eine Strahlung ausgehen. Da bei der
Strahlung ein Energietransport stattfindet, so
müssen in Richtung des Strahles neu erregte
Energiezentren abströmen. Nur bei einer Energie-
form, der Elektrizität, hat man Elementarquanten
mit Sicherheit festgestellt; wie wir heute von
Elektronen reden, wird man später vielleicht auch
von Magnetonen , Lumionen, Thermionen und
Gravitonen sprechen können.
Die Annahme der Dreidimensionalität der
Elementar(]uanten muß zu ganz bestimmten Konse-
quenzen führen. Dies soll an einem Beispiel
näher gezeigt werden. Dazu müßte nun aller-
dings die Konfiguration des betreffenden Elemen-
tarquantums gegeben sein. Da hierüber aber
nichts bekannt ist, so soll als Beispiel der Helm-
holtzsche Wirbelring dienen, von dem wir dabei
annehmen müssen, daß er irgendwo erregt und
mit Lichtgeschwindigkeit abgestoßen worden sei.
Abb. 9 stellt einen solchen Ring dar:
.•\bb. 9.
Die Pfeile a deuten die Richtung der Wirbel-
bewegung, der Pfeil b die Richtung des Strahles
an. — Infolge der Lore n tzVerkürzung muß
sich der Wirbclring zu einem Kreisring abplatten.
Von der kreisförmigen Bewegung a wird also die
Komponente der Richtung b vollständig aufge-
hoben und es bleibt nur die Bewegung c nach
Abb. 10 übrig, d. h. der äußere
Kreis zieht sich bis zur Größe des inneren zu-
sammen und dehnt sich umgekehrt wieder bis zur
ursprünglichen Größe aus, indem eine Art pul-
sierender Bewegung stattfindet. — Das Ganze
bewegt sich in Richtung b; infolgedessen be-
schreibt jeder Punkt der Peripherie eine Wellen-
bewegung. Denkt man sich den inneren Kreis
sehr klein, dann bietet das Bild, das
wir nach Abb. 1 1 erhalten, eine augenfällige Ähn-
lichkeit mit einem unpolarisierten Lichtstrahl,
welcher bekanntlich transversale Schwingungen
in allen möglichen durch die Strahlrichtung ge-
legten Ebenen aufweist, ^^'ir haben hier also so
etwas wie ein „Lumion" vor uns. Im Strahl
handelt es sich aber offenbar nicht um ein einzelnes,
sondern um viele direkt — d. h. um den Ab-
stand einer Wellenlänge — hintereinander her
eilenden Quanten.
Damit haben wir folgenden Fall: Ein drei-
dimensionales Element verliert infolge seiner Ge-
schwindigkeit eine Dimension und geht in ein
Element zweiter Dimension über. Ein bemerkens-
werter Fall von einer Art Abbau, der zeigt, daß
es sich um ein Ineinanderübergehen der Dimen-
sionalitäten je nach den Bedingungen handelt,
ähnlich, wie aus Masse Energie werden kann und
umgekehrt. Der Strahl entsteht durch Bewegung
in derselben Richtung aufeinanderfolgender Ele-
mente zweiter Dimension, er ist also selbst drei-
dimensional und zwar haben wir hier gerade den
Fall, den wir oben als „schwer vorstellbar" be-
zeichneten. Die Struktur des dreidimensionalen
Strahls (des Feldes) entspricht der den zwei-
dimensionalen IVIutterelementen eigentümlichen
Bewegung und ist wellenförmig.
Eine solche Auffassung vereinigt gewisser-
maßen Undulations- und Emissionstheorie. Wie-
weit sie sich den weitgehenden Anforderungen
N. F. XXI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
407
der verschiedenen optischen (oder sonstigen physi-
kalischen) Erscheinungen anpassen läßt, kann hier
nicht weiter nachgeprüft werden, einmal, weil
die Konfiguration des Wirbelrings mehr beispiels-
weise denn als Spezifikum benutzt wurde, insbe-
sondere jedoch, weil es dem Verf. an mathema-
tischer Behandlungsmöglichkeit des Problems ge-
bricht. Er mußte sich daher darauf beschränken,
in der vorstehenden Abhandlung eine mehr an-
deutende als erschöpfende Darstellung zu geben.
Vielleicht aber bieten seine Gedanken dem einen
oder anderen von denjenigen, die im Besitz des
erforderlichen mathematischen Rüstzeugs imstande
sind, sie objektiv zu kritisieren, eine Anregung.
[Nachdruck verboten.]
Über Generationsrhythmen beim Menschen.
Von Priv.-Dor. Dr. Haus Günther, Leipzig.
Die Aufklärung der Vererbungsverhaltnisse
hat zwar beim Menschen wesentlich größere
Schwierigkeiten zu überwinden als das Studium
einfacher, experimenteller Bastardierungsversuche
an vielen pflanzlichen und tierischen Organismen,
doch gelang es, die Vererbung mancher Ano-
rnalien auf einfache Vererbungsregeln (besonders
Spaltungsregeln) zurückzuführen. Man begnügte
sich dabei, den Zufall bei der Chromosomenver-
teilung wirken zu lassen und die Zahlenverhält-
nisse der möglichen Kombinationen an einem
größeren Material experimentell wiederzufinden.
Abweichende Zahlenverhältnisse ließen sich durch
kompliziertere, oft recht weitgehende Faktoren-
hypothesen deuten. Die so geartete psychische
Einstellung auf Vererbungsvorgänge lenkte die
Aufmerksamkeit ab von einem anderen Phänomen,
welches sich doch bei manchen menschlichen
Stammbäumen als Hinweis auf irgendeine Ge-
setzmäßigkeit aufdrängen mußte.
Ich meine das regelmäßige Alternieren
von I bis 2 Trägern des anormalen Merkmales
(Zeichen a) mit i bis 2 Nichtträgern (A) inner-
halb einer Generation. Wir finden also dem Alter
nach geordnete Geschwisterreihen etwa in folgen-
den Anordnungen : A A A A A oder A A A A A A A
oder AaAAaAAA- Es liegt natürlich nahe,
hier nach irgendeiner Gesetzmäßigkeit zu suchen.
Es war daher nötig, die genaue zeitliche Folge
der einzelnen Geburten zu erfahren. Eine mir
bekannte Albino familie, welche in einer Reihe
von 13 Geschwistern mit 6 Albinos ein auffälliges
Alternieren erkennen ließ und die genaue Fest-
stellung der Geburtsdaten ermöglichte, bot mir
hierzu eine günstige Gelegenheit.
Es ergab sich nun, daß die Albinos und die
darauffolgenden Nichtalbinos sich jeweils in gleich-
lange Zeitintervalle einordnen ließen. Wir
wollen die Intervalle, in welche die mit der be-
treffenden Anomalie Behafteten fallen, als „nega-
tive", die anderen als „positive" Intervalle be-
zeichnen. Weiter untersuchte ich eine größere
Zahl von aus der Literatur bekannten Albino-
stammbäumen mit dem Ergebnis, daß auch hier
besonders die alternativen Geschwisterreihen sich
immer (abgesehen von einigen kleinen Schwan-
kungen) in diese Intervalle einordnen ließen, deren
Dauer stets 2'/2 Jahre betrug. Viele Reihen
mit ausgeprägtem Alternieren waren leider nur mit
mangelhaften Altersangaben versehen, doch ließ
sich auch hier teils mit Sicherheit, teils nur mit
Wahrscheinlichkeit eine Abgrenzung nach Zeit-
intervallen vornehmen.
hb hs /so /ss
O D I ■ • I D I I
/si
o
--J 00
00 o
P 00
oö o
Beifolgendes Schema zeigt die in die einzelnen
Zeitintervalle von 2 '/„ Jahre Dauer eingeordneten
albinotischen (■ •) und pigmentierten (D) Ge-
schwister; die Grenzen der Zeitintervalle sind
durch Monats- und Jahresangabe (-/-,; = Aug. 1875)
bezeichnet, unterhalb der Zeitabszisse befinden
sich die zugehörigen Geburtsdaten.
Die gleichen Verhältnisse fanden sich auch
bei anderen Anomalien (Hämophilie, Ochronose,
Brachydaktylie, Diabetes insipidus, hereditären
Augenkrankheiten). Die genauen Belege (40 Reihen)
habe ich a. a. O.*) niedergelegt. Wenn auch zur
Feststellung des Grades der Exaktheit dieser
Generationsrhythmen noch weitere Untersuchungen
an Stammbäumen mit genauen Geburtsdaten nötig
sind, ist zunächst die Tatsache erwiesen, daß
diese 2 '/., -Jahrrhythmen existieren. Vereinzelt
wurden Störungsintervalle beobachtet, durch welche
die folgenden Intervalle sich um eine Zeitlänge
verschieben.
Da in den untersuchten Reihen sowohl väter-
liche als mütterliche Vererbungsträger vorkamen,
ist also der 2 V2 jährige Generationsrhythmus,
welcher ja das 33 fache einer Menstruationsperiode
oder 3 Vs fache der Fötalzeit beträgt, nicht nur
auf das weibliche Geschlecht beschränkt. Der
Rhythmus wird aber immer durch den einen,
das Merkmal übertragenden Elter bestimmt, weil
nämlich diese Rhythmen bei verschiedenen Indi-
viduen zwar in der Zeitdauer übereinstimmen,
aber nicht bezüglich der absoluten Zeiten zu-
sammenfallen.
An eine Erklärung des Phänomens können wir
uns noch nicht heranwagen. Da bekanntlich der
Lebensprozeß eines Organismus iowohl in seinen
kleinsten Einzelheiten, als in den Funktionen
größerer Komplexe und des ganzen Individuums
') Z. f. Konstitulionslehre 1922.
408
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 29
Rhythmen erkennen läßt, deren gegenseitige Zu-
einanderordnung ein Ziel weiterer Forschung sein
muß, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir
auch bei Vererbungsvorgängen auf die Spuren
eines rhythmischen Verlaufes kommen. Den Ver-
erbungstheoretikern dürfte der Nachweis dieser
Generalionsrhythmen Schwierigkeiten bereiten.
Zur Lösung des Problems ist engere Fühlung
zwischen Vererbungsforschung und Konstitutions-
forschung erwünscht.
Bücherbesprechungen.
Liesegang, Dr. Raphael Ed., Beiträge zu
einer Kolloidchemie des Lebens.
2., vollkommen umgearbeitete Auflage. Dresden
und Leipzig 1922, Theodor Steinkopff. 10 M.
Kolloidchemie der lebenden Substanz
wäre dem Berichterstatter als richtiger Titel er-
schienen. Denn es sind in diesem 39 Seiten starken
Heftchen eine größere Anzahl von Diffusions-
erscheinungen in Gallerten beschrieben, die teil-
weise im Organismus beobachtet werden können,
andernteils zur Deutung gewisser biologischer
Phänomene dienen können. Aber der Verf. gibt
selbst zu, „mit tausend Zungen reden zu müssen",
um allein der Rolle des Wassers in organischen
Geweben gerecht werden zu können. Von einer
„Nachahmung" des Lebens kann keine Rede sein.
Immerhin sind die Beobachtungen des Verf.s an
kolloiden Medien und die Beziehungen, die er
ihnen zu den verschiedensten biochemischen und
pathologischen Erscheinungen gibt, so vortrefflich
in der Methodik, so schön in ihrer Phänomeno-
logie, daß jeder Naturfreund an diesem Heft
seine Freude haben wird. — Schade, daß die
Literaturangaben so unvollständig sind ! — Zu
der Fischerschen Theorie der Liesegang-Ringe
(vgl. Naturw. Wocheiischr. N. F. XXI, S. 196, 1922)
konnte der Verf. leider nicht mehr Stellung
nehmen. H. Heller.
Trömmer, E., Hypnotismus und Sugge-
stion. 4. Aufl. 199. Band der Sammlung „Aus
Natur und Geisteswelt". Leipzig und Berlin
1922, B. G. Teubner.
Die dritte Auflage dieses Buches wurde in
Nr. 6 des Jahrganges 1920 besprochen. Wenn
es nach kaum dreijähriger Pause schon wieder
eine Neuauflage erleben kann , also stärker be-
gehrt wurde als die meisten anderen Bücher der
Sammlung, so ist das hoffentlich wirklich ein
„Zeugnis für das Tiefenbedürfnis deutschen Geistes."
— Hoffentlich, denn es ist auch der Fall mög-
lich, daß die Nachfrage mit der „Erneuerung
mystischer und okkulter Bestrebungen" in Zusam-
menhang steht. Denn der Laie sieht nun einmal
gern die Hypnose im Lichte solcher Vorstellungen.
— Wie dem auch sei , es wurde schon damals
betont, daß der wirklich lern- und bildungsbegierige
Leser an dem Buche keinen Schaden nehmen
wird, zumal da der Verf. bemüht gewesen ist, an
manchen Stellen sein wohlgelungenes Werk noch
zu verbessern. Ein Kapitel über Massensuggestion
ist hinzugekommen. Huebschmann (Leipzig).
Ziegler, H. E. , Tierpsychologie. 115 S.
Klein- 8". 17 Abb. (Sammlung Göschen Nr. 824.)
Berlin und Leipzig 192 1, Vereinigung wiss. Ver-
leger. Walter de Gruyter & Co. 6 M.
Alles, was man erwarten wird, einschließlich
der Geschichte der Tierpsychologie findet man
in dem Bändchen leicht faßlich gemäß dem
heute in der Wissenschaft gültigen Urteile dar-
gestellt. Auch neueste Feststellungen sind vor-
trefflich berücksichtigt. Somit wird das Büchlein
der Verbreitung wissenschaftlichen Denkens und
der weiteren Verständigung zwischen Forscher
und Tierfreund gut dienen. Erfreulicherweise ist
die Ausstattung der „Göschenbändchen" nun
wieder die alte. V. Franz, Jena.
Literatur.
Bruns, Ferd., Die Zeichenkunst im Dienst der be-
schreibenden Naturwissenschaften. Jena '22 , Verlag von
Gustav Fischer. Brosch. 90 M., geb. 115 M.
Trautz, Ma.x, Lehrbuch der Chemie. Zu eigenem Ge-
brauch. I. Band Stoffe. Berlin und Leipzig '22, Vereinigung
wissenschaftl. Verleger. Geh. 150 M., geb. 172 M.
Koorders, Dr. S. H., Exkursionstlora von Java. Um-
fassend die Blütenpflanzen. 4. Band Atlas 2. Abteilung:
Familie 20/21 herausgegeben von Frau A. Koorders -Schu-
macher. Jena '22, Verlag von Gustav Fischer. Brosch. 20 M.
Michael, Wolfg. , Ranke und Treitschke und die
deutsche Einheit. (Festrede.) Berlin ■ Leipzig '22, Verlags-
buchhandlung Dr. Walther Rothschild.
V. Hahn, Dr. Friedrich-Vinccnz, Über die Her-
stellung und Stabilität kolloider Lösungen anorganischer Stofl'e.
(Mit besonderer Berücksichtigung der Sulfidsole.) Sonderaus-
gabe aus dt^r Sammlung chemischer und chemisch-technischer
Vorträge herausgegeben von Prof. Dr. W. Herz-Breslau.
Band. XXVI. Stuttgart '22, Verlag von Ferd. Enke. Preis
brosch. 5 M.
Schaf fer, Prof. Dr. C, Natur- Paradoxe. Nach Dr. W.
Ilampsons ,, Paradoxes of nature and science". III. Auflage.
Leipzig-Berlin '22, Verlag von G. B. Teubner. Geb. 35 M.
Inhalt: J. Voigt, Euklidisciic
iher, Über Generationsrhythmen beim Menschen. S.
zu einer Kolloidchemie des Lebens. S. 408. E. Tri
Tierpsychologie. S. 408. — Literatur: Liste. S. 40S.
:he Geometrie, Physik und die Vierdimensionalilät der Materie. (11 Abb.) S. 401. H. Gün-
rhythmen beim Menschen. S. 407. — BUcherbesprecbungen : R. Kd. Liese gang, Beiträge
Jes Lebens. S. 408. E. Trömmer, Hypnotismus und .Suggestion. S. 408. II. E. Ziegler,
— Literatur: Liste. S. 40S.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band:
der ganzen Reihe 37. Hat
Sonntag, den 23. Juli 1922.
Nummer 30.
Exaktwissenschaftliches, philosophisches und künstlerisches
Welterkennen und Weltbegreifen.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. M. Schwlckeratll, Aachen.
Einleitung.
„Alles fließt" das ist letzten Endes die Er-
kenntnis, zu der man in Wissenschaft, Philosophie
und Kunst kommt. Es gibt kein absolutes Wissen,
keine absolute Wahrheit, keine absolute Kunst,
und ebensowenig eine Ausdrucksform, die einzig
und allein die Außenwelt mit ihren Erscheinungen
unserm Hirn zum Bewußtsein brächte. Und doch
suchen wir immer wieder nach Normen, nach Ge-
setzen, um uns in dem wogenden Meere der Er-
scheinungen zurecht zu finden. Die Forderung
für den Wissenschaftler, Philosophen und Künstler
lautet nicht: „Suche den Stein der Weisen, den
Bezugskörper A" — sondern man dürfte vielleicht
den vielumstrittenen Satz des Physikers Kirch-
hoff, den er an den Anfang seiner Mechanik
setzt, verallgemeinern und sagen: „Um sich mit
der Welt auseinanderzusetzen hat der Wissen-
schaftler, Philosoph und Künstler die Aufgabe,
die Erscheinungen und Bewußtseinsin-
halte auf die möglichst vollständigste und ein-
fachste Weise zu beschreiben und darzustellen."
Jede Art der Beschreibung (im weitesten Sinne)
und Darstellung ist an und für sich berechtigt.
Die eine kann vor der anderen nur den Vorzug
haben, vollständiger und bequemer zu sein.
Warum sollte deshalb nicht einmal der Ver-
such erlaubt sein, ohne auch irgendwie eine ab-
solute Richtigkeit zu beanspruchen, die Erschei-
nungen des philosophischen und künstlerischen
Weltbegreifens auf einen Hauptnenner mit denen
der exakten Wissenschaften zu bringen, ja die
verschiedenen Strömungen und Richtlinien in
Philosophie und Kunst an den Disziplinen der
exakten Wissenschaften zu erläutern und wenn
möglich alle drei zu einer höheren Einheit zu
verschmelzen ?
Man lasse einmal den Vergleich zwischen
exakten Wissenschaften, Philosophie und Kunst
gelten, betrachte das eine als Gegenstück des
anderen! Zwar könnte statt der exakten Wissen-
schaften (Mathematik und Naturwissenschaften)
jede andere den gleichen Dienst leisten. Jedoch
tritt bei den exakten Wissenschaften Entwicklung
und Fortschritt weit mehr in den Vordergrund
und ferner haben diese Wissenschaften die strengste
Scheidung ihrer Disziplinen, die straffste Formu-
lierung und die größte Eindeutigkeit der Symbole
erreicht.
So wie sich Philosoph und Künstler auf ihre
Weise mit Um- und Inweit möglichst allum-
fassend auseinanderzusetzen suchen, so auch zum
Teil der exakte Wissenschaftler, der sich mehr
und mehr nicht nur auf die „sinnfällige Natur"
beschränkt, sondern kühn und mit immer wachsen-
dem Erfolge in das Gebiet der Psychologie und
Erkenntnislehre hinübergreift.
Als letztes Ziel der Untersuchung schwebt
demnach folgendes vor: ein möglichst allgemein-
gültiges (aber nicht absolut wahres) Symbol für
das exaktwissenschaftliche, philosophische und
künstlerische Welterkennen und Weltbegreifen zu
finden, wobei den exakten Wissenschaften außer-
dem noch die Aufgabe zukommen soll, Ausgangs-
punkt und Führer bei dieser Untersuchung zu sein.
Dieses Symbol finde ich nun in einfachster
und vollständigster Art in dem Bilde dreier
Wanderer, die, jeder in seiner Eigenart, dem
gleichen Ziele zustrebend, das Land der exakt-
wissenschaftlichen, der philosophischen und künst-
lerischen Erkenntnis durchforschen. Möge diesem
zunächst etwas schlicht erscheinenden Bilde
durch die so auffallend symbolische Lahnfahrt
Goethes Anschaulichkeit verliehen werden, von
der er selbst sagt : ,,Und wie nach Emaus weiter-
ging's, mit Geist- und Feuerschritten, Prophete
rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten."
Dort haben wir die drei Wanderer, die, wie die
Untersuchung zeigen soll, in jedem der 3 Lande
der Erkenntnis wiederkehren ; rechts den Seher,
Schwärmer, Mystiker, links den nüchternen Zweifler
und kritischen Skeptiker gegen alles, was nicht
empirisch gefunden ist, und zwischen beiden das
Weltkind. Das Weltkind Goethe, einmal als
den etwas konservativen Mittler, dann aber —
fast widersprechend — als den schöpferischen
Gestalter. Doch sein Charakter muß ja zwie-
spältiger sein als der seiner extremen Genossen
zur Rechten und zur Linken, wenn er auch oder
gerade weil er sich besser der sog. realen Welt
anpaßt. Durch Verschmelzung der Extreme von
rechts und links entsteht ja die Schöpfung seiner
Lebensanschauung, die, eine Zeitlang Träger und
Maßstab aller Anschauungen, endlich von neuem
durch die gleichen Einflüsse von rechts und links
gezwungen , zu noch umfassenderer Gestaltung
gelangt. Darum finden wir ja auch in Goethe
jene stille und milde Toleranz gegen die Einseitig-
keit der idealistischen Richtung, deren berechtigten
Kern er zu schätzen weiß, verkörpert, während
sich doch sein Gemüt allmählich immer ent-
schiedener zur objektiven Betrachtung der Natur
hingezogen fühlt. — Damit möge zunächst das
Gepräge der „drei Wanderer" angedeutet sein.
410
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 30
Sehen wir nun zu, ob nicht auf die exakten
Wissenschaften zunächst wenigstens nur kurz um-
rissen dieses Symbol anwendbar ist. In den
exakten Wissenschaften sind diese 3 Gestalten in
dem iVIathematiker zur Rechten, dem nur experi-
mentierenden Naturwissenschaftler (Chemiker und
Physiker) zur Linken und dem theoretischen Physiker
(Theoretiker) in der IVlitte vertreten. Der IVIathe-
matiker sieht oft auf den nur experimentierenden
Naturwissenschaftler und seine IVIethode verächtlich
herab und umgekehrt der reine Naturwissenschaftler
erklärt manches Gebiet der Mathematik als un-
nötige Spekulation, ja Spielerei 1 Doch plötzlich
ist der Experimentator auf dem toten Punkte
angelangt; da tritt der theoretische Physiker hinzu
und bringt mit Hilfe der mathematischen
Erkenntnisse die neuen Erfahrungssätze des Ex-
perirrientators, die zunächst zusammenhanglos, ja
anscheinend widerspruchsvoll nebeneinanderstan-
den auf eine knappe, oft überraschend einfache
Ausdrucksform, die zunächst fremdartig,
bald alle Anschauungen erweitert und erneuert.
Und so geht, der, der hofft „mit Hebeln und mit
Schrauben" der Natur ihr Geheimnis zu rauben
durch Vermittlung des „Theoretikers" eine Zeit-
lang zusammen mit seinem Genossen, dem ideen-
und formenreichen Phantasten, der vielleicht auch
etwas von der vorübergehenden Einigung lernt.
Doch bald sitzt der Experimentator wieder bei
seinen alleinseligmachenden Versuchen und küm-
mert sich wenig um seine Weggenossen. Und
auch der Mathematiker und Theoretiker gehen
jeder seines Weges; der erstere den Kopf voll
neuer Ideen, der letztere seine neue Gestaltung
wahrend und ausbauend, bis er durch neue Er-
kenntnis von rechts und links gezwungen wird,
zu neuer Gestaltung zu greifen. Dieses ewige
Schmollen und Versöhnen scheint gut und not-
wendig zu sein, denn daraus erkärt sich wohl der
Siebenmeilenschritt, den sich die exakten Wissen-
schaften angewohnt haben, zumal man hier schon
dazu gekommen ist, die gegenseitigen Schwächen
-mit einem gewissen Humor zu ertragen.
Findet man nun nicht sofort in der Philosophie
die drei Gestalten wieder? Haben wir auch dort
\
Mamemaliker
. 5J ^O—
nicht in dem Idealisten den Seher und Mystiker,
in dem ausgesprochenen Empiriker (Positivisten)
den Skeptiker und Zweifler und zwischen beiden
im Realisten das ausgleichende Element? Nun
braucht ja der Mathematiker nicht unbedingt
Idealist, der reine Experimentator nicht unbedingt
Empirist (Positivist) und der Theoretiker philos.
Realist zu sein, die weitere Betrachtung wird je-
doch zeigen, daß diese sich in ihren Anschauungen
am ehesten entsprechen, daß ihr Programm und
ihre Methode eine starke Verwandtschaft auf-
weisen, ja sich decken. — Zwar läßt in dem
Forschungslande der Philosophie die Toleranz
noch viel zu wünschen übrig.
Doch im stärksten Gegensatz finden wir noch
unsere 3 Genossen in der Kunst und ihren Rich-
tungen. Hier tobt noch der Kampf am erbittert-
sten. Liegt es daran, weil hier die Gefühlswerte
so stark in den Vordergrund treten? Wie eifert
hier der Seher und Schwärmer als Expressionist
gegen den resignierenden Zweifler, den Skeptiker,
der uns als Impressionist entgegentritt, und wie
zaghaft ohne bisher eine neue Gestaltung gefunden
zu haben, steht gerade heute zwischen beiden der
Mittler, der einsieht, daß sein solange aufrecht-
gehaltener erstarrter Klassizismus von rechts und
links zertrümmert am Boden liegt. — Und wenn
auch wieder der Idealist nicht unbedingt Expres-
sionist, der Positivist nicht unbedingt Impressionist,
der Realist nicht unbedingt der eine neue Ge-
staltung suchende Klassizist sein muß, so ent-
sprechen sich doch auch diese Typen so vorzüg-
lich, so daß man sagen könnte, die 3 Typen auf
den zu betrachtenden Gebieten sind einander ein-
deutig zugeordnet wie 3 Punkte (Aj B, CJ der
Geraden Gj den drei Punkten (A.^ B.^ Cj) der
Geraden G.j und außerdem die drei ersten und
die drei zweiten den drei Punkten (A3 B3 C3) auf
der Geraden G3, entsprechend den Schnittpunkten
dreier Geraden Gj, G,,, Gg mit den zu einem
Zentrum Z hingehenden Strahlen. Dann würde
das Zentrum, nach dem alle Punkte hinzielen, das
Ziel aller, das Weltbegreifen und erkennen dar-
stellen. Möge die folgende Figur das zuletzt
Gesagte erläutern:
_6a^
Jdealist
-My-
/,
Experimenlafor
Raalisf Positivisf
ThiloAophifc .
j (Empirisf)
txprcMionisf ^Klasjlzisf ^Jmpressionist
KunsK
N. F. XXI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
411
Unsere Aufgabe besteht also jetzt darin, die
behaupteten Analogien zu begründen und das
Welterkennen und — begreifen an Hand der
exakten Wissenschaften zu erläutern. Hierbei soll
zunächst die Analogie der entsprechenden Punkte
auf Gl und Gj (exakte Wissenschaften und Philo-
sophie) nachgewiesen werden und dann diesem
wissenschaftlichen das künstlerische Er-
kennengegenübergestellt werden; also (G, G3) Gg.
I. Die exakten Wissenschaften.
Betrachten wir zunächst einmal „auf der Ge-
raden Gj" die Mathematik in ihren zwei Haupt-
teilen, der Analysis und der Geometrie. Nicht als
ob wir mehr iVIathematik betreiben wollen, als
hier unbedingt nötig ist! Wir haben nur die Ab-
sicht, uns die Entwicklung und den Aufbau dieser
Wissenschaften klar zu machen.
Die ganze Arithmetik und damit auch die
Analysis fußt auf 1 1 Grundgesetzen. Für unsere
Betrachtungsweise ist es dabei ganz gleichgültig,
daß man sich darüber streitet, ob diese Gesetze
mehr durch die Anschauung (Intuition) erkannt
worden sind oder ob die Logik einzig und allein
daran beteiligt ist. Für die ganzen Zahlen ver-
tragen sich diese Gesetze vorzüglich mit unserer
gewöhnlichen Welt, auch noch für die Brüche,
obwohl dort schon die Operationen ein etwas
formaleres Gepräge annehmen. So wie aber jetzt
die Grenzen des „algebraischen Reiches" weiter
vorgerückt werden, tritt diese formale Be- .
deutung immer mehr in den Vordergrund und
bei der Multiplikation der relativen Zahlen hat
der Mathematiker unsere gewöhnliche Welt schon
völlig verlassen.
Denn (-{- i) • (+ i) und (— i) • (— l) hat an
und für sich gar keinen Sinn. Wenn man die
positiven Zahlen als Vermögen, die negativen als
Schulden deutet, so kann es höchstens einen Sinn
haben (-|- i) oder ( — i) i mal, 3 mal n mal zu
nehmen, aber nicht (-|- i )•(-{- n) oder (-}- l) ■
( — n) usw. Es kann höchstens den Sinn haben,
den ich ihm beilege. Dabei fordere ich, daß nur
kein Widerspruch mit den früheren Sätzen auf-
tritt und setze rein formal fest: ( — i) • (— i) =
-[- I usw.
Ähnlich ist es mit den Symbolen der Dimen-
sionen, a, a-, a'' haben noch eine anschauliche
Bedeutung: Strecke, Fläche, Körper; aber a*,
a^ . . . a° ist nur eine formale Fortbildung des
Potenzprinzips, und nur das mathematische Streben
nach eindeutiger Allgemeingültigkeit und hat dem-
nach auch nur formalen Charakter. Diese Sym-
bolik schreitet immer weiter. Von dieser Fähig-
keit, Symbole zu schaffen, macht der Verstand
nur dann Gebrauch, wenn ihn die Stellung des
Problems dazu zwingt. Die Symbole der Wurzel
(y~) und die Zahl i = )/— 1 führen dann zur letzten
Erweiterung des Zahlenreiches. — Denselben rein
formalen Charakter zeigt die höhere Analysis.
Somit beruht die Sicherheit der Analysis nur
darauf, daß ihre Grundgesetze, rein formal und
ohne Rücksicht auf ihren anschaulichen Inhalt
betrachtet, ein logisch widerspruchsfreies System
bilden. Der Mathematiker studiert eben nicht die
Objekte der gegebenen Welt nur das Formale
hat für ihn Interesse.
Ähnlich liegt die Sache bei der Geometrie.
Die Geometrie, die man auf der Schule betreibt,
ist die euklidische. Ihr Gebäude steht so fest
und sicher da, daß es zum Sprichwort des einzig
Wahren und Festen geworden ist. Um so
größer muß das Erstaunen des Neulings sein, wenn
ihm allmählich gezeigt wird, daß sich auch
widerspruchslose Geometrien aufbauen lassen,
die einfach eins der Axiome, der Grundfesten
dieser Wissenschaft, fallen lassen. Hierbei werden
ganz andere und zunächst sehr befremdende Lehr-
sätze aufgefunden, und es wird letzten Endes dar-
getan, daß die euklidische Geometrie nur ein
spezieller Teil dieser nichteuklidischen ist. Jeden-
falls wird wohl jeder danach der euklidischen
Geometrie nicht mehr die absolute Sicherheit
auch für die reale Welt schlechthin zuschreiben
können.
Um die Möglichkeit einer anderen Geometrie
plausibel zu machen, möchte ich im Zweidimensio-
nalen folgendes Beispiel von H e 1 m h o 1 1 z angeben :
„Wir wollen uns eine eigenartige Welt vor-
stellen, die mit Wesen bevölkert ist, die keine
Dicke oder Höhe haben und wir wollen ferner
voraussetzen, daß diese gänzlich flachen Wesen
alle in derselben Ebene sich befinden und nicht
aus ihr herauskönnen. Wir nehmen außerdem
an, daß diese Welt weit genug von den anderen
Welten entfernt sei, so daß sie deren Einfluß ent-
zogen ist. Wenn wir einmal dabei sind , Hypo-
thesen zu machen, so kostet es uns keine Mühe,
diese Wesen mit Vernunft auszustatten und sie
für fähig zu halten, Geometrie zu treiben. In
diesem F~alle werden sie dem Räume zwei Dimen-
sionen zuschreiben. Aber wir wollen jetzt voraus-
setzen, daß diese eingebildeten Lebewesen, indem
sie zwar ohne Dicke (Höhe) bleiben, eine kugel-
förmig gewölbte Gestalt haben und nicht eine
flache Gestalt, und daß sie alle auf derselben
Kugel wären, ohne Macht zu haben, sich von ihr
zu entfernen. Welche Geometrie würden sie
konstruieren? Es ist klar, daß sie vor allem dem
Räume zwei Dimensionen zuschreiben würden;
was würde nun für sie die Rolle der geraden
Linie spielen.? Offenbar der kürzeste Weg zwi-
schen zwei Punkten auf der Kugel, d. h. ein
Bogen des größten Kreises; mit einem Worte:
ihre Geometrie würde die Geometrie der Kugel
sein.
Was sie den Raum nennen würden, wird die
Kugel sein, von der sie nicht fortkönnen und auf
der sich alle Ereignisse abspielen, von denen sie
Kenntnis haben können. Ihr Raum wird also
ohne Grenzen sein, weil man auf der Kugel
immer vorwärts schreiten kann, ohne jemals auf-
gehalten zu werden und dennoch wird er end-
lich sein."
412
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 30
Es fragt sich nun : welche Geometrie hat vor
der anderen die größere Berechtigung? Dabei
kommt man zu dem Schluß, daß es gar keinen
Sinn hat, nach der größeren Berechtigung zu
fragen , sondern höchstens nach der größeren
Zweckmäßigkeit. Alle bestehen vollkommen
gleich zu Recht. Am zweckmäßigsten erweist sich
im allgemeinen die euklidische Geometrie, aber
bei dem erweiterten Einsteinschen Problem genügt
nur die nichteuklidische.
Aus allem ersieht man, diese Axiome können
nicht als absolute Wahrheiten aufgefaßt werden
weder als synthetische Urteile a priori noch als
experimentelle Tatsachen. Es sind auf Überein-
kommen beruhende Festsetzungen; zwar wird die
Wahl unter all den möglichen Festsetzungen von
experimentellen Tatsachen geleitet, aber sie bleibt
frei und wird nur durch die Notwendigkeit be-
grenzt, Widersprüche zu vermeiden. In dieser
Weise können auch die Axiome streng richtig
sein und bleiben, selbst wenn die erfahrungs-
mäßigen Gesetze, die ihre Annahme bewirkt
haben, nur annähernd richtig sein sollten; mit
anderen Worten : Die geometrischen Axiome sind
nur verkleidete Definitionen und das
ganze wissenschaftliche System hat zunächst nur
in seiner eigenen Welt Daseinsberechtigung
(Poincare).
iMag man nun auch sagen, diese Darstellung
mathematischer Wissenschaft ist mit Poincare
etwas stark pragmatistisch gefärbt, so macht das
für die Schlußfolgerungen im wesentlichen nichts
aus. Wem es nicht paßt, die Axiome als ver-
kleidete Definitionen anzusehen, mag sie dann
eben als synthetische Urteile a priori betrachten.
Um so klarer ersieht man, daß für den IVIathe-
matiker die Erfahrung ganz oder doch fast ganz
ausgeschaltet ist. Mit einer von der stärksten
Logik getragenen Phantasie baut er sein Lehr-
gebäude, rein deduktiv, ohne nach rechts oder
links zu sehen, auf. Wer über die „Phantasie"
lächeln möchte, dem möchte ich den etwas über-
triebenen Ausspruch Kroneckers entgegen-
halten: „Mit der Logik allein lockt man keinen
Hund vom Ofen. Die Phantasie ist die, die alles
schafft. Die Logik ist nur die Dame, die an der
Kasse sitzt und die Münze auf ihre Richtigkeit
prüft."
Auf diese Art des Mathematikers Erkenntnisse
zu gewinnen sieht nun der reine Natur-
wissenschaftler etwas verächtlich herab. Sein
Erkenntnisweg ist genau der entgegengesetzte.
Will der Mathematiker von der Erfahrung los,
um auf seiner selbstgeschaffenen Basis ungestört
weiter zu bauen, so ist die Erfahrung und immer
wieder die Erfahrung Anfang und Ende für den
reinen Naturwissenschaftler. Nach seiner Ansicht
mögen die Formeln der Mathematik ganz wohl
und gut sein, man mag sie auch wohl als Ver-
bildlichung der empirisch gefundenen Tatsachen
benutzen, aber Wirklichkeitsgehalt besitzen
diese Formeln nicht und ebensowenig die mathe-
matisch formulierten Hypothesen; sie sind ein
Hilfsmittel, dem aber nie so recht zu trauen ist,
und sie sind nur solange wahr, wie sie zweck-
dienlich erscheinen. Ein einziger Versuch kann
sie umstoßen. Und nur der Versuch entscheidet.
Noch weiter geht der reine Naturwissen-
schaftler und sagt: die sog. „Dinge" selbst kann
ich nie erkennen, demnach fort mit diesen Pseudo-
problemen! Was ich erkennen kann und will,
sind demnach einzig und allein die Beziehungen
zwischen den einzelnen Größen, die Abhängig-
keiten, die gegenseitigen Bedingtheiten. Damit
fällt dann auch der Begriff von Ursache und
Wirkung.
Lassen wir einmal dazu den Physiker-Philo-
sophen E. Mach sprechen, der als Physiker oder
wenn man will, als philosophierender Physiker
diese Anschauung am ausgeprägtesten vertritt:
„Wenn wir von Ursache und Wirkung sprechen,
heben wir willkürlich Momente heraus, auf
deren Zusammenhang wir bei der Nachbildung
einer Tatsache in der für uns wichtigen Richtung
zu achten haben. In der Natur gibt es keine
Ursache und Wirkungen. Die Natur ist nur ein-
mal da. Wiederholungen gleicher Fälle, in
welchen A immer mit B verknüpft wäre, also
gleiche Erfolge unter gleichen Umständen, also
das Wesentliche des Zusammenhangs zwischen
Ursache und Wirkung, existieren nur in der Ab-
straktion, die wir zum Zweck der Nachbildung
von Tatsachen vornehmen. Ist uns die Tatsache
geläufig geworden, so bedürfen wir der Heraus-
holung der zusammenhängenden Merkmale nicht
mehr, wir machen uns nicht mehr auf das Neue,
Auffallende aufmerksam, wir sprechen nicht mehr
von Ursache und Wirkung.
Man muß sagen, daß es gar kein wissenschaft-
liches Resultat gibt , das prinzipiell auch
nicht ohne alle Methode gefunden wer-
den könnte. Tatsächlich aber ist in der kurzen
Zeit eines Menschenlebens und bei dem be-
grenzten Gedächtnisse des Menschen, ein nennens-
wertes Wissen nur durch die größte Öko-
nomie derGedanken erreichbar. Die Wissen-
schaft kann dabei selbst als eine Minimumaufgabe
bezeichnet werden, die darin besteht, möglichst
vollständig die Tatsachen mit dem geringsten
Gedankenaufwand darzustellen."
Wir kommen jetzt zum Vermittler dieser
beiden extremen Erkenntnisformen der exakten
Wissenschaften, zum theoretischenPhysiker
(kurz Theoretiker) genannt. Ist auch schon,
wie gesagt, in den exakten Wissenschaften bei
allen 3 Vertretern eine fördernde Arbeitsgemein-
schaft entstanden unter offen eingestandener
gegenseitiger Duldsamkeit, so sind trotzdem die
Unterschiede durchaus nicht verschwunden und
die Abgrenzungen verschwommen.
In dem theoretischen Physiker haben wir so
ganz den vermittelnden Schaffer, Gestalter und
Erhalter. Dieser sucht die Formelwelt des Mathe-
matikers für das empirisch Gefundene der Physik
N. F. XXI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
413
zu verwerten und legt den Symbolen des Mathe-
matikers die Deutung unter, die für ihn paßt. So
bedeutet dem Physiker die Beziehung K^ — !— 2 — ^,
das eine Mal das Newtonsche Gesetz der Massen-
anziehung zweier Körper, ein anderes Mal das
Koulombsche Gesetz elektrisch geladener Körper.
Er zieht unter Benutzung der mathematischen
Disziplinen weitere Schlüsse, die dann nachher
der Versuch bestätigen soll. Ein solches mög-
lichst allgemeingültiges Deutungssystem , diese
unter sehr starker Anleihe bei der mathematischen
Wissenschaft aus den empirischen Tatsachen ent-
standene Schöpfung des Theoretikers bleibt dann
meistens eine kürzere oder längere Zeit allge-
meine Anschauung und wird — das ist weiterhin
wesentlich für den Theoretiker — zuletzt fast als
absolute Wahrheit bewertet , bis durch weitere
empirische Ergebnisse gezwungen nach hartem
Kampfe sich der Theoretiker zu einer neuen
Schöpfung entschließen muß.
Als Beispiel möge die klassische Mechanik
dienen, zumal die ganze Physik von der Bild-
haftigkeit der Mechanik nicht losgekommen ist.
Diese Erfahrungswissenschaft ist zuletzt, besonders
auf dem Festlande (im Gegensatz zu England) zum
rein analytischen System geworden und ihre Ge-
setze galten als solche, an denen nicht zu drehen
und zu deuteln war. Darum auch die Aufregung,
als durch weitere Forschung und Erfahrungen auf
den Gebieten der Elektrizität und des Lichtes
genötigt, diese galiläische Mechanik, diese Deu-
tung mechanischen Weltgeschehens, die Jahr-
hunderte geherrscht hatte, nicht mehr ausreichte,
und deshalb neuschöpfend eine weit gewaltigere,
unseren bisherigen Anschauungen befremdliche
Beratung von den Mathematikern entliehen wer-
den mußte. Benutzung der nicht euklidischen
Geometrie. Dazu führt ja in ihren Konsequenzen
die Relativitätslehre, dieser Versuch, den schein-
baren Widerspruch zweier einwandfreier Versuche
durch eine neue trag fähige Theorie zu lösen.
Genau so vollzog sich ja auch der Übergang
vom geozentrischen System zum heliozentrischen.
Was heute als Allgemeingut gilt-, galt damals
als eine Ungeheuerlichkeit, ein Unsinn.
Ähnlich verhält es sich mit anderen Hypo-
thesen. So kommt es, daß der „Theoretiker"
allmählich seine Starrheit und seinen Konservatis-
mus ablegt und ein wenig stark auf die Seite des
Empirikers gezogen wird und somit nicht mehr
so sehr auf den „Wahrheitsgehalt" seiner Lehre
pocht, sondern dieser laut oder doch stillschwei-
gend die Einleitung vorausschickt: „Nach dem
heutigen Standpunkte unserer Erkenntnis." Doch
durchweg ist der Theoretiker noch nicht so weit,
sondern er betont gerade im Gegensatze zu seinem
Genossen zur Linken: „Die Hypothesen haben
doch eine Wirklichkeitsberechtigung und sind
nicht nur Bilder und Formeln. Unsere Atome
sind Tatsachen. Nicht die Beziehung, sondern
gerade das Ding, das hinter der Erscheinung steht,
ist das Wesentliche."
Wir sehen also : der Theoretiker ist zwar der
Gefahr ausgesetzt, in Erstarrung zu geraten, das
Entwicklungsprinzip aller menschlichen Erkenntnis
für eine gewisse Zeit zu ignorieren; doch wird
er auch wieder, vermittelnd zwischen dem Mathe-
matiker und „reinen Erfahrungsphysiker", für lange
Zeit der Schöpfer und Träger der gesamten
exaktwissenschaftlichen Erkenntnis, die neue For-
schungen in neuer Form zum Allgemeingut macht.
Und immer bedeutet eine solche Umwälzung den
Beginn einer neuen Epoche.
2. Die philosophischen Erkenntnis-
formen und ihre Analogien mit denen
der exakten Wissenschaften.
Wir gehen über zu den 3 Punkten der zweiten
Geraden, den verschiedenen philosophischen Rich-
tungen. Diese wollen wir jetzt betrachten und
dann gleichzeitig mit denen der exakten Wissen-
schaften vergleichen.
Wir beginnen mit dem Idealismus. Eine
Theorie und Erkenntnisform heißt idealistisch,
wenn sie wesentlich spekulativ ist, die Erfahrung
als minderwertige Erkenntnisquelle erachtet oder
doch tatsächlich geringe Rücksicht darauf nimmt.
Diese Mißachtung der Erfahrung steigert sich
schon bei Plato bis zu einer Konsequenz, wie
sie kaum nachher wieder erreicht wurde. In
dem Bestreben, daß Gebiet der Vernunft hoch
über die Sinnlichkeit zu erheben, verstieg er sich
in ein Gebiet, für das dem Menschen weder
Sprache noch Vorstellungsvermögen gegeben ist,
so daß er sich selbst zuletzt wieder zum bild-
lichen Ausdruck gezwungen sah. Die Abstraktion
wurde so für den Idealisten die Himmelsleiter,
auf der er zur Gewißheit emporstieg. Je weiter
von den Tatsachen, um so näher glaubte er der
Wahrheit zu sein. Für ihn ist eben alle Erkenntnis
durch die Sinne Lug und Trug und nur in den
Ideen des reinen Verstandes und der Vernunft
ist Wahrheit. Nur das begriffliche Denken allein
ist imstande, die Dinge klar und ihrem Wesen
nach entsprechend aufzufassen. Von diesen selben
spekulativen Gesichtspunkten ist das aristotelische
System getragen. Fühlt man schon aus all diesen
Sätzen die enge Verwandtschaft zwischen dem
Mathematiker und dem Idealisten heraus und
stammt schon von Plato der Ausspruch : Äh.deig
äyeoneTQog iiairtül, so steht den neueren Idea-
listen die mathematische Disziplin noch mehr als
Vorbild und Richtlinie vor Augen. So wie die
Mathematik in reinster deduktiver Form ihr Ge-
bäude auf eine geringe Anzahl von Axiomen auf-
baut, so baut auch Descartes sein philoso-
phisches System auf den einen Cirundsatz auf:
Cogito, ergo sum. — Zwar soll hier sofort er-
wähnt werden, daß trotz dieses stark idealistischen
Zuges Descartes nicht als absoluter Idealist
gewertet werden soll, wie die weitere Entwicklung
zeigen wird. — Spinoza bedient sich sogar des
414
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 30
mathematischen Gewandes, und bei Leibniz
und seinen Zeitgenossen finden wir metaphysisch-
idealistische Gedankengänge mit mathematischen
verschmolzen. Dies möge folgendes Beispiel aus
Cantors Geschichte der Mathematik Bd. III,
S. 352 erläutern: Guido Grandi (1671 — 1742)
ein Camaldulensermönch, der in Pisa eine mathe-
matische Professur bekleidete, betrachtete die
Formel
1/2=1-1 + 1-1 + 1-1+
als das Symbol der Schöpfung aus Nichts. Er
faßte zu diesem Zwecke die Glieder der Reihe in
folgender Weise zusammen:
(i-i) + (i-i) + (i-i)+
d. h. 0 + 0 + 0
(Diese Zusammenfassung ist aber unzulässig und
ändert die ganze Sachlage; denn jetzt haben wir
eine Reihe deren Summe gleich Null ist.)
Auch Leibniz hat in diesem Streit über die
Reihe l — i + i . . . der sich an G r a n d i s Auf-
fassung knüpfte, das Wort ergriffen, in einem
offenen Briefe an den Philosophen Wolf f. Grandi
suchte die Formel V2 = i — i + i — i • • • durch
ein Rechtsbeispiel plausibel zu machen. „Ein
Vater hinterläßt 2 Söhnen einen wertvollen Edel-
stein, der abwechselnd je i Jahr in dem Besitze
eines jeden von beiden bleiben soll, ohne ver-
äußert werden zu dürfen. Dann gehört er tat-
sächlich jedem zur Hälfte, während dessen Be-
sitzrecht durch die Reihe 1 — i + i — i + ... •
dargestellt wird." Dieses Beispiel schien Leibniz
unzulänglich.
Er suchte sich die Formel V2 ^ ' — i + ' —
I + I — 1 ... so zurecht zu legen : „Die unend-
liche Zahl der Reihenglieder kann nur gerade
oder ungerade sein. Ist sie gerade, so entsteht o
als Summe, i dagegen, wenn sie ungerade ist.
Da aber kein Vernunftsgrund für das vorzugs-
weise Geradesein oder das vorzugsweise Unge-
radesein der Gliederzahl geltend gemacht werden
kann, so geschieht es durch eine wunderbare
Eigenart der Natur, daß beim Übergange _,vom
Endlichen zum Unendlichen zugleich ein Über-
gang vom Disjunktiven, welches aufhört, zu dem
Bleibenden, welches in der Mitte zwischen dem
Disjunktiven liegt, stattfindet. Wie die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung vorschreibt, man habe das
arithmetische Mittel, d. h. die Hälfte der Summe,
gleich leicht erreichbarer Größen in Rechnung zu
ziehen, so beobachtet hier die Natur der Dinge
das gleiche Gesetz der Gerechtigkeit.
Leibniz selbst fühlte, wie wenig befriedigend
eigentlich diese Argumentation für den Mathe-
matiker sein muß. Deshalb fügt er hinzu : „Diese
Art zu schließen ist freilich mehr metaphysisch,
aber dennoch sicher, wie denn überhaupt die An-
wendung der wahren Metaphysik in der Mathe-
matik, Analysis, in der Geometrie, sogar weit
häufiger von Nutzen ist, als man gemeinhin denkt."
Gänzlich erfahrungsfremd sind die auf Kant
folgenden Idealisten, die Schiller als eine
geistige Dynastie von Nachahmern bezeichnet, die
den Pharaonen gleich eine Pyramide um die andere
in die Höhe türmten, und nur vergaßen, sie auf
den festen Boden zu gründen.
Demnach entsprechen sich die jnathematische
Disziplin im Exakt - wissenschaftlichen und die
idealistische in der Philosophie so sehr, daß man
ihre Grundsätze sogar in den gleichen Worten
vereinigen kann. Diese Grundsätze würden etwa
folgendermaßen lauten: „Die Erfahrung ist eine
sehr minderwertige, ja so gut wie gar keine Er-
kenntnisquelle. Die Erkenntnisse a priori und
die sich durch deduktives Denken ergebenden
Sätze sind die einzig wahren. Das Denken ist
imstande, die Dinge klar und deutlich und ihrem
Wesen nach entsprechend aufzufassen. Hier haben
wir die höchste Vollkommenheit und die wahre
Welt."
Zuletzt sei nochmals erwähnt, daß bei diesem
einseitigen Betonen des reinen Denkens zuweilen
diese Philosophie zur philosophischen Dichtung
wird.
Der philosophische Empiriker und
der reine Naturwissenschaftler des exakt - wissen-
schaftlichen Gebietes sind entwicklungsgeschicht-
lich so sehr einer durch den anderen bedingt, so
vollkommen aneinander gewachsen, und mitein-
ander mächtig geworden, daß es schon fast ge-
zwungen erscheint, wenn man beide trennen will.
Der Empiriker sagt: „Das einzige Motiv des
Fortschrittes ist der empirische Faktor. Nur auf
Grund der Erfahrung läßt sich ein synthetisches
Urteil bilden. Alle unsere Begriffe, selbst die
abstraktesten und allgemeinsten sind aus Erfah-
rungen hervorgegangen und aller Inhalt unseres
Denkens kann auf sie zurückgeführt werden. Das
Denken allein verstrickt sogar in Irrtümer, sofern
man sich nicht genau an seinen empirischen Sinn
hält und vor Vertauschung heterogener Begriffe
hütet."
Diese Entwicklung bei Protagoras, dem Präger
des Wortes: „Der Mensch ist aller Dinge Maß",
beginnend, steigert sich dann erst spät bei den
englischen Empiristen bis zum äußersten Radi-
kalismus, bis zur völligen Auflösung des Substanz-
begrifis in eine Verbindung von Empfindungs-
inhalten (Farben, Töne, Drucke), d. h. also wieder-
um nicht die Dinge sind die Elemente, sondern
die Empfindungen gleich wie bei dem reinen
Naturwissenschaftler die Beziehungen. Mach ist
es wiederum, der diesen Standpunkt neben ande-
ren sog. relativistischen Positivisten vertritt und
der nicht besser als durch seine eigenen Worte
erläutert wird : „Alle Wissenschaft hat Erfahrungen
zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung
und Vorbildung von Tatsachen in Gedanken,
welche Nachbildungen leichter zur Hand sind, als
die Erfahrung selbst und diese in mancher Be-
ziehung vertreten können. Diese ökonomische
Funktion der Wissenschaft , welche deren Wesen
ganz durchdringt, wird schon durch die allge-
meinsten Überlegungen klar.
Die Natur setzt sich aus den durch die Sinne
N. F. XXI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
41S
gegebenen Elementen zusammen. Der Natur-
mensch faßt aber zunächst gewisse Komplexe
dieser Elemente heraus, die mit einer relativen
Stabilität auftreten und die für ihn wichtiger sind.
Die ersten und ältesten Worte sind Namen für
„Dinge". Hierin liegt schon ein Absehen von
der Umgebung der Dinge, von den fortwährenden
kleinen Veränderungen, welche diese Komplexe
erfahren und welche als weniger wichtig nicht
beachtet werden. Es gibt in der Natur kein
unveränderliches Ding. Das Ding ist eine Ab-
straktion, der Name ein Symbol für einen Kom-
plex von Elementen, von deren Veränderung wir
absehen. Daß wir den ganzen Komplex durch
ein Wort, durch ein Symbol bezeichnen, ge-
schieht, weil wir ein Bedürfnis haben, alle zusam-
mengehörigen Eindrücke auf einmal wachzurufen.
Sobald wir auf einer höheren Stufe auf diese
Veränderungen achten, können wir natürlich nicht
zugleich die Unveränderlichkeit festhalten, wenn
wir nicht zum Ding an sich und ähnlichen wider-
spruchsvollen Vorstellungen gelangen wollen. Die
Empfindungen sind auch keine „Symbole der
Dinge". Vielmehr ist das ,,Ding" ein Gedanken-
symbol für einen Empfindungskomplex von rela-
tiver Stabilität. Nicht die Dinge (Körper) sondern
Farben, Töne, Drucke, Räume, Zeiten (was wir
gewöhnlich Empfindungen nennen) sind die eigent-
lichen Elemente der Welt."
Auch hier können wir ohne Zwang den
„reinen Naturwissenschaftler" und den „Empiriker"
in seinen Anschauungen verschmelzen. Denn was
ist die ganze Physik anderes als ein Beziehungs-
system zwischen Drucken, Räumen und Zeiten.
Man denke an die Zurückführung jeder Beziehung
auf die drei Dimensionen : IM, L, T ; Masse, Länge,
Zeit. Als Programm dieser beiden entsprechenden
Punkte der Geraden Gj und G2 erhalten wir also
demnach ungefähr folgendes:
„Alle Wissenschaft hat die Aufgabe Erfahrung
zu ersetzen. Es gibt nur Beziehungen und Ab-
hängigkeiten von Drucken, Räumen, Zeiten, Farben,
Tönen; diese sind die eigentlichen Elemente der
Welt. Das Ding ist ein Gedankensymbol für einen
Empfindungskomplex von relativer Stabilität. Die
Natur ist nur einmal da."
Ruft auch Schiller den Transzendental- und
Naturphilosophen zu:
, .Feindschaft sei zwischen Euch ! Noch kommt das Bündnis
zu frühe I
Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erst die Wahrheit
erkannt I"
SO sucht doch der Realist zwischen dem Idea-
listen und extremen Empiristen zu vermitteln.
Für ihn ist das reine Denken des Idealisten nicht
allein maßgebend, andererseits sind aber für ihn
die „Dinge an sich" nicht nur Symbole, Ab-
straktionen wie für den Empiristen, sondern diese
haben gerade Wirklichkeitsgehalt in sich. Der
Realist sagt: ,, Gerade die Dinge hinter den
einzelnen Erscheinungsformen sind die Elemente
der Welt. Darum fort mit der Philosophie des
„Als ob". Von Jugend auf zwingt uns das Leben
dazu notgedrungen, solche „Realitäten" anzunehmen
und wenn diese auch später zunächst eine scharfe
Kritik zu bestehen haben, deshalb verschwinden
sie aber nicht in eine wesenlose Abstraktion.
Denn es gibt doch in der Natur substratloses
psychisches Geschehen und die Hypothesen haben
doch einen „wahren" Kern in sich."
Genau wie nun der Theoretiker der exakten
Wissenschaften sich immer mehr zum reinen
Naturwissenschaftler hinneigt, so schwenkt auch
der Realist immer mehr nach dem Empiristen
(Positivisten) hin.
Als erster Hauptversuch, eine solche Ver-
mittlung der beiden Extreme herzustellen, dürfte
wohl die dualistische, Körper und Geist scheidende
Philosophie Descartes trotz der stark idea-
listischen Basis ihres Aufbaues zu bezeichnen
sein. Descartes stellt sich gegen die dog-
matistische aristotelische Philosophie, um zwar
dann nach dem Zweifel an allem das Weltbild
rein deduktiv aufzubauen. Doch dieser idealistische
Aufbau ist nicht ganz konsequent; so sind seine
„Lebensgeister" echte materiell gedachte „Materie",
sie wirken ausschließlich nach physikalischen Ge-
setzen.
Doch ein anderer, in der idealistischen An-
schauung erzogen, aber von einem Empiriker aus
„dem dogmatischen Schlummer geweckt", sollte
eine haltbarere Verbindung zwischen rein
empirisch begriffener Natur und einer idealistischen
Metaphysik herstellen. Das ist Kant. Kants
Verdienst ist es ja, daß er die Sinnlichkeit zu
einer dem Verstände gleichberechtigten Erkennt-
nisquelle erhoben hat, seine Schwäche, daß er
überhaupt einen von allem Einfluß der Sinne
freien Verstand fortbestehen ließ. Seitdem ist in
der Philosophie keine gleichbedeutende ver-
mittelnde Schöpfung hervorgebracht worden. Die
Entwicklung ist noch nicht so weit gediehen, wie
in den exakten Wissenschaften, wo ja auch eigent-
lich erst durch die Relativitätstheorie eine starke
Verschiebung des Gesamtbildes nach links zum
Positivisten hin eingetreten ist. Doch im wesent-
lichen sind die Entwicklung wie auch das Pro-
gramm des physikalischen Theoretikers und
des Realisten die gleichen.
Beide (Theoretiker und Realist) stellen eine
Neuschöpfung und dann einen Ruhepunkt in der
Entwicklung dar, eine erweiterte Basis, die einmal
den neuen empirischen Erkenntnissen gerecht
wird, dann aber auch mit Hilfe der Mathematik
bzw. des Idealismus Begriffe schafft, die all-
mählich zum Allgemeingut werden und damit in
eine gewisse Starrheit verfallen.
3. Die künstlerischen Ausdrucksformen
und ihre Analogien mit den drei exakt-
wissenschaftlichen und philosophischen
Erkenntnisrichtungen.
Charakterisieren wir nun die verschiedenen
Kunstrichtungen und versuchen wir zugleich ihre
4i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr.
30
Verwandtschaft mit den exal<t-wissenschaftlichen
und philosophischen Weltanschauungen darzutun!
Wir beginnen mit dem Expressionisten
und seinem Gegenstück, dem Mathematiker-
Idealisten. Wir haben gehört, der Mathematiker-
Idealist sieht auf die Erfahrung verächtlich herab,
wenn sich auch vielleicht seine Axiome, — was
er aber unbedingt abstreitet — , daraus entwickelt
haben; auf diesen Axiomen baut er rein formal
sein Lehrgebäude auf, das durchaus nicht der
realen Welt entspricht. Der Expressionist möchte
ebenfalls am liebsten überhaupt keine Erfahrung
gelten lassen, doch sicher nicht — genau wie der
Mathematiker-Idealist — von ihr geleitet werden.
Sein Ruf ist: „Los von der Natur". — Jede Kon-
trolle am Objekt wird ausdrücklich verschmäht.
Geist, das ist der Ersatz, der für die Natur ge-
geben werden soll. Ist dieses Ersetzen auch nicht
gänzlich durchführbar, so versucht der Expressionist
es doch und oft mit der größten Konsequenz, um
so sein „Tiefsterschautes", die von aller Außen-
welt befreite Welt seines Ichs von sich geben
zu können. Und nicht selten scheinen ja auch
diese expressionistischen Formen aus einer anderen
Welt zu kommen.
Fast wie eine Übersetzung der mathematisch-
idealistischen Anschauung in das Gebiet der Kunst
und Kunsttheorie klingt es, wenn man einige
Programmsätze Edschmidts, Marcs u. a.
liest. — Man urteile selbst : „Der Expressionismus
wendet sich gegen die Natur; er will die Natur
überwinden. — Die Welt ist da, es wäre zweck-
los, sie zu wiederholen. — Die Wirklichkeits-
illusion ist keine Bedingung des künstlerischen.
— Man muß ein Ding, das man aus dem Chaos
fixiert hat, noch verwandeln, als ob es nie mit
anderen Dingen in Beziehung gestanden hätte.
Das Problem des Expressionismus ist, durch seine
Arbeit der Welt Symbole zu schaffen, die auf
die Altäre der kommenden Religion gehören
und hinter denen der Erzeuger verschwindet
(Marc). — Ein neues Weltbild soll entstehen,
das nichts mehr mit den Zerstücklungen des Im-
pressionismus zu tun hat, das vielmehr einfach,
wesentlich ist und darum schön." Die durchaus
nicht geringe ästhetische Wirkung der Mathematik
beruht ja auch hauptsächlich auf ihrer Einheit-
lichkeit, ihrer Vernachlässigung und Abstraktion
alles Nebensächlichen und ist auch eben deshalb
vom expressionistischen Standpunkte aus schön.
Wie im Programm, so finden wir auch in der
Entwicklung des Expressionismus auf Schritt und
Tritt seine Wesensähnlichkeit mit der Mathematik
und dem Idealismus. Wie entwickelte sich die
mathematisch-idealistische Erkenntnisform? Auf
Realem (der Erfahrung) fußend, lockerte sie
immer mehr dieses Band und das führte zu der
uns bekannten Anschauung. Wie begann die
neue künstlerische Richtung? Was versuchten
ihre Vorläufer Strindberg, van Gogh, Munch?
Auch sie wollten heraus aus den stets wechseln-
den Formen des Werdens und Bestehens. Sie
wollten die Welt „konstruieren". Sie suchten
eine Formel , eine Stilisierung des ewig Ver-
änderlichen; zwar blieben sie noch meistens auf
dem realen Boden stehen. Doch das dauerte
nicht lange bei ihren Nachfolgern ! Immer mehr
und konsequenter entwickelte sich das Streben,
sowohl in der Form und auch im Wesen seine
eigene Welt zu schaffen; man sucht eine Welt
zum Ausdruck zu bringen, wie sie nur im Hirne
des Einzelwesens, in diesem einen Ich besteht,
diesem Ich, das keinen Analogieschluß auf die
anderen zulassen mag. Als weitere Konsequenz
ergab sich dann jede Flucht vor der Wirklichkeit.
Dieses Abwenden von der realen Welt führt
dann — denken wir zunächst besonders einmal
an die Malerei und Plastik — zu weiterem Irre-
alen wie in der Mathematik und dem Idealismus.
Das fortwährende Abstrahieren, Schematisieren,
die Forderung der Monumentalität, Flächenhaftig-
keit und Einheitlichkeit führt direkt zur mathe-
matischen Formulierung. So entsteht die Vor-
liebe für mathematische Figuren als bestimmte
Symbole. Zum Teil soll nur das Zweidimensionale,
ja sogar das Eindimensionale Berechtigung haben.
So kann sich zuletzt sogar das „naturalistisch-
ste" Objekt, die Landschaft, nicht der Sym-
bolisierung entziehen. Auch sie wird dem Herr-
scherwillen des Künstlers untertänig gemacht.
Er will meistens nicht die und die Landschaft
wiedergeben, sondern das Bild eines tiefaufge-
wühlten Traumes mit aller Kraft der Vermensch-
lichung. — Haben wir nicht in allem das Gegen-
stück zum mathematisch - idealistischen „Phan-
tasten"?
Die Welt des Unwirklichen ist das gesuchte
Paradies 1 Hier kann sich uneingeschränkt der
heißeste Wille, die ungebändigte Kraft ausloben,
wenn auch mit einer eigenartigen Logik. Es ist
ein konsequentes Aufbauen auf bestimmter, oft
eigentümlicher Basis. Denken wir an Hasen-
clevers „Sohn"! — Der Jüngling ist es ja-, der
sein „Ich" noch nicht mit der gegebenen Welt
in Übereinstimmung bringen kann, dessen Seelen-
leben noch nicht der realen Welt konform ist.
Er sieht gewissermaßen alles so an, wie es auf
unseren geographischen Modellen ist. Auch hier
ist die Erhöhung im Gegensatz zur Flächenaus-
dehnung viel zu groß genommen, damit eine
größere Anschaulichkeit hervorgebracht wird.
Das Modell ist überhöht. So steht es auch
mit der Seele des Sohnes — und jedes Jünglings.
Diese „Überhöhung des Geistigen", dieses zu kraft-
volle, konsequente Aufbauen auf einer bestimmten,
zu engen Lebensbasis, ist es ja auch, was der
Jugend die weit größere Begeisterungsfähigkeit
gibt, den Enthusiasmus. Und hiermit kommen
wir zu weiteren Wesensähnlichkeiten zwischen
Mathematik und Expressionismus.
Die gewaltige Stoßkraft, — der Physiker würde
sagen: das Potential-, das Jugendliche, Bejahende,
Begeisterungsfähige und damit das Kosmopolitische
sind die vorzüglichen Eigenschaften, die Expres-
N. F. XXI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
417
sionismus und MathematikIdeaUsmus gemeinsam
haben. Woher nimmt Mathematik und Ideahsmus
diese Stoßkraft ? Aus der ungeheuren Konsequenz,
auf der sie auf der einmal angenommenen Basis,
ohne rechts und links zu schauen, ihre Systeme
entwickeln. Woher nimmt sie der Expressionis-
mus? Aus der gleichen Quelle I Und die Be-
geisterung? Nun, das macht ja zum Teil den
Expressionismus aus. Weshalb heißt er denn
Ausdruckskunst? Andererseits ist es wohl auch
nicht Zufall, daß aus dem Munde Novalis, der
von Expressionisten so geschätzt wird, die Worte
stammen : „Das Leben der Götter ist Mathematik.
Alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker
sein. Reine Mathematik ist Religion. Die Mathe-
matiker sind die einzig Glücklichen. Der Mathe-
matiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusias-
mus keine Mathematik." Dann ist es aber auch
eine bekannte Tatsache, daß gerade die Mathe-
matik wie auch der Idealismus ihre Anhänger
gänzlich in ihren Bann zieht.
Zuletzt möge noch die Musik besonders er-
wähnt werden. Ihre nahe Verwandtschaft mit
Mathematik und Idealismus ist bekannt. Sie ist
im Grunde immer expressionistische Kunst.
Natürlich haben Expressionist und Mathema-
tikerTdealist auch noch andere Eigenschaften der
Jugend gemein. Gerade weil diese drei Gegen-
stücke so deutungsreich und -fähig sind, ver-
tragen sie sich nicht mit der realen Welt; sie sind
weltfremd und werden von falschen Propheten
verkündet zur Schablone und leeren Form.
Wir kommen zum ImpressionismusI
Auch dessen Programm klingt fast bis ins kleinste
wie eine Übersetzung der zu einer Einheit ver-
schmolzenen empiristisch positivistischen Anschau-
ung. Der Impressionist sagt: „Alles ist Simmung".
Wie heißt es beim Positivisten ? „Was wir Emp-
findungen nennen, das sind die eigentlichen
Elemente der Welt 1" Ferner ist das Wort
Fausts dem Impressionismus auf den Leib ge-
schrieben: „Am farbigen Abglanz haben wir das
Leben." Das soll ja heißen: „Das ewig Wech-
selnde in Farbe und Licht ist das Leben." Was
sagt der Positivist: „Die Natur ist nur einmal
da", d. h. in jedem Augenblicke ändert sie ihr
Gesicht, die gegenwärtigen Beziehungen sind
andere geworden; es gibt keine Normen. „Ein
weiteres Gebot des Impressionisten lautet: ,,Je
ungezwungener, je zufälliger und je ursprüng-
licher der Eindruck des Kunstwerkes ist, um so
besser ist es, schaffe nichts, was gedanklich voll-
kommen sein will, denn das gibt es nicht." Der
entsprechende Satz des Positivisten lautet: ,,Es
gibt keine Ursachen und Wirkungen, es gibt nur
immer wechselnde Beziehungen." — Mach sagt
einmal ungefähr folgendes: „Lieber will ich an
einem Weltbilde mitschaffen, das zwar unvoll-
kommen ist, aber sich auf das tatsächlich Gegebene
(die Beziehungen) aufbaut, als Anhänger eines
vollkommenen Weltbildes zu sein, das sich zum
Teil auf unkontrollierbare (nur aus dem Intellekt)
stammende Hypothesen stützt und daraus seine
Stärke nimmt, so daß ich bei jeder neuen Erfah-
rung ein Einstürzen des ganzen Gebäudes be-
fürchten muß."
Welche Methoden benutzt nun der Empiriker-
Positivist, um das unvollkommene Weltbild zu
ergänzen und zu vervollständigen ? Er sucht die
Natur möglichst bis ins Kleinste nachzubilden. Je
mehr ihm das gelingt, je mehr „Größen" er in
seiner Nachbildung betrachten kann, um so besser
ist seine Aufgabe gelöst. Ist er sich auch der
Tragik bewußt, daß er niemals das Ende des
„Grenzprozesses" erreichen wird, so ist er doch
von seinem Wege als dem einzig möglichen über-
zeugt. Um nun die einmal bekannten Größen
in allen möglichen Variationen kennen zu lernen,
verändert er bald die eine, bald die andere; so
soll die Natur möglichst genau nachgebildet wer-
den, er experimentiert.
Die gleichen Wege beschreitet der Impressio-
nist in dem Versuche eines künstlerischen Welt-
begreifens und in manchen Gebieten der Kunst,
besonders der Malerei ist es ihm möglich, mit
einem Schlage sein Programm der Verwirklichung
sehr nahe zu bringen. Doch, wo er es nicht auf
den ersten Schlag fertig bringt, bedient er sich
auch des Experiments und der Variation wie der
Empirist und Positivist.
Um das im einzelnen darzutun, betrachten wir
zunächst die Malerei. Gerade hier zeigt sich die
Durchführung des impressionistischen Programms
in der besten Konsequenz. Hier kann ja am
ehesten eine Nachbildung der ewig wechselnden
Natur geschaffen werden. Darum ist dem Im-
pressionisten jeder Ausschnitt aus der Natur recht,
der sich ihm bietet. Je zufälliger, um so reiner
wirkt das Bild ja als bloßer Sinneseindruck, um
so klarer unterscheidet man : Alles ist im Flusse
und das Bild soll nur ein Eindruck sein, soll
aber nichts bedeuten. Auf Empfindungen baut
sich die Welt auf und Empfindungen sollen darum
auch das Bild beherrschen 1 Alles, was durch
Deutung gewoimen wird, ist verpönt. Die augen-
blicklichen Eindrücke von Farbe und Licht rücken
in den Vordergrund. Es ist nicht nötig, etwas zu
erkennen, sondern man soll nur empfinden. In
jedem Sonnenstäubchen schwingt des Lebens
ewiger Rhythmus und darum ist es gleich, ja
sogar besser, den Gegenstand möglichst unwichtig
zu nehmen und so, wie er im Augenblick er-
schaut wird. Deshalb wird der Skizze so große
Beachtung geschenkt, denn da fühlt man noch
das pulsierende Leben, das gar zu leicht aus dem
langsam gewordenen Bilde entschwindet.
Aus tausenden und abertausenden kleinsten
Mosaiksteinchen soll das Weltbild aufgebaut wer-
den, genau wie beim Experimentator aus unend-
lich vielen Versuchen. Genau wie der bunt-
schillernde Schmetterlingsflügel sich in unzählige
Schuppen unter dem Mikroskope auflöst, so sucht
auch zuletzt der Impressionist sein Bild aufzu-
bauen. Mit Hilfe optisch-physikalischer Kennt-
Ali
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 30
nisse wird das Auge zu einem neuen Sehen er-
zogen. — Erfahrungsresultate, wohin wir
schauen !
Auch hier ist sich der Künstler genau wie
der Wissenschaftler der Tragik klar bewußt, daß
er nämlich nie den Grenzprozeß ganz durchführen
kann, doch auch er hält an seiner Anschauung
fest, weil er in ihr den einzigen Weg sieht, der
zum Ziele führen könnte. So kommt es, daß der
Impressionismus trotzdem er sich an Luft, Licht
und Farbe berauscht, in seiner Grundstimmung
negierend, pessimistisch oder sagen wir besser
— resignierend ist. Er hat es aufgegeben, ein
stolzes Gebäude zu errichten. Nein, lieber zurück
zu den letzten Elementen, den Empfindungen! —
Dieses Resignierende des Impressionismus gibt
sich ja auch unter vielen anderen in der Vorliebe
für matte Farben kund.
Wie sich der wissenschaftliche Empirist mehr
oder weniger in seinem Schaffen von seinen Ver-
suchen treiben läßt, so finden wir auch beim Im-
pressionisten die bewußte Ausschaltung des eigenen
Willens, mehr das Erdulden (Empfinden) als die
tatkräftige Handlung.
Diese letztere Eigenschaft tritt besonders bei
der impressionistischen Plastik hervor. Darin liegt
die Bevorzugung des Frauenkörpers als des
lässigeren, weicheren gegenüber dem männlicheren
begründet. Aber auch bei männlichen Plastiken
haben wir statt des Gehens mehr ein „Gegangen-
werden", statt des WoUens mehr ein Erdulden.
Man denke an Rodin (Bürger von Calais, Balsac).
Die Sensibilität ist es ja, die bis aufs höchste
gesteigert wird und werden soll! Typisch für
diese ganze Auffassung sind die Worte H. v. Hof-
mannsthals, die er im „weißen Fächer" Miranda
sprechen läßt:
„Wer bin denn ich, welch eine Well ist dies,
In der so Kleines hat so viel Gewalt!
Kein Festes nirgends ! Droben nur die Wolken,
Dazwischen, ewig wechselnd, weiche Buchten
Mit sehnsuchtsvollen Sternen angefüllt. ~
Und hier die Erde, angefüllt mit Rauschen
Der Flüsse, die nichts hält. Des Lebens Kronen,
Wie Kugeln rollend, bis ein Mutiger drauf
Mit beiden Füßen springt; Gelegenheit,
Das große Wort; wir selber nur der Raum,
Drin tausende von Träumen buntes Spiel
So treiben, wie im Spripgbrunn Myriaden
Von immer neuen, immer fremden Tropfen;
All unsre Einheit nur ein bunter Schein,
Ich selbst mit meinem eignen Ich von früher,
Von einer Stunde früher grad so nah,
Vielmehr so fern verwandt, als mit dem Vogel,
Der dort hinfliegt. — Weh, in dieser Welt
Allein zu sein, ist Übermaßen furchtbar.
Dies fühl' ich, da ich meine Schwachheit nun
P'rkenne : aber daß ich dieses fühle
Ist meiner Schwachheit Wurzel, Unser Denken
Geht so im Kreis, und das macht uns so hilflos."
So wird sogar in der Musik, der expres-
sionistischsten Kunst, jede gedankliche Verknüpfung
verbannt. Auch hier haben wir das bewußte
Betonen des Ewigwechselnden, der Empfindungs-
und Stimmungsmalerei. Auch die impressio-
nistische Musik hat nur die Aufgabe von einem
augenblicklichen Erlebnis zum anderen zu. führen.
Diese impressionistische Wirkung auf Auge
und Ohr findet in der impressionistischen Dich-
tung beredte Verkündigung. Bleiben wir zu-
nächst bei dem einen Haupt Vertreter H. v. Ho f-
mannsthal. Er hat am tiefsten das empiristisch-
positivistische Wort empfunden: „Nur die Be-
ziehungen, die Abhängigkeiten können wir er-
kennen, doch können wir nicht hinter die Dinge
schauen." In jeder Zeile klingt das durch, aber
auch zwischen allen Zeilen schwingt das flim-
mernde Leben wie in den impressionistischen
Bildern.
Selbst die Variationsmethode des wissen-
schaftlichen Empiristen treffen wir an! Bei H.
v. Hofmannsthal in dem kleinen Drama ,,Der
Tor und der Tod." Noch präziser in Wede-
kinds „Erdgeist". Jedesmal in jedem Akte wird
das gleiche Experiment vorgeführt mit einigen
Veränderungen und den daraus sich bedingenden
Abhängigkeiten. Ebenso in Seh nitzl ersehen
Dramen, wo eine Verknüpfung einer fortlaufenden
Reihe von Größen hergestellt wird.
Auch die Loslösung der Dichtung aus den
Banden der hergebrachten Form hat in dem be-
wußten Betonen des Relativen, des Funktionellen
seinen Ursprung.
Wie es scheint ist nie der Kampf der Kunst-
richtungen so hart und scharf geführt worden,
wie heute. Woran das liegt; möge zunächst da-
hingestellt bleiben. Wie sehr auch der Ruf nach
einen neuen Schöpfer und neuen Träger erschallt,
noch ist dieser nicht erschienen und so betrachten
wir nur den Erhalter, den erstarrten Klassizismus,
den wir in gleicher Weise gegen Im- wie Ex-
pressionismus Front machen sehen. Diesen
Klassizismus hat G. Keller im ersten Gasel
der Trinklaube treffend geschildert:
,, Unser ist das Reich der Epigonen,
Die im weiten Zwischenreiche wohnen;
Seht wie ihr noch einen Tropfen presset
Aus den alten Schalen der Zitronen?
Geistiges ist mäßig noch vorhanden
Auch des Lebens Süße wird noch lohnen ;
Wasser flutet uns in breiten Strömen
Brauchen es am wenigsten zu schonen !
Braut den Trunk für lange Winternächte,
Bis uns blühen neue Geisteskronen
Und der Dichtung Fahrzeug mag entrinnen
Dem Bereich der grausen Lästrygonenl"
Noch ist das Fahrzeug der Kunst diesem Be-
reiche nicht entronnen ! Noch gilt in der Dichtung
unsere klassische Zeit mit ihren Ausstrahlungen
landläufig als die bestehende Ausdrucksform,
als die Sprache, in der sich Dichtung am voUen-
desten ausspricht. Schon etwas weniger gelten
in der bildenden Kunst und der Malerei die epi-
gonenhafte, zur Schablone gewordene Form der
vorigen Jahrhunderte als die allgemeingültige. In
der Musik aber scheint erst das stets wachsende
Verständnis für Beethoven zur neuen P'ormel
zu führen.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
419
Doch gerade Im- und Expressionismus zeigen
ja, daß außer vielleicht in der Musik die alte
Form unwiderruflich zertrümmert am Boden liegt
und es keinen Rückweg mehr zu ihr gibt.
Die Verwandtschaft dieses Klassizismus mit
dem philosophischen Realismus und der mit ihm
verschmolzenen Anschauung des theoretischen
Physikers erkennt man besonders in der Dichtung.
Diese ist ja auch heute noch durchtränkt von
Goethescher Art, die wir ja als Symbol des neu-
schöpfenden und erhaltenden Realismus erkannt
hatten. Doch die Bereicherung an Form- und
Klangfülle, die auf die Rechnung des Impressio-
nismus kommt, und ein neugeformter Idealismus
drängen alle zu einem Neuschöpfer, einem neuen
Träger. In der Malerei bilden die mehr von
Idealismus erfüllten italienischen Klassiker und
die vom Empirismus herkommenden großen
Holländer, die vorhandenen extremen Kraftzentren,
die neu schöpfend zu vereinen sind, und vielleicht
auch schon in den großen Werken der Impressio-
nisten eine solche Form gefunden haben; denn
wir sehen ja überall, daß in der ganzen Ent-
wicklung ein Verschieben nach links — im Exakt-
wissenschaftlichen z. B. zum Empiristen hin —
statthat. Doch das näher zu untersuchen, möge
die Aufgabe des Schlusses sein.
Schluß.
Die Wesensähnlichkeit der verschiedenen Typen
in den betrachteten Erkenntnisgebieten liegt noch
tiefer. Stellt Mathematik, Idealismus und Ex-
pressionismus das jugendliche Element dar, so
Empirismus und Impressionismus das Alter, das
Ende einer Kultur. Das stimmt überein mit der
Äußerung Hamanns, das Auftreten des Im-
pressionismus sei immer das Zeichen einer End-
kultur. Idealistisch - expressionistische Epochen
hat es immer gegeben ebensogut wie empiristisch-
impressionistische.
Jedoch trotz der gegenwärtigen, so stark be-
tonten expressionistischen Richtung, die sich mit
ihrer ganzen Berechtigung ausleben will und soll,
darf man doch seine Augen der Tatsache gegen-
über nicht verschließen, daß die Entwicklung der
ganzen Erkenntnis sich doch stark zugunsten der
Empirie verschoben hat. Ist die Welt auch noch
zu jung dazu, um sich ganz der Resignation hin-
zugeben, nachdem bei immer reicher werdenden
-Kenntnissen versucht worden ist, zu einer klaren,
befriedigenden Formulierung in dieser Welt der
Erscheinung zu kommen, so ist sie aber auch
nicht mehr jung genug, um diese Erfahrungen
einfach außer acht zu lassen.
Die Einsteinsche Theorie, als deren geistigen
Vorläufer man wohl die kritische und doch lebens-
bejahende Erscheinung Machs ansehen muß,
wird, falls sie zum Träger unserer exaktwissen-
schaftlichen Anschauung wird, doch eine sehr
starke Abneigung gegen jede absolutistische Auf-
fassung darstellen und gleichzeitig wird damit die
relativistisch • positivistische Anschauung in der
Philosophie gewinnen und auch die künstlerische
Ausdrucksform nicht unverändert lassen. Doch
wer weis ob schon diese „Unsumme" von Er-
fahrungen und Kenntnissen erreicht ist, die eben
nötig ist, um den Hang des Menschen nach einem
in sich fertigen , widerspruchsfreien System zu
bezwingen.
Man könnte sagen : Idealismus und Expressio-
nismus verkörpern sich in dem Faust der klassi-
schen Walpurgisnacht, dem mutigen Eindringer
in die Geisterwelt, der Empirismus und Impres-
sionismus in Helena, dem ewig Weiblichen, ewig
sich Entwickelnden, der von größtem Rhythmus
durchschwingten Stoffülle. Aus ihrer Vereinigung
entsproßt Euphorion, der Träger einer neuen
Weltanschauung, nach dem in Wissenschaft, Kunst
und Leben der Ruf durch alle Welt geht.
Literatiiraugaben.
Poincare, Wissenschaft und Hypothese.
— — , Wert der Wissenschaft.
Mach, Mechanik in ihrer Entwicklung (kritisch betrachtet).
— — , Analyse der Empfindungen.
— — , Erkenntnis und Irrtum.
F. A. Lange, Geschichte des Materialismus.
KUlpe, Einleitung in die Philosophie.
Study, Die realistische Weltanschauung und die Lehre
vom Raum.
Hamann, Impressionismus in Kunst und Leben.
E. V. Sydow, Die deutsche expressionistische Kultur
und Malerei.
[Nachdruck verboten.]
Über das Farbeiisehe» bei Wespen.
Von Ludwig Annbruster,
Mitglied des Kaiser- Wilhelm-Instituts für Biologie Dahlen
Den verdienten Forschern L u b b o c k und
Forel wollte es nicht gelingen, Wespen auf
Farben zu dressieren, ganz im Gegensatz zu
Bienen und Hummeln. Seither war man geneigt,
den Wespen den Farbensinn abzusprechen. Forel
schreibt zwar an einer Stelle ') vorsichtig : „Man
kann Wespen nicht so wie Bienen und Hummeln
mit Farben täuschen , doch genügt diese Tat-
') Das Sinnesleben der Insekten. München 1910, S. 30.
Sache nicht etwa als Beleg dafür, daß sie die
Farben schlecht unterscheiden". .'\ber auch er
setzt gleich darauf als feststehend voraus, „daß
Wespen, wie Lubbock zeigte, nur einen un-
scharfen Farbensinn besitzen". Negativer Ver-
suchsausfall hat immer etwas Mißliches an sich.
Das machte auch mir anfangs Mühe, als ich im
Sommer 1921 Wespen (Vespa saxonica) abzu-
richten begann, um ihre psychischen Fähigkeiten
genauer mit denen der Bienen zu vergleichen und
420
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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die Richtigkeit von Schlüssen zu prüfen, welche
die vergleichende Gehirnanatomie nahelegte.^)
Farbige Quadrate stellte ich nach von Frisch-
schem Vorbild zu einem bunten Schachbrett zu-
sammen, immer die Farbeanordnung wechselnd.
Auf Blau Nr. 13''') wurde Stetsfort in einem Uhr-
schälchen Zuckerwasser gefüttert, auf allen übrigen
(im ganzen von einer Glasplatte bedeckten) Schach-
brettfeldern standen leere Uhrschälchen. Von
Zeit zu Zeit wurden die Wespen examiniert: die
Farbenquadrate neu durcheinandergewürfelt und
das Blau 13 diesmal wie alle anderen Farben mit
einem leeren Uhrschälchen bedacht. Die Bienen
lassen sich bekanntlich mit Promptheit und Zähig-
keit auf dem Blau nieder, obwohl es jetzt uner-
giebig ist. Denn es hat sich bei ihnen eine
Assoziation gebildet: „Blau" — „F"utterquelle". Ganz
anders die Wespen: Dies unruhige Geschlecht
tanzt in unstetem Fluge ganz „wie verwirrt" über
dem Schachbrett umher. Das Blau 13 wurde
auch nicht etwa dadurch ausgezeichnet, daß über
demselben eine mehr oder weniger deutliche
Wespenwolke schwebte. Diese Auszeichnung
wurde höchstens der Stelle zuteil, wo zuletzt (auf
dem Blau der vorangegangenen Schachbrettan-
ordnung) gefüttert worden war. In ungezählten
Versuchen während des langen Abrichtens war
das Ergebnis stets gleich negativ. Ein Grund
für dieses Versagen war bald gefunden : im Gegen-
satz zum Bienenversuch hat die Wespe es offenbar
nicht nötig, zur Feststellung des Nichtvorhanden-
seins oder des Vorhandenseins von (für uns ge-
ruchlosem) Futter sich erst an Schälchen nieder-
zulassen. Deshalb wurde mit Hilfe der Kästchen-
methode (2 blau maskierte Kästchen, innen je
mit geruchlosem Futter beschickt; und 2 leere
Kästchen, vorn mit der Gegenfarbe, bei mir Gelb 4,
maskiert) dressiert. Die Kästchen werden dabei
andauernd neu umgestellt. Beim Versuch werden
sie ersetzt durch vier Kästchen, welche den
Dressurkästchen äußerlich genau entsprechen, je-
doch samt und sonders leer und duftlos sind.
Auch diese Kästchenmethode schloß sich enge an
die von K. v. Frisch benutzte an. Doch hatte
ich meine Kästchen etwas anders eingerichtet,
um genauer zählen zu können. Jetzt bei dieser
Kästchenmethode überwog derVersuchmit
der Dressurfarbe Blau 13 deutlich den
Besuch der Kästchen mit der Dressur-
gegenfarbe Gelb 4 (vgl. die Übersicht Ver-
such I bis 3).
Im Verlaufe des ersten Dressurtages hatte sich
die Besucherzahl gemehrt. Aber nicht nur dies,
das Ergebnis bei späteren Versuchen war pro-
zentual nicht schlechter sondern besser geworden.
Die Bevorzugung der Blaukästchen ist ganz deut-
lich.^) Blau und Gelb werden deutlich unter-
schieden.
Können die Wespen auch andere Farben noch
unterscheiden , welche Farben verwechseln sie
leicht, können sie in Farbenmischungen die Dres-
surfarbe herausfinden, richten sie sich überhaupt
nicht nur nach Helligkeitswerten bei der Unter-
scheidung der Dressurfarben (ein Moment, das
von Forel u. a. übersehen wurde), sondern wirk-
lich nach den Farbwerten, nach den (reflektierten)
Lichtarten mit den verschiedenen Wellenlängen ?
Wie ist ihre Farbentüchtigkeit verglichen mit
jener der Bienen (vgl. Fall 4 bis ll)?
Es wurde in den Zwischenzeiten zwischen
den Versuchen wie bisher weiter dressiert (ge-
füttert) auf Blau 13 bei der Gegenfarbe Gelb 4.
Nur wurde beim Versuch die eine (oder gar
beide) dieser zwei Farben ersetzt durch eine
ganz neue, auf dem Spektrum + benachbarte
Farbe. Diese sog. Verwechslungsversuche gaben
also sozusagen Antwort auf die Fagen: i. „Er-
scheint Euch diese Farbe mehr Blau oder Gelb
ähnlich ?" 2. „In welchem Maße erscheint sie
Euch ähnlich?" und vor allem: 3. ,, Unterscheidet
Ihr sie an den verschiedenen Helligkeitswerten
oder an den eigentlichen Farbtönen?"
Siehe Tabelle Seite 421.
Auf die Frage i gaben Auskunft die Versuche
4 bis 15; auf die Frage 2 insbesondere die Ver-
suche 4 und II, 6, 7 und 8; auf die Frage 3
insbesondere der Versuch 10 ; auch Versuch 11
verglichen mit Versuch 3. Denn Blau 12,
Blau 13, Violett 14, Purpur 15 lassen sich den
Helligkeitsstufen nach zwar ordnen , gäben dann
aber eine deutlich andere Rangordnung als die,
welche die Wespen durch ihr Verhalten aufstellen.
Ein Kontrollversuch mit Hilfe einer reicheren Grau-
serie, etwa nach dem Schachbrettverfahren ist bei
der Eigenart der Wespen technisch leider unmög-
lich. Aber wohl auch nicht mehr gerade sehr nötig.
Aus den Farbenmischungen Purpur 15 und Blau-
grün 1 1 erkennen die Wespen den Blauanteil offen-
bar deutlich heraus. Von der Stelle des Spektrums
etwa Grüngelb 6 bis Blaugrün 1 1 nahm man be-
kanntlich geraume Zeit an, sie erscheine den
Bienen als mehr oder weniger farblos grau. Die
dressierten Wespen reagierten auf diese einzelnen
Grüngelb- bis Blaugrünfarben jedenfalls deutlich
verschieden. Ultraviolett insbesondere wäre noch
besonderen Untersuchungen vorzubehalten. Es
wird aus dem gleichen Grunde, weswegen die
') Armbruster 1919, Bienen- und Wespengehirne. In:
Arch. f. Bienenkunde I, 5.
'1 In der Bezeichnung der bekannten Heringschen Papiere,
in Originalen zusammengestellt bei K. v. Frisch 1914. Der
Farbensinn und Formensinn der Biene, in: Zool. Jahrb. (Phys.)
Bd. 35, Taf. 5. Auch in Buchausgabe.
^) Am besten zu erselien aus der Spalte mit den Pro-
zcntzahlen. Zahlen über 100 zeigen an und messen die Be-
vorzugung, Zahlen unter loo das Gegenteil. Es wurde großes
Gewicht darauf gelegt, bei den Versuchstieren die Entstehung
anderweitiger (Orts-, llelligkeits-, Geruchs- usw.) Assoziationen
zu vermeiden. Die Vorbeugeeinzelheilen werden anderwärts
genauer geschildert bei Untersuchungen über das Formen-
sehen usw. von Bienen und Wespen. U. a. hat sich ein bifi-
lar aufgehängtes Drehkreuz gut bewährt. Schon der Wind
sorgte daft'r, daß es stetsfort horizontal rotierende Schwin-
gungen machte. Vgl. auch Armbruster 1922; Vom Hören
der Insekten (Bienen). In: Naturwissenschaften Jahrg. 10.
N. F. XXI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
421
Maßzahlen zur Art des Farbensehens bei Wespen.
Bei allen Versuchen war zuvor in Kästchen mit Blau 13 (-(-Kästchen, Dressurkästchen) gefuttert worden,
Kästchen mit Gelb 4 ( — Kästchen, Gegenkästchen) standen leer dabei.
Versuch
Nr.
Zeit ')
-|- Besuch
Farbe Zahl
— Besuc
Farbe
h
Zahl
Zusammen
Auf 100
— Besucher
kommen an
-(- Besuchern;
Ergebnisse
II. VIII. 1921
I.
jjlO
Blau 13
162
Gelb 4
66
228
245.45
klar -f
2.
12 30
,. 13
272
,.
77
349
353.24
„
3.
«30
.. 13
3"
„
93
404
334.41
..
4-
41»
Purpur 15
260
61
321
426,23
Purpur 15 wird aufs schärf-
ste von Gelb 4 unterschie-
den, erscheint den Wespen
(wie den Bienen) blau-
ähnlich. „Lieblingsfarbe" )
5-
53s
Blaugrün II
131
"
39
170-)
335.89
Blaugrün II erscheint scharf
von Gelb 4 verschieden,
ziemlich Blau I3ähnlich.
6.
603
., II
199
Grüngelb 6
90
200
221,11
Zwischen Blaugrün 1 1 und
Grüngelb 6 wird schön
scharf unterschieden,
schärfer als bei Fall 8.
7-
616
12. VIII. I92I
Grüngelb 6
65
Gelb 4
77
142
84,41
Grüngelb 6 erscheint dem
Blau 13 unähnlich und
fremder als Gelb 4, im
übrigen gelbähnlich.
8.
9'o
Gelblichgrüny
116
"
lOI
217
114,85
Gelblichgrün 7 („hell") er-
scheint zwar gelbähnlich
aber auch noch etwas
blauähnlich (blauhaltig).
9-
I030
Grüngelb 6
34
"
36
70
94,44
Gleichsinnig wie Fall 7, auch
zahlenmäßig ordentlich
getroffen.
10.
jOO
Blau 13
323
Blau 12
360
683»)
89,72
Helligkeitsstufen werden
schlecht, eher falsch
unterschieden.
II.
,00
"
191
Violett 14
178
369
107,30
Violett 14 wird ganz im
Gegensatz zu Purpur 15
von Blau 13 nur ganz
mäßig unterschieden.
12.
400
"
186
Rot 2
212
398
87,73
Rot enthält stärkeren Zuzug
als selbst die Dressur-
farbe. „Lieblingsfarbe" ?
13.
500
296
„Schwarz" *)
216
511
136,57
Obwohl ,, Schwarz" von
Gelb 4 verschieden er-
scheint, erhält es starken
Zuzug. Der Wirkung nach
erscheinen Rot und
Schwarz verwandt, aber
noch graduell verschieden.
14.
15-
536
630
"
331
254
Orange 3
Gelb 5
180
103
357
183,88
146,61
Die beiderseitigen Nachbar-
farben von Gelb 4 näm-
lich Orange 3 und (Zitron-)
Gelb 5 werden von Gelb 4
deutlich unterschieden,
denn als Gegenfarben
381 1
stoßen sie die Wespen
deutlich weniger ab als
die Gegenfarbe Gelb 4
selbst (vgl. Versuch 14).
•) Dressurbeginn II. VIII. 1921 morgens 9 Uhr. Die Schachbrettdressur auf Blau 13 ging voran und mag
nachgewirkt haben. '^) Kurz vorher Gewitter. ^) Darunter offenbar „ungelernte" Neulinge. ■*) , .schwarz" war
für uns etwa vom Dunkelheilsgrad der photogr. Einwickelpapiere, dabei etwas braunstichig.
422
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 30
Schachbrett- Dressur fehlschlug, bis auf weiteres
Schwierigkeiten machen, Wespen auf reine Spektral-
farben zu prüfen und somit physikalisch „sauber"
zu arbeiten. Aber i. kann man schon jetzt die
Leistungsfähigkeit der Pigmentpapier - Dressuren
messen an den so wertvollen Ergebnissen der
Kü hn-Pohlschen Bienendressuren') auf reine
Spektrallinien und 2. haben die gleichen Göttinger
Forscher laut freundl. briefl. Mitteilung von Prof.
Kü h n sich bemüht zu messen , welche Energie-
mengen durch die einzelnen Her in gschen Papiere
bei Beleuchtung mit verschieden - welligem Licht
') Kühn und Pohl 1921 : Dressurföhigkeit der Bienen
auf Spektrallinien. In : Naturwissenschaften Jahrg. 9.
reflektiert werden. Es wäre zu wünschen und ist
zu hoffen , daß auf diese Weise „Licht" fällt auf
die Wirkungsweise z. B. der „Lieblingsfarbe"
Purpur 15. Aber schon jetzt sehen wir, daß
die Wespen offenbar ein ähnlich gutes Farben-
unterscheidungsvermögen haben wie die Bienen.
Die Versuche sind in dieser Hinsicht ziemlich
genau so ausgefallen wie man sie vorausgesagt
hätte bei einem IVIenschen mit normalem Farben-
sinn (auch hier abgesehen von den Farben mit
ganz kleiner und ganz großer Wellenlänge). Die
Gegner des Farbensehens bei niederen Tieren
dürfen also in Zukunft sich auch nicht mehr auf
den Wespenfall berufen, der ja bisher in der Tat
ziemlich rätselhaft war.
Einzelberichte.
Eine Mikromethode der Bestimmung des
MolekulargeAvicIites.
Die neue ebenso einfache wie vielfach an-
wendbare Methode hat Karl Rast zum Erfinder.*)
Es handelt sich dabei um eine kryoskopische
Bestimmung, bei der Kampfer als Lösungs-
mittel dient.
Bekanntlich sinkt der Schmelzpunkt der ge-
wöhnlichen organischen Lösungsmittel für ein Mol
Substanz im kg nur um einige Grade. Man mußte
also bisher für die Molekulargewichtsbestimmung
den bekannten Beckmannschen Apparat mit
seinem empfindlichen Thermometer benutzen. Im
Kampfer liegt nun ein Lösungsmittel vor, dessen
Schmelzpunkt um nicht weniger als 40 Grad
herabgedrückt wird, wenn [ Mol. der zu unter-
suchenden Substanz im Liter aufgelöst ist. (Für
Benzol 5, für Wasser 1,86 GradI) Da der Kam-
pfer ein beträchtliches Lösungsvermögen besitzt,
so ist seine Verwendung für den angegebenen
Zweck sehr allgemein möglich. Man kann in den
meisten Fällen allermindestens viertelnormale
Lösungen herstellen. Da solche noch eine Er-
niedrigung von 10 Grad ergeben, ist die Verwen-
dung eines gewöhnlichen Thermometers möglich.
Da man ferner nur sehr wenig Substanz für eine
Schmelzpunktsbestimmung benötigt, so handelt
es sich um eine Mikromethode.
Man macht die Bestimmung in einem ge-
wöhnlichen Schmelzpunktsapparat. Einige Milli-
gramme des Stoffes werden mit der 10 — 20 fachen
Menge Kampfers zusammengeschmolzen. Von
der Schmelze wird in ein Röhrchen gefüllt und
nunmehr in der üblichen Weise der Schmelz-
punkt bestimmt. Der Kampferkuchen sieht aus
wie tauendes Eis mit einem (nur mittels Lupe
sichtbaren) Kristallskelett darin. Sobald die letzten
Kriställchen verschwunden sind und damit eine
klare Schmelze eingetreten ist, ist der in Rech-
') Ber. d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 55, S. 1051, 1922.
nung zu setzende Schmelzpunkt erreicht. Ein-
schließlich Wägung dauert eine Bestimmung etwa
20 Minuten. Die vom Verf. mitgeteilten Messun-
gen sind sehr genau und gestatten die Entschei-
dung für ein gesuchtes Molekulargewicht zweifels-
frei. Statt des natürlichen kann synthetischer
Kampfer verwendet werden. Man hat lediglich
ein für allemal den jeweiligen Schmelzpunkt zu
bestimmen.
Die Methode darf als ein wichtiger Fortschritt
bezeichnet werden. H. H.
Über das photocheniische Äquivalentgesetz
von Einstein.
Über die bei chemischen Wirkungen des Lichtes
umgesetzte Energie hat Einstein die Formel
aufgestellt :
Q = Nhy.
Dieser Ausdruck besagt, daß jedes der Licht-
einwirkung unterliegende Molekül die Energie-
menge e = hy aufnimmt, wenn / die Schwingungs-
zahl des Lichtes und h die Plancksche Kon-
stante bedeutet. Wird ein Mol umgesetzt, so
müßte mithin die aufzuwendende Energie den in
der oben angegebenen Formel stehenden Betrag
haben, worin N die Konstante von Avogadro
in der von Loschmidt berechneten Größe be-
deutet. Drückt man die Energiemenge Q in
Kalorien aus, so ergibt sich für jede Wellenlänge
also eine bestimmte Anzahl von Kalorien, die dem
reagierenden Stoff zugeführt und von ihm aufge-
nommen werden muß. Die folgende Tabelle gibt
einen Überblick über diese Beziehung zwischen
Wellenlänge und Energiemenge, ausgedrückt in
großen Kalorien :
Wellenlänge Q = Nh ;'
in fifi in großen Kalorien
800 35
700 40
600 47
400 70
N. F. XXI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
423
Wellenlänge Q = Nh j'
in fifi in großen Kalorien
200 140
100 279
I 3.10*
0,01 3- 10"
0,001 3-IO'
Die graphische Darstellung dieser Verhältnisse
ergibt eine hyperbolische Kurve, die sehr schnell
asymptotisch der Unendlichkeit zustrebt. Das
äußerste Ultraveil bereits trägt sich mit etwa
300000 Kalorien; mit noch kleineren Wellen-
längen sollte die photochemische Wirkung noch
weit größer werden; so groß, daß nach unseren
chemischen Erfahrungen die Moleküle zertrümmert
werden müßten. Die Erfahrung lehrt aber, daß
die Reaktionsgeschwindigkeit nach dem Ultraveil
wieder abnimmt. Dieser Widerspruch und einige
andere Erwägungen veranlassen J. Plotnikow
zu einer Nachprüfung des Gesetzes von Ein-
stein überhaupt. ^)
Von vornherein macht Plotnik ow auf einen
grundlegenden Mangel der zurzeit angewendeten
Form des „Gesetzes" aufmerksam : sie sagt aus,
daß alle Umsetzungen in allen Medien bei allen
Temperaturen mit gleicher Geschwindigkeit ver-
laufen müßten. Das ist eine thermodynamisch
unmögliche und erfahrungsgemäß niemals reali-
sierbare Aussage der Formel. Wenn Weigert "j
die bisherigen Gesetze der Photochemie für über-
lebt erklärt und dem Einsteinschen Ausdruck die
bedeutungsvolle Bezeichnung „Faraday -Einstein -
Gesetz" beilegt, so entspricht dem keine sachliche
Unterlage.
In der Formel nach Einstein wird chemi-
sche und Lichtenergie einfach gleichgesetzt. Der
erfahrungsgemäß individuelle Charakter der photo-
chemischen Umsetzungen verbietet dies jedoch.
Vielmehr handelt es sich lediglich um einen Aus-
druck für die photoelektrischen Beziehungen,
wie er sich in älteren Formeln auch schon findet,
insbesondere in der Formel von Grotthus und
van t'Hoff.
In der Tat lehrt eine von Plotnikow mit-
geteilte Zusammenstellung der bisherigen Ver-
suche zur Prüfung der Einsteinschen F"ormel an
der Erfahrung, daß diese von der Formel in einer
so oberflächlichen Weise gedeckt wird, daß von
einem „Gesetz" nicht die Rede sein kann. Die
Formel hat völlig versagt in zahlreichen Ver-
suchen von War bürg und Posch, sowohl bei
Photolysen wie bei Polymerisationen und Ver-
einigungen, etwa von H2 + Br.,. Bei Substitutio-
nen ergab sie mangelhafte Übereinstimmung
in Versuchen von Noddack. ^) Der Fehler be-
trug im Durchschnitt 10 "/„, erreichte z. T. sogar
90 "/qI Nur in zwei von Warburg gemessenen
Reaktionen war die Übereinstimmung von Formel
und gemessenen Werten befriedigend. Von einem
„Gesetz" kann also in der Tat nicht geredet wer-
den; merkwürdigerweise geschieht das jedoch zu-
meist. Weigert, der noch vor kurzem das
Grotthussche Gesetz zur Norm nahm, verwirft
dieses jetzt und glaubt aus einem wirren Punkt-
system die Richtigkeit der Einsteinformel , .be-
weisen" zu können. Demgegenüber wird auf eine
Arbeit von Cohen'-') verwiesen, die die Formu-
lierung von Grotthus voll bestätigt. — Man
wird die Formel Einsteins mithin mit größter
Vorsicht in bestimmten Einzelfällen anwenden,
ihr aber keinen allgemeinen Gültigkeitswert bei-
legen dürfen. H. H.
Neues über den dreiatomigen Wasserstoff.
Zur Chemie des ,,Hyzons", der dreiatomigen,
dem Ozon entsprechenden P'orm des Wasserstoffs,^}
liegen einige neue Untersuchungen vor, die die
bisher mitgeteilten Entstehungsbedingungen und
Eigenschaften des interessanten Stoffes weiter auf-
klären. Gerald Wendt und Mitarbeiter ^j fan-
den drei neue Bedingungen, die die aktive Form
des Wasserstoffs entstehen lassen. Zunächst die
stille elektrische Entladung in der auf die Tem-
peratur des flüssigen Ammoniaks gekühlten Ozon-
röhre von Siemens, sodann die Teslaentladung,
endlich die Ionisation, die ein elektrisch zum
Glühen gebrachter Platindraht hervorruft. Auf
diese Weise gewonnener aktiver Wasserstoff wird
von fein verteiltem Platin, Nickel, Kupfer, Blei
und Cadmium zersetzt, während bemerkenswerter-
weise Gold, Silber, Zinn, Wismut, Zink und Alu-
minium ohne Einwirkung sind.
Hyzon wurde auch verflüssigt. Dies gelang
erwartungsgemäß schon bei der Siedetemperatur
des Ozons, — 119". Bei dieser Temperatur zeigt
die Spektraluntersuchung eine stetige Verstärkung
des sekundären Linien- und eine gleichzeitige Äb-
schwächung des primären Serienspektrums. Dies
deutet auf eine allmähliche Bildung von Hg hin.
Die Vermutungen über den Mechanismus der Bil-
dung des Hyzons werden dadurch bestätigt, des-
gleichen die Formel H3, nicht aber die eines Iso-
H.2 von Baly, die von anderer Seite zur Grund-
lage des Atomaufbaus vieler schwerer Atome
gemacht worden ist. H. Heller.
') Zeitschr. f. wisscnsch. Pholograpliie 21, S. 134, 1922.
*) Zeitschr. f. Physik 5, S. 421, 1921.
') Zeitschr. f. Elektrochemie 27, S. 359, 1921.
^) Rec. d. Trav. chim. d. Pays-Bas 39, S. 243, 1921.
•^) Vgl. Nalurw. Wochenschr. N. F. XIX, S, 527, 1920.
*) Journ. of the Americ. Chem. Soc. 44, S. 510, 1922.
424
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 30
Literatur.
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Hagen, Werner, Die deutsche Vogelwelt nach ihrem
Standort. Ein E.xkursionsbuch zum Kennenlernen der Vögel.
Magdeburg, Creutzsche Verlagsbuchhandlung.
Kryptogamentlora für Anfanger. Band II, I. Dr. Gustav
Lindau, Die mikrosifopischen Pilze. II. Auflage. Berlin '22,
Verlag von Julius Springer. Brosch. 63 M., geb. 72 M.
Neumann, Karl \V., .Am Wald entlang. Erlebte und
erschaute Tiergeschichten. Leipzig, Verlag von Quelle und
Meyer. Geb. 22 M.
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Schröders Allgemeiner deutscher Universitäts- und Hoch-
schulkalender für das Jahr 1922. Kirchhain N.-L., Brücke-
Verlag Kurt Schmersow.
Sammlung Göschen, Geschichte der Zoologie und ihrer
Wissenschaft!. Probleme von Prof. Dr. Kud. Burckhardt. Neu
bearbeitet von Dr. H. Erhard. Band I. Bis zur Mitte des
18. Jahrhunderts. Berlin-Leipzig '21, Vereinigung wissenschaftl.
Verleger. Geb. 9 M.
Sammlung Göschen, Geschichte der Zoologie und ihrer
wissenschaftl. Probleme von Prof. Dr. R. Burckhardt. Neu
bearb. von Dr. H. Erhard. Band 11. Von der Mitte des
iS. Jahrhunderts bis zur Jetztzeit. Berlin-Leipzig '21, Ver-
einigung wissenschaftl. Verleger. Geb. 9 M.
Mönnig, Dr. Hermann O. , Über Leucochloridium
macrostomum (Leucochloridium paradoxum Carus). Ein Bei-
trag zur Histologie der Trematoden. Jena '22, Gustav Fischer.
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Forscher. 4. Aufl. Leipzig '22, Wilhelm Engelmann. Geh.
75 M., geb. 115 M.
Biologische .Arbeit, Dr. L. Schmidt, Die Herstellung
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Freiburg i. Br. '21, Theodor Fischer. 10 M
Biologische Arbeit, Dr. Willy Wolterstorf f. Die Molche
Deutschlands und ihre Pflege. Heft 13. Freiburg i. Br. '21,
Theodor Fischer. lo M.
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nisse. Die Beziehungen des Vogels zu seiner Umwelt. Frei-
burg i. Br. '22, Theodor Fischer. 15 M.
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2. Aufl. Berlin '22, Verlagsgenossenschaft ,, Freiheit".
Weil, Dr. Arthur, Die innere Sekretion. Eine Ein-
fuhrung für Studierende und Arzte. 2. Aufl. Berlin '22,
Julius Springer. Brosch. 36 M., geb. 48 M.
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Naturästhetik und Lebensfreude. Rastatt i. Bad., Süddeutsche
Verlagsanstalt G. m. b. H.
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Leipzig '21, Quelle u. Meyer. Geb. 50 M.
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Fission in the .Active and encysted Phases of Giardia Enterica
(Grassi) of Man, with a Discussion of the Method of Origin
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University of California Press Berkeley, California.
Verhandlungen der geologischen Bundesanstalt. Nr. i.
Wien '22, Jänner.
Jahrbuch der geologischen Staatsanstalt. Jahrgang 1921,
LXXI. Band. 3. u. 4. Heft. Wien '21, Verlag der Geolo-
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Schaffer, Dr. med., Lehrbuch der Histologie und
Hi5togenese. 2. Aufl. Leipzig '22, Wilh. Engelmann. Geh.
245 M., geb. 290 M. Ab :. Juli 1922 100% Verleger-
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Jena '22, G. Fischer. Brosch. 100 M., geb. 130 M.
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höherer Lehranstalten. I. Allgemeine physische Erdkunde.
München und Berlin '22, R. Oldenbourg. Brosch. II M.
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Müffelmann, Hedwig, Bilder aus der Sternenwelt. Eine
leichtverständliche Einführung in die Himmelskunde. 2. Aufl.
Hermannsburg '22, Verlag der Missionshandlung. Brosch.
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garten in Idealismus und Praxis. 3. Aufl. Neudamm '22, J.
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Sammlung Vieweg. Tagesfragen aus den Gebieten der
Naturwissenschaften und der Technik. Heft 61.
Meißner, Entfernungs- und Höhenmessung in der Luft-
fahrt. Braunschweig '22 , Fr. Vieweg & Sohn. Geh. 16 M.
und Teuerungszuschlag.
Sammlung Vieweg. Tagesfragen aus den Gebieten der
Naturwissenschaften und der Technik. Heft 62.
Siebel, Die Elektrizität in Metallen. Braunschweig '22,
Fr. Vieweg & Sohn. Geh. 12 M. und Teuerungszuschlag.
Brandt, Prof. Dr., Physikalisches Praktikum. I. Teil.
Mechanik, Akustik, Wärme, Optik. 3. Aufl. Karlsruhe '22,
Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag.
Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Lief. 57.
Hrsg. v. Prof. Dr. .Abderhalden. .Abt. VII. Methoden der
vergleichenden morphologischen Forschung. Heft I.
lubalt: M. Seh wicke r ath , Exaktwissenschaftliches, philosophisches und künstlerisches Welterkennen und Weltbegreifen.
(i Abb.) S. 409. L. Armbruster, Über das Farbensehen bei Wespen. S. 419. — Einzelberlcbto: K. Rast,
Eine Mikromethode der Bestimmung des Molekulargewichtes. S. 422. J. Plotnikow, Über das photochemische
Aquivalentgesetz von Einstein. S. 422. G. Wen dt. Neues über den dreiatomigen Wasserstoff. S. 423. — Literatur:
Liste. S. 424.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'scben Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 30. Juli 1922.
Nummer 31.
Gregor Mendel und sein Werk.
Dem Begründer der Vererbungswissenschaft zum lOO. Geburtstag.
rboten.l Von HllUS Xaclltsheilll, Berlin.
In diesen Tagen feiert die Biologie den 100. Ge-
burtstag eines Mannes, der uns als Frucht seiner
wissenschaftlichen Tätigkeit nur einige wenige
kleine, zu seinen Lebzeiten kaum gelesene Ab-
handlungen hinterlassen hat, und der doch heute
zu den größten Biologen aller Zeiten zählt, den
Geburtstag des
Augustinerpaters
Johann Gregor
Mendel. Und
unter den weni-
gen Abhandlun-
gen , die seiner
Feder entstam-
men, ist eigent-
lich nur eine,
die seinen Namen
unsterblich ge-
macht hat, seine
im Jahre 1865
veröffentlichten
„Versuche über
Pflanzenhybri-
den". In aller
Kürze und dabei
doch mit einer
vorbildlichen
Klarheit berich
tet hier Mendel
auf 44 Seiten über
seine ausgedehn-
ten , mit einer
großen Zahl ver-
schiedener Erb-
sen- und Bohnen-
sorten ausgeführ-
ten Kreuzungs-
experimente und
teilt die von ihm
beobachteten Ge-
setzmäßigkeiten
im Verhalten der
einzelnen Merk-
male der ver-
schiedenen Sor-
ten bei der Kreu-
zung mit. Die Arbeit erschien, ohne daß jemand
von ihr Notiz nahm, und als Mendel fast zwei
Jahrzehnte später starb, ahnte niemand, daß er
der Entdecker einiger bedeutungsvoller Natur-
gesetze war, und daß seine kleine Abhandlung
noch zum Fundament einer großen Wissenschaft
werden .sollte. 35 Jahre blieb das Werk Men-
dels verschollen. Erst um die Jahrhundertwende
wurden unabhängig voneinander drei Forscher,
die ähnlichen Fragen nachgingen wie Mendel
selbst, auf die Arbeit des Augustinerpaters auf-
merksam, konnten seine Ergebnisse glänzend be-
stätigen, und diese Wiederentdeckung Mendels
wurde nun zum
Ausgangspunkt
für eine macht-
volle Entfaltung
eines neuen Zwei-
ges der Biologie,
der Vererbungs-
wissenschaft, de-
ren wesentlich-
ster Teil dem
Begründer zu
Ehren heute als
Mendel ism US
bezeichnet wird.
Kaum jemals hat
eine Wissenschaft
eine so rasche
Entwicklung ge-
nommen wie die
Vererbungswis-
senscliaft in den
wenigen Jahren,
die seit der Wie-
derentdeckung
Mendels hinter
uns liegen. Eine
große Zahl von
l'orschern aller
Kulturnationen
müht sich um die
Lösung mende-
listischer Proble-
me, eine schier
unübersehbare,
von Jahr zu Jahr
wachsende Fülle
von Arbeiten
bringt uns die
Erfolge dieser Be-
mühungen, und
je tiefer man dringt, desto mannigfaltiger werden
die Probleme, desto mehr Nachbargebiete zieht
die Vererbungs Wissenschaft in den Bereich ihrer
Forschung mit ein. Doch nicht nur die theore-
tische Forschung erfreut sich lebhafter Förderung.
Mehr und mehr geht man auch daran, den Men-
delismus praktisch zu verwerten. Die Pflanzen-
426
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 31
Zucht hat, seit sie auf mendelistischer Grundlage
betrieben wird, bereits schöne Erfolge gezeitigt,
die Tierzucht erhofft das Gleiche von der Zukunft,
und die IVIedizin ist auf dem besten Wege, den
Mendelismus dem Wohle der Menschheit nutzbar
zu machen. Zum Gedenktage IVI e n d e 1 s eine
kurze Skizze des Mendelismus und seiner Ent-
wicklung zu entwerfen mit einigen Ausblicken in
die Zukunft, möge das Ziel der folgenden Zeilen
sein. Zunächst aber einige Worte über das Leben
des Begründers unserer Wissenschaft, dem es —
das Schicksal so manches Entdeckers — nicht
vergönnt war, sich an den Früchten seines Wer-
kes zu erfreuen.
I.
Johann Mendel wurde am 22. Juli 1S22 in
Heinzendorf, einem kleinen Orte bei Odrau in
Österreichisch-Schlesien, als Sohn kleiner Bauers-
leute geboren. Sein Geschlecht war, ursprünglich
unter dem Namen Mandel, schon seit langem auf
der gleichen Scholle ansässig. Bis ins 17. Jahrhun-
dert ließ es sich an Hand der Kirchenbücher der
dortigen Gegend, die eine kleine deutsche Kolonie
innerhalb einer fremdstämmigen Umgebung be-
völkert, zurückverfolgen. Während des dreißig-
jährigen Krieges war diese Kolonie größtenteils
zum Protestantismus übergegangen , und auch
unter Mendels Vorfahren waren einige dieses
Glaubens. — Dem Vater Mendels wird eine be-
sondere Neigung zur Obstkultur nachgesagt, und
von ihm soll der Sohn schon früh die Methoden
des Pfropfens gelernt haben. Den ersten Schul-
unterricht erhielt der junge Mendel in Heinzen-
dorf und später in Leipnick. Bald wurde der
Wunsch in ihm rege zu studieren, und es gelang
ihm schließlich auch durchzusetzen, daß er auf
das Gymnasium nach Troppau geschickt wurde,
doch wäre es ihm wohl kaum möglich gewesen,
die Kosten des Studiums aufzubringen, wenn nicht
eine jüngere Schwester edelmütig auf einen Teil
ihres Vermögens zugunsten des Bruders verzichtet
hätte. Mendel lohnte dies der Schwester später
dadurch vielfältig, daß er für die Erziehung ihrer
drei Söhne, seiner Neffen, Sorge trug.
Nachdem Mendel die beiden letzten Gym-
nasialklassen in Olmütz absolviert hatte, trat er
1843 in das Augustin^rkloster St. Thomas in
Brunn, das sog. Königskloster, ein und nahm den
Namen Gregor an. 1847 empfing er die Priester-
weihe und war dann mehrere Jahre Pfarrer in
Brunn. 185 1 sandte ihn das Kloster nach Wien,
wo er an der dortigen Universität Mathematik
und Naturwissenschaften studierte. Besonders
zogen ihn die Physik und die Biologie an. Nach
zwei Jahren nach Brunn zurückgekehrt, wurde er
Lehrer der Naturwissenschaften an der Oberreal-
schule in Biünn. Es wird berichtet, daß er nicht
nur ein begeisterter Lehrer war, sondern daß er
CS auch verstand, bei seinen Scliülern die Be-
geisterung für seine Wissenschaft zu wecken.
Neben seiner Lehrtätigkeit ging er eifrig eigenen
Studien nach, die teilweise auf botanischem und
zoologischem , teils auf meteorologischem und
astronomischem Gebiete lagen. In dem stillen
Klostergarten führte er Kreuzungsexperimente
mit den verschiedensten Pflanzen aus und berich-
tete darüber wiederholt in den Sitzungen des
Naturforschenden Vereines in Brunn, dessen Vor-
sitzender er lange Jahre war. Leider aber unter-
blieb die Veröffentlichung der meisten seiner Ver-
suche. Nur zwei Versuchsreihen legte er in den
Verhandlungen des Naturforschenden Vereines
nieder, seine später so berühmt gewordenen „Ver-
suche über Pflanzenhybriden" (1865) und eine
kurze Mitteilung „Ober einige aus künstlicher Be-
fruchtung gewonnene Hieraciumbastarde" (1869).*)
Neben diesen botanischen Experimenten gingen
zoologische einher. Mendel war eifriger Bienen-
züchter, und es war sein Streben, die von ihm.
für die Pflanzen gefundenen Gesetzmäßigkeiten
auch für die Bienen nachzuweisen. Bei den Tieren
freilich sind solche Untersuchungen mit viel größe-
ren Schwierigkeiten verknüpft. Die Unmöglich-
keit der Selbstbefruchtung, die im allgemeinen
bei Tieren viel geringere Nachkommenschaft, die
häufig sehr lange Entwicklungsdauer, schließlich
die Kostspieligkeit der Experimente — das sind
alles Hemmnisse für ausgedehnte Vererbungs-
experimente mit Tieren. Bei den Bienen liegen
insofern die Verhältnisse wenigstens noch günstig,
als es möglich ist , mit großen Individuenzahlen
zu arbeiten. Zweifellos hat aber Mendel auch
bereits erkannt, daß gerade die Bienen für den
Vererbungsforscher besonders interessante Objekte
sein müssen wegen ihrer eigenartigen Fortpflan-
zung. Damals wurde in Imkerkreisen die Theorie
eines Landsmannes und Standeskollegen Mendels,
des schlesischen Pfarrers Dzierzon, lebhaft be-
sprochen, nach der die männlichen Bienen, die
Drohnen, aus unbefruchteten Eiern, parthenogcnc-
tisch entstehen. Sie erben also ihre gesamten
Eigenschaften von nur einer Seite, und wenn
wir zwei Bienenrassen miteinander kreuzen , so
sind nur die weiblichen Tiere Bastarde, die männ-
lichen gehören der mütterlichen Rasse an. Men-
del benutzte zu seinen Kreuzungsexperimenten
Königinnen der verschiedensten Rassen, verschic
dene europäische Rassen, dann ägyptische und
amerikanische Bienen. Bei Bastardierungsexperi-
menten mit Bienen liegt eine Fehlerquelle darin,
daß die Begattung während des Hochzeitsfluges
der Königin stattfindet und sich unserer Beobach-
tung entzieht. So wissen wir nie, welche Drohne
die Begattung vollzogen hat. Um diese P^ehler-
quelle zu vermeiden, machte Mendel zahlreiche
') Durch den Abdruck der beiden Abhandlungen in
,, Dslwalds Klassikern der exakten Wissenschaften" (Nr. 121,
herausgegeben von K. Tschermak) sind diese jedem leicht
zugänglich gemacht. Nicht nur in historischer Hinsicht .sind
sie von unvergänglichem Wert. Sie sind von einer so wunder-
vollen Klarheit und auch sonst in jeder Hinsicht so vorbild-
lich, daß niemand, der sich mit Vererbungsfragen beschäftigt,
sich ihre Lektüre entgehen lassen sollte.
N. F. XXI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
427
Versuche, Königinnen innerhalb geschlossener
Räume begatten zu lassen. Aber leider wissen
wir über diese Versuche ebensowenig etwas Ge-
naueres wie über die Kreuzungsexperimente.
Mendel hat nie etwas darüber veröffentlicht,
und auch von seinen Notizen ist nichts erhalten
geblieben. Das einzige, was erhalten blieb, ist
der entzückend gelegene Bienenstand im Kloster-
garten, der zu Mendels Zeiten bisweilen 50 Völ-
ker beherbergte. Neben seinen biologischen Ar-
beiten machte er regelmäßige Wetterbeobachtun-
gen und veröffentlichte diese in den Verhand-
lungen des Brünner Naturforschenden Vereines,
darunter einen wertvollen Aufsatz über eine Wind-
hose, die am 13. Oktober 1870 über Brunn hin-
wegging und das Kloster stark beschädigte. Seine
meteorologischen Arbeiten führten ihn fernerhin
zu Sonnenbeobachtungen. Er untersuchte den
Zusammenhang zwischen dem Auftreten von
Sonnentlecken und gewissen meteorologischen
Erscheinungen. Auch systematische Grundwasser-
messungen führte er aus.
Das Jahr 1868 brachte einen entscheidenden
Wendepunkt in Mendels Leben: er wurde zum
Abt und Prälaten seines Stiftes gewählt , eine
Ehrung, die leider das Ende seiner wissenschaft-
lichen Tätigkeit bedeutete. Zwar hatte er gehofft,
daß ihm auch sein neues Amt Zeit lassen werde,
seinen naturwissenschaftlichen Neigungen nach-
zugehen und vor allem seine Bastardierungs-
versuche fortzusetzen, aber es war eine schwerere
Last auf seine Schultern gelegt worden, als er
geahnt hatte, die Amtsgeschäfte nahmen von Jahr
zu Jahr zu, und im Jahre 1873 schreibt er an den
ihm befreundeten Münchener Botaniker Nägeli,
mit dem er in regem Briefwechsel stand: „Ich
fühle mich wahrhaft unglücklich, daß ich meine
Pflanzen und Bienen so gänzlich vernachlässigen
muß." Schließlich wurde er in den Kulturkampf
hineingezogen. Durch ein im Jahre 1874 vom
Parlament angenommenes Gesetz wurden den
Klöstern besondere Steuern auferlegt , und das
Königskloster wurde durch dieses Gesetz be-
sonders stark betroffen. Mendel erhob sofort
schärfsten Einspruch gegen das Gesetz, das er
als ungerecht empfand, und verweigerte die Be-
zahlung der Steuer. Mit beredten Worten schildert
H. Iltis, der Biograph Mendels, dessen jahre-
langen fruchtlosen Kampf: ,,Alle die Bitten, mit
denen man ihn bestürmte, alle die Drohungen,
durch die man ihn einzuschüchtern versuchte,
bestärkten ihn nur in seinem Widerstand — zu-
erst von vielen unterstützt, später von ebenso
vielen verlassen, kämpfte er, ein zweiter Michael
Kohlhaas, allein gegen die ganze Welt, jenen aus-
sichtslosen Kampf ums Recht, jenen Kampf gegen
Staat und Regierung, der den von Natur aus
heiteren und liebenswürdigen Mann in seinen
letzten Lebensjahren zum weltfremden Misan-
thropen machen, der ihm seine besten Güter,
Ruhe, Lebensfreude und Gesundheit, rauben sollte."
Das beigegebene Bild stammt aus dieser letzten
Lebensperiode Mendels (etwa aus dem Jahre 1 880).
Die schweren Kämpfe, die er durchzufechten hatte,
spiegeln sich in den harten Zügen wider, die
dieses Gesicht kennzeichnen. Nach zehnjährigem,
erfolglosem Kampf erlag Mendel am 6. Januar 1884
den Folgen einer Nierenerkrankung — wenige
Jahre später wurde das von ihm heftig befehdete
Gesetz ohne Widerspruch aufgehoben.
In zahlreichen Nachrufen wurde Mendel be-
trauert. Man hob seine menschlichen Vorzüge
hervor, seine Treue zum Deutschtum, man
rühmte den vortrefflichen Lehrer und den treuen
Seelsorger, den für sein Kloster selbstlos sich
aufopfernden Prälaten und den zielbewußten
Politiker, man erinnerte auch an seine wissen-
schaftlichen Leistungen, aber niemand ahnte,
welche Bedeutung Mendels Werk für die
Wissenschaft noch gewinnen sollte.
Es ist uns auch heute noch nicht völlig ver-
ständlich, wie es geschehen konnte, daß Mendels
Arbeit über die Pflanzenhybriden so völlig un-
beachtet blieb und gänzlich in Vergessenheit geriet.
Zum Teil mag daran Schuld sein, daß die Arbeit
an schwer zugänglicher Stelle erschien. Schuld
trifft auch den Botaniker Nägeli, von dessen
Briefwechsel mit Mendel bereits die Rede war.
Er war über Mendels Arbeiten genauestens
unterrichtet, und doch erkannte er, der zweifellos
einer der bedeutendsten Botaniker seiner Zeit
und überdies selbst mit Abstammungs- und Ver-
erbungsfragen rege beschäftigt war, den Wert
dieser Arbeiten nicht, und in seinem im Todes-
jahre Mendels veröffentlichten, diesen Fragen
gewidmeten Werke wird Mendels Name über-
haupt nicht Erwähnung getan. Man hat nur
die eine Erklärung: „Die Zeit war noch nicht
reif." Dieses Gefühl hatte auch Mendel selbst,
den die mangelnde Anerkennung seiner wissen-
schaftlichen Tätigkeit natürlich kränkte. „Meine
Zeit wird schon kommen", so sagte er wiederholt.
Und er täuschte sich nicht, wenn er auch „seine
Zeit" persönlich nicht mehr erlebte. Erst sech-
zehn Jahre nach seinem Tode kam sie, seine Zeit
war mit einem Schlage da, als im Jahre 1900 die
drei Botaniker C. Correns, E. v. Tschermak
und H. de Vries die „Mendelschen Regeln"
wiederentdeckten.
IL
Die Untersuchungen, welche später zum F"unda-
ment der gesamten Vererbungswissenschaft werden
sollten, führte Mendel in der Hauptsache mit
der gewöhnlichen Gartenerbse, Pisiiiii sativmit,
aus. Aus mehreren Samenhandlungen bezog er
insgesamt 34 Erbsensorten, die sich teils mehr,
teils weniger voneinander unterschieden. Jede
Sorte wurde zunächst einer zweijährigen Probe
unterworfen und festgestellt, ob die für eine Sorte
charakteristischen Merkmale auch bei den Nach-
kommen konstant auftraten. Die Merkmale waren
sehr verschiedener Art. Die Erbsensorten wiesen
Unterschiede in der Länge und Färbung des
42t
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 31
Stengels auf, in der Größe und Gestalt der Blätter,
in der Stellung, Farbe und Größe der Blüten, in
der Länge der Blütenstiele, in der Farbe, Gestalt
und Größe der Hülsen, in der Gestalt und Größe
der Samen, in der Färbung der Samenschale und
der Kotyledonen. Die Aufgabe, die sich Mendel
nun stellte, war die Beantwortung der Frage:
Wie verhält sich die Nachkommenschaft zweier
Pflanzen, die in einem oder mehreren Merkmalen
konstant verschieden sind, wenn wir diese beiden
Pflanzen durch Befruchtung verbinden , welche
Gesetzmäßigkeiten zeigen sich bei der Verteilung
der elterlichen Merkmale in den aufeinander
folgenden Generationen ?
Wenn Mendel bei seinen erbanalytischen
Untersuchungen so grundlegende Resultate erzielte,
so verdankt er das zunächst seiner Methode.
Heute erscheint uns diese Methode bei vererbungs-
wissenschaftlichen Untersuchungen als so selbst-
verständlich, daß wir nur zu leicht darüber ver-
gessen, welch bedeutungsvollen Schritt vorwärts
ihre erste Anwendung darstellte. Schon allein
durch seine Methode überragte Mendel seine
Zeitgenossen und alle, die vor ihm sich vergebens
um die Lösung ähnlicher Fragen mühten, bei
weitem. Zunächst war schon die Wahl des Ver-
suchsobjektes außerordentlich glücklich. Mendel
sagt darüber selbst : „Die Auswahl der Pflanzen-
gruppe, welche für Versuche dieser Art dienen
soll , muß mit möglichster Vorsicht geschehen,
wenn man nicht im vorhinein allen Erfolg in
Frage stellen will.
Die Versuchspflanzen müssen notwendig
1. konstant differierende Merkmale besitzen,
2. die Hybriden derselben müssen während
der Blütezeit vor der Einwirkung jedes fremd-
artigen Pollens geschützt sein oder leicht ge-
schützt werden können,
3. dürfen die Hybriden und ihre Nachkommen
in den aufeinander folgenden Generationen keine
merkliche Störung in der Fruchtbarkeit erleiden."
Mendel hatte also von Anfang an klar er-
kannt, welches die notwendigen Vorbedingungen
für eine erfolgreiche Durchführung der Experi-
mente waren. Die Gattung Pisiiin erwies sich
nach ausgedehnten Vorversuchen als allen An-
forderungen entsprechend. Pisinii ist normaler-
weise Selbstbefruchter, die Narbe ist innerhalb
der Blüte so geschützt, daß eine Störung durch
fremden Pollen kaum in PVage kommt. Anderer-
seits aber gelingt die künstliche Fremdbestäubung
nach vorheriger l^ntfernung der eigenen Staub-
fäden ohne allzu große Schwierigkeiten. Die aus
künstlicher PVemdbestäubung hervorgegangenen
Pflanzen stehen hinsichtlich ihrer Fruchtbarkeit
nicht hinter den normal erzeugten zurück. Als
besondere Vorzüge von Pisiiiii sind ferner die
leichte Kultur, die im freien Lande oder in
Töpfen erfolgen kann, die Möglichkeit der Auf-
zucht sehr großer Individuenzahlen und die ver-
hältnismäßig kurze Vegetationsdauer hervorzu-
heben. Letztere ermöglichte es, die Versuche in
nicht zu langer Zeit über eine Reihe von Gene-
rationen fortzusetzen, ebenfalls eine Vorbedingung
für den Erfolg Mendels. Was die bei der
Kreuzung untersuchten Merkmale anbelangt, so
unterschied sich auch da Mendel ganz prinzipiell
von seinen Vorgängern. Er kreuzte nicht wie
diese Formen, die sich durch eine möglichst große
Zahl von Merkmalen unterschieden, und verglich
nicht den Gesamthabitus der Nachkommen
mit dem der Eltern, sondern er griff einzelne
Merkmale heraus, und in seinen ersten Ver-
suchen unterschieden sich die Ausgangsindividuen
nur in einem solchen Merkmal. Und selbst bei
der Merkmalswahl traf er wieder eine Auslese.
Er sagt ausdrücklich, daß ein Teil der von ihm
bei seinen Erbsensorten gefundenen Merkmale
keine sichere und scharfe Trennung zuließ, daß
der Unterschied bei einzelnen nur auf einem oft
schwer zu bestimmenden ,,mehr oder weniger"
beruhte. Diese nur quantitativ voneinander ab-
weichenden Merkmale wurden gleich ausgeschaltet
und nur solche studiert, die wirklich gegen-
sätzlich waren, so daß sich bei Untersuchung
der Nachkommen ohne weiteres entscheiden ließ,
ob dieses oder jenes Merkmal ausgeprägt war.
Insgesamt wurden 7 Merkmalspaare auf ihr erb-
liches Verhalten bei der Kreuzung geprüft. Eine
weitere Neuheit in Mendels Methode war die
individuelle Stammbaumzucht. Die von
jedem Elternpaar stammenden Nachkommen —
bei sämtlichen Versuchen wurde eine wechsel-
seitige Kreuzung durchgeführt, d. h. jeder Elter
diente als Samenpflanze und als Pollenpflanze —
wurden getrennt aufgezogen, und das Gleiche
geschah in allen folgenden Generationen. Nur so
war es möglich, zu einer klaren Erkenntnis der
aus der Kreuzung sich ergebenden Zahlenver-
hältnisse zu gelangen und vor allem auch zu der
Erkenntnis zu kommen, daß die äußere Erschei-
nung des Individuums noch nichts über das Aus-
sehen seiner Nachkommen besagt, daß vielmehr
umgekehrt das Individuum nach seinen Nach-
kommen beurteilt werden muß.
Die Resultate Mendels und seine aus diesen
abgeleiteten „Regeln" machen wir uns am besten
an der Hand einiger der von ihm ausgeführten
Versuche klar. Eines der von ihm ausgewählten
Merkmalspaare bezieht sich auf die Gestalt der
Samen. Einzelne Erbsensorten hatten kugelrunde
Samen mit glatter Oberfläche, bei anderen waren
die Samen unregelmäßig kantig und tief runzelig.
Bei der Kreuzung dieser beiden Sorten ergab sich
eine erste Bastardgeneration, die völlig einheitlich
aussah. Alle Samen waren rund und glatt, das
Merkmal kantig und runzelig trat nicht auf. Da-
bei war es völlig gleichgültig, welches Merkmal
der Samen- und welches der Pollenpflanze ange-
hörte. Und dieses Hervortreten des einen und
das Verschwinden des anderen Merkmales in der
ersten Bastardgeneration wurde in der gleichen
Weise auch bei den Versuchen mit anderen Merk-
malspaaren beobachtet, immer glichen die Nach
N. F. XXI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
429
kommen einheitlich dem einen Elter. Die bei
den Bastarden der ersten Generation in Erschei-
nung tretenden Merkmale bezeichnet Mendel
als die dominierenden, die latent werdenden
als die rezessiven Merkmale, womit gleich zum
Ausdruck gebracht werden soll, daß letztere in
den weiteren Generationen wieder zum Vorschein
kommen. Mendels Wiederentdecker haben diese
seine erste Feststellung über das Aussehen der
ersten Bastardgeneration in der erstenMendel-
schen Regel, der Prävalenzregel, formu-
liert und legten damit den Nachdruck auf das
Dominieren oder Prävalieren des einen der beiden
gegensätzlichen Merkmale. Weitere Untersuchungen
ergaben dann aber, daß diese Dominanz des einen
Merkmales durchaus nicht die Regel ist. Sehr
häufig ist die Dominanz mehr oder weniger un-
vollständig, oder die Bastarde nehmen hinsicht-
lich der untersuchten Merkmale eine Mittelstellung
zwischen den Eltern ein, sind intermediär. Als
Regel kann für die erste Bastardgeneration nur
gelten, daß sie aus lauter gleichen Individuen
besteht, daß sie uniform ist. Man bezeichnet
deshalb die erste Mendel sehe Regel heute meist
als Uniformitätsregel. Aber auch in dieser
Fassung kommt der ersten Regel bei weitem
nicht die Bedeutung zu wie der zweiten und
dritten Regel , die sich aus dem Verhalten der
weiteren Bastardgenerationen ableiten ließen.
Die durch künstliche Kreuzbefruchtung herge-
stellten Bastarde der ersten Generation wurden
durch Selbstbefruchtung vermehrt, und nun er-
schienen in der zweiten Generation neben den
dominanten auch die rezessiven Merkmale wieder
in völlig unveränderter Form, neben runden-
glatten Samen traten also kantige-runzelige auf.
Insgesamt lieferten 253 Bastarde der ersten Gene-
ration 7324 Nachkommen. Von diesen waren
rund-glatt 5474 und kantig - runzelig 1850 Indivi-
duen (bzw. Samen). Das entspricht einem Ver-
hältnis von 2,96:1, also ungefähr 3:1. Und dieses
Verhältnis 3 : i ergab sich für alle untersuchten
Merkmalspaare in der zweiten Nachkommen-
generation, immer kam durchschnittlich auf drei
Pflanzen mit dem dominanten Merkmal eine mit
dem rezessiven. Und in allen Fällen waren die
rezessiven Merkmale der zweiten Nachkommen-
generation genau ebenso beschaffen wie diese
Merkmale in der großelterlichen Generation, sie
blieben völlig unbeeinflußt durch die dominanten
Merkmale, Übergangsformen wurden bei keinem
Versuche beobachtet. Die Individuen der zweiten
Nachkommengeneration wurden abermals durch
Selbstbefruchtung vermehrt. Alle Individuen,
welche das rezessive Merkmal besaßen, brach-
ten ausschließlich ebensolche Nachkommen hervor,
das dominante Merkmal erschien unter ihren
Nachkommen nie wieder, und ebenso war dies
in allen folgenden Generationen. Die Individuen,
welche das dominante Merkmal besaßen, ver-
hielten sich verschieden. Ein Drittel von ihnen
gab nur Nachkommen mit dem dominanten Merk-
mal, in der nächsten wie in allen folgenden
Generationen. Zwei Drittel aber lieferten wieder
beide Formen in dem für die zweite Generation
charakteristischen Verhältnis 3:1. Daraus ging
hervor, daß die Individuen der zweiten Generation
mit dem dominanten Merkmal, wenn sie auch
äußerlich einander völlig gleich waren, doch in ihrer
erblichen Beschaffenheit verschieden sein mußten.
Das dominante Merkmal hat mit anderen Worten
doppelt e Bedeutung, die des S t a m m Charakters
und die des Bastard Charakters. Welche Bedeu-
tung es bei dem einzelnen Individuum hat, darüber
vermag nur die nächste Generation Aufschluß zu
geben. Individuen, die das Merkmal als Stamm-
charakter besitzen, geben nur gleichbeschaffeneNach-
kommen, sind konstant, Individuen, die es als Ba-
stardcharakter besitzen, erzeugen wieder dominante
und rezessive Formen im Verhältnis 3:1. Dieses
für die Nachkommen der Bastarde charakteristische
Verhältnis läßt sich somit weiter auflösen in das
Verhältnis 1:2:1. Auf ein Individuum mit dem
dominanten Merkmal als Stammcharaktcr kommen
zwei Individuen mit dem dominanten Merkmal
als Bastardcharakter und ein Individuum mit
dem rezessiven Merkmal, das nur als Stamm-
charakter auftritt. Die Hälfte aller Individuen
wird sich weiterhin konstant verhalten, die
Hälfte wird wieder aufspalten nach dem
Verhältnis 3:1. Wenn A das dominante Merk-
mal bezeichnet und a das rezessive, so hat der
Bastard die Formel Aa, und wenn wir annehmen,
daß bei der Bildung der Geschlechtszellen A und
a sich wieder trennen, daß sie „spalten", wie man
heute sagt, so erhält die Hälfte aller Geschlechts-
zellen, seien es Ei- oder Pollenzellen, A, die an-
dere Hälfte a. Bei Selbstbefruchtung sind nun-
mehr vier Kombinationen möglich. Es kann sich
vereinigen: Eizelle A mit Pollenzelle A ^ AA =
konstant weiter züchtende Form mit dem domi-
nanten Merkmal, Eizelle A mit Pollenzelle a = Aa =
Bastardform mit dem dominanten Merkmal , Ei-
zelle a mit Pollenzelle A = aA =- Bastardform mit
dem dominanten Merkmal, Eizelle a mit Pollen-
zelle a = aa ^ konstant weiter züchtende Form
mit dem rezessiven Merkmal. Da nach den Re-
geln der Wahrscheinlichkeit alle vier Kombina-
tionen durchschnittlich gleich oft verwirklicht
werden, und da drei von ihnen äußerlich gleiche
Formen geben werden, so erklärt sich damit ohne
weiteres das Verhältnis 3:1. In der Annahme
einer reinlichen Spaltung der im Bastard
vereinigten Merkmalsanlagen der beiden Eltern
bei der Bildung der Geschlechtszellen des Bastards
war also der einfache Schlüssel für das Verständnis
des regelmäßig sich wiederholenden Zahlenverhält-
nisses gefunden. Wir bezeichnen diese zweite
Mendelsche Regel heute als die S p a 1 1 u n g s -
regel und sprechen auch von einer „Reinheit
der Gameten", wenn wir die Tatsache beson-
ders betonen wollen, daß das „unreine" Individuum,
der Bastard, nur „reine" Geschlechtszellen bildet,
in denen die Anlagen der gegensätzlichen Merk-
430
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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male wieder getrennt sind, ohne daß sie sich
gegenseitig irgendwie beeinflußt haben.
Die dritte IVI e n d e 1 sehe Regel ergab sich aus
den Experimenten, wo bei der Kreuzung gleich-
zeitig das Verhalten mehrerer Merkmalspaare
verfolgt wurde. So besaß bei einem Versuch
der eine Elter die Merkmale glatte Samen und
gelbe Kotyledonen, der andere Elter die Merkmale
kantige Samen und grüne Kotyledonen. Die
erste Bastardgeneration hatte einheitlich runde
Samen und gelbe Kotyledonen, rund und gelb
sind also die beiden dominanten Merkmale. Bei
Selbstbefruchtung erschienen in der zweiten Nach-
kommengeneration wieder die rezessiven Merk-
male in dem bekannten Verhältnis 3:1. Die
Merkmale traten nun aber nicht nur in der
gleichen Verbindung wieder auf wie bei den
Ausgangsindividuen, sondern es entstanden auch
neue Kombinationen: F"ormen mit kantigen Samen
und gelben Kotyledonen sowie Formen mit runden
Samen und grünen Kotyledonen. Die vier mög-
lichen Kombinationen standen zahlenmäßig in
bestimmtem Verhältnis zueinander, es waren von
556 Individuen 315 rund und gelb, lOl kantig
und gelb, 108 rund und grün, 32 kantig und grün.
Das ist ein Verhältnis von ungefähr 9:3:3:1,
und dieses Verhältnis wurde in der zweiten Nach-
kommengeneration immer wieder gefunden, wenn
zwei Merkmalspaare im Spiele waren, gleichgültig,
welche Merkmale es waren, und von welcher
Seite her und in welcher Kombination sie in die
Kreuzung eintraten. Auch dafür bietet sich
wieder ein sehr einfacher Schlüssel. Wir müssen
diese Zahlen wieder nach den Regeln der Wahr-
scheinlichkeit erhalten, wenn die beiden Merk-
malspaare voneinander völlig unab-
hängig sind. Bezeichnet A bzw. a das eine,
B bzw. b das andere Merkmalspaar, so hat der
Bastard die Formel AaBb. Er bildet vier ver-
schiedene Geschlechtszellen , AB , Ab , aB , ab,
und diese ermöglichen 4X4=16 verschiedene
Kombinationen, die aber teilweise äußerlich gleich
gestaltet sind. Wie leicht ausgerechnet werden
kann, müssen bei zwei Merkmalspaaren in der
zweiten Bastardgeneration vier verschiedene
Formen auftreten in dem Verhältnis 9:3:3:1,
und unter diesen 16 Individuen muß, wenn die
Erklärung richtig ist, in jeder Gruppe eines sein,
das seine Merkmale konstant vererbt, während
die übrigen hinsichtlich eines oder beider Merk-
male wieder spalten. Für diese theoretische
Forderung ergab sich denn auch aus den weiteren
Experimenten Mendels eine Bestätigung.
Wurden drei Merkmalspaare bei der Kreuzung
verfolgt, so erwiesen sich auch diese als völlig
selbständig und unabhängig voneinander, und
dasselbe war der Fall, wenn alle sieben von
Mendel genauer studierten Merkmalspaare gleich-
zeitig im Spiele waren. Je größer die Zahl der
Merkmalspaare, desto größer ist auch die Zahl
der verschiedenen (lamcten, die der Bastard
produziert, desto größer ist damit zugleich die
Zahl der möglichen Gametenkombinationen sowie
der verschiedenen Typen. Bei sieben Merkmals-
paaren beträgt die Zahl dieser letzteren 2'=i2S.
Alle diese Typen erhielt Mendel auch. Damit
haben wir auch die dritte Mendelsche Regel,
die Unabhängigkeitsregel, kennengelernt.
III.
In der ersten Zeit, die der Wiederentdeckung
Mendels folgte, war man mit Erfolg bemüht,
die Gültigkeit der Mend eischen Regeln an
möglichst vielen Objekten zu prüfen. Man unter-
suchte den Erbgang der verschiedensten Eigen-
schaften bei Pflanzen und Tieren jeder größeren
Gruppe, von den einfachsten Protisten bis zu den
höchststehenden Phanerogamen einerseits und den
Säugetieren andererseits, und immer wieder
fanden sich neue Eigenschaften, die „mendelten".
Es ist verständlich, daß man zunächst in erster
Linie morphologische Merkmale untersuchte, die
sich leicht verfolgen ließen. So sind Farbe,
Zeichnung und F"orm einzelner Teile oder des
Gesamtorganismus von Anfang an Lieblings-
merkmale der Mendelianer gewesen. Dies hat
vielfach zu der Anschauung geführt, es seien nur
solche „oberflächlichen", für den Organismus mehr
oder weniger gleichgültigen Merkmale, wie die Farbe
der Blüten und Samen oder die Farbe der Augen,
wie die Form der Blätter oder der Haare, die
nach den Mendelschen Regeln vererbt werden.
Nichts ist irriger als eine derartige Ansicht. Der
Wert oder Unwert einer Eigenschaft hat mit
deren Erbgang nichts zu tun. Es mendeln lebens-
wichtige Eigenschaften ebenso wie „oberflächliche"
Merkmale, normale Eigenschaften ebenso wie
krankhafte, morphologische wie physiologische,
physiologisch -chemische wie chemisch - physika-
lische, körperliche wie psychische Merkmale. Es
mendeln, um aus der großen Zahl von Beispielen
nur einige herauszugreifen, die Rostwiderstands-
fähigkeit und die Winterfestigkeit beim Weizen,
die Kälteempfindlichkeit und eine gewisse Blatt-
krankheit der Wunderblume, die chemische Zu-
sammensetzung der Samen beim Mais, die
chemische Zusammensetzung der Hämolymphe
der Schmetterlinge, die Fruchtbarkeit der Hühner,
die Wüchsigkeit der Enten, der Schrittgang des
Pferdes, gewisse Krebsgeschwülste bei P'liegen,
das Tanzen der japanischen Tanzmäuse, die Rot-
grünblindheit und die Bluterkrankheit des Menschen
sowie Stoffwechselkrankheiten wie die Alkaptonurie.
P"ür einzelne geistige Fähigkeiten des Menschen,
wie musikalische und mathematische Begabung,
ist mendelnde Vererbung wenigstens wahrschein-
lich gemacht. Für gewisse tierische Instinkte
wissen wir bereits, daß sie mendeln. Wenn wir
z. B. eine Schlupfwespenart, die ihre Eier in die
Eier von Wasserjungfern legt, mit einer anderen
kreuzen, die ihre Eier in die Eier von Wasser-
käfern absetzt, so erhalten wir eine erste Bastard-
generation, deren Weibchen ausschließlich an die
Wasserkäfereier gehen; dieser Legeinstinkt ist
N. F. XXI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
431
dominant. In der nächsten Generation aber treten
wieder Weibchen auf, die ihre Nachkommenschaft
in den Wasserjungferneiern unterbringen. Schließ-
lich sei noch daran erinnert, daß das Geschlecht
mit seinem gesamten Merkmalskomplex zu den
mendelnden Eigenschaften gehört. Zusammen-
fassend läßt sich sagen, daß fast alle auf ihr
erbliches Verhalten untersuchten Eigenschaften
mendeln, nur ganz wenige haben, soweit wir
heute wissen, einen anderen Vererbungsmodus.
Freilich — die meisten von den hier genannten
Eigenschaften zeigen keinen so einfachen Erbgang,
wie ihn Mendel bei den von ihm untersuchten
Merkmalen fand. Es war ein besonderes- Glück,
daß M e n d e 1 in seinen ersten Experimenten lauter
solche einfachen Fälle in die Hände gerieten, denn
wie hätte er sich sonst in dem Wirrwarr der Er-
scheinungen zurechtfinden, wie Gesetzmäßigkeiten
auffinden können ? Die einfachen Mendel- Fälle
mußten das Fundament bilden, auf dem dann erst
im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte der mächtige
Bau des Mendelismus errichtet werden konnte.
Die Entdeckungen Mendels und seiner Nach-
folger haben zunächst zur Ausgestaltung der
Faktorentheorie geführt. Für alle mendeln-
den Eigenschaften muß in den Keimzellen irgend-
ein Etwas, ein selbständiges Element, eine An-
lage vorhanden sein, durch die das Merkmal auf
die nächste Generation vererbt wird. Es ist ja
nicht die Eigenschaft selbst, die einfach
weitergegeben, von Generation zu Generation
übertragen wird, sondern das Vorhandensein von
bestimmten Erbanlagen veranlaßt, daß sich die
ganz bestimmte Eigenschaft der Vorfahren bei
den Nachkommen neu entfaltet. Diese Erb-
anlagen bezeichnen wir heute im allgemeinen als
Erbfaktoren oder Gene. Die Erbmasse eines
jeden Individuums muß, entsprechend der großen
Zahl mendelnder Merkmale, aus einem außer-
ordentlich kompliziert zusammengesetzten Mosaik
derartiger Erbfaktoren bestehen. Bei jeder Be-
fruchtung wird dieses Mosaik neu kombiniert.
Ei- und Samenzelle bringen für jedes mcndelnde
Merkmal Erbfaktoren mit, und von der Zusammen-
setzung des neuen Faktorenmosaiks hängt es in
erster Linie ab, wie das Lebewesen, das aus dem
befruchteten Ei hervorgeht, aussieht. Sind die
für ein bestimmtes Merkmal — in Mendels
Untersuchungen z. B. die Gestalt der Samen —
von den beiden Geschlechtszellen beigesteuerten
Erbfaktoren völlig gleich beschaffen, so werden
sie bei der Entfaltung des Merkmals zusammen
in gleicher Richtung wirken, sind sie aber ver-
schieden , wie bei den Bastarden , so werden sie
in Wettstreit treten, und von dem Ausgang dieses
Wettstreites hängt es ab, ob das eine Merkmal
über das andere dominiert, oder ob eine Zwischen-
form, ein intermediärer Bastard, zustande kommt.
Welches die Ursachen der Dominanz sind, ist
auch heute noch nicht völlig klar, doch scheint
neuerdings manches darauf hinzuweisen, daß neben
den qualitativen Wirkungen vor allem auch quan-
titative Verschiedenheiten der betreffenden Erb-
faktoren dabei eine Rolle spielen. Soviel ist
jedenfalls sicher — und das wird ja durch die
erste Mendelsche Regel, die Uniformitätsregel, zum
Ausdruck gebracht — , daß bei gleicher Kombi-
nation verschiedener Erbfaktoren im allgemeinen
auch die Produkte gleich beschaffen sind.
Wenn das Individuum seine Geschlechtszellen
bildet, werden die von Vater und Mutter stam-
menden homologen Erbfaktoren , die A 1 1 e 1 o -
m o r p h e n , wieder getrennt, sie spalten, wie das
Spaltungsgesetz sagt, und zwar gleichgültig, ob
die beiden Faktoren gleich beschaffen , homo-
zygot, sind, oder ob es sich um verschieden-
wertige, heterozygote Allelomorphen handelt.
Das reinrassige Individuum unterscheidet sich also
hinsichtlich der Spaltung der Erbfaktoren in den
Geschlechtszellen nicht von dem Bastard. Der
Unterschied liegt nur darin, daß beim Bastard die
Spaltung bei den Nachkommen in Erscheinung
tritt, bei dem reinrassigen Individuum nicht. Die
Spaltung ist auch bei den Bastarden immer voll-
kommen reinlich. Wenn auch der das rezessive
Merkmal bedingende Faktor im Bastard nicht in
Funktion tritt, so bleibt er doch völlig unverän-
dert durch das „Zusammenleben" mit dem Partner,
der das dominante Merkmal bedingt. Wir können
den rezessiven Faktor Generation für Generation
immer wieder mit dem dominanten P'aktor kom-
binieren, ihn sozusagen in den dauernden Ruhe-
stand versetzen , und wenn wir dann schließlich
ihn doch wieder zur Wirksamkeit kommen lassen,
indem wir ihn mit seinesgleichen verbinden, so
wird das rezessive Merkmal genau so unverändert
in Erscheinung treten wie Generationen vorher,
der Faktor ist ,,rein" geblieben. In diesem Sinne
spricht man von einer „Reinheit der Gameten",
mit der also eigentlich eine „Reinheit der Erb-
faktoren" gemeint ist.
Die Trennung der durch die Befruchtung ver-
einigten Faktoren erfolgt in den Geschlechtszellen
so, daß jede Zelle einen vollständigen Faktoren-
satz erhält, in diesem Satz aber sind die mütter-
lichen und väterlichen Faktoren bunt durchein-
andergewürfelt, die Kombination geht nach den
Zufallsgesetzen vor sich , nach dem Gesetz der
freien Kombination, wie wir die Unabhängigkeits-
regel Mendels heute auch nennen können.
Wäre nun jedes einzelne Merkmal des Orga-
nismus durch einen einzelnen Faktor bedingt,
würde dem Einheitsfaktor das Einheitsmerk-
mal entsprechen, so wäre es ein Leichtes, Erb-
analysen durchzuführen und für jeden Organismus
seine Erbformel aufzustellen. Aber die einfachen
Mendel-Fälle treten immer mehr zurück gegenüber
der großen Zahl komplizierter Fälle, die zunächst,
als man sie entdeckte, als „Ausnahmen" von den
Mendelschen Regeln erschienen, und angesichts
so vieler „Ausnahmen" glaubten manche, den
Mendelschen Regeln nicht den Rang von Natur-
gesetzen zuerkennen zu dürfen. Meute haben
fast alle diese scheinbaren Ausnahmen ihre Er-
432
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 31
klärung gefunden und sind in Einklang mit
Mendel gebracht. Es hat sich herausgestellt,
daß sie uns nur deshalb als „Ausnahmen" er-
schienen, weil wir den Mechanismus der Ver-
erbung, in den uns Mendel den ersten Einblick
hat tun lassen, noch nicht genügend kannten. Es
würde den Rahmen dieser Skizze weit über-
schreiten, wollten wir Schritt für Schritt verfolgen,
wie dieser Mechanismus in den letzten zwei Jahr-
zehnten immer weiter klargelegt worden ist. Poly-
merie, Kryptomerie, Epistase , Hypostase , Ver-
stärkungs-, Abschwächungs-, Verdünnungs-, Hem-
mungsfaktoren usw. — Begriffe, mit deren Auf-
zählung wenigstens kurz angedeutet sei, in wel-
cher Richtung ein Teil der Komplikationen der
Me ndel- Phänomene liegt. Immer mehr ge-
wöhnt man sich daran, das einzelne Merkmal
als das Produkt des Zusammenwirkens
zahlreicher Erbfaktorenpaare zu betrach-
ten, und wenn von diesen Paaren bei der Kreu-
zung mehrere verschieden sind, so ist eine ver-
wickelte Aufspaltung in der zweiten Bastard-
generation die P'ülge. Wenn aber der Mende-
lismus derart in die Tiefe gegangen ist, so
ist das vor allem dem Zusammenwirken zweier
Disziplinen zu verdanken, der gemeinsamen Arbeit
von experimenteller Bastardforschung und Zyto-
logie. Schon vor Mendels Wiederentdeckung
hatten die Zellforscher sich daran gemacht, das
materielle Substrat der Vererbung genauestens zu
studieren. Sie waren zu dem Ergebnis gelangt,
daß die Träger der Vererbung in den Chromo-
somen zu suchen sind, und als man nun deren
Verhalten mit dem der von den Mendelianern
postulierten Erbfaktoren verglich, da wurde man
mit Staunen gewahr, daß das eine dem anderen
völlig entspricht. Zwar machte sich bei einigen
der bedeutendsten Mendelianer zunächst ein heftiger
Widerstand gegen diese Verbindung zweier For-
schungsrichtungen geltend, heute aber haben auch
die größten Skeptiker unter ihnen sich bekehrt,
und eine Vererbungswissenschaft ohne Zytologie
ist schlechterdings undenkbar. Kein mit den Tat-
sachen Vertrauter vermag heute noch zu bestrei-
ten , daß die mendelnden Erbfaktoren in den
Chromosomen lokalisiert sind, und auch das steht
unwiderleglich fest, daß bestimmte Chromo-
somen bestimmte Erbfaktoren tragen. Die
Entdeckung der Geschlechtschromosomen und der
geschlechtsgebundenen Vererbung war die erste
Etappe auf dem Wege zu diesem Nachweis. Es
gelang dann, auch einzelne andere Chromosomen
aus dem normalen Bestände zu entfernen und auf
diese Weise sich über die in ihnen enthaltenen
Erbfaktoren Klarheit zu verschaffen, und mit einer
erstaunlichen Schnelligkeit mehren sich in den
letzten Jahren und Monaten die Methoden, den
Mechanismus der Vererbung aus seinem normalen
Geleise zu bringen und auf diese Weise ihn
noch genauer zu ergründen.
Im Verlauf dieser gemeinsamen Arbeit von
Zytologie und Bastardforschung sind uns nun
auch in den letzten Jahren weitere Vererbungs-
gesetze bekannt geworden, die sich dem Spaltungs-
gesetz und dem Gesetz der freien Kombination
anreihen, das Koppelungsgesetz und das Austausch-
gesetz. Schon in den ersten Jahren nach
Mendels Wiederentdeckung war man mit Fällen
bekannt geworden, wo mehrere Merkmale nicht
unabhängig voneinander vererbt wurden, sondern
sie blieben meist beisammen, erwiesen sich als
„gekoppelt"; auch das Gegenteil wurde beob-
achtet, die Merkmale „stießen sich ab". Daß der
Entdecker dieser Erscheinung nicht gleich auf die
richtige Erklärung für diese „Ausnahmen" kam,
sondern eine uns heute ganz absonderlich an-
mutende Hypothese aufstellte, liegt wohl aus-
schließlich daran, daß er zu denen gehörte, welche
bis in die jüngste Zeit der Zytologie nur wenig
Beachtung schenkten. Heute begegnet die An-
nahme kaum noch einem Zweifel , daß die
Koppelung auf die Lokalisierung der betreffenden
Erbfaktoren in ein und demselben Chromosom
zurückzuführen ist. Der Geltungsbereich des Ge-
setzes der freien Kombination endet also, wenn
es sich um Faktoren des gleichen Chromosoms
handelt. Aber auch das Koppelungsgesetz er-
fährt wieder eine Einschränkung. Zwischen homo-
logen Chromosomen können Stücke ausgetauscht
und damit die Koppelung der Faktoren durch-
brochen werden. Wie dieser Austausch vor sich
geht, darüber sind die Meinungen noch geteilt,
doch werden wir wohl auch hier bald Klarheit
gewinnen. Die beobachteten Austauschphänomene
haben sogar zu bestimmten Vorstellungen über
die Anordnung der Faktoren in dem einzelnen
Chromosom geführt, man hat topographische
Karten der Chromosomen entworfen, in die alle
bekannten Faktoren ihrer Lage nach eingetragen
sind. Doch wir sind damit in die vorderste Linie
gelangt, wo mit zahlreichen Kräften an dem Aus-
bau des Mendelismus gearbeitet wird. Wir wagen
es heute vorauszusagen, daß wir einer voll-
kommenen Klarlegung des Mechanismus der
Vererbung nicht mehr fern sind. Der mendelisti-
schen Forschung freilich bleiben auch daim noch
reiche Aufgaben. Es gilt, nunmehr die Physio-
logie der Vererbung zu ergründen. Wir wissen
bisher noch kaum etwas über die Natur der Gene,
wir wissen auch noch nichts über ihre Ver-
änderungen, die Mutationen. Und noch ein
zweites großes Feld der Betätigung bleibt dem
Mendelismus, die Anwendung in der Praxis, in
Pflanzen- und Tierzucht sowie in der menschlichen
Erbkunde. Bisher hat ja eigentlich nur die Pflanzen-
zucht bereits wirklichen Gewinn aus dem Mende-
lismus gezogen, und doch kann kein Zweifel sein, daß
Mendels Entdeckungen auch auf anderen Gebieten
noch eine große Rolle zu spielen berufen sind.
Das beigegebene Bild Mendels ist dem Werke von
A. Lang, Die experimentelle Vererbungslehre in der Zoologie
seit 1900, Verlag von G. Fischer, Jena 1914, entnommen.
Illlialt: II. Xachtsheim, Gregor Mendel und sein Werk. (l Abb.l S. 425.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miche, Berlin N 4, Invalidenstraßc 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der O. Pätz'srhrn Bnchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen J^eihe 37. Band.
Sonntag, den 6. August 1922.
Nummer 33.
Neue Grundlagen für den einheitlichen Aufbau des Grundstoff-Systems
in mathematischer Ableitung.
Von Prof. Dr. E. Nickel, Frankfurt a. d. O.
[Nachdruck verböte
I. Betrachtungen über die veränder-
lichen und konstanten Werte desGrund-
stoffsystems. *)
Die Natur eines Grundstoffes hängt von zwei
VeränderHchen ab; nicht allein von dem Atom-
gewicht, wie man früher glaubte, sondern auch
von der Ordnungszahl. Für das System der
Grundstoffe ergibt sich sonach im graphischen
Felde ein System von Punkten , von dem die
Abb. I uns ein schematisches, ausschnittmäßiges
Bild geben soll ; die Achsen sind dabei, um Raum zu
sparen, viel zu dicht an den Kern der Abb. ge-
legt (vgl. auch Abb. 3, deren Einzelheiten später
erklärt werden). Innerhalb gewisser enger, regio-
naler Grenzen, die im graphischen Felde zonen-
artige und dreieckige Gebiete darstellen, sind die
beiden Veränderlichen von einander unabhängig;
die Grenzen dieser Unabhängigkeitsgebiete sind
durch lineare Funktionen gegeben. Während die
Atomgewichte vom Wasserstoff bis zum Uran
die Werte von i bis rund 238 durchlaufen, er-
streckt sich der Bereich der zweiten Veränder-
lichen nur auf die Zahlen i bis 92. (Für die
graphischen Darstellungen wird man wegen des
ungleichen Umfangs der beiden Zahlenreihen je
nach dem Zwecke die Maßstäbe für das Atom-
gewicht und die Ordnungszahl verschieden wählen.)
Nach den Vereinbarungen in der Bunsen-
gesellschaft im Jahre 1920 soll für die Ordnungs-
zahlen fortan der Buchstabe Z verwandt werden.
Dementsprechend bezeichnet man das Atom-
gewicht wohl am besten mit dem Buchstaben P.
Die Ordnungszahl Z hat ursprünglich nur die
Bedeutung als St eilen zahl im periodischen
System, aber es ist noch eine zweite Bedeutung
hinzugetreten und zwar die als Kernzahl bzw. die
spektroskopische. Der Wert der Ordnungszahl
im ersten Sinne wird scheinbar freilich durch die
Hypothesen über die Lücken, die im Grundstoff-
system vorhanden sind, subjektiv beeinflußt; nimmt
man z. B. zwischen dem Wasserstoff und dem
Helium einen fluorähnlichen Grundstoff mit P = 3
als möglich an, dann würde dem Helium nicht
die Stellenzahl 2, sondern3 zukommen. Die Ent-
scheidung darüber ist jedoch schon erfolgt, denn
Mit 3 Texlabbildungen.
der Wert der Stellenzahl im zweiten Sinne wird
von dem subjektiven Ermessen ganz unabhängig;
er wird durch Experimente objektiv feststellbar.
In dem engen Rahmen des periodischen
Systems bilden Ordnungszahl und Atomgewicht eine
Art Parallelerscheinung; jedem Grundstoff wird
eine Ordnungszahl und jeder Ordnungszahl nur
ein Grundstoff zugewiesen. Wir erstreben hier
aber für das Grundstoffsystem einen neuen
Rahmen, in dem für die beiden Veränderlichen
P und Z gewisse Freiheiten dargestellt werden
können, die die schon erwähnten Zonen und
Spielraumgebiete ergeben.
') Die mathematisch-chemische Methode, die der nach-
stehenden Arbeit zugrunde liegt, ist von mir in ihrer Anwen-
dung auf andere Gebiete der Chemie bereits in den Jahren
1892 — 1894 entwickelt und in einer Reihe von Veröffent-
lichungen über „graphochemisches Rechnen" in der ,,/cil-
schrift für physikalische Chemie" niedergelegt worden.
Wenn wir nun zwei Grundstoffe vergleichen
wollen, so müssen wir nach ihrer Lagerung im
graphischen Felde (vgl. Abb. i) zwei Hauptgruppen
unterscheiden: Grundstoffgemeinschaften wie E' E"
bzw. E' F", deren Lagerung den Koordinaten-
achsen parallel geht, und solche Gemeinschaften
wie E'G' oder E"G', deren Lagerung den Koor-
dinatenachsen nicht parallel geht. Grundstoffe
wie E' und F" haben zwar die gleiche Ordnungs-
zahl, aber verschiedene Atomgewichte, während
umgekehrt Grundstoffe wie E' und E" zwar gleiches
Atomgewicht, aber verschiedene Ordnungszahlen
besitzen. Beide Arten von Grundstoffgruppen
waren früher nicht bekannt; jetzt dagegen spielen
Grundstoffe wie ¥.' und F" als Isotope Grund
434
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
Stoffe oder Plejaden in der Atomforschung eine
sehr wichtige Rolle. Um eine einheitliche Be-
zeichnungsweise mit den anderen Grundstoffge-
meinschaften zu gewinnen, möchte ich die Isotopen
als Ordnungsgemeinschaften bezeichnen;
für Grundstoffe mit gleichem Atomgewicht und ver-
schiedenen Ordnungszahlen hat man noch keinen
besonderen Namen eingeführt. Sie wurden zuerst
beachtet, als das Wesen der /3-Strahlen richtig
erkannt worden war. Bei der /3-Strahlung bleibt
zwar das Atomgewicht des durch die Strahlung
entstandenen Grundstoffs E" ebenso groß wie
das des primären Grundstoffs E'; aber die
Ordnungszahl- steigt durch eine /?- Strahlung um
eine Einheit, und bei Wiederholung der /S-Strahlung
für E" und Bildung des atomgewichtsgleichen
Grundstoffs E'" um zwei Einheiten bezogen auf E'.
Man kann Grundstoffe dieser Art im Anschluß
an die Ordnungsgemeinschaften als Atom-
gewichtsgemeinschaften bezeichnen, oder
für Grundstoffe mit chemischer Strahlung auch
als ^-Gemeinschaften in engerem Sinne.
Wie wir später sehen werden, handelt es sich
bei der ^-Strahlung um Umbau -Vorgänge im
Kern des Atoms, und deshalb läßt sich die Atom-
gewichtsgemeinschaft auch als Umbau- Gemein-
schaft kennzeichnen, soweit ein unmittelbarer
genetischer Zusammenhang vorliegt.
In der nächsten Gruppe von Grundstoffen, in
der Grundstoffgemeinschaft G'F'E", steigen gleich-
zeitig die Werte für die Atomgewichte und für
die Ordnungszahlen. Lange Zeit sah man in
dieser Art der Grundstoffgemeinschaften das all-
gemeine und ausschließliche Gesetz des Grund-
stoffsystems. In dem Anfangsgebiete der Grund-
stoffreihe von H bis etwa zum Ca ist das gleich-
zeitige Ansteigen beider Werte auch tatsächlich
das alleinherrschende Gesetz; es ist für dieses
kurze Stück der Grundstoffreihe zum Teil an-
nähernd, zum Teil genau P = 2Z.
Auch bei den radioaktiven Grundstoffen
kommen bei der «Strahlung Grundstoffgemein-
schaften im Sinne E"F'G' zur Geltung, die Grund-
stoffe bilden aber eine absteigende Linie. Im
Gegensatz zu den /^-Gemeinschaften können wir
diese Grundstoffgruppen als «-Gemeinschaften
kennzeichnen. Bei der «-Strahlung sinkt das Atom-
gewicht um 4 Einheiten, während die Ordnungs-
zahl um 2 Einheiten abnimmt. Im weiteren Sinne
soll der Ausdruck „«-Gemeinschaft" auch dann
noch gebraucht werden, wenn die oben ange-
gebenen Differenzen zwischen zwei Grundstoffen
vorliegen, ohne daß eine «Strahlung besteht.
Ihrem Wesen nach lassen sich die «Gemein-
schaften im Anschluß an die Umbaugemeinschatten
auch als Abbaugemeinschaften kennzeichnen;
als «Prinzip im weitesten Sinne wollen wir es
bezeichnen, wenn sowohl die Atomgewichts-
differenz zweier aufeinander folgender Grundstoffe
als auch ihre Ordnungsdifferenz positive Werte
ergibt; in der radioaktiven Richtung ergeben sich
dann natürlich zwei negative Werte.
Es bleibt noch der Fall zu erörtern, daß das
Atomgewicht fällt, während die Ordnungszahl
steigt. Diese Rückläufigkeit wurde in dem
periodischen System der Grundstoffe in 3 bzw.
4 Fällen festgestellt.
I II III IV(i9i8)
ZWert i8<i9 27<28 52<53 90<9i
Grundstoff A>K Co > Ni Te>J Th>Pa
Solange man an die Allgemeingültigkeit des
«-Prinzips glaubte, setzte man in den drei älteren,
schon länger bekannten Fällen fehlerhafte Be-
stimmungen des Atomgewichts voraus, bis wieder-
holte Nachprüfungen dieses Erklärungsverfahren
als unzulässig erwiesen. Allerdings konnte bei
diesen älteren Versuchen der Begriff der Isotopie
noch gar nicht zur Geltung kommen. — Zunächst
soll hier aber der Fall IV erst von allgemei-
nem Standpunkte aus behandelt werden.
Er schließt sich an den Begriff der Isotopie
an. Zwischen den beiden Isotopen Grundstoffen
E' und F", deren Atomgewichtsdifferenz im An-
schluß an die a-Strablung vier Einheiten betragen
möge, sei noch ein isotoper Grundstoff Q' mit
dem mittleren Atomgewicht vorhanden. Dieser
Grundstoff geht durch die /^-Strahlung in den
Grundstoff Q" über. Vergleichen wir nun die
Grundstoffe E' und Q" miteinander, so kommt
dem ordnungshöheren Grundstoffe Q" ein kleineres
Atomgewicht zu, als dem ordnungsniederen Grund-
stoffe E'.
Dieser Fall scheint bei dem Thorium und
Protaktinium vorzuliegen. (Neubu rger- Wien,
Das Problem der Genesis des Aktiniums; Samm-
lung Herz, Verlag Enke- Stuttgart, 192 1.)
Das Beispiel an sich ist sehr geeignet; leider
befinden wir uns noch auf etwas unsicherem
Boden, weil beim Protaktinium noch keine volle
Sicherheit über die Größe des Atomgewichts er-
reicht ist. Geben wir aber vorläufig dem Pro-
taktinium das Atomgewicht 230, so entsteht fol-
gendes Schema, das sich dem Teil E'Q'Q" der
Abb. I anschließt.
Z .... 90 91
Th 232
UY 230 Pa 230.
Vergleichen wir das Thor mit dem Protaktinium,
so kommt dem ordnungshöheren Grundstoffe Pa
das kleinere Atomgewicht zu.
Falls übrigens auch der Grundstoff E' ebenso
wie der Grundstoff Q' eine (^/-Gemeinschaft be-
sitzt, kann die Linie E'Q" abgelenkt werden : wenn
nämlich die Grundstoffe E' und Q' in der Natur
in isotopen Mischungen vorliegen, so muß das
,, mittlere" Atomgewicht der Mischung um so
höher ausfallen, je mehr das Isotop mit dem
höheren Atomgewicht überwiegt, und der Ver-
gleich der isotopen Mischung E'Q' mit der iso-
topen Mischung E"Q" kann graphisch in dem
Quadrat E'E"Q'Q", an Stelle der Diagonale E'Q"
mit theoretisch einfachen Verhältnissen, Trans-
versalen der verschiedensten Lagen ergeben. In-
N. F. XXI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
435
wieweit dies für die anderen ¥ä.\\e von Rückläufig-
keit des Atomgewichts in Frage kommt, soll erst
später genauer erörtert werden; jedoch sei hier
bereits darauf hingewiesen, daß durch das Kanal-
strahlverfahren für das Nickelmetall durch Aston
neuerdings zwei isotope Formen mit den Atom-
gewichten 58 und Co nachgewiesen worden sind;
als Präparat diente das Nickelcarbonyl. (Für das
Kobalt liegen noch keine gleichartigen Unter-
suchungen vor.) Die Anzahl der rückläufigen
Grundstoffgemeinschaften ist viel größer, als man
bisher beachtet hat; sie beträgt 20, wenn man
die neuesten Ergebnisse der Isotopenforschung
heranzieht. '
Wir fassen nun die gewonnenen Ergebnisse
in Form einer Tabelle zusammen und bezeichnen
dabei die Atomgewichtsdifferenzen zweier aufein-
ander bezogener Grundstoffe mit D, den Unter-
schied ihrer Ordnungszahlen mit A und die Größe
der Richtungskonstante mit A. Wegen des ver-
kürzten Maßstabes der P- Achse ist A = V-,^: -I-
Übersicht I.
Fall I
Fall II
Fall III
Fall IV
Null
pos.
Bezeichnung der
Gemeinschaft
pos.
Null
pos. \ pos.
(neg.) ! (neg.)
pos. 1 neg.
Ordnungsgemeinschaft; j
Plejaden; Isotopen 1 cx3
Atomgewichtsgemeinsch. }
bzw. ;i-Gemeinsch. Null
«-Gemeinschaften nebst 1
Erweiterung d. Begriffs I I, ^/j, 2
Rückläufige Grundstoff-
Gemeinsch. neg. ( — l)
Die Entwicklung der Werte für A, insbesondere der Werte
Vs ; 2 wird an späterer Stelle geliefert werden.
Um zunächst in dem weiteren Fortgang
unserer analytisch-geometrischen Betrachtung die
verschiedenen Gleichungen zu gewinnen, die den
Grundstoffgemeinschaften im Sinne der Abb. i
entsprechen, gehen wir am zweckmäßigsten gleich
von dem ganz allgemeinen Fall aus, daß
vier beliebige Grundstoffe E" und G', E'" und G"
graphisch miteinander verglichen werden sollen.
Wir haben dann auch gleich die allgemeinen
algebraischen Gesichtspunkte für unser Verfahren.
Sowohl die Gemeinschaft E"G' als auch die Ge-
meinschaft E"'G" bilden graphisch je eine Gerade.
Den algebraischen Ausdruck für diese beiden Ge-
raden stellen zwei lineare Funktionen dar, deren
Richtungskonstanten mit A bzw. A' bezeichnet
werden sollen. Die Abschnitte der beiden Ge-
raden auf der Ordinatenachse seien b und b'.
Die Gleichungen heißen dann:
y = Ax + b y = A'x + b'. I)
Entsprechend den früheren Festsetzungen er-
setzen wir die in der Mathematik üblichen Buch-
staben zum Teil durch die anderen schon er-
wähnten Zeichen, deren chemische Bedeutung
uns näher liegt; für x tritt die Ordnungszahl Z
ein, für y das Atomgewicht P. Um das Ausmaß
der Atomgewichte demjenigen der Ordnungs-
zahlen anzugleichen, empfiehlt es sich, für die
Atomgewichte den halben Maßstab der Ordnungs-
zahlen zu verwenden. Ihren algebraischen Aus-
druck findet die Maßnahme durch Vorsetzen des
F"aktors '/.^ vor den Wert P. Im graphischen Felde
dagegen kann man besser die vollen Werte für
die Atomgewichte einschreiben, weil dem Chemiker
diese Zahlen geläufiger sind als die halbierten
Werte. Die beiden Gleichungen der Reihe I
gehen dann über in die Form:
»/., P = A • Z + b V2 P = A' ■ Z + b'. II)
Für die a-Gemeinschaften als besonders ein-
fachen Fall nehmen diese Gleichungen eine ein-
fachere Form an; für sie ist D = 4, J = 2,
also bei Verwendung der halben Atomgewichte
V-, D = 2, d. h. der Wert V2 D ist ebenso groß
wie der Wert J. Wie die analytische Geometrie
lehrt, hängt die Größe der Richtungskonstante A
ab von dem Differenzen-Quotienten D : J. Für
die a-Strahler ist die Richtungskonstante A nach
dem vorstehenden in unserem graphischen Felde
2:2=1. Es entspricht das einem tangens-Werte
von 45", und die Gleichungen der Reihe II nehmen
die einfachere Form an:
1/, p = Z + b Vj P = Z + b'. III)
Im Grenzfalle wird der Wert der Konstante b
gleich Null, und wir erhalten dann die einfache
Gleichung :
V.,P = Z. IV)
Diese Gleichung kennzeichnet, wie bereits er-
wähnt, die Anfangsgruppe der Grundstoffe etwa
bis Ca, die den einfachsten Fall des «-Prinzips
verwirklichen; gehen wir darüber hinaus, so be-
anspruchen die Werte von b für jede neue «-Ge-
meinschaft einen immer größer werdenden Betrag.
Um die Bezeichnung einheitlicher zu gestalten,
sollen die Werte b und b' der Gleichungen der
Reihe III ebenfalls mit einem großen Buchstaben
bezeichnet werden, und zwar mit dem Buchstaben,
der im Alphabet neben Z steht, mit dem Buch-
staben Y bzw. Y'; eine Verwechselung mit dem
Grundstoffsymbol Y für Yttrium ist nicht zu be-
fürchten. Jeder dieser Werte Y kennzeichnet eine
«-Gemeinschaft; da diese Werte neben der
Ordnungszahl oder Kernzahl stehen, sollen sie
einfach als Nebenzahl oder Nebenkernzahl be-
zeichnet werden. Ihre theoretische Bedeutung
wird sich erst aus den späteren Betrachtungen
erklären. An Stelle der Gleichungen in Reihe III
treten für die a-Strahler nun die Gleichungen :
1/.3 P = Z -f Y V2 P = Z + Y'. V)
Im graphischen Felde entsprechen die Linien
No D N^ D' den Werten Y und Y'.
Als Zahlenbeispiel für die Gleichungen V
mögen die Werte der «Gemeinschaft Thor-Meso-
thor I dienen (Abb. 3); aus Gründen, die später
ausführlich behandelt werden sollen, sind die
Atomgewichtswertc auf volle Einheiten abgerundet.
430
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
P Z Y P Z Y
1/^.232=116 = 90 + 26 Vo- 228 =114 = 88 + 26.
Diese «Gemeinschaft wird also gekennzeichnet
durch die Nebenkernzahl 26, die konstant bleibt.
Die Gleichung
i/„ P = Z + Y,
die wir soeben für die «Strahlung benutzt haben, läßt
sich indes auch für ihren Gegensatz, die /J-Strahlung,
gebrauchen. Hinter der Gleichheit des algebrai-
schen Ausdrucks für beide Fälle verbirgt sich ein
großer Unterschied in der Deutung der Formel V :
es kommt nämlich sehr darauf an, welcher von
den drei Werten P, Z und Y als Konstante an-
gesehen wird. Für die ,i-Strahlung, bei der das
Atomgewicht sich nicht ändert, im Gegensatz zur
«-Strahlung, muß man den Wert P als Konstante
auffassen. Die Veränderlichen sind dann die
beiden Summanden Y und Z (die Hauptkernzahl
und die Nebenkernzahl); wird Z größer, so muß
Y entsprechend kleiner werden. Für die ^-Strah-
lung, für die Umbaustrahlung, ergibt sich deshalb
folgende Doppelgleichung :
\p:=Z + V = (Z+i) + (Y-i). VI)
Zur zahlenmäßigen Erläuterung diene die Wert-
aufstellung für die dreigliedrige /? -Gemeinschaft
Mesothor I, Mesothor II, Radioihor (W = Wertig-
keit).
V^P
1 Y + Z
Mesothor I
II
228
114
Mesothor U
III
22S
114
Radioihor
IV
228
114
114
114
114
Wie in dem früheren Zahlenbeispiel sind auch
hier für die Atomgewichte abgerundete Werte
angewandt.
Die Richtungskonstante A ist für die /S-Strah-
lung natürlich gleich Null. Für das graphische
Feld mit den Achsen P und Z hat die Gleichung VI
V2P (als Konstante) = Z-j-Y
keine unmittelbare Bedeutung, wir können aber
die Werte von Y, die Nebenkernzahlen , als
Liniensystem auffassen, das unter einem Winkel
von 45" durch das graphische Feld hindurchläuft,
was in der Abb. I durch die beiden Linien E"D
und E"'D' angedeutet ist : schreitet der Grundstoff-
Ort im graphischen Felde durch ;:?-Strahlung von
E" nach E'" fort, so sinkt die Nebenkernzahl, der
Y-Wert, um eine Einheit, während die Haupt-
kernzahl, der Z-Wert, um eine Einheit steigt. Wir
gewinnen damit eine erweiterte Auffassung der
zweiten Verschiebungsregel von Fajans und
S o d d y.
Außer den einfachen «- und /3-Gemeinschaften
kommen noch die umfassenderen Grundstoff-
gemeinschaften in Betracht, bei denen die Rich-
tungskonstante A = ■'/s ist (vgl. in Abb. i E'G').
Als Beispiel diene die weitgespannte Gemeinschaft
Hg Ca; die beiden Grundstoffe gehören der Zwei-
wertigkeitsspalte des periodischen Systems an.
Auch hier verwenden wir ganzzahlige Werte
Es ist
V2 D _ V2 • (200-40) _ 80 _ 4
A für Hg Ca
80—20 60 3
Auf dem Gebiete der radioaktiven Grundstoffe
entspricht dieser Richtungskonstante natürlich
eine bestimmte Strahlungsfolge, eine bestimmte
Ab- und Umbauordnung, und zwar die Folge aaß
oder ihre Umkehrung ßaa.
Den Zusammenhang der Grundwerte von D
und J mit den abgeleiteten Werten für die Rich-
tungskonstante erkennt man am besten aus der
folgenden Übersicht, in der nach den früheren
Festsetzungen die Richtungskonstante A = \ ., D : J
ist und w den ihr zugehörigen Winkel bedeutet.
Im ganzen lassen sich für die Richtungskonstante
mit Einschluß der beiden Grundfälle der «- und
/^-Strahlung fünf verschiedene Gesetze aufstellen,
die wir aber auch ganz unabhängig von jeder chemi-
schen Strahlung weniger bequem durch einen be-
stimmten Differenzen - Quotienten kennzeichnen
können. Den Ausgangspunkt der Betrachtung
bilden allerdings die beiden Versch iebun gs-
regeln von Fajans und Soddy.
Übersicht II.
Strahlung V-, D ^ A w
i) n — 2 — 2 I 45" I. D-.J-Geseu
2)
0
+ ■
0
0»
2. D-^-Gesetz
3) «+^
wie i) «
— 2
— 2
—I
— 2
2
63 Va»
3. D--y-Gesetz
4) «-f/S-f«
wie 3) «+,,'
wie 2) ß
—4
— 2
0
-3
— 1
Vs
2
0
53V6°
I4. D-_/-Gesetz ^
\ (Normalgesetz) )
5) «+/«+/*
00 90° 5. D-_/-Gesetz
(Isotopiegesetz)
Für Strahlungs perioden, z. B. aaßaaß, er-
geben sich natürlich dieselben Werte wie für die
einfache Strahlungsfolge, aus der sich die Periode
aufbaut. In der Reihe Thor bis Thor C" haben
wir z. B. die Strahlungsfolge 2a ß in zwei- und
dreifacher Periode (Abb. 3).
Das graphische Bild dieser rechnerischen Vor-
gänge ist sehr einfach (siehe Abb. i): gehen wir
z. B. für A = *,3 von dem Grundstoff E' aus, so
müssen wir parallel der P-Achse um 4 Einheiten
heruntergehen, und von dort parallel der Z-Achse
um drei Einheiten nach links, um den graphischen
Ort des abschließenden Grundstoffs der Gemein-
schaft ßäa in G' zu finden. Die graphische Ent-
fernung der beiden Grundstoffe beträgt $ Ein-
heiten, da es sich in dem Abstandsdreieck um
ein rechtwinkliges Dreieck mit den drei ersten
und einfachsten pythagoreischen Zahlen handelt.
Die radiogenetische Reihe E' G' hat noch zwei
Zwischenglieder, deren graphische Orte leicht zu
bestimmen sind: E" liegt wegen der ,:?-Strahlung
parallel der Z-Achse um eine Einheit nach rechts,
das andere Glied F', der «-Strahlung folgend, in
der IVIitte der diagonalartig verlaufenden Linie
N. F. XXI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
437
E"G'. Die Wertigkeitsfolge der beteiligten Grund-
stoffe ist, wenn der Wert IV als Ausgangspunkt
dient, IV, V, III, I. Die kennzeichnende Figur
der //««-Gemeinschaft ist also nicht das pythago-
reische Dreieck mit den Zahlen 3, 4, 5, sondern
das an dessen Hypotenuse angeschlossene Dreieck
li'E"G'. An seiner kleinsten und größten Seite
verläuft die genetische Linie der Grundstoffum-
wandlung in vier Generationen, die sich verhalten
wie die Reihe vom Urgroßvater bis zu dessen
Urenkel. Selbst wenn wir von einem chemisch
reinen Präparat des Grundstoffs E' ausgehen, so
muß dieses nach einer gewissen Zeit, wenn die
Halbwertzeiten nicht ungewöhnlich groß sind, in
nennenswerter Weise mit Grundstoffen der ganzen
Sippschaft (neben He) vergesellschaftet sein.
Durch Fortsetzung dieser Figur nach oben und
unten bekommen wir als allgemeines graphisches
Bild der radiogenetischen Vorgänge einen Zick-
zackweg; er setzt sich aus zwei Wegeinheiten
zusammen, die der «- und /3-Strahlung entsprechen
und die wir kurz als «-Weg und /?-Weg be-
zeichnen wollen. Wir sehen aus der Abbildung auch
anschaulich, daß das allgemeine Prinzip von Le
Chatelier in erweiterter Form auch auf das Gebiet
der Radioaktivität anwendbar ist. Wenn auf ein
im Gleichgewicht befindliches System von außen
oder von innen durch Zwang eine System-
änderung ausgelöst wird, so entsteht ein Gegen-
vorgang, der die Wirkung des ersten Vorgangs
aufzuheben sucht : die Umbautätigkeit im Atom-
kern ruft als Gegenwirkung die Abbautätigkeit
hervor, und umgekehrt, — aber die Abbautätigkeit
erweist sich als stärker.
T' Zu den einfachen Beziehungen, wie
sie sich bei der Auswertung der allgemeingültigen
mathematischen Formeln in den Zahlenbeispielen
zeigten, gelangt man nur, wenn mehrere Neben-
bedingungen erfüllt sind, die uns jetzt beschäftigen
sollen. In erster Reihe kommt die Ganzzahlig-
keit der Atomgewichte in Frage; die umfang-
reichsten Aufschlüsse darüber verdanken wir dem
„Kanalstrahlverfahren", das 1886 von Goldstein
begründet und besonders durch Aston für chemische
Zwecke ausgebildet ist. Durch dieses Verfahren
läßt sich die Doppelfrage entscheiden, ob Grund-
stoffe in isotopen Formen auftreten und ob ihnen
ganzzahlige Atomgewichte zukommen. Es hat
sich dabei ergeben, daß die IVlassen aller unter-
suchten Isotopen innerhalb der Grenzen der
experimentellen Genauigkeit durch ganze Zahlen
gegeben sind, wenn O = 16 als Einheit dient;
nur der Wasserstoff mit H = 1,008, für den keine
Nebenform nachgewiesen, macht eine Ausnahme.
Von diesem Falle abgesehen, ergab sich die Masse
aller anderen untersuchten Grundstoffe, die keine
Isotopen aufweisen, in zwölf Fällen als ganzzahlig.
Es bleibt noch zu untersuchen, warum die Atom-
gewichte dieser Grundstoffe, wenn die Zahlen
nach der chemisch-analytischen IVIethode festge-
stellt werden, kleine Abweichungen von der
Ganzzahligkeit ergeben, und zwar meistens erst
in der zweiten Dezimalstelle.
Kleinere Abweichungen von der Ganzzahlig-
keit, z. B. in dem Verhältnis H:He, hat man
übrigens neuerdings aus der „Relativität der Masse"
zu erklären versucht. Wir brauchen aber vor-
läufig auf diesen bedeutsamen Gesichtspunkt nicht
einzugehen, können vielmehr die Ganzzahligkeit
der Atomgewichte im Sinne der alten Prontschen
Hypothese, auf die man jetzt wieder zurückge-
kommen ist, als gesichert annehmen.
Auch wenn alle Grundstoffe einen konstanten
Überschuß über die Ganzzahligkeit besäßen, würden
die abgeleiteten Beziehungen noch zu Recht
bestehen.
Für den einfachen Ausbau unserer Gleichungen
ist indessen noch eine zweite Bedingung zu er-
füllen, die den Atomkern betrifft. Wir haben die
«-Strahlung zunächst rein algebraisch aufgefaßt;
ihrem Wesen nach ist sie erkannt worden
als die Ausstoßung elektrisch geladener Helium-
Atome aus dem Atominnern. Würden die Atome
mit P>4 nur aus Helium- Atomen bestehen, so
müßte sich die Atomgewichtsreihe darstellen
lassen durch die Formel:
P = 4n,
in der n, wie gewöhnlich, die Reihe der ganzen
Zahlen bedeutet. Die Atomgewichtszahlen ent-
sprechen allerdings vielfach jener Formel. Da-
neben gibt es aber Atomgewichte anderer Reihen,
so daß wir für die Darstellung aller Atom-
gewichtswerte neben jener Formel ergänzend noch
drei Additivsysteme einführen müssen:
P = 4n+i, P = 4n + 2, P = 4n + 3.
Die Atomgewichte erschöpfen die natürliche
Zahlenreihe ziemlich vollständig, soweit die Iso-
topenforschung schon hinreichend fortgeschritten
ist, wie aus folgender Aufstellung hervorgeht;
sie ist nur bis P = 43 durchgeführt, und es sind
in ihr die bei den Atomgewichten nicht aufge-
fundenen Zahlen ausgelassen und die noch un-
sicheren Werte eingeklammert worden.
Übersic
ht III.
4 ■ ■ 6, 7
He ■ ■ Li Li
9, 10, II
■ Be B B
12 •• 14, ■ ■
C ■■ N ..
16 • ■ •■ 19
0 •• Fl ..
20 (21) 22, 23
Ne (Ne) Ne Na
24, 25, 26, 27
Mg Mg Mg AI
28, 29, (30), 31
Si Si (Si) P
32 •• ■• 35
S ■■ ■• Cl
(36, 37 -39
A Cl •• K
I40, 41
ACa K • • . .
Aus dem ganzen vorliegenden Beobachtungs-
bestand ergibt sich, daß die Atomgewichts-
gleichheit bei den nicht radioaktiven Grund-
stoffen sehr selten ist; sie liegt bis jetzt nur
vor für A und Ca mit P = 40 und für eine
Nebenform des Hg mit P = 204, der das Tl als
/5^- Glied mit P = 204 an die Seite zu stellen ist.
438
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
Wenn die beiden Formen des /:?-strahlenden
Kaliums nach der zweiten Verschiebungsregel in
Ca übergehen, so müßte auch die Form Ca = 39
und Ca = 4i bestehen, so daß dann das Ca wie das
Mg in der Isotopie drei aufeinander folgende
Zahlen: 39, 40 und 41 aufwiese.
Ihrem Wesen nach müssen diese Systeme
so aufgefaßt werden, daß in den Atomen neben
Helium noch H-Atome als Bausteine eine Rolle
spielen; H und He sind demnach die beiden Ur-
grundstoffe. Eine experimentelle Stütze findet
diese Auffassung in den berühmten Versuchen
von Rutherford und Chadwick (Nat. W. 1921,
728); es gelang ihnen, durch «Strahlen aus dem
Atominnern Teilchen herauszuschleudern, die
man nach ihrer Reichweite als H-Atome an-
sprechen muß.
Übersicht IV.
Zerlegte Grundstoffe.
/- j . rr Ordnunes-
Grundstoff ,,^
zahl
P
Add.-Sysl
1) Bor 5
II
40 + 3
2) Stickstoff 7
14
4n + 2 1 1
3) Fluof 9
19
4n + 3
4) Natrium 1 1
23
41 + 3
5) Aluminium 13
27
40 + 3-
neben der Ganzzahligkeit des Atomgewichts auch
noch die Gleichheit im Kernbau aufweisen; sie
müssen isoadditiv sein. Wir müssen also die
Grundstoffe der Reihe 4n für sich betrachten,
ebenso die Grundstoffe der drei anderen Reihen
jede unter sich. Inwieweit die Grundstoffe mit
Isotopie den verschiedenen Reihen angehören,
zeigt die folgende Tabelle, in der M das mittlere
Atomgewicht bedeutet (vgl. Nat. Woch. 1922, Nr. 3).
Übersicht V.
Es ist nur eine kleine Anzahl von Grundstoffen
aus dem Additivsystem 4n -J- 3, bei denen der
Abbau durch «Strahlen erzwungen werden
konnte; die Mehrzahl der Grundstoffe dieses
Typus widerstand den «-Strahlen. Rutherford
nimmt zur Erklärung dieser Verschiedenheit an,
daß den H-Bausteinen nicht für alle Grundstoffe
eine gleichartige Lage, sondern eine mehr oder
weniger geschützte Lagerung im Atominnern
zukomme, so daß sie den «-Strahlen nicht immer
zugänglich sind.
Für die Einfacheit der algebraischen Be-
zeichnungen ist es nun störend, daß außer den
beiden Bausteinen H und He mit den Massen
I und 4 noch ein dritter Baustein mit der Masse 3
in Frage kommt, so daß auch mit den Reihen
P=3n, P = 3n+i, P = 3n + 2
zu rechnen ist; jedoch scheint der Baustein mit
der Masse 3 einen Ausnahmefall vorzustellen, der
fast nur bei den Anfangsgliedern des Grundstoff-
systems hervortritt : zuerst treffen wir ihn bei dem
Lithium, dessen Neben- und Hauptform die Atom-
gewichte 6 und 7 aufweisen ; das Li =^ 6 ent-
spricht dem Typus 3 n. Das Li :^ 7 entspricht
zwar algebraisch dem Typus 3n-|- i; es wird
aber aufgefaßt als 4 + 3 , als Vereinigung des
Heliumbausteins mit dem dritten Bausteine. In
N = 14 sieht Rutherford einen Vertreter der
Reihe 3n + 2.
Für unsere Betrachtung schließen wir uns
jedoch an die Systeme an, die bei den Grund-
stoffen vorherrschen, an das Helium-System 4n
und die Helium -Wasserstoff- Systeme 4n -(- i,
4n-}- 2, 4n -j- 3. Sollen sich einfache algebraische
Beziehungen ergeben, so müssen die Grundstoffe
Ordnun
»sgemeinschaften ode
Isotopen
z
M
4» + °
41+ '
4n + 2
41 + 3
Li 3
6,94
—
—
6
7
B 5
II
—
—
IG
II
Ne 10
20,2
20
(21)
22
—
Mg 12
24.32
24
25
26
—
Si 14
28,3
28
29
(30)
—
Cl 17
35.46
—
37
35
(39)
A 18
39,88
36
40
—
39
K 19
39.1
41
_
Ni 28
58,68
60
-
58
79
Ur 35
79,92
_
81
—
Kr 36
82,92
80
78
(82-84)
Kb 37
85,45
—
85
86
87
(128)
129
(■30)
131
X 54
130,2
132
136
~
134
~
Hg 80
200,6
(197-200)
204
-
202
■
Keine Nebenformen weisen auf:
die Grundstoffe H He Be C N Fl Na P S As J Cs
mit P = 1,08 4 9 12 14 19 23 31 32 75 127 133
Aus den beiden Aufstellungen ergeben sich
folgende Regeln:
1. Falls Nebengrundstoffe vorhanden sind,
zeigen die Atomgewichte eine Stuf enbildung,
die eine oder mehrere Einheiten, beim Xenon
sogar bis 8 Einheiten umfaßt;
2. bei den gerad- bzw. ungeradwertigen Grund-
stoffen herrschen die gerad- bzw. ungeradzahligen
Atomgewichte bzw. Atomgewichtsstufen vor. (Die
nullwertigen Grundstoffe sind dabei den gerad-
wertigen beigesellt. H gilt als 1,00. Die einge-
klammerten Werte sind als unsicher nicht mit-
gezählt).
Die zweite Regel trifft dann in 38 Punkten
zu, dagegen zeigen sich in 8 Punkten Abweichun-
gen: sie betreffen beim Li, Be und N Grundstoffe,
in denen der Baustein 3 angenommen wird. Die
Wertigkeit hängt also nicht ausschließlich mit
den „Elektronen", sondern auch mit dem Atom-
gewicht zusammen. Wir dürfen wohl annehmen,
N. F. XXI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
439
daß diese Beziehungen, die aus einer Reihe von
27 schon untersuchten Grundstoffen abgeleitet
sind, sich sinngemäß auch auf die übrigen 65
noch nicht untersuchten Grundstoffe übertragen
lassen.
Wir wenden uns deshalb zu dem Gebiet der
Grundstoffe, auf dem die Isotopie besonders
wichtig ist : zu den Grundstoffen mit den
Ordnungsnummern 81 bis 92. In dieser Reihe
liegt das Hauptgebiet der Radioaktivität, der
chemischen Strahlung. Ohne Nebengruiidstoffe
würden in der ganzen Reihe nur 12 Vertreter
vorhanden sein können, während bis jetzt 43 be-
kannt sind; bei ihnen überwiegen die beiden
Typen 4n und 4n -f- 2, der Thortypus und der
Urantypus.
Im Anschluß an die Verschiebungssätze können
wir sagen, daß kein radioaktiver Grundstoff aus
dem ihm eigentümlichen Typus heraustreten
kann, denn die a-Strahlung erniedrigt ja das
Atomgewicht immer um 4 Einheiten, und die
jS-Strahlung läßt das Atomgewicht unverändert.
Wir gewinnen dadurch für dieses Gebiet eine
theoretische Stütze für unser allgemeines algebra-
isches Erfordernis: daß Grundstoffe für uns nur
vergleichbar sind, wenn sie demselben System,
z. B. 4n, angehören. Die Ganzzahligkeit der
Atomgewichtswerte auf diesem radioaktiven Ge-
biete hängt natürlich von dem Atomgewicht der
beiden Ausgangspunkte Thor und Uran ab; die
theoretischen und experimentellen Untersuchungen
darüber sind noch nicht abgeschlossen. Ver-
mutlich wird auch hier die Ganzzahligkeit der
Atomgewichtswerte zu Recht bestehen ') mit der
Vorherrschaft der geradzahligen Werte, ent-
sprechend den Systemen 4n und 4n -|- 2.
Im Anschluß an das zweite Verschiebungs-
gesetz ergibt sich, daß die Geradzahligkeit des
Atomgewichts auch erhalten bleibt, wenn durch
/!?- Strahlung die Geradwertigkeit zur Ungerad-
wertigkeit wechselt: deshalb ist in dem Gebiete
der radioaktiven Grundstoffe die Ungerad zahlig -
keit des Atomgewichts der ungerad wert igen
Grundstoffe selten; jedoch kommt dem ungerad-
wertigen, nicht radioaktiven Wismut nach neueren
Untersuchungen nicht die alte Schneidersche Zahl
208, sondern der ungeradzahlige Wert 209 zu.
Ob in dem erörterten Gebiete der Baustein 3
eine Rolle spielt, ist noch unsicher; es wäre dann
der Übergang von den Systemen 4n und 4n-|-2
zu den Systemen 4n + i und 4n + 3 möglich.
II. Betrachtungen über Grundstoffe des
Systems 4n.
Bei den Grundstoffen P =: 4 n treffen wir die
algebraisch einfachsten Verhältnisse. Der Kern-
bau des Atoms enthält nur gleichartige Bausteine,
nämlich das Helium. Deshalb sind die Grund-
stoffe dieses Systems für die grundlegende Be-
trachtung am besten geeignet.
Wir haben bereits festgestellt, daß bei den
Grundstoffen die Umwandlungsordnung ßaa bzw.
«aß die Richtungskonstante ^/g ergibt. Dieser
Wert, der dem 4. D-^-Gesetz entspricht, ist nun
nicht nur für die radioaktiven Grundstoffe von
Bedeutung, sondern für das ganze Atoingewichts-
system, insbesondere für das System 4n. Der
Wert ■'/g ergibt sich einerseits für die Grundstoff-
gemeinschaft Thor- Magnesium, andererseits aber
auch für die Gemeinschaft BiCa; allerdings müssen
wir im letzten F"alle von einer Nebenform des Bi
(vom Typus 4 n mit P ^^ 208) ausgehen.
Th Mg A =
'/„(232— 24)_
90 — 12
V.208
78
'/i,(2oS— 40) _ '/;-i68 _ 84 _ J^ _ _i_
(83—20) ~ 63 ~ 63 ~ 3 ~ 3 '
') Vgl. z. B. Sommerfeld, Atombau, 2. Aufl. 1921,
S. 90.
Im graphischen Felde bildet jede der beiden
Grundstoffgemeinschaften eine gerade Linie; wegen
der gleichen Richtungskonstante müssen diese
Linien natürlich parallel gehen; ihre Gleichungen
lauten :
i.'l,F=^UZ-4. und 2. ^l,F=%,Z-6%.
Die von den beiden Linien eingeschlossene
Zone ist ziemlich eng, weshalb in der graphischen
Darstellung in Abb. 2 für die Ordnungszahl der
doppelte Maßstab, für das Atomgewicht dagegen
der halbe Maßstab der Einheit gewählt ist, damit
das Feld nicht zu umfangreich wird. — An und
in der festgesetzten Zone wandern nun die
graphischen Orte der Grundstoffe bzw. System-
stoffe der Gruppe 4 n nach bestimmten Gesetzen.
Die Breite der Zone, parallel der Z- Achse, ent-
spricht zwei Ordnungseinheiten oder zwei ß-
Strahlungen (vgl. Abb. i, Zone E'E"'G"'G').
Die linke Randlinie ist zunächst nur maß-
gebend für die Grundstoffolge vom Thor bis zum
Thor C" (Abb. 3). Von dort aus erfolgt durch
eine überzählige /:/-Strahlung der halbe Übergang
nach rechts mit der Bildung von Th D oder
Pb = 208.
Nach der Abbildung müssen wir uns diesen
Vorgang, der dem zweiten D_/ Gesetz entspricht,
von der Endstation der großen Radioaktivitäts-
reihe weiter fortgesetzt denken bis zum Bi = 208.
Eine /:? Strahlung beim Thor D ist nicht nach-
gewiesen ; aber eine chemische Strahlung konnte
in der Thorreihe auch beim Mesothor I nicht
nachgewiesen werden, das sich nach der /!/-Regel
in das Mesothor II umwandelt (Fajans „Radio-
aktivität" 1919, S. 46). Wenn bei einer Grund-
stoffumwandlung die chemische Strahlung fehlt
oder nicht nachweisbar ist, dann bleibt noch der
chemisch-analytische Nachweis für das Entstehen
eines Umwandlungsproduktes. Aber auch dieses
Verfahren kann auf Schwierigkeiten stoßen, wenn
die Halbwertzeit des sich umwandelnden Grund-
stoffs ungewöhnlich groß ist; zur Erläuterung
dienen uns die beiden p^-Strahler Kalium und
Rubidium, deren Strahlungsvermögen nur sehr
440
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. ?2
.230
220
200
no
uo
no
uo
100
«0
60
10
Tfi
5 10 15 10 I) }0 35 tO ^5 50 55
gering, und deren Halbwertzeiteii sehr groß sind,
bei Rb etwa lo" Jahre oder lOO Milliarden Jahre
betragen, bei Kalium noch mehr: auch bei ihnen
konnte ein Umwandlungsprodukt bis jetzt nicht
nachgewiesen werden. Die Vergesellschaftung
der nicht radioaktiven Grundstoffe auf ihren natür-
lichen Lagerstätten weist aber vielleicht auf ihren
inneren genetischen Zusammenhang hin.
Vom Wismut aus herrscht in unserer Ab-
bildung bis zum Ca die rechte Randlinie der
Zone vor, bis beim Ca wieder die linke Rand-
linie wirksam wird. Es bilden Argon und Calcium
eine Atomgewichtsgemeinschaft. Der Übergang
von rechts nach links kann natürlich nur nach
dem I. D- .-/-Gesetz erfolgen. Er beginnt schon
bei Fe. Für Fe =56 und A^40 ist D=i6,
V„D=8, während J = 8 ist, mithin A= i. Der
Übergang entspricht also der Strahlungsfolge 4«.
Der rechten Randlinie gehören nicht weniger
als 12 Grundstoffe des Systems 4n in regel-
mäßigen Perioden der Ordnungszahlen an; nach
gewissen größeren Perioden kehrt bei den Grund-
stoffen die gleiche Wertigkeit wieder, wie das
neben den anderen Gesetzmäßigkeiten die neben-
stehende Übersicht zeigt, in der M den mittleren
Atomgewichtswert angibt.
Die Übereinstimmung der Systemzahlen auf
der Basis 4n mit den mittleren Atomgewichten
ist ausreichend. Der Isotopenforschung ergeben
sich hier neue Anregungen. Bis jetzt ist von den
aufgezählten Grundstoffen nur beim Hg die Iso-
topie festgestellt; es ergaben sich nach der Über-
sicht I die Werte 202, 204 und ein Wert zwischen
197 und 200. — Es i.st auffallend, daß der durch
die Zeichnung verlangte Wert von 200 nicht auf-
Übersicht VI.
Z = 6n
+
2
M
P = 4a VsP
Y
V2P-V
20
Call
40,07
1 40 20
0
20
26
Fe
55.84
56 28
2
26
32
Ge
72,5
72 36
4
32
38
Srll
87,83
88 44
6
38
44
Ku
101,7
104 52
8
44
50
Sn
118,7
120 00
10
50
So
Ball
137,37
136 68
12
56
62
Sm
i=;o,4
152 76
14
62
68
Er
167,7
168 84
16
68
74
W
184,0
' 184 92
18
74
80
HgII
200,6
1 200 100
zo
80
20S 104 21
83
gefunden wurde, sondern nur seine Oberstufe 204,
die, wie erwähnt, mit Tl = 204 eine /t?-Gemein-
schaft bildet.
Wie aus der Übersicht VI hervorgeht, schreiten
die Werte Z der unabhängigen Veränderlichen
bis zu Hg in Abständen von 6 Einheiten vor-
wärt.s. Den Abschluß bildet die Gruppe Hg Bi
mit -/= 3. Die auf der Basis P = 4n berechneten
.Atomgewichte schreiten um 16 Einheiten vorwärts.
Die Nebenkernzahlen Y von Ca bis Hg schließlich
bilden die Reihe der graden Zahlen von o bis 18.
Es ist noch zu beachten, daß sich die „seltenen
Erden", für die sich der Rahmen des periodischen
Systems als zu eng erwiesen hat, sehr glatt in
die neue Darstellung des Grundstoffsystems ein-
fügen.
Will man, wie das bei Einzelfällen schon
angedeutet wurde, nach dem Vorbilde der
chemisch strahlenden Grundstoffe für alle Grund-
stoffe ohne Radioaktivität genetische Zusammen-
N. F. XXI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
441
hänge herstellen, so läßt sich das bei den radio-
aktiven Grundstoffen gewonnene Rückbildungs-
gesetz als 4. D-.J-Gesetz einheitlich auf das
ganze GrundstofTsystem übertragen; wir be-
schränken uns jedoch zunächst auf die Grund-
slofTe des Systems 4n. Zwischen je zwei Grund-
stoffen der Übersicht VI sind dann von Hg bis Ca
Umwandlungsvorgänge einzuschalten, deren Strah-
lungssymbol ßßaaaa wäre oder eine Umstellung
des Ausdrucks.
Im graphischen Felde (Abb. 2 und Abb. 3)
ergeben sich dafür von Hg bis Ca bei der Normal-
folge 2/?4ö 10 kongruente Dreiecke von der
F"orm, wie sie durch die drei Orte für Mg, Ca
und A gekennzeichnet ist. Es können aber auch
statt der großen Dreiecke solche von der halben
Ausmessung auftreten, entsprechend der halb so
großen Strahlungsfolge ßaa , die schon in der
Abb. I behandelt worden ist. An die Strecke
HgBi und die Strecke ThA-ThC" könnte man
solche Dreiecke nach der rechten Seite an-
schließen; aber für ThA und ThC" ist die
Strahlungsfolge nicht ßaa, sondern aßa, für die
sich im graphischen Felde zwei kongruente
Scheiteldreiccke ergeben (Abb. 3). Auch an die
Strecke ThThA ist nicht das Normaldreicck ACD
entsprechend ßßaaaa anzuschließen , sondern ein
weniger einfaches Bild, die der Strahlungs-
folge aßßaaa entspricht. Trotzdem können wir
die Strahlungsfolge 2/t?4«, das 4 D-^-Gesetz, als
das Durchschnittsgesetz bei der Rück-
bildung oder Auf baubildung im Grundstoffsystem
bezeichnen. Der Maßstab der Abb. 2 gestattet
nicht, die Zickzacklinie einzutragen, die uns den
genetischen Zusammenhang der radioaktiven
Grundstoffe des Systems 4n von Thor bis Thor C"
und Thor D vor Augen führt: für diesen Zweck
dient eine besondere Abbildung, Nr. 3, die uns
ein klares Bild aller Umwandlungsvorgänge in
der Thorreihe liefert und auch zur Erläuterung
bei den allgemeinen Bemerkungen mit großem
Nutzen für die Anschauung zum Vergleich heran-
gezogen werden kann.
Bei der für die Thorreihe angegebenen Strah-
lungsfolge ist zu beachten, daß an erster Stelle
für Z = 87 (Abb. 3) eine Lücke E bleiben muß;
sie ist im periodischen System trotz aller For-
schungen noch immer erhalten geblieben, während
zahlreiche andere Lücken inzwischen durch neu
entdeckte Grundstoffe besetzt worden sind. Das-
selbe wie für die Lücke Z = 87 gilt (Abb. 3)
für die Lücke neben D mit Z ^ 85 : beide hängen
genetisch zusammen. Bei der angegebenen Strah-
lungsfolge bedingt die erste Lücke die zweite im
Abstände von J ^^ 2.
Während die besagten Lücken so gewisser-
maßen theoretisch gerechtfertigt sind, müssen wir
nun untersuchen, ob sich bei anderer Strahlungs-
folge eine lückenlose Reihe von Grundstoffen in
bezug auf die Ordnungszahl ergeben kann. Es
ist dies der Fall für die kleinere Strahlungsfolge
(s. Abb. 1): setzen wir für G' auch /J- Strahlung
voraus, als Fortsetzung der oberen Strahlungs-
folge, so folgen ununterbrochen nach der Ord-
nungszahl geordnet folgende Grundstoffe aufein-
ander: G'; G"; F'; F" bzw. E'; E".
Es ist damit nachgewiesen, daß, je nach der
Strahlungsfolge, eine lückenlose Ordnungsreihe
oder auch eine mit Lücken eintreten kann. Es
bleibt noch zu untersuchen, inwieweit sich die
Atomgewichte der Grundstoffe mit den noch
nicht behandelten Ordnungsnummern unseren
theoretischen Anforderungen anschließen; der
noch nicht abgeschlossene Stand der Iso-
topenforschung läßt in vielen Fällen noch
nicht sicher erkennen, wie der Weg zwischen den
Abb. 3.
bereits im graphischen Felde festgelegten Punkte
des Grundstoffsystems mit der Basis P = 4n zu
denken ist. Es gibt eine besondere Art der Weg-
linie (Abb. 1 E'G"), die vom linken Rande E'G'
der Zone halbwegs nach dem Rande E"'G"' führt.
Statt der Strahlungsfolge ßßaaaa nämlich, die
wir wegen ihres einfachen graphischen Bildes als
die Normalform angesehen haben, können auch
die Strahlungsfolgen aßßaaa, aßaßua oder aaßaßc.
usw. auftreten , deren graphische Bilder unsym-
metrische Zickzacklinien sind. Diese Umstellun-
gen der Normalfolge bedingen wegen des ge-
442
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
klammerten Teiles das Auftreten von besonderen
dreigliedrigen Grundstofifgemeinschaften (Abb. i,
E'F'G") mit der Richtungskonstante A = 2 (vgl.
Übersicht II); bei diesen ist die Summe der D-
Werte = — 8, die der -/-Werte = —2, also
A = +2. Die Randglicder E" und F" der beiden
/?- Gemeinschaften E'E" und F'F" werden dabei
graphisch und rechnerisch ausgeschaltet. Es bleibt
als Resultante der graphischen Bewegungen die
Strecke E'P"'G". — Die Grundstofifgemeinschaften
dieser Art können auch mehr als drei Glieder
haben, wenn überzählige /J-Strahlungeii auftreten;
sie werden dann die untere Randlinie ganz er-
reichen oder auch iaberschreiten. Alles nähere
ist aus der folgenden Aufstellung ersichtlich, in
der W die Wertigkeit, IVI das mittlere Atom-
gewicht bedeutet.
Übersicht
VII.
w
Z
P = 4n
M
Th
4
90
232
—
MsTh II
3
89
228
—
Th X
2
88
224
-
Th A
6
84
216
—
Th C
S
83
212
—
Th D
4
82
208
—
Tl
3
81
204
204,0
Hg
2
80
200
200,6
Au
I
89
196
197,2
Te
6
52
128
127,5
Sb
5
5'
124
120,2
Sn
4
50
120
158,7
In
3
49
ii6
114,8
Cd
2
48
112
112,4
Ag
I
47
108
107,88
Ti
4
22
48
48,1
Sc
3
21
44
44,1
Ca
^
20
40
40,07
Die Spalten P = 4n und M stimmen genügend
überein bis auf Sb; über Hg ^ 200 und seine
Isotopie ist schon an anderer Stelle das nötige
gesagt. — Von Fe zu Ti führt der Weg 20 ; dort
tritt eine Gabelung ein. Durch einen weiteren
Weg von 2a erreichen wir, wie schon erwähnt,
einerseits die Stelle A, andererseits durch den
Weg 2 (aji) die Stelle Ca, das mit A eine Atom-
gewichtsgemeinschaft bildet. — Auffallend ist das
Heraustreten der Orte für Au und Ag nebst Cd
und In aus der Grundstofifhauptzone: das Über-
schreiten der Zone wird immer dann erfolgen bei
Grundstoffen des linken (oberen) Randes, wenn
dort eine et - Strahlung einsetzt (vgl. Abb. 3 Th
und MsTh I, sowie ThA und ThB); bei Grund-
stoffen der rechten (unteren) Randlinie dagegen
wird es erfolgen, wenn /t? Strahlungen eintreten
oder Strahlungsfolgen, in denen die ^-Wirkung
überwiegt. Die Rückkehr zum Zonenrand muß
dann durch wiederholte « ■ Strahlung erfolgen.
Wenn wir das Ag vorläufig ausschalten, so ergibt
sich für die Strecke BaSnRu folgende Weglinie:
Ba; a; X; «; Te; aß\ Sbl; o/3; Sn; ctß; In; aß\
Cd; «Pd; «Ru.
Die beiden Schwierigkeiten mit Ag und dem
Atomgewicht für Sb, deren Isotopien noch nicht
untersucht sind, werden sich vielleicht später
überwinden lassen. Für X mit einem mittleren
Atomgewicht M = 130,2 ist die Nebenform für
die Basis 4n mit P = 132 bereits festgestellt. —
Diese Beispiele für die genetische Linienführung
müssen vorläufig genügen.
Es soll nun noch die Frage gestreift werden,
ob auch für die anderen Grundstoffsysteme die
im System P = 4n ermittelten Gesetzmäßigkeiten
gelten. Als Beispiel diene das System 4n -j- 3 :
um für dieses System dieselbe Ausgangszahl für
Z zu haben wie bei P = 4n, beginnen wir die
Betrachtung bei dem Radioaktinium, dem wahr-
scheinlich das Atomgewicht 227 zukommt (Neu-
burger, a. a. O. S. 55); das weitere ergibt die
folgende summarische Aufstellung.
I
jfbersic
ht VIII
Z
P=
={4n + 3)
M
Kd .\e
90
227
—
Tu 11
72
179
(178)
X
54
131*)
130,2
Kr
36
83*)
82,9:
V
23
51
51.0
Cl
■7
35*)
35,46
Die mit *) bezeichneten Werte sind durch das
Kanalstrahlverfahren sichergestellt. Für Krypton
ergab sich ein Wert zwischen 82 und 84. Die
Gleichung der Gemeinschaft RdAcKr ist
Die Gleichung für die Gemeinschaft V-Cl ist
1/ p — ii 7 r 1;
Die beiden Linien, die diesen beiden Gemein-
schaften entsprechen, gehen parallel, weil beide
dieselbe Richtungskonstante, die Normalrichtungs-
konstante ^/a haben, wie wir das bereits im
System P = 4n in Abb. 2 gesehen haben.
Die von beiden Linien eingeschlossene Zone
ist halb so schmal wie die Zone in Abb. 2. Der
Übergang von der rechten Randlinie läßt sich in
ähnlicher Weise bewirken wie bei der Abb. 2.
Wir berechnen die Richtungskonstante der Über-
gangsgemeinschaft KrV
.^_V2-(83 -5'}_'6.
36 —23 13'
sie entspricht der Strahlungsfolge 8« 3/^.
V, D
J
8«
3ß
— 16
0
—16
+3
Sa iß
— 16
16
— 13, mithin A = — .
Diese Strahlungsfolge läßt sich umrechnen in
3 (2« -|- ß) -j- 2c(. Fs herrscht also auch hier die
Normalfolge vor, an die sich zwei überzählige
N. F. XXI. Nr. 3:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
443
«Strahlungen anschließen; auf weitere Einzel-
heiten soll jetzt noch nicht eingegangen werden. —
Ich glaube, daß die neuen Grundlagen allen
Ansprüchen aus dem System der Grundstoffe ge-
nügen werden, und behalte mir die weiteren Aus
führungen vor. —
Man hat schon lange vermutet, daß den
mannigfachen Beziehungen in dem System der
Grundstoffe und seinem ganzen Aufbau umfang-
reiche Gesetzmäßigkeiten zugrimde liegen müssen.
In der vorliegenden Arbeit glaube ich einen
wesentlichen Schritt zur Erkenntnis in dieser
Richtung getan zu haben. Wenn Sommerfeld
in seinem schönen Werke über den Atombau
(2. Aufl. 1921, S. 61) in bezug auf das Grund-
stoffsystem sagt : „Man ahnt . . . das Walten
tieferer mathematischer Gesetze", so glaube ich,
an Stelle unbestimmter Vermutungen durch meine
Ausführungen neue, klare und zusammenfassende
Einblicke in das Wesen des Grundstoffsystems
gegeben zu haben. Es ist dies gelungen durch
die Aufstellung des ganz allgemeinen und neuen
Begriffs der Grundstoffgemeinschaften und ihre
Kennzeichnung durch die Richtungskonstante und
die Nebenkernzahl. Jede der beiden Reihen der
neuen Konstanten zeigt in sich die denkbar ein-
fachsten mathematischen Beziehungen. Der neue
Rahmen des Grundstoffsystems beseitigt alle
Schwierigkeiten des „periodischen Systems". Alle
Grundstoffe mit Einschluß der „seltenen" Erden
und aller Isotopien lassen sich bequem unter-
bringen , und die Stellen der Rückläufigkeiten
verlieren ihren Ausnahmecharakter. —
Zum Schluß spreche ich den Herren Demski
und A lisch, die mir beim Abschluß des Manu-
skripts behilflich waren, meinen verbindlichsten
Dank aus.
Bemerkungen ziiiii Erdbeben auf Jan Mayen am 8. April 1!)2'2 und Über die Erdbeben des
subarktisch-atlantischen Bruchfeldes überlianpt.
(Mitteilung aus der Ilauptstation für Erdbebenforschung in Jena.]
(Nachdruck verboten.]
Mit I Karte.
.Am Abend des 8. April 1922 verzeichneten die
Seismonieter zahlreicher Erdbebenwarten ein Be-
ben, das seinen Ursprung in unmittelbarer Nähe der
Vulkaninsel Jan Mayen in der europäischen Arktis
genommen hat. Dieses Beben ist von ganz be-
sonderem wissenschaftlichem Interesse , weil die
instrumenteile Registrierung infolge eines glück-
lichen Zufalles durch makroseismische Beobach-
tungen, wohl die ersten aus jener Gegend über-
haupt bekannt gewordenen , soweit eine will-
kommene Ergänzung erfährt, daß die Festlegung
des Epizentrums bis auf vyenige Zehner von Kilo-
metern genau wird. Erst dadurch werden wir
in den Stand gesetzt, einen tieferen Einblick in
ein Gebiet zu gewinnen, das bis dahin der seis-
mischen Forschung noch kaum zugänglich war.
Allerdings, verdächtig als Ausgangsgebiet von
Erdbeben ist jene Gegend schon seit fast zwei
Jahrzenten gewesen. Waren doch seit 1904
mindestens drei instrumentelie Aufzeichnungen
bekannt, die irgendwo aus dem mittleren Ab-
schnitt des Europäischen Nordmeeres herstammen
mußten. Aber eine sicherere Lokalisierung war
aus Gründen, die dem Praktiker geläufig sind,
nicht durchführbar, und deshalb ist es fast selbst-
verständlich, daß die bisherigen Bearbeiter dieser
Registrierungen, Rosenthal,') Szirtes,'-)
Tarns^) und Verfasser, '') zu etwas voneinander
abweichenden Koordinaten für die Epizentren
gelangt sind.
Der Grund, weshalb makroseismische Beob-
achtungen sowohl von der Insel Jan Mayen als
auch aus den benachbarten Mecresteilen nocli
nicht bekannt waren, ist leicht verständlich.
Diese Insel liegt nämlich im nebelreichen Grenz-
gebiet des Polar- und des Golfstromes und im
Bereich der Drift des Westeisgürtels, der auch
den Zugang zur Ostküste Grönlands so sehr er-
schwert. Infolgedessen wird die Insel selten ge-
sehen und noch seltener betreten, fast ausschließ-
lich Fangleute besuchen die sonst unbewohnte
Insel, vornehmlich des Robbenschlags wegen;
längeren Aufenthalt nehmen dagegen mitunter
wissenschaftliche Expeditionen , die wohl auch
überwintern, z. B. 1882/83 der Stab der öster-
reichischen Polarstation W ilczek '"') in der Maria-
Mußbai und gegenwärtig das norwegische Obser-
vatorium an der Jamesonbucht. Dazu kommt,
daß die Erdbeben für gewöhnlich höchstens in
wenigen Sekunden vorüber sind und deshalb
leichter der Beobachtung entgehen als etwa Vulkan-
ausbrüche, die ja meistens lange andauern und oft
weithin sichtbar sind. Ober letztere haben wir
denn auch aus Jan Mayen schon mehrere Nach-
richten.
■) Kosent hai, E. , Katalog der im Jahre 1904 regi-
strierten seismischen Störungen. Veröffentlichungen des Zentral-
bureaus der Internationalen Seismologischen Assoziation. Serie B.
Kataloge. Straflburg 1907.
2) Szirtes, S., Desgl. 1906. Ebenda. Straßburg 19 10.
') Tams, E., Die seismischen Verhältnisse des Euro-
päischen Nordmecres und seiner Umrandung. Mitteilungen
der Geographischen Gesellschaft in Hamburg, Bd. XXXUI,
1921.
*) Sieberg, A., Die Verbreitung der Erdbeben auf
Grund neuerer makro- und mikroseismischer Beobachtungen
und ihre Bedeutung für Fragen der Tektonik. Veröffent-
lichungen der flauptstalion für Erdbebenforschung in Jena
(früher in Straßburg i. Eis.), Heft i. Jena 1922.
■'') Die österreichische Polarstation Jan Mayen. Heraus-
gegeben von der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften. Wien
1886.
444
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
Für das Beben vom 8. April 1922 liegen nun,
wie bereits gesagt, die Verhältnisse außergewöhn-
Seisrnisch-teKtoni&chc
Übersichtskarte
subarKti;ich-atlankiSchen | '
Brudifelde$
bearbeitet wn AUGSieBERG
• GroUbeben lOOOO - 17ÜO0Km
o Mittelbeben 5 0üO - 9 000 "
+Klein'heben ZOOO - tOOO
A Scebeteiv
A Submarine Eruption
lieh günstig deshalb, weil dasselbe auf Jan Mayen
von Menschen gefühlt worden ist. Diese Nach-
richt, unseres Wissens die erste von dorther, ver-
danken wir zunächst Herrn Bruno Rolf in Stock-
holm, Sekretär der Abisko-Station. Sie besagt: „Aus
Jan Mayen wird
gemeldet, daß am
Sonnabend, den
8. April zwischen
V2 10 und 10 Uhr
nachmittags ein
kräftiges, kurzes
Erdbeben statt-
gefunden hat, wel-
ches das Wohn-
haus in Schaukeln
ähnlich dem See-
gang versetzte.
DasErdbeben be-
gann mit einem
starken Knal 1."
Quelle hierfür war ein
Funkspruch des nor-
wegischen Observato-
riums auf Jan Mayen
(Jamesonbucht) an das
Geophysikalische In-
stitut in Tromsö. Der
Direktor des letzteren,
Herr O. Krogness,
hatte die Liebenswür-
digkeit, uns nähere
Angaben zu machen,
denen folgendes aus
dem Bericht des Radio-
telegraphisten Ulle-
reng entnommen sei:
„Kurz nach 20 '/a''.
wahrscheinlich um
20*' 44" Gr. Z. vernahm
ich ein rollendes, berg-
sturzähnliches Ge-
räusch, erst schwach,
als ob es weit ent-
fernt wäre, dann stär-
ker werdend wie bei
bedeutender Annähe-
rung; die Dauer betrug
wenige Sekunden. Als
das Geräusch am stärk-
sten war, fing der
ganze Grund und das
Haus plötzlich an stark
zu beben; damit hörte
das Geräusch plötzlich
auf. Das Haus zitterte
zuerst einige Sekunden,
dann verlangsamte sich
die Bewegung zu
Schaukeln wie ein
_ Schiff auf stark be-
wegter See, das lang-
sam schwächer wurde. Die Hängelampen pendelten
ziemlich stark hin und her in der Richtung Ost-
West; etwa eine Viertelstunde nachher betrug
N. F. XXI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
445
die Amplitude noch ungefähr 5 cm. Ich ging
hinaus um zu sehen, ob ich eine Veränderung
irgendwo in den Gebirgen sehen könnte, ob es
möglicherweise ein großer Bergrutsch gewesen
wäre; aber ich konnte nichts bemerken. Von
zwei Expeditionsmitgliedern, die sich in der
Haugenhütte (an der Küste der Maria Mußbucht
südlich der Nordlagune) befanden , wurde das
Beben gleichfalls gefühlt und zwar um 20''44"'."
Aus dem fühlbaren Verlauf des Bebens, das am
Beobachtungsort etwa V. — VI. Grades war, ergibt
sich der Charakter eines Nahbebens, nämlich Vor-
phase und lange Wellen der Hauptphase. Die
seismometrischen Aufzeichnungen lieferten als
Koordinaten für das Epizentrum ). = 8" ^2 w.
Gr. und (f = 71^/2" N, etwa 50 km nordwestlich
des Nordendes von Jan Mayen.
Ganz einsam ragt die Insel Jan Mayen ^) unter
ungefähr 71" n. Br. und 8'.," w. Lg. aus der
Beckenmitte des Europäischen Nordmeeres hervor
auf einem unterseeischen Rücken , der von der
Nordküste Islands in nordöstlicher Richtung nach
der Spitzbergen-Bank bzw. der Barents-See hin-
zieht und das Becken in die Grönland-Mulde
(bisher gemessene größte Tiefen 3630 m bzw.
4864 m) und in die Norwegische Mulde (3667 m)
scheidet. Die Entfernung Jan Mayens von Island
beträgt etwa 550 km. Auch im Südwesten
Islands setzt sich die unterseeische Bodenschwelle
im Reykjanes - Rücken noch weiterhin fort. Jan
Mayen selbst, etwas über 50 km lang mit SW — NO
verlaufender Längsachse, setzt sich aus einer
Gruppe von jungen , zum Teil wohlerhaltenen
Vulkanbergen zusammen, die allmählich mitein-
ander verwachsen sind. Den auffallendsten Ab-
schnitt bildet der Nordosten, der über 2500 km
hohe Vulkankegel des Beerenberges. Dieser be-
sitzt einen großen Gipfelkrater von fast iV., km
Durchmesser und zahlreiche Flankenkegel, unter
denen Palffy- und Vogt -Krater am Südfuße be-
sonders auffallen; der in der Literatur häufig ge-
nannte Fugleberg an der Maria Mussbucht ist ein zer-
störter Krater, in den das Meer drang. Im übrigen
bedeckt ein Eismantel den größten Teil des Beeren-
berges, und zahlreiche große Gletscherzungen gehen
zum Meere nieder. Wenn auch der Beerenberg seit
der 1910 erfolgten Entdeckung der Vulkanwelt
Spitzbergens -) seinen Ruf als nördlichster Vulkan
der Erde eingebüßt hat, ist er doch noch immer
der großartigste der ganzen arktischen Region.
Eine flache Nehrung mit zwei Lagunen erstreckt
sich zwischen der Maria Muß-Bucht im Nord-
westen und der Treibholz-Bucht im Süden und
stellt die Verbindung des Beerenberges mit der
schmalen und ziemlich niederen Südhälfte der
Insel her. In letzterer bilden basaltische Laven
und Aschen einen langgestreckten Höhenzug,
dessen zahlreiche Gipfel ebensoviele Vulkankegel
mit Kratern darstellen. Neben der höchsten Er-
hebung, der über 800 m hohen Franz- Josef-Spitze,
fällt der nicht einmal 300 m hohe Kegel des
Hannberges infolge seiner isolierten Lage vor dem
Nordrand besonders auf Die ganzen Bergformen
beweisen , daß noch nicht lange Zeit verflossen
sein kann, seitdem die vulkanische Tätigkeit zur
Ruhe gekommen ist. Einige Ausbrüche scheinen
von der Insel bezeugt zu sein. Es bleibt freilich
zweifelhaft , ob das Getöse, ') das sieben über-
winternde Holländer am 8. September 1633 ver-
nahmen , vulkanischen Ursprungs gewesen ist.
Hingegen berichtet der Hamburger Bürgermeister
Andersen mit Bestimmtheit, ein Fangschififer
habe im Mai 1732 einen vollständigen Ausbruch
aus einem kleinen Seitenkrater beobachtet.
Scoresby und ein anderer Kapitän sahen 181 8
in derselben Gegend mächtige Rauchsäulen auf-
steigen. Auch von der Nordseite der kleinen
Eierinsel -) im Ostabschnitt der Treibholz-Bucht,
nahe Esk-Mountain , soll im April des gleichen
Jahres während einer Stunde alle 3 oder 4 Minuten
eine beträchtliche Rauchsäule mehr als einen
Kilometer hoch aufgestiegen sein, was allerdings
O. Nordenskjöld*) nach der Form und dem
Aufbau dieses Berges für wenig wahrscheinlich
hält. Vom Gipfelkrater des Beerenberges sind
Ausbrüche nicht bekannt, er gilt als erloschen.
Obwohl Jan Mayen von Island durch Meeres-
tiefen von mehr als 2000 m getrennt ist, muß
man es als Fortsetzung jener jungen Vulkanzone
Islands ansprechen, auf der allein die historisch
bekannten Eruptionen stattgefunden haben. Sie
ist aber vor allem gekennzeichnet durch gewaltige
Brüche, die gegen Ende der Tertiärzeit Island in
SW — NO-Richtung weitgehend zerstückelten. Diese
ganze Störungszone hat sich von jeher auch als
der Schauplatz häufiger und mehr oder minder
kräftiger Erdbeben betätigt. In der Verlängerung
der auf Island nachgewiesenen Bruchzone liegt
einerseits Jan Mayen und erstreckt sich anderer-
seits der unterseeische Reykjanes- Rücken, der
sich in der Hauptsache in Tiefen zwischen I200m
bis 1600 m von der Südwestecke Islands gegen
das Nordatlantische Tiefseebecken vorschiebt.
Vom Reykjanes-Rücken kennen wir gefühlte See-
beben, submarine Eruptionen und aus neuerer
Zeit 2 seismometrisch registrierte Kleinbeben. Im
bebenreichen Mittelstreifen Islands kommt es zeit-
weise zu Großbeben; vor der Nordküste sind
bereits ein zweimal tätig gewesener Mittelbeben-
') Sieberg, A., Geologische Skizzen aus der europäi-
schen Arktis. Naturw. Wochenschr. N. F. XI. Bd., S. 753 ff.
Jena 1912.
^) Hoel, A. und Holtedahl, O., Les nappes de lave,
les volcans et les sources thermales dans les environs de la
Baie Wood au Spitzberg. Videnska])selskapets Skrifter. 1.
Mat.-naturv. Klasse 191 1, Nr. 8, utgit for Fridtjof Nansens
Fond. Christiania 191 1.
') Scoresby, W., An Account of the arctic Regions.
I. Bd., S. 167. Edinburg 1820.
') Sapper, K., Katalog der geschichtlichen Vulkanaus-
brüche. Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft in
Straßburg, 27. Heft, S. 73. Straßburg 1917.
*) Nordens kjöld, O. , Die Polarwelt und ihre Nach-
barländer. S. 27. Leipzig und Berlin 1909.
446
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
herd und drei submarine Ausbruchsstellen nach-
gewiesen. Die Gegend um Jan Mayen herum
wies in den Jahren 1904 — 1914 drei allerdings
bloß registrierte Beben, zwei Groß- und ein Klein-
beben auf; dazu kommt dann noch dasjenige
vom 8. April 1922, dessen mikroseismische Reich-
weite bisher noch nicht festzustellen war, jeden-
falls aber 5000 km überschreitet.
De Geer*) hat zuerst darauf hingewiesen,
daß das durch den Isländischen Rücken abge-
schnürte Becken des Europäischen Nordmeeres
eine sinkende Scholle, dagegen die randlichen
Küstengebiete in Hebung begriffen seien infolge
des Abschmelzens diluvialer Eiskappen. Diese ent-
gegengesetzt gerichteten isostatischen Ausgleichs-
bewegungen hätten zur Bildung peripherischer
und radialer Brüche geführt, der von Erdbeben
heimgesuchten Fjorde Norwegens, Schottlands,
Nordislands, Ostgrönlands und Westspitzbergens.
Tams^) konnte diese Ansicht an der Hand
weitergehender seismischer Untersuchungen stützen,
und Verf. ist im großen und ganzen zum glei-
chen Ergebnis gekommen. Allerdings scheint hin-
sichtlich der Erdbebenentstehung ein weiteres,
bisher übersehenes Element in dem sinkenden
subarktisch - atlantischen Bruchfeld eine größere
Rolle zu spielen als der Kesselbruch mit seinen
Radialspalten, nämlich SW — NO, also kaledonisch
streichende Brüche größten Ausmaßes. Dieses
Element kommt in dem mindestens 2000 km langen
Zuge Reykjanesrücken — Island — Jan Mayen, der
stellenweise der tiefsten Versenkung entspricht, auch
seismisch am kraftvollsten zum Ausdruck. Anschei-
nend gehört weiterhin der genau in der nordöstlichen
Fortsetzung verlaufende Einbruch des Eisfjords
auf Spitzbergen nebst den Parallelbrüchen, z. B. der
Königs- und Kreuzbucht, woher ein Seebeben")
bekannt ist, sowie des Glocken-Sunds zu dieser
') De Geer, G., Kontinentale Niveauveränderungen im
Norden Europas. Verhandlungen des Internationalen Geo-
logenkongresses Stockholm 1910, Bd. 2.
2) a. a. O.
») Römer, F. und Schaudinn, F., Fauna arctica.
Eine Zusammenstellung der arktischen Tierformen mit beson-
derer Berücksichtigung des Spitzbergengebietes auf Grund der
deutschen Expedition in das nördliche Eismeer im Jahre 1908.
Bd. I, S. 19. Jena 1900.
Hruchzone; alsdann würde sich deren Länge auf
über 3000 km belaufen. Daß Spitzbergen tat-
sächlich ein seismisch recht regsames Gebiet ist,
wie schon der tektonische Aufbau ') vermuten
läßt, beweisen die im Jahre 1911/12 an der
deutschen geophysikalischen Station Adventbay
(Eisfjord) von G. Rempp gewonnenen seis-
mischen Registrierungen von nicht weniger
als 6 Nahbeben -) mit verschiedenen Herden.
Sicheres über die Lage der spitzbergenschen
Erdbebenherde läßt sich infolge des begreiflichen
Fehlens makroseismischer Beobachtungen noch
nicht sagen. Nun findet sich dieses tektonische
Element auch an anderer Stellen wieder: Eines-
teils an der Südoslküste Grönlands, die zwi-
schen Scoresby-Sund und Kap Farvel sicherlich
einer Bruchzone entspricht; sie wird durch die
trotz ungünstigster Beobachtungsmöglichkeiten
nicht selten gefühlten Erdbeben zu Angmagssalik,
sowie südlich des Kap Farvel durch eine Zone
mit gefühlten Seebeben gekennzeichnet. Der öst-
liche Parallelzug, Hebriden — Schottland — Shetland-
inseln — westskandinavische Fjordküste — Lofoten,
zeigt nicht nur an manchen Stellen, so in Schott-
land und auf den Lofoten, den Bruchcharakter
augenfällig, sondern verrät ihn auch an manchen
Stellen durch gefühlte Erd- und Seebeben sowie
durch instrumentell nachgewiesene; so liegen
Kleinbebenherde auf der unterseeischen Felsplatte
des Veslfjords im Bereich der Lofotenbrüche und
im Schärenhof nahe dem Polarkreis. Eine weitere
parallel hierzu und zum Reykjanesrücken ver-
laufende Bruchzone, Rockallfelsen ^Fär 0er, scheint
nur im unterseeischen Bodenrelief zum Ausdruck
zu kommen; seismisch gilt sie im allgemeinen als
ruhig, jedoch erinnern ich mich, in nicht mehr
feststellbaren Berichten etwas über gefühlte, wenn
auch seltene Erdbeben auf den Fär Oern und
über ein Seebeben beim Rockallfelsen gelesen zu
haben.
Im Auftrage: A. Sieberg.
') Sieberg, A., Spitzbergens Erdbeben und Tektonik.
Gcrlands Beiträge zur Geophysik, XIII. Bd., 1914, S. 114 ff.
'-) Mainka, C, Ergebnisse der Erdbebenstation Advent-
bay auf Spitzbergen in der Zeit vom 27. Oktober 19(1 bis
iS. Juni 1912. Ebenda, S. 103 ff.
Bücherbesprechungen.
Bavink, Bernhard, Ergebnisse und Pro-
bleme der Naturwissenschaft. Eine
Einführung in die moderne Naturphilosophie.
2. Aufl. I.eipzig 1921, Hirzel. 63 M,
Naturphilosophie ist immer noch ein Gebiet,
um das die Naturforscher herumzugehen pflegen
wie die Katze um den bekannten heißen Brei.
Und das nicht ganz mit Unrecht. Einmal ist in
naturwissenschaftlichen Kreisen die Erinnerung
an die haltlosen Phantasien Schellings und
Hegels noch zu stark, als daß sie nicht mit
äußerstem Skeptizismus allem begegneten, das
sich Naturphilosophie nennt, und zum andern
regen sich auch gerade wieder in der jüngsten
Philosophie allerhand metaphysische Kräfte, die
sich in ihren Zielen und Absichten nicht gar zu
weit von der Hegelei entfernen. Hat doch un-
längst noch ein so kompetenter Beurteiler wie
Rickert der Philosophie Hegels die Prognose
auf die nächste Zukunft gestellt. Und wenn das
auch weniger im Sinne einer Renaissance der
He gel sehen Naturphilosophie gemeint ist, so ist
N. F. XXI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
447
die Gefahr, daß auch diese wieder ihren verderb-
lichen Flug unternehmen könnte, nicht so ohne
weiteres von der Hand zu weisen.
F"ür diese Art Naturphilosophie ist wesentlich,
daß sie zur Gewinnung ihrer Wesenserkenntnisse
der Natur keinerlei Naturwissenschaft nötig hat.
Ihre Lehren sind alsolut unabhängig von allen
Ergebnissen der Naturwissenschaft. Sollten diese
ihnen wirklich einmal widersprechen, dann um so
schlimmer für die — Naturwissenschaft.
In den letzten fünfzig Jahren hat sich nun
aber eine ganz andere Art Naturphilosophie
herausgebildet, die in ihren Ansprüchen viel be-
scheidener ist als die metaphysischen Systeme
und die darauf abzielt, die Naturwissenschaft zu
ergänzen und zu vervollständigen, die selbst
Naturwissenschaft ist. Sie ist ohne Naturwissen-
schaft undenkbar und erkennt den Grundsatz an,
daß es eine andere Art Naturerkenntnis als die
von der Naturwissenschaft erreichte nicht gibt.
Zu dieser ebenso notwendigen wie nützlichen,
wie für den Naturforscher unverfänglichen Natur-
philosophie haben die wertvollsten Beiträge ge-
liefert Männer wie Mach, Avenarius, Wundt,
Haeckel, Ostwald, Roux, Verworn,
Driesch, Becher u. a.. In ihr lassen sich
deutlich zwei Hauptarbeitsrichtungen unterscheiden,
eine logisch methodologische, die also vorwiegend
darauf gerichtet ist, die Erkenntnisart in den ver-
schiedenen Naturwissenschaften zu analysieren und
zu vergleichen, und eine mehr synthetische, die
darnach strebt, aus den Ergebnissen der Einzel
Wissenschaften ein abgerundetes Gesamtbild von
der Natur zu gewinnen, die also, wie Comte
einmal sehr geistvoll sagt, aus dem Studium der
Allgemeinheiten der Einzeldisziplinen ihre Speziali-
tät macht.
Ein solches Ziel verfolgt auch Bavink in dem
nunmehr in zweiter Auflage vorliegenden Buche;
und wenn man die Leistung an dieser Aufgabe
mißt, wird man zugeben müssen, daß er sein Ziel
in jeder Hinsicht vollauf erreicht hat. Das soll
natürlich nicht besagen, daß man nicht in vielen
Fragen anderer Meinung sein könnte als er — das
ist bei einem Werke mit so universalen Absichten
selbstverständlich der Fall — , wohl aber ist damit
gemeint, daß es kein Problem von einigermaßen
allgemeinem Interesse in der heutigen Natur-
wissenschaft gibt, das unser Autor nicht einwand-
frei dargestellt und in einer Form beurteilt hat,
der auch ein Gegner der jeweiligen Lösung, die
Bavink gibt, einräumen muß, daß sie sich durch-
aus in ernster Diskussion fähigen Bahnen bewegt.
Das ist offenbar alles, was man billigerweise ver-
langen kann. In diesem Sinne werden die
modernen Atomforschungen ebenso sachkundig
behandelt wie die Relativitätstheorie, die Erschei-
nungen der organischen Vererbung oder das
Problem der Selektion. Dazu kommt, das alles
mit sehr viel pädagogischem Geschick dargestellt
ist, so daß sich das Bavinksche Buch besonders
als objektive erste Einführung in unser Gebiet
eignet. Wer danach dann noch die Darstellung
sorgfältig studiert, die Becher von unserer
Wissenschaft in der „Kultur der Gegenwart" ge-
geben hat, darf hoffen, ein zuverlässiges Bild von
der Natur, wie sie die moderne Naturwissenschaft
sieht, erlangt zu haben. Wir wünschen Ba vi nks
Buch in seiner Gestalt recht weite Verbreitung.
Adolf Meyer (Hamburg.)
Hagen, Werner, Die deutsche Vogelwelt
nach ihrem Standort. Ein Beitrag zur
Zoogeographie Deutschlands und zugleich ein
Exkursionsbuch zum Kennenlernen der Vögel.
74 Textbilder und 4 doppelseitige Tafeln.
Magdeburg, Creutzsche Verlagsbuchhandlung.
Als Junge war mein Lieblingsbuch G. Jägers
Deutschlands Tierwelt, dessen Wiedererstehen im
neuen Gewände gewiß jeder junge Zoologe und
Naturfreund mit Freuden begrüßen würde. Auf
dem Gebiete der Vogelwelt hat der Verf. ver-
sucht, die Lücke auszufüllen. Es ähnelt in dieser
Beziehung dem bekannten Floerickeschen Taschen-
buch zum Vogelbestimmen. Aber in einer Be-
ziehung geht es über beide Bücher hinaus. Der
Verf. versucht dem Leser ein Verständnis dafür
beizubringen , wie unsere Ornis allmählich in
seiner buntscheckigen Zusammensetzung entstan-
den ist. Die einschneidende Bedeutung der Eis-
zeit und die Wandlungen der postglazialen Perio-
den werden dem aufmerksamen Leser nicht ent-
gehen. Die Benutzung der jüngsten Erdfunde
bei der Herauskristallisation des Bildes, das sich
Verf. von unserer Mischornis macht, ist zu spüren.
Literaturangaben wären für den, welcher mehr
über diese interessanten Fragen wissen möchte,
sicher sehr erwünscht gewesen. Ebenso hätte
ich gern eine Zusammenfassung der Ergebnisse
auf einer leichtverständlichen Karte und vielleicht
einigen Tabellen gesehen. Daß im übrigen die
Gedanken über das Werden unserer mitteleuro-
päischen Vogelwelt nicht in systematischer An-
ordnung und lehrhaftem Tone vorgetragen wer-
den, sondern stets am Ende oder Anfang der
einzelnen Abschnitte — Moor, Ödland und Sumpf,
Wiese, Binnengewässer, Meeresküste, Nadelwald,
Laubwald, Mittelgebirge, Hochgebirge, Menschen-
siedlungen — also so, wie es der Vogelfreund
gerade auf seiner Exkursion braucht, ist nicht zu
tadeln. Wie die gefiederten Freunde vor dem
Auge des Beobachters auftauchen, werden sie in
kurzen , die wesentlichen Kennzeichen hervor-
hebenden Beschreibungen dem Leser vor Augen
geführt. Man spürt den sicheren Kenner und
praktischen Feldornithologen und läßt sich gern
von ihm leiten. Dies und das bequeme Taschen-
format werden das Buch zu einem beliebten Be-
gleiter auf Ausflügen machen. Der Bilderschmuck
ist reich aber etwas ungleichmäßig in der Güte
der Ausführung. Wir wünschen dem Buch weite
Verbreitung. H. Duncker.
44«
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 32
\A^olterstorff, W., Die Molche Deutsch-
lands und ihre Pflege. „Biologische Ar-
beit" Heft 13. 56 S. 8". 22 Textabbildungen.
Freiburg i. Br. 1921, Theodor Uscher.
Das Heft behandelt die deutschen Urodelen
systematisch bis in die Unterarten genau sowie
nach Möglichkeit die Unterschiede der Larven-
formen, beschreibt die Lebensweise, das seelische
Verhalten — der Terminus technicus würde lauten :
die Tierpsychologie — und die Erscheinungen bei
der Fortpflanzung und gibt genaue Anweisung
zur Pflege und Fütterung der Tiere in allen Sta-
dien (Euchyträenzucht usw.). Einfluß abnormer
Bedingungen sowie Vererbungsfragen kommen
nicht zur Sprache, Neotenie nur kurz. Jedenfalls
ist das Büchlein vom besten Kenner der Sache
geschrieben. Hier und da staunt man, wie man-
che Frage noch ungeklärt ist, z. B. die, ob Uro-
delen an Land trinken. Jedenfalls sah man sie
dabei nie die Zunge benutzen, aber angeblich
mit dem Mund Wasser schlucken. In der Regel
aber begibt sich ein feuchtigkeitsbedürftiger Molch
gleich ganz ins Wasser. Aufnahme von Flüssig-
keit durch die Haut gilt als nicht zu bezweifeln.
— Amputation eines nach Biß verpilzenden
Gliedes ist keine Tierquälerei, da eine Minute
darnach wieder gefressen wird.
Das Büchlein ist vor allem der Jugend zuge-
dacht, doch auch jedem, den es sonst angeht.
V. Franz.
Podestä, Dr. H. , Physiologische Farben-
lehre. Leipzig 1922, Verlag Unesma. 60 M.
Als viertes Buch der „Farbenlehre" von W.
Ostwald erscheint die vorliegende Arbeit, die
die Physiologie des Sehorgans sowie das normale
und anomale Sehen behandelt, wozu noch ein
nicht ganz in den Rahmen passender Anhang
über „Gesundheitspflege des Auges" tritt.
Das Buch ist gänzlich elementar gehalten und
darum für den Anfänger in der Farbenlehre über-
haupt von Wert. Weshalb es jedoch in die auf
5 Bände berechnete systematische Lehre Ost-
walds aufgenommen wurde, bleibt dem Bericht-
erstatter um so unverständlicher als dem vor-
liegenden Buch gerade das Kennzeichen der neuen
Lehre abgeht, nämlich die Benutzung und Her-
ausarbeitung quantitativer Beziehungen. Die
Ausführungen bewegen sich in oft reichlich „popu-
lären" und breiten Bahnen. Geschichtliche Be-
trachtungen sind in den systematischen Gang der
Darstellung eingeflochten.
Bei der unverhältnismäßigen Breite der Dar-
stellung der Anomalien des Sehens mußte alles
andere zu kurz kommen. Neuere Untersuchungen
auf optisch - physiologischem Gebiete sind nicht
verwertet, Literaturhinweise vermieden worden.
50 ist das Buch ein Anfängerbuch geblieben, das
in dieser Beziehung einen gewissen Wert hat.
Für den Fortgeschrittenen handelt es sich um
eine die Geduld beanspruchende Aufzählung
bekannter Dinge ohne Zusammenhang mit der
Lehre O s t w a 1 d s , handelt es sich um Geplauder,
nicht um straffe, vertiefte wissenschaftliche Mit-
teilungen. H. Heller.
Brion, Dr. G., Luftsalpet er. Seine Gewinnung
durch den elektrischen Flammenbogen. 2. verb.
Aufl. Leipzig 192 1, Vereinigung wissensch.
Verleger. (Sammlung Göschen Nr. 6i6). 4.20 M.
Vorzügliche Darstellung des technisch und
wirtschaftlich gleich beziehungs- und lehrreichen
Problems der elektrischen Stickstoffbindung.
51 Figuren, zum Teil Lichtbilder technischer An-
lagen verdeutlichen den ansprechend vorgetragenen
Text auf das Beste. H. Heller.
Literatur.
Fehringer, OUo, Unsere Singvögel. 96 farbige Tafeln.
Sammlung naturwissenschafU. Taschenbücher. IX. Heidelberg,
Carl Winters Universitätsbuchhandlung. Geb. 50 M.
Sammlung mathematisch - physikalischer Lehrbücher.
Hrsg. von E. Jahnke. Einführung in die Maxwellsche Theorie
der Elektrizität und des Magnetismus von Dr. Clemens
Schaefer. 2. Aufl. Leipzig-Berlin '22, B. G. Teubner. Kart.
60 M.
Wetzel, Perigraphische Zeichen- und Meßapparate zur
Aufnahme von Umrißformen.
Knopfli, Methoden der Tiergeographie.
Keller, Die Methoden der Haustierforschung.
Sußdorf-Ackerknecht, Die präparatorisch-anatomi-
schen Methoden bei den höheren Säugetieren. Berlin-Wien
'22, Urban & Schwarzenberg. Geh. 48 M.
Sammlung Göschen.
Groll, Dr. M., Kartenkunde. 2. Aufl. Neubearb. von
Dr. O. Graf. I. Die Projektionen. Berlin-Leipzig '22, Ver-
einigung wissenschaftlicher Verleger. Geb. 12 M.
Jensen, Prof. Dr., Die Atmosphäre der Erde. Wolken
und Wetter. Katgeber zum Studium der Wetterkunde. 16 Bild-
karten mit Text und 12 Textabbildungen. Hamburg-Altrahl-
stedt '22, Henri Grand.
Sechs farbige Naturaufnahmen von Arzneipfl.anzen. Aus-
gabe A, Folge 18, 19, 20. Dresden, Gehe-Verlag G. m. b. H.
Meyer, Prof. Dr. Rieh., Vorlesungen über die Ge-
schichte der Chemie. Leipzig '22, Akademische Verlags-
gesellschaft. Brosch. 200 M., geb. 240 M.
Stiny, Ing. Dr. phil., Technische Geologie. Stuttgart
'22, Ferd. Enke.
Kays er, Dr. Emanuel, Abriß der allgemeinen und
stratigraphischen Geologie. 3. Aufl. Stuttgart '22, Ferd.
Enke.
Neumann, Ernst Rieh., Vorlesungen zur Einführung in
die Relativitätstheorie. Jena '22, G. Fischer. Brosch. 90 M.
Illbalt: E. Nickel, Neue Grundlagen für den einheitlichen Aufbau des Grundstoff-Systems in mathematischer Ableitung.
(3 Abb.) S. 433. Bemerkungen zum Erdbeben auf Jan Mayen am S. April 1922 und über die Erdbeben des sub-
arktischatlantischen Bruchfeldes überhaupt. (1 Karte.) S. 443. — Bücherbesprechungen: B. Bavink, Ergebnisse
und Probleme der Naturwissenschaft. S. 446. W. Hagen, Die deutsche Vogelwelt nach ihrem Standort. S. 447.
W. Wolterstorff, Die Molche Deutschlands und ihre Pflege. S. 44S. H. Podest-i, Physiologische Farbenlehre.
S. 448. G. Brion, Luftsalpcter. S. 44S. — Literatur: Liste. S. 448.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lipperl & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 2i. Band;
der ganzen Reihe 37- Band.
Sonntag, den 13. August 1922.
Nummer 33
Das Spektram der elektromagnetischen Wellen.
[Nachdruck verboten.]
Die modernen Großstationen für drahtlose
Telegraphie benützen elektrische Wellen bis zu
20 km Länge und erzielen damit eine Reichweite
von 20000 km; das ist der halbe Umfang des
Erdballs. So können wir heute von Nauen aus
drahtlos mit jedem Erdteil in Verbindung treten.
In unseren elektrischen Lichtleitungen schwingt
ein Wechselstrom von 50 Perioden in der Sekunde,
dem entspricht eine Wellenlänge von 6000 km
in der Luft. Eine Größengrenze nach oben gibt
es im Spektrum der elektromagnetischen Wellen
nicht. Marconi, der Erfinder der drahtlosen
Telegraphie, arbeitete anfangs mit elektrischen
Wellen von lOO — 300 m Länge. Die ersten elek-
trischen Wellen, welche ihr Entdecker Heinrich
Hertz im Jahre 1887 erzeugte, hatten eine Wellen-
länge von 6 m; seine berühmten Versuche über
„die Strahlen elektrischer Kraft" führte Hertz mit
Wellen von 60 cm Länge aus. Diese Wellen
waren millionenmal größer wie die Wellen der
gelben Natriumlinien.
Im Jahre 1895 wiederholte der russische
Physiker Lebedew') die klassischen optischen
Versuche von Hertz mit elektrischen Wellen
von nur 6 mm Länge; Lebedew benützte als
Strahlenquelle ein winziges elektrisches Fünkchen
zwischen zwei Platindrähten von je 1,3 mm Länge.
O. von Baeyer-) erzeugte 19 12 elektrische
Strahlen von 2 mm Länge in genügender Stärke,
um ihre Eigenschaften zu untersuchen. Nach
einer Lücke von 2Y2 Oktaven kamen die längsten
ultraroten Strahlen mit 0,34 mm Wellenlänge;
welche Heinrich Rubens und O. v. Baeyer'')
191 1 im elektrischen Lichtbogen einer Quarz-
quecksilberlampe fanden. Neuerdings hat nun
W. M ö b i u s *) diese Lücke im elektromagnetischen
Spektrum überbrückt. Er untersuchte eingehend
die Strahlung eines sehr kleinen Senders nach
Lebedew und fand neben der aus den Dimen-
sionen des Senders berechneten Grundschwingung
noch eine ganze Reihe übergelagerter kleiner
Wellen von 5 mm bis herab zu 0,i0 mm. Ob
es sich hierbei um Oberschwingungen des Senders
handelt oder um Schwingungen von Platinteilchen,
die während des Funkenüberganges losgerissen
werden, ist noch nicht festgestellt. Die an Inten-
sität sehr schwachen, übergelagerten kurzen
Von Karl Kiihu.
') Wiedemanas Ann. d. Phys, 56, S. I (Barth, Leip-
zig 1895).
'') Landolt-Börnstein, Physikalisch - chemische Ta-
bellen 1912 (J. Springer, Berlin).
') Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wiss. , S. 339 bis
345 (1911)-
*) Ann. d. Phys. 62, S. 293—322 (1920).
Wellen sollen mit einem hochempfindlichen Gal-
vanometer, das sich im Bau befindet, näher unter-
sucht werden. Die kürzesten elektrischen Wellen
stimmen in ihren Eigenschaften mit den längeren
ultraroten Strahlen des Spektrums weitgehend
überein.
Wichtige Ergebnisse über die Struktur der
Strahlung im Räume dürften vielleicht gewisse
Interferenzversuche haben, wenn zu ihnen einmal
elektrische Wellen und dann ultrarote Strahlen
von gleicher Wellenlänge verwendet werden. Die
Emission der Strahlen eines elektrischen Senders
erfolgt nämlich kontinuierlich nach den Gesetzen,
die von Maxwell-Hertz aufgestellt worden
sind; die Emission der gleichlangen ultraroten
Strahlen erfolgt aber nach den Gesetzen der
Quantentheorie. Vielleicht läßt sich bei gewissen
Interferenzversuchen auch ein Unterschied der
freien Strahlungen nachweisen.
Das ganze ultrarote Spektrum umfaßt rund
9 Oktaven und dann folgt jener kleine, aber für
uns wichtige Abschnitt im Spektrum der elektro-
magnetischen Wellen, die sichtbaren Lichtstrahlen
mit einer Wellenlänge von 700 — 400 fxfi. ^j Nicht
ganz eine Oktave elektromagnetischer Wellen er-
schließt dem elektrischen Sinnesorgan des Menschen,
dem Auge, die bunte Mannigfaltigkeit der Welt.
Jenseits der violetten Strahlen eines Spektrums
beginnen die unsichtbaren ultravioletten Strahlen,
welche vor 121 Jahren J. W. Ritter durch ihre
chemische Wirkung entdeckt hat. Durch Ver-
wendung von Spektrographen mit Quarzflußspat-
optik konnte Stokes im ultravioletten Gebiet
über eine Oktave weiter, bis zu Strahlen von
185 fiju vordringen.
Kürzere Wellen werden von der atmosphäri-
schen Luft und von der Gelatine der photo-
graphischen Platten stark absorbiert. Daher baute
Viktor Schumann in Leipzig im Jahre 1892
einen Vakuumspektrographen mit einem Prisma
und mit Linsen aus Flußspat und photographierte
die Spektren mit selbst präparierten, bindemittel-
freien Platten. So konnte er bis zu Strahlen von
123 /^,a vordringen. Bei Wellen von 120 fiju an ab-
sorbiert auch der Flußspat sehr stark. Th.Ly man -)
ersetzte daher im Vakuumspektrographen das Fluß-
spatprisma und die Flußspatlinsen durch ein R o w -
1 a n d sches Konkavgitter. Der Spektrograph wurde
mit hochverdünntem Heliumgas gefüllt und dies
im Spektrographen selbst durch kondensierte eleJc-
trische Entladungen zum Leuchten erregt. So
') I iU/< = 0,000001 mra.
») Nature 95, S. 343 (1915)-
•Y £
450
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 33
fehlte zwischen der Lichtquelle und der gelatine-
freien photographischen Platte außer dem stark
verdünnten Helium jeder absorbierende Körper.
Die kürzeste photographierte Linie hatte eine
Wellenlänge von 60 fifi (= 600 Ä ') ) ; das Spek-
trum war damit im Jahre 191 5 gegenüber
Schumann um eine weitere Oktave nach den
kürzeren Wellen hin erweitert.
R. E. Millikan'^) ist noch sehr viel weiter
in das Ultraviolett vorgedrungen. Er evakuierte den
Gitterspektrographen vollständig (unter 10— ' mm
Hg) und benutzte als Lichtquelle eine sehr starke
elektrische Entladung zwischen zwei Metall- oder
Kohlenelektroden in sehr kurzem Abstand (0,1 bis
2 mm). Der Funke zwischen Zink-, Eisen-,
Nickel-, Silber- und Kohlenelektroden wird durch
mehrere hundert Kilovolt aufrecht erhalten und
verdirbt das Hochvakuum nicht. Das benutzte
Konkavgitter von 83 cm Brennweite hatte 564
Striche pro mm. Zahlreiche Linien im äußersten
Ultraviolett wurden beobachtet. Die kürzeste
Wellenlänge hatte eine Nickellinie von 202 A.
Neuerdings hat Millikan ■') mit seinem Hoch-
vakuumgitterspektrographen das Übergangsgebiet
von den kurzwelligsten optischen Spektren zu
den Linien im Röntgenspektrum photographiert.
Bisher klaffte eine Lücke von 4 Oktaven im Spek-
trum der elektromagnetischen Wellen zwischen
der kürzesten ultravioletten Nickellinie und der
längsten mit Kristallgitter photographierten Linie
im Röntgenstrahlengebiet. Millikan überbrückte
die Lücke, indem er im Hochvakuum durch
Glühelektronen die L-Serie im Röntgenspektrum
von Aluminium, Magnesium, Natrium, Fluor bis
herab zum Lithium, dem dritlleichtesten Element,
erregte und diese Röntgenlinien der leichtesten
Elemente mit den optischen Mitteln seines Spektro-
graphen im Ultravioletten photographierte.
Gleichzeitig wurde durch eine ganz andere
Methode der Ultraviolettspektroskopie die Lücke
zwischen den kurzen ultravioletten Wellen und
den Röntgenstrahlen geschlossen. Diese zweite
Methode wurde von Dember (191 3) angegeben
und von Frank und anderen aufs feinste aus-
gebaut. Sie besteht darin, daß im Hochvakuum
durch Elektronen (einer Glühkathode) von ganz
genau bestimmter Geschwindigkeit an einem
Element eine einzelne optische Linie oder Linien
aus dem Röntgenspektrum des Elementes erregt
werden. Die erzeugten Ätherwellen werden durch
den photoelektrischen Effekt nachgewiesen ; ge-
naue Wellenläiigenmessungen erfolgen durch Be-
stimmung der Geschwindigkeit der erregenden
Glühelektronen oder durch Geschwindigkeits-
messung der photoelektrisch ausgelösten Kathoden-
strahlen im Magnetfeld. Mit dieser Methode haben
kürzlich Mohler und Foote^) die Strahlung
von Kalium , Natrium und Magnesium im Über-
gangsgebiet vom ultravioletten Licht zu den
Röntgenstrahlen gemessen; im gleichen Strahlen-
bezirk untersuchten Richardson und Baz-
zoni-) die K-Strahlung des Kohlenstoffs und die
M-Strahlung des Molybdäns, Kurth') die K- und
L- Strahlung von Kohlenstoff und Sauerstoff sowie
die M- und N-Serie von Eisen und Kupfer. Durch
diese Arbeiten ist das Gebiet von den Röntgen-
strahlen an bis zu Wellen von 375 Ä Länge er-
forscht.
Die längste mit einem Kristallgitter photo-
graphierte Linie im Röntgenstrahlengebiet hat
eine Wellenlänge von 13,3091 Ä. Es ist dies die
von M. Siegbahn'') gemessene La ■ Linie des
Kupfers. Durch Röntgenvakuumspektrographen
mit Kristallgittern kann höchstens bis zu einer
Wellenlänge von 20 A vorgedrungen werden, da
für längere Wellen selbst bei den weitmaschigsten
Kristallen die Gilterkonstante nicht mehr groß
genug ist. Die Röntgenspektrographen müssen
für Strahlen bis herab zu 1,5 A völlig evakuiert
werden, da die langwelligen Röntgenstrahlen ge-
rade wie die kürzeren ultravioletten Strahlen be-
reits von Gasen sehr stark absorbiert werden.
Die kürzeste bis jetzt gemessene Wellenlänge im
Gebiet der Röntgenstrahlen fanden Dessauer
und Back. ^) Eine Glühkathodenröntgenröhre,
welche mit 245000 Volt Spannung betrieben
wurde, ergab im Kristallgitterspektrographen eine
kontinuierliche Strahlung bis herab zu einer
Wellenlänge von 0,057 Ä.
• Noch kürzere Wellenlängen haben die mit den
Röntgenstrahlen wesensgleichen y- Strahlen der
radioaktiven Stoffe. Rutherford ^) stellte als
erster im Jahre 1914 an den y-Strahlen des Ra-
diums Wellenlängenmessungen mit Kristallgittern
an und konnte als kurzwelligste Linie eine Strah-
lung von 0,072 A photographieren. Neuerdings
beobachtete C o m p t o n ") an radioaktiven Stoffen
y-Strahlen bis herab zu einer Wellenlänge von
0,02 A. Das durch die Kristallgitter spektro-
graphisch genau erschlossene Gebiet der Röntgen-
und y-Strahlen reicht damit heute von 0,02 A bis
zu 13,3 A und es umfaßt dieser neue Spektral-
bereich über 9 Oktaven.
Für härtere y-Strahlen versagen die Kristalle
als Beugungsgitter; die Abstände der Gitterebenen
werden im Verhältnis zu den Wellenlängen zu
groß. Hier führt nun die gleiche Meßmethode
weiter, welche auch die Lücke zwischen den Rönt-
gen- und ultravioletten Strahlen überbrücken ließ.
') 1 Ä (= Ängström- Einheit) = 0,1 /ifi = 0,0000001 mm.
^) Astrophys. Journ. 5z, S. 47—64 (1920) nach Phys. Ber.,
S. 117— 118 (1921).
') Proc. Nat. Acad. 7, S. 289 (1921) nach Nw. 10,
S. 379-
') Nw. 10, S. 3Ö9 nach Phys. Rev. 1921.
*) 1. c. nach Phil. Mag. 1921.
') Jahrbuch d. Radioaktivität u. Elektronik Bd. 18, H. 3.
Verh. d. d. phys. Ges. S. 75 (1920).
*) Verh. d. d. phys. Ges. 21, 8.^168 (1919)-
f') Phil. Mag. 28, S. 263 (191 4).
") Nw. 10, S. 368 nach Phys. Rev. 1921.
N. F. XXI. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45«
Man läßt nämlich die zu messenden y-Strahlen
auf verschiedene Stoffe auffallen und mißt die
Geschwindigkeit der ausgelösten Elektronen durch
ihre Ablenkung im Magnetfeld. Mit dieser Me-
thode hat C. D. Ellis') die y-Strahlen von Ra-
dium B gemessen und hat Wellenlängen von 35,4
x-Einheiten ä) bis zu 51,9 x-Einheiten festgestellt.
Lise Meitner^) fand als kürzeste Wellenlänge
diejenige der y-Strahlen des Thoriums C", welche
sich zu 24,5 X-Einheiten ergab.
Diese j' Strahlen entstehen bei der Bremsung
von /? - ( = Elektronen-)-Strahlen mit 87 "/q Licht-
geschwindigkeit. Es gibt aber noch viel kurz-
welligere ;' Strahlen, denn die schnellsten ,'?-Strahlen
des Radiums C erreichen fast die volle Licht-
geschwindigkeit (0,998 "/o nach J. Danysz). ^)
Diese //-Strahlen entsprechen den Kathodenstrahlen
einer Röntgenröhre, welche durch ein Feld von
etwa 2102000 Volt beschleunigt worden sind.
Die Wellenlänge der bei ihrer plötzlichen Brem-
sung entstehenden elektromagnetischen Strahlung
') 1. c. S. 369 nach Proc. Roy. Soc. 99, S. 261 (1921).
*) I x-Einheit = 10— u cm.
') Nvp. 10, S. 383 und Z. f. Phys. 9, S. 131 — 152 (1922).
*) Le Radium 9, S. I (1912).
ergibt sich mit Hilfe der Quantentheorie zu
0,007 A. Da Elektronenstrahlen von Überlicht-
geschwindigkeit nicht mögHch sind, so liegt un-
gefähr auch hier das natürliche Ende des Spek-
trums der elektromagnetischen Wellen.
Heute umfaßt das gesamte Spektrum der
Wellen , welche durch Interferenzmethoden ge-
messen werden, Strahlen von 0,02 -lO"* cm an
bis weit über 2 • 10® cm Wellenlänge. Alle diese
Wellen pflanzen sich infolge ihrer Wesensgleich-
heit mit einer Geschwindigkeit von 300 000 km
in der Sekunde im Räume fort. Die auffallenden
Unterschiede etwa der Röntgenstrahlen, der sicht-
baren und der elektrischen Wellen , welche bei
der drahtlosen Telegraphie gebraucht werden,
folgen einzig aus dem entsprechend großen Unter-
schied der Wellenlängen dieser transversalen
Schwingungen im Äther oder hypothesenfreier im
Dielektrikum. Auch hat sich bei der Überbrückung
der beiden Lücken im Spektrum der elektro-
magnetischen Wellen gezeigt, daß die ultraroten
Strahlen ohne jede sprunghafte Änderung ihrer
Eigenschaften in die kurzwelligsten elektrischen
Strahlen übergehen und daß auch die langwelligen
Röntgenstrahlen mit den ultravioletten Strahlen
in ihrem Wesen völlig übereinstimmen.
Bücherbesprechungen.
V. Hahn, Dr. Friedrich -Vincenz, Über die
Herstellung und Stabilität kolloida-
ler Lösungen anorganischer Stoffe.
(Mit besonderer Berücksichtigung der Sulfid-
sole). Mit 13 Abb. Stuttgart 1922, Ferdinand
Enke. 5 M.
Der ein wenig selbstsichere Ton der Dar-
stellung steht im umgekehrten Verhältnis zu dem
sachlichen Wert — nicht dieses Buches, sondern
der darin behandelten Arbeiten im allgemeinen.
Denn leider muß man sagen, daß die Kolloid-
chemie den Rang einer „exakten" Wissenschaft
oft nur bedingt verdient. Die wertvollen An-
sätze einiger Forscher, durch strenge Methodik
den Erkenntniswert kolloider Erscheinungen zu
steigern, sind zu jungen Datums, als daß man
davon bereits wirkliche ,, Früchte" ernten könnte.
Mit dem bloßen Ungefähr aber ist niemandem
gedient. Dieses Ungefähr, das Unbestimmte
kommt in dem vorliegenden Buche in einem
Maße zum Ausdruck, daß man ein unbefriedigtes
Gefühl eigentlich nie ganz los wird. Als be-
sonders krasse Beispiele für die Unbestimmtheit
der vorgetragenen Arbeiten nenne ich: die elektro-
synthetisierten Metallsole, von denen S. 16 ge-
sagt wird, es „scheint sich vorwiegend um Sole
von Metalloxyden zu handeln"!, ferner die Theorie
der elektrischen Zerstäubungserscheinungen (S. 23),
die angebliche Darstellung kolloiden Zinnobers
aus „einem alten und vielleicht verunreinigten
Präparat von Quecksilbercyanid"! (S. 41), endlich
ein Passus auf S. 51, der ausführlich mitgeteilt
sei. Er beginnt: „Aus den beiden experimentell
erwiesenen Sätzen , daß nicht dissoziierte
organische Verbindungen keine koagulierende
Wirkung haben (dieser Satz ist durch die Beob-
achtung, daß auch Zucker und Fil trierpapier
flocken können, widerlegt worden 1) ..." Ein
Satz, der durch andere Beobachtungen „widerlegt"
wurde, ist nicht „experimentell erwiesen"!
Dann aber muß es als eine — Kühnheit be-
zeichnet werden, Filtrierpapier als organische
„Verbindung" zu behandeln. Es steht das auf
derselben Stufe wie das Verfahren mit „vielleicht
verunreinigten" Präparaten zu arbeiten und aus
den nicht reproduzierbaren Ergebnissen weit-
tragende theoretische Schlüsse zu ziehen. Der
Berichterstatter versagt sich eine Kennzeichnung
solcher Methodik.
Die Stilisierung des Buches entspricht vielfach
seinem Inhalt. Der Herr Verfasser sehe sich
beispielsweise den letzten Satz auf S. 49, der auf
S. 50 weitergeht, an. Ausdrücke wie z. B. „Schwefel
kiesel" für SiSj sind nicht selten. In Figur 6
fehlt der Buchstabe D. Wie schon angedeutet;
hier handelt es sich nicht um exakte Naturwissen-
schaft, sondern um eine literarische Angelegenheit,
deren wie immer tadellose Aufmachung durch
den guten Verlag man fast bedauert.
Wer sich über die Herstellung kolloider
Lösungen unterrichten will, greife zu dem Buche
von The Svedberg (zweite deutsche Auflage,
452
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 33
Dresden 1920). Mit dem vorliegenden Buch ist
der Kolloidchemie im allgemeinen kein Dienst
erwiesen worden. H. Heller.
Chemie -Büchlein. Ein Jahrbuch der Chemie.
Herausgegeben von Prof. Dr. H.Bauer. Stutt-
gart 1922, Franckhsche Verlagshandlung. 9,60 M.
Das vorliegende Büchlein aus dem bekannten
Verlag allgemeinverständlicher Werke naturwissen-
schaftlicher Richtung eröffnet eine Reihe von
Jahresberichten, die „in gemeinverständlicher und
doch wissenschaftlicher Art" über die Gesamt-
entwicklung der neuzeitigen Chemie unterrichten
wollen. Der Zweck ist sicher lobenswert. Be-
richterstatter fühlt sich jedoch verpflichtet zu
sagen, daß der hier zu besprechende Band keinen
tadellosen Auftakt für dieses Unternehmen dar-
stellt. Das Büchlein ist vielmehr augenscheinlich
viel zu hastig zusammengestellt worden. Es
wimmelt von Druckfehlern. Gleich die zweite
Umschlagseite , die Buchanzeigen gewidmet ist,
weist zwei grobe Entstellungen auf Und in dem
vom Herausgeber geschriebenen Beitrag über
„Organische Chemie" ist der Name des verdienten
Kohleforschers G 1 u u d (sie I) durchweg verdruckt.
Auch sachlich bekommt man zuweilen den
Eindruck einer flüchtigen Arbeit. Insbesondere
der einleitende Aufsatz von E. Kohlweiler
über den „Aufbau der Materie" ist das Gegenteil
einer pädagogisch durchdachten Zusammenstellung
der hier zu erörternden Forschungsergebnisse. Es
erübrigt sich darzulegen , warum aber gerade
„gemeinverständliche" Darstellungen mit äußerster
Gewissenhaftigkeit in der Didaktik ausgearbeitet
werden müssen. Aus dem Empfinden des zu
kritischer Wertung unfähigen Nichtfachmannes
heraus muß dagegen Verwahrung eingelegt wer-
den, daß (um ein Beispiel herauszugreifen) S. 13
die unfertigen Diffusionsversuche des Verf. an
Joddampf ohne weitere Erörterung neben den
glatt widersprechenden Befund von Aston ge-
stellt werden. Und es ist leider nicht nur eine
stilistische Mangelhaftigkeit, wenn S. 3 1 behauptet
wird, die „Feinstruktur der Spektrallinien" werde
„durch die vertieften Raumzeitverhältnisse be-
dingt (I)". Der Verf. bringt eine Unmasse der
schwierigsten theoretischen Erörterungen zur
Sprache, deren Sinn dem Laien ewig dunkel
bleiben und auch dadu'rch nicht deutlicher sein
wird, daß er sie mit Werturteilen, wie „glänzend",
„größter Triumph" usw. ausgestattet vorgetragen
sieht. Der Satz: „Dadurch hat die Atomidee im
weiteren Sinn eine gewisse abschließende Krönung
erfahren, insofern sich die Erkenntnis klar heraus-
geschält hat usw. über 1 1 Zeilen (S. 24)
kennzeichnet die ganze wenig befriedigende Ar-
beit.
Besser gelungen ist der Beitrag von A.König
über Katalyse ; schlicht und klar und darum
schätzenswert ist „Die Stickstoffgewinnung aus
der Luft" von V. R e u ß. In dem Beitrag des
Herausgebers ist der Abschnitt über „die Kohle
und ihre Veredelung" zu sehr ins einzelne geführt.
Der Beitrag über ,, Farbstoffe und Faserstoffe" end-
lich ist vorwiegend eine knappe Darstellung längst
bekannter Verhältnisse in Industrie und Wissen-
schaft. Da er der Feder Hugo Kauffmanns
entstammt, so ist die Gewähr sachlich und for-
mell einwandfreier Darstellung gegeben. Wertvoll
wird dieser Teil durch eine Skizzierung der Ost-
wal d sehen Farbenlehre. Die Sachlichkeit dieser
Darstellung berührt um so wohltuender, als die
Mehrzahl der Leute, die sich ein Urteil über
Ostwalds Arbeiten anmaßen, leider nicht die
Befähigung hieriür besitzt, wofür ich auch an
dieser Stelle die Namen Trillich und besonders
Ganswindt (Deutscher Färber Kalender 1922)
als Beleg nenne.
Einige kleinere Mitteilungen schließen das
Bändchen ab. Im ganzen läi3t es den Wunsch
berechtigt erscheinen, daß seine Nachfolger mit
mehr Ruhe und Nachdenken über die Bedürfnisse
des Leserkreises, an den es sich wendet, gearbeitet
werden möchten! Der Herausgeber ist sehr wohl
der Mann, sich eines in jeder Beziehung einwand-
freien Mitarbeiterkreises zu versichern; und der
Verlag hat gleichfalls bewiesen, daß er Besseres
zu leisten imstande ist. H. Heller.
Emil Frhr. von Dungern, Über die Prin-
zipien der Bewegung, das Wesen der
Energie und die Ursachen der Stoß-
gesetze. 37 S. Jena 1921, G. Fischer. 5 M.
Allen großen universalen Erklärungsprinzipien
der Naturwissenschaft wohnt die Tendenz inne,
über den Rahmen ihrer Mutterwissenschaft hinaus-
zuwachsen und das Ganze der Naturwissenschaft
kausal zu beherrschen. Das ist der Moment, in
dem aus logisch wohl definierten und fundierten
kausalen Sätzen ein metaphysisches Gebilde ent-
steht, unsicher in seiner Auffassung und Ab-
grenzung und nur erfüllt von dem in der reinen
Wissenschaft gänzlich unbrauchbaren Streben,
Definitives und Abschließendes zustande zu
bringen. So entstand vor unseren Augen aus
dem Selektionsprinzip der Biologie durch seine
unkritische Übertragung auf die ihm nur sehr
bedingt zugänglichen Gebiete der Psychologie,
Soziologie und der historischen Wissenschaften
der Darwinismus als Weltanschauung. Ähnlich
wird so aus den Energiesätzen der Physik die
Energetische Weltanschauung. Nun ist es aber
nicht so, daß diese metaphysische Übertreibung
an sich logisch wohl definierter Fundamentalsätze
sich nur außerhalb des Rahmens ihrer Ursprungs-
wissenschaft auswirkt, vielmehr greift sie — das
ist tief im Wesen aller Metaphysik, die ihren
Wahrheitsgehalt aus Widersprüchen saugt, be-
gründet — auch wieder auf diese zurück und
deutet den ursprünglichen Sinn der Sätze oft
radikal um.
Die so entstandenen Deutungen, die die Ener-
getik an den mechanischen Grundbegriffen, vor
allem dem der Kraft selbst vorgenommen hat,
N. F. XXI. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
453
stellt V. Dungern mit großem Scharfsinn heraus
und lehnt sie ab, indem er die Energie in ihre
logischen Grenzen zurückweist. Unser Autor ver-
sucht zu zeigen, „daß man schon die einfachsten
mechanischen Vorgänge durch die Energie allein
nicht erklären kann , wenn man sie als etwas
Einheitliches auffast. Man braucht noch Kräfte
außerhalb der Energie, die als Energierichter die
Wandlung der Energie bedingen, indem sie der
Bewegung eine bestimmte Richtung geben". Die
sehr ins Einzelne gehende Kritik hindert von
Dungern aber nicht, bis zu allgemeinsten Lehr-
sätzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
lehre vorzudringen. „Es ist ein Irrtum zu glauben,
man könne die Mannigfaltigkeit der physikalisch-
chemischen Welt dadurch erklären, daß einfache,
in wenig Arten zerfallende oder sogar gleich-
artige Urdinge in verschiedener Weise räumlich
angeordnet sind und dem Energieprinzip ent-
sprechend sich gegenseitig beeinflussen ... Es
steht uns frei, die Struktur des Kristalls auf die
Eigenschaften der Moleküle, die Eigenart des
Moleküls auf die spezifisch angeordneten Kräfte
der Atome zurückzuführen und die Atome wieder
aus Elektronen zusammengesetzt zu denken, die
je nach der Anzahl ein verschiedenes Gebilde
ergeben. Einfache Urdinge aber können solche
Elektronen nicht sein . . . Aus gleichartigen un-
wandelbaren Urdingen, die unter allen Umständen
nur gleichmäßig anziehen oder abstoßen, kann
die chemisch-physikalische Welt nicht entstehen,
noch viel weniger die Organismen."
So kommt von Dungern also auch zur Ab-
lehnung jener grob mechanistischen Lehre, die
prinzipiell nicht über die klassische Fassung
Demokits hinausgekommen ist. Ebenso wie
in dem gleichzeitig erschienenen Werke von
Köhler (Die physischen Gestalten in Ruhe und
im stationären Zustand) greift auch unser Autor,
von Anschauungen ausgehend, die ursprünglich
in der Physiologie und Biologie überhaupt zu-
hause sind, rein physikalische Positionen an, ein
außerordentlich beachtenswertes Signum für die
gegenwärtige Lage der Logik der Naturwissen-
schaft , nachdem bisher eigentlich nur das um-
gekehrte Verfahren üblich war. „Die Wandlung
ist nicht ein passiver Ablauf, nicht die unmittel-
bare Folge des vorhergehenden Geschehens, sie
ist eine Schöpfung, durch die Bewegung wohl
beeinflußt, aber nicht bedingt." Mit diesem Satz,
dem von Dungern auch in der Physik Geltung
verschaffen will und dem der biologische Ursprung
ganz besonders deutlich an der Stirn geschrieben
steht, schließt er seine Ausführungen, die, obwohl
sie, was schlieslich auch noch gesagt werden muß,
obschon es sich ja von selbst versteht, auch
manchen Widerspruch wecken werden, wir der
ernsten Beachtung aller derjenigen empfehlen, die
sich für die Erkenntnistheorie der Naturwissen-
schaften interessieren. Adolf Meyer (Hamburg).
NeefF, Friedrich, Prolegomena zu einer
Kosmologie. Tübingen 1921, Mohr.
Die Biologie kann einstweilen teleologische
Gesichtspunkte in der Darstellung ihrer F"orschungs-
resultate noch nicht entbehren. Das ist im wesent-
lichen der heutige Standpunkt der Biologen in
dieser Frage, nachdem der langwierige Kampf
der darwinistischen Epoche in dieser Frage vorüber-
gerauscht ist.
Aus dieser offenbaren Not der Biologie ver-
sucht nun Nee ff eine Tugend zu machen, ja er
fordert sogar Teleologie auch für die anorgani-
schen Wissenschaften, obschon diese bisher keiner-
lei Bedürfnis in dieser Richtung geäußert haben.
Zwar kommt auch N e e f f zu dem Resultat , daß
Teleologie nur regulative Bedeutung habe, niemals
konstitutive und daß sie besonderen Wert auch
habe als Hinweis auf Kausalität. Das Neue, das
Nee ff dieser hinreichend bekannten Auffassung
hinzufügt, ist eben die Ausdehnung der regulativ
gemeinten Teleologie vom Organismus bis zum
Kosmos, vom Biologischen auf das Ganze der
Natur. „Von der Organologie, die nur die be-
sonderen im Lauf der Geschichte entstandenen
Organbildungen als Äußerungen von Einpassungen
der Lebewesen in ihre Umgebung betrachtet,
gehen wir zurück auf die reine teleologische Me-
thode überhaupt. An die Stelle der besonderen
Frage nach organischen Einrichtungen tritt das
allgemeine Problem der Einrichtung über-
haupt. So untersucht Neeff teleologisch die
Reaktion von H und O zu H3O und kommt zu
dem erstaunlichen Resultat: „In dieser Reaktion
erfolgt eine chemisch - physikalische Einpassung
der Stoffe ineinander. An die Stelle einer bloßen
Mischung oder eines Gemenges tritt eine > Ver-
bindung« ein." Beim Fall der Körper argumen-
tiert Neeff: „Und so kann sich die Erscheinung
des fallenden Körpers nicht mehr auf bloßen Zu-
fall gründen, wonach der Körper aus dem einen
Zustand in einen zufällig anderen, fremden Zustand
fällt. Vielmehr denken wir in der Richtung
des fallenden Körpers diesen als auf dem Weg
zu seinen anderen passenden Zustand fallend.
Also geht das teleologische Denken auf seinem
Gang vom einen zum andern über und schafft
ein architektonisches Gefüge von Einrichtungen."
Wenn ich auch glaube, daß die Biologie noch
manches Prinzip zutage fördern wird und vielleicht
auch schon hat, das auch für die anorganischen
Wissenschaften theoretisch von Wert sein kann
— ich denke da an die Arbeiten von v. Uexküll
und W. Köhler (192 1) — , obschon im allge-
meinen auch künftig das umgekehrte Ver-
hältnis bestehen bleiben wird, so bin ich fest
überzeugt, daß die Teleologie nicht zu diesen
Prinzipien gehört, eine Ansicht, die durch
die eben angezogenen Beispiele von Neeff be-
trächtliche Stärkung erfahren hat. Ich glaube
kaum, daß Physik und Chemie diese Bereiche-
rungen ihrer theoretischen Mittel mit großer Be-
geisterung begrüßen werden. Ich habe bei der
454
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 33
Lektüre unseres Autors, der ein bischen recht
weitschweifig und mit wohl übertriebenen An-
sprüchen geschrieben hat, mehrfach an dem be-
kannten Vers von den „parturiunt montes .... 1"
denken müssen.
Diese notwendige Kritik soll uns aber nicht
abhalten, das Wertvolle, das in Neeffs Abhand-
lung steckt, dankbar anzuerkennen. Wir sehen
es in der klaren Herausstellung der begrifflichen
Unterschiede zwischen den Ideen — Neeff spricht
mit der kantischen Terminologie von Kategorien
— der ,, Kausalität", ,,TeIeologie" und „Historie",
von Neeff sehr glücklich, wenn auch logisch zu
eng „Originalität" genannt. Sehr fein arbeitet er
die zu ihnen gehörigen Begriffspaare heraus, so:
Kausalität: Ursache und Wirkung; Originalität:
Ursprung und Verlauf; Finalität: Mittel und Zweck.
Die Aufhellung dieser Begriffspaare bleibt ein
unbestreitbares Verdienst der Neeffschen Arbeit,
auch wenn man der Finalität nicht die universale
Bedeutung im logischen Aufbau der Naturwissen-
schaften zubilligen kann wie Neeff, sondern eher
der Meinung ist, daß ihre Verwendung auf ein
Minimum zu reduzieren sei. Es wird meines Er-
achtens immer so bleiben in der Wissenschaft,
daß wir überall da, wo wir bereits kausale Er-
kenntnisse haben, historische und erst recht finale
entbehren können.
Adolf Meyer (Hamburg).
Brehm, A. E. , Das Leben der Vögel. Be-
arbeitet und herausgegeben von Carl W. Neu -
mann. Reclams Universalbibliothek Nr. 6275
bis 6277.
Mit dieser Neuherausgabe ist das Lieblings-
kind der schriftstellerischen Tätigkeit des Alt-
meisters Brehm der ihm drohenden Vergessenheit
entrissen. Verdunkelt durch das umfassendere
,, Tierleben" ist es seinerzeit nicht über die
2. Auflage hinausgekommen. Und doch gehört
es mit zu den klassischen Schriften auf dem Ge-
biete der Ornithologie. Vom alten Pastor Brehm,
seinem Vater, her brachte A. E. Brehm die
hervorragendsten Anlagen und beste Schulung
für die Beobachtung der Tierwelt insonderheit
der gefiederten Freunde mit. Wer recht genuß-
reiche Stunden haben will, greife zu diesen drei
neuen Reclambändcheq. Das tägliche Leben des
Vogels, seine Stimme, seine Bewegungen, sein
Beruf, d. h. die Art, wie er seiner Nahrung nach-
geht, die Ausrüstung, die ihn zu seinem Gewerbe
befähigt, sein Liebesleben, sein Nestbau , Brut-
geschäft, Siedelungen, die allgemeine Verbreitung
der Vögel und die Charaktertypen der einzelnen
Erdteile werden in meisterhafter, fesselnder Weise
dem Leser vorgeführt. Wie der Vogel in der
Dichtung aller Völker und Zeiten lebt und warum
er verdient der bevorzugte Gastfreund der Men-
schen zu sein, schildern die beiden letzten Kapitel
der 3 Bändchen. Man fordere nicht eine den
wissenschaftlichen Anforderungen der Neuzeit ent-
sprechende Stellungnahme zu den Problemen des
Vogellebens — vom Wanderzug der Vögel ist
z. B. überhaupt nicht die Rede. — Brehms
„Leben der Vögel" ist kein Lehrbuch. Aus der
Fülle seiner Kenntnisse und Erfahrungen hat Br.
uns in liebenswürdigster Freigebigkeit und span-
nender Darstellung Einzelheiten aus dem Vogel-
leben mitgeteilt, welche man sonst schwer ander-
wärts finden wird. Die „Seele" im Vogel lernen
wir lieben. Dem Herausgeber gebührt unser
Dank. H. Duncker.
Deegener, H., Chemisch -tech nische Rech-
nungen. 2. Aufl. Berlin und Leipzig 1921,
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. (Samm-
lung Göschen Nr. 701.)
In diesen 73 durchgerechneten Aufgaben steckt
eine ganz beträchtliche Menge von höchst wert-
vollen Belehrungen über die zahlenmäßige Ge-
staltung des chemischen Betriebes. Heut, wo es
sich für den Betriebschetniker weniger um Schaf-
fung grundsätzlich neuer Verfahren als vielmehr
um die rationellste Ausgestaltung schon bestehen-
der Fabrikationen zu handeln pflegt, muß man
Anleitungen wie dieser weite Verbreitung wün-
schen. Gerade der junge Chemiker, dem noch
zu viel des Akademischen anhaftet, wird daraus
lernen, als sparsamer Hausvater mit den ihm an-
vertrauten Energien umzugehen. Daß die Wärme-
wirtschaft einen so breiten Raum in dem Büch-
lein einnimmt, wird der in der Industrie tätige
Fachmann verständnisvoll begrüßen. Im übrigen
gewährleistet eine große Anzahl Formeln, daß
wohl die meisten in praxi vorkommenden Rechen-
aufgaben bewältigt werden können.
Gerügt werden muß es, daß laut Vorwort die
Atomgewichte von 1916 zugrundegelegt sind.
Wirklich steht in der Tabelle auf S. 138 u. a.
der um eine Einheit zu kleine Wert für Wismut.
Der Druck des nützlichen und bei fleißigem
Studium ersprießlichen Buches ist gut.
_ H. H.
Petzoldt, Joseph, Das Weltproblem vom
Standpunkte des relativistischen Po-
sitivismus aus historisch -kritisch
dargestellt. 3. neubearb. Aufl. unter be-
sonderer Berücksichtigung der Relativitäts-
theorie. Wissenschaft und Hypothese XIV.
Leipzig und Berlin 1921, B. G. Teubner. 40 M.
Es erübrigt sich wohl, der 3. Aufl. des be-
kannten Buches von neuem eine Empfehlung mit
auf den Weg zu geben. Es hat bereits gute Wir-
kung getan und ist nach wie vor die beste Darstel-
lung der positivistischen Lehre, wie sie von Mach
und Avenarius gegeben und von Petzoldt
in unübertrefflicher Weise systematisiert worden
ist, über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wis-
sens. Der Positivismus steht bekanntlich der
Naturwissenschaft ganz anders gegenüber, wie
andere Philosophien. Der Positivismus ist — da-
für sind die unvergeßlichen Bücher Machs der
sprechendste Beweis — die Philosophie der Natur-
N. F. XXI. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
455
Wissenschaft selbst. Er ist aus ihren Bedürfnissen
herausgewachsen und zur Lösung ihrer philoso-
phischen Probleme berufen und bestimmt. Ist
doch auch die größte Leistung der modernen
Physik, die Relativitätstheorie Einsteins, auf
positivistischem Boden erwachsen. Insofern ist
es besonders interessant, daß Petzoldt besonders
eingehend die erkenntnistheoretische Bedeutung
der Relativitätstheorie würdigt. So ist P e t z o 1 d t s
Buch der beste Führer in das Erfahrungsproblem
der Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften.
Freilich will es mir scheinen, als ob Petzoldt
der Erfahrung gegenüber das, was er „Begriffs-
system" und was man gewöhnlich Theorie nennt,
ein wenig unterschätzt. „Der höchste Ruhm einer
naturwissenschaftlichen Theorie könnte es sein,
an ihren neuen Tatsachen selbst zugrunde zu
gehen, d. h. an den auf Grund ihrer Lehren ge-
machten Entdeckungen, — könnte es sein, wenn
wir nicht noch immer so tief in die Bande des
Rationalismus verstrickt wären." Da ist es meines
Erachtens doch gut, daß es noch so etwas wie
Rationalismus gibt. Der ganze mathematische
Apparat, der doch für die Naturwissenschaft ein-
fach unentbehrlich ist, ist doch ein Stück Ratio-
nalismus. Diese „Begriffssysteme" sind aber logisch
nicht einwandfrei charakterisiert, wenn man in
ihnen, wie Petzoldt, „biologische Anpassungen
an die sinnesphysiologisch vermittelte Tatsachen-
menge" sieht. IVIathematisch eine biologische An-
passung? Das scheint mir eine contradictio in
adjecto zu sein. IVleines Erachtens muß die bio-
logische Fundierung des Positivismus durch eine
rein logische ersetzt werden. Doch das sind
Meinungsverschiedenheiten, die den hohen Weit
des Petzoldt sehen Buches in keiner Weise be-
einträchtigen können und sollen. Wir empfehlen
es allen naturwissenschaftlich und philosophisch
interessierten Lesern nochmals auf das dringendste.
Adolf Meyer (Hamburg).
Flora der Laub- und Lebermoose der Um-
gebung Hannovers. Eine geographisch flo-
ristische Heimatkunde für das Gebiet. Von
W. Wehrhahn. Hannover, Verlag C. V. Engel-
hardt & Co., G. m. b. H.
Von den üblichen Moosfloren unterscheidet
sich diese Arbeit sehr wesentlich durch eine
heimatkundliche Erweiterung. Der Verfasser, ein
tüchtiger Kenner des Landes und seiner Flora,
hat sich nicht mit der kritischen Aufzählung der
im Gebiete beobachteten Moose und ihrer Stand-
orte begnügt, die übrigens so manches Bemerkens-
werte enthalten, sondern er schickt ihr u. a. eine
ausführliche Abhandlurtg über „Die Gelände-
formationen des Gebietes in ihrer floristischen
Eigenart" voraus, in der die einzelnen Gelände,
ihre Moosgesellschaften und auch die sonst be-
merkenswerten höheren Pflanzen geschildert
werden. Zum Gebiete gehört auch das Warm-
büchener Moor, und es wird u. a. berichtet, wie
der leider im Kriege gefallene Hermann Löns
seinerzeit Kalmia angustifolia in diesem Moore
auffand. Die Darstellungen des Verfassers werden
in hohem Grade durch eine Reihe nach Photo-
graphien hergestellter ganzseitiger Tafeln mit
Naturaufnahmen belebt. Wehrhahns Arbeit
gibt ein sehr gutes Beispiel dafür, wie ein spezi-
elles Standortsverzeichnis, durch zweckmäßige
Einkleidung mit Naturschilderungen in Wort und
Bild aus dem Gebiete, weit über seinen sonstigen
Wert hinaus gesteigert werden kann. Sicher
wird das Buch auf den Schulen Hannovers eine
sehr gute Wirkung ausüben, aber es verdient auch
sonst Verbreitung. L. Loeske, Berlin.
Wiegers, Fr., Geologisches Wanderbuch
für die Umgegend von Berlin. i6o S.,
54 Abb. Stuttgart 1922, Enke. Geh. 30 M.
Zu den geologischen Exkursionsführern für die
Umgebung Berlins von Hucke, Menzel,
Schneider tritt ein neuer, ein erfreuliches
Zeichen für die Aufmerksamkeit, die man dem
Stoffe auch da erweist, wo er sich spröder er-
weist. Denn es ist im ganzen eine und nicht
die leichtest faßliche Formation, mit der das Ge-
biet bekannt macht: das Quartär. Nach einigen
allgemeingeologischen Einfuhrungen sind ihr S. 19
bis io6 gewidmet. In den sehr viel kleineren
Rest teilen sich Tertiär, Trias und Zechstein, wie
sich das für diese kleinen Sporaden geziemt. Die
für jeden Absatz notwendigste Literatur ist jeweils
angefügt.
Wesentlich Neues vermag natürlich neben den
älteren durchaus bewährten Führern der vor-
liegende nicht zu bieten. Im Gegenteil darf man
dankbar sein, daß er nicht mit Gewalt „anders"
gehalten wurde. Auch die Abbildungen sind
nahezu durchweg Entlehnungen aus dem Kayser-
schen Lehrbuche und dem Menzelschen Führer,
die im gleichen Verlage erschienen. Das kann
bei den gegenwärtigen Verhältnissen unmöglich
Anlaß zu Tadel sein. Dankbar wird mancher die
geschickt eingestreuten historischen Bemerkungen
empfinden, wie denn überhaupt ein praktisch-
natürlicher Zug durch die Darstellung weht. Dem
Spezialgebiete des Verf. entsprechend ist schließ-
lich das „Hauptleitfossil" des Quartärs, der Mensch
und seine Kultur eingehender behandelt, als es
Funde in der Mark bisher zu erfordern scheinen.
Niemand wird solche Hinweise von berufener
Hand ablehnen wollen. Auf S. 66/67 findet sich
eine die Anschauungen des Verf. anschaulich
widerspiegelnde Tabelle zur Zeitfolge der eiszeit-
lichen Kulturen. Hennig.
Wellmann, Friedrich, Vogelleben in Nie-
dersachsen. 9 Skizzen. Bremen, Carl
Schünemann.
Heimatduft und Heimatliebe atmet dieses nicht
von einem Fachornithologen, aber einem hervor-
ragenden Vogelliebhaber und Kenner unserer
heimischen Vogelwelt verfaßten Büchleins. Wie
vielen haben diese entzückenden Schilderungen
456
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 33
bereits unendliche Freude bereitet in der bekannten
in Bremen erscheinenden Zeitschrift „Nieder-
sachsen". Jetzt hat sie der Verlag in Buchform
herausgegeben, um sie einem weiteren Leserkreis
zugänglich zu machen. Auf seinen Wanderungen
mit dem Feldstecher an der Seite und dem liebe-
vollen „Vogelherzen" in der Brust begleiten wir
den Dichter — ein neuer Löns — auf seinen
Streifzügen durch die Marschen Niedersachsens,
ins Moor zu dem „bunten Volk", den Enten, in
den Wald, durch die Straßen der Großstadt,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bald in
Hochdeutsch, bald in Platt lassen wir uns auf die
Feinheiten des Vogellebens aufmerksam machen.
Immer wieder ist es der Gesang, sind es die
Stimmen der Vögel, welche ganz besonders un-
sere Aufmerksamkeit fesseln. Ein echtes Heimat-
buch. H. Duncker.
Anregungen und Antworten.
Erst vor kurzem habe ich Kenntnis bekommen von einer
Besprechung meiner kleinen Schrift „Die Einsteinsche Gravi-
tationstheorie" durch Herrn Fricke in der Naturw. Wochen-
schrift vom 23. April. Ich würde mich zu dieser Besprechung
selbstverständlich nicht äußern, wenn sie nur sachlich wäre.
Herr Fricke aber, der mich nebenbei bemerkt gar nicht
kennt, hat geglaubt, auch meine Person in die Besprechung
hineinziehen zu sollen. Er sagt: ,,Der Verfasser will es aber
offenbar mit keiner Seite verderben". Die gänzlich unbe-
gründete Insinuation, daß ich mich bei der Abfassung meiner
Schrift von anderen Beweggründen hätte leiten lassen, außer
dem reinen Streben nach Wahrheit, halte ich für eine leicht-
fertige Schmähung meines guten wissenschaftlichen Namens.
Ich weise sie mit der grüßten Entschiedenheit zurück.
Gustav Mie.
Nachtrag zu dem Aufsatz: Neuer Rekonstruktionsversuch
eines liassischen Flugsauriers. Im 21. Band, Nr. 20, vom
14. Mai 1922.
Durch allzu gedrängte Fassung ist die Darlegung S. 275
über Stellung und Gebrauch der Hinterextremität mißverständ-
lich geworden, und bedarf einer weiteren Ausführung:
Wie schon erwähnt, beweisen die Trochanter des Ober-
schenkels starken Gebrauch. Fiele der Hinterextremität nur
die Aufgabe zu, die Flughaut zu spannen, oder wäre sie gar
zwischen dem Patagium und einem Uropatagium eingespannt,
wie Abel dies bei Rhamphorhynchus annimmt, so wäre eine
derartig kräftige Ausbildung des Trochanter major, wie sie
Abb. I zeigt, unverständlich. Außerdem beweist sowohl das
wohlentwickelte Kniegelenk wie das distale Gelenk des
Tibiotarsus, daß die Hinterextremität nicht nur Bewegungen
auf dem Boden zuließ, sondern stark zu solchen verwendet
wurde. Gebrauchsfähig war aber die Hinterextremität auf
dem Boden, was aus der erwähnten beschränkten Exkursions-
möglichkeit des Oberschenkels hervorgeht, nur bei steilstehender
Körperachse. In dieser Stellung aber erreichen die Krallen-
finger der Vorderextremität den ebenen Boden nicht, über-
haupt war die Vorderextremität zum Schreiten ungeeignet.
Man muß sich das Tier also auf ebener Erde biped (s. S. 218 — 19)
vorstellen, eine Annahme, die durch den vogelartig ausge-
bildeten Tibiotarsus eine starke Stütze erfährt. Der Ober-
schenkel stand jedoch nicht vogel- oder säugerartig, wie
Seeley 1901 dies von langschwänzigen Flugsauriern an-
nimmt, sondern vom Körper abgespreizt.
Erst bei steil ansteigendem Gelände tritt insofern ein
Rollenwechsel ein, als nun die Vorderextremität das den
Körper auf dem Boden bewegende Organ wird , und die
Hinterextremität nunmehr den Körper stützt. Kletternd zieht
sich das Tier mittels der Arme vorwärts-aufwärls, in einer
Art wie sie S. 279 beschrieben ist, und die man beim Militär
eskaladieren nennt. Carl Stieler.
Literatur.
Jessen, Dr. Otto, Die Verlegung der Flußmündungen
und Gezeitentiefs an der festländischen Nordseeküste in jung-
alluvialer Zeit. Stuttgart '22, Ferd. Enke.
Fuchs, Dr. Walter, Der gegenwärtige Stand des Gärungs-
problems. Sonderausgabe aus der Sammlung chemischer und
chemisch-technischer Vorträge. Band XXVII. Stuttgart '22,
Ferd. Enke.
Schneider, Dr. Hans, Die Botanische Mikrotechnik.
Ein Handbuch der mikroskopischen Arbeitsverfahren. 2. Aufl.
Jena '22, G. Fischer. Brosch. 120 M., geb. 155 M.
Naef, Dr. Adolf, Die fossilen Tintenfische. Eine paläo-
zoologische Monographie. Jena '22, G. Fischer. Brosch.
100 M., geb. 130 M.
Fischer, Gesammelte Werke. Hrsg. von M.Bergmann.
Untersuchungen über Kohlenhydrate und Fermente II. (1908 —
1919). Berlin '22, J. Springer. Brosch. 186 M., geb. 219 M.
Born, Max, Der Aufbau der Materie. Drei Aufsätze
über moderne Atomistik und Elektronentheorie. 2. Aufl. Ber-
lin '22, J. Springer. Brosch. 36 M.
FöppI, Dr. phil. Aug., Vorlesungen über technische
Mechanik. 5. Band. Die wichtigsten Lehren der höheren
Elektrizitätstheorie. 4. Aufl. Leipzig und Berlin '22, B. G.
Teubner. Geh. 150 M., geb. 170 M.
Föppl, Dr. phil. Aug., Vorlesungen über technische
Mechanik. 6. Band. Die wichtigsten Lehren der höheren
Dynamik. 4. Aufl. Leipzig und Berlin '21, B. G. Teubner.
Geh. 72 M., geb. 84 M.
Inhalt: K. Kuhn, Das Spektrum der elektromagnetischen Wellen. S. 449. — Bücherbesprechungen; Fr.-V. v. Hahn,
Über die Herstellung und Stabilität kolloidaler Lösungen anorganischer Stoffe. S. 451. H. Bauer, Chemie-Büchlein.
S. 452. E. v. Dungern, Über die Prinzipien der Bewegung, das Wesen der Energie und die Ursachen der Stoß-
gesetze. S. 452. F. Neeff, Prolegomena zu einer Kosmologie. S. 453. A. E. Brehm, Das Leben der Vögel. S. 454.
H. Deegener, Chemisch-technische Rechnungen. S. 454. J. Petzold, Das Weltproblem vom Standpunkte des
relativistischen Positivismus aus historisch-kritisch dargestellt. S. 454. W. Wehrhahn, Flora der Laub- und Leber-
moose der Umgebung Hannovers. S. 455. Fr. Wiegers, Geologisches Wanderbuch für die Umgegend von Berlin.
S. 455. Fr. Wellmann, Vogelleben in Niedersachsen. S. 455. — Anregungen und Antworten: Die Einsteinsche
Gravitationstheorie. S. 456. Neuer Rekonstruktionsversuch eines liassischen Flugsauriers. S. 456. — Literatur : Liste. S. 456.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
;r ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 20. August 1922.
Nummer 34.
[Nachdruck verboten.]
Aus der P'abelwelt der alten Griechen, die
mit ihrer lebhaften Phantasie die Natur mit Gott-
heiten und Ungeheuern bevölkerten, ist so man-
cher Name für die Wissenschaft entlehnt worden,
allerdings mit mancher Umänderung. Die 1er nä-
ische Hydra finden wir als harmlosen Süß-
wasserpolypen in unseren Teichen wieder, ein
Tierchen, das mit seinen mikroskopischen Waffen
nicht mehr dem Menschen, sondern nur den vor-
überschwimmenden Wasserflöhen gefährlich wird.
Die Medusen, deren Anblick die Menschen zu
Stein erstarren ließ, entzücken uns heute durch
ihren Formen- und F"arbenreichtum. Der vielge-
staltige, verwandlungsfähige Proteus haust
zwar auch jetzt noch als „Grottenolm" in unter-
irdischen Höhlen, nur hat er sein charakteristisch-
stes Merkmal, die Verwandlungsfähigkeit, einge-
büßt, er gehört zu den Amphibien, dje zeitlebens
ihre Kiemen behalten.
Auch der Name Chimäre entstammt der
griechischen Mythologie. Er bezeichnete ein
Fabelwesen, das vorne Löwe, in der Mitte Ziege
und hinten Drachen war. Das Wesentliche, wes-
wegen dieser Name seinerzeit vom Botaniker
Winkler angewandt wurde, besteht in der
Zusammensetzung eines Organismus
aus mehreren anderen. — Ein paar Worte
zur Vorgeschichte dieses Namens.
In der Gartenkunde ist es ja ein seit altersher
bekanntes Verfahren, zwei Pflanzen durch Pfrop-
fung miteinander zu vereinigen. Edelreis und
Wildling behalten dabei ihre eigentümlichen Art-
oder Rassencharaktere. Seit langem war nun die
Ansicht verbreitet, daß man auf dem Wege der
Pfropfung auch eine innigere Vereinigung, eine
Verschmelzung oder Vermischung der Artcharak-
tere erzielen könne. Wie bei der geschlechtlichen
Bastardierung durch die Vereinigung der Ge-
schlechtszellen eine vollkommene Vermischung
der elterlichen Eigenschaften erreicht werden kann,
so hoffte man auch auf dem Wege der Pfropfung
zwei vegetative oder Körperzellen in ähnlicher
Weise verschmelzen und dadurch richtige „Propf-
bastarde" herstellen zu können. Der Glaube hieran
stützte sich auf das Vorkommen einiger in der
Geschichte der Botanik berühmter Fälle, nament-
lich des Cytisus Adami.
Angeblich im Jahre 1826 hat der Gärtner
Adam Cytisus purpureus auf den gewöhnlichen
Goldregen, C. laburnun gepfropft und erhielt da-
bei aus einer Knospe der Impfstelle einen Zweig,
an dem die Charaktere beider Komponenten auf-
Tierische Chimären.
Von Dr. Erwin Taube, Heidelberg
Mit II Abbildungen im Text.
traten. Diese Mischung ging so weit, daß in
einem Blütenstande purpurne und gelbe Blüten
auftraten, ja daß sogar die Hälfte einer Blüte gelb,
die andere Hälfte purpurn sein konnte. Alle
Exemplare dieser Pflanze sollen aus Stecklingen
von dieser gemeinsamen Mutterpflanze gezogen
sein, die schon Darwin für einen richtigen
„Pfropf hybriden" ansah. Wink 1er hat nun ver-
sucht solche Pfropf bastarde künstlich zu erzeugen.
Ein Tomatensproß wurde durch Keilpfropfung
auf einen Nachtschatten gepfropft. Nach einiger
Zeit wurde an der Vereinigungsstelle das Pfropf-
reis durch einen Querschnitt abgeschnitten. An
der Schnittfläche lagen nun Nachtschatten- und
Tomatengewebe nebeneinander. Hier entwickelten
sich nun Adventivknospen, die je nach der Stelle,
an der sie entstanden, entweder reine Nacht-
schatten- oder reine Tomatensprosse lieferten.
An der Stelle aber, wo junge Zellen der beiden
Komponenten zusammenstießen, entstand einmal
ein eigentümlich gemischter Sproß, der von der
Mutterpflanze abgeschnitten wurde, sich selbstän-
dig bewurzelte und seine Eigenart weiter ent-
wickelte. Ein derartiger Sproß ist links von einer
ihn ziemlich genau halbierenden Mittellinie an
reine Tomate, rechts reiner Nachtschatten. Links
trägt er gefiederte, ziemlich stark behaarte To-
matenblätter, rechts wenig behaarte, ungeteilte,
zarte Nachtschai:tenblätter. Auch die Blütenstände,
ja sogar einzelne Blüten zeigten die Charaktere
beider Pflanzen und so konnte es vorkommen,
daß mitunter Früchte entstanden, die halbseitig
gelbe Tomate, halbseitig schwarze Nachtschatten-
beeren waren. Solchen aus zwei Arten zusam-
mengesetzten Pflanzen hat Winkler den ein-
gangs erwähnten Namen „Chimären" gegeben.
Um einen richtigen Pfropfbastard handelte es
sich hier aber nicht, sondern nur um eine innige
Vereinigung zweier Pflanzen, deren Charaktere
nebeneinander bestanden. In der Überzeugung,
auf dem richtigen Wege zu sein, setzte Winkler
seine Versuche in großem Maßstabe weiter fort
und erhielt schließlich einen Sproß, der tatsäch-
lich eine Mittelstellung zwischen beiden Versuchs-
pflanzen einnahm, besonders in bezug auf die
Blattform. Er nannte ihn Sol. tubingense. Der
Sproß ließ sich weiterkultivieren und erzeugte
auf vegetativem Wege viele Exemplare, die ihre
Bastardnatur beibehielten. Bei der geschlecht-
lichen Fortpflanzung erwies es sich aber, daß
stets ein Rückschlag auf den einen oder den
anderen Elter eintrat. Das Problem der „Pfropf-
458
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
bastarde" war also noch nicht gelöst! Eine
Erklärung dieses merkwürdigen Falles ist dann
hauptsächlich von B a u r gegeben worden , dem
sich später auch Winkler selbst anschloß,
ßaur zeigte, daß es bei Pelargonien gelingt,
Pflanzen zu erzeugen, die halb grüne, halb weiße
Vegetationskegel besitzen , also W i n k 1 e r s Chi-
mären zwischen Nachtschatten und Tomate ent-
sprechen. Aus solchen Sektorialchimären
können Blätter hervorwachsen, die zur Hälfte
weiß, zur Hälfte grün sind. Es kann auch vor-
kommen, daß die oberflächlichen Zellagen des
Vegetationskegels weiß, alle übrigen aber grün
sind. Dann entwickelt sich eine grüne Pelar-
goniumpflanze, die in der Haut einer weißen
steckt, wie die Hand in einem Handschuh. Solche
Chimären bezeichnet Baur als Periklinal-
chi mären. Bei der geschlechtlichen Fortpflan-
zung erhält man aber entweder rein weiße oder
rein grüne Exemplare, je nachdem, ob die die
Geschlechtszellen bildende Schicht des Vegetations-
kegels aus weißen oder grünen Zellen besteht.
Nach dieser Erklärung ist nun Solanum tubingense
auch nichts anderes als eine Periklinalchimäre,
d. h. ein Nachtschatten, der in einer Tomaten-
haut steckt, oder umgekehrt, womit ja auch die
Ergebnisse der geschlechtlichen Fortpflanzung und
sorgfältigen Chromosomenzählungen übereinstim-
men. Dasselbe läßt sich auch von Cytisus Adami
und ähnlichen Fällen sagen. Richtige Pfropf-
bastarde sind also bisher wohl nicht erzeugt
worden.
Wir wenden uns nun zu ähnlichen Versuchen
an Tieren.
Pfropfungen an Tieren sind zwar im allge-
meinen schwieriger durchzuführen, aber doch
schon seit langem ausgeübt worden. Fast vor
200 Jahren hat schon Trembley bei seinen
berühmten Versuchen mit Hydra u. a. zwei Indi-
viduen von Hydra fusca der Quere nach durch-
geschnitten, ihre vorderen und hinteren Hälften
miteinander vertauscht und zum Zusammen-
wachsen gebracht. Es glückte ihm aber nicht
zwei Polypen verschiedener Art, H. viridis und
fusca auf dieselbe Weise dauernd zu vereinigen,
ein Experiment, daß auch Wetzel neuerdings
erfolglos probiert hat.
Leichter hat sich solch eine Vereinigung bei
den Embryonen der Frösche und Kröten erwiesen.
Born gelang es Kaulquappen von Rana esculenta
in der verschiedensten Weise zusammenzupfropfen.
Bald verband er das Vorderende der einen Larve
mit dem Ilinterende der anderen, bald vereinigte
er zwei Larven mit ihrer Rücken- oder Bauch-
fläche, oder sogar nur mit ihren Köpfen, wodurch
abenteuerliche Doppelbildungen entstanden, oder
das Hinterende einer Larve wurde seitlich einer
anderen so aufgepfropft, daß ein Tier mit zwei
Hinterenden entstand. Auch die Vereinigung
artungleicher Embryonen, z. B. Rana fusca, arvalis
und esculenta, hat Born mit Erfolg durchgeführt.
Bei Gattungsverschiedenheiten, Rana esculenta
und Bombinator Igneus, fand Born, daß die
Verwachsung der Gewebe in den meisten Fällen
zwar leicht und vollkommen eintrat, doch sind
später alle solche Zusammensetzungen zugrunde
gegangen. Born läßt die F"rage offen, ob hier
ein Zufall vorliegt oder ob die Todesursache in
„unvereinbaren Unterschieden der Gesamtorgani-
sation zu suchen ist".
Auch an verschiedenen Wirbellosen sind solche
Vereinigungen mit Erfolg vorgenommen worden.
Crampton benutzte dazu Schmetterlingspuppen,
die er entweder mit ihren vorderen oder hinteren
Enden oder mit ihren Seitenflächen zur Ver-
einigung brachte, und aus denen dann in der-
selben Weise verwachsene Schmetterlinge aus-
schlüpften. Joest führte homoplastische und
heteroplastische Vereinigungen an verschiedenen
Arten von Regenwürmern aus. Artgleiche Zu-
sammensetzungen gelangen leicht und konnten
jahrelang am Leben erhalten werden. Viel
schwieriger erwies sich die Vereinigung ver-
schiedener Arten. In vielen Fällen gelang sie
aber auch, die Teilstücke verschmolzen zu einem
neuen Individuum, dessen Organisation, abgesehen
von dem Speziescharakter der vereinigten Teil-
stücke, eine einheitliche war.
Zu erwähnen wären hier noch die Versuche,
bei denen Extremitätenanlagen von einem Indi-
viduum auf ein anderes gebracht wurden und
sich hier normal weiterentwickelten. Hierher ge-
hören die bekannten Versuche von Braus, der
bei jungen Bombinatorlarven die Knospen der
hinteren oder vorderen Extremität abgetrennt, an
den verschiedensten Körperstellen eingepflanzt
und so Larven oder ausgebildete Tiere mit über-
zähligen Gliedmaßen erhalten hat. Dürcken hat
bei Larven von Rana fusca die junge, noch un-
differenzierte Hinterbeinknospe an die Stelle des
aus seiner Höhle entfernten Auges gesetzt und
erhielt im günstigen Falle eine vollständige, gut
ausgebildete Extremität, die aus der Augenhöhle
frei nach außen herauswuchs.
Alle bisher erwähnten Versuche haben die
iVIöglichkeit ergeben Tiere derselben oder ver-
schiedener Art zum Zusammenwachsen zu bringen.
Es sind aber keine Chimären. Von diesen können
wir erst reden, wenn ein viel innigeres Ver-
wachsen oder Übereinanderwachsen embryonaler
Zellen stattgefunden hat. Die Anfänge solch
einer Erscheinung finden wir bei 2 Versuchen
von Ha rrison.
Um die Entwicklung der Seitenlinie bei den
Amphibien zu studieren , vereinigte H a r r i s o n
2 Froschlarven in der Weise, daß die Vorderhälfte
der dunkelgefärbten Rana silvatica, die Hinter-
hälfte der hellen R. palustris angehörte. Nach
einiger Zeit ließ sich beobachten, daß die dunkle
Seitenlinie des vorderen Komponenten sich auch
auf das helle Hinterstück erstreckte und hier
weiterwuchs. Es läßt sich hieraus mit Sicherheit
schließen, daß die Anlage der Seitenlinie von
vorne nach hinten stattfindet, womit gleichzeitig
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
430
wertvolle Aufschlüsse über die Entstehung der
Nerven gegeben waren. Nebenbei wurde die Be-
obachtung gemacht, daß an der Vereinigungs-
stelle die dunkle Epidermis des vorderen Stückes
ein wenig über das helle Hinterstück hinüber-
wuchs. Dieses Auswachsen der dunklen Seiten-
linie, sowie das Überwachsen des hellen palustris-
Gewebe durch dunkle silvatica Haut können wir
als die ersten Anfänge einer Chimärenbildung an-
sehen.
Noch deutlicher tritt dieses in einem anderen
(in ähnlicher Weise auch von Morgan) ausge-
führten Experimente zutage. Es wurde hier die
Schwanzknospe einer Larve von R. virescens
durch eine solche von R. palustris ersetzt. Nach
48 Stunden war die Anlage zu einem Ruder-
schwanz ausgewachsen, der ähnlich wie im
vorigen Falle von Epidermis von virescens be-
deckt war, die vom Rumpf her nach hinten ge-
schoben war. In diesem Bereich wurde nun der
Schwanz von neuem abgeschnitten. Die Gewebe
des Querschnittes wuchsen aus und regenerierten
einen neuen Schwanz, der in seinem Kern aus
Palustrisgewebe bestand, das von Virescensepi-
dermis bedeckt war. Es war hier also tatsächlich
eine Periklinealchimäre entstanden.
Experimentelle Erzeugung von Chimären kann
naturgemäß am besten in einem möglichst jugend-
lichen Alter der Komponenten vorgenommen
werden, weil dann die Zellen noch so indifferent
und umwandlungsfähig sind, daß sie verhältnis-
mäßig leicht mit Geweben einer anderen Art eine
Vereinigung eingehen. Der Zeitpunkt der Ver-
einigung ist dabei kein ganz bestimmter. Das
jüngste Stadium, das dabei gewählt werden kann,
ist das des Eies oder der beiden ersten Blasto-
meren. Hier liegen aus der allerletzten Zeit die
interessanten Versuche Mangolds an Triton-
eiern vor. Zum besseren Verständnis will ich
dabei zuerst einige Worte über die Entwicklung
des Tritoneies vorausschicken.
Das von seiner Gallerthülle befreite Ei ist
kugelrund und hat die Größe eines kleines Hanf-
korns. Mit Hilfe feiner Pinzetten läßt sich nun
noch das feine Dotterhäutchen abziehen, worauf
das Ei etwas seine Form verändert und sich ein
wenig abflacht. Die erste Furche schneidet rund
um den Keim, wobei die beiden \., -Blastomeren
weit auseinanderrücken und oft nur durch einen
feinen Faden Ektoplasma verbunden bleiben. Es
entsteht so das charakteristische Hantelstadium.
Bei Triton taeniatus sind die beiden ersten Blasto-
meren meist genau kugelig, während die von
Tr. alpestris eine etwas stärkere Abplattung
zeigen. Mit dem Auftreten der zweiten Furche, die
senkrecht zur ersten verläuft, hat das Auseinander-
rücken der '/-iBlästomeren sein Maximum er-
reicht, sie legen sich nun schnell wieder anein-
ander. Legt man aber in die erste Furche gleich
bei ihrem Auftreten einen feinen Glasfaden, der
noch durch einen kleinen Glasreiter beschwert
wird, so werden die beiden Blastomeren ohne
Schädigung voneinander getrennt (Abb. 1). Nach der
Trennung kugeln sie sich vollkommen ab, können
sich aber weiter furchen. Bei der nächsten, d. h.
2. F'urche, nimmt nun jede Vo'B'^stomere die für
das Zweizellenstadium so charakteristische Hantel-
form an und unterscheidet sich infolgedessen
nur durch ihre Größe von einem ganzen Keim.
Tatsächlich kann sich, wie hier gleich erwähnt
werden soll, aus solch einer halben Blastomere
ein ganzer normaler Embryo von geringerer Größe
entwickeln, allerdings mit einigen Einschränkungen,
die von dem Verlauf der ersten Furche abhängen
und noch später erläutert werden sollen. Ein
Teil der Mangoldschen Experimente bestand nun
Abb. I. (i Trit. taen. 19, V95. '/j -Blastomere im Moment
maximaler Teilung, die '/i-B'^stomere etwas verschieden groß.
Vergr. 19 X- ^ Trennung der '/j-Blastomerea entlang der
I. Furche mittelst Glasstab (nach Mangold).
darin zwei getrennte '/.j- Blastomeren im Hantel-
stadium, d. h. beim Auftreten der 2. Furche,
kreuzweise so übereinanderzulegen, daß dadurch
eine Verlagerung der '/^ -Blastomere zustande
kam. Soweit hierbei Keime derselben Art zur
Verwendung kam, hat das Experiment nichts mit
Chimärenbildung zu tun, es kann daher auf die
interessanten Resultate dieser Blastomerenum-
ordnung hier nicht näher eingegangen werden.
In einer anderen Reihe von Versuchen be-
nutzte Mangold die Eier von Tr. taeniatus und
alpestris. Da hier die Keime auf dem Stadium
der '/.i-Blastomeren, während sie Hantelform hatten,
vereinigt wurden, so kamen hier zwei ganze
Eier und zwar von verschiedenen Tierarten
zur Verschmelzung. „Nach kurzer Zeit waren
dann die Zellen nach Art einer Rosette ver-
wachsen und bildeten sich weiter furchend einen
mehr oder weniger abgerundeten Kuchen, der
vom Morula- bis zum Blastulastadium seine an-
fänglich bedeutende Abflachung verlor und schließ-
lich kugelige Form annahm. Durch Verwendung
verschiedenpigmentierter Keime war es möglich,
die Abkömmlinge der beiden Eier meist bis zum
Blastulastadium, ja in einem Fall heterogener
460
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
Verschmelzung ... bis zum Gastrulastadium zu
verfolgen. Dabei zeigte sich, daß die Keime die
durch die Rosettenform bedingte Verteilung der
Bezirke in der kugeligen Blastula beibehalten
hatten. Stets entwickelte sich eine kugelige
Blastula mit wohlausgebildeten Blastocoel" (M a n -
gold, S. 281).
Dieser Fall einer heterogenen Keimver-
schmelzung ist von doppeltem Interesse. Schon
seit längerer Zeit ist es bekannt, daß zur Her-
vorbringung eines ganzen Embryo nicht immer
ein ganzes Ei nötig sei. Eine halbe, viertel,
achtel Elastomere, ja noch kleinere Stücke ge-
nügen unter Umständen einen ganzen Embryo,
wenn auch geringerer Größe, hervorzubringen.
Wenn nun aus einer '/a 'Elastomere ein ganzes
Tier sich entwickeln kann, so liegt die Frage
nahe, ob nicht auch umgekehrt zwei ganze Eier
einen ganzen, einheitlichen Organismus zu schaffen
Typus I
Abb. 2. ß 2 Normalkeime, I. Furche frontal; h und r Doppel-
keime nach Typus I. Blastomerenfolge I, 3, 2, 4 und 1, 4,
2, 3 ergeben dieselben Lagebeziehungen der verschmolzenen
Keime (nach Mangold).
imstande sind. Die Frage ist schon früher durch
Experimente von Bierens de Haan und von
Driesch in bejahendem Sinne an Seeigeleiern
gelöst worden. Die Mangoldschen Experimente
geben nun in einwandfreier Weise an einem
anderen Material eine weitere Bestätigung dieser
Tatsache. Ein zweites Resultat der Ver-
suche ist darin zu sehen, daß durch die Ver-
schmelzung zweier artfremder Keime die Ent-
stehung einer Chimäre erzielt worden ist. Da
hier einzelne Sektoren des Keimes verschiedenen
Arten angehören, so ist es klar, daß wir es hier
mit einer Sektorialchimäre zu tun haben.
Da bei der beschriebenen Keimverschmelzung die
einzelnen Sektore, die ja den Blastomeren ent-
sprechen, verlagert und in abnorme Nachbarschaft
gebracht werden, so läßt sich auf Grund einer
theoretischen Überlegung ziemlich sicher voraus-
sagen, was für Formen als Resultat einer solchen
Verschmelzung zu erwarten sind. Wir müssen
dabei auf den Beginn der Furchung zurückgreifen
und uns daran erinnern, daß die erste Furche das
Ei in zwei gleiche große Blastomeren teilt, von
denen jede für sich allein einen ganzen Embryo
hervorzubringen imstande ist. Spemanns
Durchschnürungsversuche an Tritoneiern haben
aber gezeigt, daß das nicht durchweg der Fall
ist. Es entsteht nämlich mitunter nur ein ganzer
Embryo von halber Normalgröße, während die
andere '/g-Blastomere sich nur zu einem Bruch-
stück ohne Rückenorgane, d. h. Nervenrohr und
Chorda dorsalis entwickelt. Hieraus läßt sich
schließen, daß in manchen Fällen die erste Furche
median in bezug auf den zukünftigen Embryo
verläuft, in anderen dagegen frontal, wodurch die
Rücken- von der Bauchhälfte getrennt wird. Um
dieses zu verstehen, muß man sich die Vorgänge
bei der Gastrulation vergegenwärtigen. Die Ein-
stülpung findet in der Nähe des vegetativen Poles
statt und zeigt sich zuerst in dem Auftreten einer
halbkreisförmigen Furche, der sog. „oberen
Urmundlippe". Nach einiger Zeit tritt auch
die untere Urmundlippe auf, wodurch der Halb-
kreis zu einem Ring geschlossen ist, der den Ur-
mund bezeichnet. Das Auftreten der oberen Ur-
mundlippe ist nun von großer Wichtigkeit, denn
hierdurch bekommt der Embryo zum erstenmal
eine dorso-ventrale und seitliche Orientierung. Die
obere Urmundlippe ist außerdem das Organisalions-
zentrum, von dem aus die Medullarplatte und
Chorda dorsalis nach vorne hin sich entwickeln.
Projiziert man nun den Urmund auf das vom
vegetativen Pol betrachtete, ungefurchte Ei, so ist
damit gleichzeitig die Lage des virtuellen Embryo
im Ei gegeben. Es ist jetzt klar, daß die Rich-
tung der ersten Furche ein verschiedenes Resultat
ergeben muß, je nachdem sie frontal oder median
verläuft. Durch eine frontale Furche wird die
ganze obere Urmundlippe einer Blastomere zu-
geteilt, während die andere die ganze untere Ur-
mundlippe erhält. Nun befindet sich aber das
Organisationszentrum in der oberen Urmund-
lippe und nur von hier aus kann die Bildung der
Rückenorgane stattfinden, d. h. nur die eine
Blastomere wird zu einem ganzen Embryo von
halber Größe, während die andere mit der unteren
Urmundlippe nur ein Bauchstück ohne Rücken-
organe liefert. Ganz anders ist das Resultat bei
medianem Verlauf der ersten Furche. Jede
Blastomere erhält dann eine halbe obere und eine
halbe untere Urmundlippe. Spemanns Unter-
suchungen haben nun gezeigt, daß eine halbe
obere Urmundlippe sich zu einer ganzen ergänzen
und auch die Bildung der Rückenorgane veran-
lassen kann. In diesem Falle wird also jede
V2-Blastomere nach erfolgter Regulation einen
ganzen Embryo von geringerer Größe liefern.
Wenn wir nun über die Beziehungen der Richtung
der ersten Furche zur Lage des virtuellen Embryo
im Keim uns Klarheit verschafft haben, so können
wir daran gehen, uns zu vergegenwärtigen, was
für einen Erfolg die Verlagerung und Verschmelzung
zweier Keime auf dem '/2 ' Blastomerestadium
haben wird. Wir betrachten zuerst einen Fall,
wo in beiden Keimen die erste Furche frontal
verläuft, also jeweils eine Blastomere die ganze
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
461
obere Urmundlippe erhält (Abb. 2). Die Blasto-
meren des einen Eies bezeichnen wir mit i und 2,
die des anderen mit 3 und 4. Wenn die Eier
nach dem Einschneiden der ersten Furche Hantel-
form angenommen haben, so können die Blasto-
meren 3 und 4 kreuzweise so über die andere
Blastomerenhantel gelegt werden, daß die Nr. 3
entweder rechts oder links von Nr. i zu liegen
kommt. Beginnen wir dann mit i und zählen
im Sinne des Uhrzeigers, so haben wir die Blasto-
merenfolge i, 3, 2, 4 oder i, 4, 2, 3. Hat nun
gleichzeitig damit eine entsprechende Verlagerung
der Anlagen der oberen und unteren Urmund-
lippen stattgefunden, so muß sich folgendes er-
geben. Die beiden virtuellen Embryonen stoßen
jeweils mit ihren oberen und unteren Urmund-
lippen zusammen. In der Symmetrieebene des
Doppelkeims berühren sich zwei laterale dorsale
und zwei laterale ventrale Bezirke, die verschiedenen
Keimen angehören. Bei unbeeinflußter Entwick-
lung der nebeneinander gelagerten oberen Ur-
mundlippen könnten hier zwei parallele, hart
nebeneinander verlaufende Medullarrohre ent-
stehen. Da aber die oberen Urmundlippen durch
kein indifferentes Material getrennt sind, so wäre
eventuell bei gegenseitiger Beeinflussung eine ein-
heitliche Medullarplatte zu erwarten (Typus I).
Ein ganz anderes Resultat erhält man, wenn
zur Verschmelzung zufällig zwei Keime gewählt
werden, bei denen die erste Furche der Median-
ebene des virtuellen Embryo entspricht (Abb. 3).
Dann werden die Anlagen der oberen Urmund-
lippe median gespalten und verlagert. Es ent-
stehen zwei Kombinationen, beide haben eine
ganze obere Urmundlippe und zwei halbe, die
jeweils von der ganzen durch eine 74"Blästomere
ventrales Material getrennt sind und mit ihren
medianen Punkten der Ganzanlage zugekehrt sind.
Hieraus werden Embryonen mit drei Neuralrohren
entstehen, da drei isolierte Organisationszentren,
vorhanden sind (Typus II).
Schließlich ist noch der Fall möglich, daß bei
dem einen Keim die erste Furche frontal, beim
anderen median verläuft (Abb. 4). Dadurch wür-
den sich zwei weitere Kombinationen (Typ. III
und IV) ergeben. In Typus III würden an eine
ganze obere Urmundlippe links und rechts je eine
halbe mit ihren medianen Bezirken angrenzen. Je
nachdem, ob sich die Urmundanlagen unter gegen-
seitiger Beeinflussung entwickeln, könnte hier ein
Embryo mit einem mehr oder weniger weit ver-
schmolzenem , dreifachen Medullarrohr entstehen
oder ein einheitlicher Riesenembryo hervorgehen.
Bei Typ. IV hätten wir drei durch ventrales Ma-
terial voneinander isolierte Anlagen der oberen
Urmundlippen, mithin also drei Organisations-
zentren. Hieraus müßten sich Embryonen mit
drei Medullarrohren entwickeln.
Von den homogenen Keimverschmelzungen
erreichten einige das Stadium der Neurula, d. h.
die Anlage des Nervensystems. Unter diesen
war ein dreiköpfiger Embryo mit drei selbständi-
gen Nervensystemen und drei getrennt verlaufen-
den Chorden, der wahrscheinlich nach dem vierten
Verschmelzungstypus entstanden war. In einem
anderen Falle verschmolzen beide Keime zur Ent-
stehung eines einheitlichen Riesenembryos. Außer-
dem — und das ist das Wichtigste — wurde
auch durch heterogene Verschmelzung
zweier Keime, nämlich zweierEier von
Tr. taeniatus und alpestris, ein Riesen-
embryo erzielt. Bei der großen Sterblichkeit
Typus II
.\bb. 3. a a 2 normale Keime, beide I. Furche median.
/' und c Doppelkeime nach Typus II durch Verschmelzung
zweier median gefurchter Zweizellenstadien entstanden. Blasto-
merenfolge I, 3, 2, 4 (Abb. i) und 1, 4, 2, 3 (Abb. c) er-
geben dasselbe Resultat (nach Mangold].
Typus 111
Typus IV
Abb. 4. n, b Zweizellenstadien a mit medianer t> mit frontaler
I. Furche; c Typus III und i/ Typus IV Verschmelzungen eines
median und eines frontal gefurchten zweizeiligen Keims.
c Typus lll. Blastomerenfolge i, 3, 2, 4. d Typus IV.
Blastomerenfülge I, 4, 2, 3 (nach Mangold).
solcher verschmolzener Keime im Blastula-, be-
sonders aber im Gastrulastadium , darf es nicht
wundernehmen, daß nur wenige das Neurula-
stadlum erreichten, aber auch diese wenigen ge-
nügen, um zu beweisen, daß i. tatsächlich auch
zwei Eier zu einem Riesenembryo verschmelzen
können und daß 2. auf diesem Wege schon im
jugendlichsten Stadium die Verschmelzung zweier
Arten zur Bildung einer Chimäre möglich ist.
Außerdem sind diese Experimente deswegen von
Bedeutung, weil durch sie eine weitere Bestätigung
der Annahmen über die Lokalisation der ersten
Organanlagen bei den Amphibien erlangt wurde.
Auf einem etwas älteren Stadium hat Spe-
mann zwei Keime zur Verschmelzung gebracht.
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
Auf dem Gastrulastadium wurden zwei möglichst
verschieden gefärbte Keime von Tr. taeniatus
median halbiert und die Hälften nach Vertauschung
der einen zur Verheilung gebracht (Abb. 5). Es
entstand ein wohl proportionierter Keim, dem
man seine Zusammensetzung nur an den ver-
schieden gefärbten Keimhälften ansehen konnte.
Solche Verbandkeime entwickelten sich ganz nor-
Abb s i^vei Keime \on Triton taeniatus zu Beginn der
Oastrulation, genau median gespalten und die Hälften der
einen Seite ausgetauscht; es gehörten also ursprünglich die
beiden äußeren (dunkleren) und die beiden inneren (helleren)
Hälften zusammen (nach Spemann). In ähnlicher Weise
wurden die Gastrulabälften von Triton taeniatus und einem
Bastarde von Tr. taeniatus und Tr. cristatus ausgetauscht.
mal und konnten selbst die Metamorphose über-
stehen. Derselbe Austausch von Gastrulahälften
wurde nun auch zwischen Tr. taeniatus und einem
Bastarde von taeniatus $ ■/ cristatus ^ ausgeführt,
Formen, die sich schon äußerlich beträchtlich von-
einander unterscheiden. Ungeachtet dieser Ver-
schiedenheiten ließen
sich solche Larven
trotz größerer Sterb-
lichkeit bis über die
Metamorphose bringen
(Abb. 6). Solche
Tiere stellen eine
ausgesprochene
Sektorialchimäre
dar, denen man ihre
verschiedene Herkunft
nur wenig ansieht. „Im
Längenwachstum hat
ein völliger Ausgleich
zwischen beiden Hälf-
ten stattgefunden, nach-
dem die jüngeren Lar-
ven häufig auf der
taeniatus - Seite etwas
eingekrümmt waren,
ebenso scheint die
Zeichnung beider Kör
perseiten dieselbe zu
sein. ... In der Form
des Kopfes und der
Beine dagegen sind die
beiden Hälften typisch
verschieden, die linke
Hälfte ganz taeniatus,
die rechte ganz Rastard.
Besonders auffallend
war die verschiedene Haltung der Beine der jungen
Larve, ganz derjenigen der beiden Tierarten ent-
sprechend. Trotzdem lebte dieses Tier als eine
morphologische und physiologische Einheit, als
ein Individuum." (Spemann.)
Unter Anwendung einer anderen Technik ge-
lang Spemann auch die Herstellung von Peri-
klinalchimären. Das Grundexperiment, von dem
es ausging, bestand in folgendem. Auf dem
Stadium der beginnenden Gastrula wurde mit
Hilfe einer ganz fein ausgezogenen Pipette in
einiger Entfernung über der oberen Urmundlippe
ein kleiner Zellpfropf herausgeschnitten und zwar
im Bereich der zukünftigen Medullarplatte. An
einem anderen Keim derselben Art wurde ein
ebenso großes Stück aus dem Bereich der späte-
ren Epidermis entnommen, die beiden Stücke
ausgetauscht und wieder zur Einheilung gebracht.
Waren die Keime von verschiedener Farbe, so
ließ sich die weitere Entwicklung der ausge-
tauschten Stücke noch einige Zeit lang verfolgen
.Abb. 0. Kleiner Triton nach
der Metamorphose, links Triton
taeniatus, rechts Triton taenia
tus 9 X Triton cristatus o^
entstanden durch Zusammen
Setzung der entsprechende!:
Gastrulahälften (nach S p e
mann).
a b
Abb. 7. a Keim von Triton taeniatus. h Keim von Triton
cristatus, beide zu Beginn der Gastrulation. Zwischen ihnen
ein Stück Ekloderra ausgetauscht, von Triton taeniatus prä-
sumptive Medullarplatte, von Triton cristatus präsumptive
Epidermis (nach Spemann).
und ihr Verhalten in der neuen Umgebung gab
wertvolle Aufschlüsse. So ergab sich u. a. , daß
in diesen jugendlichen Alter das Schicksal der
einzelnen Ektodermpartien noch nicht fest deter-
miniert sei. Ektoderm, das eigentlich Medullar-
platte hätte liefern sollen, oder wie Spemann
sich ausdrückt — präsumptive Medullarplatte —
wurde in einer Umgebung von reiner Epidermis
selbst zu Epidermis, während umgekehrt präsump-
tive Epidermis zu Medullarplatte werden konnte.
Von diesem Experiment ist es nur ein Schritt
zu einem anderen, durch welche Periklinalchimären
hergestellt wurden, indem nämlich der Austausch
nicht zwischen Keimen derselben Art, sondern
zweier verschiedener Arten vorgenommen wurde.
Als besonders geeignet dazu erwiesen sich die
Eier von Triton taeniatus und cristatus, von denen
die letzteren rein weiß, die ersteren pigmentiert
sind (Abb. 7). In einem cristatus- Keim hebt sich
dann das eingepflanzte taeniatus • Stück , das prä-
sumptive Medullarplatte darstellt, sehr deutlich
von seiner Umgebung ab und läßt sich bis ins
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
463
Larvenleben äußerlich und auf Schnitten erkennen.
In einem gegebenen Falle, wo das Objekt 5 Tage
nach der Operation konserviert wurde, hatte das
eingepflanzte dunkle Stück sich glatt in die Epi-
.. 4-
'^tt
des Mesoderms und Entoderms, oberflächlich
nebeneinander liegen, dem Eingriff ohne weiteres
zugänglich sind und daher ausgetauscht werden
können. Erst durch später auftretende Ein- und
Ausstülpungen, Faltungen und Abschnürungen
werden sie in der mannigfaltigsten Weise durch-
einander geschoben. Viele Organe sind deshalb
aus Geweben zusammengesetzt, die ursprünglich
weit auseinander lagen und daher leicht nicht nur
entfernt, sondern durch andere ersetzt werden
können. Es lassen sich dann daraus Schlüsse auf
die Bedeutung der einzelnen Bestandteile, z. B. der
Epidermis für die Ausbildung des ganzen Organes
ziehen. Der Einfluß der Epidermis wird wahr-
scheinlich um so größer sein, eine je größere
Oberfläche sie besitzt, d. h. einen je größeren
Bruchteil die Gesamtmasse des betr. Organes sie
bildet. S p e m a n n weist darauf hin, daß es auch
bei Winklers Periklinalchimären die Blätter mit
ihrer im Verhältnis zum Inhalt riesigen Ober-
fläche sind, an denen der formative Einfluß der
Epidermis sich am deutlichsten erkennen läßt.
In dem oben erwähnten Falle überzieht nun
taeniatus-Epidermis die Kiemenregion eines cri-
statusKeimes. Die Kiemenanlagen der beiden
Seiten erweisen sich nun als deutlich verschieden.
Auf der normalen cristatus-Seite bildete die ganze
Kiemenregion nur eine schwache Vorwölbung,
während auf der taeniatus Seite schon eine deut-
liche Abgliederung einzelner Kiemenstummel zu
erkennen ist. Es ist wichtig, daß gerade auf der
operierten Seite eine raschere Entwicklung statt-
gefunden hat, denn wäre es umgekehrt, so wäre
man geneigt ein Zurückbleiben der operierten
Seite als eine Schädigung durch die Operation
Abb. 8. Embryo von Triton cristatus der Abb. ^ i, vun
rechts, oben und unten gesehen ; das Stück taeniatus-Epider-
mis, noch scharf abzugrenzen, hat sich in einem langen
Streifen ausgezogen (nach Spemann).
dermis eingefügt und bedeckte nun als orts-
fremdes Hautstück auf der rechten Seite die
Kiemenregion und erstreckte sich nach hinten
und unten bis zur ventralen IVlittellinie. Da hier
taeniatus-Gewebe von cristatus-Haut überzogen ist,
so haben wir es tatsächlich mit einer, wenn auch
nicht sehr ausgedehnten Periklinalchimärenbildung
zu tun (Abb. 8).
Dieses Resultat ist nun nach verschiedenen
Richtungen hin von Interesse. „Da die einge-
heilten Stücke einerseits die Entwicklung ihrer
neuen Umgebung mitmachen, als gehörten sie
von Anfang an dahin, andererseits aber sich deut-
lich und dauernd von ihr abheben, durch ihre
andere Färbung und ihren abweichenden histo-
logischen Charakter, so können sie als Marken
dienen, um das spätere Schicksal, die prospektive ' J
Bedeutung bestimmter Teile des jungen Keimes Abb. 9. Triton aipestris mit einer
zu erkennen." (Spemann.) Manschette aus roter Bauchhaut
Noch wichtiger ist der Umstand, daß in der ^"° ^r. aipestris (nach Taube).
Blastula und zu Beginn der Gastrulation noch die
verschiedensten Bezirke der Keimblätter, selbst
Abb. 10. Triton aipestris.
Nach der Amputation des
Beines im Bereiche der roten
Manschette ist ein pigmen-
tierter Kuß regeneriert wor-
den (nach Taube).
464
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
aufzufassen. So muß die raschere Entwicklung
jedenfalls auf die „spezifischen Entwicklungs-
tendenzen der die Kiemen überziehenden taeniatus-
Epidermis" zurückgeführt werden. Damit ist aber
gegeben, „daß die Epidermis bei der Bildung der
äußeren Form der Kiemenstummel eine wichtige,
vielleicht die entscheidende Rolle spielt".
Alle bisher geschilderten Experimente haben
das gemeinsam, daß bei ihnen die Transplantation
in einem sehr jugendlichen Zustande vorgenommen
wurde. Dieses erweist sich deswegen als zweck-
mäßig, ja notwendig, weil nur dann das ver-
pflanzte IVIaterial so weit undeterminiert ist, daß
es den Einflüssen der neuen Umgebung zugäng-
lich ist. Wird ausgebildetes Material dazu be-
nutzt, so wäre es notwendig, die Zellen erst
wieder in einen mehr embryonalen, indifferenten
Zustand zu bringen, der sie zu neuen Leistungen
befähigt. Dieses kann auf dem Umwege über
die Regeneration geschehen. Eine Reihe von
Experimenten, bei denen an ausgewachsenen
Tieren Chimärenbildung erzielt wurde, hat Taube
an Tritonen ausgeführt.
Das Grundexperiment bestand in folgendem.
Einem Exemplare des Alpenmolchs, Triton al-
pestris, wurde die rote Bauchhaut abpräpariert
und auf das vorher enthäutete Hinterbein eines
anderen Exemplares gebracht. Die Haut wuchs
hier an und das Tier schwamm wochenlang mit
einer breiten roten Armbinde oder Manschette
versehen umher (Abb. 9). Nach einigen Wochen,
wenn die Manschette mit ihren Unterlagen wie-
der vollkommen organisch verbunden war, was
sich durch das Auftreten einer Blutzirkulation
häufig einwandfrei feststellen ließ , wurde das
Bein im Bereich der roten Manschette amputiert.
Es mußte nun Regeneration eintreten, wobei dem
Regenerat für die Neubildung seiner' Epidermis
nur die rote Bauchhaut zur Verfügung stand. Das
Interessante dabei ist nun, daß das Regenerat von
vornherein von einer dunklen Epidermis, wie die
des normalen Beines überzogen ist (Abb. 10). Der
Einfluß der Unterlage, also des neuentstehenden
Beines ist jedenfalls so stark, daß die indifferenten
Zellen die bei der Wundheilung von der vor-
handenen Epidermis gebildet werden, sofort pig-
mentiert sind. Nebenbei bemerkt tritt allmähliche
Pigmentierung der Manschette, bis zum voll-
ständigen Schwarzwerden, auch ohne Amputation,
nur viel später ein.
Anstatt auf das Bein derselben Art kann nun
die rote Bauchhaut von alpestris auf das Bein von
cristatus gebracht werden. Das Anheilen geht
hier viel langsamer und schwerer vor sich, weil
es sich hier ja um heteroplastische Transplantation
handelt. In vielen Fällen tritt aber eine voll-
kommene, glatte Heilung ein und das schwarze
cristatus Bein ist dann Wochen und Monate mit
einer roten Manschette von alpestris Haut ver-
sehen. Auch hier tritt allmählich ein Wechsel
der Farbe auf, es wandert Pigment ein , so daß
schließlich die Manschette sich in ihrer Färbung
in keiner Weise von ihrer Umgebung unterschei-
det. Trotzdem lassen sich auch dann noch bei
starker Lupenvergrößerung die Grenzen der Man-
schette an der feineren Struktur der alpestris-Haut
gegenüber der grobnarbigen cristatus-Epidermis
deutlich erkennen. Wenn nun einige Wochen
nach der Operation, während die Manschette noch
ganz rot ist, das Bein unterhalb des Keims, also
im Bereich der Manschette, amputiert wird, so
tritt dasselbe ein wie im ersten Falle. Es erfolgt
Regeneration und das Regenerat muß die Zellen
für seine neue Epidermis von den Wundrändern
der vorhandenen beziehen. Da diese aber einer
anderen Art angehört, so ist das Resultat schließ-
lich ein cristatus-Fuß der von einer alpestris-Haut
überzogen ist, also eine richtige Periklinal-
chimäre (Abb. 11). Das Resultat würde noch
Abb. II. Rechtes Hinterbein von Triton cristatus mit einer
Manscliette aus der Bauchhaut von Tr. alpestris. Nach der
Amputation des Beines im Bereiche der Manschette ist ein
von alpestris-Haut bedeckter Fufl regeneriert worden (nach
Taube).
auffallender sein, wenn die alpestris- Epidermis
ihre spezifische Eigentümlichkeit bewahren, d. h.
rot bleiben würde. Aber auch hier, wie im vor-
hergehenden Fall, ist das Regenerat sofort von
pigmentierter Haut bedeckt, so daß es sich nicht
so scharf von dem inzwischen auch schwarz ge-
wordenen Rest der Manschette unterscheidet.
Wichtig ist nun der histologische Nachweis, daß
zur Zeit des Auswachsens des Regenerates die
alpestris-Manschette tatsächlich noch bestand.
Obgleich die alpestrisZellen, besonders wenn sie
pigmentiert sind, sich nicht ohne weiteres von
den cristatus- Zellen unterscheiden, so lassen sich
auf Schnitten die Grenzen der Manschetten meist
einwandfrei feststellen. So bildet sich z. B. dort
wo die beiden Epidermen zusammenstoßen, ein
ringförmiger Verwachsungswulst, wodurch die
Cutis unterbrochen wird. Höhe des Epithels,
Zustand der Drüsen sind an der Manschette an-
ders als an der normalen cristatus- Haut. Die
distale Grenze der Manschette wird in der ersten
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
465
Zeit nach der Amputation dadurch kenntlich ge-
macht, daß hier die Cutis plötzlich aufhört und
die Wundfläche von unpigmentiertem Epithel
bekleidet ist.
Das vorliegende Experiment zeigt nun, daß
selbst die Haut eines ausgewachsenen Tieres unter
Umständen in gewissem Sinne umwandlungsfähig
ist, denn das Auftreten von Pigment in der Man-
schette ist wohl auf den Einfluß der veränderten
Unterlage und der Umgebung zuzuschreiben. Viel
deutlicher tritt dieser Einflu(3 zutage wenn durch
die Regeneration die Zellen in einen indifferenteren,
gewissermaßen mehr embryonalen Zustand mit
vielseitigeren Potenzen zurückversetzt werden.
Durch die Wundsetzung bei der Amputation wird
dieser Zustand künstlich hervorgebracht. Inter-
essant ist nun, daß in Fällen, wo keine Wund-
flächen der Haut vorhanden sind, der Organismus
sie sich selbst schaß"!. Das geschah in einem anderen
Experimente, das zwar zu keiner Chimärenbildung
führte, theoretisch aber wichtig ist. Das ent-
häutete Bein von alpestris wurde nach vorher-
gehender Amputation des Fußes unter die Bauch-
haut geschoben, wo es auch anwuchs. Wenn
nun das Bein regenerierte, so mußte aus der
Mitte des Bauches ein Fuß herauswachsen. Das
geschah auch ! Vor dem Eintritt der Regenera-
tion bildete sich aber über der Spitze des Stumpfes
ein kleines Loch in der Bauchhaut. Dadurch ent-
standen prinzipiell dieselben Bedingungen, wie bei
den Manschettentieren nach der Amputation des
Fußes, d. h. ein frischer Wundrand der Bauchhaut,
von dem aus die Epidermis für den regenerierenden
Fuß geliefert würde. In beiden Fällen war auch
das Resultat dasselbe, d. h. auch aus der Mitte
des Bauches wuchs im letzterwähnten Experiment
sofort ein pigmentierter Fuß.
Die künstliche Erzeugung tierischer Chimären
hat sich als aussichtsreicher Weg auf dem Ge-
biete der experimentellen Zoologie erwiesen. In
bezug auf Alter, Herkunft und Bedeutung läßt
sich, worauf Spemann hinweist, die Wahl der
zu komponierenden Gewebe viel genauer ge-
stalten, als bei den Pflanzen, was für die theore-
tische Auswertung des Experimentes von großer
Bedeutung ist. Wenn wir an den Doppelsinn
des Wortes denken, so ist also die „Chimäre",
der der Zoologe nachjagt, nicht ein trügerisches
Hirngespinst, sondern ein positives Mittel, von
dem noch die Erkenntnis von mancherlei Pro-
blemen zu erhoffen ist.
Literaturverzeichnis.
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(Arch. mikr. Anat. 45, 1895.)
Einzelberichte.
Die Folgeerscheinungen der Kastration bei
den Skopzen.
Den bekannten Untersuchungen von Tandler
und Groß an Skopzen reiht sich die Arbeit von
W. Koch „über die russisch rumänische Kastraten-
sekte der Skopzen" ') als Bestätigung und wert-
volle Ergänzung der früheren Beobachtungen an.
Koch untersuchte die Konstitution von lo Skopzen
und machte an 3 weiteren ergänzende Fest-
stellungen. Die körperlich untersuchten 10 Skopzen
befanden sich in einem Lebensalter von 50 — 74
Jahren, während die anderen 30-, 62- und 94jährig
waren. Von den ersteren wiesen 8 den voll-
ständigen Mangel an Hoden und Penis auf („großes
Siegel"); 2 dagegen hatten noch einen Penis
(„kleines Siegel").
Koch stellte bei allen Kastraten vor allem
') Veröffentlichungen aus der Kriegs- und Konstitutions-
pathologie, 2. Band, Heft 3, 1921. G. Fischer.
reichliches Kopfhaar, aber mangelhaften Bart-
wuchs und Körperbehaarung, ferner lange Ex-
tremitäten und schließlich eine besonders kleine
Schilddrüse fest. Im übrigen trennt er aber die
Skopzen in 3 Gruppen (im Gegensatz zu Tandler
und Groß, die nur den mageren, langen und
den fetten Typus unterscheiden) :
I. .'annähernd gewöhnlicher Typ von hagerer
bis mittelgroßer Statur mit langen Extremitäten.
II. Typus mit hagerem Riesenwuchs.
III. Hypophysärer Typus mit den Untergruppen:
A. Akromegaler Typ,
B. Typus mit hypophysärer Adipositas.
Die Skopzen der Gruppe I wiesen außer der
auffallenden Länge der Extremitäten eine deut-
liche Kyphose der Brustwirbelsäule, ferner dichtes
Haupthaar und spärlichen Bartwuchs auf. Die hier-
von untersuchten Personen, die zugleich bestimmt zu
dieser Gruppe zu rechnen waren, sind voraussicht-
lich erst nach dem 30. Lebensjahr kastriert worden.
466
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
Zur Gruppe II gehört nur ein 72jähriger Skopze,
der trotz Kyphose von auffallender Größe (182,5 cm)
war. Dabei betrug die Beinlänge loi cm, die
Länge von Kopf und Rumpf 81,5 cm. F'erner
war langes Kopfhaar und bartloses Gesicht fest-
zustellen. Der Mann war im 11. Lebensjahr
kastriert worden.
Die Gruppe III ist wegen der Hypophysen-
befunde vor allem interessant. In der akrome-
galen Untergruppe konstatierte Koch Hoch wuchs
und zugleich Kyphose, ferner „plumpen Knochen-
bau, besonders dicke Nase, kräftige Kiefer, große
F'üße, guten Fettansatz, wenn auch nicht Adi-
positas, bei einem ausgesprochenen Genu valgum
und bei allen auffallend große oder vertiefte Sella
turcica". Die Kastration war zwischen 1 5 und 26
Jahren erfolgt.
Die Skopzen der Gruppe mit hypophysärer
Adipositas zeigten typisch lokalisierte Fettent-
wicklung und eine „abgeflachte bzw. leicht ver-
tiefte Sella". Die beiden Skopzen, die diesen
Typus am deutlichsten darstellten, sind im Alter
von II bzw. 9 — 10 Jahren kastriert worden.
Zwischen dem Zeitpunkt der Kastration und
der Konstitutionsform zeigt sich ein ziemlich ein-
deutiger Zusammenhang. Koch sagt darüber:
„Man kann also, meiner Ansicht nach, soweit das
immerhin kleine Material es zuläßt, sagen, daß
bei früher Verschneidung bis zum Beginn der
Pubertät sich entweder reiner hagerer Riesen-
wuchs oder hypophysäre Adipositas mit oder
ohne eine gewisse Hochwüchsigkeit und allenfalls
mit gewissen Anzeichen der Akromegalie ent-
wickelt, und daß bei der Verschneidung im Puber-
tätsalter und bis zum Abschluß des Längenwachs-
tums, also etwa bis zum 25. Lebensjahre, mehr
die Zeichen akromegaler Konstitution ohne be-
sondere P'ettwüchsigkeit resultieren". Aus den
Feststellungen Kochs geht also hervor, daß z. B.
der hagere Riesenwuchs auf eine Kastration vor
der Pubertät folgt, daß ferner auf dieselbe Weise
der Typus der hypophysären Adipositas zustande
kommen kann. Solche Skopzen, die aber in
einem Zeitraum zwischen Pubertät und Abschluß
des Längenwachstums kastriert worden sind,
neigen mehr zur Akromegalie. Je später dann
die Kastration erfolgt , - desto geringer sind die
P'olgeerscheinungen, wie Gruppe I zeigt.
Im Zusammenhang mit diesen P'eststellungen
und in Hinblick auf die wechselseitigen Beziehungen
der Blutdrüsen untereinander meint Koch, man
könne in den einzelnen PIpochen der Lebenszeit,
1. dem Kindesalter bis zum Eintritt der Pubertät,
2. dem Pubertätsalter bis zum Abschluß des
Wachstums, 3. dem Alter des Erwachsenen bis
zum Klimakterium und 4. dem Klimakterium
und Senium, den einzelnen endokrinen Drüsen
einen verschieden großen Einfluß auf den Körper-
bau zuschreiben. So ist in der ersten Epoche
der Thymus von größter Bedeutung, während die
Keimdrüsen in ihrem Einfluß noch zurückstehen.
In der 2. Epoche dagegen besitzen die Keim-
drüsen die größte Wirksamkeit. Aber in der
3. Epoche spielt keine einzelne Blutdrüse eine
führende Rolle, hier ist das Zusammenarbeiten
aller Drüsen von Wichtigkeit. In der letzten
Epoche macht sich dann der Abbau der endo-
krinen Drüsen, vor allem der Keimdrüsen , be-
merkbar. Beim Kastraten fallt nun die 3. Epoche
fort, die ersten Epochen nehmen einen größeren
Zeitraum ein; es beginnt aber auch vorzeitig die
4. Epoche, die Vergreisung. Das Lebensalter der
Kastraten ist dadurch nicht etwa abgekürzt, im
Gegenteil ist gerade von den Skopzen bekannt,
daß sie meist ein hohes Alter erreichen. Es
handelt sich nur um eine Ausdehnung der 3 be-
stehenden Epochen unter Wegfall der 3. Epoche.
Es wären noch verschiedene interessante An-
gaben Kochs zu erwähnen, so die über Be-
ziehungen zwischen Kyphose und Kastration, ferner
über das psychische Verhalten der zwei Skopzen,
die nur das „kleine Siegel" aufwiesen. Doch
würde das hier zu weit führen.
Die Arbeit Kochs, die mit guten photo-
graphischen Aufnahmen ausgestattet ist, bietet
neben ihren wertvollen Angaben über die Kon-
stitution der Skopzen viele neue Gesichtspunkte
zur Beurteilung der inkretorischen Wirksamkeit
der Keimdrüsen und damit des endokrinen Drüsen-
komplexes überhaupt. Wenn man bedenkt, wie
selten sich eine Gelegenheit zur Untersuchung
von menschlichen Kastraten bietet und mit welchen
Schwierigkeiten derartige Beobachtungen ver-
bunden sind, wird man den Wert der Kochschen
Arbeit recht ermessen können.
Gustav Zeuner.
Der Pico de Orizaba uiul der Sau Martiu
de Tiixtla.
In Nr. 13 vom 26. März 1922 dieser Zeitschrift
habe ich einen kurzen Bericht über die vulkano-
logische Expedition Dr. I. P^r iedländers nach
Mittelamerika (Mexiko) — nicht wie irrtümlich an-
gegeben Südamerika — gebracht, zu dem ich
korrigierend nachtragen muß, daß die Popocate-
petlersteigung F"riedländers nicht am 15. F"e-
bruar, sondern am 15. November 1921 erfolgt
war. —
Nunmehr liegen mir neue Nachrichten von
der Expedition, die Mitte Juli beendet sein dürfte,
L. T. aus der „Deutschen Zeitung von Mexiko"
(18. März 1922), z. T. aus brieflichen Mitteilungen
vor. —
Nach diesen hat sich das Auftreten eines
Zentralrohres in der aufsteigenden Quellkuppe
des Popocatepetlkratcrs durch eine starke Explosion
am 6. Januar 1922 bestätigt, in deren Folge eine
zentrale Einsenkung mit zentraler Dampfsäule
sich entwickelte. —
Mittlerweile hat Friedländer eine Reihe
anderer Vulkane untersucht. Zunächst denOri-
zaba, der, ähnlich wie die anderen großen An-
desitvulkane, um seinen I'^uß eine Menge kleiner
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
467
Schlackenkegel zeigt, aus denen vielfach große
Basaltströme ihren Ursprung nehmen. Fr. hat,
ohne den Gipfel zu ersteigen, den Vulkan in
ca. 4000 m Höhe umritten, und dabei eine Reihe
Irrtümer in den Darstellungen der Physiographie
und Topographie des Vulkanes festgestellt. So
steht der Pik nicht, wie vielfach angenommen,
aber schon von Waitz bestritten wurde, in einem
sommaartigen Ringtal, sondern wird von einer
Anzahl selbständiger Eruptivbauten umgrenzt.
Einer der bedeutendsten ist die Sierra Negra mit
von andesltischen Laven ausgefülltem Krater.
Der Orizaba hat im Laufe seiner Entwicklung,
ähnlich wie der Popocatepetl seine Eruptionsachse
verlegt. Reste der alten Kegel haben sich bei
beiden Bergen in ähnlicher Form erhalten.
Die Umwanderung des Berges ergab das Vor-
handensein einer ganzen Anzahl kleiner, frischer
Lavaströme, deren Eruption von niemand be-
obachtet wurde, von denen Fr. aber mindestens
ein halbes Dutzend den letzten 100 Jahren zu-
schreibt, woraus sich ergibt, daß der Berg durch-
aus nicht als erloschener Vulkan anzusprechen ist.
Damit stimmen Berichte eines Ing. Reut he
überein, welcher fast gleichzeitig mit Fr. den
Berg besuchte und seinen Gipfel erstieg. Da-
nach hatte die Tätigkeit einer 19 10 am Außen-
rande des Gipfelkraters von Waitz beobachteten
Fumarole stark zugenommen.
Wenig bekannt ist auch die Eruptionsge-
schichte des Vulkans San Martin de Tuxtla.
Da seine beiden letzten großen Eruptionen 1664
und 1793 stattfanden, konnte man bei ihm an
eine Ausbruchsperiode von ca. 130 Jahren denken,
wie sie einigen japanischen Vulkanen eigen ist.
Danach wäre eine weitere Eruption in nächster
Zeit zu erwarten. Der gegenwärtige Zustand des
Kraters verrät allerdings nichts diesbezügliches.
Er ist nach Norden geöffnet, im Süden von 60"
steilen Wänden begrenzt. Im Krater sieht man
noch wohl erhalten die zwei Eruptionskegel und
den Blocklavaursprung des Jahres 1793. Im
übrigen zeichnet völlige Ruhe und zunehmende
Bewaldung die Gipfelregion aus.
Der San IWartin wurde bisher teils als Einzel-
vulkan teils als Glied einer Vulkankette ange-
sprochen, und topographisch falsch auf den Karten
wiedergegeben. Nach Friedländer stellt er
eine Vulkangruppe von kompliziertem Bau dar.
Im Anschluß an diesen Vulkan besuchte Fr.
das große Eruptionsgebiet, das sich zwischen der
Laguna de Catemaco und dem Meer befindet und
La Sierra de Acayucan benannt ist. Es ist
in allen Einzelheiten noch unbekannt, und be-
steht entgegen den Einzeichnungen der Karten,
die eine Bergkette angeben, aus einer Reihe ge-
trennter vulkanischer Gebirgsstöcke, deren einer
ebenfalls den Namen San Martin trägt, einen
seinem Namensvetter sehr ähnlichen Kraterbau
aufweist, als Vulkan aber trotz ähnlicher Höhe
dank seiner isolierten Lage einen wesentlich im-
posanteren Eindruck macht.
Vom erloschenen Tequilavulkan hebt F r.
eine zentrale, ca. 300 m hohe, steile Nadel aus
saurem Eruptivgestein hervor.
Endlich hat er noch den andesltischen Colima-
zwillingsvulkan besucht, dessen südlicher
Krater 191 3 in starker Tätigkeit war, jetzt aber
(4. April 1922) nur schwache Fumarolentätigkeit
zeigte. ^ Hans Reck.
Neues vom Rapsrüßler (Ceutorrhyuchus assi-
milis Payk).
Ausführliche Mitteilungen über den Rapsrüßler
macht Prof. Dr. R. Heymons in der „Zeitschrift
für angewandte Entomologie" (Band VIII, Heft i).
Die geschilderten Beobachtungen beziehen sich
auf Käfer, die in der Umgebung von Berlin auf-
traten. Gelegenheit zu den Beobachtungen bot
sich auf den beiden Städtischen Gütern Falken-
berg und Hellersdorf, die je ein Rapsfeld von
etwa 50 Morgen Größe angelegt hatten und die
ein überaus reiches Material für die Untersuchungen
lieferten.
„Der Ceutorrhynchuskäfer ist im Frühjahr auf
den Feldern zeitig zur Stelle und bereits zu finden,
lange bevor der Raps in Blüte steht." Die Be-
obachtungen begannen im April, schon zu dieser
Zeit machte sich der Befall durch den Rapsrüßler
stark geltend. Durchschnittlich wurden auf jeder
einzelnen Rapspflanze zwei Ceutorrhynchen ge-
sehen. Zu näheren Beobachtungen wurde eine
Anzahl Käfer eingefangen und zu Hause in ein
Terrarium eingesetzt. „Letzteres bestand aus
einem hohen Glaskasten, in dem Blumentöpfe
mit eingewurzelten Rapspflanzen Aufnahme fanden.
Die Ceutorrhynchen fühlten sich unter diesen Be-
dingungen vollkommen wohl. Man sah sie emsig
an den Pflanzen auf und nieder laufen. Bei hellem
Tageslicht flogen viele an die Wände des Glas-
kastens, kehrten aber auch freiwillig wieder von
dort zu den Pflanzen zurück. An diesen waren
sie zum grosen Teile eifrig mit Nahrungsaufnahme
beschäftigt." Die Käfer fressen sowohl an Blüten-
knospen als auch an den saftreichen Stengeln,
und das nicht nur bei Tageslicht, sondern auch
nach Einbruch der Dunkelheit. Beim Fressen
klammert sich der Käfer an einer geeigneten
Stelle an, bohrt den Rüssel tief ein, so das er
oft bis zum Grunde in das pflanzliche Gewebe
dringt. „In dieser Stellung verharrt der Käfer
längere oder kürzere Zeit oiTenbar eifrig mit
Saugen und Fressen beschäftigt. Hat der Käfer
genug, so zieht er seinen Rüssel wieder hervor,
um ihn aber mitunter sogleich an einer anderen
Stelle aufs neue einzubohren." Bei den ana-
tomischen Untersuchungen einiger Rapsrüßler, die
an Knospen bohrend gesehen worden waren,
wurden im Darminhalt neben Körnchen ver-
schiedener Art auch pflanzliche Zellmembranen
angetroffen. Heymons glaubt daher, daß die
Tiere „tatsächlich im eigentlichen Sinne fressen,
d. h. von dem bohrenden Käfer werden kleine
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
Teile des pflanzlichen Gewebes mit den Mandibeln
abgerissen und verschlungen".
Die Entwicklung der Geschlechtsorgane geht
infolge der reichlichen Nahrungsaufnahme rasch
vonstatten. Bei einem IVIännchen, das wenige
Tage nach dem ersten Auftreten auf den Raps-
feldern geöffnet wurde, fand man den Geschlechts-
apparat vollkommen ausgebildet. Die Hoden
waren reif und die Samenblasen strotzend voll
mit Sperma gefüllt. Auch die weiblichen Keim-
drüsen waren zu dieser Zeit schon weit ent-
wickelt. In Copulastellung wurden im Terrarium
die ersten Käfer einige Tage nach Beginn ihrer
Gefangenschaft gesehen, eine Nachforschung auf
den Rapsfeldern ergab, daß die Entwicklung der
Käfer im Freien mit derjenigen von in Gefangen-
schaft gehaltenen Tieren Schritt hielt. Die Copu-
lation geht in der Weise vor sich, daß das Männ-
chen durch lebhaftere Fühlerbewegung seine Er-
regung dem Weibchen verrät, die nun ihrerseits
auf die Bewegungen des Männchens reagiert.
Eine Copulation kann mitunter stundenlang dauern.
Die Eiablage des Weibchens geht umständlich
vonstatten. Unter den im Terrarium gehaltenen
Tieren gelang es ein Weibchen zu beobachten.
Es lief anscheinend in gewisser Erregung an einer
jungen Rapsschote auf und nieder, an einer Stelle,
die es kurz vorher abgetastet hatte, begann es
mit einem Male eifrig zu bohren und seinen
Rüssel hierbei immer tiefer einzusenken. Von
Zeit zu Zeit zog es den Rüssel hervor, senkte
ihn aber gleich wieder in dieselbe Bohröffnung.
„Ein Saftaustritt aus dem Bohrloch fand nicht
statt, und der Zweck des wiederholten Einbohrens
dürfte vermutlich darin bestehen, daß das Weib-
chen in dieser Weise den hervorquellenden Saft
aufsog und die Wände des Bohrkanals vollständig
glättete." Nach Beendigung der mühevollen Ar-
beit wendete es dem Bohrloch seine Hinterleib-
spitze zu, das Abdomen wurde gesenkt und der
bisher noch eingestülpt gebliebene Legeapparat
trat hervor. „Unmittelbar hiernach wurde die
Spitze des Legeapparates in das Bohrloch ein-
gesenkt und zwei Minuten später, jedenfalls nach-
dem die Ablage des Eies in der Tiefe erfolgt
war, endgültig herausgezogen. Nach Einstülpung
seines Legeapparats verließ das Weibchen die
Schote." Der ganze Vorgang nahm 18 Minuten
in Anspruch. Die Zahl der Eier ist nicht mit
Bestimmtheit ermittelt worden, sie läßt sich aber
ungefähr abschätzen. „Denn da in jeder der vier
Eiröhren ungefähr 15 — 17 Eier heranreifen, ab-
gebrütete Weibchen aber nur noch etwa 6 — 7
Eier in jeder Eiröhie enthalten, so wird die Ge-
samtzahl der von einem Weibchen abgelegten
Eier auf etwa 30 — 40 veranschlagt werden können."
Das abgelegte Ei, das sich durch rundlich-
ovoide Gestalt und seine weißlich glänzende
Färbung auszeichnet, hat einen Längsdurchmesser
von 0,53 mm, und einen Querdurchmesscr von
0,27 mm. Es ist so zart, daß es sich nur schwer
isolieren läßt und so hinfällig, daß es, sobald es
der Luft ausgesetzt wird, trotz aller Vorsicht
schnell zugrunde geht. Bei den Untersuchungen,
welche Zeit die Eientwicklung in Anspruch nimmt,
wurde festgestellt, daß die Eiruhe durchschnittlich
8 — 9 Tage dauert, die junge Larve also etwa
nach 8^2 Tagen entsteht. „Es ist auch gelungen,
den Vorgang des Ausschlüpfens der jungen Larve
zu beobachten. Letztere durchnagt von innen
her mit ihren Mandibeln die Eischale an dem
einen Eipol. Das erste, was von dem jungen
Tier sichtbar wird, sind daher die kleinen sich
bewegenden braunen Kieferspitzchen , die ein
immer größer werdendes Loch in der Schale her-
stellen. Bald erscheint der graue Kopf der Larve,
die sich dann unter Krümmungen ihres weichen
Leibes aus der leeren Schale herausarbeitet."
Nach weiteren 4 — 5 Wochen durchnagt die Larve,
deren Nahrung aus dem heranreifenden Raps-
samen bestand, die Schotenwand und läßt sich
zu Boden fallen, wo sie sich sofort in das Erd-
reich einwühlt. Sie bleibt in etwa 3 cm Tiefe
zusammengerollt in der Erde liegen.
Die Verpuppung geht innerhalb der Erde in
kleinen Puppenwiegen vor sich; die Puppenruhe
selbst währt 10 Tage. Der aus der Puppe ent-
standene Käfer verläßt aber nicht gleich die Stätte,
sondern verbleibt an Ort und Stelle bis er sich
ausgefärbt hat. Erst dann arbeitet er sich aus
seinem Erdkämmerchen hervor und geht auf die
Nahrungssuche. Mit Eintritt kühlerer Witterung
verschwinden die Jungkäfer wieder, wie es scheint,
suchen sie dann ihre Winterquartiere auf. Es ist
aber nicht gelungen, zu ermitteln, ob die Tiere
in der Erde oder, wieBargagli annahm, zwischen
Moos überwintern. Ernst Wilh. Neumann.
Homosexualitiit und iuut're Sekretiou.
Ein neuer Fall von erfolgreicher Hodenüber-
tragung auf einen Homosexuellen, den E. Pfeiffer
in einer Abhandlung unter dem Titel: „Ein ge-
heilter Fall von Homosexualität durch Hoden-
transplantation" ') bekannt gibt , veranlaßt mich
zu folgendem Bericht.
Wenn man in das Problem der Homosexuali-
tät mit Verständnis eindringen will, muß man
zunächst jedes Werturteil beiseite lassen. Der
Forscher muß jedenfalls die Homosexualität als
eine Art Sexualität betrachten, wie er ver-
schiedene Tier- oder Pflanzenarten feststellt, ohne
zunächst von Werten zu sprechen. Meiner Mei-
nung nach wäre es sogar richtiger, wenn man
Bezeichnungen wie „normal" und „abnorm" in
der Betrachtung der Homosexualität möglichst
vermiede. Von etwas Pathologischem kann
jedenfalls keine Rede sein. Schon Weininger'-)
vertritt mit Entschiedenheit diesen Standpunkt:
„Wer die ,sexuellen Inversionen' als etwas Patho-
') Deutsche Medizinische Wochenschrift, Nr. 20, 48. Jahr-
gang, 1922.
^) „Geschlecht und Charakter". 21. Aufl. 1920. W. Brau-
müller.
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
469
logisches oder als eine scheußlich-monströse gei-
stige Bildungsanomalie betrachtet (das letztere ist
die vom Philister sanktionierte Anschauungsweise)
oder sie gar als ein angewöhntes Laster, als das
Resultat einer fluchwürdigen Verführung auffaßt,
der bedenke doch, daß unendlich viele Über-
gänge führen vom männlichsten Maskulinum über
den weiblichen Mann und schließlich über den
Konträrsexuellen hinweg zum Hermaphroditismus
spurius oder genuinus und von da über die Tri-
bade, weiter über die Virago hinweg zur weib-
lichen Virgo."
Daraus geht schon hervor, daß die Homo-
sexualität als „biologische Variante" (Hirsch-
feld) zu betrachten ist. Dieser Auffassung steht
die Meinung der Erwerbungstheoretiker gegen-
über. Diese behaupten, die Homosexualität ent-
stehe entweder durch Vermeidung des Verkehrs
mit Frauen oder durch Verführung. Die erste
Ursache wird nur selten aufrecht erhalten; kein
heterosexuell Fühlender wird auf die Dauer dem
Verkehr mit Männern den Vorzug geben oder
sich allmählich an die Homosexualität gewöhnen.
Was die Verführung anlangt, so sprechen schon
die Fälle von männlichen Prostituierten (die trotz-
dem heterosexuell sind) gegen diesen Grund.
Hierzu bemerkt W e i n i n g e r sehr treffend : „Was
ist ts aber dann mit dem Verführer? Wurde
dieser vom Gotte Hermaphroditus unterwiesen ?
Mir ist diese ganze Meinung nie anders vor-
gekommen, als wenn jemand die , normale' se-
xuelle Hinneigung des typischen Mannes zur
typischen Frau als künstlich erworben ansehen
wollte und sich zur Behauptung verstiege, diese
gehe stets auf Belehrung älterer Genossen zurück,
die zufällig einmal die Annehmlichkeit des Ge-
schlechtsverkehrs entdeckt hätten." Daß die
Gründe für die Homosexualität viel tiefer liegen,
geht auch aus der Tatsache hervor, daß das
gleichgeschlechtliche Fühlen vor der Pubertät
keinen bestimmenden Einfluß auf die spätere
sexuelle Einstellung haben kann, da ja die Homo-
sexualität sonst viel weiter verbreitet sein müßte. ^)
Von größter Bedeutung ist die Erfolglosigkeit
jeder Behandlung auf hypnotischem oder sugge-
stivem Wege. Dagegen mehren sich die Fälle,
in denen eine operative Behandlung von Erfolg
begleitet ist. Die Homosexualität hat
nämlich allem Anschein nach ihren
Sitz nicht im Gehirn, sondern in den
Keimdrüsen. Jede Keimdrüse ist von anderer
Konstitution und übt bei jedem Menschen daher
eine andere Wirkung auf inkretorischem Wege
auf die Psyche aus. So sind biologisch die
sexuellen Zwischenstufen erklärt, die schon Wei-
n i n g e r seiner Arbeit über „Geschlecht und Cha-
rakter" zugrunde gelegt hat. Er sagt dort über
die Homosexualität: „Das konträre Geschlechts-
gefühl wird so für diese Theorie keine Ausnahme
') An dieser Stelle sei auf die trefflichen Ausführungen
von R. Gaupp über „Das Problem der Homosexualität"
verwiesen (Klinische Wochenschrift, Nr. 21, I. Jahrg., 1922).
von dem Naturgesetze, sondern nur ein Spezial-
fall desselben."
Seit einiger Zeit fordern vor allem R o h 1 e d e r
und Hirsch fei d die operative Behandlung der
Homosexuellen. Rohleder vertritt seinen Stand-
punkt vor allem in der kleinen Abhandlung über
„Moderne Behandlung der Homosexualität und
Impotenz durch Hodeneinpflanzung" ') sehr ent-
schieden. Er geht von der St einachschen
Pubertätsdrüsenlehre aus und schlägt vor, dem
männlichen Homosexuellen Hodengewebe hetero-
sexuell Fühlender einzupflanzen. Er sagt: „Wir
wissen, daß hierdurch nicht bloß eine somatische,
sondern auch eine psychische Veränderung vor
sich geht, daß dadurch auch der Sexualtrieb dem-
entsprechend umgeändert wird." Ferner weist
Rohleder darauf hin, daß zur Einpflanzung die
entfernten Hoden von Kryptorchen (Personen,
deren Hoden an der ursprünglichen embryonalen
Stelle in der Bauchhöhle geblieben sind) ver-
wendet werden könnten. Er sagt weiter sehr
richtig : „So dürfte z. B. in Berlin mit seinen
großen chirurgischen Kliniken einerseits und der
Zentralstelle für Homosexuelle, dem wissenschaft-
lich-humanitären Komitee andererseits eine solche
wechselseitige Verständigung nicht allzu schwer
und in Zukunft doch von manchen segensreichen
Erfolgen begleitet sein." Man hat nun tat-
sächlich Hodeneinpflanzungen bei Homo-
sexuellen vorgenommen. Sehr bekannt
sind die Lichtenstern sehen Fälle. Hier wurden
Homosexuellen die „normalen" Hoden von Krypt-
orchen eingepflanzt, und es ergab sich stets ein
voller Erfolg der Behandlung : nämlich die Ände-
rung der Triebrichtung. Auch andere Forscher
haben Erfolge erzielt, andere wieder berichten
über negative Resultate. Daß aber überhaupt
Erfolge erzielt wurden, ist schon ein Beweis da-
für, daß die Keimdrüsen ausschlaggebend sind.
Einige Autoren glauben aber noch an eine sug-
gestive Beeinflussung der Operierten, obwohl die
Erfolglosigkeit der suggestiven Behandlung er-
wiesen ist.-)
An dieser Stelle sei über den eingangs er-
wähnten Fall berichtet, in dem die Richtung des
Geschlechtstriebes eines Homosexuellen durch
Einpflanzung eines Hodens von einem Hetero-
sexuellen geändert worden ist. Pfeiffer hat
den Homosexuellen — im Gegensatz zu Lichten-
stern — nicht kastriert, sondern ihm ohne
weiteres einen Hoden implantiert. Der Operierte
wußte von der Implantation nichts; es wurde ihm
nur von der Operation eines Bruches Mitteilung
gemacht. Jeder suggestive Einfluß ist also aus-
geschlossen. Der Erfolg war unzweideutig. Nach
6 Wochen stellte sich der Operierte vor: voll-
ständig heterosexuell. Vor der Operation
war er total homosexuell. Ein Strafverfahren war
') Berliner Klinik, Heft 322, 1917.
^) Z. B. Rom eis in seinem Referat „Geschlechtszellen
oder Zwischenzellen?" (Klinische Wochenschrift, Nr. 19 — 21,
I. Jahrg., 1922).
470
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 34
gegen ihn auf Grund §175 anhängig, wurde aber
wegen Volltrunkenheit des Angeklagten während
der strafbaren Handlungen aufgehoben. In seinen
Träumen spielten nur von ihm geliebte IVIänner-
gestalten eine Rolle. F"rauen gegenüber hatte er
Ekelempfindungen. Von alledem war nichts mehr
nach der Operation vorhanden. Wir haben also
hier einen schlagenden Beweis für die Wichtig-
keit der Keimdrüsen vor uns. Die Möglichkeit,
daß die Triebrichtung sich wieder ändert, besteht
meiner IVIeinung nach fort. Aber — wenn auch
kein Dauererfolg erzielt worden wäre — die Um-
wandlung nach Einpflanzung des „normalen"
Hodens ist ein Beweis für die entscheidende Be-
deutung der Keimdrüsen.
Die Lehre von der inneren Sekretion (hier die
der Keimdrüsen) ist es wieder, die eine Änderung
oder Verdrängung alter Anschauungen nötig
macht. Für die Erforschung der Homosexualität
ist meiner Ansicht nach vor allem eine weitere
Klärung der Beziehungen zwischen Psyche und
Inkretion von größter Bedeutung, wie überhaupt
die Psychologie von selten der Inkretionslehre in
nächster Zukunft die meisten Erfolge zu erwarten
haben wird.
Gustav Zeuner.
Bücherbesprechuiigen.
Fischer, Emil, Aus meinem Leben. Berlin
1922, Julius Springer. 75 IVl.
Vor dem Titel befindet sich ein schönes Bild
des großen Chemikers. Die linke Gesichtshälfte
ein würdiger Ausdruck für den tiefgründigen,
strengen Forschergeist des Dahingegangenen.
Deckt man sie zu, so meint man einen völlig
andersartigen Menschen zu erblicken: den humor-
vollen, trinkfesten Rheinländer, der mitten in
dieser Welt lebte und all ihrer bunten Ablenkung
von stiller Gelehrtenarbeit spielend Herr wurde.
Dieser, also der Mensch Emil Fischer
berichtet hier ,,aus seinem Leben". Das Persön-
liche überwiegt also in diesem Buche durchaus.
Freilich handelt es sich um eine ganze Persönlich-
keit, in deren Bannkreis wiederum eine solche
Fülle bedeutender Männer trat, daß die Schilde-
rung rein sachlich fesseln müßte. Zudem aber
ist das Buch mit der bekannten Meisterschaft
1^'isc herscher Darstellungskunst geschrieben,
daß auch formell selbst hohe Ansprüche befriedigt
werden. Berichterstatter bekennt, daß ihn selten
Lebenserinnerungen eines Mannes der Wissenschaft
derart gefesselt haben wie diese. Man braucht
durchaus nicht Chemiker zu sein, um diesen Ein-
druck von dem vorliegenden Buche zu gewinnen.
Es ist ein wertvoller Beitrag zur Biologie großer
Männer. Andern Ortes mag mehr darüber gesagt
werden. Hier kann es sich nur um eindringlichste
Empfehlung der (nicht ganz vollendeten) Er-
innerungen handeln.
Das sehr gut ausgestattete Buch enthält drei
schöne Bildnisse Emil Fischers. H. Heller.
V. Horvath , Clemens, Raum und Zeit im
Lichte der speziellen Relativitäts-
theorie. Versuch eines synthetischen Auf-
baues der speziellen Relativitätstheorie. Berlin
1921, Springer. 12 M.
Die meisten, namentlich die älteren Darstel-
lungen der Relativitätstheorie waren offensichtlich
bemüht, dem Leser eine Vorstellung von der neuen
Lehre dadurch zu geben, daß sie allzu sehr die
aus dem herkömmlichen Rahmen schroff heraus-
fallenden Ergebnisse in möchlichst paradoxer Form
hervorhoben. Diese Methode ist, besonders für
den Anfang, psychologisch verständlich , hat aber
den großen Nachteil , die neue Lehre historisch
zu isolieren und das Falsche der bisherigen Vor-
stellung allzusehr und zwar auf Kosten des auch in
ihr noch weiterhin Gültigen hervorzuheben. Unser
Autor geht in seiner mit großer Darstellungskraft
äußerst klar geschriebenen und auch für den nicht
übertrieben mathematisch geschulten Naturwissen-
schaftler vollauf verständlichen Abhandlung einen
grundsätzlich anderen Weg. Von irgendwelchen
Paradoxien der neuen Theorie merkt man bei ihm
gar nichts mehr. Im Gegenteil erscheinen die
neuen Resultate als vollkommen organisch ge-
wachsen und konsequente Folgerungen aus phy-
sikalischen Gedankenmotiven, die als solche, wenn
auch in falscher oder unzulänglicher Formulierung,
auch schon in der klassischen Physik, zum Teil
allerdings auch unausgesprochen , wirksam sind.
Schritt für Schritt baut er die neue Theorie syn-
thetisch vor uns auf, manchen Begriff erheblich
über das bisher Geleistete hinaus klärend und
schärfer definierend, z. B. den des Inerlialsystems,
den Trägheitssatz, das Synchronisierungsverfahren
der Uhren u. a. Am Schlüsse wundern wir uns
so viel mehr darüber, daß man solange an den
alten Lehren gehangen hat, als über das sonst so
paradoxe Neue.
Sehr beachtenswert ist auch der Gedanke, den
V. Horvath über das Verhältnis der Kanti-
schen Lehren zur Relativitätstheorie äußert. Wäh-
rend die bisher geäußerten Ansichten entweder
dahin gehen, daß die Kantische Lehre von der
Relativitätstheorie gar nicht berührt, also auch
nicht widerlegt wird (S ellin u. a.), oder daß sie
von dieser direkt widerlegt worden ist (Reichen-
bach), vertritt V. Horvath den Standpunkt, daß
die Relativitätstheorie gleichsam nur ein spezieller
Fall der Kan tischen Doktrin sei. Wenn das
auch wohl etwas zu weit geht, so muß man
meines Erachtens Kant doch als einen bedeuten-
den Vorläufer der Relativitätstheorie ansehen (wie
übrigens auch Otto Liebmann). Man braucht
N. F. XXI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
471
nur in den bekannten Formulierungen Kants
statt „Formen unserer Anschauung" zu sagen :
„Formen unseres jeweiligen Bezugssystems", so
springt die Ideeverwandtschaft eklatant in die
Augen. — Alles in allem wird niemand an der
Abhandlung v. Horvaths vorbeigehen dürfen,
der sich forschend oder lehrend mit der Relativi-
tätstheorie befaßt. Adolf Meyer (Hamburg).
von Montgelas, Gräfin Elisabeth, Tierge-
schichten. Leipzig 1922, E. Haberland. Geh.
60 iVI., geb. 80 M.
Wenn man als Tierfreund und Zoologe jahr-
zehntelang täglich mit Tieren verkehrt hat, greift
man zu populären Tiergeschichten nur höchst
ungern, da man schon weiß, was einem bevor-
steht. Das vorliegende Buch erwies sich indes zu
meiner Freude als eine der seltenen Ausnahmen.
Die Verf ist eine gewandte und mutige Reiterin
und Jägerin und besitzt durch ihren Verkehr mit
Tieren aller Art von Jugend auf hervorragende
tierpsychologische Kenntnisse. Eine außergewöhn-
liche Liebe zu den Tieren, hervorragende Be-
obachtungsgabe und ein Vermögen, die feinen
Unterschiede der einzelnen Tierpersönlichkeiten
zu empfinden und sich in das Wesen der so ver-
schiedenartigen Individuen einer Art oder Rasse
einzufühlen, ermöglichten es der Verf, mit den
schwierigsten Charakteren ohne Gewalt fertig zu
werden. Daß sie die am Schreibtisch ausgedachten
Theorien von den Augen- und Nasentieren, von
dem Überkreuzungs-„Gesetz" usw., die höchst ein-
seitig übertrieben werden, auf Grund ihrer aus-
gedehnten Praxis auf ein IVIinimum reduziert, ist
sehr erfreulich. Die zahlreichen Einzelbeobach-
tungen, an Katzen, Hunden, Affen, Pferden usw.
werden den Tierpsychologen sehr willkommen
sein. In dem Haß gegen die Tierquäler stimme
ich ganz überein, ebenso hinsichtlich der Be-
merkungen über die Tierschutzgesetze. F~rei von
Sentimentalität einerseits und von menschlichen
Hochmut gegenüber dem Tier andererseits schil-
dert die Verf. ihre Anteilnahme an den P'reuden
und Leiden ihrer Lieblinge. Diese Tiergeschichten
sind zu empfehlen. — Leider sind die beigegebenen
Autotypien recht mäßig — „Bobby, maskiert",
S. 38, ist zudem nicht gerade geschmackvoll —
und verteuern zweifellos das sonst schön aus-
gestattete Buch unnötigerweise.
Dr. Anton Krauße.
Weil, Arthur, Die innere Sekretion. Eine
Einführung für Studierende und Ärzte. Zweite,
verbesserte Auflage. IVlit 45 Textabbildungen.
Berlin 1922, Julius Springer.
Wie man beim Erscheinen der ersten Auflage
mit Bestimmtheit erwarten konnte, hat sich die
Weilsche Einführung in die innere Sekretion
vortrefflich bewährt. Schon nach Verlauf eines
Jahres ist eine zweite Auflage erschienen, die
durch Hinzufügung neuer Ergebnisse und Ver-
mehrung der Textabbildungen erweitert und ver-
bessert worden ist. Ein solcher Erfolg ist zweifel-
los der Stoffbehandlung zu verdanken, die zum
erstenmal auf einer allgemein-physiologischen Basis
ruht. Diese Darstellungsweise wird auch ferner
dem Buche berechtigte Zustimmung sichern. Eine
wesentliche Bereicherung des Tatsachenmaterials
bilden die Ergebnisse der Körpermessungen von
Weil selbst, die in das Kapitel über den Ge-
schlechtstrieb aufgenommen worden sind. — Auch
die neue Auflage des Buches ist hervorragend
ausgestattet. Eine spanische und eine russische
Übersetzung, die sich unter der Presse befinden,
bezeugen das Interesse, das für das Werk vor-
handen ist. So wird die Weilsche Einführung
auch in Zukunft für Studierende und Ärzte von
besonderer Bedeutung bleiben.
Gustav Zeuner.
Fehringer, Prof. Dr. O. , Die Singvögel
Mitteleuropas. Mit 96 farbigen Tafeln und
17 Textabbildungen. Heidelberg, Carl Winter.
50 M.
Das handliche, geschmackvoll ausgestattete
Büchlein enthält neben der Beschreibung der
Singvögel Mitteleuropas allgemeine Abschnitte
über die Naturgeschichte der Singvögel, ihre
Lebensweise, ihren Gesang, ihren Zug, über den
Vogelschutz, über Vogelkäfige, über das Futter
sowie überhaupt über das Halten von Vögeln.
Den Einzelbeschreibungen ist eine systematische
Übersicht vorausgeschickt, wo über die wissen-
schaftliche Benennung unterrichtet wird. Den
Hauptwert des* Büchleins machen nun die 96
farbigen Bilder aus; sie sind auf die Vorder- und
Rückseite von 48 Blättern verteilt, die von je
zwei Seiten Text unterbrochen werden. So hat
man unmittelbar nebeneinander Text und Be-
schreibung. Letztere beschränkt sich auf Angaben
über Vorkommen, Lebensweise und Benehmen,
Gesang, Nestbau, das Gelege und die Jungen. Die
von Walter Heubach gemalten und in Drei-
farbendruck wiedergegebenen Aquarelle zeigen die
Vögel auf einem ansprechenden charakteristischen
Hintergrund und sind durchweg sehr gut. Das
kleine Vokabularium am Schlüsse gibt die Ab-
leitung der wissenschaftlichen Namen. Der Preis
ist in Anbetracht der großen Zahl der schönen
Bilder mäßig. Miehe.
Pfeiffer, Prof Dr. Paul, Organische Mole-
külverbindungen. Stuttgart 1922. Ferdi-
nand Enke.
Das vorliegende, etwa 290 Textseiten um-
fassende Werk stellt die erste zusammenfassende,
methodisch geordnete Besprechung organischer
Molekülverbindungen dar, d. h. solcher Verbin-
dungen, die sich aus Molekülen, die an sich „ge-
sättigt" erscheinen, durch Anlagerung bilden.
Hierher gehören also letzten Endes alle Verbin-
dungen, die ein oder mehrere Moleküle des
Kristallisationsmittels in ihrer Formel beherbergen,
wie Hydrate, Alkoholate usw. Natürlich sind
472
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXL Nr. 34
nicht alle diese Verbindungen aufgezählt, sondern
es sind die wichtigsten Vertreter der einzelnen
Gattungen solcher Molekülverbindungen genannt
und kurz gekennzeichnet. Dazu ist eine Fülle
von Literaturstellen aufgeführt. Für den Chemiker
von Fach (nur für diesen 1) handelt es sich um
eine um so wertvollere Darstellung, als die ge-
samten IVIitteilungen und Auseinandersetzungen
einheitlich von den Gedanken der Wernerschen
Koordinationstheorie getragen sind. Der hohe
systematische Wert dieser Lehre tritt hier auf-
fällig in die Erscheinung. Weniger ihr Erkennt-
niswert. Denn was eigentlich „Haupt-" und
„Nebenvalenzen" unterscheidet, vermag auch dieses
Buch nicht zu sagen. Es bleibt in dieser Hinsicht
bei Werner stehen. Am augenfälligsten wird
dies gelegentlich der Besprechung der Walden-
schen Umkehrung (S. 275 ff.). Hier ist von der
einfachsten und dem Wesen dieser merkwürdigen
Reaktion wohl am nächsten kommenden Theorie
Starks mit keinem Wort die Redel Auch der
Streit zwischen Kehrmann und Hantzsch
(S. 151) wird ohne Stellungnahme lediglich refe-
riert. Hinwiederum fehlt bei Erwähnung der Ver-
bindung aus Azeton und Kalium hydroxyd (S. 71)
die theoretisch wichtige Arbeit von Dehn und
Merling (vgl. Natw. Wochenschr., N. F., XX,
S. 297, 192 1). Dem letzten Ziel des „Erkennen-
woUens" wird auch rein sachlich wenig gedient
durch die leider oft genug gar so unbestimmten,
vieldeutigen Angaben der Autoren über die Eigen-
schaften der von ihnen beschriebenen Stoffe. Die
spekulativ so sehr herangezogene Farbe beispiels-
weise wird noch heute in fast allen Fällen mit
Vulgärausdrücken ohne jegliche exakte Umgren-
zung der Mitwelt überliefert. Man sehe sich etwa
die Seiten 236 und 237 des Buches an: orange-
gelb, blaßgelb, goldgelb, gelb, gelblich, kanarien-
gelb (!), orangegelb usw. — diese Farbbezeich-
nungen stehen unmittelbar nebeneinander. Ver-
gebens fragt man sich, wie hier eine Auswertung
der Farbe noch exakt sein kann. Selbstverständ-
lich fällt dieser Umstand nicht dem Verfasser des
Buches zur Lastl Auch soll nicht verschwiegen
werden, daß beispielsweise Kehrmann in der
Regel die Absorptionskurven farbiger Stoffe mit-
teilt. H. Kauffmann hat einzelne Farben sogar
nach Ostwald gemessen.
Das Buch stellt eine beträchtliche Arbeits-
leistung dar, die man um so dankbarer anerkennen
wird, als solche registrierenden Vorarbeiten an
sich den Ruhm ihres Urhebers nicht zu mehren
pflegen, obwohl sie von Vorwärtsstrebenden gern
als Materialfundgrube benutzt werden. Möchten
sich insbesondere die jüngeren Benutzer des reich-
haltigen Buches bewußt werden, welch emsiger
Kleinarbeit es bedurfte, den breiten Inhalt dieses
Buches zur fruchtbaren Benutzbarkeit gebracht zu
haben. Dann hat dieses „Arbeitsbuch" in zwie-
facher Hinsicht Segen gestiftet. H. Heller.
Literatur.
Abderhalden, Prof. Dr., Handbuch der biologischen
Arbeitsmelhoden. Abt. V; Methoden zum Studium der Funk-
tionen der einzelnen Organe des tierischen Organismus,
Teil 3B, Heft l, Lieferung 62. Untersuchung der Funktionen
bestimmter Organe. Exstirpation und Verpflanzung bestimmter
Organe. Berlin-Wien '22, Urban & Schwarzenberg. Brosch.
70 M.
Abderhalden, Prof. Dr., Handbuch der biologischen
Arbeitsmethoden. Abt. V; Methoden zum Studium der Funk-
■ lionen der einzelnen Organe des tierischen Organismus,
Teil 5 A, Heft i, Lieferung 63. Methoden der Muskel- und
Nervenphysiologie. Untersuchungen an Muskeln und Nerven.
Berlin- Wien '22, Urban ^; Schwarzenberg. Brosch. 120 M.
Schenking, Sigm., Nomenciator Coleopterologicus.
Eine etymologische Erklärung sämtlicher Gattungs- und Art-
naraen der Käfer der deutschen Fauna sowie der angrenzen,
den Gebiete. 2. Aufl. Jena '22, Gustav Fischer. Brosch-
95 M., geb. 125 M.
Dahl, Prof. Dr. Friedr., Vergleichende Psychologie oder
die Lehre von dem Seelenleben des Menschen und der Tiere.
Jena '22, Gustav Fischer. Brosch. 35 M., geb. 62 M.
Hertwig, Oscar, Das Werden der Organismen. Zur
Widerlegung von Darwins Zufallstheorie durch das Gesetz in
der Entwicklung. 3. Aufl. Jena '22, Gustav Fischer. Brosch.
200 M., geb. 240 M.
Po hie, Prof. Dr. Jos., Die Sternenwelten und ihre Be-
wohner. 7. Aufl. Köln, J. B. Bachern. Brosch. 125 M.,
Geb. 150 M.
Lewin, Kurt, Der Begriff der Genese in Physik, Bio-
logie und Entwicklungsgeschichte. Berlin '22, Julius Springer.
Brosch. 136 M.
Monographien aus dem Gesamtgebiet der Physiologie der
Pflanzen und der Tiere. I. Band: Michaelis, Dr. Leonor,
Die Wasserstoffionen- Ivonzentration. 2. Aufl. Teil 1: Die
theoretischen Grundlagen. Berlin '22, Julius Springer. Brosch.
69 M., geb. 90 M.
Fuchs, Dr. Franz, Grundriß der Funkentelegraphie in
gemeinverständlicher Darstellung. 12. Aufl. München und
Berlin '22, R. Oldenbourg. Geh. 40 M.
Fischer-Geistbeck, Erdkunde für höhere Lehran-
stalten. Berlin-München '22, R. Oldenbourg.
Rosen thal, Dr. Alfred, Reicbsgesetz gegen den un-
lauteren Wettbewerb. 5. Aufl. Berlin-Leipzig '22, Vereinigung
wissenschaftl. Verleger. Geh. 150 M., geb. iSo M.
Wissenschaftliche Forschungsberichte. Naturwissenschaft!.
Reihe, herausgegeben von Liesegang, Dr. Raphael Es., Bd. 5:
Fortschritte der Quantentheorie. Dresden und Leipzig '22,
Theodor Steinkopft'. Geh. 30 M.
Kleine Schriften zur Seelenforschung, Dr. med. Kronfeld,
lieft 2. Über Gleichgeschlechtlichkeit. Erklärungswege und
Wesensschau. Stuttgart '22, Julius Pütlmann.
luhalt: E. Taube, Tierische Chimären. S. 457. — Einzelbericbte: W. Koch, Die Folgeerscheinungen der Kastration
bei den Skopzen. S. 465. 1. Friedländer, Der Pico de Orizaba und der San Martin de Tuxtla. S. 466. R. Hey-
mons, Nenes vom Rapsrüßler (Ceutorrhynchus assimilis Payk). S. 467. E. Pfeiffer, Homosexualität und innere
Sekretion. S. 468. — Bücbetbesprecbungen: E. Fischer, Aus meinem Leben. S. 470. Gl. v. Horvath, Raum
und Zeit im Lichte der speziellen Relativitätstheorie. S. 270. E. v. Montgelas, Tiergeschichten. S. 471. A. Weil,
Die innere Sekretion. S. 471. O. Fehringer, Die Singvögel Mitteleuropas. S. 471. P. Pfeiffer, Organische
MolekUlvcrbindungen. S. 471. — Literatur: Liste. S. 472.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
T ganzen Reihe 37. Band,
Sonntag, den 27. August 1922.
Nummer 35.
Grundsätzliches zu Goethes Metamorphosenlehre.
[Nachdruck verboten.] Von Friedrich yy
In einem Aufsatz in dieser Zeitschrift ') nimmt
M. Möbius Stellung zu der Frage, ob unter
Metamorphose eine reelle Metamorphose anzu-
nehmen sei oder nur die Verschiedenheit der
Erscheinung des ideellen Blattes. Während
A. Hansen Stellung für den ersteren Stand-
punkt nimmt, entscheidet sich Möbius für den
letzteren mit den Worten : „Nach genauer Prü-
fung aller seiner (Goethes) Äußerungen über die
Blattorgane bin ich aber doch zu der Überzeugung
gekommen, daß er damit sagen wollte: die Be-
zeichnung , Blatt' entspricht dem Gesamlbegriff
für eine Anzahl bisher als eigenartig unterschie-
dener Organe, daß er damit der Trennung eine
Einigung entgegensetzen wollte. Wir aber können
und dürfen die Sache nicht anders auffassen." ')
Die Ursache der Metamorphose, der „Funktions-
änderung, die eine Veränderung im inneren und
äußeren Bau hervorruft", sieht Möbius darin,
daß, wenn eine andere Entwicklung erfolgen solle
— etwa bei Füllung der Blumen und anderen Ab-
normitäten — „ein besonderer Reiz hinzukommen
müsse, den wir freilich nicht immer mit Sicher-
heit bezeichnen können".^) Hansen läßt die
Frage nach der Ursache dieser Veränderungen
offen. „Dafür, daß das Alte in neuer Form er-
scheint, sind wir gezwungen, eine Ursache anzu-
nehmen, und da hier Beobachtung nicht mög-
lich ist, nehmen wir vorläufig eine hypothetische
Ursache an, die Metamorphose. . . . Durch noch
unbekannte Wirkungen ändern sich die Eigen-
schaften und danach die ganze Form der Laub-
blattanlage und sie wird zum Sporophyll." *)
Zwei Auffassungen stehen hier einander gegen-
über. Die eine sucht die metamorphosierenden
Kräfte innerhalb der Beobachtung, etwa in
Reizen physikalisch - chemischer oder physiolo-
gischer Natur, die andere verlegt dieselben ins
Reich des Ideellen, findet aber infolge der
Abstraktheit und Unwandelbarkeit ihrer Begriffe
den Weg zur Anschauung nicht mehr zurück.
Sieht man sich in der einschlägigen Literatur
um, so treten einem immer jene beiden Stand-
punkte entgegen. Ein Vertreter der ontogenetisch
sich vollziehenden, realen Metamorphose ist
Goebel, der die verschiedenen metamorpho-
sierten Blätter aus ursprünglichen Laubblattan-
lagen hervorgehen läßt, die jedoch der von ihnen
neu übernommenen Funktion zufolge durch sinn-
•) Diese Zeitschrift, 1921, Nr. 52.
^) Diese Zeitschrift, 1921, Nr. 52.
ä) Diese Zeitschrift, 1921, Nr. 52.
*) Diese Zeitschrift, 1921, Nr. i.
[iaS<^r - Ludwigsburg.
lieh wahrnehmbare Einflüsse metamorphosiert
worden sind. Der idealistischen Auffassung ge-
hören A. Braun und Hanstein an. Goebel
schreibt in seiner „Organographie der Pflanzen" :
„In der idealistischen Morphologie, wie sie von
Goethe, A. Braun und Hanstein vertreten
wird, handelt es sich bei der Metamorphosenlehre
wesentlich um eine Begriffskonstruktion."
Und in Schneiders „Handwörterbuch der Bo-
tanik heißt es: „Der Auffassung von Goethe
zufolge war die Metamorphose nur ein gedach-
ter IBegriff. Die vielen Metamorphosen des
Blattes (Hochblätter, Niederblätter, Staubblätter
usw.) wären somit Modifikationen des einen nur
der Idee nach existierenden Blattes. (Ideali-
stische Metamorphosenlehre.)"
Beide Auffassungen treffen meines Erachtens
nicht den Kern der Sache, so wie er von Goethe
herausgearbeitet worden ist. Dem aufmerksamen
Leser der Goetheschen Schriften kann es nicht
entgehen, daß Goethe mit seinem aufs Zentrale
gerichteten Blick mit seiner Metamorphosenlehre
noch etwas wesentlich anderes sagen wollte als
z. B. die Tatsache der Homologie der Pflanzen-
organe mit dem Blatt. Wer von einer „idea-
listischen Metamorphosenlehre" von „Begriffs-
konstruktionen" von „gedachten Begriffen" spricht,
denen innerhalb der Realität der Erscheinungswelt
keine Wirklichkeit zukommt, dem bleibt der wahre
Charakter von Goethes Metamorphosenlehre
dunkel, ja er muß dieselbe konsequenterweise
ablehnen. Man muß tief in das Wesen und die
Methode der Goetheschen Naturbetrachtung ein-
dringen, um ein wirkliches Verständnis zu ge-
winnen für das, was er mit Ausdrücken wie
Typus, Urpflanze, Urtier bezeichnet hat.
Im folgenden sei es mir gestattet, an Hand
der Goetheschen naturwissenschaftlichen Schriften
ein Bild zu entwerfen von der Art wie der Dichter
sich der Natur gegenüberstellt, sowie von seiner
Methode, dem Problem des Lebens, um dessen
Lösung es sich in letzter Linie doch handelt,
näherzukommen. An den Resultaten dieser For-
schungsweise wird es sich dann zeigen, was von
den beiden gekennzeichneten Auffassungen zu
halten ist.
Es kann natürlich hier nicht meine Aufgabe
sein, eine lückenlose Erkenntnistheorie der Goethe-
schen Weltanschauung zu geben, aber es gehört
einmal zum vollen Verständnis und Würdigung
der Goetheschen Ideen, sich Klarheit über die
Prinzipien seiner Erkenntnis methode zu verschaffen
Dabei wird auch ein Licht fallen auf die Stellung.
474
l^aturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 35
dieser Theorie zu der im wesentlichen durch
Kant interpretierten modernen naturwissenschaft-
lichen Vorstellungsweise. Ein solches Unter-
nehmen bringt insofern einige Schwierigkeiten
mit sich, als Goethe selten prinzipiell sich über
die Grundlagen des Hrkennens ausgesprochen hat.
Gesteht er doch selbst:
,,Wie hast du's denn so weil gebracht?
Sie sagen, du habest es gut vollbracht I''
Mein Kind! Ich hab es klug gemacht;
Ich habe nie über das Denken gedacht.
Man muß vielmehr Schritt für Schritt hinsehen,
wie er die Dinge in ihrer Erscheinung, in ihrem
Werden und Vergehen belauscht, wie er ihrem
Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was
er selbst nicht sagt.
Wie tief der Dichter das Menschen-Ich als in
der Natur verankert empfindet, das geht aus dem
Aufsatz „Die Natur" hervor, der 1782 im Tie-
furter Journal erschienen ist: „Natur 1 Wir sind
von ihr umgeben und umschlungen — unver-
mögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend,
tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und
ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres
Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir
ermüdet sind und ihrem Arm entfallen . . . Ge-
dacht hat sie und sinnt beständig, aber nicht als
ein Mensch, sondern als Natur . . . Sie hat Jceine
Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und
Herzen, durch die sie fühlt und spricht . . . Ich
sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und
was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist
ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!" — Goethe
fühlte die Stimme der Natur in seinem Innern,
aber als er diese Worte niederschrieb, kam es ihm
noch nicht völlig klar zum Bewußtsein, wie die
Natur auf dem Schauplatz der Menschenseele sich
ausspricht. Mit Eifer forscht er bei den Philo-
sophen ; allein so oft er sich an das Studium der-
selben heranmacht, empfindet er die durch die
durch die platonische Vorstellungsweise erfolgte
Trennung von Erfahrung und Idee als seiner Natur
zuwider. Man erinnere sich seines Gesprächs mit
Schiller nach Schluß einer Naturforscherver-
sammlung in Jena. Goethe entwickelt seine
Gedanken über die Urpflanze und zeichnet „mit
mancherlei charakteristischen Federstrichen eine
symbolische Pflanze" vor Schillers Augen. Er
erhält von Schiller zur Antwort: „Das ist keine
Erfahrung, das ist eine Idee". Darüber verwun-
dert erwiderte Goethe: „Das kann mir sehr
lieb sein, wenn ich Ideen habe ohne es zu
wissen und sie sogar mit Augen sehe." Und er
war ganz unglücklich, als Schiller des weiteren
erklärte: „Wie kann jemals eine Erfahrung ge-
geben werden, die einer Idee angemessen sein
sollte. Denn darin besteht das Eigentümliche der
letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kon-
gruieren könne." Schärfer läßt sich wohl kaum
die Gegensätzlichkeit zweier Weltanschauungen
formulieren. Für Schiller, den eifrigen Schüler
Kants, gab es zwei Quellen der Erkenntnis, das
Reich der Erfahrung, des raum-zeitlichen Ge-
schehens, und das Reich der Ideen, einer höheren
Wirklichkeit, die der Vernunft sich erschließt.
Einen solchen Unterschied gibt es für Goethe
nicht. Er weiß nur von einer Quelle, der Erfah-
rungswelt, die von der Ideenwelt durchdrungen
ist. — Die Philosophie seiner Zeit vermochte
Goethe nicht über das wahre Verhältnis von
Idee und P2r fahrung aufzuklären. Er war
auf sich selbst angewiesen. Der einzige Philo-
soph, der immer eine friedliche Wirkung auf ihn
ausgeübt hat, war Spinoza. Und zwar deshalb,
weil dieser die Welt als eine große Einheit be-
trachtet, die mit Notwendigkeit die Mannigfaltig-
keit der Erscheinungen aus sich hervorgehen läßt.
Immer jedoch, wenn er sich auf den Inhalt dieser
Lehre einließ, empfand er das Unbefriedigende
derselben. „Denke man aber nicht, daß ich seine
(Spinozas) Schriften hätte unterschreiben und
mich dazu buchstäblich bekennen mögen." — In
diesem Streben nach Naturerkenntnis kam ihm
seine künstlerische Natur zu Hilfe.
Italien, mit seinen herrlichen Kunstschätzen,
brachte ihm den Schlüssel zur Lösung des Rätsels;
hier fand er die geistige Atmosphäre, die seine
Erkenntnisorgane reifen ließ, jene Organe, mit
denen er später in das Wesen der organischen
Bildungen einzudringen suchte. Unermüdlich
spürt er den Triebkräften nach, die dem echten
Kunstwerk zugrunde liegen, und begeistert schreibt
er beim Anblick von besonders vollkommenen
Kunstschöpfungen die Worte nieder: „Die hohen
Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Natur-
werke von Menschen nach wahren und natür-
lichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles
Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist
Notwendigkeit, da ist Gott!" Diese Naturnot-
wendigkeit glaubt er am schönsten an den
griechischen Kunstwerken zu erkennen : „Ich habe
die Vermutung, daß die Griechen nach den Ge-
setzen versuchen, nach welchen die Natur selbst
verfährt und denen ich auf der Spur bin". Die
künstlerische Natur Goethes war es, die ihm die
Einsicht in das richtige Verhältnis von Idee und
Erfahrung brachte. Er erkennt, daß es die Idee
ist, die in innigem Bunde mit der Materie das
objektiv Schöne hervorbringt. In den „Ideen"
Pia tos glaubt er das wiederzufinden, was als
Schöpferisches aus den Kunstwerken herausblickt
und das der Mensch als Ewiges, Göttliches ver-
ehrt. Und was ihm das Kunstwerk entgegen-
brachte, das suchte er auch in der Natur. Er
suchte nach der in der Mannigfaltigkeit sich mani-
festierenden Idee, weil er fand, daß dem Kunst-
werk dieselbe Gesetzmäßigkeit innewohnt, wie
dem Naturwerk. Wie Ideelles und Materielles
sich im Kunstwerk durchdringen, so auch im
Naturwerk. Und das Schaffen des Künstlers
scheint ihm wesensverwandt zu sein mit dem
Schaffen der Natur. Im Künstler wirkt auf
höherer Stufe die den Naturdingen zugrunde
liegende Gesetzmäßigkeit: „Indem der Mensch
N. F. XXI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
475
auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er
sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich
abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu
steigert er sich, indem er sich mit allen Voll-
kommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl,
Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft, und
sich endlich zur Produktion des Kunst-
werks erheb t." — Was die Philosophie Goethe
nicht zu geben vermochte, das offenbart ihm die
Kunst. In ihr findet er das, wodurch sein Er-
kenntnisdrang Befriedigung finden konnte.
Alles wissenschaftliche Streben zielt letzten
Endes darauf hin, die Kluft zwischen Menschen-Ich
und Natur zu überwinden. Ist das Band geknüpft,
so ist der Erkenntnisdrang befriedigt. Wie der
Künstler im Anschauen des Schönen sein Sehnen
stillt, so der Wissenschafter im Erleben der Idee.
Durch die Sinne erhält der Mensch Kunde von den
Dingen der Sinnes welt, in der Betätigung derVernunft
spricht sich deren ideelle Seite aus. Beides, Wahr-
nehmung und Begriff, Erfahrung und Idee gehört
zusammen; in ihrer Vereinigung liegt Wirklich-
keit. Goethes Erkenntnisweise beruht darauf,
daß „die Geistesaugen mit den Augen des Leibes
in stetem lebendigem Bunde zu wirken haben,
weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und
doch vorbeizusehen". Es ist im Sinne Goethes,
das Wesen der Erkenntnis in der Synthese von
Anschauung und Begriff zu suchen. Was sich
im Anschauen eines Naturobjekts den
Sinnen darbietet, ist nur die eine Hälfte
der Wirklichkeit, die andere Hälfte,
der Begriff, die Idee, leuchtet imDenken
auf. Diese offenbar einzig mögliche Methode
liegt aber unbewußt allem exakten Forschen
zugrunde.
Das Denken als Form stellt die Beziehungen
zwischen Ich und Natur her. Das unmittelbar
Gegebene, die Sinneswahrnehmung, stellt sich dem
Denken gegenüber und wird so zum Problem der
Naturwissenschaft. Dieses unmittelbar Gegebene
ist chaotisch und bleibt so lange Problem, bis es
völlig von Begriffen durchdrungen ist. Im Be-
griff wird die Trennung von Wahrnehmung und
Denken aufgehoben. Das Ziel der naturwissen-
schaftlichen Erkenntnis besteht darin, im Denken
die der Wahrnehmung entsprechenden Begriffe
aufzufinden und zu zeigen, w i e dieselben den Er-
scheinungen der Sinneswelt zugrunde liegen.
So glaube ich in G o e t h e s Betrachtungsweise
die erkenntnistheoretischen Grundlagen für die
Methode der Naturwissenschaft gefunden zu haben.
Eine solche Denkweise kennt keine Grenzen des
Erkennens und muß jede Metaphysik prinzipiell
zurückweisen. Eine Weltanschauung, die außer
Wahrnehmung und Begriff noch „Dinge an sich"
als Träger der Erscheinungen sucht, muß vom
Goetheschen Standpunkt aus abgelehnt werden ;
daher auch der scharfe Gegensatz zu Kant, der
bei Goethe immer wieder begegnet: „Der Ein-
gang (der Kritik der reinen Vernunft) war es,
der mir gefiel, ins Labyrinth selbst konnte ich
mich nicht wagen: bald hinderte mich die
Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand und
ich fühlte mich nirgends gebessert". Kant und
die von ihm beeinflußte neuere Philosophie
sprechen dem Menschengeiste die Fähigkeit ab,
in das Wesen der Dinge einzudringen, weil sie
im Denken nur eine subjektive Tätigkeit
erblicken, die nur ein abstraktes Bild von der
Wirklichkeit entwerfen kann. Für sie ist der
Begriff eben ein „bloß Gedachtes". Für Goethe
ist es der Repräsentant der in den Naturobjekten
sich auswirkenden Idee. Er fühlte das lebendige
Schaffen der Idee in seinem Innern, daher findet
er auch den Weg zur Natur wieder zurück. Der
Kreis zwischen Mensch und Natur schließt sich;
was im Erleben der Idee als Subjektives erscheint,
wird objektiv, das Objekt wird vom Subjekt
völlig durchleuchtet. Man muß das Lebensvolle
der Denktätigkeit durchschauen, um es als das
gleichsam göttliche Gewand zu erkennen, in dem
der ideelle Kern der Welt erscheint. Hätte Kant
die Natur des Denkens durchschaut, so wäre ihm
die Identität des Begriffs mit dem „Ding an sich"
aufgegangen. Goethe meint, der Grundirrtum
Kants liege darin, daß dieser ,,das subjektive
Erkenntnisvermögen selbst als Objekt betrachtet
und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zu-
sammentreffen, zwar scharf aber nicht ganz richtig
sondert". Diese Kluft zwischen Subjekt und Ob-
jekt muß bestehen bleiben, so lange man die Er-
kenntnistätigkeit als bloß subjektive ansieht, so-
lange man nicht erkennt, daß es die Natur selbst
ist, die im Menschen als diese Tätigkeit wirksam
ist. Es ist dasselbe, was im Objekt als Gesetz,
im Subjekt als Begriff erscheint. Der Gegensatz
von subjektiv und objektiv wird aufgehoben, wenn
man die in der Natur sich offenbarende Gesetz-
mäßigkeit als die im Menschengeiste aufleuchtende
objektive Ideenwelt erkennt. Im denkenden Wahr-
nehmen baut sich der Mensch die Brücke, auf
welcher der Spalt zwischen Erfahrung und Idee
überbrückt wird. Im Vollziehen dieses Aktes
wird das Erkenntnisbedürfnis befriedigt.
Jetzt können wir auch verstehen, was der
Dichter mit dem Typus (Urtier und Urpfianze)
gemeint hat. Seine Erkenntnismethode gibt uns
das Licht mit auf dem Weg zum Wesen des
Lebens. Wenn Kant der Philosoph des Anor-
ganischen genannt werden kann, so öffnet Goethe
das Auge für die Erkenntnis des Organismus.
Seine Pflanzenmetamorphose liegt uns in allen
Einzelheiten vor. Was er als das Verursachende
derselben, als Typus bezeichnet, ist seine höchst
eigene Entdeckung und hat nicht im entferntesten
etwas zu tun mit der hypothetischen Urpflanze
Hack eis, auch wenn letzterer sich bei seinen
diesbezüglichen Äußerungen auf Goethe beruft.
Die Größe der Tat Goethes kann nur derjenige
in vollem Maße würdigen, der versucht, die Ideen
des Dichtersehers immer wieder in seinem Geiste
lebendig zu machen. Goethes Typus ist keine
Abstraktion, kein schattenhafter Begriff, sondern
476
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 35
die Idee eines Komplexes von Bildungsgesetzen,
die als Ganzes, als Beharrendes im ewigen Wechsel
der organischen Bildung sich äußern. Sie ist
das Pflanzliche in der Pflanze (Urpflanze), das
Tierische im Tier (Urtier), das dominierende
Prinzip der onto- und philogenetischen Entwick-
lung. Was im Geiste des Menschen als Begriff
erscheint, liegt reell dem Organismus als Wesent-
liches zugrunde, wirkt und webt im Objekte, ist
überall anwesend, wo von Zellen die Rede ist.
Eine Kraftgestalt von höchster, innerlicher Mo-
bilität, voller Entwicklungsmöglichkeiten, die nur
in Gedanken festzuhalten ist, aber in der Er-
scheinung Form und Gestalt annimmt. Überall
wo von Lebendigem gesprochen werden kann, ist
der Typus das schöpferische, konstitutive Prinzip.
Der Typus kann nicht auf dieselbe Weise be-
griffen werden, wie eine Erscheinung der anor-
ganischen Natur. Man muß über das abstrakte
mathematisch-kausale Urteilen hinausgehen und
sich zu einer höheren Art des Anschau ens
erheben. Bei einem anorganischen Vorgang
kommt es lediglich darauf an, das Verhältnis der
einzelnen Phänomene zueinander aufzufinden ; das
Resultat des Zusammenschauens der Teile stellt
sich dem Verstände dar als die Einheit des Be-
griffs. Anschauung und Begriff fordern einander,
stehen jedoch in einem äußerlichen Verhältnis
zueinander, weil der Begriff nicht in den einzelnen
Gliedern der Erscheinungsreihe selbst, sondern
nur in deren Bezug liegt. Die Einheit, der Be-
griff, drückt wohl das Verhältnis der sinnlich
wahrnehmbaren Glieder aus, faßt dieselben sum-
marisch zusammen, ist aber als Ganzes nicht in
diesen zu finden ; er bringt die Vorgänge eines
Erscheinungskomplexes auf eine gemeinsame
Formel. Er steht über oder außer ihnen. Die
Erkenntnis anorganischer Vorgänge beruht darauf,
daß deren Beziehungen durch Begriffe ausgedrückt
werden.
Eine solche Methode versagt jedoch bei or-
ganischen Formen. Beim Organismus spielen die
einzelnen Organe eine funktionelle Rolle, sie stehen
nicht in einem äußerlichen, sondern einem inner-
lichen Verhältnis zueinander, erhalten Wesen und
Bedeutung nur innerhalb des Ganzen. Das Ganze
ist das Maßgebende; es setzt die Teile aus sich
heraus, beherrscht sie. Das Verhältnis des Ganzen
zu den Gliedern ist ein reelles geworden, der
Begriff, die Einheit, das Ganze lebt nicht nur im
Verstände, sondern bildet eine untrennbare Ein-
heit mit dem Objekt, dessen Mannigfaltigkeit es
aus sich selbst hervorbringt. Anschauung und
Begriff fallen nicht mehr auseinander; der Begriff
durchdringt die Anschauung, in der Anschauung
offenbart sich der Begriff. Der Begriff wird als
Idee selbst angeschaut. — Das Vermögen, das
Wesen des Organismus zu erkennen nennt Goethe
„anschauende Urteilskraft".
Kant bezeichnet das Denken, das den Begriff
nur als das durch Abstraktion aus der Sinneswelt
gewonnene analytische Allgemeine kennt, ein dis-
kursives. Dieses Denken genügt für eine Er-
kenntnis der anorganischen Vorgänge, und des-
halb konnte oben Kant auch der Philosoph des
Anorganischen genannt werden. Die höhere Form
der Anschauung, wodurch ein Organismus be-
griffen werden kann, ist die intuitive. Der
intuitive Begriff entnimmt seinen Inhalt nicht der
raum-zeitlichen Sinneswelt wie der Abstraktions-
begriff, sondern aus sich selbst. Er gestaltet sich,
seinem ureigenen Wesen gemäß, aus sich selbst
heraus. Das Ideelle, der Begriff, drückt nicht
mehr ein anderes aus, ist nicht mehr bloß das
aus einer Erscheinungsreihe abgezogene Allgemein-
bild, er ist das diese Erscheinungsreihe bewirkende,
muß daher als Primäres gesetzt werden; das Ideelle
muß als solches begriffen werden. Jetzt können
wir auch erkennen, warum in den anorganischen
Naturwissenschaften das unmittelbar Gegebene
durch Naturgesetze erklärt wird, während man
bei den organischen vom Typus spricht. Das
Naturgesetz steht über der Erscheinung, Anschau-
ung und Begriff stehen im Verhältnis des Neben-
einander; beim Typus haben wir das Verhältnis
des Nach- oder Ineinander, Ideelles und Reelles,
Anschauung und Begriff sind zur Einheit geworden,
die Vielheit geht hervor aus der Einheit.
Der Organismus zeigt in allen seinen Äuße-
rungen Bewegung, Entwicklung, Gestaltung und
Umgestaltung; Werden und Vergehen kreisen in
ewigem Rhythmus. Er wird begriffen, wenn man
in das Denken selbst jenes bewegliche Element
aufnimmt, das die Begriffe ihrer Starrheit und
Abstraktheit entkleidet, das sie innerlich lebendig
und entwicklungsfähig macht. Goethe sagt
einmal in seinen Sprüchen in Prosa: „Die Ver-
nunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das
Gewordene angewiesen; jene bekümmert sich
nicht : wozu ? dieser fragt nicht : woher ? — Sie
erfreut sich am Entwickeln ; er wünscht alles fest-
zuhalten, damit er es nutzen könne", oder „die
Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft;
die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie
abgibt, ist daher tot". Der Verstand zerlegt,
trennt, isoliert, bildet sich Begriffe von den
Dingen, sein eigentliches Gebiet ist das der
Analyse; die Vernunft eint, bringt die vom Ver-
stand isolierten Begriffe in Fluß und verbindet
sie zu einem einheitlichen Bilde. Ihr Gebiet ist
das der Synthese.
So erkennen wir im Typus jenes Prinzip, das
mit Goethe eine „Entelechie" genannt wer-
den kann. Dieses entelechische Prinzip bestimmt
sich aus sich selbst, steht den Erscheinungen nicht
als ein von ihnen Gesondertes gegenüber, sondern
ruft dieselben aus sich selbst heraus ins Dasein.
Beim Anschauen eines Organismus erlebt man
ein sinnlich übersinnliches; das Übersinnliche, die
Entelechie, verbirgt sich nicht hinter dem Sinn-
lichen, sondern offenbart sinnlicliwirklich seinen
ganzen Inhalt. Was sich den Augen des Geistes,
der Vernunft, als Ideelles erschließt, das nehmen
die Augen des Leibes als Reelles beim Anschauen
N. F. XXI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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des Organismus wahr. Sinnlich-Übersinnliches in
steter Wechselwirkung, darin liegt das Geheimnis
des Organischen.
„Natur h.it weder Kern noch Schale,
Beides ist sie mit einem Male."
Nun ist auch zu begreifen, daß der Organismus
als sinnlich wahrnehmbares Objekt wie jeder
andere Körper den Einflüssen der Umwelt aus-
gesetzt ist und damit mehr oder weniger in deren
Abhängigkeit gerät. Licht, Luft, Temperatur,
Bodenbeschaffenheit, Reize physikalisch chemischer
Natur wirken auf ihn ein, insofern sie die Be-
dingungen darstellen, auf Grund welcher das en-
telechische Prinzip als Organismus in Raum und
Zeit auftreten kann. Aber je nach Lage und Art
des Auftretens einer organischen Form machen
sich jene Bedingungen in verschiedenem Maße
geltend. Die Ökologie stellt diese Verhältnisse
im besonderen fest. Der Organismus kann nie
so auftreten, wie er seinen Bildungsgesetzen ge-
mäß sich entwickeln sollte, er erscheint nicht in
seiner ureigenen Reinheit. Abstrahiert man nun
von allen zufälligen Einflüssen, stellt man sich
einen Organismus vor, der die in ihm liegende
Gesetzmäßigkeit rein zum Ausdruck bringt, so
muß ein solcher reeller sein als jeder besondere
Organismus, man erhält die Idee des Urorganis-
mus, den Typus.
Der Typus Goethes ist von der Entelechie
Drieschs grundsätzlich verschieden. Driesch
glaubt auf Grund seiner biologischen Studien, die
ihm die Autonomie alles organischen Geschehens
und die Unmöglichkeit einer mechanisch-kausalen
Erklärungsweise zum Bewußtsein bringen, zu der
Annahme einer Ganzheitskausalität, eine „Ente-
lechie" berechtigt zu sein.') Wohl ist für ihn die
Entelechie die unsichtbare Ursache der onto- und
philogenetischen Entwicklung, dasjenige was „ganz
macht", was nicht im Raum wirkt, sondern in
den Raum hinein, aber was er über das Wesen
der Entelechie sagt, erinnert stark an die vita-
listischen Anschauungen vergangener Zeiten; es
bleibt blaß und abstrakt. Klar sieht Driesch
die Grenzen der modernen naturwissenschaftlichen
Vorstellungsweise, die Unmöglichkeit, mit dem
herrschenden Vorstellungskreis dem Wesen des
Lebens beizukommen, aber er zieht nicht die
Konsequenzen für das Gebiet jenseits dieser
Grenzen neue Erkenntniswege zu suchen. Gerade
der Begriff der „Ganzheitskausalität" zeigt zur
Evidenz das Versagen der mechanisch -kausalen
Methode; mit ihm ist für das moderne wissen-
schaftliche Denken nichts anzufangen, ein solcher
Begriff bleibt tot. Das charakteristische Moment
der organischen Bildung, das innerlich lebendig-
tätige Element bleibt einer mechanistischen wie
vitalistischen Anschauung verborgen, weil für
beide dieses Wesentliche bloß Begriff, bloße
Definition ist. Driesch sieht nicht ein, daß ein
') Hans Driesch, Das Problem des Lebeijs. Vortrag,
gebalten in Stuttgart am 29. März 1922.
Denken ausgebildet werden muß, für welches das
Lebendige kein Totes, sondern ein Bewegliches,
Schaffendes ist. Dieses intuitive Denken, im
Gegensatz zum Diskursieren, hat Goethe im
„Anschauen einer immer schaffenden Natur" aus-
gebildet, ein solches Denken pulsiert in seinen
naturwissenschaftlichen Arbeiten.
Es ist eigentümlich, und vielleicht liegt darin
für die Naturwissenschaften eine gewisse Tragik,
daß Goethes Ideen, die an Klarheit des Aus-
drucks und der Darstellung den sonstigen Schriften
des Dichters keineswegs nachstehen, in der Folge-
zeit so wenig Verständnis gefunden haben. Das
Gefühl für die Ideen ging mehr und mehr ver-
loren. Die Philosophie geriet durch Kant in
ein Netz, aus dem sie sich nur schwer wieder
herausarbeitet. Erkenntnisgrenzen verschleierten
der Menschenseele den Blick ins Reich der Ideen
ein einseitiges Sichverlieren ins Gegenständliche
Materielle war die Folge und so kam es, daß die
selbe Vorstellungsweise, durch welche die anorga-
nischen Naturwissenschaften so glänzende äußere
Erfolge erzielten, sich auch dem Problem des
Lebens bemächtigte. Aufs schärfste bekämplen
sich die Vertreter des Mechanismus und Vitalis-
mus, aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen,
solange man sich nicht auf jene Ebene empor-
arbeitet, auf der das Ideelle nicht ein schatten-
haftes Dasein führt, sondern in seiner vollen,
lebendurchpulsten Realität erlebt wird. Erst von
dieser Warte aus ist ein Verständnis Goethes
möglich. Erkennt man das wahre Verhältnis von
Wahrnehmung und Begriff, von Idee und Wirk-
lichkeit, dann öffnet sich wie von selbst das Tor
ins Reich des Organischen. Goethe hat als
erster diesen Schritt getan und das ist sein un-
sterbliches Verdienst. Seine Idee vom Typus
führt hinein ins Zentrum organischer Bildung und
Umbildung, und der Gedanke der Metamorphose
wirft ein helles Licht auch auf das System der
Naturwissenschaft. Seinen Ideen ist heute immer
noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit ge-
schenkt worden, sonst hätte man schon längst
einsehen müssen, daß die Frage, wie sieMöbius
eingangs aufwirft, in dieser F"orm das Wesentliche
der Goetheschen Auffassung gar nicht berührt.
Haben wir im vorstehenden versucht, uns so-
wohl von den erkenntnistheoretischen Grundlagen
einer Goetheschen Weltanschauung als vom Typus
in der Organik ein Bild zu machen, so dürfte es
nicht schwer fallen die Ansichten Hansens und
Möbius' ins richtige Licht zu stellen.
Hansen sieht ein, daß es sich um eine reelle
Metamorphose handeln muß: ,,Ein Blatt gibt es
in Wirklichkeit nicht, es gibt nur Laubblätter,
Hochblätter, Blumenblätter, Kelchblätter, Frucht-
blätter", jedoch die Ursache dieser Metamorphose
bleibt ihm unbekannt: „Dafür, daß das Alte in
neuer Form erscheint, sind wir gezwungen eine
Ursache anzunehmen und da hier Beobachtung
nicht möglich ist, nehmen wir vorläufig eine
hypothetische Ursache an, die Metamorphose. Auf
478
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 35
diesem Standpunkt stehen Goethe, Goebel
und andere Botaniker mit ihm".*) Wenn Hansen
meint, Goethe seien diese metamorphosierenden
Kräfte unbekannt geblieben, so irrt er sich. Für
die Summe dieser Kräfte schuf er den Ausdruck
„Urpflanze", worunter nur das verstanden werden
kann, was oben entwickelt worden ist. Goethe
führt, nachdem ihm der Begrifi" des Typus und
im besonderen derjenige der Urpflanze aufge-
gangen war, die einzelnen Organe des Organis-
mus auf ein Grundorgan zurück, nämlich auf das
Blatt mit dem Knoten, an dem es sich entwickelt:
„Es mag die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte
tragen, so sind es doch immer nur dieselbigen
Organe, welche in vielfältigen Bestimmungen und
unter oft veränderten Gestalten die Vorschrift der
Natur erfüllen". Diese Identität der Pflanzen-
organe untereinander und mit der ganzen Pflanze
ist auch ausgedrückt in den Worten: „Es ist mir
nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ
der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich an-
zusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen
liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken
und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts
ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen
Keime unzertrennlich vereint, daß man eins ohne
das andere nicht denken darf." Dem Bildungs-
prinzipe nach gleich, der Erscheinung nach ver-
schieden schreitet die Pflanze bei der Organbildung
von Stufe zu Stufe, den ewigen Rhythmus von
Wachstum und Fortpflanzung offenbarend. Dieses
Fortschreiten von Stufe zu Stufe, vom Samen über
das Laubblatt, Kelchblatt, Blumenblatt usw. wie-
derum zur Samenbildung bezeichnet Goethe
einmal als P'ortschreiten auf einer geistigen Leiter.
Im Samen ist der Möglichkeit nach die ganze
Pflanze enthalten. Durch Ausdehnung und Zu-
sammenziehung des Grundorgans, die, wie Kern er
von Marilaun sich ausdrückt, in 3 Wellenbergen
und 3 Wellentälern erfolgen, tritt das Ideelle, die
Urpflanze sinnlich-übersinnlich in Erscheinung. In
der stufenweise vom Samen bis zur Frucht sich
vollziehenden reellen Metamorphose des Grund-
organs lebt sich die Idee der Urpflanze aus.
Gleichsam den Beweis liefernd für die Verwand-
lungsfähigkeit des Grundorgans, läßt die Pflanze
unter entsprechenden Bedingungen anstatt eines
Organs, das normalerweise an einem bestimmten
Ort sich hätte bilden sollen, ein anderes hervor-
gehen, z. B. bei den gefüllten Tulpen oder Mohn-
gewächsen, bei denen das Organ, das der Idee
nach zum Staubblatt bestimmt war, zum Blumen-
blatt geworden ist. Bekanntlich diente Goethe
zur Illustration seiner Urpflanze das Bryophyllum
calycinum, das sich durch die leichte und massen-
hafte Knospenbildung in den Kerbstellen des
Blattrandes auszeichnete.
So stellt sich dem unbefangenen Betrachter
der Goetheschen Ideen das Wesen der Pflanzen-
metamorphose dar. Hansens Standpunkt als
') Naturw. Wochcnschr., 1921, Nr. I.
Vertreter einer reellen Metamorphose ist verständ-
lich. Mit innerer Konsequenz muß er daher die
Ansicht Möbius' zurückweisen, weil ,,eine Meta-
morphose von Begriffen weder logisch noch er-
kenntnistheoretisch zu begründen ist, sondern nur
zu scholastischen Kunststücken führen, die leicht
ad absurdum zu führen sind".*) Aber auch Han-
sen bleibt das wahre Verhältnis von Begriff und
Wirklichkeit und damit auch das Wesen der
Metamorphose dunkel und muß es bleiben, so-
lange man nicht erkennt, daß es die objektive,
im Naturwalten tätige Ideenwelt selbst ist, die im
■ Subjekt aufleuchtet.
Ebensowenig befriedigt die Auffassung von
Möbius, weil er wie Hansen den Begriff nur
in seiner Abstraktheit kennt und sich nicht erhebt
zum intuitiven Begriff, zu der mit Schöpfer-
kräften ausgestatteten lebendigen Idee, jener Ente-
lechie (konstitutives Prinzip in der Pflanze), die
Goethe am 6. September 1787 (italienische
Reise) ein h' y.cu nüv (Ein und Alles) nannte. Er
lehnt die reelle Metamorphose Hansens ab, be-
gibt sich aber dadurch auf den Standpunkt, den
Hansen mit Recht als „natürlichen Realismus
bezeichnet, für den die Sachen so sind, wie sie
scheinen. Für ihn ist ein Staubblatt schon in
der Anlage ein Staubblatt, ein Karpell ein Kar-
pell. Es gibt also keine Metamorphose der Blüten-
teile." -) Wenn demgegenüber Möbius be-
hauptet, daß „die Bezeichnung , Blatt' dem Ge-
samtbegriff für eine Anzahl bisher als eigenartig
unterschiedener Organe entspreche und Goethe
damit der Trennung eine Einigung entgegen-
setzen wollte", so wäre damit das Verdienst
Goethes nicht besonders groß, denn bälder
oder später wäre die offizielle Wissenschaft kraft
ihrer vollkommeneren Untersuchungsmethoden zu
derselben Erkenntnis gekommen. Möbius bleibt
auf halbem Wege stehen, weil er jene höhere An-
schauungsweise nicht kennt, die im Begriff nicht
nur ein ,,bloß Gedachtes" sondern das den Orga-
nismus durchsetzende wirksame Reale sieht. Die-
selbe Ansicht, wie sie Möbius vertritt, findet man
schon bei Julius Sachs, wenn er schreibt,
Goethe übertrage „die vom Verstand vollzogene
Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er
diesem eine Metamorphose zuschreibt, die sich
im Grunde genommen nur in unserem Begriffe
vollzogen hat".'') Ohne Zweifel wollte Goethe
der Trennung eine Einigung entgegensetzen, dem
Besonderen das Allgemeine; aber ein solches All-
gemeine, das reell die ganze Stufenleiter der
ontogenetischen Entwicklung hervorbringt. Eben
weil Möbius der eigentliche Charakter von Goethes
Urpflanze dunkel bleibt, sucht er die Ursache der
Metamorphose in „besonderen Reizen, die wir frei-
lich nicht immer mit Sicherheit bezeichnen können".
Er meint „das käme ungefähr auf dasselbe hinaus,
') Nalurw. Wochenschr., 1921, Nr. I.
') Naturw. Wochenschr., 1921, Nr. I.
') Sachs, Geschichte der Botanik 1875, S. 169.
N. F. XXI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
479
was Goethe über die Ursache der Metamor-
phose gesagt hat, daß nämlich die Veränderung
der Säfte einmal zu einer Ausdehnung und ein-
mal zu einer Zusammenziehung führe". Eine
solche Auffassung stellt die Dinge auf den Kopf.
Das Allgemeine, Primäre, Typische wird an die
Stelle des Sekundären, Abgeleiteten gerückt, weil
man das Hervorgehen der Teile aus dem Ganzen
nicht vorstellen kann. Hier zeigt sich deutlich
der Einfluß Kants. Bekanntlich spricht Kant
dem Menschen die Fähigkeit ab in das Wesen
des Organismus einzudringen, weil beim Organis-
mus das Einzelne erst Bedeutung durchs Ganze
erhält und Kant nur den durch Abstraktion aus
der Sinneswelt gewonnenen Allgemeinbegriff kennt,
nicht aber den Begriff als synthetische Einheit,
als das die Besonderung bedmgende Allgemeine.
Die Verstandsbegriffe Kants reichen wohl aus
zur Erklärung des Anorganischen, versagen aber
in ihrer Anwendung aufs Organische. Der intu-
itive Begriff, dessen Inhalt auf sich selbst beruht,
dessen Gehalt durch nichts anderes als durch
sich selbst bestimmt ist, bleibt Kant unbekannt.
Wenn Kant es ein „gewagtes Abenteuer der
Vernunft" nennt, das Besondere aus dem Allge-
meinen zu erklären, so glaubt Goethe dieses
Abenteuer bestanden zu haben. Schreibt er doch
in dem Aufsatz über „anschauende Urteilskraft":
„Zwar scheint der Verfasser (Kant) hier auf einen
göttlichen Verstand zu deuten, allein, wenn wir ja
im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und
Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben
und an das erste Wesen annähern sollen; so
dürfte es wohl im Intellektuellen derselbe
Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer
immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme
an ihren Produktionen würdig machten. Hatte
ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb
auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen,
war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße
Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr
nichts weiter verhindern, das Abenteuer der
Vernunft, wie es der Alte von Königsberg
selbst nennt, mutig zu bestehen". Vermag man
es, den Begriff sich in seiner ihm selbsteigenen,
leben- und krafterfüllten, seiner intuitiven Form
vorzustellen, dann hat man es nicht mehr nötig,
nach „besonderen Reizen", etwa mechanischen
oder physiologischen, zur Erklärung der Aus-
dehnung und Zusammenziehung zu suchen: Das
Primäre, das konstitutive Prinzip ist es selbst, das
durch Ausdehnung und Zusammenziehung die
Metamorphose des Grundorgans von Stufe zu
Stufe bewirkt. Wenn Goethe sagt, daß „ein
oberer Knoten, indem er aus dem vorhergehenden
entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn emp-
fängt, solche feiner und filtrierter erhalten, auch
von der inzwischen geschehenen Einwirkung der
Blätter genießen, sich selbst feiner ausbilden und
seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen
müsse", so deutet er lediglich auf eine gewisse
Abhängigkeit der sich nacheinander entwickelnden
Organe von der Umwelt und voneinander, inso-
fern z. B. die Wurzel als den Nährstoffen am
nächsten, diese in veränderter Form dem Stengel
und den Blättern zukommen läßt und letztere
wiederum verfeinert den Blütenteilen. Von einem
durch den Saftstrom verursachten Reiz kann keine
Rede sein. Man muß eben diese Dinge in dem
ihnen von Goethe beigelegten Sinn auffassen
und sie werden verständlich.
So wären wir denn dabei angelangt, uns ein
Urteil bilden zu können über das, was von den
beiden eingangs gekennzeichneten Auffassungen
der Metamorphosenlehre Goethes zu halten ist.
Beide kranken an der Abstraktheit ihrer
Begriffe, an dem Unvermögen, die Idee als
jenes objektiv Reale anzusehen, das als wirksame
Entität sich durch die gesamte Organismenwelt
hindurchzieht. Beide treten mit gebundener
Marschroute ihren Weg an. Sie vermögen nicht
den Weg zu finden, der aus dem Begriffslabyrinth
derzeitiger Denkweise herausführt zum Verständnis
des großartigen, kristallklaren Gedankenauf baus,
den nur der Genius eines Goethe in seiner
„Metamorphose der Pflanzen" der Nachwelt zu
liefern imstande war. Die Welt der Erschei-
nungen als eine Manifestation der Idee zu be-
trachten, das ist der Grundgedanke jener Lehre.
Nimmermehr hätte der Dichter sich in jahrzehnte-
langer Arbeit mit Einzelstudien beschäftigt, wenn
es ihm möglich gewesen wäre, sich aus den wissen-
schaftlichen Forschungsergebnissen seiner Zeit ein
Weltbild aufzubauen, das seine aufs Ganze gerich-
tete Natur befriedigt hätte. Er mußte ins Reich
der Einzelheiten herabsteigen. Aber was er da
gefunden hatte, was erst einmal durch seine Vor-
stellung gegangen ist, das trägt das Gepräge
seines umfassenden Geistes. Das ist es, was ihm
als Dichter unsere Herzen so freudig entgegen-
schlagen läßt. Wer sich vorurteilsfrei in die Per-
sönlichkeit und Schaffensart Goethes vertieft,
der empfindet auch die befriedigende Grund-
stimmung, die aus solcher Beschäftigung fließt.
Goethe sagt einmal: „Wer meine Schriften und
mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird
doch bekennen müssen, daß er eine gewisse
innere Freiheit gewonnen."^) Wie Goethes
dichterische Erzeugnisse nur aus dem Ganzen
seiner Persönlichkeit zu beurteilen sind, so auch
das, was er auf naturwissenschaftlichem Gebiet
geleistet hat. Mögen diese Zeilen zu solchem
Verständnis beitragen.
') Unterhaltungen mit dem Kiinzlo
5. Jan. 1831.
4?o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 35
Bücherbesprechiin£?en.
Bölsche, Wilhelm, Weltblick. Neu bearbei-
tete Ausgabe. 13. — 17. Tausend. 335 S. Dresden
1922, Carl Reißner. Geb. 65 M.
Der Meister der Popularisationskunst gibt uns
in diesem Werke wieder eine erstaunliche Fülle
ist dabei anscheinend noch zurückgehalten, was
vielleicht dem Laien bisweilen eine übertriebene
Schätzung dieser Bewertungen (und „Patente"!)
eingeben kann. Immerhin wird er oft die hier
endlich gebotene Möglichkeit, sich über diese
gedankentiefer Exkurse auf die verschiedensten Kriegsmitteilungen und in der Presse verbreiteten
Gebiete. Seit 20 Jahren haben sie sich einen Angaben beim Fachmann unterrichten zu können
weiten Leserkreis erobert, um jetzt aufs neue
wieder in durchgearbeiteter und ergänzter Form
neue Freunde zu gewinnen. Es ist da nichts An-
empfundenes, rein Lehrhaftes. Der ganze Mann
steht selbst dahinter mit tiefschürfendem Studium
dankbar begrüßen. Auch naturwissenschaftlich
ist dem Gegenstand im allgemeinen vom Ver-
fasser Gerechtigkeit zuteil geworden, manches
dabei ist jedenfalls auch von naturwissenschaft-
licher Seite bisher nicht genauer angegeben. Für
und weitem „Weltblick" über nahe und fernste jeden behandelten Gegenstand sind Vorkommen
Gebiete der Naturforschung, Philosophie, Dich-
tung und Kunst. Man folgt den geistvollen Plau-
dereien, die sich uns so leicht geben und in denen
doch die ernste Arbeit und die Erfahrung eines
langen Lebens ruht, mit stetem Interesse. Die
Kapitelüberschriften zeigen die Vielseitigkeit des
Inhalts: „Das Starenlied", „Vom ewigen Weih-
nachtsfest", „Ob Naturforschung und Dichtung
sich schaden?", „Das Unberechenbare in der
Natur", „Die Flucht vor der Stadt", „Ein Becher
Maiengeist", „Vom Religiösen in unserer Zeit",
„Gedanken über die Schule", „Ein versteinertes
Tier und ein lebendiger Gedanke", „Zur Geschichts-
philosophie des Bienenstaates", „Drachenmärchen
und Drachenwahrheit", „Fünf Märchen des Lebens",
„Ein Besuch bei unserem Fingertier". Ich per-
sönlich empfinde das Kapitel über die Schule als
nicht recht in den Rahmen des Ganzen passend,
vielleicht weil ich allem Schulwesen stets fern ge-
standen habe. Würde die ausgezeichnete Ab-
handlung über die Drachen noch einmal als ge-
sondertes Büchlein herausgegeben, aber mit sehr
zahlreichen Illustrationen, so würde ihm ein außer-
gewöhnlicher Erfolg m. E. sicher sein.
V. Buttel-Reepen.
Glafey, Hugo, Rohstoffe der Textil-
industrie. 2. Aufl. (Wissenschaft und Bildung
Bd. 62). 202 S. 8", mit Abbildungen. Leipzig
1921, Quelle & Meyer, 10 M.
Der gelehrte Techniker behandelt in gemein-
verständlicher Weise die natürlichen und künst-
lichen Rohstoffe der Textilindustrie. Den größten
Umfang unter der ersten Gruppe beanspruchen
neben Asbest (mineralischem) und Wolle, Seide,
Federn (tierischem Rohstoff) die pflanzlichen Er-
zeugnisse, unter denen wiederum die Fasern den
breitesten Raum einnehmen. Hier sind beispiels-
weise fast alle im Lauf der Kriegszeit genannten
Pflanzenfasern (bisweilen ja zu Unrecht als tech-
nische „Fasern" bewertet) nach Herkommen und
Verwendung aufgeführt. Das Urteil über viele
Erzeugung, Aufbereitung und auch Verarbeitung
anschaulich berichtet, die Apparaturen dazu be-
sonders erläutert und oft durch Abbildungen be-
legt. So kann das Buch auch für Laien zum
Nachschlagen wie zum fesselnden Selbstunterricht,
nicht zuletzt für den heutigen auf technisches
Interesse rechnenden Lehrer der Naturwissen-
schaften empfohlen werden.
Prof. Dr. Fr. Tobler.
Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden,
herausgegeben von E. Abderhalden. Lfg. 62
(T. 3B, H. i) und Lfg. 63 (T. 5 A, H. i).
Berlin-Wien 1922, Urban und Schwarzenberg.
Von diesem allumfassenden Handbuche, an
dem nicht weniger als 500 Fachmänner arbeiten,
bringt die 62. Lieferung die Methodik der Exstir-
pation und Verpflanzung der Keimdrüsen, der
Thymus, Thyreoidea, Milz und Nebenschilddrüsen
nebst einer allgemeinen Technik der operativen
Eingriffe an Tieren. (Bearbeiter :Katsch, Klose,
Lampe und Gulecke.) Die Darstellung geht
in alle Details und ist von so zahlreichen Abbil-
dungen begleitet, daß jeder Zoologe und jeder
Arzt sich mit ihrer Hilfe diesem Arbeitsgebiete
zuwenden kann.
Pline ausgezeichnete Darstellung der Methoden
der Muskel- und Nervenphysiologie beginnt mit
der 63. Lieferung. (Mitarbeiter :Dittler, Jensen,
V. Tschermak, Frhr. v. Weizsäcker , Zoth.)
Von diesen sehr wertvollen Beiträgen dürften die
meisten wohl nur für den Fachmann Interesse
haben, mit Ausnahme der ergographischen und
ergometrischen Methoden (Zoth), die auch für
Turnlehrer, Schulmänner und Orthopäden von
Wichtigkeit sein können. Brücke (Innsbruck).
Literatur.
Kleine Schriften zur Seelenforschung. Herausgegeben von
Dr. med. Kronfeld, Theodor Friedrichs; Zur Psychologie der
Hypnose und der Suggestion. I. Heft. Stuttgart '22, Julius
Pütlmann.
Inhalt: Fr. Waaser, Grundsätzliches zu Goethes Melamorphoscnlchre. S. 473. — Bücherbesprechungen: W. Bölsche,
Wellblick. S. 4S0. H. Glafey, Rohstofle der Textilindustrie. S. 4S0. Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden.
S. 480. — I^iteratur: Liste. S. 480.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav F'ischer iu Jena.
Druck der G. Pätz'ichen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Ban
Sonntag, den 3. September 1922.
Nummer 36.
[Nachdruck verboten.]
Beiträge zur Relativität der Individuen.
II. Der Kampf der Teile im Hydrakörper.
Von Dr. Wilh. Goetsch, München.
Mit 4 Abbildungen.
Im ersten Aufsatze über die Relativität biolo-
gischer Individuen konnte gezeigt werden, wie in
einem normalen Lebewesen ') auf Grund seiner
Organisation eine natürliche Vielseitigkeit herr-
schen kann, welche bewirkt, daß Einzelteile un-
abhängig voneinander reagieren und dadurch eine
sinnlose Handlung zustande kommt. Die Selb-
ständigkeit der Teile, die bei Seesternen schon
in normalem Zustand zu beobachten ist, läßt sich
bei anderen Tieren auf experimentellem Wege
erreichen, d. h. man kann durch Eingriffe be-
sonderer Art bewirken, daß Erscheinungen zustande
kommen, welche denen der Echinodermen ähneln.
sobald wir durch experimentelle Eingriffe diese
Harmonie stören.
Spaltet man beispielsweise einer Hydra den
Kopfabschnitt durch eine Einkerbung in der Art
der Abb. i a, so gelingt es oftmals, zweiköpfige
Tiere zu erzielen, da die Polypen auf Grund ihrer
großen Regenerationsfähigkeit die Wunden bald
schließen. Die Abb. i b zeigt einen derartigen
Fall. Einer normalen Hydra war durch einen
Schnitt die Mundpartie — auch Peristom genannt
— so zerteilt worden, daß von den 6 Fangarmen
3 rechts und 3 links stehen blieben. Im Laufe
des Tages, an welchem diese Operation vor-
Als geeignete Objekte für derartige Versuche genommen worden war, machte die Teilung noch
Abb.
köpfig
sollen uns zunächst die Hydren beschäftigen, die
kleinen Süßwasserpolypen, die bei uns in Teichen
und stillen Bächen vorkommen.
Eine solche Hydra ist einem
doppelwandigen Schlauch zu ver-
gleichen ; innen haben wir das
innere Blatt oder Entoderm, wäh-
rend der Körper nach außen ab-
geschlossen wird durch das Ekto-
derm (oder äußere Blatt). Am
unteren Ende ist der Schlauch des
Hydrakörpers geschlossen , und
oben, an der einzigen Uffnung, be-
finden sich eine Anzahl Fangarme
oder Tentakel (Abb. i a). Die
Organe sind bei diesem Tiere
äußerst vereinfacht. Der innere
Hohlraum wirkt als Magen und
Darm zugleich, die Mundöffnung
dient sowohl zur Aufnahme der Nahrung wie zum
Auswurf unverdauter Stoffe. Die Bewegung des
meist an einer Stelle angehefteten Tieres wird
vermittelt durch Quer- und Längsmuskeln, und die
Reizleitung erfolgt durch Nervenzellen, die überall
im Körper verteilt sind und kein zentrales Organ
bilden.
Diese Einfachheit der Organisation ist auch
die Ursache, daß jeder Einzelkomplex des Hydra-
Individuums eine große Selbständigkeit besitzt.
Im normalen Tier merken wir das weniger, da
auf Grund der rhythmischen Zusammenfassung
alle Teile des Organismus zusammenwirken, indem
jeder Abschnitt sich der Reaktion eines anderen
nachahmend anschließt. Das wird jedoch anders.
weitere Fortschritte; der Spalt erweiterte sich
und die Wunde wurde geschlossen.
Am dritten Tage danach begannen an jedem
') W. Goetsch, Versuche mit Seesternen.
Wocbenscbr. Bd. 21, 1922, S. 201.
b c d e f
Hydra, die durch einen Einschnitt zwischen den Fangarmen (a) doppel-
rd (b). In Abb. I c haben beide Köpfe je eine Daphnie gefangen, der
linite Kopf hat sie ganz verschlungen, während sie bei dem rechten noch teil-
weise herausschaut. Infolge des geringen Vorsprungs rutscht die Beute schneller
in den gemeinsamen Magenraum (d), so daß die rechte Kopfhälfte den aufge-
nommenen Bissen nicht mehr hineinbefördern kann. In e gemeinsame Ver-
dauung einer Daphnie, während in f jede Hälfte für sich die Nahrung aufge-
nommen hat.
Teilabschnitt neue Tentakel hervorzuwachsen, und
bald waren beide Hälften zu vollkommenen
Köpfen geworden, die ganz normal funktionierten.
Das zeigte sich besonders dann, wenn man
dem Tiere Nahrung reichte. Hielt man jedem
der beiden Köpfe eine kleine Daphnia, die bevor-
zugte Nahrung der Hydren, an die Tentakel, so
begann sofort die Freßreaktion, und bald war
das Beutestück rechts und links verschwunden.
Bei der Nahrungsaufnahme konnte es nun zu
eigenartigen Erscheinungen kommen. Die beiden
Köpfe machten sich nämlich stets Konkurrenz,
und jeder suchte auch den Anteil des anderen
mit zu erwischen. Besonders schlimm wurde es,
wenn nur ein Beutetier gereicht wurde; dann
konnte der Kampf so stark werden, daß kein
Kopf richtig zum Fressen kam. Beide hinderten
482
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
sich dauernd und ermüdeten schließlich so sehr,
daß die Daphnie wieder frei wurde. Für den
Beobachter muß ein solcher Konkurrenzkampf
natürlich sehr sinnlos wirken , da es ja ganz
gleichgültig ist, auf welcher Seite die Beute auf-
genommen wird. Rutscht sie doch in jedem Fall
in den gemeinsamen Magenraum, wo sie verdaut
wird und dann allen Teilen zugute kommt.
Biologisch betrachtet kann natürlich die Hydra
gar nicht anders handeln ; jeder Teil muß das
leisten, wozu er bestimmt ist — und in normalen
Verhältnissen ist es selbstverständlich nützlich,
einem anderen IVIund die Nahrung wegzunehmen.
Die Verhältnisse konnten aber noch kompli-
zierter werden. Wurde jedem Kopf gleichzeitig
eine Daphnia gereicht und die Konkurrenz damit
eingeschränkt, so konnte es natürlich vorkommen,
daß der eine Kopf etwas eher fertig wurde als
der andere (Abb. i c). Der Bissen rutschte dann
auch etwas früher in den Magenraum hinein —
und die Folge davon war dann, daß der andere
Kopf wieder nicht zu seinem Recht kam. Er
mußte sich zwecklos bemühen, das aufgenommene
Beutetier ins Innere zu befördern : die Konkurrenz
war bereits da und hatte den Platz belegt, und
der von dort aufgenommene Bissen versperrte die
Passage (Abb. i d). Meist mußte dann der Kopf,
der zu spät kam, die Beute wieder von sich
geben, da sie der Druck der bereits im Innern
befindlichen Nahrung wieder hinauspreßte. War
das geschehen, so trat Frieden ein; die Daphnia
konnte in die Mitte rutschen, und beide Kon-
kurrenten gaben sich nun ihrer gemeinsamen
Verdauung hin (Abb. i e). Nur wenn rechts und
links ganz gleichmäßige Bedingungen herrschten,
ging es ohne Kampf ab, so daß dann beide Tier-
hälften je einen Bissen vollkommen aufnehmen
und für sich verdauen konnten (Abb. i f).
Vergleichen wir die Bilder der Abb. i e und f,
so fällt uns sofort ein Unterschied auf: das eine
(Abb. I e) gibt mehr den Eindruck eines ein-
heitlichen Tieres, das zwar 2 Köpfe besitzt, wäh-
rend das andere (f) im Gegenteil so aussieht, als
ob nur 2 Tiere unten verwachsen wären.
Und in der Tat war es für den Enderfolg des
Experiments nicht gleichgültig, in welcher Weise
Nahrung gereicht würde. Gab ich derartigen
Hydren viel zu fressen, so bestand die Tendenz,
die Kopfhälften zu vollständigen Tieren weiter
zu entwickeln, indem die Durchschnürung sich
nach unten hin ausdehnte; umgekehrt konnte
nach und nach wieder eine vollständige Ver-
schmelzung der getrennten Teile eintreten, wenn
man solche Polypen hungern ließ. Es lag also
bei solchen Spaltungsexperimenten in meiner
Hand, den einen oder anderen Erfolg zu erzielen,
es kam nur auf ein Plus oder Minus der Fütte-
rung an; und darin konnte man nun einen wich-
tigen Hinweis auf die Ursachen sehen, welche
den Kampf der Teile beeinflussen: Das Vor-
handensein oder Nichtvorhandensein von bil-
dendem Material entscheidet es, ob bei einem
solchen Kampf ein oder mehr Individualitäten
gebildet werden.
Diese Tatsache konnte noch in anderer Weise
gezeigt werden, nämlich bei der Fortpflanzung.
Hydra vermehrt sich sowohl geschlechtlich durch
Eier und Sperma wie ungeschlechtlich durch
Knospung. Veranlaßt man nun eine Hydra, die
der Fortpflanzung obliegt, zu gleichzeitiger Re-
generation, so werden die Verhältnisse stark be-
einflußt. Das Endresultat ist dann im allgemeinen
bei der geschlechtlichen Vermehrungsart ein Über-
wiegen der Regenerationskräfte. Die Hoden und
Ovarien entwickeln sich nicht weiter, sondern
können wieder verschwinden; bei dem un-
geschlechtlichen Teilungsmodus dagegen wachsen
stets die Knospen weiter und die Regeneration
kann unterdrückt und aufgehoben werden. Stets
kommt es jedoch zunächst zu einem Kampf der
Teile, und wenn aus irgendeinem Grunde der
eine oder andere Abschnitt mehr bevorzugt wird,
kann er dann die anderen beeinflussen.
Wie im einzelnen diese Erscheinungen vor
sich gehen, ist an anderer Stelle ausführlicher
beschrieben worden.') Die Produkte der Keim-
drüsen und diese selbst werden, sofern sie nicht
• schon zu weit differenziert sind, bei einer gleich-
zeitig einsetzenden Regeneration alle vom Ento-
derm übernommen, und die auf dem Wege einer
gewissen Selbstverdauung gewonnene Nahrung
dient dann dazu, die Elemente zu speisen, welche
die Neubildung verloren gegangener Teile zu ver-
anlassen haben.
Dabei kann es zu eigenartigen Erscheinungen
kommen. Wir haben schon darauf hingewiesen,
daß die einzelnen Teile eines Hydrakörpers große
Selbständigkeit besitzen. An Stellen nun, die
durch die Einschmelzung von Hoden gut versorgt
werden, entsteht ein Nahrungsüberschuß, der dann
den in der Nähe befindlichen Zellen zunächst zu-
gute kommt. Sie werden also im Wachstum und
in der Vermehrung begünstigt, so daß gerade an
diesen Stellen leicht Hervorwucherungen ent-
stehen, aus denen dann Tentakel werden. Ich
habe solche Umwandlungen von Hoden in Ten-
takel einige Male direkt verfolgen können, und
in der Abb. 2 sind einige solche Fälle etwas
chematisiert dargestellt; man kann daraus er-
kennen, daß auf diese Weise sogar Tentakel an
Orten entstehen, an welchen normalerweise gar
keine Fangarme zu finden sind (Abb. 2 e u. f).
Verursacht hier die gute Ernährung eines be-
stimmten Bezirks eine Hypertrophie, so kann im
anderen Fall Materialknappheit ganz besondere
Ausfallserscheinungen zeitigen. Ein Ovar, das
schon eine gewisse Entwicklungshöhe erreicht
hat, zieht alles Material so sehr an sich, daß an
der Seite, an welcher es angetroffen wird, die
Regeneration der Tentakel unterbleibt. Es
') W. Goetsch, Neue Beobachtungen und Versuche
an Hydren, liiolog. Zentralbl. Bd. 39 (1919), Bd. 39 (1920),
Bd. 40 (1920).
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
483
kommen dann Bilder zustande, die der Abb. 4
ähneln. Und ebenso hemmt die wachsende
Knospe in gewissen Fällen die Wiederherstellung
des mütterlichen, durch einen Eingriff geschädig-
ten Individuums so sehr, daß es sich nicht wieder
erholen kann.
a b c de
Abb. 2. Männliche Hydra mit 6 Hodenbläscheu, die durch den SchniU
bei a nach und nach infolge der Regeneration resorbiert werden.
Am unteren Teilstück Entstehung von Tentakeln an der Stelle, an
der sich früher Hoden befanden.
a b c d e f g
Abb. 3. Hydra mit Knospe, die infolge der Köpfung des MuUertieres nach
und nach den Restkörper aufsaugt.
In Abb. 3 ist ein derartiger Fall dargestellt.
Wir sehen nach Lostrennung des Kopf komplexes
bei einer Hydra nur die Knospe weiterwachsen,
und Hand in Hand mit ihrem Größerwerden
vermindert sich der noch verbleibende Teil
des Muttertieres. Zunächst hat dieser Stumpf
noch eine gewisse Selbständigkeit. Der Fuß, der
von ihm noch vorhanden ist, bleibt funktions
dingungen mit solcher Reinheit verfolgen, und
ich glaube es gern, daß andere Beobachter mit
geköpften, in Knospung befindlichen Hydren etwas
andere Resultate erziehen. So schreibt beispiels-
weise Boecker, ^) daß bei ihm in 26 Fällen die
Knospen sich vom dekapitierten Muttertier los-
lösten, wobei in 7 F'ällen der Mtitterpolyp
bereits Tentakelstttmpfe gebildet hatte, bevor
die Knospe sich von ihm trennte. Der letzte
Passus scheint zu beweisen, daß in der Mehr-
zahl der Fälle auch bei Bo ecke r eine Ver-
zögerung der Regeneration, also ein Kampf
um das Material, eingetreten war, und das
ist es, worauf es uns hier ankommt. Da
Boecker auch ältere Knospen zu seinen
Versuchen verwandte, sowie die Muttertiere
manchmal an Stellen köpfte, die der
Knospungszone entfernter lagen, ist anzu-
nehmen, daß es sich hierbei um solche
Fälle handelte. Auch bei meinen Versuchen
kam es zu einer völligen Aufsaugung des
mütterlichen Restes nur dann, wenn die
Hydra ganz nahe an der Knospungsstelle
zerschnitten wurde und das junge, in Ent-
stehung begriffene Individuum noch so
materialarm ist, daß es alle vorhandenen
Stoffe für seinen Aufbau verbraucht.
Vorbedingung für eine Aufsau-
gung ist daher auch, daß während
der ganzen Zeit die Nahrungszufuhr
von außen unterbunden wird. Ge-
schieht dies nicht, so erhält die junge
Knospe, sowie sie selbst zu fressen
imstande ist, von dieser Seite ge-
nügend Material, und der mütter-
liche Stumpf gewinnt dann Zeit, die
Regeneration zu beginnen, sofern er
nicht zu materialarm ist.
Daß es nur eines kleinen Vor-
sprungs bedarf, um der Knospe das
Vorrecht zu sichern, lehren die
Experimente, bei denen auch die Knospe
zur Regeneration veranlaßt wird. Schneidet man
z. B. der Knospe ein Stückchen an der Spitze
ab, wie es in Abb. 3 b angedeutet ist, so hat sie
den Vorteil, welcher in der bereits in Gang ge-
kommenen Entwicklungsrichtung zu suchen ist,
verloren und es beginnt der Kampf in voller
Stärke. In solchen Fällen pflegt das Muttertier
fähig und kann sich an der Unterlage anheften sofort zur Regeneration zu schreiten, während bei
(Abb. 3 b— f ). Wenn aber erst einmal die Knospe
begonnen hat, ihrerseits ein Anheftungsorgan aus-
zubilden (3d— h), nimmt diese Selbständigkeit,
die noch geblieben, bald ein Ende. Bei Abb. 3f
erfüllen beide Füße noch ihre Funktion, die
Hydra ist doppelt am Boden verankert; dann
aber wird der mütterliche Fuß nach und nach
immer kleiner, so daß er schließlich nur noch als
Anhängsel des neuen Individuums erscheint; und
schließlich verschwindet er ganz und gar.
Diese hier beschriebenen Verhältnisse lassen
sich indessen nur unter ganz bestimmten Be-
der Knospe die Weiterentwicklung an der Spitze
gehemmt ist.
Die einmal eingeschlagene Wachstumstendenz
wird nämlich zunächst beibehalten, und die ge-
köpfte Knospe bildet durch Umbildung der unte-
ren Zellpartien eine normale Fußscheibe aus. Erst
dann beginnt die Regenerationskraft einzusetzen,
und da hierzu Bildungsmaterial nötig ist, wird
nun dem Muttertier Konkurrenz gemacht. Meist
') E. Boecker, Regenerationsversuche an knospenden
Hydren. Biolog. Zentralbl. 41, 1921.
484
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
ist es nun in diesem Fall der ältere Organismus,
der die Vormacht an sich reißt. In der Zeit,
in der die Knospe den Fuß weiter ausbildete, hat
die Regeneration der Mutter bereits eingesetzt
und damit ist ein Vorsprung erreicht, den das
Tochtertier nicht mehr einholen kann. Es kann
in extremen Fällen dann sogar vollkommen seine
Individualität verlieren und zu einem unnützen
Anhängsel der mütterlichen Hydra werden, wobei
dann ähnliche Aufsaugungserscheinungen zu be-
obachten sind, ^) wie wir es in Abb. 3 im umge-
kehrten Fall sahen.
Bei manchen meiner Experimente konnte es
indessen zu noch komplizierteren Verhältnissen
kommen. Es trat nämlich bei diesem Konkurrenz-
kampf, bei dem jeder einmal angelegte Teil seine
Individualität zu vollenden oder herzustellen be-
müht war, noch eine weitere Generation auf
den Plan und machte Ansprüche an das vorhan-
dene Material. Bei Hydren, die in regster Knospen-
bildung standen, wurden die Spitzen der unge-
schlechtlichen Fortpflanzungsprodukte entfernt.
Darauf regenerierten in manchen Fällen weder
die Mutter, die ebenfalls zur Regeneration veran-
laßt wurde, noch die Tochterknospe, sondern es
traten an den Stümpfen der zweiten Generation
neue Knospenhöcker auf, die vermutlich in der
Anlage schon vorhanden waren, als ich das Ex-
periment begann. Diese dritte, kräftige und un-
gehemmte Generation riß nun das Material an
sich, und sie ließ den Knospenstümpfen, denen
sie aufsaß, nur so wenig Material, daß diese oft
nur einen einzigen Fangarm auszubilden ver-
mochten oder überhaupt tentakellos bleiben muß-
ten. Auch die erste Generation konnte in ihrer
Wiederherstellung gehindert sein, und bildete bei-
spielsweise bei dem Versuch, welcher der Abb. 4
zugrunde lag, auf der Seite keine Fang&rme aus,
auf welcher die Nachkommenschaft die Bildungs-
stofif verbrauchte.
Kann man ein Ge-
bilde, wie es die Knospe
in Abb. 4 darstellt,
eigentlich noch als
wirkliches Individuum
auffassen ? Das ist
eine Zwischenfrage, die
ich hier stellen möchte.
Ein selbständiges Le-
ben läßt sich Knospen,
die derartig in ihrer
Entwicklung gehemmt
sind, doch nicht mehr
zusprechen. Individu-
elle Funktionen wie
Nahrungsaufnahme
usw. kommen ihr nicht
mehr zu; sie dient
lediglich einer nach-
Abb. 4. Knospende Hydra;
nach Entfernung der Kopfteile
bei Mutter und Knospe hat sich
eine neue Knospengeneration
gebildet, die das Material so
an sich reißt, daß die Knospe
nur einen einzigen Tentakel
bilden konnte. Auch die Re-
generation des Muttertieres ist
gehemmt, es werden nur rechts
3 kleine Tentakel gebildet.
') Vgl. die Abbildungen im Biolog. Zentralblatt Bd 40
1920, S. 468.
folgenden Generation als Stütze und Ausgangspunkt.
Wir haben hier einen Fall vor uns, der wie so
viele andere es äußerst schwer macht, zu ent-
scheiden, wo das eine Individuum anfängt und
das andere aufhört. Der Individualbegrifif ist
eben nichts absolutes, es kommt immer darauf
an, was für einen Ausgangspunkt oder „Bezugs-
körper" man ihm zugrunde legt.
Bei den nächsten Verwandten unserer Hydren,
den im Meere lebenden Polypenstöckchen, ge-
hören derartige Gebilde, die nur den Durchgangs-
körper für eine neue Generation bilden, zum nor-
malen Entwicklungszyklus; sie werden dort mit
den Namen Gonophoren, Blastostyle u. a. Be-
zeichnungen belegt, je nach den F"unktionen, die
sie zu erfüllen haben. Daß hier bei Hydra, wo
wir sonst nichts Derartiges finden, solche Ge-
bilde auf experimentellem Wege durch Entwick-
lungshemmung entstehen konnten , gibt einen
Fingerzeig, wie diese Ausbildungen der marinen
Hydrozoen entstanden sein mögen.
Bei Hydra ist die Ursache solcher Erscheinun-
gen jedenfalls stets im Kampf um das Material
zu suchen. Jeder Abschnitt sucht das zu voll-
enden, wozu er bestimmt ist. Die wachsende
Knospe ist bestrebt, ihre Individualität auszubilden,
und wenn sie selbst gehemmt ist, kann wieder
ihre Nachkommenschaft sich soweit entwickeln,
daß sie alles daran setzt, selbständig zu werden.
Das Muttertier wiederum sucht mit Hilfe der
Regenerationskraft die Einheit zu retten; und so
tritt dann der Konkurrenzkampf ein, da ja alle
Abschnitte noch miteinander in Zusammenhang
stehen und trotz der Selbständigkeit doch die ein-
zelnen Teile aufeinander angewiesen sind.
Während nun bei reichlich gefütterten Exem-
plaren dieser Kampf um das Material leicht be-
friedigt werden kann, kommt es bei hungernden
Tieren zu einem Wettlauf der einzelnen Teile,
bis irgendein Komplex sein Übergewicht geltend
machen kann. Das dauert unter Umständen sehr
lange, besonders bei gleichmäßiger Entwicklungs-
stufe der Komponenten; es kann sogar vor-
kommen, daß keinem der Teile der Sieg zu-
kommt und dann alle aus Materialmangel zu-
grunde gehen. Meist tritt dann aber bald eine
Regulation ein; das kräftigste Teilstück mit dem
energischsten Wachstum vergrößert sich allein.
Es nimmt zunächst alle vorhandenen Nahrungs-
materialien für sich in Anspruch und unterdrückt
so die Weiterentwicklung an anderen Stellen.
So gewinnt es nach und nach immer größere
Selbständigkeit und ein immer größeres Über-
gewicht, so daß es auch die anderen, noch nicht
soweit differenzierten Teile als Nahrungsreservoir
benützt und einschmilzt. Nach anfänglichem
Kampf der Teile untereinander wird dadurch
bald ein Gleichgewichtszustand wiederhergestellt
und aus dem vorhandenen Material nicht mehrere
lebensunfähige Teilprodukte sondern eine einzige
kräftige Individualitätseinheit geschafifen.
Anders als bei den Seesternen macht sich bei
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
485
den Hydren die Selbständigkeit der Teile bemerk-
bar. Im Zusammenhang miteinander wirken die
Einzelabschnitte als Teile eines ganzen; erst wenn
sie experimentell beeinflußt werden, zeigen sie
ihre Aktivität und beweisen, daß sie selbständig
zu leben vermögen. Jede aktive Potenz sucht
dann die Macht an sich zu reißen und ein voll-
kommenes Individuum zu bilden. Bringt man
dagegen herausgenommene Teilstücke wieder in
den Zusammenhang mit anderen, so hört die
Selbständigkeit und damit die Aktivität wieder
auf. Dabei ist es dann ganz gleichgültig, ob
man Teile zusammenfügt, die schon früher zu-
sammengehörten oder nicht. Wie bereits WetzeP)
zeigen konnte, lassen sich auch Abschnitte ver-
schiedener Exemplare zur Verwachsung
bringen, und ich selbst konnte neuerdings an
verschiedenfarbigen Hydren nachweisen,') daß
durch ein Pfropfen von grünen Teilen auf weiße
oder braune Stücke die Regeneration nicht nur
aufgehoben wurde, sondern auch ein Zusammen-
wachsen zu einer vollständigen Einheit mög-
lich ist.
Wie bei solchem Austausch ganzer Tierhälften
die Individualität der so entstandenen neuen
Tiere beurteilt werden muß, ist natürlich niemals
mit Sicherheit anzugeben; wieder ein Zeichen
dafür, daß der Begriff „Individuum" nichts abso-
lutes sein kann.
') Wetzel, S., Transplantationsversuche mit Hydren.
Arch. mikroskop. Anatomie, 45 u. 52, 1895 u. 98.
') W. Goetsch, Eine neue Symbiose bei Süßwasser-
polypen. Sitz.-Ber. der Ges. f. Morphologie und Physiologie.
München 1921.
— — , Hermaphroditismus und Gonochorismus bei Hydro-
zoen. Zoolog. Anzeiger, Bd. 54 u. 55.
Über den Einfluß der Erdiundrehuug auf den Bau von Flußbetten.
[Nachdruck verboten. ] Von L.
Der vorstehende Gegenstand gilt bei der
großen Mehrzahl der Geographen und Geologen
für abgetan durch den Vortrag von Prof. Zöpp-
ritz auf dem 2. Deutschen Geographentag im
Jahre 1882 „Über den angeblichen Einfluß der
Erdrotation auf die Gestaltung von Flußbetten".
Die Ausführungen von Zöppiitz in diesem
Vortrag richten sich gegen einen Satz von
K. E. v. Baer,') der sich kurz in folgende Worte
fassen läßt: „Ein Fluß auf der Nordhalbkugel
greift sein rechtes Ufer stärker an als das linke.
Auf der Südhalbkugel ist es umgekehrt." Zöpp-
ritz sagt: Der Theorie nach muß in der Tat die
Erdrotation einen solchen Einfluß ausüben. Ein
jedes bewegte Wasserteilchen erhält durch die
Erdrotation eine Beschleunigung gegen rechts.
Da das Bett die Wasserteilchen eines Flusses
hindert dieser Beschleunigung zu folgen, so üben
sie einen stetigen Druck gegen das rechte Ufer
aus. Die Beschleunigung beträgt
p = 2((j- vsin/i.
Hier ist w die Größe der Erddrehung in einer
27t
Sekunde, also „^ - — , v die Stromgeschwindig-
öo 104
keit, ß die geographische Breite.
Die Beschleunigung gegen rechts bewirkt eine
Ablenkung der Schwerkraft und dadurch ein An-
steigen des Wasserspiegels gegen die rechte Seite.
Diese Ablenkung der Schwerkraft beträgt aber,
wenn man für v den schon ziemlich hochgegrif-
fenen Wert von 2 m nimmt, im höchsten Falle
nur 6,15 Winkelsekunden, die dadurch bewirkte
Erhebung des Wasserspiegels am rechten Ufer
bei einem Fluß von looo m Breite nur 3 cm.
Henkel.
Dieser Betrag aber, so schließt Zöppritz, ist
so geringfügig, daß er keine irgend bemerkbare
Wirkung auf die Gestalt der F'lußbetten ausüben
kann.\) DievonBaer an den sibirischen Flüssen
beobachtete Tatsache, daß das rechte Ufer durch-
weg steil, das linke flach ist, muß also auf anderen
Gründen beruhen. „Zu suchen sind sie sicherlich
in den das ganze Jahr hindurch dort vorherr-
schenden Westwinden, welche den östlichen Ufer-
rand stärker mit Wellen peitschen und abbröckeln."
Zu dem letzten Satz von Zöppritz ist nun
zunächst zu bemerken, daß er tatsächlich voll-
kommen unrichtig ist, wenn er auch vierzig Jahre
lang unwidersprochen geblieben ist. Es ist eben
eine psychologische Tatsache, daß gegen eine
Behauptung, die mit der nötigen Sicherheit und
vor allem unter Gebrauch des bestimmten Artikels
vorgetragen wird („die das ganze Jahr hindurch
vorherrschenden Westwinde"), sich so leicht nie-
mand hervorwagt. Wie z. B. Tafel X in Supans
Physischer Erdkunde zeigt, herrschen in Sibirien
keineswegs das ganze Jahr hindurch Westwinde,
vielmehr im Sommer, auf den es allein ankommt,
Nordwinde. Die Windrichtung im Winter, wo
die sehr zusammengeschwundenen Flüsse von
dicker Eisdecke geschlossen sind, ist natürlich
ohne Einfluß.
Ferner aber ist die Untersuchung von Zöpp-
ritz überhaupt auf ein falsches Geleis geraten
und ganz am Ziele vorbeigegangen. Baer spricht
von dem Einfluß der Erdrotation auf die seitliche
') Über ein allgemeines Gesetz in der Gestaltung der
Flußbetten. Bull, de l'acad. de St. Petersbourg 1860.
') Der gleiche Gedankengang, nur mit Zugrundelegung
anderer Zahlen, findet sich schon früher bei E. D unk er
(Zeitschr. f. d. ges. Naturw. 1S75). Dieser bestreitet über-
haupt, daß ein Unterschied des rechten und linken Ufers in
Baers Sinne festzustellen sei, wobei er sich auf einige Bei-
spiele aus Kurbessen stutzt.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
Erosion der Flüsse, Zöppritz spricht von der
winzigen Schrägstellung des Wasserspiegels, die
durch die Erdrotation hervorgerufen wird, d. h.
von etwas ganz anderem.
Mathematische Formeln sind gut, nur muß
man aus ihnen die richtigen Folgerungen ziehen.
Die F"ormel p^2vw.sin^ ist natürlich unfehlbar
richtig. Aus ihr folgt für v = i m, ß= 50", der
Wert p= 0,01 12 cm. Neben dieser seitlichen Ab-
lenkung wirkt auf die Wasserieilchen, und zwar
als hauptsächliche Kraft, eine Komponente der
Schwerkraft, aber keineswegs die ganze Schwer-
kraft. Jedes Teilchen erhält daher in der Gefälls-
richtung nicht die Beschleunigung g^^gSocm,
wie ein frei fallender Körper, sondern nach der
Formel für den Fall auf der schiefen Ebene die
Beschleunigung
g' = gsinß,
wo « der Neigungswinkel des Flußbettes ist. Nun
ist der Winkel « bei allen größeren Flüssen be-
kanntlich recht klein. Selbst bei einem Gefälle
von 5 m auf i km, wie es an Gebirgsbächen
herrscht, z. B. an der Schwarza abwärts von
Schwarzburg, beträgt a nur o" i r', g' ist dann
4,866 cm. Bei 0,25 m Gefälle auf i km (Elbe
bei rirna) ist g' = 0,3020 cm, bei o, 1 3 m Gefälle
(Elbe unterhalb der Havelmündung) 0,1274 cm,
bei 0,05 m (unterer Oxus) 0,0490 cm, bei 0,03 m
Gefälle (Wolga bei Saratow) 0,0294 cm. Die Be-
schleunigung g' kommt vom Gefälle des Flusses
her, die Beschleunigung p von der Wirkung der
Erdumdrehung. Die obigen Zahlen lehren uns
daher: Die Wirkung der Erdrotation ist, wenn
die Strömungsgeschwindigkeit i m beträgt, an
der Schwarza '/^g, von der Wirkung des Gefälles,
an der Elbe bei Pirna '/o.,, an der unteren Elbe
Vij, am unteren Oxus ungefähr ^/g, an der Wolga
bei Saratow -/j ; oder mit anderen Worten :
Die Wirkung der Erdrotation ist bei
Flüssen von geringem Gefälle sehr be-
deutend, nimmt aber mit wachsendem
Gefälle rasch ab und wird bei Gebirgs-
flüssen unmerklich gering. (Übrigens
hatte Baer selbst schon ausgesprochen, daß bei
kleinen Flüssen keine Wirkung der Erdrotation
zu bemerken sei, was in der Praxis sich großen-
teils mit dem eben Gesagten deckt.)
Setzen wir die beiden auf die Wasserteilchen
wirkenden Kräfte, Schwerkraftkomponente und
Erdrotation, nach dem Parallelogramm der Kräfte
zusammen, so ergibt sich (immer eine Strömungs-
geschwindigkeit von I m vorausgesetzt): Die Erd-
rotation sucht die Wasserteilchen von der Gefälls-
richtuiig abzulenken an der Schwarza um o" 8',
an der Elbe bei Pirna um 2^1.,", an der unteren
Elbe um 5 -74", am unteren Oxus um 12", an der
Wolga bei Saratow um 2 1 " I
Übrigens ist die ablenkende Wirkung der Erd-
rotation durch die bisher betrachteten Erschei-
nungen noch nicht erschöpft.
Zu der Rechtsablenkung, die auf jeden be-
wegten Körper auf der Erde ohne Rücksicht auf
seine Bewegungsrichtung gleich stark wirkt, weil
er seine Richtung im Räume beibehält, wäh-
rend die Linien auf der Erdoberfläche ihre Lage
im Räume infolge der Rotation ändern, kommt
nämlich noch eine zweite Art der Ablenkung,
wenn er bei seiner Bewegung seine geographische
Breite ändert.
Diese Ablenkung beruht darauf, daß ein auf
einen anderen Parallelkreis versetzter Körper seine
Flächengeschwindigkeit beibehält (d. h. die
Fläche, die der Radius des Parallelkreises in der
Sekunde bestreicht). Diese Ablenkung ist bei pol-
wärts gerichteter Bewegung gegen Ost, bei äqua-
torwärts gerichteter Bewegung gegen West ge-
richtet. Wenn sich ein Körper unter der Breite cp
mit der Geschwindigkeit v bewegt und seine
Richtung mit dem Meridian den Winkel « bildet,
so erhält er durch die Ostablenkung die Be-
schleunigung q = VW sin (p ■ cos a. ')
■) Diese Formel ergibt sich folgendermaßen:
Es seien p und <<' die Radien zweier unendlich benach-
barter Parallelkreise mit der geographischen Breite f und
(/ ' := if -\~ d (f '^ c und c' seien die linearen Umdrehungsge-
schwindigkeiten auf diesen Parallelkreiscn. Bewegt sich nun
der Körper von dem ersten dieser Kreise zum zweiten in der
Zeit dt, so erhält er eine neue lineare Umdrehungsgeschwin-
digkeit X, so daß
pc p'x .
also
oco ist, so ist
(/ rcos(5r-|-d9r) cos(y + d-/)
Der Zuwachs der linearen Umlaufsgeschwindigkeit in der
Zeit dt ist also
rn» cos f [cos f — cos (y -|- dy)]
cos{5i>-|-d9r')
Der Zuwachs in einer Sekunde, d. h. die Beschleunigung,
Es ist aber der von dem Körper in der Zeit dt durch-
laufene Weg DF=vdt;
der Abstand der Parallelkreise
EF = r dy, daher
. rdy.
cos a'
rdip
Tdt =
dt =
folglich
Vü^. cos «'COS y [cosy — cos (y -|-dy)]
costyi-j-djrjdy
/ d cos ff \
= Vß) • cos a —
\ dy ;
= VW. sin y.cos «
In den Lehrbüchern wird diese Wirkung der Erhallung
des Rotationsmoments, durch die ein Körper bei polwärts
gerichteter Bewegung seine lineare Umdrehungsgeschwindigkeit
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
487
Die Ostablenkung bildet mit der Rechts-
ablenkung ebenfalls den Winkel «. In die Rich-
tung der Rechtsablenkung fällt also eine Kom-
ponente der Ostablenkung. Die Größe dieser
Komponente ist qcos« — vwsiny-cos'-«. Die
Gesamtbeschleunigung der Rechtsablenkung ist
also z = 2vw-sinf/i-(i + - cos-a).
Nur für « = 90", also für die Bewegung im
Parallelkreis, bleibt also z= vto sin (p. Für jeden
anderen Wert von a ist z größer und erhält für
a = O den größten Wert ßvw sin cp.
Von besonderer Bedeutung muß die Wirkung
der Erdumdrehung auf die Verteilung der Strom-
geschwindigkeit innerhalb des Flusses werden.
Beide Arten der Ablenkung wachsen im selben
Maß wie die Strömungsgeschwindigkeit. Die am
raschesten bewegten Teile, die des „Stromstrichs",
werden also auch am stärksten abgelenkt. Sie
werden überdies sich wie ein Wall quer vor die
langsamer fließenden Teile rechts von ihnen legen,
sie aufstauen und zwingen, über sie selbst hin
abzuströmen. Es wird also bewirkt, daß der am
raschesten fließende Teil des Wassers gegen das
rechte Ufer und zwar gegen seinen Fuß gedrängt
wird und so um so stärker an dessen Zerstörung
arbeitet.
Die Wirkung der gegen das rechte Ufer ge-
richteten zerstörenden Kraft auf die Geländeform
wird einigermaßen von der vorhandenen Boden-
gestalt abhängig sein. Greift der Fluß ansteigen-
des Land an, so wird er auf der rechten Seite
ein Steilufer erzeugen, dem ein flaches auf der
linken Seite gegenübersteht. Fließt er aber in
einer vollkommenen Ebene, so wird sich ein sol-
cher Gegensatz nicht deutlich ausbilden können,
obgleich die seitwärts drängende Kraft vielleicht
gerade besonders stark wirkt.
Der Beobachtung bieten sich wichtige Auf-
gaben. Es wird sich darum handeln, festzustellen,
wie groß das Gefälle werden kann, ohne daß der
Einfluß der Erdrotation unmerklich wird. Wirkt
eine andere Kraft, z. B. Winddruck, im selben
nicht blofi beibehält, sondern vermehrt, gewöhnlich
nicht beachtet. Übrigens möchte ich ausdrücklich bemerken,
daß sie für die Frage der Gültigkeit des Ba er sehen Gesetzes
nicht von Bedeutung ist. Die steht auch schon fest, wenn
man nur die einfache Rechtsablenkung in Betracht zieht.
Sinne wie die Erdrotation, so ist zu untersuchen,
wie stark der Einfluß ist, der jeder von ihnen
zukommt. Andererseits werden Fälle vorkommen,
wo sich die Kräfte entgegenwirken, und dann
gilt es , zu bestimmen, ob und inwieweit von
einer ein Rest übrig bleibt. Dagegen wird man
sich die Mühe sparen können. Beweise oder
Gegenbeweise zu Baers Theorie an ungeeigneten
Gegenständen führen zu wollen. Man widerlegt
Baers Theorie nicht durch den Hinweis darauf,
daß an der Bode oder an der Fulda bei Ditters-
hausen oder an der Lahn bei Gisselberg das Steil-
ufer auf der linken Seite liegt. Solche Tatsachen
erklären sich jetzt zwanglos aus dem beträcht-
lichen Gefälle der genannten Flüsse.
Das klassische Gebiet für die Wirkung der
Erdumdrehung auf die Gestaltung der Flußbetten
ist Rußland und Westsibirien. Hier wirken alle
Umstände zusammen, um den Einfluß der Erd-
rotation zur Geltung kommen zu lassen ; geringes
Gefälle, vorwiegend meridionaler Lauf, Boden von
geringer Festigkeit, mächtiges Hochwasser, dazu
starker Eisgang, der die seitliche Erosion gewaltig
unterstützt. Hier herrscht wirklich „das Baer-
sche Gesetz". Mit großartiger Regelmäßigkeit ist
rechts vom Fluß die Bergseite, links die Wiesen-
seite ausgebildet. Zur Erklärung wird zwar die
Wirkung der Winde angeführt, regelmäßig mit
souveräner Nichtbeachtung der klimatologischen
Tatsachen, wie in dem oben angeführten klassi-
schen Beispiel. Diese Erklärung widerlegt sich
aber von selbst durch die Tatsache, daß das
Bergufer immer rechts liegt, mag der Strom
nach Norden oder nach Süden fließen. Am
schönsten ist dies zu sehen an dem schon von
K. E. v. Baer angeführten Beispiel der Swijaga.
Dieser Fluß kommt bei Simbirsk der Wolga schon
so nahe, daß nur der schmale Rücken, auf dem
diese Stadt steht, die beiden Flüsse trennt und
man bei manchen Häusern das Spülwasser nach
Gefallen zur Wolga wie zur Swijaga leiten kann.
Dann aber wendet sich die Swijaga scharf nach
Norden und mündet erst 160 km wolgaaufwärts
in den Hauptfluß. Auf dieser ganzen Strecke
hat jeder der beiden nebeneinander herströmen-
den Flüsse das Bergufer auf der rechten Seite,
die Wolge also im Westen, die Swijaga im Osten.
Es ist also ganz unmöglich, daß der Gegensatz
von den Winden herrührt.
Die Verweitung der Meiulelschen Spaltiuigs-
gesetze für die Deutung von Artbastardeu.
Die Herkunft eines Bastardes genau zu er-
mitteln, stößt oft auf die größten Schwierigkeiten.
Ich erinnere nur an die verschiedenen Stiefmütter-
chen und die vielen Rosenformen, die heutzutage
unsere Gärten schmücken und von denen sich
in vielen Fällen nur sagen läßt, daß sie hybriden
Einzelberichte.
Ursprungs sind, während sich über die Stamm-
eltern nur Vermutungen anstellen lassen. Selbst
durch künstliche Bestäubung der fraglichen Eltern
hat sich die Herkunft mancher dieser Bastard-
formen nicht restlos aufklären lassen. R. Wett-
stein') hat nun neuerdings gezeigt, wie man die
') Zeitschrift f. induktive Abstammungs- und Vererbungs-
lehre, XXllI. Bd., 1920.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
Abstammung solch fragwürdiger Bastarde auch
noch auf andere Weise ermitteln kann. Aus-
gehend von der gesicherten Beobachtungstatsache
unserer Vererbungsforscher, daß bei reiner Fort-
züchtung eines Bastardes unter günstigen Be-
dingungen auch die Stammeltern wieder erscheinen
können, hat R. Wettstein versucht, die noch
immer fraglichen Eltern unserer Gartenaurikel
{Priniitla Iwrtciisis) auf experimentelle Weise fest-
zustellen.
Zu diesem Zwecke wurde ein Exemplar von
Priniiila Jwrtciisis mit drüsigen und in der Jugend
etwas mehligen Blättern, sowie dunkelbraunrot
gefärbter Blumenkrone mit gelbem Schlund ab-
gesondert und mit eigenem Pollen bestäubt. Die
aus den Samen dieser Stammpflanze im Laufe
von einigen Jahren erzielten 75 Abkömmlinge
zeigten in bezug auf Blütenfarbe, Behaarung und
Bestäubung der Laubblätter die größte Mannig-
faltigkeit. Wichtig waren in dieser vielgestaltigen
Gesellschaft vor allem drei Exemplare, die von
Priniula Jiirsiita All. äußerlich nicht zu unter-
scheiden waren und außerdem noch ein Exemplar,
das der schön goldgelb blühenden Priinida Atin-
cula L. wenigstens sehr nahe kam. Damit war
die alte Streitfrage nach den Stammeltern unserer
Gartenaurikel in einwandfreier Weise auch durch
das Experiment gelöst und die schon von A. Ker-
ner geäußerte Ansicht, nach der Prinnila hor-
tcHsis von P. piibcscciis (= P. hirsiita yC^Auricula)
abzuleiten ist, bestätigt. Zu bemerken wäre noch,
daß nach R. Wettstein mehrere rein gezüchtete
Rassen unserer Gartenaurikel wahrscheinlich erst
sekundär durch Mutationen entstanden sein sollen.
E. Schalow (Breslau).
Holetxis-kxi^xi als Mykorrhizenpilze
der Waldbäunie.
Den Pilzsammlern war es längst aufgefallen,
daß sich einige unserer höheren Pilze mit Vor-
liebe unter ganz bestimmten Baumarten finden.
So sollte u. a. Boletus clcgans Schum. nur unter
Lärchen, B. Intens L. fast ausschließlich unter
Kiefern MViA B. Boiidieri(^w&\. nur unter Weimuts-
kiefern vorkommen.*) Neuerdings ist es nun
Elias Melin gelungen, das Zusammenleben
einiger Buletiis-Kx\.^x\ , mit den Wurzeln be-
stimmter Waldbäume durch Versuche einwands-
frei zu erweisen.-)
Melin war von der Beschäftigung mit unseren
Mykorrhizenpilzen ausgegangen. Dabei war es
ihm möglich gewesen, drei echte Mykorrhizen-
pilze der Kiefer zu isolieren, die er Alyceliiiin
Radicis süvesiris a, ß, y nannte. Bei der Mchte
konnte er nur eine Form {MyecUum Radicis
Abietis) feststellen. Da diese Pilze in den Rein-
') Vgl. hierzu auch die Beobachlungen einiger Pilz-
freunde in der Zeitschrift: „Aus der Heimat" 1921, H. 11/12
u. 1922, H. 3.
'') Vgl. Elias Melin in Ber. Deutsch. Bot. Ges. IQ22,
H. 3.
kulturen weder Konidien noch F"ruchtkörper ent-
wickelten, konnte ihre systematische Stellung
nicht sicher entschieden werden. Melin ver-
suchte nun auf andere Weise die Mykorrhizen-
pilze genauer zu bestimmen. Die Beobachtungen
der Pilzsammler brachten ihn auf den Gedanken,
daß vielleicht einige dieser bekannten Waldpilze
zur Mykorrhizabildung beitragen. Durch genaue
Versuche wurden nun diese längst vermuteten
Zusammenhänge nachgeprüft. Zu diesem Zwecke
stellte M. zunächst Reinkulturen verschiedener
Boletus -hricn her. Sodann wurden etwa 3 Mo-
nate alte, steril gezogene Kiefernpflänzchen mit
dem Myzel von Boletus luteus geimpft. Dies
geschah in der Weise, daß Myzel mit einer Platin-
nadel direkt auf die Stammbasis der kleinen, in
Kölbchen gezogenen Kiefern gebracht wurde.
Das Myzel bildete sich zu einer typischen Mykor-
rhiza aus. Damit war der erste sichere Nachweis
erbracht, daß Boletus luteus an der Mykorrhiza-
bildung beteiligt ist. Impfversuche desselben
Pilzes auf Fichte führten vorläufig noch zu keinem
klaren Ergebnis. Dagegen veranlaßte Boletus clc-
gans auf den Wurzeln junger Lärchen {Larix
eurof'aea) recht deutliche Mykorrhizabildungen.
Da dieser Pilz mit den Wurzeln von Kiefer und
Fichte nicht zusammenlebte, ist er nach M. wahr-
scheinlich als obligater Lärchenpilz zu betrachten.
Ob außer Boletus-Arlen auch noch andere Humus-
pilze die gleiche Rolle im Haushalt unserer Wäl-
der spielen, müssen weitere in Aussicht gestellte
Untersuchungen lehren. E. Schalow (Breslau).
Neue Verdunstungsmessungeu an Binnenseen.
Das alte Problem, den numerischen Wert der
Verdunstung von einer Seeoberfläche völlig exakt
zu bestimmen, das nach Foreis Ansicht (Handb.
der Seenkunde S. 48) für die Hydrologie von
größter Bedeutung ist, war bisher trotz vielfacher
Versuche auf diesem Gebiet ungelöst geblieben.
Auf zwei Wegen konnte man zur Lösung des-
selben gelangen. Entweder stellte man die Größe
aller Zu- und Abflüsse, die unmittelbar auf den
See fallende Niederschlagsmenge und die Ver-
änderung der Höhe des Seespiegels fest und be-
stimmt daraus durch eine sehr einfache Rechnung
die Höhe der Verdunstung oder man bestimmte
in einem Gefäß, in welchem das Wasser mög-
lichst unter gleichen Bedingungen stand wie im
See, die durch die Verdunstung entstehende
Senkung des Wasserspiegels. Zweifellos ist theo-
retisch der erstere Weg der sicherere und voll-
kommenere, weil man auf ihm die Verdunstung
in ihrer Gesamtheit erliält, während auf dem
anderen immer nur die Verdunstung an einer
bestimmten Stelle des Sees gemessen werden
kann und man genötigt ist, da die Verdunstung
an verschiedenen Stellen des Sees meist vonein-
ander abweicht, an möglichst zahlreichen Punkten
des Sees die Messung vorzunehmen. Praktisch
führt aber der zuerst genannte Weg nur dann zu
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
489
einem sicheren Ziel, wenn man imstande ist, den
gesamten Zu- und Abfluß eines Sees wirklich
einwandfrei zu messen. Das ist aber nur dann
möglich, wenn erstens ein unterirdischer Abfluß
und Speisung des Sees ausgeschlossen ist und
wenn die oberflächlichen Zuflußmengen der
kleinen Zuflüsse so unbedeutend sind, daß sie
gegenüber dem Hauptzufluß unbeschadet einer
vernünftigen Genauigkeit vernachlässigt werden
können. Diese Möglichkeit ist offenbar nur in
außergewöhnlich trockenen Sommern gegeben
und es ist daher begreiflich, daß J. Maurer-
Zürich, der diesen Weg als erster — und einziger
beschritten hat, für seine darauf bezüglichen Unter-
suchungen den ungewöhnlich trockenen Sommer
des Jahres 191 1 ausgesucht hatte.
Ob in diesem Fall auch die unterirdischen
Zuflüsse vernachlässigt werden konnten, wie
Maurer annimmt, oder ob dies nach der Mei-
nung von Karl Fischer nicht möglich war,
soll hier nicht näher erörtert werden, i) sicher ist
aber, daß für die Seen des norddeutschen Flach-
landes der Maurersche Weg ungangbar ist, wie
dies auch bei vielen anderen Seen unzweifelhaft
der Fall ist, und daß wir dann daher genötigt
sind, das zweite Verfahren der Verdunstungsgröße
eines stehenden Gewässers trotz aller nicht weg-
zuleugnenden Mängel einzuschlagen. Diese Mängel
beruhen auf verschieden Umständen. Zunächst
liefern eine oder wenige Meßstellen notwendiger-
weise kein für den ganzen See allgemein gültiges
Resultat. Die Messungen an vielen Stellen aus-
zuführen scheitert, abgesehen von anderen Gründen,
schon an dem Kostenpunkt, der sogar dazu nötigt,
die umständlicheren Messungen auf der Wasser-
fläche selbst durch die einfacher durchzuführenden
am Ufer zu ersetzen. Sodann steht das Wasser
in Meßgefäßen nicht unter denselben Bedingungen
wie das freie Wasser, und es läßt sich also aus
den Resultaten an denselben ohne weiteres kein
sicherer Schluß auf die Verdunstung auf dem
See ziehen und zwar wegen der großen Behinde-
rung des Luftzutritts, der Verschiedenheit der
Wassertemperatur im Gefäß und im See und
endlich wegen der verschiedenen Wellenhöhe des
Wassers hier und dort. Die letztgenannte Fehler-
quelle möchte allerdings im allgemeinen als die
unwesentlichste unter ihnen anzusehen sein. Es
scheint nun der Landesanstalt für Gewässerkunde
Norddeutschlands gelungen zu sein, innerhalb
einer vieljährigen Beobachtungszeit am Grimnitz-
see und zum Teil auch am Werbellinsee in der
Uckermark Fehlerquellen, die aus der Aufstellung
eines besonderen Meßgefäßes notwendig hervor-
gehen, zwar nicht beseitigt zu haben — dies
liegt außerhalb des Bereichs der Möglichkeit —
sie aber doch jetzt so meistern zu können, daß
wir imstande sind, von der Verdunstung im Ge-
fäß gewisse Rückschlüsse auf diejenige am See
selbst zu ziehen und so deren wahre Größe
kennen zu lernen. Ist dies aber der Fall, dann
ist das eingangs dieser Zeilen aufgestellte Problem
damit tatsächlich gelöst und die Aufstellung eines
genauen Wasserhaushalts für einen See unter ge-
wissen Kautelen wirklich möglich , der bisher
nicht verwirklicht werden konnte.
Die darauf bezüglichen Untersuchungen waren
im wesentlichen schon im Jahre 1914 beendigt
und sollten nur noch durch einige über den Ein-
fluß der Größe des Wassergefäßes auf die Ver-
dunstungshöhe ergänzt werden als der Weltkrieg
ausbrach und sowohl diese Untersuchungen als
auch die Drucklegung des Berichtes verhinderte,
der erst jetzt erfolgen konnte. Derselbe ^) ist
mit zahlreichen Tabellen und graphischen Dar-
stellungen ausgestattet und legt Zeugnis ab von
den überaus sorgfältig und vielseitig durch-
geführten Beobachtungen und Berechnungen,
welche zwar meines Erachtens nach nicht bis zur
völligen Lösung des Problems geführt, es aber
doch sehr wesentlich gefördert haben.
Ich übergehe die Aufzählung der vielen Vor-
sichtsmaßregeln, die getroffen wurden, um die
Verdunstungsgröße des auf einem freischwim-
menden aber verankerten Floß aufgestellten
Verdunstungsgefäßes von 2000 qcm Fläche
möglichst exakt festzustellen. Eine absolute Voll-
kommenheit konnte natürlich nicht erzielt werden
schon wegen der atmosphärischen Erscheinungen,
welche die Exaktheit der Beobachtungen im Floß
stören müssen, aber es ist zuzugeben, daß, was
erreichbar war, auch erreicht wurde. Da, wie
bereits oben hervorgehoben, die Beobachtungen
auf dem Wasser selbst ebenso kostspielig wie
zeitraubend, wie unter Umständen auch recht un-
bequem sind, wurde schon bei Beginn der Beob-
achtungen auf die Möglichkeit Bedacht genommen,
sie durch Beobachtungen an Gefäßen zu ersetzen,
die am Ufer des Sees aufgestellt wurden, wie
dies in gleicher Weise auch andernorts, z. B. auch
am Pyhäjärvi in Finnland geschehen ist. Es darf
von vornherein ausgesprochen werden, daß, sofern
es sich nicht um die Verdunstungsgröße eines
kleinen Zeitraums handelt, die ja praktisch von
sehr geringer Bedeutung ist, sondern um diejenige
längerer Zeiträume, diese Bemühungen von einem
vollen Erfolg gekrönt wurden.
Die mittlere tägliche Verdunstung für die
Sommer der Jahre 190S — 1913 betrug in dem
im Floß aufgestelhen Gefäß 3,62, 3,18, 3,56, 4,35,
3,23 und 3,52 mm, wobei aber zu beachten ist,
daß in den Jahren 1908 und 1909 nur in den
Monaten Juli bis Oktober, in den übrigen Jahren
dagegen von April bis Oktober gemessen wurde.
Die Abweichung von den beiden am Ufer auf-
') Siehe meinen Aufsatz: Über die Verdunstungsgröfie
freier Wasserflächen. Diese Zeitschr., N. F. Bd. 15, Nr. 32,
6. Aug. 1916.
1) Die VerdunstuDgsmessungen der Preuß. Landesanstalt
für Gewässerkunde auf und an dem Grimnitzsee und am Wer-
bellinsee bei Joachimsthal in der Uckermark von H. Binde-
mann. Jahrb. für die Gewässerkunde Norddeutschlands.
Bes. Mitteil., Bd. 3, Nr. 3. Berlin 1921.
490
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
gestellten Meßgefäßen betrug im Mittel je 4, 16,
II, 17, 16, SO^/d, war also recht erheblich und
zwar ergab sich stets eine kleinere Verdunstung
auf dem See selbst mit alleiniger Ausnahme
des Jahres 1908, wo das eine Verdunstungs-
gefäß auf dem Lande einen größeren Betrag
ergab. Im Mittel kann die Verdunstung während
eines ganzen Jahres, wobei für die Wintermonate
Beobachtungen an einem in einer englischen
Hütte geschützt stehenden Wildschen Messer Ver-
dunstungsmessungen ergänzungsweise angestellt
wurden, für den Grimnitzsee auf 940 mm, für den
Werbellinsee auf 660 mm, also auf 70 v. H. jener
Menge veranschlagt werden. Da der Grimnitzsee
sehr frei daliegt, seine Oberfläche daher den
Winden besonders stark ausgesetzt ist, kann jenes
Resultat für das norddeutsche Flachland als ein
Maximum aufgefaßt werden. Der Werbellinsee
wird, im Gegensatz zum Grimnitzsee, von hohen
bewaldeten Ufern eingefaßt, seine Verdunstungs-
fähigkeit ist also eine wesentlich geringere.
Auf die einzelnen Monate verteilt sie sich
folgendermaßen :
Nov. Dez. Jan. Febr. März April Mai
mm 38 30 27 29 44 60 121
Juni Juli August Sept. Okt.
mm 155 156 136 87 54.
Im Jahre 1911 erreichte die Verdunstung
während der 6 Sommermonate (Mai — Okt.) eine
Höhe von 870 mm, kam also der jährlichen im
Mittel der Jahre 1908— 191 3 ziemlich gleich. Den
höchsten Tageswert erreichte der 29. und 30. Juli
mit zusammen 22 und der 4. Sept. mit fast 12 mm{!).
Die Verdunstungshöhe im Landgefäß stieg am
3. Sept. sogar auf 14 mm.
Es hat sich gezeigt, daß, wenn die Messungen
der Wasserwärme auf das Ufer beschränkt bleiben,
keine ganz groben Fehler entstehen können, denn
selbst wenn die Abweichung das ganze Jahr hin-
durch i" C betrüge, so würde der dadurch ent-
stehende Fehler noch nicht 3 v. H. der Jahres-
verdunstung beiragen. F"ür genauere Mittelwerte
für einzelne Monate oder noch längere Zeit-
räume bedarf es ferner weder in Hinsicht auf
die Windstärke noch auf die Windrichtung einer
Umrechnung der Beobachtungen am Ufer auf
solche vom See aus. Dagegen ist die Wirkung
der Luftfeuchtigkeit und der Wassertemperatur
so erheblich, daß ihre tatsächliche Größe von
Fall zu Fall in Rechnung gestellt werden muß.
Beide l'akloren müssen zusammen behandelt
werden, weil sie in einem gewissen natürlichen
Zusammenhang untereinander stehen.
Die größere Verdunstung auf den Landgefäßen
rührt im wesentlichen von der höheren Wasser-
temperatur und der stärkeren Sonnenstrahlung
in ihnen her. Es gelang für die beiden Landge-
fäße wie für das Hoßgcfäß gesonderte Beziehungen
zwischen der Verdunstung einerseits, der Wasser-
temperatur und dem Sättigungsfehlbetrag anderer-
seits aufzustellen, wodurch jederzeit die Beobach-
tungen in einem dieser Gefäße mit denjenigen in
den anderen verglichen werden können. Selbst-
verständlich hat auch die Höhe des Wasserstandes
in den Maßgefäßen auf die Verdunstungshöhe
einen sehr beträchtlichen Einfluß, dessen Größe
aber recht schwierig zu ermitteln ist, weil er
namentlich durch den Einfluß des Windes häufig
überdeckt wird. _ Es stellte sich aber heraus, daß
derselbe sich nur auf die Landgefäße bezieht,
während die Verdunstung vom Floßgefäß von
der Höhe des Wasserstandes in ihm sich als un-
abhängig herausgestellt hat. Allerdings hat dieser
Satz die Voraussetzung, daß das F"loßgefäß hoch
gefüllt ist und daß die Wasserstandsschwankungen
innerhalb verhältnismäßig enger Grenzen gehalten
werden. Es rührt dies daher, daß das Wasser
im Gefäß einfach als ein Teil des Seewassers an-
zusehen ist, so daß das Maß des Luftwechsels
nahezu gar keine Rolle spielt, während bei den
Landgefäßen die feuchteren Luftschichten bei jeder
Luftbewegung teilweise durch trocknere aus der
Umgebung ersetzt werden.
Was den Einfluß der Größe des Meßgefäßes
auf die Verdunstungshöhe angeht, so wurden die
hierauf bezüglichen Untersuchungen, wie oben
hervorgehoben, durch den Weltkrieg im ganzen
unterbrochen. Nur so viel konnte — entsprechend
früherer Untersuchungen in Kalifornien — fest-
gestellt werden, daß sie bei Vergrößerung der
Wasseroberfläche von 2000 auf 4000 qcm ganz
beträchtlich abnimmt, während sie bei einer
Abnahme auf lOOO qcm beinahe unverändert er-
scheint, wahrscheinlich, weil der Einfluß des
Randes des Gefäßes mit der Verdunstungsmög-
lichkeit mehr und mehr zunimmt, je kleiner die
absolute Größe des Gefäßes ist. W. Halbfaß.
Über den Oiftstoff der Kröte.
Nachdem bereits 191 3 H. Wieland und
Weil aus der Haut der einheimischen Kröte
einen kristallisierten Stoff isolierten, der in naher
Beziehung zu dem Giftstoff jener Tiere stand,')
ist es nunmehr Wieland und seinem Mitarbeiter
R. Alles gelungen, den Giftstoff selbst zu ge-
winnen und seine chemische Konstitution wenig-
stens in groben Zügen sicher zu stellen.-)
Zur Gewinnung des Giftstoffs wurden mehrere
Tausend Krötenhäute mit Alkohol erschöpfend
ausgezogen. Der so erhaltene Alkoholextrakt
wurde unter Luftleere eingedämpft und getrocknet.
Der hinterbleibende Rückstand wurde durch
Waschen mit Petroläther von Fett befreit. . Hier-
nach wurde abermals mit absolutem Alkohol aus-
gelaugt. Wenn alsdann der Alkoholauszug mit
Wasser versetzt wurde, so schied sich eine zuerst
teigige, dann pulvrig werdende Masse ab, der
durch eine kombinierte Behandlung bzw. Fällung
') Berichte d. D. Cheni. Gesellsch. 46, S. 3315, 1913.
^) Ebenda 55, S. 1789, 1922.
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
491
mit Petroläther und Alkohol der Giftstoff ent-
zogen werden konnte. Nach kurzem Stehen
schieden sich farblose feinnadlige Kristalldrusen
vom Schmelzpunkt 204/205" ab: sie stellen den
ursprünglichen Giftstoff unserer einhei-
mischen Kröte dar. Wieland gibt ihm den
Namen Bufotoxin.
Bufotoxin hat die Zusammensetzung
ist also stickstoffhaltig. Es enthält eine Lakton-
gruppe, eine Azetoxyl- und sicherlich zwei Hy-
droxylgruppen; daneben sind Korksäure
CgHj^O^ und Arginin QH^jO^N^ als wich-
tige Spaltstücke des Bufotoxins erkannt und nach-
gewiesen worden. Auf diese Weise besteht ein
gewisser Zusammenhang der Substanz mit den
Eiweißstoffen einerseits, mit den Pflanzenstoffen
andererseits. Bufotoxin ist in Wasser, Äther,
Chloroform schwer löslich, dagegen sehr leicht
löslich in Methylalkohol und in Pyridin. Diesen
Löslichkeitsverhältnissen kommt aller Wahrschein-
lichkeit nach eine hohe physiologische Bedeutung
zu, denn das von Wieland seinerzeit isolierte
Bruchstück des Bufotoxins, das gleichfalls giftige
Bufotalin, ist im Gegensatz zu dem Stamm-
körper lipoidlöslich. Beide Stoffe sind auch in
kleinsten Mengen kenntlich durch eine intensiv
kirschrote Farbenreaktion, die sie mit konzen-
trierter Schwefelsäure und Essigsäureanhydrid
geben und wodurch sie ihre Alkaloidnatur er-
kennen lassen.
Daß man es im Bufotoxin wirklich mit dem
ursprünglichen Giftstoff unserer Kröten zu tun
hat, wurde schließlich noch auf einem zweiten
Wege bewiesen. 380 Kröten wurden mit einer
Pinzette ohne scharfen Rand die Hautdrüsen, ins-
besondere die sogenannten Ohrdrüsen ausgedrückt.
Wie 1 and gewann auf diese Weise einen fast
weißen Milchsaft, der alsbald nach der Isolierung
im luftleeren Raum getrocknet wurde. Es hinter-
blieben schließlich 4 g einer harten glasigen Masse.
Wurde diese Substanz mit Alkohol ausgezogen
und im Auszug mit Gasolin vorsichtig gefallt,
so kristallisierte endlich ein Stoff aus, der nach
Schmelzpunkt und Eigenschaften sich als mit
dem Bufotoxin identisch erwies. Diese Gewin-
nung aus den Drüsen unmittelbar läßt es als
sicher erscheinen, daß das Bufotoxin der
eigentliche Giftstoff ist, von dem das Bufotalin
gewissermaßen ein „Genin" ist. Späteren Ar-
beiten muß die nähere Konstitutionsermittlung
der Stoffe vorbehalten bleiben; indessen konnte
bereits wahrscheinlich gemacht werden, daß der
Giftstoff in naher Verwandtschaft zu den Gallen-
stoffen steht. H. Heller.
Bücherbesprechiingen.
Klautke, P., Lehrer für Biologie an der Tung Chi
Medizin- und Ingenieurschule für Chinesen in
Wusung, Nutzpflanzen und Nutztiere
Chinas. Mit zahlreichen Abbildungen. Han-
nover, Hahnsche Buchhandlung, 1922.
Dieser in der Sammlung „Weltwirtschaftlicher
Abhandlungen", herausgegeben von Prof Dr. S. Ber-
liner, als Band V erschienene Band muß jeden
Naturfreund, besonders aber jeden China-Deutschen
beschränkt worden. Das Hauptgewicht ist gelegt
auf Kultur der Nutzpflanzen, auf die Zucht der
Nutztiere, vor allen Dingen aber auf die Gewin-
nung der Rohprodukte und deren Verwertung
für Handel und Industrie".
Das ist ein Hauptvorzug des Buches. Es
dient zugleich der Biologie wie der Weltwirt-
schaft. Heute, wo schon die Sextaner in Deutsch-
land sich über den Dollarkurs unterhalten, muß
mit Freude und Genugtuung erfüllen, weil bis jedem Kinde bei uns die ungeheure Bedeutung
heute nur ganz wenige und einseitige Quellen
vorhanden sind, aus denen der Neuankömmling
in China Belehrung schöpfen könnte. Der Chi-
nese selber kann in den meisten Fällen keine
befriedigende Auskunft über Namen und Art der
mannigfachen Gattungen erteilen. Die sehr we-
nigen Bücher sind entweder bloße trockene
Pflanzenregister oder spezialisierte Beschreibungen
eines ziemlich engen Gebiets. Vor allen Dingen
waren sie bisher beinah durchweg in fremder
Sprache abgefaßt, meistenteils lateinisch, englisch
oder japanisch.
So entsprach ein deutsches Werk über diesen
Gegenstand einem wirklichen Bedürfnis. Es will,
wie der Verf. in der Vorrede sagt, „das Wissens-
werte über Nutzpflanzen und Nutztiere Chinas
übersichtlich und allgemeinverständlich zusammen-
stellen. In den Ausführungen ist deshalb das
rein Naturwissenschaftliche auf das Notwendigste
der Rohprodukte für unsere Ernährung, unseren
Handel und den Wiederaufbau des geknechteten
Vaterlandes klar sein. Wer sich in diesem Sinne
über Chinas Erzeugnisse und unsere wirtschaft-
lichen Beziehungen zu China unterrichten will,
der möge Klautkes Buch aufschlagen. Er wird
willkommene Belehrung erhalten, so über Tee-
kultur, so über Seide und Reis, die alten „heiligen"
Urprodukte Chinas. Er wird erfahren, wie Baum-
wolle und Sesam, Bataten und Erdnüsse gebaut
werden, wo und wie man Rhabarber und Ingwer,
Kampfer und Indigo pflanzt und verarbeitet,
welche Tiere in China Häute, Felle, Wolle und
Federn liefern. Und er wird an der Hand der
jedem Ausfuhrartikel angefügten Statistiken der
Jahre 1908 — 191 3 sich ein Bild machen können
von dem ungefähren Umfang der Produktion an
pflanzlichen und tierischen Handelsprodukten.
So ist unser Buch eine seltene Vereinigung
492
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
von Wissenschaft und Praxis, und gerade in dieser
Beziehung mustergültig. Denn bei aller Zurück-
haltung spürt man wohltuend wissenschaftlichen
Geist. Dabei ist es frei von jedem überflüssigen
Ballast, in Sprache und Stil von hoch erfreulicher
Klarheit und Knappheit (nur 160 Seiten) und mit
ausgezeichneten Abbildungen, Zeichnungen wie
Photographien, geschmückt. Der Band ist im
Kriegsgefangenenlager in Japan entstanden, wo
der Verf. sechs volle Jahre geschmachtet hat. Es
ist fraglich, ob viele Angehörige anderer Nationen
für ihr Vaterland so nützliche und wertvolle Ar-
beit geleistet haben wie die Tsingtau - Kämpfer
während ihrer langen Haft.
Daher sei dies Werk mit Stolz, Freude und
Dankbarkeit aufgenommen und jedem deutschen
Naturfreunde und Nationalökonomen angelegent-
lich empfohlen. Marie du Bois-Reymond.
Stoklasa, Dr. J. , Über die Verbreitung
des Aluminiums in der Natur und seine
Bedeutung beim Bau- und Betriebs-
stoffwechsel der Pflanzen. 500 Seiten.
28 Abb. Jena 1922, Verlag von G. Fischer.
80 M.
Nach der herrschenden Ansicht gehört Alu-
minium nicht zu den biogenen Elementen, die
zu einer normalen vollständigen Entwicklung der
Pflanzen nötig sind. Soweit es in der Asche der
Pflanzen festgestellt worden ist, soll es lediglich
ein zufälliger, für den Aufbau und den Stoffwechsel
der Pflanzen belangloser Bestandteil sein. Nur
von einzelnen Forschern, zuerst von Malaguti
und Durocher 1S58 wurde dem Aluminium
eine gewisse, nicht näher präzisierte physiologi-
sche Bedeutung zugeschrieben, und seit Molisch
wissen wir, daß das Aluminium für die Färbung
der Blüten der Hortensie von Bedeutung ist. Es
ist das Verdienst des Verf , das hier vorliegende
Problem in seiner ganzen Tragweite erkannt, nach
allen Richtungen durchforsclit und im wesent-
lichen gelöst zu haben.
Das oben genannte Werk stellt das Ergebnis
vierzigjähriger F'orscherarbeit dar und enthält eine
F"ülle von Beobachtungen und Versuchsergebnissen.
Auch die gesamte einschlägige Literatur ist kri-
tisch verarbeitet. Es ist natürlich nicht möglich,
im Rahmen eines Referates eine erschöpfende
Darstellung von dem reichen Inhalte des Werks
zu geben. Ich muß mich darauf beschränken, die
wichtigsten Ergebnisse kurz zusammenzufassen.
Der Verf. beschäftigt sich zunächst mit der
Verbreitung des Aluminiums. Sowohl in
Mineralien und Gesteinen als auch im Acker-
boden und in den natürlichen Wässern ist das
Aluminium weit verbreitet. Es steht unter den
an der Bildung der Erdkruste beteiligten Elementen
mit 7,8 "/„ an dritter Stelle.
Die bei der Entstehung der Ackererde mit-
wirkenden Mikroorganismen (Bakterien, Algen,
Flechten, Moose) sind verhältiüsmäßig reich an
Aluminium. Von den höheren Pflanzen enthalten
namentlich die Hydrophyten und Hygrophilen,
z. T. auch die Mesophyten mehr oder weniger
reichlich Aluminium. Nur die Xerophyten sind
daran arm.
Das Aluminium findet sich besonders im
Wurzelsystem bzw. in den Wurzelstöcken, Rhi-
zomen usw., ferner in bestimmten Blüten und
Samen.
Auch im Tierreich, und zwar in den pigmen-
tierten Körperteilen von Insekten, Vögeln und
Säugetieren, ist das Aluminium verbreitet.
Durch umfangreiche Keimversuche stellt der
Verf. fest , daß Aluminium in geringer
Konzentration keim fördernd, in höherer
Konzentration schädigend bzw. giftig wirkt.
Ebenso verhält sich das Mangan. Wenn den
Samen beide Elemente gleichzeitig geboten wer-
den, so spielt das Aluminium die Rolle eines
Schutzstoffes, d. h. die Gifiwirkung des Mangans
wird durch Zusatz von Aluminium paralysiert.
Einen breiten Raum nehmen die Versuche des
Verf. über den Einfluß des Aluminiums
auf die Entwicklung der Pflanzen ein.
Auch hier haben geringe Konzentrationen einen
günstigen Einfluß, während größere Konzentra-
tionen schädigen. Hydrophyten und Hygrophilen
vertragen eine stärkere Dosis Aluminium als
Mesophyten, diese eine stärkere als die Xerophyten.
Die Hydrophyten gedeihen ohne Aluminium nicht
oder schlecht, die Mesophyten ohne Aluminium
schlechter als mit Aluminium. Bei einigen Pflan-
zen wird die Blütenbildung durch Aluminium ge-
fördert. Wenn Xerophyten in einer aluminium-
reichen Nährlösung gezogen werden, tritt in den
Wurzelzellen sehr bald Plasmolyse ein. Die
Hydrophyten dagegen und ein Teil der Meso-
phyten nehmen das Aluminium auch bei ver-
hältnismäßig hoher Konzentration ohne Schaden
auf. Dabei verhalten sich die einzelnen Arten
spezifisch verschieden. Es existiert also ein
spezifisches quantitatives Wahlver-
mögen für Aluminium. — Schon daraus
kann man schließen, daß die Aluminiumaufnahme
für bestimmte Pflanzen ein physiologisches Be-
dürfnis ist.
Welche Bedeutung hat nun das Aluminium
für den Stoffwechsel der Pflanzen, insbesondere
der Hydrophyten? Wie bereits gesagt, wirkt
Aluminium in bestimmten Konzentrationen gün-
stig auf das Wachstum ein. Dieser günstige
Einfluß zeigt sich besonders bei Gegenwart von
Eisen in der Nährlösung. Geringe Mengen von
Eisen sind bekanntlich für die Entwicklung der
Pflanzen, namentlich für die Ausbildung des
Chlorophylls, unentbehrlich; größere Mengen
dagegen schädlich. Es tritt in diesem Falle in
den Wurzelzellen Plasmolyse ein; außerdem schei-
den sich auf den Wurzeln Eisenverbindungen ab,
wodurch eine ganze Kette von Lebenserscheinun-
gen gestört wird. Diese Giftwirkung des
Eisens wird schon durch Zusatz ge-
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
493
ringer Mengen von Aluminium aufge-
hoben, es sei denn, daß in dem Nährmedium
übermäßig viel Eisen vorhanden ist. Als Beispiel
sei das Ergebnis eines Versuches mit Hafer ge-
nannt. Die Trockensubstanz von je 10 Pflanzen
betrug bei einer aluminium- und eisenfreien Nähr-
lösung 59,05 g, bei einer Nährlösung nur mit
Aluminium 62,00 g, nur mit Eisen 56,04 g und
bei Gegenwart von Eisen und Aluminium 70,13 g.
Die entgiftende Wirkung des Aluminiums ist be-
sonders für gewisse eisenreiche Böden (Humus-,
Torf-, Moor- und Tonböden) von großer Bedeu-
tung. Sie ermöglicht hier überhaupt erst die
Existenz einer Vegetation.
Das Aluminium greift auch sonst regulierend
in die Absorptions- und Austauschvorgänge ein,
die sich an und in der Membran der Wurzel-
zellen abspielen. Das Aluminium lagert sich hier
in die Zellulosemoleküle ein, vergrößert dadurch
deren Quellungsvermögen, befördert und begün-
stigt die Wasseraufnahme und hindert anderer-
seits das Eindringen größerer Mengen von Eisen,
Mangan, auch Kalzium und Kalium. Stoklasa
geht in diesem Zusammenhange ausführlich auf
die Mechanik des lonenaustausches ein
und fördert hier neue und interessante Gesichts-
punkte zutage.
Von großer Bedeutung ist ferner das Alumi-
nium für die Farbstoffbildung bei gewissen roten,
blauen und violetten Blüten. Wie bereits von
Molisch festgestellt, kann man die rosaroten
Blüten der Hortensie durch Zusatz von Alumi-
niumsalzen intensiv blau färben. Stoklasa fand,
daß die ersteren 0,032 "/„ AUOg , die letzteren
o>592 *'/o AlgOg enthalten. Interessant sind die
Versuche, die er mit Hyazinthen, Chrysanthemen
und anderen Pflanzen anstellte. Überall erzielte
er durch Aluminium eine viel intensi-
vere Blüten färbung, die sich auch als ver-
erblich erwies. Bei Papaver sommfcnim gelang
es ihm, durch dreijährige Kultur in aluminum-
reicher Nährlösung rosarote und weiße Blüten in
sattrote und violette zu verändern, ebenso bei
Matihiola annua mattrosa Blüten in schön vio-
lette, bei Digitalis gelbe in rote. Die bei An-
wesenheit von Aluminium gezogenen Pflanzen
enthielten in den Blüten stets mehr Aluminium.
Der Einfluß des letzteren erklärt sich nach
Stoklasa aus der Genese der Farbstoffe. Die
Anthozyane entstehen durch Oxydation aus farb-
losen Chromogenen vermittels besonderer Enzyme
(Oxydasen). Letztere enthalten stets Aluminium.
Durch Zusatz von Aluminium wird also zunächst
die Oxydasenbildung und dadurch indirekt die
Farbstoffbildung begünstigt.
Einen besonderen Abschnitt widmet der Ver-
fasser der Nährstoffscheu der Hydro-
phyten und Hygrophilen, besonders der Torf-
moose. Diese sind empfindlich gegen alkalische
Reaktion ; Kalzium, Kalium, Phosphor wirken auf
ihr Gedeihen ungünstig. Die Gegenwart von
Aluminium hindert die Aufnahme größerer
Mengen dieser Elemente wie auch des Eisens.
Daher kommen Spiiagmim namentlich auf solchen
Böden vor, die im Untergrunde Aluminium ent-
halten. Ebenso wie andere torfbildende Hydro-
phyten nimmt es die biogenen Elemente vor-
wiegend in organischer Form oder als Bikarbo-
nat auf.
Zum Schlüsse gibt Stoklasa einen Überblick
über die Entwicklung des Pflanzenklei-
des der Erde und beschäftigt sich hier vor allem
mit der Karbonflora und der Entstehung der
Kohlenflötze. Die für das Karbon charakteristische
Sumpfvegetation verdankt ihre üppige Entwick-
lung den damals herrschenden optimalen Lebens-
bedingungen : Die Luft war reicher an Kohlen-
säure als heute, Luft und Boden radioaktiv, das
Nährmedium reich an Aluminium, Eisen und Sili-
zium, die von diesen Pflanzen in erster Linie be-
nötigt werden. Für Kalzium, Kalium und Phos-
phor haben sie ein geringeres Bedürfnis. Größere
Mengen davon wirken sogar giltig. Dem-
entsprechend ist die Reinasche der Steinkohlen
wie des Torfes reich an Aluminium, Eisen und Sili-
zium, dagegen arm an Kalium und Phosphor.
Das Aluminium hat hier wiederum die wichtige
Aufgabe gehabt, die schädliche Wirkung des Eisens
auszugleichen und die Aufnahme von Kalium und
Phosphor zu hemmen.
Dr. F. Esmarch - Dresden.
Dannemann, Friedrich, Aus der Werkstatt
großer Forscher. Allgemeinverständliche,
erläuterte Abschnitte aus den Werken hervor-
ragender Naturforscher aller Völker und Zeiten.
4. Aufl. Mit 70 Abb. XII, 442 S. Leipzig
1922, W. Engelmann. Geh. 75 M., geb. 115 M.
Seitdem Ernst Mach und Wilhelm Ost-
wald die Bedeutung historischer Studien für die
aktuelle naturwissenschaftliche Forschung und be-
sonders für ihre Lehre betont und durch eigene
Werke gefördert haben, wobei Ostwald mit
Recht darauf hinwies, daß es keine bessere Ein-
führung in irgendeine Naturwissenschaft gäbe als
das Studium der Abhandlungen ihrer großen
P'orscher, ist es neben Ostwalds „Klassikern"
vor allem ein Verdienst des vorliegenden Buches,
wenn diese Erkenntnis nunmehr bis zu einem ge-
wissen Grade Allgemeingut geworden ist. Wäh-
rend Ostwalds Klassiker sich vorwiegend an
den Forscher selbst wenden, ist Dannemanns
Buch in erster Linie für den Schüler der oberen
Klassen unserer höheren Schulen, den jungen
Studenten, sowie auch für jeden, der seine sog.
Allgemeinbildung im Gebiete der Naturwissen-
schaft fördern will, bestimmt. Daß unser Werk
seine Aufgabe voll und ganz erfüllt, ist durch das
Vorliegen der 4. Auflage in ausreichender Weise
bewiesen. Die Auswahl aus den Klassikern ist
mustergültig, alle Gebiete sind gleichmäßig be-
rücksichtigt, Astronomie, Physik, Kosmologie,
Physiologie wie auch Biologie im engeren Sinne
494
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
und Bakteriologie. Der Hunger nach naturwissen-
schaftlicher Erkenntnis soll ja auch in weiten
Kreisen unseres Volkes sehr groß sein. Wohlan,
man sorge für eine gründliche Verbreitung dieses
Buches in möglichst vielen Volks- und Schul-
büchereien, wie auch als Prämiengeschenk an
fleißige und begabte Schüler an unseren Volks-
und höheren Schulen. Es ist unvergleichlich viel
mehr wert als das meiste von dem, was gemein-
hin unter der IVlaske populärwissenschaftlicher
Literatur segelt, die ja zumeist ihre Hauptaufgabe
darin sieht, dem Leser in prickelnden blumigen
Schilderungen und phantasievollen Geistreicheleien
die allermodernsten Theorien zu schildern. Das
ist Literatenliteratur statt echter Forschung, die
allemal in bescheidenen, schlichten, von Erfahrung
schweren Worten zu uns spricht. Eine wieviel
bessere Vorstellung vom Wesen der theoretischen
Physik erhält z. B. der Laie, der in Danne-
man ns Buch die Abschnitte aus Galilei und
Newton, liest, als derjenige, der irgendeinen
modernen populären Traktat über die Relativitäts-
theorie zu verdauen versucht, eine Lehre, die ihre
volle Wahrheit und Schönheit doch nur dem-
jenigen enthüllen kann, der über eine gehörige
mathematische Bildung verfügt.
Besonders wertvoll ist Dannemanns Werk
auch für die Gestaltung des an unseren höheren
Schulen wieder auflebenden Unterrichts in philo-
sophischer Propädeutik. Dieser Unterricht kann
nur dann Erfolg haben, wenn er sorgsam anknüpft
an die sog. Schulwissenschaften, an die mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen, wie an die philo-
logisch-historischen Disziplinen, und versucht, den
Schülern den geistigen Zusammenhang aller
Wissenschaft klarzumachen und so den künftigen
Philologen Respekt vor der geistigen Leistung,
die in aller Naturwissenschaft enthalten ist, beizu-
bringen, wie es andererseits den künftigen Natur-
wissenschaftlern gar nichts schaden kann, wenn
sie den hohen Wert philologisch - historischer
Schulung auch für die naturwissenschaftliche For-
schung würdigen lernen. In diesem Sinne kann
Dannemanns Buch sehr viel Gutes wirken, da
sehr viele der in ihm vertretenen Aufsätze, z. B.
die von Aristoteles, Newton, Kant u. a.
unmittelbar die Brücke von der Naturwissenschaft
zur Philosophie schlagen. Namentlich den Ober-
realschulen, die an sich leicht zu dem banausen
Gegenwartsoptimismus des ,,Wie herrlich weit
haben wir es doch gebracht I" neigen, sei diese
Bildungsmöglichkeit des Dannemannschen
Buches ans Herz gelegt. Infolgedessen teilen wir
auch durchaus nicht die von Dannemann ge-
äußerte Befürchtung, gegen die er sich wehrt,
sein Buch könne zu einer Art von Philologisierung
des naturwissenschaftlichen Unterrichts führen,
halten vielmehr diese „Gefahr" für einen großen
Vorzug des Buches und würden uns freuen, wenn
das in der 5. Aufl. dadurch zum Ausdruck käme,
daß die Quellenangaben in vielen Fällen nicht
bloß etwas über die Ausgabe sagen, die Danne-
mann jeweils benutzt hat, sondern auch ein
wenig auf die meist sehr interessante Geschichte
der jeweiligen Originalausgaben eingehen. Das
Zitieren und Berücksichtigen von Literatur, das
heute bei Naturwissenschaftlern sehr oft zu wün-
schen übrig läßt, wird dadurch bei den kommen-
den Generationen sicher nicht schlechter werden.
Adolf Meyer (Hamburg).
Anregungen und Antworten.
Bemerkungen zu dem Aufsatz von C. v. Kegel: „Über
den Ursprung der Getreidearten" (Naturw. Wochenschr. N. F.
XXI [1922J Nr. 24, S. 32S— 330).
Die Ausführungen des Verf.s, durch die er sich in seinem
Referate über zwei russische Arbeiten (von N. Vavilow und
Rob. Regel) in bewußten Gegensatz zu der in letzter Zeit
herrschend gewordenen Auffassung stellt, dürften seitens der
Fachgenossen nicht unwidersprochen bleiben; leider weilt
freilich einer der Berufensten - unter ihnen, Aug. Schulz,
nicht mehr unter den Lebenden. Vorläufig sei an dieser
Stelle nur in Kürze auf die Hauptschwäche der neuen Theorie
aufmerksam gemacht. Nach Vavilow wäre als die Wild-
form des Roggens {Seealt- ccrtaU L.) nicht das ausdauernde,
mit einer brüchigen Ährenspindel versehene S. moiüaniim Guss.
zu betrachten, sondern eine mit der Kulturpflanze ziemlich
identische Form (also offenbar einjährig und mit zäher Ähren-
spindel), die sich als wildwachsendes Unkraut in den Weizen-
und Gerstenfeldern Südwestasieus findet, wo heute der Rog-
gen nicht oder kaum angebaut wird; .S', monlanum wäre eine
zwar nahestehende, aber selbständige Art. Diese Auffassung
steht nun in schroffem Widerspruch zu den Resultaten der
biologischen Betrachtungsweise des Problems der Entstehung
der Kulturpflanzen. Die meisten neueren Forscher sind näm-
lich zu der Vorstellung gelangt, ') daß die Zähigkeit der
Blütenstandsachsen , die in übereinstimmender Weise alle
Kullurgräser gegenüber ihren Wildformen auszeichnet, eine
vom Standpunkte der Pflanze unzweckmäßige und verhängnis-
volle Eigentümlichkeit darstellt, die nur unter dem züchten-
den Einiiuß des Menschen entstehen konnte, während die auf
solche Weise ihrer natürlichen Verbreitungsmittel beraubten
Pflanzen in der freien Natur im Kampfe ums Dasein unter-
liegen würden und auf die Länge nicht lebensfähig wären.
Wir brauchen dabei nicht notwendig an eine bewußte Aus-
lese durch den züchtenden Menschen zu denken, sondern es
ist, wie a. a. O. (191S) ausgeführt, auch eine unbewußte
Selektion, die zum gleichen Endergebnis (der Erzielung zäher
Blütenstandsachsen) führt, sehr wohl vorstellbar. Den besten
Beweis hierfür erblicke ich in der bisher wohl kaum gewür-
digten Tatsache, daß manche Ackerunkräuter ausgesprochene
„Kulturpflanzenmerkmale" besitzen, d. h. Eigenschaften, durch
die sie sich von ihren Verwandten der natürlichen oder halb-
natürlichen Standorte in ganz analoger Weise unterscheiden
wie die Kulturpflanzen von ihren Wildformen. Hitrovo-)
hebt treffend hervor, daß die Unkräuter der zweiten (mittlem)
Schiebt des Getreideackers die Kulturpflanze bezüglich der
') Vgl. z. B. : A. Thellung, Neuere Wege und Ziele
der botanischen Systematik, erläutert am Beispiele unserer
Getreidearien (Naturw. Wochenschr. N. F. XVII (1918], Nr. 32,
33 [speziell S. 453]).
■^) Vladimir Hitrovo, Sur la voilure des organes de
propagation des plantes messicoles de niveaux diff^erents. Bull,
f. angew. Bot. (Petersb.) V (1912), S. 103 — 138, russisch und
franzosisch.
N. F. XXI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
495
zeitlichen Entwicklungsphasen (Keimungs- und Blütezeit, Frucht-
reife) und der Ausbildung der Verbreitungsorgane (z. B. des
„Flugfähigkeitskoeffizienten" [coefficient de voilure]) in weit-
gehendem Maße nachahmen bzw. sich ihr angleichen. Es ist
einleuchtend, daß durch diesen Angleichungsvorgang, der sich
am besten auf dem Wege der — seitens des Menschen un-
beabsichtigten — Auslese erklären läßt, die Unkräuter sich
manche ,,K ultur p flanz enm erkmale" angeeignet haben.
Von solchen seien genannt:
1. Einjäh rig wer den unter dem Einfluß der Kultur.
Beispiel: das mediterrane, einjährige Kulturlandsunkraut
Phalaris brachystachys , das sich im übrigen wenig von der
ausdauernden und natürliche Standorte bewohnenden Ph.
trumata unterscheidet.
2. Vergrößerung derSamen: z. B. bei dem Flachs-
unkraut Camelina Alyssiim (dentata, linicola), im Interesse
einer möglichst weitgehenden Angleichung an die Samen der
Kulturpflanze (Erschwerung der Trennung des Unkrautsamens
vom Leinsamen nach Zinger).
3. Verlust der natürlichen Schutzmittel, z. B.
der Samen: weich- und dünnschalige Fruchtklappen bei
Came'tina Alysstim im Gegensatz zu den übrigen Formen der
Gesamtart C. sativa.
4. Verlust der natürlichen Verbreitungs-
mittel der Samen: ungeflügelte Samen bei den getreide-
bewohnenden A'Ä/Krt;//'/H/A~-Sippen im Gegensatz zu den wiesen-
bewohnenden Parallelformen (nach Sterneck vielleicht durch
Selektion bei der Reinigung des Getreidesaatgutes entstanden) ;
zähe Ährchenachse und Neigung zur Verkümmerung der
Grannen bei dem Getreideunkraut Bronuis secaimus im Gegen-
satz zu dem sonst sehr ähnlichen, wiesenbewohnenden
B. pratensis (commutatus) ; wenig sich öffnende und die
Samen nicht ausstreuende, sondern als Ganzes mit dem Ge-
treide verbreitete Kapselfrucht von Agrostimma Githago,^) die
in dieser Hinsicht bereits an die vielsamigen Schließfrüchte
gewisser Formen des Gartenmohns {Papaver somniferum) und
des Dreschleins [Linum usitatissimtim var. vulgare) erinnert.
5. Heimatlosigkeit: Silene linicola, Cusciila Epilinnm,
die nur als Unkräuter in den Feldern des (wildwachsend un-
bekannten) angebauten Flachses angetroffen werden.
In den Rahmen dieser Betrachtungsweise fügt sich nun
ausgezeichnet als neues Beispiel die Feststellung von Vavi-
low, daß in Südwestasien eine Roggenform mit zäher Ähren-
achse als Getreideunkraut auftritt. Daß diese Form in manchen
Fällen als direktes Ausgangsmaterial für die Roggenkultur
gedient haben mag, soll nicht in Abrede gestellt werden;
unrichtig ist es aber nach meiner Meinung, diese offenbar
unter dem unbeabsichtigten Kultureintlufi des Menschen ab-
geänderte Pflanze als eine eigentliche, von Secaie montanttm
spezifisch verschiedene Wildform aufzufassen. Ebenso un-
wahrscheinlich ist für mich das von R. Regel angegebene
Vorkommen einer wirklich wilden, sechszeiligen Gerstenform
mit zäher Ährenspindel in Transkaukasien. Über die Frage
der Abstammung des Hafers wird man erneut diskutieren
können, wenn einmal über die von Vavilow angenommene
Wildform positive Angaben vorhanden sein werden anstatt
der heute einzig vorliegenden, ziemlich apodiktisch klingenden
Behauptung, daß Avena fatua nicht die wilde Stammform
der A, sativa sei.
Zur Vermeidung jeglicher Mißverständnisse hebe ich aus-
drücklich hervor, daß ich die Beobachtungen der genannten
russischen Forscher als äußerst wertvoll hoch schätze, dafi
ich aber den daraus gezogenen Schlußfolgerungen nicht bei-
zupflichten vermag. A. Thellung (Zürich).
Über die Bedingungen der Blütenbildung bei Elodeen.
Im August 1917 berichtete ich zum ersten Male, daß die
Blüten meiner kultivierten Elodea densa hinter den Angaben
aller Diagnosen in der Größe nicht unerheblich zurückge-
blieben seien. Meine Vermutungen, die sich auf anatomische
und morphologische Untersuchungen stützten (worüber ich in
Abh. Nat. Ver. Bremen Bd. X.\IV, i p. 121— 28 Aufschluß
gab), bewegten sich in der Hauptsache dahin, daß die auf-
fallende Kälte des Winters 1917 auf die Entwicklung der
Kronblätter hemmend eingewirkt habe. Zur weiteren Nach-
prüfung war ich gezwungen, die Bedingungen zu finden, unter
denen Blütenentwicklung erzielt wird. Da sie sicher von all-
gemeinerem Interesse für die Physiologie sowohl, als auch
für die e-xperimentelle Organographie sind, seien meine bis-
herigen Ergebnisse mitgeteilt. Etwas Abgeschlossenes zu
liefern, erlaubt auch heute noch nicht der Stand unserer
Kenntnisse.
In den Sommern 1918 und 1919 erhielt ich keine Blüten,
auch 1920 nur ganz wenige. Nun habe ich — merkwürdiger-
weise wiederum nach einem ziemlich strengen und langen
Winter — nach Überschlagen des vorigen Jahres jetzt zahl-
reiche Sprosse, zum Teil an verschiedenen Stellen, zur Bildung
der Blütenstände anzuregen vermocht. Der Eifolg scheint also
die von mir gegebenen Bedingungen als die richtigen zu er-
weisen.
Es ist eine altbekannte Tatsache, daß zwischen vegeta-
tivem Wachstum und Blütenbildung ein gewisser Gegen-
satz besteht, der bei vielen Pflanzen auch in der normalen
Entwicklung insofern hervortritt, als die Blütenbildung erst
dann einzutreten pflegt, wenn die Periode des intensivsten
vegetativen Wachstums vorüber ist. Das gilt nach Göbel
(190S) sowohl für einjährige, als auch für ausdauernde Pflan-
zen, die vielfach auch schon durch die Verschiedenheit des
Lebensalters, in dem die Blütenbildung bei verschiedenen
Exemplaren derselben Art einzutreten pflegt, deren Abhängig-
keit von äußeren Bedingungen zeigen.
EloJea gehört zu den Wasser- und Sumpfpflanzen, die im
Wasser zwar ein ungemein üppiges vegetatives Wachstum ent-
falten, aber sehr selten Blüten hervorbringen (Göbel, 1S93,
S. 36g). Allgemein erfordert die Blütenbildung eine höhere
Lichtintensilät als vegetatives Wachstum, so daß von
vornherein für meine Kulturgefäße nur ein heller Standort in
Frage kommen kann. Die geringere Größe der Kronblätter
kann somit kaum auf verminderte Beleuchtung zurückgeführt
werden (vgl. z. B. Vöchting, 1893, S. 149 seq.). Daß in-
dessen die Blütenbildung nicht vom Licht allein abhängt,
zeigen andere Erfahrungen der experimentellen Morphologie.
Ganz unterdrückt wurde sie bei Glechoma von Klebs (1903
und 1906) durch reichliche Wasserzufuhr, gleichmäßige Tem-
peratur und andere möglichst günstige Wachstumsbedingungen,
ebenso durch beständige Stecklingsvermehrung. Zu ähnlichen
oder denselben Ergebnissen kamen andere Autoren, deren
Schriften unten verzeichnet sind. Sollten diese Verhältnisse
bei Elodea erprobt werden, — es stand durchaus nicht fest,
daß sie auf diese Pflanze übertragen werden konnten — so
kam es darauf an, trotz relativ günstiger Beleuchtung, die
unter Umständen das Versuchsergebnis ganz umzustoßen ge-
eignet war und vielleicht vor 2 Jahren auch vollführt hat, die
Pflanzen in den Kulturbecken mit möglichst wenig Wasser
zu versehen,') die Temperatur in weiten Grenzen zu vari-
ieren") und den Kulturen überhaupt möglichst wenig Pflege
angedeihen zu lassen. Kür optimales generatives Wachstum
ist freilich noch mancherlei sonst zu beachten. Benecke
(igo6) zeigte, daß nich t die Quanti tat d er Nährstoffe,
sondern deren Qualität darüber entscheidet, ob , die
Pflanze vegetativ oder fruktifikativ wächst, daß somit die
Frage, ob bloß reicher oder ärmer an Nährstoffen noch falsch
ist. Für optimales vegetatives Wachstum müssen die zur Ver-
') A. Nathansohn, Saisonformen von Agrostemma
Githago L. Jahrb. f. wiss. Bot. LIII, i. Heft (1913), S. 125
bis 153.
•) Göbel weist darauf hin, daß, sobald gewisse Wasser-
pflanzen auf dem Lande zu wachsen gezwungen werden, das
üppige Wachstum (unter ungeschlechtlicher Vermehrung) zu-
rücktritt und die Forlpflanzungsorgane normal entstehen.
*) Dabei waren die Verhältnisse des letzten Winters denk-
bar günstig. Wie H. Müller (1886) annimmt, wäre die
Tatsache, daß die Blüten von Pflanzen, die bei höherer Tem-
peratur getrieben werden, nicht selten ,,s lecken bleiben",
dadurch bedingt, daß die beblätterten Triebe den Blüten-
knospen die Nahrung entzögen. Interessant bleibt, wie auch
bei Holzgewächsen ein längeres Verweilen in der Kälte
die Triebfähigkeit gegen Ende der Ruheperiode fördert (siehe
Friedl Weber in Ber. d. D. Bot. Ges. XXXIX, 1921,
S. 152 f., sowie W. Kinzel, Frost und Licht als beein-
flussende Kräfte bei der Samenkeimung, Nachtrag II, Verlag
E. Ulmer, Stuttgart 1920, 182 S.).
496
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 36
fügung stehenden organischen und anorganischen Nährstoffe
in einem bestimmten gegenseitigen Verhältnis stehen. Wird
das Verhältnis zugunsten der organischen Nährstoffe geändert,
so bewirkt dies nach den bisherigen Erfahrungen eine Hem-
mung des Wachstums und löst gleichzeitig bei
vielen (nicht allen) Pflanzen lil iiten b ild un g aus. In der
Stahlfestschrift (1918) kommt Klebs (dort weitere Literatur-
angaben!) zu dem Ergebnis, daß der blühreife Zustand durch
starkes Überwiegen der C-Assimilation über die Wachstums-
und DissimilatioDsvorgänge erzeugt wird und so lange erhalten
bleibt, wie genügend Mengen von Assimilaten vorhanden sind.
Die Funktion des Lichtes hält er bei der Erreichung der
Blühreife für rein trophisch. Nach A. Mayer (1SS6, S. 261)
führt Anreicherung an Phosphaten, nach Mülle r-T h urgau
(1S95 usw., ebenso in 7ahlreichen landwirtschaftlichen und
gärtnerischen Schriften) Einschränkung der N- Düngung, d. h.
in unserem Fall das Fehlen einer ausgiebigeren tierischen
Lebewelt in den Versuchsbecken und die Verwertung phos-
phatreicher Erden, zur Blütenbildung. Benecke (1902,
■3. 377) meint, daß viele Pflanzen dem N-Mangel abzuhelfen
suchen, indem sie unter Aufgabe ihrer eigenen Existenz für
Nachkommenschaft sorgen (siehe auch Low, 1905 1). Es
bleibt denkbar, daß derartige Eingriffe in die Ernährung der
Versuchspflanzen an der gehemmten Ausbildung der Kron-
blätter wenigstens zum Teil Schuld tragen. Vöchting
(1893, S. 149) berichtet von solchen Erfahrungen. Wenn
seine Beobachtung auch für FJodca Geltung hat, so können
die Kronblätter nicht zu denjenigen Organen der Blüten
zählen, die in normaler Entwicklung die geförderten sind, in-
dem an solchen die Hemmung am geringsten sein müßte. Da
im übrigen die Zahlenverhältnisse der einzelnen BlUtenteile
durch das Experiment nicht beeinflußt wurden (Göbcl, 1SS2,
S. 357), darf den Ernährungsbedingungen kaum die alleinige
Schuld an der geringeren Entwicklung der Kronblätter zuge-
sprochen werden.
Anfangs war ich der Meinung, daß die Beschaffen-
heit des Bodens in den Kulturbecken ohne Einfluß
auf die Entwicklung der Elodeen sei, daß diese vielmehr be-
dingt sei von den im Wasser gelösten Nährstoffen, nahm ich
doch an, daß die Wurzeln der Sprosse nur der Befestigung
im Boden, nicht aber der Aufnahme von Nährstoffen aus
diesem zu dienen hätten. Da fand ich, daß Poud (1903)
gezeigt hatte , daß auch Wasserpflanzen im Wachstum ge-
stört werden, wenn ihren Wurzeln die NährstoiTaufnahme aus
dem festen Substrat nicht gestattet wird. Da die C-Assimi-
lation in den aus dem Boden gerissenen Sprossen ungestört
weitergeht, so stellt sich bei ihnen eine enorme Slärkean-
sammlung in den Blättern ein, die offenbar in solchem Falle
ein Ausdruck für den Mangel an Nährsalzen ist. Ein Ersatz
der Salze des Bodens durch im Medium gelöste ist unmög-
lich ; wenigstens ermöglichten weder die Sachssche, noch die
Knopsche Nährlösung ein optimales Wachstum. Auch Snell
(1908) beobachtete, daß gewisse bewurzelte Wasserpflanzen
die Salze nicht durch die Blätter auinehmen, sondern auf die
Beihilfe der Wurzeln angewiesen sind.') Dahin ist auch
Elodea densa zu rechnen. So glaubt W. Riede (1921) auf
Grund mikrochemischer Methoden über Aufnahme und Fort-
Icitung bestimmter Nährsalze und F'arbstoffe (bes. Kobalt-
papierproben, Ferrocyankaliumlüsung , ferner Versuche mit
Potometern und Druckversuche) entgegen Mayr die Möglich-
keit verneinen zu müssen, daß bei Wasserpflanzen mit Apikal-
öfifnungen aufler der Wurzel auch die Epidermis an der Wasser-
') Bierberg (1909) glaubt für Lemna eine beschränkte
Aufnahmerähigkeit der Salze durch die Blätter festgestellt zu
haben.
aufnähme beteiligt sei. Meine eigenen Versuche, die ich nach
Angaben von Maria Buchholz (1920) mit Trypanblau
unternahm, konnten diese Ergebnisse nur bestätigen.
Die oben entwickelten Bedingungen: — heller Ort
für die Kultur, möglichst wenig Wasser, stark
wechselnde Temperatur, wenig Pflege, kein Ab-
trennen von Stecklingen, wenig tierische Be-
wohner, endlich möglichst p h o s p h a t r e i c h e
Gartenerde mit Sand gemischt — lieferten, wie er-
wähnt, zahlreiche Blütensprosse, die ohne Ausnahme zu 3 aus
einer Spatha kamen und sämtlich aus cf' Blüten bestanden,
deren Kronblätter fast durchweg ein wenig gegen die Maß-
angaben der Diagnosen zurückblieben. Besonders gilt das für
die ersten von mir in diesem Jahr gesammelten Blüten, die
ich am 7. Juni feststellte. Ich glaube, wenigstens die
wichtigsten Bedingungen zur Züchtung von Blüten an Elo-
deen gefunden zu haben, und möchte nur recht vielen Lesern
raten, wenn angängig die Versuche unter denselben oder
ähnlichen Bedingungen zu wiederholen.
Dr. Pfeiffer, Bremen.
Wichtigste Literatur.
Benecke in Schrift, d. Naturw. Ver. für Schleswig-
Holstein, XII, 1902.
Benecke, Einige Bemerk, über Beding, d. Blühens u.
Frucht, d. Gew. Bot. Zeitg. LXIV, 2. Abt., 1906.
Bierberg in Flora, XCIX, 1909.
Mar. Buch holz in Flora, N. F. XIV, 1920.
Di eis, Jugendformen und Blütenreife im Pflanzenreich.
Berlin 1906.
H. Fischer, Über Blütenbildg. in ihrer Abhängigk. usw.
Flora XCIV, 1904.
Göbel in Bot. Zeitg. XL, 1882.
Göbel, Pflanzenbiolog. Schilderungen, II. Marburg 1893.
Göbel, Organographie d. Pfl., 11. Jena 1901.
Göbel, Einleitung in die experiment. Morphol. d. Pfl.
Leipzig u. Berlin 1908.
Klebs, Willkürliche Entwicklungsänder. b. Pfl. Jena 1903.
Klebs, Über künstl. Metamorphosen, Abh. naturf. Ges.
Halle XXV, 1906.
Klebs, Über Blütenbildung von Sempervivum. Flora,
N. F. XI/XIl, 1918.
Lindemuth, Über Samenbildg. an abgeschnitt. Bluten-
stand, usw. Ber. d. D. Bot. Ges. XIV, 1896.
Low, Über Stickstoffentziehung u. Blütenbildg. Flora XCV,
1905.
A. Mayer, Agrikulturchemie. 3. Aufl. 1886.
Möbius, Beitr. zur Lehre von der Fortpflanz, d. Gew.
Jena 1897.
H. Müller, Beitrag z. Erkl. d. Ruheperiode d. Pfl.
Landwirtsch. Jahrb. 1886.
Müller-Thurgau, 3. Jahresber. d. deutsch-schweiz.
Vcrsuchsstat. Wärensweil 1895, 4. Jahresber. 1896 usw.
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substratum. U. S. Fish Comm. report 1903.
W.Riede, Untersuch, über Wasserpfl. Flora CXIV, 1921.
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Vöchting, Organbildg. im Pflanzenreich, II. Bonn 1SS4.
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Anleg. d Blut. Pringsh. Jahrb. f. wiss. Bot. XXV, 1893.
Vöchting in Ber. d. D. Bot. Ges. XVI, 1898.
W a 1 s t e r , Formative effect of high and low temperature
upon growth of barley, a chemical correlation. Botan.
Gaz, LIX, 1920.
Inhalt: W. Goetsch, Beiträge zur Relativität der Individuen. (4 Abb.) S. 481. L. Henkel, Über den Einfluß der
Erdumdrehung auf den Bau von Flußbetten. S. 4S5. — Einzelbericbte: R. Wettstein, Die Verwertung der Mendel-
schen Spaltungsgesetze für die Deutung von Artbastarden. S. 4S7. E. M e 1 i n , Bolelas-Antn als Mykorrhizenpilze der Wald-
bäume. S. 4S8. IL B in d e ma n n , Neue Verdunstungsmessungen an Binnenseen. S. 488. H. Wieland und R. Alles,
Über den Giftstofl' der Kröte. S. 490. — Bücherbesprechungen; P. Klaut ke, Nutzpflanzen und Nutztiere Chinas.
S. 491. J. Stoklasa, Über die Verbreitung des Aluminiums in der Natur und seine Bedeutung beim Bau- und Be-
triebsstoffwechscl der Pflanzen. S. 492. Fr. Dannemann, Aus der Werkstatt großer Forscher. S. 493. — Anregungen
und Antworten : Über den Ursprung der Getreidearten. S. 494. Über die Bedingungen der Blütenbildung bei Elodeen. S. 495.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten,
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'ichen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H,, Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den lo. September 1922. Nummer 37.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
[Nachdruck verboten. 1
Ein neues Uhrenparadoxon.
Von K. Vogtlierr, München.
Das sog. „Uhrenparadoxon" bildet be-
kanntlich ein Streitobjekt zwischen Anhängern
und Gegnern der Relativitätstheorie. ^) Die Gegner
behaupten, daß von zwei Uhren , welche nach
ausgeführter hin- und hergehender Relativbe-
wegung auf der X-Achse nebeneinander sich wie-
der in Ruhe befinden, jede gegenüber der anderen
nachgehen müsse, denn von jedem der als gleich-
wertig anzusehenden Systeme aus könne ja eine
andere Uhr als bewegt gelten und bewegte Uhren
haben nach der Relativitätstheorie bekanntlich
einen langsameren Gang als ruhende. Das führe
aber entweder zum logischen Widerspruch oder
zur Aufhebung des bisherigen Wirklichkeitsbegriffs,
nach welchem die Beobachtungen verschiedener
beobachtender Subjekte auf eine objektive raum-
zeitliche Körperwelt sich beziehen lassen. Die
Anhänger der Theorie behaupten, daß die ge-
zogenen Schlüsse nicht gültig seien, weil (bei Be-
ginn, Umkehr und Ende der Bewegung) Beschleu-
nigungen im Spiele wären und Einstein selbst
kommt zu dem Ergebnis, daß nach der allge-
meinen Relativitätstheorie wegen der Wirksamkeit
des Unterschiedes im Gravitationspotential , die
eine Uhr von jedem Standpunkt aus gegenüber
der anderen um den gleichen Betrag nachgehen
müsse.
Wir wollen hier diese Streitfrage auf sich be-
ruhen lassen, da sich ein Uhrenparadoxon auf-
stellen läßt, das ohne jedes Hereinspielen von Be-
schleunigungen zu einem gleichfalls für die Relativi-
tätstheorie belastenden Ergebnis führt. Man läßt
in dem angeführten Uhrenparadoxon wohl des-
halb die Uhren nach ausgeführter Bewegung zu-
einander ruhen, damit die Beobachtungen an bei-
den Uhren unter gleichen Umständen erfolgen
sollen. Nun ist dies aber streng genommen nicht
der Fall, denn jeder der beiden Beobachter stellt
fest, daß die für ihn bewegt gewesene Uhr,
d. h. diejenige Uhr, welche ihm gegenüber eine
Relativbewegung ausgeführt hat, nachgeht, die
andere, nicht bewegt gewesene, nicht. Hat man
dies eingesehen, so findet man das Paradoxon
an ruhenden Uhren um nichts verwunderlicher,
als das Verhalten bewegter Uhren, welches nach
der Theorie statthaben soll, nämlich daß von zwei
zueinander geradlinig- gleichförmig bewegten Uhren
jede gegenüber der anderen langsamer geht, weil
ja jede gegenüber der anderen eine Relativbewegung
ausführt. Dies merkwürdige Verhalten der Uhren
wird auch von bekannten Anhängern der Rela-
tivitätstheorie ohne weiteres zugegeben. So sagt
J. Petzoldt:') „Wir müssen uns daher ganz klar
darüber sein, daß die Theorie prinzipiell nicht nur
zuläßt, sondern fordert, daß zwei gegeneinander
bewegte Beobachter an „ein und derselben" Uhr
gleichzeitig verschiedene Zeigerstellungen sehen
und tasten würden, daß für den einen etwa „die-
selbe" Uhr für Auge und Hand 10 Uhr zeigt, an
der der andere gleichzeitig, d. h. im Moment des
Vorübergleitens 7 Uhr 30 Min. ablesen und ab-
tasten würde, während er an seiner eigenen Uhr
auch 10 Uhr abliest, die nun aber wieder für den
ersten 7 Uhr 30 zeigt."
Die Relativisten finden, wie es scheint, dies
Verhalten der Uhren ganz in der Ordnung. In
dem angeführten Zitat findet sich jedoch ein
Wort, das sie eigentlich beunruhigen müßte, näm-
lich das Wort „gleichzeitig". Es ist außerordent-
lich interessant, daß hier ein überzeugter Relati-
vist zwei Beobachter in verschiedenen Systemen,
deren jedes doch seine besondere Zeit haben soll,
„gleichzeitig" Beobachtungen machen läßt. Es
scheint also die absolute Zeit, die doch ein glück-
lich überwundenes Vorurteil der Vergangenheit
ist, sogar in relativistischen Köpfen zuweilen noch
ihren Spuk zu treiben. Die vorliegende Unstim-
migkeit verdient jedoch, wie das Resultat zeigen
wird, eine ernsthafte Behandlung und wir fragen
uns daher: wie ist der Sachverhalt, wenn man
ihn unter die Lupe einer streng logischen Analyse
nimmt ?
Es wird in dem betrachteten Paradoxon an
bewegten Uhren, wie es uns J. Petzoldt schil-
dert, von den beiderseitigen Wahrnehmungen der
beobachtenden Subjekte im Moment ihrer Be-
gegnung gesprochen.'^) Zwei Subjekte können sich
aber ebenso wie zwei Körper nur dann begegnen,
wenn sie gleichzeitig am gleichen Orte sind, also
in demselben Augenblick an demselben Orte. Be-
') Siehe „Naturwissenschaften" 1918, S. 697 und die
Kontroverse E. Gehrcke und H. Thirring, ebenda 1921,
S. 209, 482, 550.
') Die Stellung der Relativitätstheorie in der geistigen
Entwicklung der Menschheit. Dresden 1921, S. 104.
'') Es handelt sich hier darum, die Aussagen zweier wahr-
nehmender Subjekte über denselben körperlichen Gegenstand
in eine widerspruchslose Beziehung zu bringen oder ihren
Widerspruch aufzudecken. Zu diesem Zwecke muß bekannt
sein, von wo aus die Beobachtungen gemacht werden, d. h.
man muß den Subjekten einen Ort im Räume anweisen, an
welchem sie ihren Sitz haben. Es ist dies der Ort der per-
zipierenden Sinnesorgane. Deshalb sei es erlaubt, in diesem
Zusammenhang kurz von einer Begegnung der Subjekte zu
reden, während es genauer heißen muß ; Begegnung zweier
Körper, welche Sitz beobachtender Subjekte sind.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
gegnung setzt Gleichzeitigkeit in diesem Sinne voraus.
Nimmt aber jedes der beobachtenden Subjekte
nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit
der subjektiven Systemwelt des anderen beobach-
tenden Subjekts wahr (wie es der Fall ist, da ja
nicht nur der Uhrengang, sondern jedes raum-
zeitliche Geschehen in dem bewegten System
sich verlangsamt) so kann es innerhalb der
Systemzeiten für beide Subjekte keine
Gleichzeitigkeit in obigem Sinne geben,
die vielmehr nur durch die in der Relativitäts-
theorie abgeschaffte absolute Zeit denkbar wäre.
Da also für die beobachtenden Subjekte
eine gemeinsam gültige Gleichzeitig-
keit nicht existiert, so ist auch eine
Begegnung für sie unmöglich, denn
Begegnung setzt Gleichzeitigkeit
voraus. Die Unmöglichkeit ihrer Be-
gegnung folgt unmittelbar aus der
„Relativität der Zeit." Hat jedes der be-
obachtenden Subjekte seine eigene Zeit, so gibt
es offenbar für sie keine Begegnung (es kann nur
das eine Subjekt dem Körper des anderen be-
gegnen), da die Begegnung zweier Subjekte, ebenso
wie die zweier Körper nur in einer Einheit der
Zeit (und des Raumes), in der sich beide befinden,
zu denken ist.') Gibt es aber keine Begegnung
der beobachtenden Subjekte, so kann es selbst-
verständlich auch nicht erlaubt sein, von ihren
beiderseitigen Wahrnehmungen an demselben
Gegenstand während ihrer Begegnung zu reden
und es kann ferner der menschliche Kör-
per, welchem sich der eine Beobachter bei der
Begegnung gegenübersieht, nicht Sitz eines be-
obachtenden Subjekts sein. Man sieht hier deut-
lich, daß die Relativitätstheorie erkenntnistheore-
tisch auf eine Art Solipsismus hinausläuft, wie
dies E. Gercke schon 1914 (in Verfolgung eines
anderen Gedankenganges) hervorgehoben hat. ")
Mancher wird vielleicht diese Überlegungen
zu abstrakt und deshalb wenig überzeugend fin-
den. Es ist deshalb zur Bekräftigung obiger Aus-
') Daß man in der Relativitätstheorie von einer Begeg-
nung der beobachtenden Subjekte streng genommen nicht
reden kann, und daher auch nicht von deren beiderseitigen
Wahrnehmungen an demselben Objekt während einer Begeg-
nung, geht auch daraus hervor, daß eine Begegnung an einem
bestimmten Ort erfolgen muß. A kann nun aber B nicht an
dem Ort begegnen, wo letztefer sich (von B aus betrachteil
„jetzt" befindet, sondern wo er sich (von B aus betrachtet)
früher befand, und diese beiden Orte können verschiedene
sein, da B sich in der Zwischenzeit in seinem eigenen System,
etwa senkrecht zur X-Achse , fortbewegt haben kann. Die
Begegnung müßte also an verschiedenen Orten erfolgen, was
unmöglich ist.
^) Siehe „Kantstudien" 1914, S. 4S1. Zu diesem Ergebnis
gelangt man auch auf dem Wege folgender einfacher Über-
legung. Bezeichnen wir in dem oben zitierten Beispiele die
Beobachter mit A und B und stellen wir uns auf den Stand-
punkt des A, so ergibt sich : nicht nur auf die eigene Netz-
haut des A muß die mit ihm bewegte Uhr die Zeigerstellung
10 Uhr projizieren, sondern auch auf die Netzhaut des B, so
wie sie im Momente der Begegnung in der Welt des A vor-
handen ist. B nimmt jedoch an dieser Uhr die Zeigerstellung
7 Uhr 30 Min. wahr, also kann der dem A gegenwärtige
Körper des B nicht Sitz des wahrnehmenden Subjekts B sein.
führungen sehr dienlich, daß man auch auf dem
bequemeren Wege eines anschaulichen Gedanken-
experiments zu einem ganz ähnlichen Ergebnis ge-
langen kann. Denken wir uns, genau wie in dem
angeführten Beispiel von J. Petzoldt, einen „ruhen-
den" Beobachter A und einen geradlinig gleichför-
mig bewegten Beobachter B, in dessen Nähe sich
eine mit ihm bewegte Uhr befindet. Die Uhr zeigt
also im Moment der Begegnung beider Beobachter
für A 7 Uhr 30 Min., für B 10 Uhr. ') Nun stecken
wir in das Gehäuse der Uhr eine Dynamitpatrone,
welche durch einen Zündkontakt derart mit den
Zeigern verbunden wird, daß die Zeigerstellung
9 Uhr die Patrone zur Explosion bringt. Lassen
wir nun Uhr und Beobachter wieder in gleicher
Weise sich bewegen, so wird A im Momente
der Begegnung eine Uhr sehen und tasten, die
für B im Momente der Begegnung gar nicht
mehr existiert, weil sie vor einer Stunde in
Atome zerrissen wurde. Entfernt nun A die
Zündvorrichtung während des Vorübergleitens,
so ist in seiner Welt eine Uhr dauernd
vorhanden, die in der Welt des B dau-
ernd nicht vorhanden ist. Es läßt sich
ferner eine Vorrichtung derart denken, daß der
Zündkontakt durch die Hand oder durch einen
Schuß aus einiger Entfernung geschlossen werden
kann , aber auch mit dem Uhrwerk derart ver-
bunden ist, daß nur in der Zeigerstellung 7 Uhr
30 Min. die Explosion erfolgen kann. Löst nun
A während des Vorübergleitens die Explosion
aus, so ist jedenfalls in seiner Welt die Uhr für
alle Zukunft beseitigt. Wie verhält sich aber die
Uhr gegenüber B? Zur Zeit, als die Zeiger-
stellung die Explosion ermöglicht hätte, war sie
noch weit von A entfernt, zur Zeit der Begegnung
mit A stehen die Zeiger auf 10 Uhr, infolgedessen
kann die Explosion nicht mehr erfolgen. „E i n
und dieselbe" Uhr ist also dann umge-
kehrt in der Welt des B dauernd vor-
handen, in der Welt des A dauernd
nicht vorhanden. Man hat es bisher offen-
bar übersehen, daß die Wirkungen des A auf
die mit B bewegten Körper in der Welt des B
ohne Einfluß bleiben müssen. Denn A kann
nur auf die Welt des B wirken, so wie sie
ihm (A) erscheint, also auf die Vergangenheit der
dem B gegenwärtigen Welt; seine Handlungen
kommen also als Wirkungen auf letztere gewisser-
maßen zu spät, denn die Vergangenheit der dem
B subjektiv gegenwärtigen Welt kann nicht mehr
') Um Unklarheiten zu begegnen sei bemerkt, daß wir
hier unter dem Moment der Begegnung beider Beobachter
den Zeitpunkt der Begegnung des einen beobachtenden Sub-
jekts mit dem Körper des anderen Beobachters verstehen
wollen; sonst wäre es nötig eine den Systemzeiten übergeord-
nete absolute Zeit einzuführen, in der die Begegnung der be-
obachtenden Subjekte erfolgen könnte, wie dies ja auch einige
Relativisten ganz unbekümmert tun, wenn sie von gleich-
zeitigen Wahrnehmungen der Beobachter während einer Be-
gegnung reden. Dies würde jedoch auf neue Widerspruche
führen, ohne daß am Ergebnis obiger Ausführungen etwas
geändert würde.
N. F. XXI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
499
geändert werden, und nur diese eigene Vergangen-
heit des B ist für dessen Gegenwart und Zukunft
maßgebend.*) Dieser eine Körper, der in der Welt
des einen Beobachters allein dauernd vorhanden
ist, kann aber Anfangsglied einer unabsehbaren
Kette weiterer Veränderungen sein, die alle nur
in der Welt des einen Beobachters vor sich gehen.
Er kann als „kleine Ursache" „große Wirkungen"
entfalten. Es ist ohne weiteres einzusehen, daß
auf diese Weise die subjektiven Systemwelten im
Laufe des Geschehens immer mehr den Zusammen-
hang verlieren müssen und daß die Erscheinungen
in ihnen schließlich nicht mehr auf eine ihnen
zugrunde liegende gemeinsame Wirklichkeit ge
setzmäßig bezogen werden können. An die Stelle
der einen objektiven Natur treten die subjektiven
„Standpunktswelten", zwischen denen es letzten
Endes keine gesetzmäßigen Beziehungen mehr gibt.
Die Welt des einen Beobachters hat mit der des
anderen nichts mehr zu schaffen und die kunst-
vollsten Transformationsformeln können daran
nichts ändern.
So sind wir durch das angeführte Gedanken-
experiment zu einem Ergebnis gelangt, das mit
dem auf rein logischem Wege abgeleiteten im Hin-
weis auf den Solipsismus übereinstimmt, und wir
erkennen die abgrundtiefe Kluft, welche die Rela-
tivitätstheorie von der bisherigen Naturforschung
trennt. Gerade darin besteht ja die Aufgabe zu-
nächst des alltäglichen Verstandesgebrauches und
weiterhin des naturwissenschaftlichen Denkens eine
') Man kann übrigens diese ganze Betrachtung auch ohne
Erwähnung von bewegten Beobachtern durchführen und so
vereinfachen. Es genügt, sich im einen System die wie oben
eingerichtete Uhr, im anderen System einen Haken zu denken,
welcher im Momente des Vorbeigleitens die zur Zündung
dienende elektrische Leitung durchreißt. Im System des
Hakens ist die Uhr bewegt , geht infolgedessen langsamer
und ist noch nicht explodiert, wenn dieser die Zündvorrich-
tung außer Funktion setzt. Im anderen System ist die Uhr
ruhend, geht rascher und die Explosion erfolgt, bevor die
Begegnung mit dem Haken stattfindet. Es ist dann im einen
System die Uhr dauernd vorhanden, im anderen dauernd nicht
mehr vorhanden. Das Beispiel läßt sich natürlich beliebig
variieren, z. B. ein Pulverfaß mit brennender Zündschnur im
einen und eine Löschvorrichtung im anderen System, oder
ein Verbrecher, dem ein Einbruchsdiebstahl glückt, im einen
System, und der herbeieilende Schutzmann, welcher ihn noch
rechtzeitig vertreibt, im anderen System, usw. — Aus den
Beispielen ergibt sich als Verallgemeinerung folgendes: vom
System a aus betrachtet kann dieses auf das System b Wir-
kungen ausüben. Vom System b aus betrachtet müssen aber
diese Wirkungen ungeschehen bleiben, da sie nicht die Gegen-
wart, sondern die Vergangenheit der Zustände des Systems b
treffen und was geschehen ist natürlich nicht mehr geändert
werden kann.
von den subjektiven Täuschungen befreite, objektive,
für alle erkennenden Subjekte gültige Körperwelt zu
konstruieren. In dieser objektiv gültigen Welt exi-
stiert z. B. ein Würfel von 5 cm Seitenlänge und
dieser Würfel ist für alle beobachtenden Subjekte
„derselbe" Würfel mit den gleichen Bestimmungen,
obwohl er jedem Beobachter je nach der Per-
spektive in anderer Form und je nach der Ent-
fernung in anderer Größe erscheint. Und wissen-
schaftlich hat das farbige Licht für einen Farben-
blinden die gleiche Farbe, wie für einen Normal-
sichtigen, nämlich eine ganz bestimmte Wellen-
länge. Diese Herausarbeitung der objektiven
Wirklichkeit aus den subjektiv wechselnden Er-
scheinungen ist aber nur möglich durch
einen einzigen für alle Subjekte gülti-
gen Raum und eine einzige Zeit, also
durch einen absoluten Raum *) und eine absolute
Zeit. Durch die ,, Relativierung der Zeit" führt
die Relativitätstheorie unweigerlich zum extrem-
sten Subjektivismus. Nur in dem, was ein
einzelner Beobachter wahrnimmt, ist
sie widerspruchslos durchführbar. So-
bald jedoch die Wahrnehmungen verschieden be-
wegter Beobachter in ein System gebracht werden
sollen, wird man gewahr, daß dies unmöglich ist,
weil jeder derselben in einer anderen Zeit und
infolgedessen in einer anderen Welt lebt, und
weil ihre subjektiven räum - zeitlichen Erlebnisse
letzten Endes keinerlei Zusammenhang mehr mit-
einander haben. Jeder der verschiedenen Be-
obachter lebt also als Leibnizsche fensterlose
Monade. Denn nur durch eine Einheit des Raumes
und der Zeit in allen bewegten Systemen und für
alle beobachtenden Subjekte ist die Beziehung
der verschiedenen subjektiven Erscheinungswelten
auf eine ihnen übergeordnete Wirklichkeit denk-
bar, und auch die Transformationsgleichungen
haben, wenn sie Aussagen über die gesetzmäßige
Beziehung zwischen den subjektiven System-
welten machen wollen, eine Einheit des Raumes
und der Zeit, also absoluten Raum und absolute
Zeit, zur unbedingten Voraussetzung. Wird nur
eines von beiden angetastet, so muß nicht nur
die eine objektive Natur der Theorie geopfert
werden, sondern es verschwindet auch jede denk-
bare IVIöglichkeit einer Gesetzmäßigkeit zwischen
den subjektiven „Standpunktswelten".
') Der absolute, d. h. für alle Subjekte in gleicher Weise
gültige Raum schließt die Relativität der Bewegung nicht aus.
Wirkliche Bewegung kann stets nur Bewegung eines Körpers
gegenüber anderen Körpern sein.
Tom Einfluß der Kriege auf die PflanzenTerteiluuj
[Nachdruck verboten,] Von E. SchaloW, Breslau.
Unter den 1907 Gefaßpflanzen, die nach mischen Pflanzenbestandes
Theodor Schübe bisher in Schlesien beob-
achtet wurden, befinden sich insgesamt 378 Ad-
ventivpflanzen, also Ankömmlinge aus fremden
Ländern.*) Das sind fast 20 "/o des gesamten hei-
Dabei sind die schon
') Vgl. Th. Schübe, Flora von Schlesien. Breslau
1904. — Inzwischen sind schon wieder eine große Zahl neuer
Adventivpflanzen hinzugekommen, und andere haben sich in
den letzten Jahren derartig ausgebreitet, daß sie jetzt als ein-
5öö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
seit der prähistorischen Zeit bei uns vorkommenden
Unkräuter (Archäophyten), wie z. B. Centaiirea
Cyanus, Agrosteimna Githago, Stdlaria viedia,
Lolium temulentum u. a. schon den ursprüng-
lichen Gewächsen zugezählt worden. Von den
378 Adventivpflanzen sind nach den zuverlässigen
Angaben von Th. Schübe mindestens 87 bereits
als völlig eingebürgert zu betrachten. Ähnlich
dürften auch die Verhältnisse in den übrigen
deutschen Landschaften wie überhaupt in allen
Kulturländern liegen. Schon diese wenigen Zahlen
lassen deutlich den tiefgehenden Einfluß des
Menschen auf unsere heimatliche Pflanzendecke
erkennen. Durch die regen wechselseitigen
Handelsbeziehungen der Länder haben die meisten
der fremden Elemente bei uns Eingang gefunden
und in nicht wenigen Fällen ist es ihnen auch
möglich gewesen, den Wettkampf mit unseren
einheimischen Arten erfolgreich aufzunehmen.
Doch nicht bloß durch den friedlichen Güter-
austausch der Völker untereinander sind unserer
Flora neue Bestandteile zugeführt worden, sondern
auch die kriegerischen Unternehmungen der Völker
haben die Pflanzenverteilung auf der Erde beein-
flußt, indem sie die Ausbreitung der Adventiv-
pflanzen nicht unwesentlich begünstigten, und in
zahlreichen Fällen hat durch fremde Truppen
auch eine Bereicherung der einzelnen Landes-
floren an Adventivpflanzen stattgefunden. Im
folgenden soll nun zusammengestellt werden, was
über den Einfluß der Kriege auf die Pflanzen-
verteilung bekannt geworden ist. Vollständigkeit
des in Betracht kommenden Beobachtungsmaterials
konnte bei der überaus verstreuten Literatur nicht
erzielt werden. Immerhin hofie ich, alle wich-
tigeren Angaben ausfindig gemacht zu haben.
Inwieweit durch die kriegerischen Ereignisse
der ältesten Zeit die Pflanzendecke der Erde be-
einflußt worden ist, entzieht sich aus leicht be-
greiflichen Gründen unserer genauen Kenntnis.
Während der Römerzeit hat sich allem Anscheine
nach die Ackerröte {Sherardia arvcnsis) in West-
deutschland eingefunden, ebenso wie auch das
Glaskraut {Parietaria officinalis), welches sich
von den Wällen und Mauern der römischen
Kastelle aus weiter verbreitet haben soll.') Im
übrigen lassen sich zur Römerzeit kriegerische
Unternehmungen und friedliche Kolonisation noch
nicht scharf voneinander scheiden. Auch die aus-
gedehnten Wanderzüge germanischer Stämme zur
Völkerwanderungszeit haben ohne Zweifel zu ge-
legentlichen Einschleppungen neuer Pflanzen ge-
führt, wenn uns auch keine Kunde davon über-
kommen ist. Den aus den Steppen Asiens nach
Mitteleuropa hereinbrechenden Hunnen hat man
gebürgert betrachtet werden können. Vgl. hierzu auch meine
Angaben über die wichtigsten Veränderungen im schlesischen
Pflanzenbestandc seit 1900, die ich demnächst an anderer
Stelle geben will.
') Vgl. G. llegi, Illustrierte Flora von Mitteleuropa. —
Diesem reichhaltigen Werk sind auch weiterhin zahlreiche
Angaben entnommen.
die Einschleppung zahlreicher Steppenpflanzen
zugeschrieben. Doch lassen sich für diese An-
nahme ebenfalls noch keine sicheren Unterlagen
erbringen.
So tappen wir auch noch durch das ganze
Mittelalter im Dunkeln. Etwas heller sehen wir
erst, als das Interesse für die umgebende Pflanzen-
welt dazu führte, die freilich zunächst noch dürf-
tigen Kenntnisse von der Verbreitung der Pflanzen
einzelner Gebiete übersichtlich zusammenzufassen.
So gibt uns eine der ältesten bekannten Spezial-
floren überhaupt, die von Johann Thal 1577
niedergeschriebene „Sylva Hercynia", immerhin
recht genaue Auskunft über die damalige Pflanzen-
verbreitung im Harzgebiet.') Es muß nun auf-
fallen, daß Thal in seiner Flora einige allgemeine
Unkräuter, wie Chcnopodimn rubrum, Alyssuvi
calycinuin, Soiccio vulgaris, Airiplex patuluin
noch nicht aufführt, während sie einige Jahrzehnte
später, also nach dem 30jährigen Kriege auch
schon aus dem Harzgebiet bekannt waren. Des-
halb möchte K. Wein, der uns die „Sylva Her-
cynia" in einer gründlichen Studie zugänglich ge-
macht hat, die Einschleppung dieser Unkräuter
ins Harzgebiet den Stürmen des 30jährigen
Krieges zuschreiben ; denn „der schreckliche Reli-
gionskrieg schuf Ruderalplätze in hoher Zahl und
damit Gelegenheiten zur Ansiedlung neuer An-
kömmlinge. Die hin- und herziehenden Kriegs-
völker mit ihrem unendlichen Trosse mußten
natürlich die Einwanderung von Ruderalpflanzen
außerordentlich begünstigen". Die Möglichkeit
dieses Zusammenhanges ist ohne weiteres zuzu-
geben.
Ablehnen möchte ich aber die Ansicht von
Gustav Rothe (br.), der auch die reichhaltige
Flora der bekannten Tartarenschanze bei Pristram
im Kreise Nimptsch auf die Verschleppung durch
fremdes Kriegsvolk während des 30jährigen
Krieges zurückführt. Zum Pflanzenbestand der
Tartarenschanze gehört neben Carcx MicJirln,
Vcrbascum pliocin'cfum, Ccrasfiuin bracliypetaluni
und anderen pontischen Gewächsen auch Carcx
■pediforniis, ein Riedgras, das im nördlichen Europa
und in Nordasien zuhause ist. Wie sollte nun
diese Pflanze nach Schlesien gelangt sein? Eine
Einschleppung aus ihrer nordöstlichen Heimat
durch fremdes Kriegsvolk kann für diese Pflanze
gar nicht in Betracht kommen. Ich habe deshalb
die Reichaltigkeit der Pristramer Schanze an
interessanten Pflanzen auf andere Weise zu er-
klären versucht.-) Dagegen kann es wohl als
erwiesen gelten, daß eine unserer ältesten Ad-
ventivpflanzeii, nämlich das syrische Schnabel-
schötchen {Euclidiuut Syriacuvt) durch die Türken
während der Belagerung von Wien 1683 im Prater
zur Ansiedlung gelangte (Hegi IV, 463).
') Vgl. K. Wein, Die synanthropen Pflanzen des Harzes.
Beihefte Bot. Zentralbl., Bd. XXIX, 1912, Abt. II.
-) Vgl. E. Schalow, Über die Uezithungen zwischen
der l'tlanzenverbreitung und den ältesten Siedeiungsstätten im
mittelsten Schlesien. Engl. Bot. Jahrb., Bd. 57.
N. F. XXI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
501
Sichere, unanfechtbare Beobachtungstatsachen
über Kriegseinwirkungen auf die Adventivflora
liegen erst aus dem 19. Jahrhundert, aus der un-
ruhigen Napoleonischen Zeit vor. Französische
Truppen überschwemmten damals nicht nur Ita-
lien, Österreich und die deutschen Lande, sondern
der ehrgeizige Machtwille Napoleon I. führte
seine Heere sogar tief nach Rußland hinein.
Schon vor 1800 wurde die aus Asien stammende
Radmelde {Kocliia scoparid) durch Militärtrans-
porte in Tirol eingeschleppt (Hegi III, 251) und
an den Lagerstätten der österreichischen Truppen
um Regensburg tauchten ijgj Si'syiiibriinii ptuiiiu-
nicniii Jacq. (= S. al/issiinuin L.), LepiJiiiin laii-
foliu}ii und L. Draba auf, die bisher aus der
Regensburger Flora nicht bekannt waren.') In
Westdeutschland erinnerte noch nach Jahrzehnten
das häufige Auftreten des begrannten Ruchgrases
{Aiitlwxaiithum aristatiini) an die einstige fran-
zösische Besetzung, und auch das Knopfkraut
[Galinsoga parviflord) fand durch die französischen
Truppen weitgehende Förderung bei seiner Aus-
breitung. In Ostpreußen trat diese aus Südame-
rika stammende Pflanze sicherlich erst 1807 nach
deip Durchmarsch der Franzosen auf.-) Deshalb
mag sie wohl stellenweise heute noch den Namen
„Franzosenkraut" führen. Die steil zum Himmel
aufragenden Pyramidenpappeln mit ihren meist
verdorrten Gipfeln mahnen uns noch heute an
jene trübe Zeit; denn es ist ja bekannt, daß
Napoleon I. an den zahlreichen neu angelegten
Heerstraßen mit Vorliebe Pyramidenpappeln an-
pflanzen ließ (Hegi III, 64).
Der Brand von Moskau wurde sodann das
leuchtende Zeichen einer neuen Zeit. Die fran-
zösischen Heeresmassen fluteten wieder heimwärts
und ihnen folgten russische Truppen westwärts.
Auf den Ruinen des abgebrannten Moskau machte
sich inzwischen Sisyinbyiinn altissiimtm breit
(Hegi IV, 178). Während der Befreiungskriege
wurden vor allem durch die Reiterscharen der
Kosaken südrussische Pflanzen wohl meist ver-
mittels des Pferdefutters weit nach Westen ver-
schleppt. So zeigte sich 18 14 bei Breslau das
südosteuropäische Gras Beckmaiuiia erncaeformis,
dessen Erscheinen ich gleichfalls mit den Kriegs-
verhältnissen in Verbindung bringen möchte.
Auch das Vorkommen der aus den Kaukasus-
ländern stammenden großblütigen Katzenminze
{Nepeta graiidiflorä) bei Poischwitz im Kreise
Jauer wurde von Hugo Schmidt auf die Ein-
schleppung durch russische Kriegsvölker zurück-
geführt.^) Nach H. Schmidt soll die Ansiedlung
dieser Pflanze folgendermaßen vor sich gegangen
') Vgl. Otto Sendtner, Die Vegetationsverhältnisse
Südbayerns. München 1854. S. 5S5.
^) Vgl. R. Hubert, Über einige seit Beginn der Er-
forschung unserer einheimischen Hera neu ins Gebiet ein-
gewanderte . . . Pflanzen. Schriften der Phys. ökon. Gesellsch.
zu Königsberg. 19 10.
') Vgl. H. Schmidt, Ein Vegetationsbild aus dem
schlesischen Vorgebirge. Deutsche bot. Monatsschrift. XXI.
1903.
sein : „Irgendeinem Kosaken des russischen Heeres
von 18 13 fiel es anno dazumal ein, seinem aus
der Heimat mitgebrachten Futtersack am Dorf-
wege einmal den Kragen umzudrehen und ihn
einer gründlichen Reinigung zu unterwerfen.
Dabei entfielen demselben ein paar weitgereiste
Fremdlinge und glitten achtlos zu Boden. Ihr
Besitzer hatte von ihrer Existenz gewiß keine
Ahnung und würde sich auch im anderen Falle
um ihren Abschied nicht gegrämt haben. Es
waren ja nur einige winzige Samenkörner. Denen
schien es aber hier in der Fremde trotz der
Kriegswirren zu gefallen ; denn sie keimten und
wuchsen binnen kurzer Zeit zu schmucken Stauden
heran." P"ür das rätselhafte Auftreten dieser süd-
russischen Pflanze im schlesischen Vorgebirge
eine gewiß recht einleuchtende Erklärung. Nur
schade, daß sie nicht fester verbürgt ist. Übrigens
hat diese Pflanze „als stürm- und wetterfestes
Kind großer Zeit" ihren Platz siegreich bis in
die jüngste Zeit behauptet. Zweifellos durch
Kosaken ist das osteuropäisch - westasiatische
Corispcrmum Marscliallü auf einer Düne bei
Oftersheim unweit Schwetzingen in Baden zur
Ansiedlung gelangt. In diesem Falle ist der Zu-
sammenhang offensichtlich, da einwandsfrei er-
wiesen ist, daß ein Kosakentrupp auf der Düne
kampiert hat. Corispeniiitin Mayscliallii hat sich
auf dem lockeren Sande der Oftersheimer Düne
völlig einbürgern und weiter ausbreiten können.')
Selbst noch die französische Adventivflora ist
1814/15 durch die Kosaken beeinflußt worden.
An verschiedenen Orten, wo Kosaken gelagert
hatten, zeigten sich später südrussische Unkräuter.
Das Zackenschötchen {Bunias orioitalis) war bis
1860 bei Paris völlig heimisch geworden.')
Ehe wir zum Deutsch ■ französischen Kriege
1870/71 übergehen, müssen wir noch die Ein-
schleppung der Spitzklette {Xa)ithium spinosit»/)
in die Walachei erwähnen, die 1828 durch rus-
sische Truppen erfolgt sein soll. Die Schweife
und Mähnenhaare der Kosakenpferde sollen von
den stacheligen Scheinfrüchten dicht behangen
gewesen sein (Hegi VI, 12).
Während des Deutsch - französischen Krieges
waren es vornehmlich die nordafrikanischen Hilfs-
truppen, die neue Gewächse in Frankreich ein-
schleppten. Um Paris zeigte sich damals eine
ganz charakteristische Gemeinschaft verschiedener
Adventivpflanzen, die sogenannte Belagerungsflora
(,,Florula obsidionalis"), zumeist aus algerischen
und südfranzösischen Futterpflanzen bestehend.^)
Zu dieser Belagerungsflora gehörten u. a. Diplo-
taxis erucoides (L.) D. C, Erucastrum incana
') Vgl. Friedrich Zimmermann, Die Adventiv- und
Ruderalflora von Mannheim. 1907. S. 24.
'-) Vgl. A. T hellung, Pflanzenwanderungen unter dem
Einfluö des Menschen. Ber. freie Vereinig, f. Pflanzengeo-
graphie u. systemat. Botanik. 1915. — Auf desselben Verf.
Abhandlung über „Stratiobotanik" (in Vierteljahrsschrift der
Naturf. Ges. Zürich 1917) wurde ich leider erst nach Druck-
legung dieser Zeilen aufmerksam.
') Vgl. A. Thellung a. a. O.
S02
Natunvissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
Koch, Rapisfmm rugosiivi (L.) All. (trat nach
1870 auch vielfach bei Besangon auf), R. pere7ine
(L.) All. (auch mehrfach im übrigen Frankreich),
Eruca sativa Coss., Sisyiiibriiuii Locsclii L. (hat
sich bei Paris bis heute erhalten). Bei Orleans
wurde nicht selten Diplotaxis icmiisiliqua Del,
eine seltene Doppelrauke beobachtet, die durch
algerisches Heu eingeführt wurde. Sogar der
Pflanzenbestand der neutralen Schweiz blieb von
Kriegseinwirkungen nicht unberührt. Im Tal von
Delemont im Jura zeigten sich nach dem Kriege
etwa dreißig neue, der Gegend fremde Adventiv-
pflanzen, wie Erncastnim incana, Coiiringia orien-
talis And. u. a. und zwar an jener Stelle, wo die
Grenzbesatzung Stroh- und Heumagazine errichtet
hatte. An der französischen Grenze zeigte sich
auch vielfach Bertcroa iiicana und Sisymbriitni
Pyrenaiciun (L.) Vill. als Folge der Grenzbeset-
zung (Hegi IV, 172).
Und nun kommen wir zum letzten Weltkriege,
unter dessen furchtbaren Nachwirkungen wir noch
alle leben und zu leiden haben. Die tiefgehenden
Einwirkungen dieses gewaltigen Kriegsgeschehens
auch auf die Pflanzenverbreitung ist bis ins ein-
zelne noch gar nicht genau festgestellt. Die wirt-
schaftliche Not hat leider die botanischen Vereins-
zeitschriften fast zum Erliegen gebracht, so daß
wir über viele Kriegsbeobachtungen vor der Hand
wohl überhaupt nicht unterrichtet werden. Dazu
kommt noch, daß uns die ausländische Literatur
nur schwer zugänglich geworden ist. Immerhin
wollen wir versuchen, die allgemeinen Änderungen,
welche die Pflanzenverbreitung infolge des letzten
Krieges erfahren hat, kurz zu kennzeichnen.
Betrachten wir zunächst die Verhältnisse auf
den eigentlichen Kriegsschauplätzen. Durch eine
beispiellose Verwendung von Sprengstofifen aller
Art wurde die ursprüngliche Pflanzendecke auf
weite Strecken namentlich der engeren Kriegs-
zone stark mitgenommen. Ob auch seltenere
Pflanzen (Naturdenkmäler) dabei vernichtet worden
sind, entzieht sich vorläufig unserer Kenntnis.
Jedenfalls wurde in reichem Maße Neuland ge-
schaffen für die Adventivpflanzen. Die Besiedlung
des offenen Landes mit Unkräutern ist uns von
naturkundigen Kriegsteilnehmern oft genug geschil-
dert worden. Es läßt sich aber noch nicht im
besonderen angeben, welche Unkräuter diese
günstigen Ausbreitungsverhältnisse besonders aus-
genützt haben. Auch weiß man noch nicht, in
welchem Umfange auf den einstigen Kriegsschau-
plätzen Neuansiedler aufgetreten sind. Die vielen
verschiedenartigen Hilfsvölker, welche die Entente
gegen uns aufgeboten hat, haben sicherlich auch
in der Pflanzendecke sichtbare Spuren hinterlassen.
Besonders ist dies von den Indern anzunehmen,
die sogar ihre eigenen Haustiere aus der Heimat
mitführten. Die zu erwartenden Berichte nament-
lich der französischen Floristen dürften gewiß
manche interessante Einzelheit bringen.
Unsere engere deutsche Heimat war zwar nur
ganz vorübergehend unmittelbarer Kriegsschau-
platz, doch machten sich die Kriegsverhältnisse
auch in unserer Adventivflora bemerkbar. Zu-
nächst müssen wir feststellen, daß bei Kriegsaus-
bruch eine völlige Umstellung unseres Wirtschafts-
lebens erfolgte, die bedingt war durch die über
unsere Küsten verhängte Blockade. Infolgedessen
hörte unser Überseehandel mit Amerika so gut
wie ganz auf. Dafür entwickelten sich mit Süd-
osteuropa (Balkanländer, Ukraine) äußerst lebhafte
Handelsbeziehungen , die auch in der Adventiv-
flora ihren Ausdruck fanden. So zeigte sich nach
dem Kriege auf den im Umschlagshafen von
Aken a. d. Elbe aufgestapelten Chromeisenerzen
aus den als Tagebau betriebenen Bergwerken von
Radusche in Mazedonien ein reicher Flor von
zumeist mazedonischen Gewächsen, z. B. Alyssum
murale, Achillea coarctata, Triticum vülosum, Cen-
taurea micrant/ia. Süene faradoxa, Trifolium dal-
maficiim, Ptcrotlicca bifida u. v. a.^) Auch sonst
war die Möglichkeit zur Einschleppung fremder
Samen infolge der Kriegsmaßnahmen in reichem
Maße gegeben. Ich erinnere nur an folgende
Tatsachen. Im Herbst des Jahres 1914 durch-
zogen österreichische Truppen mit ihren Proviant-
kolonnen die östlichen Landesteile. In großen
Lagern waren Gefangene aus aller Herren Länder
vereinigt und bei Görlitz hatten lange Zeit grie-
chische Truppen ein Unterkommen gefunden.
Daß noch nicht mehr Beobachtungen über Be-
reicherungen unserer Adventivflora durch die
Kriegsverhältnisse vorliegen, liegt zum Teil auch
an der strengen Absperrung der in Frage kom-
menden Ortlichkeiten, wie Güterbahnhöfe, Hafen-
gelände, Bahndämme, Gefangenenlager usw. In-
folge geringen Entgegenkommens der Breslauer
Eisenbahndirektion war es selbst nach dem Kriege
noch nicht möglich, die Adventivflora der großen
Breslauer Bahnhofsanlagen genauer zu erkunden.
Infolgedessen wird mancher interessante Fund
übersehen worden sein. Manches ließe sich viel-
leicht noch nachholen, wenn unsere Floristen in
nächster Zeit der Adventivflora erhöhtes Interesse
schenken wollten, damit wir allmählich ein klares
und umfassendes Bild von den Einwirkungen des
Weltkrieges auf unsere Adventivflora gewinnen,
noch ehe die Zeit die Spuren wieder verwischen
sollte.
') Vgl. Paul Schuster, Eine Genossenschaft mazedo-
nischer Pflanzen bei Aken a. d. Elbe. Ferner J. Bornmüller,
Über einen bemerkenswerten Fund aus der Adventivflora von
Aken. Verb. bot. Ver. Prov. Brandenb., 63. Jahrg., 1920/21.
— Siehe auch mein Referat in Naturw. Wochenschr., 1922,
Nr. 19.
N. F. XXI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
503
Einzelberichte.
Neuere astronomische Arbeiten.
Die Physik des Mars. Nachdem der Pla-
net 1909 zum letztenmal in eine sehr günstige
Stellung zur Erde gelangt war und die Beobach-
tungen jenes Jahres für uns sehr wichtig geworden
sind, steht für 1924 eine noch günstigere Mars-
opposition bevor, und die Astrophysiker werden
nicht verfehlen, sie gründlich auszunutzen. Sieht
man nun die neueste Literatur nach dem Stande
des Marsproblems durch, so ist es auffallend, daß
gerade in Deutschland die von dem Schweizer
Ingenieur Adrian Bau mann ausgearbeitete Er-
klärung (Der Planet Mars, Zürich bei Müller,
Werder & Co.) ganz unbekannt zu sein scheint,
obwohl sie von Picke ring, von Cerulli und
anderen hervorragenden Marskennern als die beste
und allseitig befriedigendste Erklärung angesehen
wird. Jedenfalls ist sie als Arbeitshypothese un-
schätzbar und daher für jeden Marsbeobachter
wertvoll. Betrachtet man die Marskarte von
Antoniadi aus dem Jahre 1909, so findet man
darauf gar keine Kanäle, wohl aber eine von
dunklen Massen erfüllte und eine helle Marshälfte.
Diese ist nach B a u m a n n das zugefrorene Mars-
meer, jenes die Festlandshälfte, die in steilen Berg-
zügen zum Meere abfällt. Zwischen den Berg-
ketten sieht man weiße Streifen, die Gletscher.
An manchen Stellen ist die Struktur einer Berg-
kette deutlich zu erkennen. Baumann berech-
net die Wärmemenge, die die eine Marshälfte
bei Sonnennähe und der Schiefe seiner Achse
und der Länge seines Jahres erhält und findet
den Betrag der Sonnenstrahlung sehr erheblich,
so daß die Eismassen des Meeres sich stark er-
wärmen, ausdehnen und so die Kanäle schließen,
die nichts anderes sind als Brüche im Eis, hervor-
gerufen durch Spannungen. Bei zunehmender
Entfernung von der Sonne kühlt sich das Eis ab,
zieht sich zusammen und die Kanäle erscheinen,
im Einklang mit der Beobachtung. Bau mann
legt aber das Hauptgewicht auf die noch heute
vorhandene vulkanische Tätigkeit auf dem Pla-
neten. Die bisweilen auftretenden Dunstmassen,
die weite Flächen des Planeten verschleiern, sind
vulkanischer Staub und Asche, die auftretenden
glänzendweißen Flächen, die obendrein veränder-
lich sind, sind ausgestoßener Dampf, der sich
rings um den Vulkan als Reif und Schnee nieder-
schlägt, langsam wegtaut und so die scheinbaren
Veränderungen der Marsoberfläche hervorruft. Aus
diesen seinen Voraussetzungen vermag Bau mann
alle Beobachtungen auf dem Planeten in einwand-
freier Weise zu erklären und meint, daß die Mars-
forschung für Meteorologie und Klimatologie von
großem Werte sein könnte. Seine Arbeiten sind
von den astronomischen Gesellschaften von vier
fremdsprachigen Ländern aufgenommen, erst vor
kurzem hat die britische astronomische Gesell-
schaft sich eingehend und kritisch damit befaßt,
und es ist zu hofifen, daß die bevorstehende Mars-
opposition neues Material zur Kenntnis des Pla-
neten herbeischaffen wird, und die Baumannsche
Erklärung wird dann zeigen, was sie zu leisten
vermag.
Die Ergebnisse 2 oj ähriger Beobach-
tungen an der Venus faßt Rordame in
Populär Astronomy März 1922 zusammen. Er
hat in dieser Zeit mehrere looo Zeichnungen an-
gefertigt, die fast alle nur die Phase zeigen, einige
haben leuchtende Flecken an den Hörnerspitzen
und eine matter werdende Schattengrenze. In
weniger als 50 Fällen sind deutlich und unzweifel-
haft Flecken gesehen worden und nur in 6 F'ällen
ließ sich eine Bewegung dieser Flecken feststellen.
Jene Flecken sind sehr verwaschen und schwach,
wie es bei der sehr dichten Atmosphäre kein
Wunder ist. Die hellen Stellen an den Polen
lassen auf Ansammlungen von Eis dort schließen.
In den unteren Schichten der sehr dichten Atmo-
sphäre muß sehr viel Wasserdampf vorhanden
sein, die Luftströme werden diesen nach den Polen
tragen, so daß dort größere Schneeflächen ent-
stehen wie bei uns. Vielleicht sehen wir diese
Eis- und Schneefelder nicht direkt wegen der
Dichte der Atmosphäre, aber dann jedenfalls ihren
starken Reflex als helle Flecken. Diese Wolken
verhindern auch das Entstehen von Absorptions-
linien im Venusspektrum, so daß wir die dort
vorkommenden Gase nicht feststellen können.
Zur spektroskopischen Feststellung der Rotation
können nur Tageslichtaufnahmen gebraucht werden,
am besten auf Films. Rordame faßt seine Er-
gebnisse wie folgt zusammen: Die dichte Atmo-
sphäre ist gegen 800 km tief, gerechnet von der
Oberfläche der Wolkenhülle an, nicht von der
des Planeten. Die Wolken selber liegen sehr
hoch. Die feste Oberfläche des Planeten ist fast
nie sichtbar. Er hat eine schnelle Umdrehung,
etwas schneller als die Erde und im gleichen
Sinne, von West nach Ost. Die Neigung der
Achse weicht höchstens 15 Grad von der Verti-
kalen ab.
Hierzu ist es von Wichtigkeit, daß auf dem
Mt. Wilson zwei so ausgezeichnete Beobachter
wie St. John und Nicholson das Venus-
spektrum mit großen Mitteln untersucht haben
zu einer Zeit, wo wegen der gegenseitigen Be-
wegung von Erde und Venus die relative Be-
wegung der Venus so klein war, daß die Venus-
linien sich vollständig von denen der Erdatmo-
sphäre trennten. Unter den Venuslinien war
keine Spur von Wasserdampf und Sauerstofflinien
zu entdecken. Man müßte also meinen, daß
diese beiden Gase sich nur in den unteren
Schichten der Venusatmosphäre finden, unterhalb
der dichten Wolkenhülle, und daß dann andere
Gase darüber lagern wie bei uns die Stickstofif-
atmosphäre und dann die aus Geokoronium nach
der Meinung von Wegen er.
504
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
Slip her berichtet über seine Ergebnisse der
Photographie der Planeten, besonders des
Mars an der Flagstaffsternwarte (Pacific Juni 192 1).
Nötig ist dazu ein starker Refraktor als Kamera,
isochromatische Platten und Farbenfilter. Die
Versuche begannen 1901 und erstrecken sich auf
Mars, Venus, Jupiter und Saturn. 1905 gelangen
die ersten Aufnahmen der Marskanäle. Bei der
außerordentlichen Kleinheit der Fokusbilder ist
eine Vergrößerungslinse in den Strahlengang ein-
zuschalten. Sehr unangenehm ist der Farben-
fehler des Objektivs, das nicht für photographische
Strahlen gerechnet ist. Hier muß man Farben-
filter zu Hilfe nehmen, so daß man das Licht
auf die Platte erhält, für das die Linse geschliffen
ist. Sodann ist die Emulsion dieser Wellenlänge
anzupassen, wozu viele Versuche nötig sind.
Wie genau gearbeitet werden muß, ergibt sich
daraus, daß bei einer Brennweite der Kamera
von 180 Fuß ein Irrtum von '/so F"ß deutlich
zu merken ist. Die Belichtungszeit hängt ganz
von dem Planeten ab, sie ist bei Venus 0,3 Sek.,
bei Mars 1,5 bis 2,5 Sek., bei Jupiter etwa 5 Sek.,
bei Saturn 15 bis 35 Sek. Diese kurzen Zeiten sind
aber oft für die Unruhe der Luft so lang, daß
die Aufnahme mißlingt. Es ist also nach mög-
lichst kurzen Belichtungen zu streben. Diese
setzt eine größere Helligkeit der Bilder, also
deren Verkleinerung voraus, der dann wieder das
Korn der Platte im Wege steht, so daß dies Ver-
fahren auf einen Ausgleich zwischen Maßstab des
Bildes und Belichtungszeit hinauskommt. Bei dem
angewandten System einer äquivalenten Brenn-
weite von 180 Fuß hat man eine Vergrößerung
des Bildes von 200, das ist für den Mars in Erd-
nähe 4 — 6 mal die Größe des Mondes für das
bloße Auge. Es sind gegen 250000 Planeten-
aufnahmen gemacht worden. Wenn auch in ge-
wissen Fällen das Auge Einzelheiten besser wahr-
nimmt wie die Platte, so liegt deren Stärke in
der richtigen gegenseitigen Lage der Objekte auf
der betreffenden Oberfläche. Das tritt besonders
bei Jupiter hervor mit seinen so starken Verände-
rungen. Die Veränderungen des Mars während
des Marsjahres lassen sich dauernd beaufsichtigen,
und Lampland stellt eine große Anzahl Sätze
auf, die photographisch abgeleitet sind. Er
knüpft daran eine Darstellung der Marsphysik,
die Kälte scheint ihm nicht so hoch, wie man
meist angibt, Wasser und Sauerstoff kommen dort
sicher vor, also seien die Bedingungen für orga-
nisches Leben gegeben. Und die Kanäle sollen
auf Vegetation zurückzuführen sein, wie ihre Ver-
änderungen und andere dunkle Stellen beweisen.
Da seiner Meinung nach Pflanzen und Tiere nicht
eins ohne das andere bestehen können und beide
derselben Herkunft seien, so ist ihm auch das
Vorhandensein von Tieren sicher. Damit dürfte
Lampland zwar den Lowellschcn Traditionen
seiner Sternwarte treu geblieben sein, aber in der
Astrophysik allein dastehen.
Die Veröffentlichung Nr. "]•] des Postsdamer
astroph. Observatoriums befaßt sich in zwei Ar-
beiten mit der Geologie des Mondes. Der erste
Teil enthält die Bearbeitung Wilsings früherer
Messungen über das Rückstrahlungsvermögen,
die Albedo, einer größeren Anzahl von Stellen
auf dem Monde, und entsprechend Messungen an
irdischen Gesteinen, deren Verhalten Anhalts-
punkte geben könnte für die dort möglicherweise
vorkommenden Mineralien. Hier diente die Al-
bedo der Kreide als Einheit. Manche Mineralien
gehen dann auf den äußerst niedrigen Betrag von
0,05 bis 0,02 1 herab, wie ein Obsidian vom Hekla.
Auf den Mondphotographien fallen ja die sehr
starken Unterschiede auf, fast schwarze Stellen
neben glänzenden F"lächen. Er ergibt sich auch
die Mondalbedo im ganzen zu 0,073, einzelne
Stellen zu 0,242 und 0,029 '" den Extremen, also
helle Stellen wie Quarzporphyr neben dunkelsten
Laven und Obsidianen. Pickering hat an 60
Stellen die Mondoberfläche gemessen und findet
Helligkeitsunterschiede von 5,5 Größen, das ist
der löofache Betrag. Gelegentliche Messungen
ergaben für Mars die Albedo 0,15, für Jupiter 0,56.
An diese Messungen schließt nun Wilsing eine
Entwicklungsgeschichte des Mondes an, die im
wesentlichen vulkanisch ist. Er sucht für alle
Erscheinungen auf dem Monde parallele Erschei-
nungen in der Geologie der Erde. Insbesondere
verwendet er die sich aus der Beobachtung der
tätigen Vulkane mit den Lavaseen ergebenden
Schlüsse in weitem Maße auf die Entstehung der
Kratergebilde auf dem Mond. Wilsing verhält
sich ablehnend gegen die Meteorfallhypothese, die
darauf beruhende Arbeit von Weg"ener war
noch nicht erschienen. Er zieht neben vulka-
nischen Erscheinungen rein tektonische Vorgänge
in Betracht, wie sie auch in dem zum Vergleich
herangezogenen Nördlinger Ries zutage treten.
Die großen Gebirge werden als Horstgebirge auf-
gefaßt und eine Ähnlichkeit mit den Horsten der
Insel Island festgestellt. Die Entstehung der hellen
Strahlensysteme legt Wilsing in eine sehr frühe
Zeit, vor der Entstehung der anderen Mondge-
bilde. Es sind Begleiterscheinungen der ersten
großen Zentraleruptionen. Ströme sehr heißer
und leichtflüssiger Lava, welche sich über die da-
mals stetig gegen das Zentrum des Ausbruches
ansteigende Mondoberfläche verbreiten konnten.
Auf dieser entstanden dann später die anderen
Gebilde, ohne sie zu zerstören, durch Aufwölbung,
dabei sind dann die Streifen geblieben. Diese
Lavaströme gab es je nach ihrem Gasgehalt ver-
schiedener Art, wie man in Hawaii studieren
kann. Beide haben verschiedene Zusammen-
setzung, und darauf ist die so verschiedene Al-
bedo der hellen und dunklen Flächen zurückzu-
führen. Polarisationsbeobachtungen können da-
rüber vielleicht noch Aufschluß geben, ebenso
Mondaufnahmen mit Farbenfiltern im kurzwelligen
Teil des Spektrums.
Eine Bemerkung zur Lichtgeschwindig-
keit findet sich im Bull Nr. 763 der Harvard-
N. F. XXI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
505
Sternwarte. Im Sternhaufen Messier S finden sich
zahlreiche veränderliche Sterne, deren Lichtkurven
sehr genau bekannt sind. Durch Aufnahme der
photographischen und visuellen Lichtkurve ließ
sich ein etwaiger Unterschied in der Geschwindig-
keit des gelben und des blauen Lichtes feststellen,
indem durch entsprechend farbenempfindliche
Platten die Zeiten der Maxima an 9 Sternen fest-
gestellt wurden. An 12 Sternen wurden die
Unterschiede der Zeiten des größten Lichtes
photographisch und visuell festgestellt. Es stellte
sich heraus, daß bei diesen 21 Sternen ein Zeit-
unterschied nicht festzustellen war. Aus dem
geringen Betrag des wahrscheinlichen Fehlers der
Messungen ergibt sich für Wellenlängen, die um
20 7o verschieden sind, daß diese 40000 Jahre
durch den Raum nebeneinander herlaufen, ohne
mehr als etwa 2 Minuten gegeneinander zu ge-
winnen, falls diese Differenz wirklich reell ist. Die
Geschwindigkeit beider Lichtwellen unterscheidet
sich pro Sekunde um noch nicht 5 cm, das macht
auf der Wanderung im Raum eine Sekunde auf
300 Jahre. Während die Lichtgeschwindigkeit
auf Vi 0 000 bekannt ist, ist der Unterschied der
Geschwindigkeiten für gelb und blau bekannt auf
I zu 10 Billionen. Die große Genauigkeit dieser
Bestimmung kommt von der großen Zahl der be-
obachteten Sterne und dem Abstand von 40 000
Lichtjahren der Lichtquelle von der Erde.
Van Maanen gibt eine Fortsetzung seiner
Untersuchungen über innere Bewegungen
an vier Spiralnebeln (Pop. Astronomy 1921,
August). Die Nebel Messier 101, 33, 51 und 81
sind auf einer größeren Anzahl von Platten auf-
genommen mit längeren Zwischenzeiten. Sie
zeigen gemeinsam dieselbe Art von Bewegungen,
solche der Rotation um den Knoten in der Mitte
und solche der Bewegung der Materie von innen
nach außen längs den Armen. Die Rotation
kommt heraus für Messier loi zu 85000 Jahren,
für 51 zu 45000, für 81 zu 58000 und für 33
zu 160000 Jahren. Bei Messier loi scheint die
innere Bewegung für alle Punkte die gleiche zu
sein, bei den andern mit dem Abstände von der
Mitte nach außen hin zuzunehmen, und zwar ist
der Betrag etwa 40 "/o der Rotationsgeschwindig-
keit. Van Maanen glaubt hier eine Bestätigung
der kosmogonischen Ansichten von Jeans zu
haben. Die anfänglich vorhandene rotierende
Linse unterlag einer Anziehung von außen, die
eine Art Gezeitenwirkung hervorrief. So bilden
sich zwei gegenüberliegende Punkte, diese ziehen
Materie an sich, diese wird in zunehmendem Maße
ausgeworfen und ergibt so die Arme, deren Form
zwar die Analysis nicht berechnen kann, aber die
langen Ströme gasiger Materie müssen der Länge
nach unstabil werden, und danach streben, in
Knoten zu zerfallen. Im Gegensatz dazu neigt
die neuere Forschung dazu, in den Spiralen selb-
ständige Weltgebilde in der Art der Milchstraße
zu sehen.
Über Veränderungen im Krebsnebel
im Stier berichtet Lampland (Pacific, April
1921). Drei veränderliche Nebel waren bisher
bekannt, deren Veränderlichkeit aber ohne Zweifel
mit den zugehörigen Fixsternen zusammenhängt.
Ganz anders ist die dieses Nebels, der seit 1913
unter photographischer Aufsicht steht. Es ist
dabei nötig, immer gleiche Platten, gleiche Be-
lichtungen, Entwicklungszeiten und Entwickler
zu benutzen. Das Material ist am 40 zölligen
Lo well- Refraktor gewonnen, und die Platten sind
mit dem Blinkkomparator verglichen, der mit
einem Blick etwaige Verschiedenheiten zu er-
kennen gestattet. Denn der Krebsnebel ist im
Vergleich zu den drei anderen stark veränder-
lichen ein sehr schwieriges Objekt. Er gleicht
einem Oval, bestehend aus einem groben Netz,
das am Rande stark ausgefasert ist. Die nähere
Prüfung der Bilder zeigt nun, daß das Gebilde
in mehrere Flächen zerfällt, die sich einzeln ver-
ändert haben. Es treten Verdichtungen auf, die
ihre Konturen ändern, andere vergrößern sich,
eine Stelle zeigt einen Doppelstern, den eine
Nebelverdichtung umgibt, die sich langsam von
dem Stern zurückzieht. Ein früher lichter Raum
füllt sich langsam mit Materie an. Auch jene
dünnen Fäden des Netzes zeigen Veränderungen
auf dem nebligen Hintergrund. Andere Stellen
dagegen sind unverändert geblieben , vielleicht
weil die Zeit der Beobachtung noch zu kurz ist.
Auch das Spektrum des Nebels ist einzigartig,
wie Slipher nachgewiesen hat, da es Emis-
sionslinien von sehr ungewöhnlichem Charakter
zeigt. Die Untersuchungen sollen fortgesetzt
werden.
Fessenkoff im Charkow hat die Albedo
der Erde von neuem zu bestimmen sich bemüht.
Der einzige mögliche Weg ist der indirekte Weg,
aus dem Vergleich der Helligkeit des Mondes
bald nach Neumond in dem von der Erde und
dem von der Sonne beleuchteten Teil. Es wer-
den dazu bestimmte Teile der Mondoberfläche
herausgegriffen und miteinander verglichen. Eben-
falls ist bei jeder Messung der Einfluß des hellen
Himmelshintergrundes zu berücksichtigen, wegen
des durch die Atmosphäre verstreuten Lichtes,
das von dem Mondlicht abzuziehen ist. Wegen
des sehr großen Helligkeitsunterschiedes der von
der Erde und der von der Sonne beschienenen
Teile ist bei Messung der letzteren die Helligkeit
stark abzublenden, was durch Vorschalten eines
Diaphragmas erreicht wird, dessen Durchmesser
mittels eines Keiles mit Millimeterteilung bestimmt
wird. Es wurden ferner immer mehrere Sätze
von Beobachtungen mit verschiedenen Diaphrag-
men gemacht. Unter Berücksichtigung des so
sehr verschiedenen Reflexionsvermögens verschie-
dener Teile der Mondoberfläche ergibt sich dann
die Albedo der Erde zu 0,67 mit einem mittleren
Fehler von 0,032, dessen Größe von der Unge-
nauigkeit der zugrunde liegenden Lambertschen
Formel herrührt, so daß aber die erste Dezimale
jedenfalls noch als richtig anzusehen ist. Die
5o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
Erde strahlt also die reichliche Hälfte des von
der Sonne kommenden Lichtes wieder zurück,
meist infolge der starken Bewölkung in ihrer
Atmosphäre.
Das Aufsuchen unsichtbarer Sonnen-
flecke beschreibt Haie im Pop. Astronomy,
Februar 1922. Die unveränderliche Anwesenheit
eines magnetischen Feldes, die Radialbewegungen
der überlagernden Gase aller Schichten, das Hin-
einfließen der benachbarten Hervorragungen, der
Bau der Wasserstoffflocken beweisen , daß die
Sonnenflecken Wirbel sind, den irdischen Tornados
vergleichbar. Ein F"leck ist dann sichtbar, wenn
in dem Wirbel hinreichend abgekühlte Schichten
vorkommen. Ist aber die Abkühlung nicht groß
genug, dann ist der Fleck nicht sichtbar, obwohl
er durch den Zeeman - Effekt nachweisbar ist.
Gewisse Erscheinungen an den Flecken und an
den zweipoligen Gruppen, wo das kleinere Glied
in kurzen Zwischenzeiten erscheint und ver-
schwindet, geben die IVIöglichkeit nach Stellen
unsichtbarer Flecken zu suchen. Der 75 füßige
Spektrograph des 1 50 füßigen Turmteleskopes,
eingestellt auf die Linie 6173 ließ die Sonne ab-
suchen, und Haie hat mit El 1er man zusammen
eine Anzahl Stellen gefunden, an denen sich bald
darauf in der Tat Flecken bildeten, die also bei
ihrer Auffindung noch unsichtbar waren.
Die größte bisher bekannt gewordene Eigen-
bewegung hat der von Barnard vor wenigen
Jahren gefundene sog. Schnelläufer im Ophiuchus,
mit 10,3 Sek. Eigenbewegung im Jahre. Von
ihm ist ferner durch spektroskopische Messungen
festgestellt, daß er sich mit 106 km in der Se-
kunde auf uns zu bewegt. Nun hat F u ß in Neu-
babelsberg soeben eine sehr genaue Bestimmung
der Parallaxe vorgenommen, und sie zu 0,531 Sek.
bestimmt, mit einer Unsicherheit von nur 0,010 Sek.
Die von ihm erhaltene Eigenbewegung beträgt
10,287 Sek. in Deklination, während der Betrag
in RA von 0,048 Zeitsek. sehr unbedeutend ist.
Jene Eigenbewegung bezogen auf die angegebene
Parallaxe gibt einen linearen Wert von go km
senkrecht zur Gesichtslinie; nimmt man den ge-
gebenen Betrag in der Gesichtslinie hinzu, so er-
gibt sich eine räumliche Geschwindigkeit von
139 km gegen die Sonrje gerichtet. Der Stern,
9,4 Größe, gehört zu den Zwergsternen, setzt
man die absolute Helligkeit des Sirius zu lOOO an,
so ist die der Sonne nur 34, während der Barn-
ardsche Schnelläufer nur '/a,, hat, er ist also nur
an absoluter Helligkeit gleich '/i:oo '^^^ Sonne.
Der Stern gehört also trotz seiner Kleinheit zu
den nächsten Nachbarn der Sonne. Der aller-
nächste Stern, die sog. Proxima Centauri mit
einer Parallaxe von 0,78 Sek. ist sogar nur von
der II. Größe, ebenfalls ein Zwergstern, seine
absolute Helligkeit beträgt nur Vjsoau der abso-
luten Helligkeit der Sonne.
Riem.
Zur physikalischen Chemie der Bleioxjde.
Bleioxyd, technisch Bleiglätte genannt,
kommt in mehreren Modifikationen vor. Man
unterscheidet sie nach der Farbe, die von gelb
über verschiedene Brauntöne in Rot wechselt.
Als bestimmt voneinander verschiedene Formen
des Bleioxyds sieht man in der Regel jedoch
lediglich die rein gelbe und die rote Modifikation
an, während die braunen technischen Produkte
als nicht näher zu kennzeichnende „verunreinigte"
Stoffe gelten.') Über die Beziehungen, die zwischen
gelbem und rotem Bleioxyd bestehen, herrscht
noch keine einheitliche Auffassung. Meist nahm
man an, daß die gelbe Form eine metastabile Modi-
fikation darstelle, die zu der roten im Verhältnis
der Enantiotropie stehe. Ruer'-) stützte
diese Auffassung durch Löslichkeitsbestimmungen,
bei denen sich die gelbe Form in der Tat als
leichter löslich erwies. Nunmehr hat S. Glas-
ston e ^j die physikalische Chemie der Bleioxyde
einer eingehenden Untersuchung unterworfen, die
die bisher so unklaren Verhältnisse zu deuten er-
lauben scheint.
Glasstone bestimmte zunächst die Teilchen-
größe der verschiedenartig gefärbten Oxyde — ,
ein Verfahren, das nach den damit an anderen
Stoffen gewonnenen Erfolgen nahelag, merkwür-
digerweise bisher noch nicht benutzt wurde. Es
ergab sich bei der mikroskopischen Teilchen-
messung, daß jeder „Form" des Bleioxyds eine
bestimmte und in hohem Grade konstant blei-
bende Größe ihrer Teilchen zukommt. So sind
die roten Teilchen 3 — 5 /.i groß. Werden sie
auf ca. 700" erhitzt, so ballen sie sich zu gelben
Aggregaten von etwa 1 5 /< Durchmesser zusammen,
die aber beim Abkühlen und unter leichtem
Druck zu Teilchen von 0,7 — 1,5 /< zerfallen, denen
alsdann eine braune Farbe entspricht. Die
Teilchen der im Handel anzutreffenden rötlich-
braunen Form sind ebenfalls ziemlich gleich-
mäßig 0,7 // groß. Die verschiedenen Farben
des Bleioxyds beruhen mithin lediglich auf der
verschiedenen Teilchengröße. Die größ-
ten Teilchen weist die gelbe Form auf Ihrer
Natur nach sind aber diese Teilchen lediglich
Aggregate derselben Teilchen, aus denen die rote
Form besteht. An der Löslichkeit beider Formen
in normaler Natronlauge läßt sich dieser Befund
auch rein chemisch erhärten. Glasstone be-
rechnete bei dieser Gelegenheit auch die Dis-
soziationskonstante der sich beim Lösen des Blei-
oxyds in Wasser bildenden Säure H-HPbO.j. Sie
beträgt 1,32 -lo^'-.
Nachdem der Charakter der verschieden ge-
färbten Bleioxyde aufgeklärt ist, tritt Glasstone
in einer zweiten Arbeit der Frage nach den
wechselseitigen Beziehungen beider Formen nahe.*)
') Vg'' Pick und Ahrens, Blei; Abeggs Handbuch
III, 2, S. 673.
'-) Zeitschr. f. anorg. Chemie 50, S. 265, 1906.
■') Journ. of the Cbem. Soc. London 119, S. 1689, 1921.
*) Ebenda, 119, S. 1914, 1921.
N. F. XXI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
507
Läge, wie bisher angenommen wurde, Enantio-
tropie vor, so müßten beide Formen ausgesprochen
verschiedenen Energieinhalt haben. Um dies zu
prüfen wurden Halbelemente der Form Blei/Blei-
oxyd/n.Natronlauge hergestellt, wobei je eine der
beiden Extremformen des Oxyds eingeschaltet
wurde. Jedes dieser Halbelemente wurde einem
Vergleichs-Halbelement aus Quecksilber/ Queck-
silberoxyd/n.Natronlauge verbunden. Bei 20 " er-
gab sich in allen untersuchten Ketten fast die
gleiche elektromotorische Kraft. Die freie
Energie der Umsetzung 2 PbO = 2 Pb -[- O,, ist
mithin unabhängig von der Form des angewandten
Oxyds. Diese Oxyde können also nicht in allo-
tropem Verhältnis zueinander stehen. Der Ein-
wand, daß die Unterschiede in den freien Ener-
gien vielleicht nur gering sein können, ist nicht
bindend, denn nach den ziemlich genau aus-
geführten Untersuchungen von Germs') liegt
der „Umwandlungspunkt" beider Formen bei 587",
also so hoch, daß die Energieunterschiede sehr
groß sein müßten. Die Messung der EMK beider
Bleioxyde dürfte im Verein mit den vorher be-
schriebenen Untersuchungen entgültig gegen die
Annahme einer Enantiotropie beider Formen ent-
schieden haben. Sowohl Dichte wie Kristallform
beider Modifikationen, die in früheren Arbeiten
gern für eine Enantiotropie in Betracht gezogen
wurden, sind derart unbestimmt und widerspruchs-
voll in der Literatur angegeben, daß dauerhafte
Schlußfolgerungen hieraus nicht gezogen werden
dürfen. Dagegen sind die Befunde von Glas-
stone durchaus eindeutig. Insbesondere klärt
er auch die Frage nach dem bisher doch ver-
muteten, ja sogar „gemessenen" Umwandlungs-
punkte der beiden Formen. Er konnte nach-
weisen, daß diese „Umwandlungstemperatur" über-
haupt nicht konstant ist, sondern von dem Ver-
teilungsgrad der roten Form abhängig ist.
Nachstehend sei eine schematische Übersicht
angeführt, aus der die gegenseitigen Beziehungen
der verschiedenen Bleioxydmodifikationen ersicht-
lich sind:
Rötlichbraunes
Oxyd
20 proz. KOH
Bleiazetatlösung
50 proz.
KOH
Rotes Oxyd
50 proz. Alkali
Bleihydroxyd
(weiß)
siedendes
Alkali
-> Gelblichgrünes
Oxyd
Erhitzen auf
600" und
Abkühlen
Rötlichbraunes
Oxyd
des Handels
Pfeifergeschmack uud chemische Konstitution.
Einen Beitrag zu der allgemeinen Frage nach
dem Zusammenhang zwischen Geschmack und
chemischer Konstitution liefern Erwin Ott
und K. Zimmermann.-) Nachdem man den
scharfen, beißenden Geschmack des schwarzen,
weißen und des langen Pfeffers lange Zeit dem
Piperin , einem ziemlich kompliziert gebauten
Stoff aus mehreren Ringsystemen, zugeschrieben
hatte, wies Nelson^) nach, daß der wirksame
Bestandteil des spanischen Pfeffers das Capsai-
cin sei, dessen Isolierung und Reindarstellung zu
der folgenden Konstitutionsformel führte :
CHaO^
HO'
^\
|CH2-NH-CO.C(,Hi,
V
') Dissertation Groeningen 1917.
') Annalen der Chemie 425, S. 314, 1921.
') Journ. of the Americ. Chem. Soc. 41, S. 1115 u. 2121,
H. Heller.
Es handelt sich mithin um ein Derivat des Va-
nillins, dessen Aldehydgruppe durch Säure-
amid substituiert worden ist. Wurde in diesem
Stoff die freie Hydroxylgruppe methyliert, also
gleichfalls in CH3O — übergeführt, so verschwand
der Pfeffergeschmack. Ott und sein Mitarbeiter
variierten nun jeweils die verschiedenen reaktiven
Gruppen in obenstehender Formel und konnten
so in der Tat klarlegen, daß der pfefifrige Ge-
schmack in naher direkter Abhängigkeit von der
chemischen Konstitution steht. Ohne die hier
nicht interessierenden experimentellen Mitteilungen
näher zu berühren, kann man das Ergebnis dieser
Untersuchungen folgendermaßen zusammenfassen:
Die bisher bekannten Stoffe mit pfeffrigem
Geschmack sind Säureamide aus ungesät-
tigten Säuren mit Oxybenzylaminen.
Oxy-benzylamine sind nötig, weil Beseitigung
oder Substitution der phenolischen Hydroxylgruppe
den Pfeffergeschmack alsbald zum Verschwinden
bringt. Beispiel: das schon genannte Capsai ein.
Ungesättigte Säuren sind Bedingung, weil die
5o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
entsprechenden Stoffe mit einem gesättigten
Säureradikal geschmacklos oder wenigstens nicht
scharf schmeckend sind. Beispiele: Die Vanillyl-
amide der Crotonsäure, der Nonylensäure, der
Ölsäure, der Zimtsäure schmecken pfeffrig, die
der (gesättigten) Palmitin- und Stearinsäure sind
fast oder völlig geschmacklos.^) Es ergab sich
ferner, daß die gegenseitige Stellung der
Substituenten des Renzolkerns von Einfluß auf
den Geschmack ist") So sind Stoffe mit der p-
Stellung von Hydroxyl zur CH.,NH-Gruppe be-
sonders scharf. Schon das nich substituierte Va-
nillylamid schmeckt sehr scharf pfeffrig, duftet
dabei gleichzeitig aprikosenähnlich 1 Läßt man
im Vanillylamid die Oxy- und die Methoxygruppe
ausfallen, so bleibt Benzylamid übrig, das gleich-
falls nach Aprikosen duftet, aber geschmacklos
ist. — Die CH.jO Gruppe verstärkt den Geschmack,
beeinflußt ihn gleichzeitig aber auch nach der
aromatischen Seite. (Es ist bemerkenswert, daß
die Methoxygruppe auf die Farbe und den Duft
in gleicher Weise einwirkt! Ref.) Das Vanillyl-
amid der Zimmtsäure zeichnet sich durch einen
milden aromatischen, wenn auch ausgeprägt pfeff-
rigen Geschmack aus. — Endlich ist hervorzuheben,
daß die Olefinkarbonsäuren mit mittleren Kohlen-
stoffzahlen (etwa 9 — II C) die entschiedensten
Vertreter des Pfeffergeschmacks stellen.
Heller.
Farbeupsj'chologische Studien aii Kindern.
Die Möglichkeit Farben zu messen und damit
eindeutig zu kennzeichnen, hat für psychologische
Untersuchungen, die sich farbiger Eindrücke be-
dienen, besondere Bedeutung. Von der Repro-
duzierbarkeit der angestellten und in der Literatur
mitzuteilenden Arbeiten abgesehen, ist dem Ex-
perimentator nunmehr ein Mittel in die Hand
gelegt, bei Versuchen mit verschiedenen Farben
untereinander vergleichbare Ergebnisse
zu erlangen. Denn es lassen sich jetzt nicht nur
gemessene Farben an sich auswerten, sondern
ihre Abwandlungen hinsichtlich Farbton, Reinheit
und Helligkeit sind eindeutig festgelegt und nicht
mehr der willkürlichen Abschätzung überlassen.
Ältere Versuchsreihen, die unter Zuhilfenahme
gemessener bzw. genormter Farben wiederholt
werden , erhalten durch diesen Umstand einen
oft sehr andersartigen Charakter. Ein Beispiel
bieten C. Paul und W. Ostwald^) in einer
Untersuchung über „die Lieblingsfarben der
Kinder".
Es handelt sich in dieser Untersuchung ledig-
lich um statistische Vorarbeiten an einem größeren
möglichst inhomogenen Schülermaterial, die zum
Ausdruck bringen, daß und welche bestimmten
Farben die Kinder „vorziehen", woraus sich dann
ein erster Schluß auf die psychische Wirksamkeit
der Farben, die qualitativ längst bekannt ist, ziehen
lassen würde. Zur Prüfung gelangten insgesamt
1149 Kinder im 4. — 8. und i. — 3. Schuljahr. Es
wurden ihnen Tafeln eines wertgleichen Kreises
(nc) mit den 8 Hauptfarben vorgelegt. Jedes
Kind schrieb dann die ihm am besten gefallende
Farbe auf, wobei auf geheime Bildung und Be-
kanntgabe des Urteils Wert gelegt wurde. Bei
den Kindern im i. — 3. Schuljahre wurden nur die
4 Urfarben (nach Hering) gezeigt. Das Urteil
war ganz entschieden für bestimmte Farben.
Nachstehend sind die Gefallend urteile prozentual
wiedergegeben.
Gelb
Kreß
Rot
Veil Ublau
Eisblau Seegrün
Laubgrün
I. -3. -Jahr
4.-8. Jahr
16
3.5
5.1
50
38,7
23
26,3 9,6
12
2.4 1.4
9.4
Aus dieser (im Original weiter spezialisierten)
Übersicht geht zunächst ganz unzweifelhaft her-
vor, daß Rot in der Farbenempfindung der Kin-
der weitaus die bevorzugte Rolle spielt, ja in den
ersten Jahren alle anderep Farben stark überwiegt.
Die bekannte Wirkung des Rot auf Tiere und
primitive Völker findet also durchaus ihre Be-
stätigung. An Beliebtheit kann sich damit nur
Veil messen, für das in den ersten Jahren Ublau
tritt, da Veil hier nicht gezeigt worden war. Aus
diesem Befund ist nun weiter zu folgern , daß es
lediglich die Farbtöne sind, die das Werturteil
des Kindes beeinflussen, nicht aber, wie gelegent-
lich vermutungsweise ausgesprochen worden ist,
■) Dieser Befund steht in Widerspruch zu einigen Ergeb-
nissen von Nelson!
-) Die Stnllung einzelner Gruppen im Molekül zucin,nnder
ist von Einfluß auch auf die physiologische Wirksamkeit. Vgl.
Naturw. Wochcnschr. N. F. XX, S. 446, 1921.
die Helligkeit der Farben. Denn Gelb, die
hellste Farbe des Spektrums wie des 100 teiligen
Farbkreises, nimmt eine Durchschnittsstellung ein,
ebenso Blau, das am dunkelsten ist.
In späteren Lebensjahren verbreitert sich buch-
stäblich das Farbgebiet, an dem das Kind das
höchste und unmittelbarste Wohlgefallen hat, denn
man sieht neben dem dem Rot nächstbenach-
barten Veil das Ublau und Kreß bevorzugt. See-
grün tritt dagegen sehr auffallend zurück. Des-
gleichen findet das eisblaue Gebiet wenigLieb-
haber.
Die Mitteilung berichtet des weiteren über
Untersuchungen an Knaben getrennt von Mädchen,
an begabten und unbegabten Kindern, alle jeweils
in verschiedenen Altersstufen geprüft. Das Ge-
samtergebnis ist im ganzen dasselbe wie oben
') Die Earbe, 1922, 100, S.
N. F. XXI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
509
angegeben. Nur für die Knaben liegen die Werte
zum Teil beträchtlich abweichend, wenn man sie
mit denen der Mädchen vergleicht. Die Vorliebe
für Rot nämlich liegt bei den Knaben bei nur
40, bei den Mädchen dagegen bei 61 % vor.
Dafür tritt bei den Knaben eine Vorliebe für
Laubgrün mit 12 °/q auf! Die größere Fein-
heit der Empfindung liegt also, zum mindesten
in den untersuchten Altersstufen, bei dem männ-
lichen Geschlecht, wogegen die Intensität der
Farbenfreude bei beiden Geschlechtern gleich zu
sein scheint.
Am bemerkenswertesten aber ist die bereits
hervorgehobene Abneigung sowohl der Knaben
wie der Mädchen aller Alters- und Begabungs-
jtufen gegen Eis blau und See grün. Diese
Erkenntnis reicht über den engen Rahmen der
vorliegenden Untersuchung hinaus. Jeder Be-
schauer des Ostwaldschen Farbtonkreises ist im
Anfang über die große Ausdehnung der G r ü n -
und benachbarten Töne erstaunt und meint hier
entschieden einen Fehler, zum mindesten eine
Unfertigkeit des gesamten Kreises zu finden. In
der Tat haben einzelne Kritiker Ostwalds die
Ausdehnung des Grün beanstandet und darauf
verwiesen, daß nach dem „Gefühl", das nach dem
Spektrum orientiert wird, die Grüntöne einzu-
schränken seien. Auch die vermeintlich klei-
neren Unterschiede zwischen je zwei aufeinander
folgenden Farben in diesem Teil des Kreises
schienen eine Stütze dieser Auffassung zu sein.
Nun widerspricht bereits die Ordnung des Kreises
nach dem Grundsatz der Gegenfarben einer- dem
des chromatischen Schwerpunkts andererseits ')
jeder Willkür, so daß die Anzahl der eisblauen
und grünen Töne notwendig und nicht aus Mangel
') ^S'- i,Oslw.iIds Forschungen zur Farbenlehre" von
Verf., Naturw. Wochenschr. N. F. 19, S. 129, 1920.
an Besserem oder „Richtigerem" entsteht. Ferner
hat Ostwald darauf hingewiesen, daß gerade
die in diesem Gebiet liegenden Farben in der
Natur selten oder überhaupt nicht vorkommen,
so daß wir keine Gelegenheit haben sie kennen
und in feinerer Weise unterscheiden zu lernen.
Niemand wird diesen Farben deswegen die Reali-
tät bzw. die Gleichberechtigung neben den anderen
reinen Farben absprechen wollen 1 Die vorlie-
gende Untersuchung bringt für die letzte Er-
klärung Ostwalds einen besonders ausdrucks-
vollen Beleg. Sagt der Versuch an den Kindern
doch gleichfalls, daß diesen das eisblaue und das
seegrüne Gebiet nicht vertraut sind, denn ihr Ge-
fallen meidet die hier vorkommenden Töne ganz
offenkundig. Es bedarf kaum des Beweises, daß
die beherrschende Stellung des Rot und seiner
Nachbarfarben (auch in späteren Entwicklungs-
jahren) mit einer hochgesteigerten Empfindlich-
keit in diesen F"arben parallel gehen muß; sind
die roten Farben doch gewissermaßen psycho-
logische Ur färben. Ein jeder Farbtonkreis, der
lediglich nach dem „Gefühl" aufgebaut ist, leidet
mithin unter diesem, nunmehr genetisch verständ-
lichen Fehler des Vertrautseins mit Rot, der Ver-
nachlässigung des Eisblau bis Grün andererseits.
Auch der Künstler, der in diesen mathetischen
F'ragen gern angerufen wird, unterliegt, der Stärke
seines Gefühlslebens entsprechend, dieser „Täu-
schung". So wird es verständlich, weshalb bei-
spielsweise der von Chevreul aufgestellte
Farbenkreis diesen Mangel zeigt. Auch dieser
sonst wissenschaftlich wohl durchdachte Kreis ist
hinsichtlich der P'arbtöne nach Gefühl gebaut
worden.
Es ist anzunehmen, daß den hier erstmalig
unternommenen Untersuchungen zur messenden
Farbenpsychologie weitere bedeutungsvolle Er-
gebnisse beschieden sein werden. H. Heller.
Bücherbesprechimgen.
Bruns, Ferd., Die Zeich enkunst im Dienst
der beschreibenden Naturwissen-
schaften. Mit 6 Abbildungen im Text und
44 Tafeln. VIII, 100 S. 4". Jena 1922, G.
Fischer. 90 M. und Zuschläge.
Für den Naturwissenschaftler ist das Zeichnen
von allergrößter Bedeutung, nicht nur zur Dar-
stellung des von ihm zu Schildernden, sondern
vor allem auch zur eigenen Schulung, um sich
selbst über das Geschaute klar zu werden, um
Sehen zu lernen. Daß seine Ausbildung dieser
Bedeutung gerecht würde, kann wohl niemand
behaupten. Die Folgen davon lehrt jeder Blick
in illustrierte naturwissenschaftliche Werke, lehrt
vor allem die Überhandnähme der photographi-
schen Illustration, die, ohne ihre Bedeutung für
viele Fälle zu verkennen, in den meisten Fällen
doch nur ein ganz ungenügender Ersatz ist und
vor allem die Selbstschulung des Forschers umgeht.
Der Zeichenunterricht in den Schulen; selbst
in den Realanstalten, der schon früher ein Stief-
kind der Ausbildung war, geht neuerdings Wege,
die vom naturwissenschaftlichen, d. h. genauen
Zeichnen weitab führen. An manchen Universi-
täten werden Kurse in naturwissenschaftlichem
Zeichnen abgehalten, die aber günstigsten Falles
doch immer nur wenigen zugute kommen.
Diese Ausbildungslücke, die wohl jeder Natur-
wissenschaftler schon empfunden hat, will nun das
Brunssche Buch ausfüllen. Es wendet sich an
geistig Reife, will also nicht nur technische Rat-
schläge erteilen und Hilfsmittel bringen, sondern
vor allem auch die Theorie des Zeichnens lehren,
das Objekt richtig zu sehen und zu verstehen,
510
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
und zu verstehen, warum und wie zu zeichnen
ist; denn nur das theoretische Verständnis kann
zum richtigen Zeichnen und zur Ausnutzung aller
Möglichkeiten führen.
Der Verf., selbst Naturwissenschaftler und
Zeichner, anerkannt vorzüglicher Illustrator natur-
wissenschaftlicher Werke (S c h m e i 1 s Lehrbücher
usw.), verfügt außerdem über jahrzehntelange
pädagogische Erfahrungen als Zeichenlehrer an
niederen und höheren Schulen. So erscheint er
von vornherein besonders berufen zur Abfassung
eines solchen Buches; und daß er es auch ist,
wird jeder empfinden, der dieses in die Hand
nimmt. Die völlige, auch theoretische Beherr-
schung des ganzen Gebietes, die höhere Warte,
von der aus jede einzelne Frage behandelt wird,
erheben das Buch weit über etwa einen techni-
schen Leitfaden.
Eingeleitet wird es durch ein Kapitel über
das Zeichnen der Primitiven, der Urvölker, Kin-
der usw., das eine Fülle überraschender Einblicke
in die Entstehung bildlicher Darstellung erschließt,
das ganz besonders den Psychologen und Völker-
kundigen interessieren dürfte, aber auch erkennen
läßt, wie die Ursachen so mancher Fehler und
Schwierigkeiten im Zeichnen auf psychologische
Vorgänge zurückzuführen sind , die heute noch
beim ungeübten Gebildeten ebenso verlaufen, wie
bei den noch lebenden oder schon längst ausge-
storbenen Primitiven. Das Schlußkapitel bringt
eine Geschichte des naturwissenschaftlichen Zeich-
nens, eine kritische Würdigung der berühmte-
sten alten naturwissenschaftlichen Bilderwerke, die
einerseits unser Erstaunen über das fabelhafte
Können, andererseits oft unsere Verwunderung
über das ungenaue Sehen erregen. Die wichtig-
sten Kapitel des eigentlichen Inhaltes sind: Zeich-
nen nach ebenen bzw. räumlichen Gebilden, Ko-
pieren, Zeichenapparate , Reproduktionstechnik,
Perspektive, Silhouette, Licht *Und Schatten, Spie-
gelung und Reflex, Zeichnen nach mikroskopischen
Präparaten.
Jedes Kapitel beginnt mit einer Übersicht über
die historische Entwicklung des Behandelten, setzt
die in Betracht kommenden theoretischen Fragen
auseinander, zeigt an einzelnen Beispielen, wie
und welche Fehler zu vermeiden sind , welche
Hilfsmittel unseren Zwecken dienen können usw.
So ist das Werk die erste gründliche wissen-
schaftliche Darstellung des naturwissenschaftlichen
Zeichnens. Es beweist, wie nötig es wäre, an
den Universitäten das naturwissenschaftliche Zeich-
nen als besonderes obligatorisches Lehrfach ein-
zuführen, dürfte aber auch für die Ausgestaltung
des Zeichenunterrichtes an den Schulen, der heute
zu sehr das Künstlerische auf Kosten des genauen
Sehens betont, von allergrößtem Werte sein. Daß
CS in der Bibliothek keines größeren naturwissen-
schaftlichen Institutes fehlen darf, braucht eigent-
lich kaum erwähnt zu werden.
Zum Schlüsse ist die für die jetzigen Verhält-
nisse ganz besonders vorzügliche Ausstattung durch
den Verlag hervorzuheben, noch mehr aber der
für ein solches Werk ganz ungewöhnlich geringe
Preis, der wohl erkennen läßt, daß der Verlag
auf eine starke Nachfrage rechnet, die vor allem
der Sache wegen auch dringend zu erhoffen wäre.
Reh.
Lorentz, H. A., Einstein, A. , Minkowski, H.,
Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung
von Abhandlungen. Mit einem Beitrag von
H. Weyl und Anmerkungen von A. Sommer-
feld. Vorwort von O. Bl u men t ha 1. 4. Aufl.
159 S. Heft 2 der Fortschritte der Mathema-
tischen Wissenschaften in Monographien. Leip-
zig-Berlin 1922, B. G. Teubner. Geh. 40 M.,
geb. 48 M.
Das Buch enthält eine Zusammenstellung von
Arbeiten über die sog. Relativitätstheorie. Neu
hinzugekommen ist in dieser Auflage eine Ab-
handlung von H. Weyl über „Gravitation und
Elektrizität". Als grundlegend ist die Abhandlung
„Der Interferenzversuch Michelsons" von Lorentz
an den Anfang gestellt; gerade der Inhalt dieser
Betrachtung muß jedoch Widerspruch hervor-
rulen. Lorentz hatte auf Grund der Vorstel-
lung eines festen, absolut ruhenden Äthers eine
Theorie der Aberration aufgestellt. Die Gestirne
sollten sich durch diesen ruhenden Äther hin-
durchbewegen. Der Versuch von Michelson
lieferte im Gegensatz dazu ganz einwandfrei das
Ergebnis, daß der Äther sich so verhielt, als ob
er von der Erde in deren näherer Umgebung
mitgeführt würde, wie es nicht nur einer älteren
Theorie von Stokes, sondern auch dem gesun-
den Menschenverstände entsprach. Denn eine'
Bewegung aller Gestirne durch den ruhenden
Äther hindurch ist physikalisch nicht recht vor-
stellbar. Grundsätzliche Bedenken scheinen gegen
die Aberrationstheorie von Stokes nicht vorzu-
liegen (namentlich wenn man die Mitnahme des
Äthers durch die Erde nicht als eine Folge der
Reibung, sondern mehr als eine F"olge der
Schwerkraft auffaßt), nur ist die Theorie natur-
gemäß wesentlich verwickelter. Das scheint der
Hauptgrund dafür zu sein, daß Lorentz den
geraden und für den physikalisch denkenden
F"orscher allein gangbaren Weg verwirft und sich
mit dem Starrsinn des Theoretikers der gegen
ihn sprechenden experimentellen Entscheidung
widersetzt. „Die Schwierigkeiten, auf welche
diese Theorie (von Stokes) bei der Erklärung
der Aberration stößt, scheinen mir zu groß zu
sein, als daß ich dieser Meinung sein könnte." —
Das ist alles was Lorentz in dieser Abhandlung
über die natürliche Auffassung zu sagen weiß,
worauf er dann sofort die berühmte Idee der
sog. „Lorentzkontraktion" entwickelt. Diese Idee
leuchtete selbst den Theoretikern nicht ein und
führte weiterhin zu der ganz abstrakten Behand-
lung des Problems durch Einstein, der den
„Lichtäther" dabei kurzerhand als „überflüssig"
N. F. XXI. Nr.
37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sil
abschaffte. Die Ablehnung der Theorie von
Stokes durch Lorentz stellt somit den ersten
Schritt vom Wege einer anschaulichen, verständ-
lichen Physik dar und bedürfte m. E. einer weit
eingehenderen Begründung, damit eine Irreführung
der Leser (wie sie tatsächlich in großem Umfange
eingetreten ist) von vornherein vermieden wird.
Nachdem neuerdings sich Forscher wie Gehrcke
und Lenard wiederum entschieden für eine IVlit-
führung des Äthers durch die Erde ausgesprochen
haben, müßte in einer künftigen Auflage der Er-
örterung des Michelsonschen Versuchs ein wesent-
lich breiterer Raum gewährt werden, damit der
Leser sich unbefangen für die anschauliche oder die
formalistische Richtung in der Physik entscheiden
kann. Eine Anmerkung aus der Feder eines an-
erkannten Forschers, etwa derjenigen Gehrckes,
die darauf hinwiese, daß die Anschauung von
Lorentz in der Wissenschaft heute nicht mehr
allgemein anerkannt wird , ist hier unbedingt er-
forderlich, wenn Einseitigkeit vermieden werden
soll. Wie weit die nachfolgenden theoretischen
Betrachtungen überflüssig gemacht werden, wenn
man die Lorentzsche Auffassung des Michelson-
schen Versuchs aufgibt, mag dahingestellt bleiben.
Ein gewisses Mißverhältnis besteht hier offensicht-
lich zwischen dem Aufwände an Mathematik
einerseits und den sehr dürftigen und umstrittenen
physikalischen Ergebnissen andererseits. Auffal-
lend ist, daß in dem Artikel von Einstein über
den „Einfluß der Schwerkraft auf die Ausbreitung
des Lichtes" jeder Hinweis auf ältere Arbeiten
fehlt ; der auf S. 80 von Einstein angegebene
Wert stimmt mit dem bereits 1801 von dem
deutschen Mathematiker v. Soldner berechneten
überein (vgl. Ann. d. Phys. Bd. 65, 1921, S. 593
bis 604), so daß man die von der britischen
Sonnenfinsternisexpedition entdeckte Lichtablen-
kung besser^ als „Soldnereffekt" und nicht als
„Einsteineffekt" bezeichnet. Die umfassende
Kritik, die das ganze Gebäude der Relativitäts-
theorie in neuester Zeit erfahren hat, dürfte in
einem so bedeutenden Quellenwerke, das doch
der ganzen Wissenschaft und nicht einer be-
stimmten Parteirichtung dienen will, jedenfalls
nicht verschwiegen werden. Fricke.
Schips, Dr. Martin, Mathematik und Bio-
logie. Mathematisch- physikalische Bibliothek,
herausgegeben von W. Lietzmann und A.
Witting. Bd. 42. 52 S. Mit 16 Figuren im
Text. Leipzig und Berlin 1922, B. G. Teubner.
Als oberste Aufgabe biologischen Forschens
bezeichnet der Verf. die quantitative Fassung und
Ableitung der bei den Lebenserscheinungen ver-
wirklichten Gesetze auf der Grundlage mathema-
tischer Denkweise und Formulierung. Erst dann
ist ein Naturvorgang in allen seinen gegenwärtigen,
vergangenen und zukünftigen Einzelfällen zu über-
sehen , wenn es gelungen ist, seinen Ablauf in
eine mathematische Formel zu fassen, bei der die
Wirkung als abhängige Veränderliche in einer
bestimmten Funktion der unabhängig veränder-
lichen Ursache erscheint. Ihre klassischen Ver-
treter hat diese Tendenz in Kant (1786) und
Laplace (181 4) gefunden. Astronomie, Physik
und Chemie waren hier in einer sehr viel günsti-
geren Lage als die Biologie: Es war leichter die
für den vereinfachenden Versuch im Laboratorium
besser zugänglichen leblosen Objekte zu analy-
sieren, als die im Zusammenhang der freien Natur
unter der Wirkung vieler Faktoren stehenden
Lebewesen exakt zu erforschen. ') So ist die
Biologie erst später von qualitativer Beschreibung
zu quantitativer Erfassung der Lebenserscheinungen
vorgeschritten. Sie verdankt dies wesentlich der
planmäßigen Hinzunahme und Anwendung jenes
nämlichen experimentellen Verfahrens. Hierfür
stellt sie ihre Objekte unter vereinfachte und
genau kontrollierte Bedingungen. Denn die
Hauptschwierigkeit einer mathematischen Formu-
lierung biologischer Vorgänge ist die jederzeit
nur wenig zu beschränkende Vielheit ihrer
Ursachen; deswegen tritt eine mathematisch
abgeleitete Beziehung, die in der Regel nur einen
Faktor berücksichtigen kann, empirisch nie rein
hervor. Bei der empirischen Nachprüfung werden
aber gerade dadurch jene mitwirkenden Faktoren
oftmals erst aufgedeckt. Entsprechenderweise ist
die physische Wurflinie nie eine Parabel; sie
kann höchstens unter empirisch nicht gegebenen
vereinfachenden Voraussetzungen auf eine Parabel
zurückgeführt werden. In der Biologie, wo vages
Meinen und mancherlei Anthropomorphes allzu
leicht an die Stelle exakter Prüfung zu treten
pflegt, ist die Mathematik mit ihren objektiven
Maßstäben ein wertvolles Korrektiv.
Der Verf. hat sich der dankenswerten Aufgabe
unterzogen, eine vielseitige Auswahl von solchen
biologischen Problemen zu bieten, deren mathe-
matische Bearbeitung bereits zu relativ gesicherten
Ergebnissen geführt hat. Aus den Größenverhält-
nissen der Organismen ergeben sich die Probleme
der Bewegungsfähigkeit, der Festigung, des
Fliegens und Schwebens, der Wärme- und Wasser-
ökonomie. Eine andere Gruppe von Fragen be-
trifft die Symmetrie der belebten Körper und die
Blattstellung. Vom inneren Bau der Organismen
sind behandelt: Die mechanische Widerstands-
fähigkeit der Röhrenknochen und die Architektur
der Spongiosa (Hermann v. Meyer 1873 bzw.
1867), sowie die durch Schwendener (1874)
bekannt gewordenen entsprechenden Verhältnisse
bei den Pflanzen ; das am Vegetationskegel der
Pflanzen gefundene Gesetz der rechtwinkligen
Schneidung aneinander grenzender Zellwände; der
Verlauf der Markstrahlen in exzentrisch ausgebil-
deten Stämmen; die Berechnungen und Unter-
suchungen von Hess (1903, 19 14) über den
') Die Biologie teilt diese Schwierigkeit der Matheraati-
sierung aus gleichen Gründen mit der Geologie und Meteoro-
logie.
512
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 37
günstigsten Verzweigungswinkel und den günstig-
sten Querschnittsquotienten der Blutgefäße. Die
Psychophysik ist mit dem Weber- F"echner-
schen Gesetz vertreten.
Referent glaubt, daß die „mathematische- Bio-
logie" wie bisher so auch künftig nur langsam
und sporadisch wachsen wird, und sieht den
Grund hierfür auf psychologischem Gebiet: Nur
selten finden sich produktives mathematisches
und biologisches Denken in einem und demselben
Forscher zusammen. Diese persönliche Synthese
ist aber die Voraussetzung für Fortschritte in
der vom Verf. bezeichneten Richtung.
Dr. Norbert Patschovsky.
Stiny, Josef, Technische Geologie. Mit
463 Textabbildungen und einer geologischen
Übersichtskarte von Mitteleuropa. 798 Seiten.
Stuttgart 1922, Ferd. Enke.
Ein Lehrbuch der technischen Geologie, das
auf geologisch-technische Bedürfnisse Rücksicht
nimmt, felilt zweifellos. In dieser Ansicht wird
jeder praktisch arbeitende Geologe und jedenfalls
auch der Techniker, der sich mit Fragen der
Geologie beschäftigt, mit dem Verf. übereinstim-
men. Eine Ausfüllung dieser Lücke wäre sicher-
lich in den beteiligten Fachkreisen aller Anerken-
nung gewiß.
Das vorliegende Werk ist nun aber weniger
eine technische Geologie, obwohl sie sich so nennt,
als vielmehr eine Geologie für Techniker.
Das aber ist doch ein erheblicher Unterschied.
Ob letztere nötig war, wage ich nicht zu ent-
scheiden. Gute Lehrbücher der Geologie in ver-
schiedenem Umfange sind jedenfalls genügend
vorhanden, die wohl auch für den, Geologie
nebenbei betreibenden Techniker verständlich und
ausreichend sind. Man hätte bei dieser Sachlage
an Umfang und Preis des Werkes außerordentlich
sparen können, wenn man das allgemein Geolo-
gische in ihm gekürzt und die Stratigraphie ganz
weggelassen hätte. Letztere vor allem zu bringen,
war für eine „technische" Geologie keinerlei Ver-
anlassung.
Dafür hätte das Technische, das nun über eine
große Anzahl von Kapiteln verstreut ist, straffer
zusammengefaßt und vielfach wohl auch ausführ-
licher gegeben werden können. Damit wäre dem
Buche ein großer Dienst erwiesen worden. Ich
fürchte , daß die Stoffauswahl und -anordnung
weder dem Geologen noch dem Techniker recht
behagen wird. Vielleicht wird der Verf. einmal
das Technische stärker und übersichtlicher heraus-
arbeiten und so wirklich den beteiligten Kreisen
einen Dienst erweisen.
Das wäre die prinzipielle Seite. Bei der Ab-
fassung ist sichtlich das Bestreben maßgebend ge-
wesen, den modernen Anschauungen der Geologie
überall Rechnung zu tragen. Über diese und jene
Ausführung wird man anderer Meinung sein, oder
würde es lieber gesehen haben, wenn nicht eine
Lehrmeinung allein — und noch dazu manche
recht abseits stehende — vorgetragen worden
wäre. Diesem Einwände begegnet allerdings der
Verf. von vornherein damit, daß sein Werk nicht
für den Fachgeologen bestimmt sei und man dem
Techniker die Qual einer Wahl zwischen ver-
schiedenen Meinungen ersparen müsse.
In den technischen Zusätzen und auch im
letzten, ausschließlich technischen Teile ist sehr
viel Wissenswertes, oft in vorzüglicher Form, ge-
bracht, was man bisher recht mühsam und in
den verschiedensten Werken zusammensuchen
mußte. Die technische Erfahrung des Verf. spricht
hier deutlich mit. Eben deshalb möchte ich noch-
mals betonen, daß gerade diese Teile — vielleicht
bei einer Neuauflage oder in einem besonderen
Werke — herausgehoben und vervollständigt
werden sollten. Krenkel.
Literatur.
Lämmel, Dr. Rudolf, Intelligenzprüfung und psycho-
logische Berufsberatung. Zürich-Meilen '22, Verlag des Verf.
Frobenius, Leo von , und Ritter von W i 1 m , Atlas
Africanus. 2. Lieferung. München, C. H. Becksche Verlags-
buchhandlung. 75 M.
Junks Naturführer. Lämmermayr u. Hoffer; Steiermark.
Berlin '22, \V. Junk. Preis 60 M.
Aus Natur und Geisteswelt. Band 21, R. Vater, Die
neueren Wärmekraftmaschinen. 1. Einführung in die Theorie
und den Bau der Gasmaschinen. 6. Aufl. Leipzig-Berlin '21,
B. G. Teubner.
Aus Natur und Geisteswelt. Band 86 , R. Vater, Die
neueren Wärmekraftmaschinen. II. Gaserzeuger , Großgas-
maschinen, Dampf- und Gasturbinen. 5. Aufl. Leipzig-
Berlin '22, B. G. Teubner.
Aus Natur und Geisteswelt. Band 2S, M. Geitel,
Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit. 2. Aufl. Leip-
zig-Berlin '22, B. G. Teubner.
Zimmermann, Prof. Dr. A., Die Cucurbitaceen. Bei-
träge zur Anatomie, Physiologie, Morphologie, Biologie, Patho-
logie und Systematik. Heft I : Beiträge zur Anatomie und
Physiologie. Jena '22, G. Fischer. Brosch. 120 M.
Hirmer, Dr. phil. Max, Zur Lösung dels Problems der
Blattstellung. Jena '22, G. Fischer. Brosch. 56 M.
Mitteilungen der Preußischen Hauptstelle für den natur-
wissenschaftlichen Unterricht. Koch-Lowartz, Heft 6:
Zoologische Bestimmungsübungen. Leipzig '22 , Quelle &
Meyer.
InllBlt: K. Vogtherr, Ein neues Uhrenparadoxon. S. 497. E. Schalow, Vom Einfluß des Krieges auf die Pflanzen-
verteilung. S. 499. — Einzelberichte: Riem, Neuere astronomische Arbeiten. S. 503. S. Glasstone, Zur
physikalischen Chemie der Bleioxyde. S. 506. E. Ott und K. Zimmermann, Pfeffergeschmack und chemische
Konstitution. S. 507. C. Paul und W. Ostwald, Farbenpsychologische Studien an Kindern. S. 508. — Bücher-
besprechungen: F. Bruns, Die Zeichenkunst im Dienst der beschreibenden Naturwissenschaften. S. 509. H. A.
Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski, Das Relativitätsprinzip. S. 510. M. Schips, Mathematik und Bio-
logie. S. 511. J. Stiny, Technische Geologie. 512. — Literatur: Liste. S. 512.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'scbcn Bucbdr. Lippen & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 17. September 1922.
Nummer 38.
Das Wesen der Schwerkraft.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. phil
Das Rätsel der Schwerkraft hat die Physiker
von jeher lebhaft beschäftigt und steht auch augen-
blicklich wieder im Mittelpunkte der Erörterung.
Eine kurze Betrachtung über diejenige Lösung,
die der Wahrheit bisher am nächsten zu kommen
scheint, dürfte daher von allgemeinem Interesse
sein. Newtons Theorie formuliert bekanntlich
nur gewisse Eigenschaften der Schwerkraft mathe-
matisch und ist von Vermutungen über das Wesen
der Schwere unabhängig. Eine solche Theorie
hat aber stets etwas unbefriedigendes; erst wenn
man sich vom Zusammenhange der Schwerkraft
mit den übrigen Naturkräften ein anschauliches
Bild machen kann, wird man Wert und Geltungs-
bereich der mathematischen Theorie richtig ein-
schätzen können. Newton selbst hat auch be-
reits nach einer Lösung gesucht, indem er eine
verschiedenartige Dichte des Äthers im Räume
annahm, derart, daß die IVIassen aus den dichteren
in die weniger dichten Teile gedrückt würden.
Auch die später näher erörterte Stoßtheorie der
Schwere war ihm anscheinend bekannt.
In der wissenschaftlichen Literatur wird viel-
fach die Sachlage so dargestellt, als ob die bis-
her eingeschlagenen Wege uns der Lösung des
Problems nicht erheblich näher gebracht hätten.
Im Gegensatz dazu soll hier die Auffassung ver-
treten werden, daß die vorliegenden Hypothesen
die Aufklärung des Problems bereits systematisch
vorbereiteten, sich praktisch verwerten lassen, und
daß die ihnen entgegenstehenden Schwierigkeiten
vielfach stark überschätzt werden. Auf der Braun-
schweiger Naturforscherversammlung 1897 hat
der bekannte Physiker P. Drude eine wertvolle,
bisher wenig beachtete Zusammenstellung und
Kritik der bis dahin zur Erklärung herangezogenen
Vorstellungen gegeben, die dieser Betrachtung
zugrunde gelegt werden soll. („Über Ferne-
wirkungen." Ann. d. Phys. 62, 1897.)
Man hat unter Hinweis auf die weitgehende
mathematische Ausgestaltung, die die Schwerkraft-
theorie Newtons erfahren hat, vielfach die Not-
wendigkeit anschaulicher Vorstellungen überhaupt
bestritten. Wie hier nun gezeigt werden soll,
lassen uns gerade die anschaulichen Erklärungs-
versuche erst die Unvollständigkeiten der Theorie
erkennen. Sie führen uns zu einer Reihe von
Schlüssen, von denen die bisher geltende Theorie
nichts weiß und nichts ahnen läßt, und die sich
namentlich auf die im Schwerkraftraume vor sich
gehenden Energiebewegungen beziehen. Die Not-
wendigkeit, die Lücken der Erkenntnis hier durch
. H. Frlcke.
möglichst plausible Hypothesen zu schließen, mag
gegenüber der rein formalen, hypothesenfreien Be-
handlung der Physik, die in neuester Zeit viel-
fach als das Ideal hingestellt wird, hier durch
einen einfachen Vergleich dargetan werden. Wir
können den Kampf ums Dasein um so erfolgreicher
kämpfen, je genauer wir die Natur erkennen. Der
Forscher befindet sich also in einer ähnlichen
Lage wie ein Feldherr im Kriege. Wie würde
man nun einen Heerführer beurteilen, der sein
Verhalten allein auf die ganz exakten und sicher
bewiesenen Nachrichten vom Feinde aufbauen
wollte nnd alles nur Vermutete als nicht vor-
handen ansehen wollte? Jeder gute Feldherr
wird es im Gegenteil für seine wichtigste Aufgabe
halten, unter Benutzung der spärlichen exakten
Meldungen aus allerlei Anzeichen sich ein mög-
lichst vollständiges Bild vom Feinde, seiner Stärke,
seiner Stellung und seinen Absichten zu machen,
selbst auf die Gefahr hin, daß das Bild falsch sei.
So sind auch in der Wissenschaft die Vermutungen
über das Unbekannte vielfach wichtiger und in-
teressanter, als unser spärliches exaktes Wissen.
Nichts ist verkehrter, als das Wesen der Physik
nur im Messen und Zählen oder in der Beschrei-
bung von Einzelheiten sehen zu wollen; vermag
uns doch gerade diese Wissenschaft wie keine
andere zu den Grundlagen einer Weltanschauung
zu führen , die die Zusammenhänge aller
Dinge zu erfassen strebt. Hypothetische Betrach-
tungen stellen daher hier wie in den meisten
Wissenschaften die wichtigste Aufgabe dar.
Zur Erklärung der Fernwirkung der Schwer-
kraft muß man im scheinbar leeren Räume eine
wirksame Substanz annehmen. Besonders gerade
und schnell zu einem gewissen Abschluß führend
ist der Weg, den der Genfer Mathematiker
George Louis Le Sage (1724 — 1803) in seiner
bekannten Stoß- und Schirmwirkungstheo-
r i e der Schwerkraft eingeschlagen hat. Er besaß
übrigens darin bereits zwei Vorläufer, Nicolas
Fatio aus Duiller, der als ein Freund Newtons
bezeichnet wird und i. J. 1694 mit Leibniz
korrespondierte, und F. A. Redeker, der 1736
als Arzt, anscheinend in Lemgo, lebte. LeSage
übertraf seine Vorgänger jedoch weit durch eine
gründlichere und einwandfreiere Behandlung der
Aufgabe. Veröffentlicht hat er selbst sehr wenig;
seine meist auf der Rückseite von Spielkarten
geschriebenen Handschriften befinden sich in der
Genfer Bibliothek. Ein Teil der Schriften sowie
eine Lebensbeschreibung ist bald nach seinem
Tode in Genf veröffentlicht worden; größere
514
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr." 38
deutsche Arbeiten über ihn scheinen leider nicht
vorhanden zu sein.
Die Vorstellungen, mit denen Le Sage ar-
beitet, sind die gleichen, die sich auch in der
modernen kinetischen Theorie der Materie, be-
sonders der Gase, wiederfinden. Nach Le Sage
wird der Raum, in dem die Schwerkraft wirksam
ist, also der „Schwerkraftsraum", ständig nach
allen Richtungen von kleinen Teilchen durcheilt,
die eine fast unendlich große Geschwindigkeit
besitzen und die als ultramundane — d. h. aus
dem Jenseits oder dem Unendlichen kommende
— Körperchen oder Korpuskeln (corpuscules ultra-
mondains) bezeichnet werden. Ein einzelnes Atom,
das in einem solchen Räume eingebettet ist, er-
fährt keinen Anstoß zur Bewegung, da die von
allen Seiten kommenden Stöße sich gegenseitig
aufheben. Bringt man aber zwei Körper hinein,
so schützen sie sich gegenseitig vor diesen Stößen
und werden dadurch zueinander hingetrie-
ben. Schreibt man den ultramundanen Teilchen
eine sehr hohe Durchdringungskraft zu, so daß
die Schirmwirkung nicht von der Oberfläche,
sondern nur noch von der Masse der Körper ab-
hängt, so kann man tatsächlich das Newtonsche
Anziehungsgesetz aus der Vorstellung des Le Sage
ableiten. Besonders die Schwerkraftwirkung auf
der Erde wird durch die Schirmwirkung des ge-
waltigen Erdkörpers unter uns tatsächlich in sehr
plausibler Weise erklärt.
Ein besonderer Vorzug der Theorie ist, daß
sie sich zwanglos an die herrschende kinetische
Theorie der Materie anschließt. Daß der schein-
bar leere Raum tatsächlich mit Atomen feinerer
Art erfüllt ist, lehrt bereits die kinetische Gas-
theorie des Lichtäthers. Ob wir die negativen
Elektronen, wie Walte meint, bereits als die
Ätheratome betrachten können, oder ob wir uns
diese noch von erheblich kleineren Abmessungen
denken müssen, mag vorläufig dahingestellt bleiben.
Die kinetische Theorie der Materie lehrt nun, daß
die verschieden großen Atome im Gleichgewicht
nebeneinander im Räume bestehen, wenn die
lebendige Kraft (kinetische Energie) ihres Stoßes
gleich ist, die der Masse und dem Quadrate der
Geschwindigkeit proportional ist. Daraus ergibt
sich, daß die Atomgeschwindigkeiten um so größer
werden, je kleiner die Atommassen sind. So hat
das Wasserstoffatom bekanntlich eine 4 mal
größere Geschwindigkeit als das 16 mal schwerere
Sauerstoffatom. Die Geschwindigkeit eines Licht-
ätheratoms ist bereits von der Größenordnung
der Lichtgeschwindigkeit anzunehmen.
Eine naheliegende Idee ist nun, die ultramun-
danen Körperchen den Lichtätheratomen gleich-
zusetzen; bekannt ist in dieser Hinsicht besonders
die Theorie von C. Isenkrahc geworden, dessen
Buch „Das Rätsel der Schwerkraft" (Braunschweig
1879) auch noch eine sehr interessante Zusammen-
stellung älterer Versuche zur Lösung des Schwer-
kraftproblems enthält. So große Erfolge nun die
Gleichsetzung des die elektromagnetischen Er-
scheinungen bewirkenden Äthers mit dem Licht-
äther in der Maxwellschen Theorie gezeitigt hat,
so wenig Erfolg hat bisher der Versuch gehabt,
den Lichtäther in der die Schwerkraft hervor-
rufenden Substanz, die man den „Gravitations-
äther" nennen kann, wiederzuerkennen. Drude
erwähnt Untersuchungen von Rysdnek, Browne
und Bock, wonach die Geschwindigkeit der
ultramundanen Körperchen die Lichtgeschwindig-
keit ganz erheblich übersteigen müßte. Auch
glauben die Astronomen die Fortpflanzungsge-
schwindigkeit der Schwerkraft als praktisch un-
endlich groß, jedenfalls aber als weit größer als
die Lichtgeschwindigkeit ansetzen zu müssen.
Wenn sich gegen die Begründung dieser Berech-
nungen nun auch noch vieles wird einwenden
lassen, so wird man doch Lichtäther und Schwer-
kraftäther vorläufig als verschiedenartige Sub-
stanzen ansehen müssen. Die Annahme zweier
oder mehrerer Arten von Äther hält Drude für
eine zu große Verwicklung; wie ich glaube, jedoch
vollständig zu Unrecht. Mir ist es im Gegenteil
von vornherein eine unwahrscheinliche Annahme,
daß wir bei Auflösung des zunächst gestaltlos
erscheinenden Welthintergrundes in atomistische
Gebilde bei den Lichtätheratomen bereits als den
letzten Weltbausteinen angelangt sein sollten.
Viel wahrscheinlicher ist doch, daß sich die Reihe
der Atome auch jenseits des Lichtäthers fort-
setzen wird, im „Metäther" oder „Uräther". Die
Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung ist
neuerdings besonders von L e n a r d in seiner
Schrift „Über Äther und Uräther" (Leipzig 1921)
betont worden.
Bilden die Atome Teile eines räumlichen Kon-
tinuums, wie es bei der Ätherwirbeltheorie ver-
mutet wird, so muß die Reihe sich sogar bis ins
Unendliche fortsetzen lassen. Der Schwerkraft-
äther würde in dieser unendlichen Reihe alle
Atome umfassen, deren Geschwindigkeit für uns
praktisch unendlich groß ist. Nach Le Sage
lehrt uns also die Schwerkraft die feinste aber
doch wichtige, wirksame und fühlbare Materie
kennen, eine noch unbekannte Ursubstanz der
Welt, viel feiner und schneller selbst als Elektri-
zität und Licht.
Von besonderer Bedeutung ist nun, daß die
Theorie des Le Sage uns ein Bild von den
Energieumsetzungen gibt, die im Schwerkraft-
raume zwischen der feineren und der gröberen
Substanz stattfinden. Schreibt man nämlich den
ultramundanen Körperchen eine vollkommene
Elastizität zu, so erhält man keine Schirmwirkung.
Nimmt man aber mit Le Sage an, die Teilchen
seien nicht vollkommen elastisch, so würden zwar
die Anziehungen möglich sein, die Energie der
stoßenden Teilchen müßte aber von den wäg-
baren Körpern verschluckt werden. Daraus hat
nun Maxwell einen schwerwiegenden Einwand
abgeleitet, indem er meinte, die durch die Gravi-
tation erzeugte Wärme müßte in wenigen Se-
N. F. XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
515
künden das ganze sichtbare Weltall bis zur
Weißglut erhitzen. "
Betrachtet man nun einmal unbefangen in
einer sternklaren Nacht das sichtbare Weltall, so
findet man, daß er sich tatsächlich größtenteils
in Weißglut befindet, und zwar steht dieser Zu-
stand im Widerspruch mit den bisher bekannten
physikalischen Gesetzen. Denn von Rechts wegen
müßten doch die Sonne und alle Fixsterne in-
folge der Verschwendung, die sie mit der Wärme-
energie treiben, längst erkaltet sein, und die
Astronomen verfehlen auch nicht, eine unabwend-
bare Erkaltung unseres Zentralgestirns zu prophe-
zeien. Die Schwerkrafttheorie des Le Sage er-
öffnet also einen neuen Weg, die Konstanz der
Sonnentemperatur zu erklären, was als erster
Leray 1869 erkannt zu haben scheint. Auch
die Theorie von R y s ä n e k führt diesen Gedanken
aus. Wie man sich die Energieumwandlung vor-
stellen kann, habe ich unabhängig von diesen
Vorarbeiten, die mir erst nachträglich bekannt
geworden sind, in der kleinen Schrift „Die neue
Erklärung der Schwerkraft" (Wolfenbüttel, Heck-
ners Verlag, 1920) näher ausgeführt.
Drude kommt zu dem Schluß: „Die Stoß-
wirkungstheorien zeigen zur Genüge, wie sie zu
Experimenten oder Fragestellungen der Wirklich-
keit drängen. Bisher kennen wir von den Eigen-
schaften des Vakuums nur die eine, nämlich die
Lichtfortpflanzungsgeschwindigkeit. Erst wenn es
gelingt, noch mehrere Eigenschaften zu entdecken,
so ist Hoffnung vorhanden, die sog. Gravitations-
konstante mit anderen Erscheinungen oder Tat-
sachen in numerische Beziehung setzen zu können."
Nun glaube ich tatsächlich eine numerische Be-
ziehung aufgefunden zu haben, die aus der Newton-
schen Theorie nicht folgt, aber mit dem Charakter
der Schwerkraft als einer Stoßwirkung vortrefflich
übereinstimmen würde. Es besteht in unserem
Planetensystem nämlich eine auffallende Propor-
tionalität zwischen Schwerkraft und
Temperatur. Die nachstehende Tabelle ist
auf der einfachen Annahme gegründet, die Eigen-
temperatur der Oberflächen sei der dort herrschen-
den Schwerkraft proportional. Um die so dem
Erdschwerefelde entsprechende Temperatur zu
ermitteln, ist von der mittleren Oberflächentempe-
ratur von 15" C oder 288" absolut noch die
Wirkung der Sonnenstrahlung in Abzug zu bringen,
die nach Seh ein er auf 88° eingeschätzt wird.
Dem Schwerkraftfelde der Erde als der natürlich
gegebenen Einheit würde dann die absolute Tem-
peratur von 200° oder — 73" C entsprechen, eine
Zahl, der sich die Temperaturmessungen in den
höchsten Luftschichten bereits stark annähern.
Auf dieser Grundlage ergibt sich die folgende
Temperaturen tabelle des Planeten-
systems: (s. rechts oben.)
Natürlich will die Tabelle keine absolut exakten
Werte geben, da außer der Schwerkraft und
Sonnenstrahlung ja noch andere innere oder
äußere Einflüsse die Temperatur entscheidend be-
Oberflächen-
Name des
Welt-
körpers
Schwere
auf der
Oberfläche
rechnete abso-
lute Welt-
raumtempe-
ratur auf der
Oberfläche
Korrektur
wegen der
Sonnen-
strahlung
temperatur
mit Berück-
sichtigung der
Sonnen-
strahlung in
Celsiusgraden
Sonne
27.7
5520°
—
+ 5247°
Jupiter
2,42
484
+3"
+211
Saturn
1,21
242
+1
—30
Erde
I
200
+88
+15
Venus
0,8s
170
+88
—IS
Mars
0,38
76
+38
—159
Merkur
0,38
76
+587
-I-390
Mond
0,16
32
+88
— '53
einflussen können. Auffallend ist jedoch, daß in
den Fällen, wo wir die Temperatur etwas genauer
schätzen können, die Übereinstimmung mit der
Erfahrung besonders überraschend hervortritt.
Die Sonnentemperatur hat man zu etwa 5800 —
6000" ermittelt, also nur wenige hundert Grad
höher als hier berechnet. Die Eigentemperatur
des IVlondes kommt dem absoluten Nullpunkt tat-
sächlich sehr nahe. Die Temperatur der Welt-
körper scheint mit ihrer Masse daher viel mehr
zusammenzuhängen , als man bisher nach der
herrschenden Erkaltungslehre vermutet hatte. Die
Geologie lehrt, daß die Temperatur von Erde und
Sonne wahrscheinlich in vielen Jahrmillionen —
zur Permzeit soll es bereits eine Eiszeit gegeben
haben — nicht merklich geschwankt haben kann,
und über den früheren Zustand von Erde und
Sonne wissen wir nichts bestimmtes. Was über
die Entstehung der Weltkörper aus glühenden
Gasbällen o. dgl. geschrieben wird, ist reines
Phantasieprodukt.
Was die für die übrigen Planeten berechneten
Zahlen anbetrifft, so kann man über ihren Wert
verschiedener Meinung sein; auf jeden Fall er-
geben sie eine bessere Übereinstimmung mit der
Erfahrung als die bisherige Anschauung, die die
Weltraumtemperatur einfach dem absoluten Null-
punkte gleichsetzte. Für Venus gewährt die
Theorie — wenn man die Wärmeabsorption dieses
reinweißen Planeten besonders niedrig einschätzt
— die Möglichkeit, ihn für kälter als die Erde
zu halten, so daß sein schneeweißes Aus-
sehen in besonders einfacher Weise tatsächlich
als Schneebildung zu erklären wäre. Neuere
Untersuchungen sollen das Fehlen von Wasser-
dampf in der Atmosphäre des Planeten ergeben
haben, was mit der Schneetheorie jedenfalls besser
übereinstimmt, als mit der herrschenden Wolken-
theorie. Für Mars ergibt sich eine Mittelstellung
zwischen Mond und Erde, was auch mit anderen
physikalischen Beobachtungen — namentlich der
sehr geringen Dichte der Atmosphäre — überein-
stimmt. Wenn man die Polhauben nicht einfach
als Kohlensäureschnee o. dgl. deuten will, so kann
man in ihnen auch reifartige Niederschläge aus
5i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
den spärlichen Resten einer Wasserdampfhülle
vermuten. Die Ansicht, daß es auf dem Mars
tatsächlich sehr kalt sei, ist von verschiedenen
Astronomen, z. B. von B a u m a n n , vertreten
worden. Die Meinung, die Temperatur dort sei
mit der irdischen vergleichbar, ist vom physikali-
schen Standpunkte aus von vornherein unwahr-
scheinlich. Die Beobachtungen lassen sich natur-
gemäß in sehr mannigfacher Weise auslegen. —
Die Temperatur der äußeren Planeten Jupiter
und Saturn wird aus Gründen, deren Mitteilung
hier zu weit führen würde, wahrscheinlich noch
erheblich höher sein, als die Tabelle angibt.
Die Bedeutung der vermuteten zahlenmäßigen
Beziehung zwischen Temperatur und Schwerkraft
für die Theorie liegt vor allem in dem Umstände,
daß die kinetische Theorie beide Erscheinungen
in genau der gleichen Weise erklärt; denn die
Temperatur wird als die lebendige Kraft der
gröberen, wägbaren Atome, die Schwerkraft als
die lebendige Kraft der feineren, ultramundanen
Teilchen aufgefaßt. Zwischen der gröberen und
feineren Materie scheint also im Planetensystem
so etwas wie ein Gleichgewicht der Kräfte zu
bestehen. Vermutlich ist auch ein Gleichgewicht
in den Energiebewegungen vorhanden; dieses
läßt sich aber vorläufig nicht messend verfolgen,
da die Schwerkraftenergie sich durch die im
Laboratorium vorhandenen Auffangvorrichtungen
nur in ganz geringem Umfange absorbieren läßt.
Die Energie kann also nicht, wie es z. B. bei
der Strahlungsenergie im Lichtäther möglich ist,
einfach durch Absorption gemessen werden.
Die große Leistung der kinetischen Theorie
besteht also darin, daß zunächst einmal eine
Grundlage zum Verständnis des Wesens der
Schwerkraft geschaffen wird. Die auf Grund der
Newtonschen Theorie noch gar nicht beachtete
Rolle, die die Schwerkraft für die Erkenntnis
einer substantiellen Erfüllung des Raumes und
für den Kreislauf der Energie besitzt, wird in sehr
einfacher Weise deutlich gemacht. Dagegen wird
man in mathematisch-analytischer Hinsicht keine
exakte Lösung, sondern nur eine Annäherung er-
warten können. Die kinetische Gastheorie mit
ihren elastischen Atombällen ist eben ganz allge-
mein nur eine Annäherung erster Ordnung. Bei
näherer Betrachtung besitzen Atome und um-
gebender Raum viel verwickeitere Eigenschaften.
Es ist vor allem zweifelhaft, ob man die Atome
wirklich als räumlich getrennte Teilchen oder
nicht vielmehr als wellenartige Impulse im Kon-
tinuum auffassen soll, wie es u.a. v. Dellings-
hausen tat. Besonders beachtenswerte Aus-
blicke gewährt die Idee des „Wirbelatoms", wie
sie vor allem von Lord Kelvin und seiner
Schule ausgebildet und neuerdings in Deutsch-
land auch von C. Westphal („Wirbelkristall",
Braunschweig 1921) weiter verfolgt worden
ist. Das Atom wird hier als Wirbel in einer
mehr kontinuierlich gedachten feineren Substanz
— Äther oder Uräther — aufgefaßt. Bei ein-
gehenderer Bearbeitung wird die atomistische
Theorie daher so verwickelt, daß man von ihr
vorläufig eine abgeschlossene mathematische Lö-
sung nicht erwarten kann. Ihre Bedeutung beruht
zunächst mehr in ihrer Anschaulichkeit.
Ein anderer bisher wenig beachteter Gedanken-
gang verspricht in mathematischer Hinsicht viel-
leicht größere Erfolge. Die Annahme von Atomen,
die sich reibungslos im leeren Räume bewegen,
steht mit dem Umstände im Widerspruch, daß
der Raum als Lichtäther und auch als Schwer-
kraftäther die substantiellen Eigenschaften eines
widerstehenden Mittels besitzt. Die gleichförmige
Trägheitsbewegung, die nach Galilei und New-
ton als eine kräftefreie Bewegung aufgefaßt wird,
muß dann in ganz anderer Weise, nämlich als
die unter dem Einfluß einer Kraft erfolgende Be-
wegung durch ein widerstehendes Mittel gedeutet
werden. Wie bereits in dem Artikel „Zur Klärung
des Ätherproblems" (diese Zeitschrift 1922, S. i/O)
ausgeführt, hat neuerdings Slate auf diese Weise
Gleichungen erhalten, die dem elektromagnetischen
Kraftfelde entsprechen. Der wesentliche Unter-
schied zwischen der angeblich veralteten „mecha-
nischen" und der neueren „elektrodynamischen"
Theorie der Materie würde danach vermutlich
darin bestehen, daß man bei Anwendung der
elektromagnetischen Gleichungen auch die Flüssig-
keitsreibung unter dem Namen des „Magnetismus"
mit berücksichtigt (vgl. hierzu die Abb. auf S. 169,
Jahrg. 1922 dieser Zeitschrift), während man bei
Anwendung der mechanischen Stoßtheorie sich
der falschen Begriffe des „reibungslosen" oder
„leeren" Raumes bedient. Trotz der Einführung
der Reibung braucht man jedoch nicht anzuneh-
men, daß die Atombewegung jemals zum Still-
stand kommen müßte. Denn die Energie, die
dem Atom durch Reibung verloren geht, kann
aus dem Weltraum nicht heraus, und muß infolge
des Gesetzes von der Erhaltung der Energie im
ewigen Kreislauf zu den Atomen wieder zurück-
fließen. Vielleicht zerfallen und entstehen die
Atome in ähnlicher Weise, wie wir es bei den
Lebewesen verfolgen können. Neuerdings haben
auch N ernst und Wiechert ähnliche Anschau-
ungen entwickelt.
Diese Anschauung steht, allerdings mit einer
weitverbreiteten Meinung im Widerspruche, wo-
nach der sog. zweite Hauptsatz der Wärmelehre,
der Entropiesatz , eine allmähliche Entwertung
der Energie beweisen soll, so daß die Umwand-
lung der Bewegungsenergie durch Reibung in
Wärmebewegung kein vollständig umkehrbarer
Vorgang wäre. Wie früher schon Boltzmann
u. a., neuerdings vor allem v. Smoluchowski,
gezeigt haben, läßt sich der Entropiesatz jedoch
nicht auf das ganze Weltgeschehen anwenden.
Ich führe aus der Arbeit v. Smoluchowskis
über „Güitigkeitsgrenzen des zweiten Hauptsatzes
der Wärmetlieorie" („Vorträge über die kinetische
Theorie der Materie und der Elektrizität", Verlag
von Teubner, Leipzig 1914, S. 87 ff.) nur die fol-
N. F. XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
517
genden Sätze an : „Der zweite Hauptsatz hat seine
Stellung als unerschütterliches Dogma, als eines
der Grundprinzipien der Physik, ein für allemal
eingebüßt." „An den in den letzten Jahren ex-
perimentell beobachteten Schwankungsphänomenen
erscheint gerade der Umstand dem Thermodyna-
miker am absonderlichsten, daß er hier mit eigenen
Augen die Umkehr von Prozessen sieht, die all-
gemein als irreversibel gelten." „Ebenso zeigt die
Brownsche Bewegung die Umkehr des Prozesses
der inneren Reibung in Flüssigkeiten, denn die
Emulsionsteilchen werden in ihrer Bewegung auf-
gehalten, setzen sich aber wieder von selbst in
Bewegung." „Würden wir unsere Beobachtung
unermeßlich lange Zeit hindurch fortsetzen , so
würden uns sämtliche Vorgänge reversibel er-
scheinen." „Wie haltlos erscheint von diesem
Standpunkt aus die Clausiussche Behauptung:
,Die Entropie des Weltalls strebt einem Maximum
zu.' Der Molekularstatistiker wird in derselben
nur eine Äußerung menschlicher Kurzsichtigkeit
und Kurzlebigkeit sehen. So glauben vielleicht
auch die ersten Frühlingsblumen, daß das Klima
des Weltalls immer wärmer wird, denn die um-
gekehrte Änderung im Herbst erleben sie niemals."
Der Energiezerstreuung, die wir z. B. bei der
Strahlung beobachten, muß daher ein von der
Wissenschaft bisher nicht beachteter Vorgang der
Energiesammlung entsprechen und die kinetische
Theorie der Schwerkraft läßt den geheimnisvollen,
aus dem unendlich Kleinen kommenden Weg er-
kennen, auf dem die zerstreute Energie wieder
zu den wägbaren Atomen zurückkehrt, um die
vom Reibungswiderstande der Weltraumsubstanz
zur Ruhe gebrachten Atome von neuem anzu-
treiben.
Die oben erwähnte Theorie des Wirbelatoms
verknüpft die Stoßtheorie der Schwerkraft mit
den hydrodynamischen Theorien der Gravitation,
wie sie u. a. von A. Korn entwickelt worden
sind. Die scheinbar verschiedenartigen Grund-
anschauungen, von denen man bei der Erklärung
der Schwerkraft ausgegangen ist, werden sich in
einem späteren Zustande der Entwicklung daher
vermutlich zu einem einheitlichen Bilde zusammen-
fassen lassen. Vielleicht kehrt dann die Astro-
nomie von der abstrakten Betrachtungsweise
Newtons wieder mehr zur anschaulichen Wirbel-
theorie des Descartes zurück, der den Raum
überall als Substanz auffaßte, „weil es absurd
sei, daß das Nichts eine Ausdehnung
habe". Descartes unterschied auch bereits
Lichtäther und Gravitationsäther voneinander.
Darauf, daß es ein Schwerkraftträgheitsfeld gibt,
das in ähnlicher Weise mit substantiellen Eigen-
schaften ausgestattet ist, wie das elektromagneti-
sche Kraftfeld, deuten vor allem die Erscheinungen,
die von mir in dieser Zeitschrift unter dem Titel
„Wind und Wetter als P'eldwirkungen der Schwer-
kraft" (Jahrg. 192 1, Heft 7, S. 97) beschrieben
worden sind. ^)
Wenn nun auch eine abschließende mathema-
tische Lösung des Schwerkraftproblems heute
noch nicht zu erwarten ist — dazu hängt das-
selbe wohl zu eng mit dem Weltproblem über-
haupt zusammen — so glaube ich doch durch
die vorstehenden Ausführungen dargetan zu haben,
daß uns die bisher geleistete Arbeit schon ein
anschauliches Bild vom Wesen der Schwerkraft
und ihrem Zusammenhange mit den übrigen
Naturkräften zu geben vermag und den Weg er-
kennen läßt, auf dem ein weiteres Vordringen
recht wohl möglich ist. Die übliche Art, die
Schwerkraft nur als ein mathematisches Pro-
blem zu behandeln, schließt die schwere Gefahr
in sich, daß wir im Kreislauf der Energie ganz
unberechtigterweise Lücken offen lassen und
Naturkräfte übersehen, die uns aufs innigste be-
rühren. Unsere heutige Wissenschaft glaubt über-
all nur Energieentwertung, Alter, Tod, Erkaltung
und Untergang als das Ziel der Naturentwicklung
hinstellen zu müssen. Erst die Erkenntnis vom
Wesen der Schwerkraft lehrt uns die aus dem
unendlich Kleinen stammenden aufbauenden,
schaffenden Kräfte erkennen, die gleichsam den
Lauf der Zeit umkehrend den Tod wieder zum
Leben umwandeln und der altgewordenen Welt
die Jugend zurückgeben.
') Wenn man die Abb. 3 auf S. 98, Jhrg. 1921 dieser
Zeilschrift aufmerksam betrachtet, so erkennt man, daß die
Erde hier talsächlich unter der Wirkung einer in Richtung
ihrer Bahn liegenden beschleunigenden Kraft und eines im
Räume vorhandenen stofflichen Widerstandes zu stehen scheint.
Es gelang mir inzwischen, diese Anschauung in einer neuen
Schwerkrafttheorie mathematisch zu begründen. Der Reibungs-
widerstand wird der Planetenmasse m und dem Quadrate der
Geschwindigkeit v, also m^v- proportional gesetzt. Den Aus-
gleich findet diese Kraft in einer bisher unbeachteten tangen-
tialen Schwerkraftkomponente, die in der Sonnenrötation ihren
.\usdruck findet. Die bekannte Newtonsche Kraft, die dem
Quadrat des Sonnenabstandes r umgekeh;-t proportional ist,
wirkt auf jeden Planeten mit dem Hebelarm r mitreißend, so
daß diese Kraft der Größe „■r = — proportional ist. Die
Geschwindigkeit der Planeten ist nun — =— , worin T die
Umlaufszeit in der zunächst kreisförmig angenommenen Bahn
ist. Setzt man die beschleunigende Kraft der Reibung gleich,
so erhält man , wenn man alle unveränderlichen Größen zur
-,- = c, also das dritte Keplersche Gesetz. New-
tons Ableitung der Planetenbahn aus einer reibungslosen
Trägheitskomponente ist also nicht die einzig mögliche Lösung I
5i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
[Nachdruck verboten.]
Biozönologie und Soziologie.
Von E. Schmid, Wasserburg am Bodensec.
Der Wunsch, für die Fülle der Formen des
Zusammenlebens der Organismen Einheiten zu
finden und diese übersichtlich anzuordnen oder
natürlich zu klassifizieren, ist in neuerer Zeit be-
sonders rege geworden. Es ist klar, daß diese
sehr häufig außerordentlich komplizierten Erschei-
nungen von den verschiedensten Gesichtspunkten
aus betrachtet werden, so daß sich oft mehrere
SpezialWissenschaften mit den gleichen Phänome-
nen abgeben, daß Systeme aufgestellt werden,
welche in schon bestehende übergreifen. Scharfe
Grenzen fehlen meist, es handelt sich deshalb bei
der Festlegung derselben nicht so sehr um lo-
gische als um praktische Forderungen; infolge-
dessen wird es vielfach dem Übereinkommen
überlassen bleiben, an welcher Stelle sie gezogen
werden, wie die verschiedenen Systeme gegen-
einander abgegrenzt werden.
Das von P. Jaccard (in Flahault und
Schröter, Phytogeographische Nomenklatur,
Berichte und Vorschläge, Zürich 19 10) in die
Geobotanik eingeführte Wort „Soziologie", womit
„die Lehre von den Bedingungen und den Ge-
setzen der Bildung von Pflanzengesellschaften"
bezeichnet werden sollte, scheint sich mehr und
mehr einzubürgern, trotzdem die hier in Frage
stehenden Erscheinungen mit Soziologie nichts
zu tun haben (vgl. E. Rubel, Die Entwicklung
der Pflanzensoziologie. Vierteljahrsschrift d.Naturf.-
Ges. in Zürich, LXV, 1920. — J. Pavillard,
L'Association vegetale. Unite Phytosociologique.
IMontpellier 1921, und Cinq ans de Phytosocio-
logie. Montpellier 1922. — E. Du Rietz, Zur
methodologischen Grundlage der modernen Pflan-
zensoziologie. Upsala 1921). Wenn sich auch
viele Autoren darüber klar sind und deshalb ge-
legentlich von „PseudoSoziologie" sprechen, so
dürfte sich der Name nur schwer mehr ausmerzen
lassen. Eine kurze Übersicht über die Einheiten
des Zusammenlebens der Organismen möge die
Notwendigkeit einer geeigneteren Benennung
deutlich machen.
Die umfassenden, am meisten in die Augen
springenden dieser Einheiten sind zweifellos die
„topographischen" (bei H. G a m s , Prinzipien-
fragen der Vegetationsforschung, Vierteljahrsschrift
der Naturforschenden Gesellschaft Zürich, LXIII,
„biozönologischen"). Sie umfassen jeweils alle
auf einer einheitlichen Charakter besitzenden, geo-
graphisch umgrenzten Lokalität vorhandenen Tiere
und Pflanzen, und zwar sowohl die einzelnen Indi-
viduen als auch die verschiedenartigen Verbände,
in welchen dieselben auftreten. Das Band, das
diese Einheiten umgrenzt, sind lediglich die äußeren,
abiotischen Lebensfaktoren, wie Klima, physi-
kalische und chemische Bodenverhältnisse usw.
Zwischen den Lebewesen, ob sie nun einzeln oder
in Verbänden leben, können, aber brauchen nicht
irgendwelche gegenseitige Abhängigkeiten zu be-
stehen. Im ersteren Fall ist die topographische
Einheit zugleich eine Gemeinschaft vom Werte
einer Biozönose (s. u.). Eine topographische Ein-
heit ist z. B. der mit Sarothamnus- und Calluna-
Unterwuchs versehene Föhrenwald der Burgsand-
steinflächen um Nürnberg. Der Calluna-Saro-
thamnus-Unterwuchs kommt aber als von den
Föhren unabhängige Einheit auch ohne diese vor,
ebenso wie die Föhre mit ihren Schmarotzern
(Viscum, Kiefernspinner usw.) und ihrem „Edaphon"
auf den dortigen nackten Flugsanddünen lichte Be-
stände bildet. IVlit den topographischen Einheiten
haben sich bisher in der Hauptsache die Geo-
botaniker befaßt. Zur Charakterisierung benützen
dieselben außer den Standortsfaktoren besonders
die Lebensformen der am meisten hervortretenden
Arten.
Wichtige Einheiten sind: das konkrete Indivi-
duum der topographischen Einheiten, die Sied-
lung (Kupffer 1909, Gams 191 8) (= „Einzel-
bestand" Schröters 1902), und der aus gleich-
artigen Siedlungen durch Abstraktion erhaltene
Siedlungstypus („Bestandestypus" bei Schröter
1902). Eine Übersicht der topographischen Ein-
heiten innerhalb größerer Gebiete wird durch
Gruppieren der Einheiten mit physiognomischer
Ähnlichkeit, in kleineren durch Anordnen nach
den physiographischen Abschnitten erhalten.
Weniger umfassend, dafür aber meist weit
höheren Gemeinschaftswert besitzend als die topo-
graphischen Einheiten sind die biozönologi-
schen im engeren Sinne. Der Begriff Biozö-
nose ist von K. IVI ö b i u s („Die Austern und die
Austernwirtschaft", Berlin 1877) aufgestellt worden;
er bedeutet „eine den durchschnittlichen äußeren
Lebensverhältnissen entsprechende Auswahl und
Zahl von Arten und Individuen, welche sich
gegenseitig bedingen und durch Fortpflan-
zung in einem abgemessenen Gebiete dauernd
erhalten". Wird diese Definition allgemein an-
genommen, so gehören in das Gebiet der Bio-
zönologie nur jene Lebensgemeinschaften, deren
Glieder in ihren Beziehungen zueinander ihr Ge-
nüge finden, die in biologischem Gleichgewicht
stehen, die diesen Gleichgewichtszustand durch
Selbstregulation erhalten, die nur von der äußeren
unbelebten Umwelt abhängig sind, relativ stabil,
so lange jene unverändert bleibt, und die von der
belebten Umwelt nicht oder nur unwesentlich
abhängig sind. Auch C. Schröter (C. Schrö-
ter und O. Kirchner, Die Vegetation des Boden-
sees II. Bodenseeforschungen, Lindau 1902) findet
„eine scharfe Scheidung nötig", wo, wie bei der
limnetischen Region eines Sees und dem darunter
liegenden Seeboden, die Bedingungen so grund-
verschieden und die Bewohner gegenseitig so
unabhängig sind. J. Braun-Blanquet
(Essai sur les notions „delement" et de „terri-
toire" phytogeographiques. Arch. Sc. phys. et
N. F. XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
519
nat. 5® per. i, 19 19) spricht, allerdings nicht im
gleichen Zusammenhang, von unselbständigen
Gesellschaften, die an das Vorhandensein anderer
± gebunden sind, und bezeichnet sie als „ab-
hängige Gesellschaften". Wenn Fr. Da hl
(„Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln
und zum Konservieren von Tieren", Jena 19 14)
„Phytobiozönosen" und „Zoobiozönosen" neben
den „Allobiozönosen" in sein biozönologisches
System aufnimmt, so überschreitet er damit die
von IVI ö b i u s festgestellten Grenzen des Begriffes
Biozönose, indem er von biotischen Faktoren ab-
hängige, d. h. auf andere Lebewesen, Pflanzen
oder Tiere angewiesene Einheiten den Biozönosen
koordiniert, Einheiten, welche denselben unter-
geordnet, nur Glieder derselben sein können.
Ebensowenig wie die Sippensystematik von der
Physiolologie aufgestellte Einheiten in ihr System
aufnehmen kann, ebensowenig sollte die Biozöno-
logie die von der „Symphysiologie" (H. Gams
191 8) gelieferten Einheiten etwa als „niedere Bio-
zönosen" (A. Thienemann, Lebensgemeinschaft
und Lebensraum, Naturwissenschaftliche Wochen-
schrift 191 8, Nr. 20 u. 21) den Biozönosen gleich-
wertig zur Seite stellen. Um das Beispiel von
Thienemann zu verwenden, so sind das Eichen-
blatt mit Gallen und Galltieren, deren Parasiten
und Einmietern, IVlinierräupchen, Pilzen usw.,
ferner die Eichenrinde mit ihren Organismen, die
ganze Eiche mit all den auf ihr lebenden Tieren
und Pflanzen keine Gemeinschaften, welche in
das System der Biozönosen aufgenommen werden
können, sie sind ja jeweils wieder von biotischen
Faktoren abhängig, das Blatt mit seinen Be-
wohnern von der Eiche, die Eiche wiederum von
den Lebewesen des Bodens, in dem sie wurzelt.
Erst der ganze Wald, in dem die Eiche steht,
mit allen Pflanzen und Tieren ist wesentlich von
biotischen Faktoren unabhängig, er nur ist eine
Biozönose.
Das Wesen der Biozönose liegt in erster
Linie begründet in ihren Anpassungen an Klima,
edaphische und orographische Verhältnisse, in
der „Auswahl der Arten", welche sie zusammen-
setzen, in der Geschichte ihres Lebensraumes,
ferner in der Art ihrer Entstehung, in der Art
der Bindung der sie zusammensetzenden Einheiten.
Aus der Definition des Begriffes geht hervor,
daß die Biozönose nur „heterotypisch" (P e t r u c c i ,
Origines polyphyletiques, homotypie et non com-
parabilite directe des societes animales. Notes et
memoires de l'institut Solvay, Bruxelles 1906,
Heft 7) sein kann, d. h. aus Lebewesen verschie-
dener Art zusammengesetzt. Neben zahlreichen
Arten, welche auch in anderen Einheiten gedeihen
können, muß jeder Biozönosentypus jeweils eine
Gruppe bestimmter Arten enthalten, die in ihrer
Kombination nur dieser Einheit angehören und
die für ihn charakteristisch ist. Auf dem gegen-
wärtigen Stand der biozönologischen Forschung
spielt die Untersuchung der pflanzlichen Glieder
der Biozönosen die Hauptrolle. Sie sind für die
Einheit meist wichtiger als die Tiere. Ihre Kennt-
nis vermag schon einen weitgehenden Einblick
in das Wesen einer Biozönose zu geben. Die
„Phytozönologie" ist der Biozönologie vorausge-
gangen, sie hat bisher am meisten zur Gewinnung
eines Systems der Biozönosen beigetragen.
Die wichtigsten Einheiten der Phytozönologie
sind : die einzelne, konkrete, als Individuum einer
Phytozönose erkannte Gemeinschaft, der „Lo kal-
best and". Derselbe ist entweder lokal be-
dingt, d. h. er verdankt sein Entstehen nur
lokal wirkenden Faktoren (z. B. P"elsfluren in
ozeanischem, warmen Klimagebiet) oder er ist
allgemein bedingt, d. h. die Lebensfaktoren
sind über größere Strecken hin wirksam; er ist
entweder extrem, d. h. sein Charakter wird
durch einen oder wenige spezielle, extreme Fak-
toren (Bodenverhältnisse, Wind, Feuchtigkeit usw.)
geprägt oder ein „harmonischer", d. h. er
verdankt seinen Charakter einem Faktorenkomplex,
aus welchem nicht einzelne, extrem ungünstige,
völlig isoliert heraustreten.
Durch Abstraktion wird aus den wesensgleichen
Lokalbeständen der Begriff „Assoziation"
(im Sinne von Braun-Blanquet, 1921) ge-
wonnen. — Ein „Assoziationsfragment"
(Braun-Blanquet, 1918) ist eine Gruppe von
Arten einer Assoziation, welche unter entsprechen-
den Bedingungen isoliert innerhalb anderen Assozia-
tionen auftreten ; nahe verwandt damit ist die
„Elementarassoziation" Drudes („Die
Elementarassoziation im Formationsbilde". Bericht
der Freien Vereinigung für Pflanzengeographie
und systematische Botanik für die Jahre 191 7 und
191 8). Ein Beispiel eines solchen Assoziations-
fragmentes ist das Vorkommen von Anemone
Hepatica, Pulmonaria officinalis, Carex alba und
anderen Buchenwaldpflanzen inmitten des Föhren-
waldes mit Calluna - Unterwuchs der Umgebung
von Nürnberg und zwar da, wo dem sterilen
Stubensandstein kleine Fetzen dolomitischer Ar-
kose auflagern.
Für eine Übersicht der biozönologischen Ein-
heiten großer Gebiete sind von besonderem Wert
die „allgemein bedingten" Lokalbestände. Ebenso
wie etwa die Geologie einzelne stratigraphische
Profile an verschiedenen Lokalitäten untersucht,
um zuletzt die Teile nach ihrer auf die Leit-
fossilien begründeten Verwandtschaft zu den stra-
tigraphischen Formationen zusammenzufügen , so
kann die Biozönologie die durch Analyse gewon-
nenen einzelnen Lokalbestände gleicher Art, welche
den Charakter von „allgemeinbedingten" Lokal-
beständen tragen, samt den mit ihnen floristisch
verwandten lokalbedingten und den Assoziations-
fragmenten entsprechenden zu einer biozönologi-
schen Einheit höherer Ordnung summieren, für
welche ich das Wort Hauptzönose vorschlagen
möchte. Sie dürfte z. T. der „B i o c h o r e" K ö p -
pens entsprechen (W. Koppen, Versuch einer
Klassifikation der Klimate vorzugsweise nach ihren
Beziehungen zur Pflanzenwelt, Geogr. Zeitschrift
520
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
1900), welches Wort von Vahl 1911, Raun-
kiär, Rikli 1913, Garns 191 8 fälschlicherweise
im Sinne von Grenzlinie gebraucht worden ist.
Vgl. hierzu auch die „Life Zones" von M e r r i a m
(C. H. Merriam, Life zones and Crop zones of
the United States. U. S. Dep. of Agriculture
Bulletin nr. 10, 1898). Eine solche Einheit ist
z. B. die Buchen-Hauptzönose IVlitteleuropas. Sie
besteht aus sämtlichen typischen Lokalbeständen
von Fagus silvatica, dazu kommen etwa Lokal-
bestände, in welchen die Buche durch eine öko-
logisch ähnliche Art ersetzt sein kann, die jedoch
die für den typischen Buchenwald charakteristische
Artengruppe enthalten, wie etwa diejenigen von
Carpinus Betulus in Polen, welche von F. Tessen-
dorff (Vegetationsskizze vom Oberlaufe der
Schtschara Gouv. Minsk und Grodno. Berichte
der freien Vereinigung für Pflanzengeographie und
systematische Botanik für das Jahr 1920, Berlin
1921) geschildert worden sind, ferner Schuttfluren,
Felsfluren, Geröllfluren usw., welche von den für
das Buchengebiet charakteristischen Arten vor-
wiegend besiedelt werden. Nicht dazu gehören
im Areal der Buchen-Hauptzönose liegende Misch-
bestände von Buchen und Fichten, deren Begleit-
flora zu wesentlichen Teilen der Fichten-Haupt-
zönose entstammen, wie sie etwa in den höheren
Teilen der Voralpentäler anzutrefi'en sind, oder
mit einem lockeren Bestand von Buchen be-
stockte Schutthänge der oberen montanen Stufe
der Voralpen, welche mit subalpinen Hochstauden
bedeckt sind, oder Felsfluren, deren Charakter-
arten der pontischen Steppe angehören. Die
Hauptzönose der Buche bedeckt so ein Areal,
welches vielfach durchbrochen wird von der
Hauptzönose der Fichte, von der Hauptzönose
des Quercus sessiliflora — Tilia cordata-Misch-
waldes usw. Die Größenordnung der Areale dieser
Hauptzönosen dürfte etwa derjenigen ähneln,
welche A. K. Cajander („Zur Frage der gegen-
seitigen Beziehung zwischen Klima, Boden und
Vegetation", Acta forestalia fennica 1921. Hel-
singfors 1921) für seine Klimatypen beansprucht
hat.
Wenn in einem Gebiet mit natürlichen Ver-
hältnissen restlose Aufteilung der vorhandenen
Vegetationseinheiten nicht möglich ist, so ge-
hören diese nicht unterzubringenden Lokalbestände
den Zönosen eines Nachbargebietes an, oder aber
sie deuten auf Zugehörigkeit zu einer der Haupt-
zönose übergeordneten biozönologischen Einheit.
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß jeder
beliebige Vegetationsausschnitt sich einreihen ließe.
In einem florengeschichtlich jungen Gebiete werden
sich unausgeglichene Vegetationsdecken oft sehr
heterogener Art finden, wie z. B. die Heidewiesen
der bayrischen Hochebene, und in einem vom
Menschen beeinflußten Gebiete sind ausgeglichene,
natürliche Pflanzengemeinschaften meist nur noch
in undeutlichen Spuren vorhanden.
Daß in der Hauptzönose auch nicht ganz gleich-
wertige Elemente mit eingeschlossen werden,
widerspricht dem Wesen der Biozönosen durch-
aus nicht, sind doch auch die derselben unter-
geordneten Einheiten heterotypischer Art. Im
Gegensatz zur Sippensystematik, in der die Be-
trachtung der Summe der Individuen einer Art
geringen praktischen Wert hat, dürfte in der
Phytozönologie bei dem unter natürlichen Ver-
hältnissen oft gewaltigen Umfang der Lokal-
bestände dem Begriff' der Summe erhöhte Wich-
tigkeit beigemessen werden, da dieselbe dann sehr
wohl eine übersichtliche Darstellung der Vegeta-
tion großer Gebiete ermöglicht.
Wie etwa in der Geographie eine Übersicht
über die Gebirge der Erde gewonnen wird ein-
mal durch Gruppierung genetisch verwandter Ge-
birge (z. B. Alpiden, Tauriden, Altaiden usw.) und
dann durch Aufstellen eines Systems von Typen
(Schollengebirge, Deckengebirge usw.), so ergibt
auch in der Phytozönologie das Nebeneinander
der konkreten Einheiten höherer Ordnung (Haupt-
zönose, Biochore) eine Übersicht über die Vege-
tation der Erde, welche neben der Einteilung
nach abstrakten Einheiten ökologisch-physiogno-
mischer Art (Vegetationstypus, Hauptisözie usw.)
wohl berechtigt ist, zumal sie freier von Hypo-
thesen die Verhältnisse wiederzugeben imstande
ist, und zumal die bis jetzt existierenden Systeme
nicht natürliche genannt werden können. An ein
natürliches System müssen mindestens folgende
Anforderungen gestellt werden; Die Eintei-
lung muß nach denjenigen Prinzipien bewerk-
stelligt werden, welchen die Einheiten ihre Ent-
stehung verdanken; dabei muß das Verwandte
nebeneinander zu stehen kommen. Daraus folgt,
daß es für Gebilde einheitlicher Entstehung jeweils
nur e i n natürliches System geben kann, daß aber
Erscheinungen so zusammengesetzter Art und
Entstehungsweise wie die Biozönosen nicht in ein
solches gebracht werden können. Bei dem heuti-
gen Stande der Phytozönologie wird es jedenfalls
sehr schwer sein, das Einteilungsprinzip zu finden,
welches dem natürlichen am nächsten kommt
und in sich die wesentlichen Faktoren der Phyto-
zönosen in glücklicher Weise kombiniert. Ein
Anordnungsprinzip, d. h. ein Prinzip, nach welchem
die verwandten Reihen angeordnet werden, dürfte
leichter zu finden sein. Hierzu könnte vielleicht
die Menge der von der Einheit produ-
zierten lebenden Substanz dienen, wonach
an den Anfang des Systems etwa die offienen
Phytozönosen der Kältewüsten, an das Ende des-
selben die tropischen Regenwälder zu stehen
kämen. Dieses Prinzip dürfte sich nahezu decken
mit dem von Braun-Blanquet (Prinzipien
einer Systematik der Pflanzengesellschaften auf
floristischer Grundlage, Jahrbuch der St. Galle-
schen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft 57. Bd.,
II. Teil, 1920 und 1921) vorgeschlagenen, nämlich
der fortschreitenden Organisations-
höhe, wonach das „soziologisch" Einfachste am
Anfang und das Vollkommenste am Schluß des
Systems steht.
N. F. XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
521
Im wesentlichen die gleichen Phänomene be-
handelt die Synusiologie (Garns 1918). Sie
zerlegt die topographischen Einheiten in ökologi-
sche Gruppen, indem sie als Grundlage nicht die
Art, sondern die Lebensform (Wuchsform), ein
beim heutigen Stande der Ökologie allerdings
noch in hohem Maße hypothetisches Element be-
nützt. Diese Gruppen von gleichem Haushalt
bestehen aus einer oder meist mehreren selbstän-
digen, d. h. nicht an die Anwesenheit anderer
Lebewesen gebundenen Arten („Synusie i. und
2. Grades" bei Garns 191 8, „Verein" bei War-
ming 1907) oder mehrere solcher Gruppen nach
ihren Ansprüchen und ihrer Lebensform überein-
stimmende Arten treten zu einer in sich eng ver-
bundenen Gemeinschaft höheren Grades zusammen
(Synusie 3. Grades bei Gams 191 8). Die kon-
kreten Einheiten nennt Gams Bestand, wenn
sie aus einer oder mehreren, ökologisch ähnlichen
Arten zusammengesetzt sind, Siedlung, wenn
mehrere ökologische Gruppen eine ökologische
Einheit bilden, diese dürfte mit dem biozönologischen
„Lokalbestand" übereinstimmen. Die innerhalb
mehrerer Florengebiete einander entsprechenden
Einheiten nennt Gams Isözien. Beispiele einer
Synusie i. Grades sind die Reinbestände von
Calluna auf Sandboden des ozeanischen Mittel-
europa; einer Synusie 2. Grades die Bestände
von Vaccinium uliginosum mit Empetrum in der
alpinen Stufe der Zentralalpen; einer Synusie
3. Grades der typische subalpine Fichtenwald.
Die bisher erwähnten Organismenverbände
sind nur von äußeren Faktoren abhängig, von
biotischen Faktoren aber ganz oder wesentlich
unabhängig. Die jetzt zu besprechenden Ver-
bände sind außer von ihrer abiotischen Umgebung
auch von den Lebewesen ihres Lebensraumes in-
direkt abhängig und infolgedessen den ersteren
untergeordnet. Sie sind homotypisch oder hetero-
typisch. Mit ihnen beschäftigt sich die Autöko-
logie, die Soziologie, die idiobiologische Morpho-
logie und Physiologie.
Die hierher gehörigen Einheiten, mit welchen
sich die Autökologie beschäftigt, sind meist
heterotypisch, sie sind außerordentlich formen-
reich und durch gegenseitige oder einseitige mehr
oder weniger große Abhängigkeit charakterisiert.
Wichtige heterotypische sind: Das Sympho-
rium(P. Deegener, Die Formen der Verge-
sellschaftung im Tierreiche, Leipzig 191 8), welches
durch räumliche Abhängigkeit einer Art von einer
anderen zustande kommt, eine Art lebt auf dem
Körper einer anderen, ohne daß eine weitere Be-
ziehung zwischen beiden eintritt. Hierher gehören
z. B. die pflanzlichen Epiphyten (Nestbildende
Platycerium- Arten, Bromelia-Arten, Tillandsia usw.),
ferner die auf den Schalen von Muscheln sitzen-
den Balaniden, die Batrachospermumrasen auf
Limnaea stagnalis usw. usw. Das Parasitium,
das charakterisiert wird durch einseitige vollstän-
dige Abhängigkeit eines Individuums von einem
anderen, das Synözium, das Helotium und
viele andere solcher Einheiten; vgl. hierzu K.
Kräpelin, Die Beziehungen der Tiere zueinan-
der und zur Pflanzenwelt. Aus Natur und Geistes-
welt, Leipzig - Berlin 1905 und die Arbeit von P.
Deegener 1918, in welcher eine große Anzahl
derartiger Einheiten beschrieben und benannt
werden. Hierher gehören auch die oben erwähnten
„abhängigen Gesellschaften" im Sinne von Braun-
Blanquet und ein Teil der Synusien von Gams
und der Elementarassoziationen von Drude.
Homotypische Einheiten dieser Art sind : Die
Platz gesellsch aft (Deegener 1918), welche
durch zufalliges Zusammentreten von gleichartigen
Lebewesen an einer günstigen Lokalität zustande
kommt, die Freßgesellschaft (z.B.: Aaskäfer
an einem Aas), die Wandergesellschaft
(z. B. : Wanderheuschrecken) und viele andere.
Dazu gehören auch die organisch verbundenen
Einheiten, wie sie in den Tierstöcken vorliegen.
Bei diesen kann die gegenseitige Anpassung sogar
zu weitgehender Arbeitsteilung und Differenzierung
gedeihen , z. B. bei den Siphonophoren. Ein
natürliches System ist bei der Vielgestaltigkeit der
Bildungsweisen unmöglich. Die Möglichkeiten
einer übersichtlichen Gruppierung sind dem mannig-
faltigen Wesen dieser Einschnitte entsprechend
zahlreiche. Die Anordnung erfolgt praktisch nach
dem Grad der Anpassung und Abhängigkeit der
Glieder voneinander.
Übrig geblieben sind jetzt im wesentlichen
nur noch homotypische, abhängige Einheiten. Sie
gehören in das Gebiet der Soziologie, Morpho-
logie und Physiologie. Die letztere erforscht die-
jenigen Formen des Zusammenseins von Organis-
men, welche auf Grund geschlechtlicher und un-
geschlechtlicher Fortpflanzung zustande kommen,
wie z. B. Herden von Pflanzen und Tieren, welche
durch Ausläuferbildung, Brutknospenbildung, Sa-
menausstreuung, Ausschlüpfen aus Eihaufen usw.
zustande kommen (z. B. : bei Hieracium Pilosella,
Lycopodium Selago, Sagina nodosa. Arenaria ser-
phyllifolia, bei Spinnen, Borkenkäfern usw.), ferner
die verschiedenen Formen der Familien (Mutter-
familie, Elternfamilie usw.) und der Ehe. Die
Morphologie untersucht die durch das Prinzip
der Arbeitsteilung und Differenzierung besonders
charakterisierten homotypischen Verbände orga-
nisch verknüpfter Individuen, die Koloniebildungen
der Protozoen, die Verbände der Zellen im Meta-
zoenkörper und in der mehrzelligen Pflanze.
Mit zum wesentlichen Teile homotypischen
Einheiten befaßt sich die Soziologie. Die
Frage nach der Natur der menschlichen Gesell-
schaft haben zuerst die griechischen Sophisten
aufgestellt. Aristoteles hat dieselbe als ein
natürliches Wesen erkannt, das auf die nämliche
Weise wie die Natur erforscht werden muß. Doch
noch bei Rousseau findet sich die entgegen-
gesetzte Ansicht vom Staat als Kunstwerk, ge-
schaffen und erhalten durch die Vernunft der
Bürger. Erst Kant und später Hegel versuchen
beide Ansichten zu vereinigen. Die nur speku-
522
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
lative, vom ethischen Standpunkt ausgehende Er-
forschung der soziologischen Probleme, wie sie
vom Altertum bis zur Neuzeit (A u g u s t i n ,
Spinoza, Rousseau, Fichte u. a.) herrschend
war, wird im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts
mehr und mehr von induktiven, analytischen und
experimentellen Methoden verdrängt. Außer der
Geschichte und Nationalökonomie befaßt sich jetzt
auch die Biologie mit denselben. A. Comte
(Cours de philosophie positive, Paris 1830 — 42
und Systeme de politique positive 1822) begrün-
det die Soziologie als selbständiges Forschungs-
gebiet auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Ihr
Arbeitsgebiet ist nach ihm die Erforschung der
Statik und Dynamik der menschlichen Gesellschaft.
In dem mehrfachen Wandel, den die Soziologie
durchgemacht hat, ist der Punkt, welcher uns hier
allein interessiert, das Verhältnis zur Biologie,
einer der wandelbarsten gewesen. Spencer be-
schränkt wie Comte die Aufgabe der Soziologie
auf die menschlichen Verhältnisse. A. Espinas
(Les societes animales, Paris 1875, übersetzt nach
der 2. Auflage von W. Schloesser, Braun-
schweig 1879), welcher als erster die sozialen Er-
scheinungen bei den Tieren umfassend behandelt
und dieses Forschungsgebiet als Soziologie der
Tiere bezeichnet hat (vgl. auch die wertvolle histo-
rische Einleitung der Arbeit von E s p i n a s), schließt
in die der Soziologie zufallenden Erscheinungen
nicht nur die Verbände freier, nicht durch orga-
nische Bande verknüpfter Tierindividuen ein, son-
dern auch die Verbände der Zellen im IVIetazoen-
körper und die Kolonien der Protozoen, ja er ist
geneigt, noch weiter zu gehen: „Sollte es einem
exakten Beobachter gelingen, in den Beziehungen
der Pflanzen zueinander oder in den Beziehungen
der Teile einer und derselben Pflanze Spuren
eines Zusammenwirkens nachzuweisen, so würden
wir in der Einverleibung dieser Ergebnisse in die
soziale Wissenschaft gar keine Schwierigkeiten
sehen." E s p i n a s beschränkt sich jedoch schließ-
lich auf die homotypischen Verbände freier Indi-
viduen und auf die Zellsozietäten der Tiere, spricht
heterotypischen Organismenverbänden die Fähig-
keit, „normale" Gesellschaften („Sozietäten") zu
bilden, ab und behandelt dieselben nur als zufällige
Assoziationen. Eine ähnliche Auffassung vertritt
Petrucci (1. c.) Ganz auf biologischem Boden
steht auch der vielfach E s p i n a s sich anschließende
Zoologe P. Deegener (I.e.). Er gibt eine um-
fassende Übersicht über die Fülle der IVIöglich-
keiten des Zusammenlebens der Tiere und be-
zieht sowohl homotypische wie heterotypische
Verbindungen freier Individuen, Zellsozietäten und
Protozoenkolonien in sein „System" ein, alle diese
Einheiten in die Gruppen der akzidentiellen,
d. h. zufälligen Assoziationen und der essen-
tiellen, d. h. zweckhaften Sozietäten scheidend.
Bezeichnenderweise läßt sich Deegener auf
eine Diskussion der Beziehungen seines Systems
zur Soziologie nicht ein. Logischerweise ist die
Soziologie ein Spezialgebiet der Biologie. Doch
verfügt die heutige Biologie noch nicht über die
Mittel, das ganz eigentümliche Wesen der mensch-
lichen Gesellschaft zu erfassen, könnte deshalb
auch nicht in einem rein „biologischen" System
derselben gerecht werden, andererseits findet die
überwiegend geisteswissenschaftlich orientierte
Soziologie unter den sozialen Phänomenen der
Tierwelt Ansätze zu Bildungen , welche den
menschlichen Einrichtungen verwandt sind, und
bezieht so die tierischen Gesellschaften in ihre
Interessensphäre ein, wenigstens soweit sie auf
psychischer Bindung beruhen. So ist es die Auf-
gabe der Tierpsychologie, die in das Gebiet der
Soziologie („Tiersoziologie") fallenden Formen des
Gemeinschaftslebens abzutrennen. Dieselbe scheint
diese Grenze erst bei sehr hochentwickelten
Säugern und Insekten suchen zu wollen; vgl.
hierzu: Waxw eiler, Sur la modification des
instincts sociaux. Societe de l'anthropologie
Bruxelles 1907; Georges Bohn, Die neue
Tierpsychologie , übersetzt von R. T h e s i n g ,
Leipzig 1912.
Die soziologischen Einheiten Dauerehe (im
Gegensatz zur kurzfristigen Ehe mit nur sexuellen
Zielen, welche keine soziale Einheit ist), Fami-
liengruppe, Herde, Volk usw. sind zunächst
stets homotypisch, sie zeigen Arbeitsteilung, die
Bindung ist psychischer Art und setzt ein hoch-
entwickeltes Zentralnervensystem voraus. Ein
durchgehendes Klassifikationsprinzip, welches ihrem
Wesen und Bildungsgesetzen gerecht würde, fehlt
bis jetzt noch. Die Deszendenztheorie, welche
die Klassifikation der tierischen und pflanzlichen
Sippen ermöglicht, läßt im Stich. Der Versuch
von W. Stempeil (Entwicklungsgeschichte der
Tiergesellschaften. Mitteilungen aus dem zoolog.
Inst, der Westf. Wilh.Univ. Münster i. W., Heft 2,
1920) als Klassifikationsprinzip der Tiergesellschaf-
ten (welche er im gleichen Umfange einbezieht wie
Espinas, Petrucci, Deegener), die Entwick-
lungstheorie zu verwenden, kann höchstens dem
Zoologen eine Übersicht liefern, ist aber für die
Soziologie wertlos, denn die Ansätze zur sozialen
Bildung zeigen sich ja an den verschiedensten
Stellen auf ganz verschiedenen Entwicklungs-
stufen der Tierwelt und durchlaufen vielfach
nur kurze Strecken des Stammbaumes, oft in
rascher Entwicklung. Als Anordnungsprinzip der
soziologischen Einheiten im System könnte der
Grad der Arbeitsteilung und der Differenzierung
der in der Einheit verbundenen Einzelorganismen
dienen.
Zum Schlüsse sei noch auf die psychischen
Bindungen zwischen ungleichartigen Tieren hin-
gewiesen, welche mit sich gegenseitig ergänzenden
Fähigkeiten ausgestattet erhöhte Sicherheit ein-
ander gewährleisten (z. B. Wildpferde und Strauße,
Giraffen und Elefanten). Besondere Berücksich-
tigung verlangen auch Eigentümlichkeiten, welche
bei hoch differenzierten Sozietäten auftreten und
welche wohl geeignet sind, denselben über den
Wert von Sozietäten hinaus einen höheren Ge-
N. F. XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
523
meinschaftswert zu verleihen. Ameisenvölker aus
der Gruppe der Attini kultivieren Pilze, andere
Arten (Azteca olithrix, A. Ulei, Camponotus femo-
ratus u. a.) säen epyphytische Pflanzen in ihre
hoch oben in Baumwipfeln angelegten Nester, um
denselben mehr Festigkeit zu geben. Wieder
andere, welche die Exkrete von Blattläusen ver-
zehren, pflegen dieselben und deren Eier. Sie
bauen schützende Hüllen um sie, sorgen für Nah-
rung, ja sie legen unterirdische Blattlausställe (für
Wurzelaphiden) an und gewinnen so reichlich
Nahrung von ihren „Kühen", daß sie auf den
Nahrungserwerb außerhalb des Nestes verzichten
können. Die Domestikation dieser Aphiden kann
so weit gehen, daß dieselben ohne die Pflege der
Ameisen lebensunfähig sind. Ähnliche Beziehungen
bestehen zu Cocciden und Lycäniden und kommen
auch bei Termiten vor. Durch diese von den
Ameisenbiologen Trophobiose genannte Form
der Symbiose erwerben sich die betreffenden
Ameisenvölker eine gewisse Unabhängigkeit von der
Biozönose, innerhalb welcher sie leben. Dazu mag
auch die bei einigen Arten vorkommende Sklaven-
haltung und Adoption (vgl. K. Escherich, Die
Ameise. Braunschweig 19 17) beitragen. Bei den
Wirbeltieren zeigt sich Emanzipation von den
niederen biozönologischen Einheiten bei den Zug-
vögeln und dann in ganz besonderem Maße beim
Menschen. Der primitive Mensch ist noch steno-
top, d. h. er ist nur an wenige Biozönosen an-
gepaßt. Der Paläolithiker war z. B. auf waldfreie
Gebiete angewiesen; er hat den wildarmen Ur-
wald gemieden, in welchem er hätte verhungern
müssen. Auch heute kann bei primitiven Völker-
schaften weitgehende Stenotopie beobachtet
werden. K. Sapper (Über Stenothermie der
Tropenbewohner. Mittlgn. d. Geogr.- Ethnogr.
Ges. Zürich 1918/19, Bd. XIX) schreibt vom Aus-
sterben von Indianerfamilien des Hochlandes von
Guatemala, welche im Tiefland sich ansiedelten,
und kommt bei Untersuchung über die Wohn-
plätze der verschiedenen Indianerstämme des nörd-
lichen Mittelamerika zum Ergebnis, daß diese
kleinen Völkerschaften zumeist Gebiete bewohnen,
die in sich „ziemlich einheitlicher" Natur
sind. Er beobachtet Trennung in „biologisch
recht verschiedene Zweige besonderer Arbeitsart",
wo ein Indianervolk sich über zwei Vegetations-
formationen, Urwald und Savannenland ausbreitet.
Aus seiner Stellung als untergeordnetes Glied
einer oder weniger Biozönosen macht sich der
Mensch mit fortschreitender Kultur (Arbeitsteilung,
Verbesserung der Werkzeuge, Tier- und Pflanzen-
zucht) mehr und mehr los, nimmt den Kampf
gegen den Wald siegreich auf, entwässert Sumpf-
gebiete, bewässert arides Land und rückt so selb-
ständiger werdend in immer höhere Ordnungen
der biozönotischen Einheiten ein, um zuletzt
durch eine große Auswahl von Kulturpflanzen
und Tieren unabhängig gemacht, und eine den
niederen Biozönosen gleichwertige und mit der-
selben in Konkurrenz tretende Einheit schaffend,
nur noch der letzten derartigen Einheit, der Ge-
samtvegetation der Erde anzugehören.
Einzelberichte.
Geschlechtsbestimmung und Reduktions-
teilung bei Basidiomyzeten.
Wie bei den höheren Pflanzen, so findet auch
bei den Basidiomyzeten ein regelmäßiger Wechsel
zwischen Haplophase und Diplophase (Gameto-
phyt und Sporophyt) statt. Die Diplophase
kommt hier dadurcli zustande, daß in einem von
zufälligen Verhältnissen abhängigen Zeitpunkt der
Entwicklung aus einem Nachbarmyzel ein Kern
in eine Zelle übertritt. Alle Derivate dieser Zelle
sind weiterhin zweikernig, die Verschmelzung
findet erst in der jungen Basidie statt. Hierauf
teilt sich der Verschmelzungskern zweimal hinter-
einander und je ein Teilkern wandert in die
4 Basidiosporen. Da während dieser Tetraden-
teilung die Reduktion der Chromosomenzahl statt-
findet, so hebt mit der Spore die Haplophase an.
Kniep hat nun festgestellt, daß bei manchen
Hymenomyzeten der Geschlechtsakt ausbleibt,
und daß dessenungeachtet das Myzel zur Frucht-
körperbildung schreitet. Diese Fruchtkörper sind
im Gegensatz zu den normalen haploid, die Re-
duktionsteilung unterbleibt infolgedessen bei der
Sporenbildung, und wir stehen somit vor der
bemerkenswerten Tatsache, daß der ganze Ent-
wicklungszyklus im haploiden Zustand durchlaufen
werden kann. Man kann solch haploide Frucht-
körperbildung erzwingen, wenn man Sporen ein-
zeln aussät und die Berührung mit anderen My-
zelien verhindert. Weiterhin hat sich ergeben,
daß nicht jedes Myzel mit jedem anderen kopu-
lieren kann, sondern daß offenbar geschlechtliche
Differenzierung vorliegt. Diese Verhältnisse sind
in einer neueren Arbeit von Kniep (Verh. der
physik.-mediz. Ges. Würzburg, N. F. 47, 1922)
eingehender analysiert worden. Kniep ging bei
seinen Experimenten von der Aussaat einer Basi-
diosporenvierergruppe aus, um zu ermitteln, wie
sich die vier aus ein und demselben Basidienkern
hervorgegangenen Myzelien gegeneinander ver-
halten. Es ergab sich, daß immer je 2 Myzelien
einander gleichwertig sind, und zwar können die
Angehörigen des einen Paares nicht unter sich,
wohl aber mit jedem Paarung des anderen Paares
in Kopulation treten, d. h. es ist eine deutliche
geschlechtliche Differenzierung eingetreten. Die
beiden Geschlechter lassen sich schon äußerlich
dadurch unterscheiden, daß stets ein Paar der
jungen Myzelien den anderen in der Entwicklung
524
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
voraneilt. Nunmehr wurden die Abkömmlinge
zweier verschiedener Basidiosporentetraden eines
und desselben Fruchtkörpers gegeneinander ge-
prüft. Es zeigte sich folgendes: entweder kopu-
lieren die Paarlinge einer Vierergruppe kreuzweise
mit je einem Paar, der anderen, dann hat man es
offenbar mit 2 Basidien derselben Konstitution zu
tun, welche dieselben beiden Geschlechtstypen
nebeneinander produzieren, oder aber eine Vierer-
gruppe reagiert mit der anderen überhaupt nicht.
Es sind, wie sich herausstellte, 2 Sätze von Vierer-
gruppe vorhanden, die sich gegeneinander ab-
lehnend verhalten , während die Vierergruppen
ein und desselben Satzes alle in der geschilderten
Weise miteinander reagieren. Die geschlechtliche
Differenzierung ist also komplizierter, als es an-
fangs erscheinen mochte, es sind nämlich 4 ver-
schiedene Geschlechtsmyzelien vorhanden, die
paarweise zueinander gehören. Wie kann man
sich nun die Verhältnisse im einzelnen erklären ?
Darüber bildete sich Kniep folgende Vorstellung:
die Spaltung in Geschlechter fügt sich hier — im
Gegensatz zu den Rostpilzen — dem dihybriden
Schema. Es müssen 2 Faktorenpaare für die
Geschlechtsbestimmung angenommen werden :
Aa und Bb. Das diploide Myzel hat die Konsti-
tution AaBb. Es werden in üblicher Weise
4 Gametensorten gebildet AB, Ab, aB, ab und es
sind 16 Kombinationsmöglichkeiten vorhanden,
die sich auf 9 verschiedene Genotypen verteilen.
Von diesen g Genotypen sind 4 (nämlich AA BB,
AA bb, aaBB und aabb) homozygotisch in beiden
Faktoren, 4 (nämlich AABb; AaBB; Aabb und
aaBb) homozygotisch in einem Faktor, und bloß
einer heterozygotisch in beiden Faktoren, nämlich
AaBb. Kniep schließt nun weiter: „da nun in
dem von mir untersuchten umfangreichen Material
von Aleurodiscus polygonius, das von verschie-
dener Herkunft war, immer innerhalb der Nach-
kommenschaft -eines Fruchtkörpers vier (niemals
mehr oder weniger) geschlechtsverschiedene My-
zelien auftraten, so ist der Schluß kaum abweis-
bar, daß nur solche Kombinationen möglich sind,
bei denen vollständige Heterozygoten in bezug
auf die beiden Faktorenpaare entstehen". Dies
sollen die Pfeile in dem beigefügten Schema ver-
anschaulichen.
AB<- ^ab
1 >< I
Ab < » aB
Auf diese Weise läßt sich auch in sehr ein-
facher Weise das Auftreten der 2 Sätze von Basi-
diosporen an ein und demselben P^ruchtkörper
erklären. Der eine entspricht der Aufspaltung
des diploiden Kerns in AB und ab, der andere
derjenigen in Ab und aB. Da nur Befruchtungen
stattfinden, die wieder zu vollständigen Hetero-
zygoten AaBb führen, so kann der erste Satz mit
dem zweiten nicht in Reaktion treten, und inner-
halb ein und desselben Satzes kann natürlich auch
bloß die Hälfte der Kopulation gelingen, nämlich
Ab X aB oder aB X Ab, nicht aber Ab X Ab
oder aB X aB usw. Wie es nach dem dihybri-
den Schema unter den gegebenen Voraussetzungen
zu erwarten wäre, treten die 4 Geschlechtstypen
in demselben Mengenverhältnis auf. So betrug
das Verhältnis bei einem bestimmten Fruchtkörper
50 : 54 : 52 : 54. Das deutet darauf hin, daß die
Faktoren A und B in verschiedenen Chromosomen
liegen. Alle bisherigen Angaben beziehen sich
auf Gametophyten, die demselben Fruchtkörper
entstammen. Prüft man nun die Abkömmlinge
zweier an verschiedenem Standort gewachsener
Fruchtkörper gegeneinander, dann ergibt sich die
auffällige Tatsache, daß alle Kreuzungen gelingen.
Kniep deutet dies so, daß die in Frage kommen-
den Faktorengruppen, die Aa Bb und A'a'B'b' ge-
nannt sein mögen, sich so stark voneinander unter-
scheiden, wie dies AB und ab innerhalb desselben
Fruchtkörpers tun. Es würden sich nunmehr also
z. B. AB und A'B' als „multiple Allelomorphe"
einander gegenübertreten, und vorläufige Versuche
scheinen darauf hinzudeuten, daß auch sie ent-
sprechende Stellen im Chromosom einnehmen.
Die geschilderten Befunde zeigen, daß das sexuelle
Verhalten der Hyphomyzeten sehr kompliziert
ist. Mit der gewöhnlichen Ungeschlechtigkeit
kommen wir hier nicht mehr durch. Das zeigt
folgende Überlegung: „Innerhalb der Nachkommen-
schaft eines Fruchtkörpers kopulieren die Myzelien
I und 2 miteinander. Nennen wir einmal i männ-
lich und 2 weiblich. Nun kombinieren wir so-
wohl mit I wie mit 2 ein Einspormyzel (3) eines
Fruchtkörpers anderer Herkunft. Es tritt in bei-
den Fällen Kopulation ein. Ist nun 3 männlich
oder weiblich? Offenbar weder das eine noch
das andere — oder beides zugleich. Letzteres
ist aber nicht gut möglich, denn einerseits kopu-
liert ja 3 mit sehr vielen Einspormyzelien des
F"ruchtkörpers , von dem er isoliert worden ist,
nicht, mit anderen dagegen kopuliert es. Anderer-
seits gibt es innerhalb der von einem Frucht-
körper abstammenden Population Myzelien, die
weder mit i noch mit 2 kopulieren, aber mit
anderen Myzelien (4, 5, 6 usw.). Es sind das
bei Aleurodiscus polygonius die Abkömmlinge
einer Basidie desselben P^ruchtkörpers , bei der
eben die Aufspaltung in anderer Weise vor sich
gegangen ist." Diese Betrachtung führt zum Be-
griff der multipolaren Sexualität, für die auch die
Versuche Burgeffs mit Mucorineen Anhalts-
punkte gegeben haben. Daß man diesen Vor-
gängen nicht etwa den Charakter der Geschlecht-
lichkeit absprechen kann, das geht daraus hervor,
daß wir stets die typischen Merkmale der Sexualität
antreffen: Zellkopulation, Kernverschmelzung und
darauf folgende Reduktionsteilung. Man kann
sich diese Verhältnisse phylogenetisch so erklären,
daß an Stelle des einen Faktorenpaares für Ge-
schlechtstrcnnung verschiedene P"aktorenpaare auf-
getreten sind, wie dies ja der geschilderten Be-
trachtung zugrunde liegt. Zum Schlüsse wird
noch ausgeführt, daß die beobachteten Erscheinun-
N. F. XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
52§
gen nichts mit Selbststerilität zu tun haben — es
ist ja vielfach gerade das gegensätzliche Verhalten
zu verzeichnen. Peter Stark.
Eine teilweise geschleclitsgebuiideiie Ver-
erliung der Augenfarbe beim Meiisclien.
Davenport und Hurst haben auf Grund
ihrer statistischen Ermittlungen die Ansicht ver-
treten, daß die Vererbung der braunen und blauen
Augenfarbe nach dem einfachen Mendelschen
monofaktoriellen Typus verläuft und zwar derart,
daß braun über blau dominiert. In Wirklichkeit
scheinen die Dinge aber komplizierter zu liegen,
wofür neuerdings Winge (Zeitschr. für indukt.
IVIitt. 28, 1922) interessantes Zahlenmaterial bei-
bringt. Winge hat die Erblichkeitsverhältnisse
für gegen 1400 Kinder ermittelt und findet fol-
gende Daten. Die Ehen blau blau lieferten
625 blauäugige und 12 braunäugige, die Ehen
blauXbraun 317 blauäugige und 322 braunäugige,
endlich die Ehen braun braun 25 blauäugige
und 416 braunäugige Kinder; zweifelhafte Fälle
(graugrün bis blaugrün) sind hier weggelassen.
An dieser Statistik fällt zunächst auf, daß sich
unter der Deszendenz blauäugiger Eltern braun-
äugige Kinder befinden, wenn auch in sehr ge-
ringer Anzahl (2 %). Dies dürfte nicht der Fall
sein, wenn braun über blau tatsächlich dominiert.
Da liegt die Vermutung nahe, daß hier einer der
beiden Eltern doch verkappt braunäugig war,
daß also gleichzeitig ein Hemmungsfaktor vor-
handen ist, der die braune Augenfarbe nicht zur
Entfaltung gelangen läßt. Dieser Faktor scheint
auch auf die sonstigen Eigenschaften des Auges
einzuwirken; so beobachtete Winge in den kri-
tischen Fällen häufig gleichzeitig Astigmatismus,
Schwachsichtigkeit u. dgl. Die Daten der Kom-
binationen braun ;• blau und braun X braun schei-
nen mit der Davenportschen Annahme gut zu
stimmen. Im ersten F"all ergeben sich nahezu
gleichviel braunäugige und blauäugige Nach-
kommen, im zweiten verhalten sich blau : braun
etwa wie i : 3. Da in Dänemark die braun-
äugigen Individuen fast durchweg Heterozygoten
sind, so sind nach dem monofaktoriellen Schema
gerade die gefundenen Zahlen zu erwarten. Und
trotzdem liegt die Sache nicht so einfach. Be-
rücksichtigt man bei der Nachkommenschaft
gleichzeitig das Geschlecht, dann ergibt sich, daß
bei den weiblichen Individuen ein ganz erheb-
licher Überschuß an braunen Augen vorhanden
ist. Das ist eine Tatsache, die schon früher die
Statistiken der verschiedensten Länder (P'inland,
Schweden, Norwegen, Polen usw.) ergeben haben.
Winge sucht ihr gerecht zu werden, indem er
annimmt, daß zwei Faktoren für braune Augen-
farbe vorhanden sind, von denen der eine in
einem Autochromosomenpaar (B bzw. b) , der
andere im Geschlechtschromosom sitzt (W bzw. w).
Beide bewirken für sich allein oder zusammen
braune Farbe. Weiterhin wird angenommen, daß
bW-Eier nicht existenzfähig sind. Es handelt
sich also um einen besonderen Fall geschlechts-
begrenzter Vererbung. Wie Winge durch eine
ausführliche Analyse des gefundenen Zahlenmate-
rials nachweist, lassen sich mit den geschilderten
Voraussetzungen alle Einzeldaten erklären , ins-
besondere die Tatsache, daß die reziproken Ehen
blau >; braun und braun X blau einen ganz ver-
schiedenen Ausfall zeigen. Solche geschlechts-
begrenzte Vererbung ist ja beim Menschen schon
für die verschiedensten Eigenschaften (Farben-
blindheit, Bluterkrankheit u. dgl.) nachgewiesen
worden. Stark.
Gift Wirkung des Meerrettichs.
Das Meerrettichöl , das identisch mit dem
ätherischen Senföl zu sein scheint, ist, wie dies,
ein starkes Gift, das eine heftige entzündliche
Wirkung auf die Schleimhäute ausübt. Bei Ge-
legenheit von Versuchen, größere Mengen des
zerriebenen Wurzelstockes zu konservieren, stellten
sich, wie J. K o c h s ^) berichtet, bei der damit
beschäftigten Person folgende Vergiftungserschei-
nungen ein. Nach einigen Stunden traten uner-
trägliche Kopfschmerzen auf, abgesehen von dem
heftigen Tränen der Augen. Mattigkeit, heftige
Gliederschmerzen , eine fast an Erblindung gren-
zende Reizung der Augen, Erbrechen, Bronchial-
katarrh, Schlaflosigkeit schlössen sich an. Zuletzt
war auch das Gehör beeinträchtigt und eine
heftige Herzunruhe zeigte sich. Konjunktivitis,
Bronchialkatarrh und Gehörsdämpfung hielten
mehr als 2Y2 Wochen an. Die letzten Krank-
heitserscheinungen waren erst nach 7 Wochen
verschwunden. Miehe.
Der Eötvöseffekt.
Die letzten Untersuchungen von Baron Roland
Eötvös beziehen sich auf die durch die Bewegung
verursachte Schwereänderung. Wie wir es aus
der nach seinem Tode erschienenen Veröffent-
lichung '-) erfahren, hat sich Eötvös schon vor
einem Vierteljahrhundert mit der Schwereänderung
beschäftigt, welche nach ihm den Namen „Eötvös-
effekt" erhielt, jedoch wartete er, bis die Ent-
wicklung der Wissenschaft seine einfache Theorie
einwandfrei bewiesen hätte.^)
Was ist der Eötvöseffekt f Ein irdischer Punkt
bewegt sich z.B. in Berlin, auf der 52V2" d. n. Br,
') Angewandte Botanik, Zeitschrift für Erforschung der
Nutzpflanzen 1922, Bd. IV, S. 90.
^) Experimenteller Nachweis der Schwereänderung, die
ein auf normal geformter Erdoberfläche in östlicher oder west-
licher Richtung bewegter Körper durch diese Bewegung er-
leidet, von Roland Eötvös. Ann. d. Physik 59, 743, 1919.
') Bestimmung der Schwerkraft auf dem Schwarzen Meere
und an dessen Küste, sowie neue Ausgleichung der Schwer-
kraft auf dem Atlantischen, Indischen und Großen Ozean.
Von Prof. Dr. D. Hecker, 1910, 103.
The Investigation of Gravity at Sea by Prof. W. G. Duf-
field. Nature, 1921, 106, 732.
526
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
mit einer Geschwindigkeit von 278 m um die
Erdachse, und so entsteht eine Zentrifugalkraft,
welche das Gewicht der Körper mit 0,1 "Ja ver-
ringert; z.B. ein Mann von 100kg Gewicht wäre
um 10 dkg schwerer in dem Augenblick, wo die
Erde sich nicht weiter dreht. Nehmen wir an,
daß dieser Mann „Unter den Linden" bei seinem
behäbigen Spaziergange mit i m Geschwindigkeit
nach dem königlichen Palast sich bewegt. Dann
ist seine Geschwindigkeit um die Erdachse schon
279 m, also es entsteht eine größere Zentrifugal-
kraft und so vermindert sich sein Gewicht weiter,
und zwar macht diese durch die eigene Bewe-
gung verursachte Schwereänderung ig aus.
Wenn unser Mann nach dem Tiergarten, also
nach Westen geht, so ist seine Drehungsgeschwin-
digkeit 277 m, also er wird um i g schwerer
sein. Auf einem Personenzug macht seine Schwere-
änderung 10 g, auf dem Expreßzug 30 g und auf
einem Flugzeug 60 g aus. Bei einem mächtigen
Ozeandampfer von 50000 t Gewicht macht der
Eötvöseffekt 10 t aus und die Tauchlinie liegt
mit 2 mm tiefer bei westlicher als bei östlicher
Fahrt. Bei größeren Geschwindigkeiten und auf
niederen geographischen Breiten wächst der Eötvös-
effekt viel stärker als bei kleineren Geschwindig-
keiten und auf höheren Breiten. Auf dem Äqua-
tor ist der Eötvöseffekt um so"/,, größer, und
bewegt sich ein Körper mit einer Geschwindigkeit
von 8 km/sec, so verliert er sein Gewicht voll-
ständig. — Wenn ein Körper nach West mit einer
zweimal größeren Geschwindigkeit sich bewegt
als seine von der Erddrehung stammende Ge-
schwindigkeit ist, so tritt der Eötvöseffekt nicht
auf. In diesem Falle ist nämlich die Drehungs-
geschwindigkeit des Körpers um die Erdachse
ebenso groß wie in ruhendem Zustand, jedoch
in entgegengesetzter Richtung. Diese Geschwin-
digkeit ist auf dem Parallelkreis BerHns 556m/sec;
wenn ein Körper eine größere Geschwindigkeit
hat, so entsteht eine Gewichtsverminderung in
jeder Richtung und zwar die größte nach Ost,
die kleinste nach West. Wenn die Geschwindig-
keit kleiner als 556 m ist, so gibt es immer eine
Richtung, wo das Gewicht unverändert bleibt.
Diese „neutrale Richtung" liegt desto mehr nach
West, je mehr die Schnelligkeit der von 556 m/sec
sich nähert.
Außer der Kinematik ist in erster Reihe die
Meteorologie, wo der Eötvöseffekt anwendbar
ist, ja es waren sogar eigentlich Quecksilberbaro-
meterablesungen auf hoher See, welche die erste
Bestätigung des Eötvöseffekts lieferten.^) Die
Korrektionen des Quecksilberbarometers machen
pro 10 m/sec Geschwindigkeitszuwachs rund
0,1 mm aus.
Der Eötvöseffekt hängt auch mit den Pro-
blemen zusammen, die sich auf den Aufbau des
Weltsystems beziehen. Eötvös selbst hat seine
Formel „auf ein ruhendes Sonnensystem bezogen",
doch es läßt sich das Prinzip des Eötvöseffekts auch
auf ein sich bewegendes System anwenden. In die-
sem Falle ist es aber die Sonnengravitation,
bei welcher der Eötvöseffekt auftreten kann. So
läuft z. B. die Erde samt dem Mond mit einer
SchneUigkeit von 30 km/sec um die Sonne und
in derselben Zeit kreist der Mond mit einer Ge-
schwindigkeit von I km/sec um die Erde. So
bewegt sich eigentlich der Mond bei Neumond
mit einer Geschwindigkeit von 29 km pro Sekunde
und bei Vollmond mit einer von 31 km um die
Sonne, da bei Vollmond die Erd- und Mond-
zirkulation eine gleichgesinnte und bei Neumond
eine entgegengesetzte ist. Die gegenseitige An-
ziehung der Sonne und des Mondes unterliegt
also einer vom Eötvöseffekt geforderten Veränder-
lichkeit. Da die berechnete Bewegung des Mondes
von der Beobachtung abweichend ist, so ist
vielleicht die sog. säkulare Beschleunigung des
Mondes zum Teil auf den Eötvöseffekt zurück-
zuführen.-) Dr. phil. Em. Szolnoki.
') 1, c. von Hecker, I04.
^) Die Anwendung des Eötvöseffekts im bewegenden
Sonnensystem ; von Imrc Szolnoki. — Ann. d. Physik, 07, 73i
1922 und Astronomische Nachrichten Nr. 5168, 127.
Bücherbesprechunsen.
Sierks, M. J., Handboek der algemeene
Erfelijkheidsleer. X u. 494 S., 5 färb.
Taf. u. 127 Textabb. 'sGravenhage, M. Nijhoff,
1921. In Ganzleinen geb. 15 fl.
Das vorliegende Werk stellt eine erweiterte
Neuauflage der „Erblichkeitsfragen" (191 8) des
Verf. dar und ist das erste Lehrbuch der Erb-
lichkeitslehre, das in holländischer Sprache er-
scheint. Inhalt und Aufbau läßt sich naturgemäß
nur in großen Zügen wiedergeben.
Nach einem einleitenden Kapitel (I), das die
verschiedenen Methoden der Erblichkeitsforschung
einander gegenüberstellt, wird zunächst über die
statistische Methode und ihre Resul-
tate (II) ein Überblick gegeben. Dies bietet
auch Gelegenheit, einen Teil der wichtigsten
Fachausdrücke abzuleiten. Die Behandlung der
prämendelistischen Erblichkeitstheo-
rien (III) und der aufkommenden experi-
mentellen Methode (IV) gibt ein gutes Bild
von der historischen Entwicklung der Problem-
stellung. Die Besprechung der Resultate von
Mendels Experimenten (V) führt zur Ab-
leitung des Verhaltens bei monohybrider, di-
hybrider und trihybrider Kreuzung; die Regeln
der Mendel sehen Vererbung werden dabei nicht
besonders gefaßt. Beim Zusammenwirken
der Faktoren (VI) wird die (irrtümlich M e n -
N. F- XXI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
527
del statt de Vries zugeschriebene) Dominanz-
regel abgelehnt. Von den verwickelten Verhält-
nissen der Auswirkung verschiedener Faktoren-
paare wird vor allem die Polymerie gewürdigt,
des weiteren auch Epistasie und Hypostasie ab-
geleitet. Die gegenseitige Abhängigkeit
der Faktoren (VII) erweist sich an Batesons
Lathyrusversuchen, durch welche das Vorkommen
von Koppelung und Abstoßung abgeleitet wird.
Batesofis Theorie der Reduplikation wird be-
handelt und abgelehnt; zweckmäßig erscheint die
Gegenüberstellung der Batesonschen und Mor-
gan sehen Schreibweise für die Koppelung. Eine
Besprechung der Renner sehen Komplextheorie
ist hier angefügt.
An diese vorwiegend referierenden Kapitel,
welche die nötige Einführung liefern, schließen
sich dann weitere an, die mehr und mehr eine
subjektive Stellungnahme des Verf. verraten.
Die Langsche Uniformität der F, -Indi-
viduen (VIII) wird gegen neuere Angriffe ver-
teidigt. Multiforme Fj- Generationen können einer-
seits genotypisch bedingt sein entweder durch
kryptomere Heterozygotie der Eltern oder Ein-
greifen von Polymerie oder infolge von Komplex-
heterozygotie. Andererseits kann Multiformität
plastotypisch bedingt sein durch Ungleichheit
der Außenbedingungen oder Ungleichheit des re-
lativen Gametenalters. All diese Möglichkeiten
widersprechen aber der Uniformitätsregel im Prin
zipe nicht. Wichtiger sind die Ausnahmen von
der (Gärt nerschen) Regel der Uniformität
der reziproken Bastarde (IX). Ditypie
kann bedingt sein durch Umweltseinflüsse während
der Embryonalzeit oder durch von mütterlicher
Seite übertragene Plasmakrankheit. Ferner spielt
eine große Rolle die Heterogamie, wie sie bei
OeuotJiera lavmrckiaiia und in anderer Form
beim Morgan sehen Typus der Kroßvererbung
in Betracht kommt, und schließlich auch ge-
schlechtsgebundene Faktoren.
Mit größter Zurückhaltung wird die Natur
und Lokalisation der Faktoren (X) be-
handelt. Auf Sutton (und doch wohl auch
Boveril) fußend und Janssens Chiasmatypie-
lehre ausbauend hat Morgan seine verwickelten
Theorien aufgestellt, welche nirgends zytologisch
einwandfrei erwiesen sind. Krossung, doppelte
Krossung und Faktorenlokalisation werden be-
sprochen, die weiteren Komplikationen weggelassen.
Außer dieser rein mechanischen Theorie wird
auch der physiologischen, besonders von Loeb
und Goldschmidt, gedacht. Die Allmacht der
Chromosomen für die Vererbung wird dabei mit
Recht bezweifelt. Anschließend wird der Augen-
blick der Faktorenspaltung behandelt. Erwiesen
scheint die Faktorenspaltung bei der Reduktion.
Daneben wird nun noch die Knospenvariation als
Parallelerscheinung gestellt : Pfropfchimären zeigen
das Auftreten von abweichenden Sprossen an
scheinbar einheitlichen Klonen; ähnliches gilt für
Sproßchimären {Pelargoniuvi). Somatische Diffe-
rentiation, Mutation oder somatische Bastard-
spaltung kommen als Erklärungswege dafür in
Betracht; insbesondere der letzteren wird eine
ausgiebige, wohlwollende Diskussion gewidmet.
Konstante Bastarde (XII) sind seltener
als man früher annahm, da viele Beispiele der
Literatur, wie Wichuras Weidenbastarde, sich
als spaltend erwiesen. Es kommt vielmehr nur
in Betracht Scheinkonstanz bei echter Bastardie-
rung infolge Vorhandenseins polymerer Faktoren
(Kaninchenohrenlänge), echte Konstanz bei Schein-
bastardierung infolge von Apogamie oder Pseudo-
gamie {Bicracünii), echte Konstanz bei echter
Bastardierung, wenn gewisse Typen ausfallen
(Homozygoten-Elimination bei Ocnotlicra lamar-
ckiand). Die Vererbung des Geschlechts
(XIII) wird an Hand des Rückkreuzungsbeispieles
abgeleitet und durch das Verhalten der Hetero-
chromosomen bestätigt. Geschlechtsgebundene
Vererbung und Spaltungsverzug (non-disjunction)
werden unter dem zytologischen Gesichtswinkel
erörtert, und eine Besprechung der sog. physio-
logischen Geschlechtsdifferenzierung bei Pilzen
angeschlossen. Die Untersuchungen von C o r r e n s
und C o 1 1 i n s über den Zeitpunkt der Geschlechts-
differenzierung führen zur Wiedergabe von Gold-
Schmidts Intersexualitätstheorie.
Für die Veränderung der Erbanlagen
beim Individuum (XIV) werden die allo-
genetischen und autogenetischen Theorien ein-
ander gegenübergestellt. Bakterienversuche schei-
tern daran, daß es sich nicht um Linien handelt.
Protozoen versuche haben an Durchschlagskraft
verloren, seit über die Konjugation hinaus be-
ständige Dauermodifikationen bekannt sind. Die
Versuche über indirekte (somatische) Induktion
bei Metazoen sind noch nicht beweisend, ebenso
ist direkte Induktion noch nicht erwiesen. Ähn-
liches gilt nach Aufklärung der Önotherenmuta-
tionen auch für autogenetische Änderungen. „Für
ein spontanes Auftreten einer genotypischen Ver-
änderung irgendeines Organismus ist gegenwärtig
kein Beleg zu finden" (S. 405). Also ist ein homo-
zygotischer Organismus wahrscheinlich genotypisch
„weder spontan, noch durch äußere Einflüsse ver-
änderlich" (S. 406) 1
Bei der Besprechung der Veränderung der
Erbanlagen in reinenLinien und Popu-
lationen (XV) finden außerordentlich viele ver-
schiedenartige Dinge Erwähnung. Reine Linien
kommen praktisch kaum vor; für sie gilt die
gleiche Konstanz wie für das Individuum. Erst
Kreuzung bedingt Veränderung. Veränderungen
in Populationen in ihrer Bedeutung für das Art-
bild sind abhängig von der Fortpflanzungsweise:
bei Autogamie (besser Endomixis, Ref.) erfolgt
fortschreitende zahlenmäßige Reduktion der He-
terozygoten, bei Panmixie bleibt das Verhältnis
erhalten (Hardy). Inzucht ist nur scheinbar
schädlich. Heterosis führt zwar oft zu üppigerem
Wachstum, aber nicht stets; eine Erklärung dafür
allein durch Erbvorgänge erscheint nicht möglich.
52^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 38
Homozygoten werden gelegentlich infolge der
Duplizität von Letalfaktoren ausgemerzt oder von
Subletalfaktoren geschwächt; nur dies ist eine
Gefahr bei Inzucht. Außerdem kann die Umwelt
Populationen verändern durch Einfluß auf die
Spaltungsweise, auf Zertationsvorgänge oder auf
Krossungsverhältnisse. Schließlich können Selbst-
sterilität, geographische Trennung und physio-
logische Sonderung (Fortpflanzungsperioden) eine
Rolle spielen. Ebenso kommt Aussonderung be-
stimmter Typen vor. Im ganzen führen alle Be-
sonderheiten zur Verringerung des Formenreich-
tums, während Bastardierung ihn vergrößert. Zum
Schlüsse wird noch ein kurzer Überblick über
Begrenzung und Anwendung der Erb-
lichkeitslehre (XVI) gegeben, in welchem
ihre Bedeutung für die Wiederkehr von Krank-
heitsanlagen und geistigen Fähigkeiten behandelt
und ihre gelegentlich in Betracht kommende juri-
stische Bedeutung erwähnt wird.
Da der Verf. ein Botaniker ist, wird die starke
Betonung der botanischen Seite der Vererbungs-
lehre, die im ganzen Buche hervortritt, nicht weiter
überraschen. Trotzdem hätten die Erfahrungen
an Tieren vielleicht eine stärkere Hervorhebung
verdient. Insbesondere wäre es wohl kein Schaden
gewesen, wenn die M o r g a n sehen Forschungen
etwas ausgiebiger Berücksichtigung gefunden
hätten. Die Gegenüberstellung von zwei grund-
sätzlich so verschiedenen Dingen, wie Faktoren-
spaltung bei Reduktion und Knospenvariation,
erscheint didaktisch recht unzweckmäßig; auch
scheint Ref. die Theorie der somatischen Bastard-
spaltung im Verhältnis zu ihrer Wahrscheinlich-
keit etwas zu ausführlich behandelt. Bei der Be-
sprechung der Veränderung des Genotypus im
Individuum wäre wohl ein erneuter Hinweis auf
die Knospenvariation am Platz gewesen; auch
der Mutationen bei Drosopl/ila wäre zu gedenken
gewesen, da sonst die Beweisführung einseitig
erscheint.
Zusammenfassend darf man wohl sagen, daß
im Sirksschen Buche ein Werk vorliegt, das
zweifellos geeignet ist, einen guten Überblick
über den Stand der Erblichkeitslehre zu geben.
Die meist sehr vorsichtige Stellungnahme zu den
einzelnen Problemen, welche vielfach in der wört-
lichen Wiedergabe der entgegenstehenden An-
sichten einzelner Forscher ihren Ausdruck findet,
bietet dabei dem Leser selbst Gelegenheit, sich
ein persönliches Urteil über die Sachlage zu bil-
den. Jedenfalls wird der Leser von dem Werk,
insbesondere auch wegen der reichlichen Literatur-
hinweise, erheblichen Nutzen haben. Zu bedauern
ist nur, daß es wegen seiner Abfassung in hollän-
discher Sprache (und obendrein angesichts der
Valutaverteuerung) bei uns wohl nicht im ver-
dienten Umfange berücksichtigt werden kann.
Die Ausstattung des Werkes darf in jeder Be-
ziehung als mustergültig bezeichnet werden; viel-
leiclit würde die reichlichere Verwendung von
Strichätzung statt Autotypie, besonders für die
Schemata, einen Gewinn bedeuten.
Prell (Tübingen).
Die Farbe. Jahrgang 1922. iVIappe I. Leipzig
1922, Unesma.
Der Beginn des neuen Jahrgangs dieser „Sam-
melschrift für alle Zweige der Farbkunde" gibt
Gelegenheit, auf einige wertvolle Arbeiten hinzu-
weisen. So handelt W. Ostwald über „das
Auge und die Schule" — eine äußerst anregende
methodische Grundlegung des wissenschaftlich
betriebenen Zeichenunterrichtes, von der man
wünscht, die Lehrerschaft möchte sich die darin
niedergelegten Gedanken in der einen oder anderen
Weise zu eigen machen. — In andere Richtung
weist ein Beitrag „Neue Forschungsmethoden zur
Physiologie des Auges". Hier ist jedem Farb-
kundigen ein neues Betätigungsfeld gewiesen, ohne
daß es sehr kostspieliger apparativer Hilfsmittel
bedürfte. — Den Historiker der Naturwissen-
schaften endlich wird eine Neuherausgabe der
„Farbenpyramide" von J. H. Lambert fesseln.
Man erstaunt über die hohe begriffliche Klarheit
dieses Physikers, der schon im 18. Jahrhundert
diesen wichtigen Beitrag zur Mathetik der Farbe
lieferte.
Es sei betont, daß die genannten Arbeiten
auch einzeln bezogen werden können; in sich ge-
schlossen und ohne Mehrpreis. Die buchhändle-
rische Ausstattung ist vortrefflich. H. H.
Literatur.
Bühler, Karl, Die geistige Kniwicklung des Kindes.
3. Aufl. Jena '22, G. Fischer. Brosch. 160 M., geb. 210 M.
Behrmann, Dr. W., Im Stromgebiet des Scpik. Eine
deutsche Forschungsreise in Neuguinea. Berlin '22 , August
Scherl, G.m.b.H.
Druckfehlerberichtiguug:.
In der Besprechung des Werkes: Petersen, H., „Histologie
und mikroskopische Anatomie" I. und II. Abschnitt: Das
Mikroskop und allgemeine Histologie von M. Wolff (Ebers-
walde) (Nr. 27, N. K. 21. Bd. der Naturw. Wochenschr. S. 383)
muß es heiflen: Braus statt Bruns (dreimal).
Inhalt: H. Kricke, Das Wesen der Schwerkraft. S. 513. E. Schmid, Biozönologie und Soziologie. S. 518. — Binzel-
berjcbte: Kniep, Geschlcchtsbestimmung und Reduklionsteilung bei Basidiomyzeten. S. 523. Davenport und
Hurst, Eine teilweise geschlechtsgebundene Vererbung der Augenfarbc beim Menschen. S. 525. J. Kochs, Gift-
wirkung des Meerrettichs. S. 525. R. Eötvös, Der Eötvöseffekt. S. 525. — BUcherbesprecbungen: M. J. Sirks,
Ilandboek der algcmecne Erfelijkheidsleer. S. 526. Die Farbe. S. 528. — Literatur: Liste. S. 528. — Druckfehler-
bcrichtigung. .S. 528.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena. •
Druck der G. Pätz'achen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H,, Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 24. September 1922.
Nummer 39.
Beiträge zur Relativität der Individuen.
III. Die Wiederherstellung der Individualität bei Würmern.
[Nachdruck verboten.^
Von Dr. Wilh. Goetsch, München.
Mit 7 Abbildungen.
Die Versuche mit Seesternen ') beschäftigten
sich mit dem Phänomen, das wir jedem Indivi-
duum zuzusprechen haben : der mehr oder weni-
ger koordinierten Reaktion auf äußere Reize, wo-
durch erst die einzelnen Teile zu einer Gemein-
samkeit verbunden werden. Die Untersuchungen
an den Süßwasserpolypen -) zeigten uns eine
zweite Eigentümlichkeit individuellen Lebens : das
Bestreben, die Individualität zu erhalten oder aber
eine neue zu bilden, wenn genügend Material
dafür vorhanden ist. Daß in beiden Fällen die
Einzelteile für sich arbeiten können, darin zeigt
sich eben das Relative bei den einzelnen Indivi-
duen, das bei den Seesternen sowohl wie bei den
Hydren so deutlich hervortritt, weil beiden Klassen
ein örtlich lokalisiertes zentrales Nervensystem
fehlt, das bei anderen Formen in so hohem Maße
dazu beizutragen pflegt, die Einheitlichkeit zu
regeln.
Die Würmer besitzen dagegen eine solche
Zentralstelle oder Hirn, wenn auch meistens noch
in primitiver Art. Bei den Strudelwürmern, mit
denen wir uns hier hauptsächlich beschäftigen
wollen, steht es in unmittelbarem Zusammenhang
mit den Augen, den charakteristischsten Sinnes-
organen dieser Tiere, und bei den Regenwürmern,
welchen wir am Schluß dieser Untersuchung einige
Worte zu widmen haben, besteht das zentrale
Nervensystem in einer Anhäufung nervöser Sub-
stanz am Vorderende des Tieres, von wo aus es
mittels zweier Schlingen, die den Darm umgreifen,
sich in das Bauchmark fortsetzt. Die Strudel-
würmer oder Turbellarien sind ein bevorzugtes
Objekt für experimentelle Untersuchungen; be-
sonders sind unter ihnen die Planarien für Rege-
nerationsversuche schon häufig herangezogen wor-
den, da sie wie kaum eine andere Tierklasse die
„Unsterblichkeit unter des Messers Schneide" de-
monstrieren. Man kann diese Lebewesen nach
allen Richtungen zerlegen; stets macht sich das
Bestreben geltend, auch aus kleinsten Stücken
einen neuen Wurm wiederherzustellen.
Dabei ist es die Regel, daß stets die Polari-
tät gewahrt wird; d. h. der Planarienkörper er-
gänzt immer das Fehlende an der Stelle, an
welcher es verloren gegangen ist; das Vorn und
Hinten, das Rechts und Links bleibt stets gewahrt.
ebenso wie ein Magnet die Richtung des positiven
Pols zum negativen stets beibehält, mag man ihn
auch in noch so kleine Stücke zerlegen.
Von dieser Regel gibt es indessen Ausnahmen.
Schneidet man z. B. einen Planarienkopf unmittel-
bar hinter den Augen ab, wie das in Abb. 2 mit
der gestrichelten Linie angegeben ist, so kann das
an diesem Kopfstückchen entstehende, eigentlich
nach hinten gerichtete Regenerat ebenfalls einen
kopfartigen Charakter tragen. In der Abb. I ist
ein derartiger Fall dargestellt : Wir sehen in dem
Zapfen, der am hinteren Ende des abgeschnittenen
Kopfes gebildet worden ist, zwei Augen entstehen,
so daß durch diese Neubildung nicht etwas ver-
loren gegangenes wieder ersetzt wird, sondern im
Gegenteil das, was schon vorhanden ist, in dop-
pelter Gestalt erscheint. Diese Neubildung von
Augen in dem nach hinten gerichteten Stück ist
wahrscheinlich durch den Einfluß des Hirns zu
erklären, das durch den Schnitt verletzt wurde
und nun bei der Regeneration diese Sinnesorgane
entstehen läßt, die stets mit ihm in engstem Zu-
sammenhang stehen. Die Auflösung des einen
ursprünglichen Auges in dem Präparat, welches
der Abb. i zugrunde liegt, spricht für eine der-
artige Annahme. Ganz geklärt sind indessen
diese Phänomene noch keineswegs.
') W. Goetsch, Beiträge zur Relativität der Individ
Naturw. Wochenschr. Bd. 21, 1922, Nr. 15.
^) — — , Beiträge zur Relativität der Individuen II.
turw. Wochenschr. Bd. 21, 1922, Nr. 36.
Abb. I. Sog. Heteroraorphose. Ein abgeschnittener Planarien-
kopf hat nicht, wie zu erwarten stand, einen Schwanzteil rege-
neriert, sondern einen neuen, nach hinten gerichteten Kopf
mit 2 kleinen Augen (in der Abb. hier links),
(Nach einem Präparat von Frhr. v. Brand, München).
Dagegen glaube ich für die Erscheinungen
eine Deutung gefunden zu haben , die ebenfalls
für Heteromorphosen gehalten worden sind : für
das Auftreten von Köpfen in den Schnittwinkeln
von Planarien, die von hinten her bis in den
Kopfabschnitt durch einen Schnitt längsgespalten
wurden (Abb. 2). Es handelt sich meiner Ansicht
nach dabei nämlich nicht um eine Umkehr der
Polarität, sondern nur um eine Abdrängung von
Teilen, die ursprünglich in normaler Richtung
angelegt worden sind.
Zu dieser Annahme kam ich aus folgenden
530
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 39
Gründen. Spaltet man eine Planarie in der
Längsrichtung vollkommen durch, so läßt jede
Hälfte eine neue Individualität entstehen; der
rechte Halbteil ergänzt die fehlende Seite und
umgekehrt. Wird nun der Schnitt nicht ganz
durchgeführt, so daß zwar die Augen getrennt
werden, am Kopflappen aber noch ein Zusammen-
hang besteht, so wird an dem Erfolg nichts
wesentliches geändert; nur sind die beiden neu-
entstehenden Individualitäten nicht ganz vonein-
ander gelöst, sondern noch durch eine kleine
Brücke miteinander verbunden. Die so vereinigten
Tiere hindern sich naturgemäß in ihrer freien
Beweglichkeit außerordentlich, und es kommt da-
her auch meist bald zu einer Trennung dieser
Eindruck von Einheitlichkeit, da dann die vordere
Partie immer die Direktion angibt und dadurch die
Reaktionen auf äußere Reize keinen Schwankun-
gen unterworfen sind. Die hinteren Teile folgen
den Impulsen des Kopfstücks, und so bewegt sich
das Tier im allgemeinen normal.
Jedoch gibt es dabei Ausnahmen. Wird z. B.
Nahrung dargereicht, so kriecht das Tier, von
seinen einheitlich zusammengefaßten Sinnesorganen
geleitet, bald darauf zu ; die Rüssel jedoch, welche
die Nahrung in sich aufzunehmen haben, machen
sich dann stets Konkurrenz, wenn der Schnitt so
weit geführt worden ist, daß die weit hinter dem
Kopf befindliche Mundregion bei der Regeneration
doppelt ausgebildet wurde (Abb. 3 S). Jeder Rüssel
Abb. 2. Planarie mit kleinem, nach hinten
gerichteten Kopf im Schnittwinkel. (Die
Abb. ist ebenso wie die folgenden meiner
Arbeit „Regeneration und Transplantation
bei Planarien", Arch. f. Entw.-Mech. 1921
u. 1922, entnommen.)
Abb. 3. Planarie, die von hinten her
gespalten worden ist und 2 Mund- und
Rüsselpartien (S) gebildet hat.
4. Doppelplanarie in verschiedenen Bewegungsstadien,
al = altes linkes, ar ^ altes rechtes Auge,
n 1 = neues linkes, n r = neues rechtes Auge.
Siamesischen Zwillinge, besonders dann, wenn
man sie sich selbst überläßt. Nur durch einen
dauernden Aufenthalt im F"instern lassen sich
solche Bildungen überhaupt erzielen, da eine Ab-
dunkelung die Bewegung der Planarien außer-
ordentlich herabsetzt.
Richtet man die Schnittrichtung so ein, daß
größere Verbindungsstrecken bestehen bleiben, so
entstehen nicht wie in den soeben beschriebenen
Fällen zwei Individualitäten, sondern nur eine
einzige. Das tritt besonders dann ein, wenn der
Kopf nicht verletzt wird, wie in Abb. 3. Man hat
dann trotz der Gabelung des Hinterendes den
sucht dann das größte Stück zu erwischen und
drängt den anderen weg, obwohl doch alles, was
von dem einen oder anderen aufgenommen wird,
der Gesamtheit zugute kommt. Wie bei den
Hydren, zeigt sich auch bei den Planarien die
Selbständigkeit der Teilkomplexe; nur ist beiden
Strudelwürmern insofern eine größere Einheitlich-
keit zu verzeichnen , als in der Mehrzahl der
F"älle der Kopfteil mit seinen ausgedehnten Sinnes-
organen die Direktion angibt und die übrigen
Abschnitte sich trotz ihrer Selbständigkeit dem
dadurch gegebenen Bewegungsrhythmus nach-
ahmend unterordnen.
N. F. XXI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S3I
Ob bei der Regeneration gespaltener Planarien
ein oder zwei Direktionszentren entstehen und
damit ein oder zwei Individualitäten gebildet
werden, liegt, wie aus dem soeben Gesagten her-
vorgeht, lediglich an der Schnittführung. Mein
Bestreben ging nun dahin, das Experiment so
einzurichten, daß ein ganz geringes IVlehr oder
Weniger darüber entschied, welchen Erfolg die
Operation zeitigte. Da eine exakte, genau ein-
gestellte Schnittführung bei der Beweglichkeit der
Objekte niemals möglich ist, mußten eine große
Anzahl Tiere gespalten werden, bis die Versuche
das gewünschte Resultat lieferten.
Der eine dieser gelungenen Versuche ist der
Abb. 4 zugrunde gelegt. Die bis in die Augen-
region gespaltene Planarie regenerierte sich in einer
abgedunkelten Schale zu einem Gebilde, wie es
Abb. 4b darstellt; d. h. jede Teilhälfte hatte ein
Auge neugebildet, so daß es ganz den Anschein
erweckte, als ob hier zwei Individuen mit der
Stirnpartie zusammengewachsen seien. Die Ver-
bindung der alten Augenpartien — in der Ab-
bildung mit al und ar bezeichnet — war aber
nicht durchtrennt, sondern die Verbindungsstränge
müssen noch vorhanden gewesen sein, so daß
doch noch diese Abschnitte eine Einheit bil-
deten. Das zeigte sich dann, wenn das Tier ins
Helle gebracht wurde und sich hier in Bewegung
setzte. Dann konnte der ursprüngliche alte Kopf
die Richtung angeben, in der das Tier sich vor-
wärts bewegte (Abb. 4 a); die beiden neu ent-
standenen Augen wurden dann nach hinten ab-
gedrängt und spielten kaum eine Rolle, ein ein-
ziges Direktionszentrum ließ beide Teilhälften
einheitlich reagieren. Die beiden neu entstandenen
Augen mit ihren Nervenganglien waren jedoch
etwas mehr als nur ein unwesentliches Anhängsel.
Durch irgendwelche innere oder äußere Ursache
konnte es plötzlich ganz anders kommen. Dann
trat vielleicht das alte rechte (ar in Abb. 4b) und
neue linke (n 1) als richtunggebend auf, und die
Folge war dann, daß auch die beiden anderen
Kopfhälften als eine Einheit fungierten. Das Ge-
bilde wirkte dann plötzlich wieder als Doppel-
wesen, und jede Hälfte bewegte sich für sich
allein. Da aber immer noch eine Verbindung
bestand, versuchten beide Stücke förmlich durch-
einander durchzukriechen, so daß Bilder in der
Art der Abb. 5 entstanden.
Doch damit nicht genug! Es müßte auch
noch eine Verbindung zwischen den neuentstan-
denen Augen eingetreten sein, und diese Verbin-
dung konnte bewirken, daß manchmal die neuen
Augen die Direktion angaben und die Bewegungs-
richtung bestimmten (Abb. 4 c), wobei dann der
alte Kopf als nebensächlich beiseite gedrängt
wurde.
Diese sonderbaren Erscheinungen derartiger
Doppeltiere veranlaßten mich nun, auch die Köpfe,
welche in der Art von Abb. 3 nach hinten ge-
sichtet sind, als abgedrängte Teilprodukte anzu-
rehen, die ursprünglich normal angelegt worden sind.
Läßt man nämlich eine Doppelplanarie dauernd
in der Art sich fortbewegen, wie es die Abb. 4 a
zeigt, so werden nach und nach die neuen Augen
schließlich mehr oder weniger fixiert und behalten
ihre nach hinten gerichtete Stellung, während die
Bewegungsrichtung dann dauernd durch die alten
Kopfpartien bestimmt wird.
Bei meinen zahlreichen Versuchsobjekten ließen
sich alle möglichen Übergänge dazu finden, und
nicht nur Übergänge zwischen solchen akzesso-
rischen Köpfen und richtigen Doppeltieren, son-
dern auch Zwischenformen zwischen kleinen, nach
hinten gerichteten Köpfen und einfachen Gabe-
lungen der hinteren Körperregion. Ein solches
Zwischenstadium sind beispielsweise Tiere, die in
dem Winkel, der von den beiden Hinterhälften
gebildet wird, ein einziges Auge besitzen. Man
hat sich die Entstehung eines solchen Auges so
vorzustellen, daß es von der rechten und linken
Spalthälfte gleichzeitig gebildet wird. Jede Hälfte
legt zwar ursprünglich ein Sehorgan an als spiegel-
bildliche Ergänzung des rechten und linken Auges;
Abb. 5. Doppelplanarie
in Bewegung. Die Re-
generate sind heller ge-
zeichnet.
Abb. 6. Planarie mit einem
einzigen Auge im SchniUwinkel.
Bezeichnung wie in Abb. 4.
durch eine mechanische Ursache jedoch, etwa
durch dauernde Kriechrichtung, werden diese An-
lagen zusammengedrängt und gewissermaßen auf-
einander projiziert, so daß nun ein einziges
Auge die Ergänzung zu beiden alten Sehorganen
bildet (Abb. 6).
Eine solche Annahme ist nun nicht nur eine
theoretische Spekulation, sondern ließ sich durch
Versuche erhärten. Wenn man nämlich solche
Tiere in der Art zerschnitt, wie es in Abb. 6 eine
der gestrichelten Linien andeutet , so rückte das
eine nach hinten gerichtete Auge sofort nach
vorn. Es stellte je nach der Schnittführung das
spiegelbildliche Gegenstück zum alten rechten
oder linken Auge dar, §0 daß unmittelbar nach
einer solchen Operation die Planarienhälfte als
einheitliches Ganzes wirkte.
Das gleiche trat übrigens ein, wenn man rieh-
532
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 39
tige Köpfe, die wie in Abb. 2 im Spaltungswinkel
nach hinten gerichtet waren, derart zerschnitt, wie
es der Pfeil angibt. Sofort bildete dann das
rechte Auge des alten Kopfes mit dem des neuen
eine Einheit und umgekehrt, ein Zeichen dafür,
daß auch hier keine Heteromorphosen vorliegen,
sondern ursprünglich normal gerichtete Partien,
die durch Wachstums- und Bewegungsprozesse
aus ihrer Richtung abgedrängt worden sind und
nur dadurch ihre sonderbare Lage erhalten haben.
Bei einer solchen Trennung längs gespaltener
Tiere, die zwei Augen neugebildet hatten, machte
ich einmal eine schöne Beobachtung darüber, wie
ein gleicher Reiz auf ganz gleiche Weise wirken
kann. Unmittelbar nach der Trennung der zu-
sammengewachsenen Hälften begannen die Tiere
in großen Kreislinien herumzukriechen, so daß
die Regenerationszone immer dem Kreisinnern
zugewandt war. Diese Bewegung ist, wie ich
bereits an anderer Stelle ausführte, ^) „ein Zeichen
dafür, daß die ursprünglichen Nervenbahnen , die
zwischen den ursprünglichen Augen vorhanden
waren, noch nicht verloren sein konnten. Denn
genau die gleichen Bewegungen machen auch
Tiere, die man einseitig blendet.
Eigenartig war es auch zu sehen, wie die
beiden vollkommen gleich gebauten Tiere, auf die
der trennende Schnitt natürlich in ganz derselben
Weise wirkte, in ihrer Reaktion vollkommen über-
einstimmten. Die Kreise, die sie zogen, waren
so einander kongruent, daß sie bei ihren ersten
Begegnungen an genau derselben Stelle mit den
Köpfen zusammenstießen. War dies geschehen,
so zuckten beide etwas zusammen, um dann unter-
und übereinander wegzukriechen. Beim vierten
JVIale kamen sie dabei in etwas andere Bahnen,
so daß ihre Kreise sich nicht mehr schnitten.
Sie krochen dann in derselben Weise noch unge-
fähr lo Minuten herum und kamen dann auch
gleichzeitig zur Ruhe. Trotz der Trennung waren
die Tiere also noch ganz auf denselben Lebens-
und Reaktionsrhythmus eingestellt, der sie auf
gleichen Reiz in gleicher Weise reagieren ließ.
Da sie ja von ein und demselben Individuum ab-
stammten, oder vielmehr noch , die zwei Hälften
eines einzigen Wesens gebildet hatten, verhielten
sie sich trotz der Trennung noch so einheitlich".
Weil die Tiere hier ursprünglich Teile ein
und desselben Individuums gewesen sind, mag
die Gleichheit der Reaktion vielleicht nicht so
verwunderlich erscheinen. Es gibt jedoch bei den
Würmern noch andere Fälle, in denen trotz auf-
gehobener Verbindung Einzelteile ihre Bewegungs-
weise fortsetzen, und diese Phänomene sind manch-
mal so eigenartig, daß sie mit Recht besondere
Beachtung verdienen.
Als ein Beispiel dafür, wie eine Reaktion ledig-
lich durch den einmal gegebenen Rhythmus be-
dingt wird, soll uns der Regenwurm dienen, über
') W. Goetsch, Regeneration und Transplantation bei
Planarien. Arch. f. Entwickl.-Mecli. lid. XLIX, 1922.
dessen Organisation einige Worte vorausgeschickt
werden müssen.
Die Anneliden oder Ringelwürmer, zu
denen unser Regenwurm gehört, zeichnen sich
durch deutliche Einkerbungen ihres Körpers aus, wo-
durch sie in einzelne Ringel oder Segmente ein-
geteilt sind. Ein jedes Segment enthält Teile des
Darms, des Blutgefäßes, des Nierenapparates in
ganz der gleichen Weise; es besitzt ferner eine
Anzahl von Borsten, die bei den einzelnen Arten
verschieden gebaut sind, an jedem Ringel jedoch
stets in derselben Zahl und Anordnung ange-
troffen werden. Endlich besitzt ein jedes Seg-
ment noch eine besondere Verdickung des durch-
gehenden Nervensystems, das für uns hier beson-
ders wichtig ist ; kurzum, ein jeder der abgeteilten
Körperregionen hat im großen und ganzen die
gleiche Ausbildung erfahren und enthält alles, was
zum Leben des Wurmes nötig ist.
Einzig und allein das Vorderende ist anders
gebaut ; es besitzt eine große Anzahl von Sinnes-
organen , wenn auch ausgebildete Augen unseren
einheimischen Anneliden fehlen, im Gegensatz zu
manchen Meeresformen , die außerordentlich gut
organisierte Sehorgane besitzen. Wie Versuche
zeigen, sind aber auch unsere Regenwürmer für
die verschiedensten Reize sehr empfänglich; sie
fliehen das Licht und müssen daher eine Emp-
findungsmöglichkeitbesitzen; sie spüren den Unter-
schied des Bodengehaltes und sind auch für die
Aufnahme anderer chemischer und physikalischer
Reize ausgerüstet.
Die vollkommene Gleichheit der Segmente,
die nur im Kopfabschnitt spezielle Ausbildungen
tragen, ist nun die Ursache, daß jeder Körper-
abschnitt eine große Selbständigkeit bewahrt ; und
daraus resultiert wiederum, daß bei Zerstücke-
lungen die einzelnen Teile nicht zugrunde gehen,
sondern am Leben bleiben. Viele Anneliden be-
sitzen daher auch die Fähigkeit weitgehendster
Regeneration; auch unser Regenwurm kann ver-
loren gegangenes wieder ersetzen. Seine Regene-
rationsfähigkeit ist jedoch an den verschiedenen
Teilen verschieden stark; wenn man nur den
Kopfteil abschneidet, so dauert es zum mindesten
sehr lange, ehe dieser Teil vollständig wieder
ersetzt wird. Die größten Feinde der Regen-
würmer, die Maulwürfe, sollen diese Erscheinung
benutzen, wenn sie sich Wintervorrat anlegen
wollen. Sie sammeln dann eine Anzahl Würmer
und beißen ihnen nur den Kopfteil ab. Die
armen Geschöpfe bleiben dann am Leben, sind
aber unfähig davonzukriechen.
Ob diese Angaben nun stimmen oder nicht,
das eine ist sicher: Regenwürmer, denen der
Kopfteil fehlt, vermögen keine koordinierten Be-
wegungen auszuführen. Die Bewegungsfähigkeit
an sich ist zwar nicht aufgehoben, wohl aber die
zielbewußte Direktion; sie können sich zwar
winden und krümmen, aber nicht einheitlich in
einer Richtung davonkriechen, ganz im Gegensatz
N. F. XXI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
533
zu einem vorderen Teilstück mit Kopfabschnitt,
das bald die Flucht ergreift.
Man sollte nun glauben, daß der Verlust des
Hirns die Ursache der unterbrochenen Bewegungs-
koordination sei. Das zentrale Nervensystem, so
wäre anzunehmen, gibt den Impuls, der durch
die Stränge des den Körper durchziehenden
Bauchmarkes an die einzelnen Teile weitergeleitet
wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Präpariert
man nämlich, wie dies Friedländer zuerst ge-
tan hat, Teile des Bauchmarkes aus der mittleren
Region eines Regenwurmes heraus, so laufen die
Kontraktionswellen, welche die Bewegung ver-
mitteln, gleichwohl noch unverändert über den
Körper hinweg, und die koordinierte Reaktion
erleidet auch an den Stellen, die hinter dem
durchtrennten Bauchmark liegen, keinerlei Ab-
weichung.
Man kann sogar den Versuch noch weiter
fortsetzen und den Wurm vollkommen zer-
schneiden, so daß jede Verbindung von Vorder-
und Hinterteil gelöst ist. Verbinden wir nun die
beiden Wurmhälften durch einen dünnen Faden,
so machen wir die überraschende Erfahrung, daß
sich auch über diesen Zwischenraum von einigen
Zentimetern die unterbrochene Wellenbewegung
auf das Hinterende fortsetzen kann. Wenn sich
das letzte Glied des Vorderteils kontrahiert hat,
spannt sich der Faden; ist dies geschehen, so
zieht sich sofort der erste Ring des hinteren
Wurmabschnitts zusammen, die Kontraktion setzt
sich auf die folgenden fort und die Folge davon
ist, daß auch dieser Abschnitt, der gar nicht mehr
in organischem Zusammenhang mit den anderen
Teilen ist, mit regelmäßigen Wellenbewegungen
dahinkriecht.
Wie sind derartige Erscheinungen zu erklären?
In dem hier behandelten Spezialfall wird an-
genommen, daß in jedem Segmente ein ge-
schlossener Reflexbogen vorhanden ist und die
Erregung von Segment zu Segment allein durch
Zug des vorhergehenden Ringels ausgelöst wird,
so daß es gleichgültig ist, ob dieser Zug durch
einen gespannten Faden übermittelt wird oder
durch feste organische Verbindung. Der Antrieb
und die Direktion wird zwar durch den mit
Sinnesapparaten ausgestatteten Kopfabschnitt ge-
geben; ist dies aber einmal geschehen, so ahmt
jeder Ringel nach, was der vorhergehende vor-
macht. Allgemeiner ausgediückt bedeutet dies,
daß jeder Teil eine gewisse Selbständigkeit be-
sitzt, aber doch auf einen gegebenen Rhythmus
eingestellt ist. Wird dieser Rhythmus ausgelöst,
so geht die Reaktion ungehindert vor sich, und
es spielt nur eine untergeordnete Rolle, ob das
Nervensystem unmittelbar der auslösende Faktor
ist oder auf eine andere Weise ein Mitschwingen
eingeleitet wird.
Da sich einzelne Teilstücke so leicht dem
Ganzen anpassen, daß sie sogar bei einer ganz
losen Vereinigung den gemeinsamen Bewegungs-
rhythmus mitmachen, wird es nicht wunder
nehmen, daß Transplantationen und Pfropfungen
von Körperteilen bei Würmern leicht auszuführen
sind. Bei Regenwürmern ließen sich beliebig
viel Segmente mit anderen in beliebiger Zahl
vereinigen und dadurch lange und kurze Wurm-
einheiten hervorbringen ; und bei Planarien glückte
es ebenfalls mit einiger Geduld, Stücke von ver-
schiedenen Individuen zur Verwachsung zu bringen.
Wie die Abb. 7 zeigt, sogar in inverser Stellung.
Abb. 7. Die Hinterenden von einer hellen und einer dunklen
Planarie sind umgekehrt aufeinandergepfropft. Eine Regene-
ration unterbleibt, da die Wunden durch die Transplantation
verschlossen sind.
Das Charakteristische solcher Transplantationen
ist, daß auf den einen Organismus wohl ausgebil-
dete Abschnitte eines anderen als Ganzes ver-
pflanzt werden, die sich der Gemeinsamkeit ein-
ordnen, ohne besonders umgebildet zu werden;
d. h. daß aus zwei oder mehr Teilstücken ein
neues Individuum hergestellt wird. Die regenera-
tiven Prozesse, die sonst aus eigener Kraft aus
dem Vorhandenen eine Einheit zu bilden bemüht
sind, treten dann meist nicht in Wirksamkeit, da
die Herstellung der Individualität auf andere Weise
möglich scheint.
Es ist in den einzelnen Fällen vermutlich
immer nur der Wundreiz, der die Ergänzung des
Fehlenden an dieser Stelle auslöst. Wird die
Wunde künstlich geschlossen, so wird dieser Reiz
behoben. Der Verschluß braucht dabei nicht
immer durch ein aufgesetztes Teilstück bewirkt
zu werden, sondern kann auch auf andere Weise
geschehen. Bei meinen Planarienversuchen schnitt
ich zur Demonstration dieser Verhältnisse z. B. an
gespaltenen Tieren in der Art der Abb. 2 Hirn
und Augen heraus, und da die Spalthälften sich
infolge des herausgenommenen Zwickels ausein-
anderspreizten, wurde die Wunde geschlossen.
Die Ausbildung von Augen konnte dadurch bei
solchen Tieren vollkommen unterdrückt werden.
Die Herstellung von Individualitäten bei Wür-
mern kann demnach durch mannigfache Weise
geschehen. Überall spielt in erster Linie das
Material eine Rolle, da bei all solchen Prozessen
ein Mangel an bildungsfähigen oder umbildungs-
fähigen Stoffen die Wiederherstellung ungünstig
beeinflussen muß. Neben dem Materialmangel oder
Materialreichtum kommt es aber auch noch auf
die Direktionszentren an, da es von ihnen ab-
hängig sein kann, ob aus dem Vorhandenen ein
oder zwei Individualitäten sich herausbilden, in-
dem Einzelteile aufgelöst oder zusammengefaßt
werden. Bei einer solchen Zusammenfassung spielt
stets der nachahmende Rhythmus eine
534
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 39
große Rolle, da durch ihn Einzelteile zu einer
Einheit verbunden werden können, die eine ge-
wisse Selbständigkeit besitzen — gleichwie eine
Saite anklingt und sich der Harmonie einfügt,
wenn eine andere, gleichgestimmte angeschlagen
worden ist.
Dieser auf Nachahmung und Mitschwingen
beruhende Rhythmus ist, wie wir später noch
wiederholt sehen werden, für eine Zusammen-
fassung von selbständigen Gebilden zu einer
größeren Einheit äußerst wichtig. Er bildet mit
der koordinierten Reaktion der so zusammen-
gefaßten Einzelteile ein Hauptcharakteristikum
einer Individualität. Kommt zu einer solchen
Zusammenfassung von Einzelteilen dann noch
das Bestreben, die so gewonnene Einheit zu er-
halten und etwaige Verluste zu ergänzen und zu
ersetzen, so können wir solche Gebilde als orga-
nisches Individuum auffassen. Dabei ist aber
immer wieder zu bedenken, daß dieser Begriff
etwas durchaus relatives ist, und ebenso wie bei
den Würmern auch bei anderen Organismen, die
wir als vollkommene Individualitäten zu betrachten
gewohnt sind , die Zusammenfassung wirklich
manchmal nur in einem ganz „dünnen Faden"
beruhen kann.
Bücherbesprechungen.
Diels, Ludwig, Die Methoden der Phyto-
graphie und der Systematik der Pflan-
zen. Handbuch der biologischen Arbeits-
methoden, Abt. XI, Heft 2. Berlin und Wien,
192 1, Urban und Schwarzenberg.
Mit der philosophischen Durchdringung der
Naturwissenschaft, besonders auch der Biologie,
geht eine Besinnung über die Methode Hand in
Hand. In unmittelbarem Zusammenhang mit jener
steht zwar nur die Diskussion der allgemeinen
wissenschaftlichen Methode, wie sie in der Bio-
logie besonders Tschulok und Schaxel an-
geregt haben; offenbar entspringt aber auch das
vielfach empfundene Bedürfnis nach zusammen-
fassender Darstellung der Einzelmethoden einer
gewissen synthetischen, philosophischen Geistes-
richtung. Dieser Darstellung ist ein im Erscheinen
begriffenes „Handbuch der biologischen Arbeits-
methoden" gewidmet, herausgegeben von Emil
Abderhalden, eine Leistung, die nach ihrem
Abschluß wohl einzig dastehen und den Beweis
liefern helfen wird, daß die deutsche Wissenschaft
trotz aller Not immer wieder literarische Felder
zu einer möglichen und lohnenden Bearbeitung
zu finden weiß. Für viele modernen Arbeitsrich-
tungen wird es die erste methodologische Zu-
sammenfassung sein. Aber auch die ältesten
biologischen Disziplinen , wie die Beschreibung
und Klassifizierung der Lebewesen, sind von neuen
Erfahrungen und Ideen so vielfach beeinflußt
worden, daß auch da, wo ältere Darstellungen
ihrer Methode vorhanden sind, der Versuch einer
neuen lohnt. Linne, dessen Fundamenta bota-
iiica (1736) und Philosophia botanica (1751) zum
großen Teil die erste moderne Behandlung der
„Methoden der Phytographie und der Systematik
der Pflanzen" bieten, hat die heute noch trag-
fähigen Grundlagen dieser Disziplinen gelegt; die
Anatomie findet bei ihm noch keine Verwertung.
Alphons de Candolle (La Phytographie ou
l'art de decrire les vegetaux, Paris 1880) lehrt
schon, daß die Einteilung der Pflanzen auf alle
Tatsachen gegründet werden müsse, auf die mit
bloßem Auge, mit der Lupe und mit dem Mikro-
skop erkennbaren; aber von der Bedeutung der
Vererbungslehre, der Variationsstatistik, der Serum-
diagnostik, von der Darstellung in Stammbäumen
ahnt er noch nichts.
Diels hat sich seiner Aufgabe, wie bei seiner
Erfahrung auf den in Frage stehenden Gebieten
zu erwarten war, mit größtem Geschick entledigt.
Stets wird das Notwendige gesagt, auch durch
Beispiele erläutert, aber — wenige Absätze aus-
genommen — ohne unnötige Breite. Auf die
Leistungsgrenzen der einzelnen Methoden, bzw.
ihre noch geringe Erprobung oder ungenügende
Durcharbeitung wird mit großer Sachkenntnis
hingewiesen. So ist das Buch allen denen, die
sich mit Pflanzenbeschreiben und Systematik —
die beiden verbreitetsten Zweige der scientia ama-
bilis — , und nicht nur der Phanerogamen, be-
schäftigen wollen, zum einführenden Studium
dringend zu empfehlen. Sammler mögen be-
sonders ad notam nehmen, was Diels über die
Notwendigkeit eingehender geographischer, öko-
logischer und ökonomischer Angaben sagt. Aber
auch der, den System und Systematik mehr von
ihrer theoretischen Seite iriteressieren, findet eine
Orientierung. Gerade die grundlegende Anschau-
ung freilich, daß die Art nur ein Begriff, keine
Realität sei, scheint mir doch noch nicht so end-
gültig begründet, wie Diels es ausgibt. So
nimmt Heribert Nilsson (Experimentelle Stu-
dien über Variabilität, Spaltung, Artbildung und
Evolution in der Gattung Äi/z-V, 1918) die Existenz
der mehr oder minder wohldifferenzierten Arten
in der Natur als eine Tatsache und gibt vom
genetischen Standpunkt eine ganz neue Artdefini-
tion: die Art ist „eine Kombinationssphäre, wo
der Durchschnittstypus von der Frequenz der
Gametenarten bedingt ist und wo die Variabilität
von der Anzahl spaltender Faktoren bestimmt
wird". Durch Selektion seien in der Natur die
lebensfähigsten Kombinationskreise (Genotypen-
mischungen) ausgesondert worden, und das sind
die gegenwärtigen Arten der Natur. Ferner sind
meinem Gefühl nach in dem Bestreben, zwischen
den Ansprüchen der praktischen Klassifikation
N. F. XXI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
535
und der wissenschaftlichen Systematik zu ver-
mitteln, die Interessen der ersteren etwas zu weit-
gehend gewahrt worden, was der Einsteilung der
Berliner Systematikerschule entspricht, aber wohl
auch in dem praktischen Ziele des Buches be-
gründet ist. Zum Schluß möchte ich den Wunsch
aussprechen, es möge bald eine genauere Zu-
sammenstellung des iVIaterials erscheinen, das in
den der Forschung zugänglichen Herbarien auf-
bewahrt wird, auch den ausländischen. Sie
könnte dem Phytographen und Systematiker beim
Entleihen fremder Herbarien wertvolle Fingerzeige
geben und viele unnötige, hohe Portokosten er-
sparen. Hubert Winkler, Breslau.
Anregungen und Antworten.
In Nr. 14 dieser Zeitschrift hatte ich gelegentlich einer
Kritik von N ac h ts h e i ms Auffassung über die ,, Entstehung
blinder Höhlenformen" behauptet, es sei unmöglich, daß eine
einmal zufällig aulgetretene dominierende Abart ohne Hilfe
von Selektion die Stammform im Laufe noch so vieler Gene-
rationen verdrängen könne, vielmehr bleibe das Verhältnis
Mutante zu Stammform auch in allen späteren Generationen
das gleiche. Kranich feld (Nr. 24 d. Zeitschr.) stimmt nun
zwar dem ersten Teil meiner Behauptung vollkommen zu,
lehnt aber die zweite Hälfte in längeren Ausführungen ab,
und das veranlaßt mich im Interesse der Klärung der Sach-
lage nochmals das Wort zu ergreifen.
Nehmen wir einmal an, bei irgendeiner Tierart, die (der
einfachen Rechnung wegen) nur 1000 Individuen umfassen
soll, träte plötzlich unter diesen looo eine abweichende erb-
liche Form auf, die sich gegenüber der Stammart dominant
verhält. Wir hätten dann also I DD -j- 999 RR. Jedes Paar
dieser (einjährigen) Art, soll nun, wie wir ebenfalls der Ein-
fachheit halber annehmen, nur 2 Junge haben. In Wirklich-
keit wird natürlich die Zahl der Jungen stets größer sein,
doch geht dann die lOOO übersteigende Individuenzahl im
Kampfe ums Dasein zugrunde. Denn im allgemeinen bleibt
ja die Individuenzahl einer Art bekanntlich immer etwa die
gleiche. Übrigens würde sich am Zahlen Verhältnis Mu-
tante zu Stammform, auf das es ja allein ankommt, auch
nicht ändern, wenn alle Individuen am Leben blieben. Das
eine DD muß sich natürlich mit einem der 999 RR paaren
und die übrigen 99S RR geben 499 Paare, also i (DDXKR)
-(- 449 (RR X RR)- Bei 2 Jungen pro Paar ergibt F, ; 2 DR
-f- 998 RR.
Wir hätten also eine Verschiebung der Verhältnisse Mu-
tante zu Stammform zugunsten der ersteren. Natürlich ist
diese Zunahme nur scheinbar, da ja die 2 abweichenden D-
Formen von F[ heterozygot sind , während die ursprüngliche
Mutante homozygot war. Übrigens treten ja in Wirklichkeit
die meisten Mutanten von vornherein heterozygot auf, wobei
natürlich die scheinbare Zunahme in F, wegfällt. — Nach den
Kegeln der Wahrscheinlichkeit werden sich im allgemeinen
hältnis : dominierende Mutante zu Stammform wenigstens von
der F[ -Generation an bei fehlender Selektion nicht ändert.
Die Annahme Plates in der 3. Auflage von „Selektions-
prinzip usw.", daß eine neu entstehende dominierende Mutation
ohne Selektion die Stammform zu verdrängen vermöge , war
natürlich falsch. Denn einmal berücksichtigte er die RR-
Formen überhaupt nicht genügend, sodann beachtete er nicht,
daß die Gesamtindividuenzahl der Art durch den Kampf ums
Dasein immer wieder auf die ursprüngliche reduziert wird,
war natürlich Stammform und Mutante in verhältnismäßig ganz
gleicher Weise trifft, fetner, daß auch beim Nichteintreten
dieser Reduktion die Wahrscheinlichkeit einer Paarung DR^DR
nur gering ist, da zwar die Mutante , im gleichen Verhältnis
aber auch die Stammform an Zahl zunimmt, endlich, daß sich»
am Zahlenverhältnis Mutante zu Stammform, wie leicht zu er-
mitteln, auch beim Eintreten solcher Paarungen, nichts ändern
würde (abgesehen von einer scheinbaren kleinen Änderung
zuungunsten der Mutante , da ja wieder DD-Formen auf-
treten). Die Tatsache, daß Platc diesem Irrtum zum Opfer
fiel, beweist, beiläufig bemerkt, daß Herrn Nachtsheims
Entrüstung darüber, wie man einen bekannten Forscher, der
doch mit diesem .\BC der Vererbungslehre vertraut sei, einen
derartigen Fehler zutrauen könne, durchaus nicht am Platze
ist. Übrigens hat Plate, wie schon Herr Kranich feld
feststellte, diesen Fehler bereits in der 4. Auflage des „Selek-
tionsprinzips" ebenso wie in seiner ,, Vererbungslehre" ausge-
merzt, andererseits aber anerkennenswerterweise in einer an-
deren Arbeit den Irrtum offen zugegeben.
Wie kommt nun aber Herr Kranichfeld zu der ab-
weichenden Auffassung, daß die Mutantenformen in den spä-
teren Generationen ständig abnehmen? Das hat seinen Grund
einfach darin, daß er zwar dauernd die ursprünglich vorhan-
dene RR-Staramformindividuen und ihre Nachkommen als
Paarungspartner für die Mutantenformen in seine Rechnung
hineinzieht, sie aber sonst ganz unberücksichtigt läßt. Sein
Schema wäre also (bei Annahme von 999 unveränderten Art-
individuen und I Mutante in der P-Generation, sowie 4 Jungen
pro Paar) folgendermaßen abzuändern:
Generation
P
Gesamtzahl
der
Individuen
1000
2000
Anzahl der D- und R-Formen
IDD
4 DR
-4-8 RR
Verhältnis D : R
+999 RR I : 999
-f-i996RR 4; 1996 = 2:998
-I-3984 RR 8 : 3992 = 2 : 998
16DR-I-16RR 32RR
+ 7936 RR 16: 7984 = 2:
Fl
16 000
32DR-f 32RR 64RR 128RR -J-I5744RR 32:15968 = 2:998
die 2 DR mit Normalformen RR paaren müssen (im anderen
Falle würde sich übrigens auch nichts ändern). Es ergeben
sich also in F, folgende Paare : 2 (DR X RR) + 49» (RR X RR)
und für F^ : 2 DR -f 2 RR -f 996 RR = 2 DR -|- 99S RR , also
genau das gleiche Zahlenverhältnis wie in F, . Natürlich muß
dann auch in Fj, F^ usw. das Verhältnis das gleiche bleiben,
nämlich 2 Mutanten = zu 998 Stammformindividuen, oder,
falls die allererste Mutante, wie das gewohnlich der Fall ist,
DR war, I : 999. Damit ist aber bewiesen, daß sich das Ver-
Man sieht ohne weiteres, daß in jeder Generation das Plus
an RR-Formen unter der direkten Nachkommenschaft der
Mutante bei den RR-Nachkommen der 999 Stammformindivi-
duen fehlt, daß also im ganzen das Verhältnis D : R, wie
wir ja das schon oben sahen, von der Di-Generation an un-
verändert bleibt, nämlich in unserem Falle 2 : 998.
Nun noch einige Worte zu Nachtsheiras Erwiderung
in Nr. 17. Auf die zitierten Aussprüche seiner 3 Autoritäten
will ich nicht weiter eingehen , denn Herr N. zweifelt doch
536
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 39
wohl kaum daran, daß es leicht sein würde, ihnen ebcnsoviele
Bemerkungen nicht minder bekannter Biologen entgegen-
zusetzen. Am Schluß seiner Ausführungen präzisiert N. seine
Auffassung nochmals mit folgenden Worten: „Das Auge hat
nun" (im Dunkeln) ,, keinen Selektionswert mehr, die augen-
losen Mutanten werden infolgedessen nicht mehr eliminiert
und infolge ihrer Dominanz über die Ursprungsform
werden sie diese mehr und mehr zurückdrängen". Abgesehen
davon, daß es damals statt „zurückdrängen" wohl ,, verdrängen"
hieß, ist das etwa dasselbe, was N. schon im ersten Artikel
gesagt hatte. Nun kommt aber jetzt noch ein Zusatz, der
damals fehlte und den Sinn gänzlich ändert. Es heißt näm-
lich weiter: ,,Die von Herrn Peter aufgestellte" (und, wie
wir oben sahen, richtige) Behauptung, daß die Nachkommen
der Stammform und der Mutante während aller Generationen
in demselben Zahlenverhältnis zueinander blieben, wäre nur
dann richtig, wenn keine neuen gleichsinnigen Mu-
tationen erfolgen würden. Aber das ist eben der
Fall. Resultat also: die größte Mehrzahl der Tiere ist augen-
los, die Augentiere werden mit der Zeit immer seltener."
Jetzt sollen also auf einmal die neu entstehenden gleichsinni-
gen Mutationen daran schuld sein, daß die Abart die Über-
zahl erlangt. Zur Überzahl gehören aber bei einer Art von
nur looo Individuen bekanntlich mindestens 501. So viele
Mutationen gleicher Art müßten also im Minimum unabhängig
voneinander enstehen. Zu solchen gewagten Hilfsannahmen
seine Zuflucht nehmen, heißt doch wohl m. E. den Bankrott
der Mutationstheorie selbst anmelden. Vollends unbegreiflich
ist mir gar die Behauptung: ,,Aber das ist eben der Fall."
Welchen Sinn soll übrigens nun der obige Passus ,, infolge
ihrer Dominanz über die Ursprungsform" noch haben? Wenn
er fehlte würde sich doch am Sinn der obigen Behauptung
gar nichts ändern. Könnte doch nach der obigen Methode
schließlich sogar eine rezessive Mutation die Stammform zu-
rückdrängen. —
Was die Entstehung der blinden Höhlenformen anlangt,
so möchte ich zum Schluß auf einen kürzlich in der Zeit-
schrift für induktive Abstammungslehre erschienenen Aufsatz
von Alverdes verweisen, worin dieser zu jener Frage ähn-
lich wie ich Stellung nimmt. W. Peter, Buenos Aires.
Eine Anregung zur Reform der botanisch - anatomischen
Terminologie. Wohl keine Wissenschaft hat eine ganz folge-
richtig durchgeführte Terminologie. Das liegt an der stück-
weisen Entstehung und den geschichtlichen Um- und Irrwegen
der Wissenschaft. Fachausdrücke, die halbe oder ganze Irr-
tümer zum Ausdruck bringen, haben sich in der Überlieferung
und im Schrifttum der Wissenschaft festgesetzt und werden
heute noch angewendet, obgleich sie Relikte früherer Zeiten
mit anderen Anschauungen sind. Natürlich hat auch nicht
bei allen Fachausdrücken , denen an sich eine richtige Auf-
fassung der Tatsachen zugrunde liegt, die Logik Pate ge-
standen. Daß ich hier eine Nachprüfung der anatomischen
Fachausdrücke anrege, obwohl ich auf dem Gebiete der Ana-
tomie nicht gearbeitet habe, hat zwei Gründe. Der akademi-
sche Lehrer muß dem Nachwuchs auch Stoffe übermitteln, die
er selbst nur übernommen hat. Da nach einem treffenden
Worte Max Schelers die einzige geistige Beseelung, welche
Stoffüberlicferung besitzen kapn, die genau durchdachte päda-
gogische Methodik der Stoffüberlieferung ist, so muß auch
der akademische Lehrer, wenn er nicht ein Automat werden
will, die pädagogische Methode pflegen. Und gerade dabei
bin ich zu Reibungen mit der anatomischen Terminologie ge-
kommen. Übrigens hat schon Sachs in seinen „Physiologi-
schen Notizen" es beklagt, daß die Biologen im Gegensatz zu
den Astronomen, Physikern, Kristallographen und Chemikern
ihre Nomenklatur nicht dem Stande diir wissenschaftlichen
Erkenntnis angepaßt haben.
Von geringerer Bedeutung ist es, daß Ausdrücke, die aus
früheren falschen Deutungen stammen, weiter benutzt werden,
wie Trachce und Tracheide für die w asser leitenden
Elemente des Holzes. Man kann ja, wenn man diese Aus-
drücke etymologisch und sachlich erklärt, auf die frühere irr-
tümliche Auffassung hinweisen, was in vielen Fällen didak-
tisch sogar nützlich ist; aber doch nur, wenn man den Irrtum
nicht nur kurz berührt, sondern in seiner Entstehung begrün-
det. Zu solchen geschichtlichen Abschweifungen mangelt es
aber meist an Zeit. Anatomische Fachausdrücke sollen nicht,
wie binäre Tier- und Pflanzennamen, ,, nichts bedeuten" (nur
den Organismus in seiner systematischen Stellung gegen andere
abgrenzen), sondern sie sollen im Gegenteil möglichst an-
schaulich, lebens- und bedeutungsvoll sein. Dann kann man
doch aber Elemente, die der Wasserleitung dienen, nicht
,, Tracheen'' und ,,Tracheiden" nennen! Schon Potonie
hat in diesem Falle eine Verbesserung vorgeschlagen : ,,Hy-
droiden", ein Wort, das hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit gut
gewählt, nach seiner dem Ausdruck ,,Tracheiden" angegliche-
nen Form aber wohl zu beanstanden ist. Potonies Vor-
schlag hat keinen Erfolg gehabt; andere Fachausdrücke, die
auf falschen Auffassungen beruhten, sind aber ganz verschwun-
den, wie Nägelis ,,Fibrovasalstrang" beweist.
Didaktisch schwerer wiegen Folgewidrigkeiten im System
der Fachausdrucke. Nur einen Fall, der seil Jahren meinen
Widerspruch geweckt hat, will ich hier anführen. Soll dem
Studenten das Dickenwachstum des Dikotylenstammes klar
werden, so muß er den Gegensatz von primären und sekun-
dären Geweben verstehen. Besagt der Ausdruck ,, primäres
Holz" und ,, primäres Phloem", daß diese Gewebe schon vor
Einsetzen der Kambiumtätigkeit vorhanden waren, und zwar
— abgesehen von der Zwischenzone des Kambiums — auf
demselben Radius eng aneinander liegend, und daß sie durch
den ,, sekundären Zuwachs" auseinander gedrängt werden, so
daß jeder von zwei Urmarkstrahlen begrenzte Gewebekeil aus
drei hintereinander liegenden Teilen besteht, zu äußerst dem
primären Phloem, zu innerst dem primären Xylem, dazwischen
dem sekundären Zuwachs; bezieht man hier also die Aus-
drücke ,, primär" und ,, sekundär" auf Gewebe in radialer An-
ordnung, so ist es eine Folgewidrigkeit, die ganzen durch die
Kambiumtätigkeit verlängerten Urmarkstrahlen als ,, primäre
Markstrahlen", die später in die Holzkeile eingeschobenen
Markstrahlen als „sekundäre" zu bezeichnen. Auch die Ur-
markstrahlen der verdickten Achse bestehen aus primärem
und durch die Kambiumtätigkeit erzeugtem sekundären Ge-
webe, genau wie jeder Gewebeteil zwischen den Urmark-
strahlen aus primärem und sekundärem Xylem und Phloem
besteht. Zweckmäßig wäre es vielleicht, den Ausdruck
primäre und sekundäre Markstrahlen überhaupt fallen zu
lassen , die Urmarkstrahlen kurzweg Markstrahlen und die
später eingeschalteten nach dem Vorschlage Strasburgers
als ,, Holzbaststrahlen" zu bezeichnen. Hinzu kommt, daß der
primäre Markstrahl — dieser Begriff in seiner einzig richtigen
Bedeutung angewendet — gar kein ,, Strahl", sondern eine
mehr oder minder dünne Gewebelamelle ist, die man ,, Gefäß-
bündelmaschen-Platte" oder kurzweg „Maschenplatte" nennen
könnte. Aus diesen Maschenplatten entstehen beim sekundären
Dickenwachstum die Markstrahlen.
Eine große Anzahl von Studenten, die nur Worte hören
und auswendig lernen, vielleicht auch nicht die nötige Schu-
lung des Denkens haben, merken die Inkonsequenz gar nicht.
Die denkenden aber, die sich auch eine Vorstellung bilden
wollen, werden verwirrt. Aber auch abgesehen von diesem
pädagogischen Gesichtspunkt müßte doch jede Wissenschaft
nach einem folgerichtigen System ihrer Fachausdrücke streben.
Der Grund dafür, daß ich jetzt diese Anregungen ver-
öftentliche, obgleich ich den Mangel schon jahrelang empfinde,
ist ein äußerer. Es ist augenblicklich ein von Linsbauer
herausgegebenes, wie es scheint, sehr ausführliches Handbuch
der Anatomie in Vorbereitung. Das wäre eine gute Gelegen-
heit, der Nomenklaturfr.ige näher zu treten, wenigstens auf
jenen älteren Forschungsgebieten , die heute einen gewissen
Abschluß erreicht haben, der Lehre vom ,, Zellhautgerüst" der
Pflanzen und der topographischen, z. T. auch der physiolo-
gischen Gewebelehre. Die rechte Energie wie das rechte Maß
bei diesem Unternehmen muß man den Fachleuten überlassen.
Hubert Winkler, Breslau.
Illlmlt: W. Goetsch, Beiträge zur Relativität der Individuen. (7 Abb.) S. 529. — Bücherbesprechungen: L. Di eis,
Die Methoden der Phytographie und der Systematik der Pflanzen. S. 534. — Anregungen und Antworten : Entstehung
blinder Höhlenformen. S. 535. Eine Anregung zur Reform der botanisch-anatomischen Terminologie. S. 536.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
" Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'gchen Bucbdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band
Sonntag, den i. Oktober 1922.
Nummer 40.
Über die Homomerie.
Vortrag, gehalten auf der Versammlung der D. Zoolog. Gesellschaft in Würzburg.
Von Prof. Dr. H. E. Ziegler.
[Nachdruck verboten.] M'' ^ Abbildungen im Text.
Das von P 1 a t e eingeführte Wort Homo-
merie bezeichnet eine Vererbungsweise, bei
welcher eine Anzahl von Faktoren (Genen) gleich-
sinnig zusammenwirkt; andere Autoren gebrauchen
die Bezeichnung Polymerie oder Prinzip
von Nilsson-Ehle. Der erstgenannte Aus-
druck ist vorzuziehen, weil er schon in dem Wort
das Wesentliche angibt, die Gleichartigkeit der
Faktoren. Im Sinne der Chromosomentheorie be-
deutet die Homomerie folgendes : eine Eigenschaft
beruht auf mehreren oder auf allen Chromosomen-
paaren, und deren Wirkungen addieren sich.
Die Homomerie ist praktisch von großer
Wichtigkeit, da viele Eigenschaften der Haustiere
(Größe, Schnellwüchsigkeit, Milchergiebigkeit
u. a. m.) und auch manche Veranlagungen beim
Menschen (insbesondere geistige Eigenschaften
und Geisteskrankheiten sowie konstitutionelle
Krankheiten) sich in dieser Weise vererben. ')
Für die Homomerie gelten bestimmte Gesetz-
mäßigkeiten, welche zwar in den Lehrbüchern
der Vererbungslehre besprochen werden, -) aber
doch nicht so allgemein bekannt sind wie die
Mendelsche Regel. Sie können in folgender Weise
erläutert werden. Wenn zwei Tiere gekreuzt
werden, welche in einer Eigenschaft sich unter-
scheiden, z. B. in den Längenmaßen 10 und 16
und welche in der betreffenden Eigenschaft in
allen Chromosomenpaaren Homozygoten sind, so
erhält die F^-Generation den Mittelwert (13), weil
ebensoviele Chromosomen für den Wert 10 wie
für den Wert 16 vorhanden sind. In die reifen
Sexualzellen kommen nun infolge der Reduktion
schwankende Zahlen der beiden Arten von Chro-
mosomen (Abb. i), und erkennt man die Häufig-
keit der einzelnen Zahlenverhältnisse aus der
Wahrscheinlichkeitsrechnung ; ■') sie wird durch die
') Die Vererbungsweise, welche man jetzt als Homomerie
bezeichnet, ist von mir schon im Jahre 1906 für den Men-
schen beschrieben worden (H. E. Z i e g 1 e r , Die Chromosomen-
theorie der Vererbung in ihrer Anwendung auf den Menschen.
Archiv für Rassenbiologie 3. Jahrg. 1906, S. 797 — S12).
2) L. Plate, Vererbungslehre. Leipzig 1913, S. 155 ff.
Erwin Baur, Einführung in die experimentelle Ver-
erbungslehre. 2. Aufl. Berlin 1914, S. 170 — 174.
R. Goldschmidt, Einführung in die Vererbungs-
wissenschaft. 3. Aufl. 1920, S. 233 ff.
V. Haecker, Allgemeine Vererbungslehre. 3. Aufl.
192 1, S. 244.
H. E. Ziegler, Die Vererbungslehre in der Biologie und
in der Soziologie. Jena 1918, S. 134 ff.
^) Vgl. in meiner Vererbungslehre (1918) S. 39 — 41 und
S. »35—137-
Binomialkoeffizienten bestimmt. Die F., -Genera-
tion geht aus der Kombination solcher Sexual-
zellen hervor und enthält folglich ebenfalls schwan-
kende Zahlenverhältnisse. Aus der Wahrschein-
lichkeitsrechnung ergibt sich, daß die Häufigkeiten
der einzelnen Fälle ebenfalls durch die Binomial-
koeffizienten zu bestimmen sind; die Häufigkeits-
kurve ist also die Binomialkurve (Abb. 2). Das
Ergebnis ist demnach ein ähnliches wie man es
von der fluktuierenden Variation kennt.') Die
mittleren Werte sind die häufigsten, die kleineren
und die größeren Werte sind weniger häufig, und
die extremen Werte (hier 10 und 16) sind so
selten, daß sie praktisch gar nicht in Betracht
kommen.
Wichtig ist nun die Frage, was bei der Selek-
tion geschieht. Bringt man zwei mittlere Werte
zusammen, so ist das Ergebnis dasselbe wie
in dem vorigen Falle. Wählt man aber zwei
seitliche Werte derselben Richtung aus (z. B.
zwei Werte 15), so pendelt das Ergebnis um den
ausgewählten Wert, -) wie Abb. 2 zeigt und wie
dies aus den unten mitgeteilten Experimenten
hervorgeht.
Das Ergebnis solcher Selektion ist aber nicht immer ge-
nau dasselbe, sondern nach den Elternindividuen verschieden.
Es gibt Individuen, welche einen größeren Einfluß auf die
Vererbung haben wie andere; der Züchter spricht in solchem
Falle von größerer Durchschlagskraft oder größerer ,,Indivi-
dualpotenz". Aus der Chromosomentheorie erklärt sich dies
in folgender Weise. Wenn ein Elternlier in mehreren Chro-
mosomenpaaren homozygot ist, so kommt das betreffende
Chromosom aus jedem dieser Paare mit Sicherheit in die Ge-
schlechtszellen hinein. Jede Sexualzelle muß also in der be-
treffenden Richtung einen Einfluß ausüben. Wenn aber das
Elterntier die betreffenden Chromosomen nur heterozygot be-
sitzt, so schwankt die Zahl der betreffenden Chromosomen
in den Sexualzellen sehr stark, und folglich ist die Durch-
schlagskral't des betreffenden Individuums weniger sicher. ')
Die Züchter haben auf diese Unterschiede der ,,Individual-
potenz" mehr geachtet als die Vererbungstheoretiker, weil die
Züchter mit vielen Eigenschaften zu tun haben, die sich nach
den Gesetzen der Homomerie vererben, wie Körpergröße,
Schnellwüchsigkeit, Milchergiebigkeit u. a. m., während anderer-
seits die Vererbungsforscher der Homomerie wenig Aufmerk-
samkeit geschenkt haben.
Experimentelle Untersuchungen über die
') Vgl. in meiner Vererbungslehre (1918) S. 217—232.
'') Der mathematische Beweis ist in meiner „Vererbungs-
lehre" gegeben (S. 146 — 151).
ä) Wie ich dies in meiner „Vererbungslehre" (S. 140— 142)
erwähnt und in der Schrift über die „Zuchtwahlversuche an
Ratten" (S. 396 — 399) eingehender dargelegt habe (in der
Festschrift zur Feier des loojährigen Bestehens der K. Landw.
Hochschule in Hohenheim, Stuttgart 1918, Verlag von Ulmer.)
538
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
Homomerie liegen nicht viele vor. Das bekann-
teste Beispiel ist das Experiment von Nilsson-
E h 1 e mit der Kreuzung von roten und weißen
Weizenkörnern.*) In allen Lehrbüchern werden
auch die Versuche von Castle über die Ohrlänge
der Kaninchen erwähnt. Aber auch die Körper-
Vater
die Mulatten, die
Matter
©e®®eeee
nuiniüich
Vorkt
nriliUrh
6,25
3
Kin(L'
e©00
eeee
ee©e
Abb. I. Wenn 8 Chromosomen zusammenwirkend die Eigenschaft bestimmen,
so sind bei den Bastarden zweier homozygoter Individuen 4 Chromosomen der
einen Art und 4 der anderen Art vorhanden. Für die Scxualzellen gibt es die
Möglichkeiten .1 — e oder f — k mit den beigeschriebenen prozentualen Häufigkeiten.
Bei der Befruchtung kann sich jeder der Fälle a — e mit jedem Fall ( — k kombinieren.
Aus Ziegler, Vererbungslehre.
Dasselbe gilt vermutlich auch für die Größe der
inneren Organe und somit auch flir das Hirn-
gewicht des Menschen. — Ein bekanntes Beispiel
bietet auch die Hautfarbe beim Menschen. Bei
der Kreuzung von Negern mit Weißen entstehen
in der Hautfarbe intermediär
sind, und in der folgenden Ge-
neration zeigen sich schwan-
kende Färbungen. (Nach Da-
ve np ort.) — Auch bei den
Kreuzungen der Zahnkarpfen-
arten Xiphophorus strigatus
und Platypoikilus maculatus
scheint ein Teil der äußeren
Eigenschaften sich nach dem-
selben Gesetz zu vererben,
nämlich die Querstreifen und
der merkwürdige Fortsatz der
Schwanzflosse, das sog.
Schwert. \)
Ein neues Beispiel der
Vererbung nach den Gesetzen
der Homonerie bilden die
Holländer - Kaninchen. Diese
sollen in der hinteren Hälfte
des Körpers schwarz sein und
ebenso an den Ohren und an
den Seiten des Kopfes; die
schwarze Färbung kann aber
einen größeren oder einen klei-
neren Teil des Körpers be-
decken, so daß es viele Stufen
gibt. Nach Pap beruht die
Ausdehnung der Färbung auf
mehreren (mindestens vier)
Faktorenpaaren, deren Wirkung
sich summiert. '■*)
Hier will ich nun eingehen-
der nur von der Vererbung
der Scheckung sprechen, über
welche ich bei Ratten (sog.
irischen Ratten) seit neun
Jahren Zuchtversuche gemacht
habe. Zwar ist die Scheckung
insofern ein mendelndes Merk-
mal, als Scheckung und Ganz
farbigkeit alternative Merkmale
sind. Aber die Art und das
Maß der Scheckung vererbt
sich nicht nach der einfachen
Mendelregel, und ich vertrete
die Ansicht, daß das Maß der
Scheckung nach den Gesetzen
der Homomerie zu erklären ist.
Auch frühere Autoren haben
öö ^ £S^ (T\
\l7 W W tu
h e ® 0 0
l ©000
/' 0 0 0 0
25
37
25
625,
große der Kaninchen folgt demselben Gesetz.
Ebenso nach aller' Wahrscheinlichkeit die Körper-
größe aller Säugetiere und auch des Menschen.
') In der ersten Generation ergab sich ein
Farbe (hellrot), in der zweiten eine Stufenreihe
zu dunl<elroten Körnern.
intermedi.Hre
von helleren
') Wenngleich dies aus der Darstellung von Gerschlcr
nicht klar zu erkennen ist.
M. W. Gerschier, Über alternative Vererbung bei
Kreuzung von Cyprinodonten. Zeitschr. f. ind. Abstammungs-
lehre Bd. 12, 1914.
^) Endre Pap, Über Vererbung von Farbe und Zeich-
nung bei den Kanimhen. Zeitschr. für ind. Abslammungs-
und Vererbungslehre 1921, Bd. 26, S. 218 — 256.
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
539
schon diese Auffassung gehabt;*) selbst Castle
hat sich neuerdings dieser Ansicht ange-
schlossen, während er früher die Hypothese einer
Veränderlichkeit der Erbfaktoren zur Erklärung
verwendet hat. Im Sinne dieser früheren Ansicht
von Castle hat Goldschmidt die von ameri-
kanischen Forschern aufgestellte Theorie der
„multiplen Allelomorphe" beigezogen ; ") es ist das
ein nicht gerade geschickt gewählter Ausdruck
für die erwähnte Hypothese, daß ein Gen in ver-
schiedener Stärke vorkommen könne. Ich bin
aber der Ansicht, daß man hier solcher kompli-
zierter Annahmen nicht bedarf, indem die Homo-
merie eine einfachere Erklärung gibt.
Gemessene
Werte : 1
Chromo-
somen-
ver-
4:8 6:6 8:4 t6:
12:0
klärt sich in folgender Weise : Die Ratte hat min-
destens 12 Chromosomenpaare, und wir nehmen
hypothetisch an, daß sie alle auf die Größe der
Flecken Einfluß haben. ') Beide Eltern enthalten
eine Anzahl von Chromosomen, welche die weiße
Farbe bedingen, das Männchen (mit den kleinen
Flecken) nur wenige, das Weibchen (mit dem
großen P"leck) erheblich mehr. Beide Elterntiere
sind aber keine Homozygoten, folglich bekommen
die Sexualzellen bei jedem der beiden Elterniiere
eine verschiedene Zahl von solchen Chromosomen,
welche das Weiß bedingen. *) Die verschiedenen
hältnis: 0:12 2
Abb. 2. Die Wirkung der Selektion im Falle der Homo-
merie. Aus der Menge der Individuen, welche durch die
links stehende Binomialkurve angegeben ist, wird der Wert 14
herausgewählt; dann ergibt sich bei der nächsten Generation
die nach rechts verschobene Kurve, deren Scheitel über dem
Wert 14 liegt. Wählt man den Wert 15 aus, so entsteht die
punktierte Linie. Aus Ziegler, Vererbungslehre.
Ich will nun aus meinen Zuchtergebnissen
einige Fälle herausgreifen. ^) Kreuzt man ein Tier
mit kleinen Bauchflecken mit einem solchen mit
großen Bauchflecken, so erhält man eine sehr
unterschiedliche Größe der weißen Flecken ; wie
Abb. 3 zeigt, schwankt die Färbung von fast ganz
schwarzen Tieren zu ziemlich hellen. *) Das er-
') Die beiden Hagedoorn, welche auch mit solchen
Ratten experimentiert haben wie ich , sprechen von dieser
Ansicht, schließen sich ihr aber nicht völlig an.
A. L. Hagedoorn und A. C. Hagedoorn, Studies
on Variation and selection. Zeitschrift für indukt. Abstara-
mungs- und Vererbungslehre Bd. II, 1914.
^) R. Goldschmidt, Die quantitative Grundlage von
Vererbung und Artbildung. Berlin 1920, S. 76.
*) Ich habe über einen Teil meiner Versuche in meinem
Lehrbuch der Vererbungslehre berichtet (S. 151 — 159) und
eingehender in der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen
der K. Württ. Landwirtschaftl. Hochschule in Hohenheim.
Stuttgart, Verlag von Ulmer, 191S, S. 385 — 399.
*) Man sieht an Abb. 3 in der untersten Reihe zwei
Tiere, welche am Bauch ganz schwarz sind, also noch dunkler
als das väterliche Tier. Aber an den Händen zeigt sich doch
noch etwas von dem Weifl, indem auf dem Handrücken weifle
Haare stehen, wie dies auch bei den beiden Eltern der Fall
war. Ich habe auf den Bildern, welche die Tiere von unten
darstellen, das Weiß auf dem Handrücken doch eingezeichnet,
obgleich es von unten nicht zu sehen ist. Die hellen Flecken
auf dem Bauch und die weißen Handrücken sind durch die-
Abb. 3. Das Ergebnis der Kreuzung einer dunklen Ratte
mit einer hellen.
Das Elternpaar und zwei Würfe von je fünf Jungen.
selben Vererbungsanlagen bedingt; ebenso gehören bei Pfer-
den der weiße Stirnfleck, ein seltener vorkommender weißer
Bauchfleck und die weiße Fessel zusammen.
') Es ergeben sich dieselben Folgerungen, wenn man an-
nimmt, daß nur 10 oder nur 6 Chromosomenpaare diesen
Einfluß ausüben. — Was die Chromosomeuzahl der Ratten
betrifft, so haben J. E. L. Moore (1S94) und E. v. Ebner
(1899) als Normalzahl 16 angegeben, M. v. Lenhossek
(1S98) 24, J. Duesberg (iqo8) ebenfalls 24, Regaud
(1909) 26, van Hoof 32, Moore und Arnold (1906) 32.
*) Das ergibt sich aus den Gesetzen der Reduktion. Wenn
z. B. bei der väterlichen Ratte 6 Weiß bedingende Chromo-
somen vorhanden sind und diese in verschiedenen Paaren
liegen, so können die Samenzellen o — 6 solche Chromosomen
bekommen und sind die Wahrscheinlichkeiten der möglichen
Fälle folgende:
§4Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
IVIöglichkeiten in den männlichen Sexualzellen
kombinieren sich mit den Möglichkeilen in den
reifen Eizellen und daraus folgt die Mannigfaltigkeit,
welche in der Nachkommenschaft zutage tritt
(Abb. 3).
Würde man nun aus der Zahl der Nachkommen
helle Tiere zur Nachzucht nehmen, so würde man
in der nächsten Generation mehr helle Tiere be-
kommen. Bringt man aber zwei Tiere zusammen,
welche beide nur sehr wenig Weiß haben, so er-
hält man meistens auch wieder dunkle Tiere, und
sie schwanken um die Helligkeitswerte der Eltern
(Abb. 4 — 6). In Abb. 4 ist ein Männchen, das am
Bauch ganz schwarz ist und nur auf dem linken
Handrücken noch etwas weiß zeigte, gepaart mit
einem Weibchen, das am Bauch drei kleine Fleck-
chen hatte; von den fünf Jungen ist eines ganz
schwarz am Bauch und hat nur an dem linken
Abb. 4.
Das Elternpaar und fünf Junge.
Handrücken ein wenig weiß, während die vier
anderen am Bauch kleine Flecken von schwan-
kender Form haben.') Bei Abb. 5 ist ein Männ-
chen mit ganz kleinem Fleck am Bauch und et-
was weiß auf dem linken Handrücken gepaart
mit einem Weibchen, das nur auf dem linken
Handrücken weiß war und einige weiße Haare
links an der Brust zeigte;'-') unter den fünf Kin-
dern dieses Paares sind zwei ganz schwarz, also
0 1,5 Prozent
1 9,3 ,.
2 23
3 32
4 23
5 9.3
6 1,5 „
') Eines zeigt ebenfalls etwas Weiß auf dem linken Hand-
rücken und zwei (das 3. und 4.) zeigen weiße Flecken am
Arm (das 3. rechts, das 4. links).
*) Die beiden Tiere hatten rechts silbergrauen Hand-
rücken ; die silbergraue Farbe ist dadurch bedingt , dafl die
einzelnen Ilaare weniger dunkles Pigment enthalten als die
schwarzen Haare.
dunkler als beide Eltern, und drei haben ein
wenig weiß, teils am Handrücken (das dritte und
das fünfte), teils an der Brust oder dem Bauch.
In entwicklungsmechanischer oder phänogene-
tischer Hinsicht ist zu bemerken, daß die Stellen,
an welchen die weißen Haare auftreten, durch die
Vererbung nicht genau bestimmt sind. Es gibt
zwar bevorzugte Plätze, an welchen die weiße I'arbe
Abb. 5.
Abb. 6.
auftreten kann, aber es ist nicht vorherzusagen, an
welcher Stelle und in welcher P'orm das Weiß
erscheinen wird. So sehen wir in Abb. 4 bei
den Kindern die weißen Flecken am Bauch im
Vergleich zu der Mutter in anderer Lage und
anderer Form. Ein weißer Handrücken war beim
Vater auf der linken Seite vorhanden und findet
sich bei dem ersten und zweiten Kinde ebenfalls
links, bei dem dritten gibt es aber einen größeren
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S4I
Annfleck rechts und bei dem vierten einen kleinen
Armfleck links. In Abb. 5 haben die beiden El-
tern weißen Handrücken links, von den Kindern
besitzt eines einen weißen Handrücken links, das
andere rechts; bei einem der Kinder ist ein Bauch-
tleck am unteren Teil des Bauches vorhanden,
wie er bei keinem der beiden Eltern vorkam, bei
dem vierten Kinde der Reihe liegt der Brustfleck
rechts, bei dem fünften links. Durch die Ver-
erbung ist also nur soviel gesetzmäßig bestimmt,
ob an den bevorzugten Plätzen große oder kleine
Flecken oder gar keine erscheinen, d. h. ob im
ganzen viel oder wenig Weiß auftritt.
Dies zeigt auch Abb. 6. Die beiden Eltern-
tiere haben nur wenige kleine Bauchflecken, und
von den fünf Jungen sind vier am Bauch ganz
schwarz, während das fünfte einen Fleck auf der
Brust zeigt, der viel größer ist und ganz andere
Form hat als die Flecken der Eltern. Die Er-
klärung ist folgende: die beiden Elterntiere hatten
nur wenige von den Chromosomen, welche das
Weiße bedingen , und durch das Zufallsspiel der
Reduktion sind nur bei einem von den fünf Jungen
solche Chromosomen in etwas größerer Zahl zu-
sammengekommen.
Bringt man zwei ganz schwarze Tiere zu-
sammen, so erhält man unter den Kindern teils
schwarze, teils solche mit kleinen weißen Flecken
verschiedener Art. So stammen auch die Eltern-
paare der Abb. 4, 5 und 6 von schwarzen Paaren
ab.') Es ist also sicher, daß auch diejenigen
Tiere, welche ganz schwarz erscheinen, doch noch
Anlagen zu weißen Flecken enthalten können;
dies ist in dem Sinne zu erklären, daß eine ganz
kleine Zahl von Weiß bedingenden Chromosomen
in dem Aussehen sich nicht geltend macht, wohl
aber zufällig in eine Sexualzelle gelangen kann
und dadurch mit ebenso veranlagten Chromo-
somen der anderen Seite zusammentreffend wieder
weiße Flecken hervorbringen kann.
Da man also bei den ganz schwarzen Tieren
nicht erkennen kann, ob sie nicht noch einige
weiße Chromosomen enthalten, so ist es sehr
schwer, vielleicht unmöglich, durch wiederholte
Selektion einer Reinzucht schwarzer Tiere zu ge-
langen. Dies entspricht der bekannten züchte-
rischen Erfahrung, daß man aus Mischlingen nie-
mals wieder die Reinzucht herauszüchten kann,
z. B. aus Pferden, die Kreuzungsprodukte des
Landschlags mit Vollblutpferden sind, durch Se-
') Wobei allerdings jeweils eines der Elterntiere einen
silbcrgraucn Handrücken hatte.
lektion nur Annäherungen an das Vollblut, aber
niemals ein solches erreichen kann.
Diese ganze Betrachtung hat insofern eine
Beziehung zur Medizin, als manche Krankheits-
anlagen ebenfalls nach den Gesetzen der Homo-
merie sich vererben.') Es ist nicht zutreffend, wenn
man bei allen Krankheiten eine Vererbung nach
dem Pisum-Schema der Mendelregel erwartet. Die
vererblichen Geisteskrankheiten und manche kon-
stitutionelle Krankheiten treten in sehr verschie-
denen Graden auf und lassen sich also nicht kurz-
weg auf ein einziges Faktorenpaar zurückführen.
Vielfach verhält sich die Vererbung ganz ähnlich
wie in den besprochenen Beispielen der Ratten.
Heiratet z. B. ein geisteskranker Mann eine ge-
sunde Frau , so sind weder alle Kinder belastet
noch alle frei von Belastung, sondern die Kinder
bekommen wie bei Abb. 3 verschiedene Grade
der Belastung. Kommen in einer Ehe zwei Men-
schen zusammen, welche beide nach der gleichen
Richtung ein wenig belastet sind, ohne daß dies
deutlich hervortritt, so wird ein Teil der Kinder
wenig oder gar keine Belastung bekommen, wäh-
rend einzelne der Kinder stärker belastet sein
können als beide Eltern (vgl. Abb. 6).
Schließlich will ich noch eine Bemerkung über
die Selektion beifügen. In allen Fällen der Ho-
momerie kann durch Zuchtwahl ein Erfolg er-
reicht werden , aber es ist schließlich nur eine
Annäherung an den Endpunkt der Skala der
fluktuierenden Variation möglich. Nimmt man
die Faktoren oder Gene als unveränderlich an,
so ist die Wirkung der Selektion in diesem Sinne
begrenzt. Aber in der phylogenetischen Entwick-
lung kann doch durch Selektion noch eine weiter-
gehende Wirkung ausgeübt werden, weil die Gene
im Laufe der phylogenetischen Entwicklung nicht
unveränderlich sind. Durch Idiovariation , d. h.
durch Veränderung der Gene kann die Variations-
breite sich verschieben, so daß der Endpunkt der
fluktuierenden Variation ganz unmerklich nach
einer Seite weiterrückt. Demgemäß kann dann
auch die Wirkung der Selektion über das ursprüng-
liche Maß hinausgehen. Demnach können bei
solchen Merkmalen, die auf Homomerie beruhen,
kleine Abänderungen, die nicht als sprunghafte
Mutationen auffallen und nur in der fluktuieren-
den Variation sich zeigen, durch die Selektion
befestigt werden, und so ist eine allmähliche
Weiterzüchtung nach einer Richtung möglich, wie
dies die Züchter stets beobachtet haben und wie
dies auch Darwin sich vorgestellt hat.
') Vgl. in meiner Vererbungslehre (1918) S. 240 und
260 — 265.
Moderne Probleme der Elektrobiologie.
(Nach einem in der Wiener Urania gehaltenen Vortrag.)
INachdiuck verboten.] Von Fei'd. Scheilliusky, Wien.
Die Elektrobiologie ist die Wissenschaft, welche wesen befaßt, welche aber auch die Reaktions-
sich mit den elektrischen Vorgängen in den Lebe- weise der Organismen gegenüber dem elektrischen
542
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
Strom studiert. Bei der Frage nach der Reak-
tionsweise denkt man wohl gleich an das Nerv-
muskelpräparat des P'rosches, oder an die galvano-
tropen Reaktionen. Indessen handelt es sich in
den soeben genannten Fällen um Momentanreize
und momentan beobachtbare Wirknngen. Lassen
wir hingegen die Elektrizität in irgendeiner Form
in einer nicht letalen Intensität dauernd einwirken,
so können wir oft ganz andere Erscheinungen
studieren.
Die Aufzucht tierischer und pflanzlicher Orga-
nismen im elektrischen Feld nennt man gewöhn-
lich Elektrokultur. Beim Studium der bisherigen
Ergebnisse drängt sich aber die Frage auf, ob
denn das gewöhnliche Feld der Erde und das der
uns umgebenden Lufthülle nicht ebenfalls wirksam
sei. Elektrokultur und elektrische Beeinflussung
im natürlichen Lebensraum sind die beiden mo-
dernsten Probleme der Elektrobiologie, denen sie
momentan nachgeht oder doch in allernächster
Zeit nachgehen wird, da sich die Ansätze dazu
allenthalben zeigen.
Man kann nicht behaupten, daß speziell das
Problem der Elektrokultur von heute stammt.
Hierher gehörige Versuche gehen bis in das
18. Jahrhundert zurück. Wenn es aber erst heute
aktuell wird, so liegt es daran, daß wirklich
exakte Experimente erst in der jüngsten Zeit
ausgeführt wurden und erst jetzt eine planmäßige
Forschung einzusetzen beginnt.
In erster Linie wurden Versuche an Pflanzen
gemacht. Diese Untersuchungen hatten infolge
ihrer landwirtschaftlichen Bedeutung stets mehr
Interesse erweckt. Die Literatur ist ungeheuer
groß, doch die tatsächlichen, verläßlichen Befunde
sehr gering. Ich werde im folgenden nur auf
das AUerwichtigste bezugnehmen.
Wenn wir uns, um die Übersicht zu erleichtern,
alle Versuchsanordnungen in drei Gruppen ein-
teilen wollen, so können wir folgendes feststellen:
die eine Gruppe von Forschern leitete den
elektrischen Strom dem Boden oder dem
Versuchsgefäß direkt zu;
eine andere Gruppe untersuchte die Ein-
wirkung der Luftelektrizität und ahmte
die natürlichen Verhältnisse durch Be-
strahlung mit hochgespannter Elektrizität
nach;
eine dritte endlich induzierte die Ströme
mit Hilfe magnetischer oder elektromagne-
tischer Kraftfelder in den Versuchspflanzen
selbst.
Der erste, welcher Pflanzen den elektrischen
Einflüssen ausgesetzt hat, war Maimbray,
welcher im Jahre 1746 und zwar im Monat Ok-
tober Myrtenstöcke bestrahlte und beobachten
konnte, wie diese neue Triebe ansetzten. In der
l'"olgezeit sind dann unzählige Versuche gemacht
worden, die Elektrizität in diesem Sinn der Land-
wirtschaft nutzbar zu machen, aber von den vielen
Versuchen sind nur wenige so kritisch angestellt.
daß man den erhaltenen Resultaten wirklich
trauen kann.
Wir wollen uns zunächst mit den Versuchen
der Stromdurchleitung befassen. Man hat da
zwei Metallplatten in den Boden gesteckt, diese
mit einer Batterie verbunden und die Pflanzen
einfach zwischen den Platten wachsen lassen.
Manche Autoren haben noch einfachere An-
ordnungen verwendet: sie haben die beiden in
den Boden eingesenkten Platten nicht aus dem
gleichen Metall gewählt, sondern zwei verschie-
dene Substanzen dazu genommen, beispielsweise
Kupfer und Zink. Indem sie nun die beiden
Platten außen durch einen Draht verbunden
haben, entstand zwischen den Platten ein Strom,
welcher die Pflanzen in ihrem Wachstum fördern
sollte.
Besonders interessant sind die Ergebnisse der
Versuche von Löwenherz. Dieser konnte be-
obachten , daß der Wechselstrom den Pflanzen
nicht schadet oder wenigstens nicht so sehr, als
ein ebenso starker Gleichstrom. Die günstigen
Erntezahlen sind allerdings anders zu werten:
beim Stromdurchgang haben sich die Töpfe mit
den Versuchspflanzen oft um 20" über ihre Um-
gebung erwärmt. Daß bei einer solchen Wärme-
zufuhr die Lebenstätigkeit der Pflanze gesteigert
wird, ist ohne weiteres klar, aber das ist ja keine
spezifische Wirkung der Elektrizität.
Die Versuche von Löwenherz fanden dann
durch Gassner eine Fortsetzung. Dieser zeigte,
daß die Wirkung der durch den Boden geleiteten
Elektrizitätsmenge, welche durch eine Kupfer-
und Zinkplatte geliefert wird, viel zu klein sei,
um überhaupt zu wirken. In bezug auf den
Wechselstrom erweiterte er die Befunde von
Löwenherz dahin, daß ein Strom um so
weniger schadet, je öfter er seine Richtung
wechselt. Besonders interessant ist die verschie-
dene Empfindlichkeit von Pflanzen und Tieren:
während bei bestimmten Stromstärken bei Wech-
selstrom alle im Boden vorhandenen Engerlinge
getötet werden, bleiben die Pflanzen noch völlig
ungeschädigt.
Aber nicht nur die wachsenden Pflanzen will
man dem elektrischen Strom aussetzen, sondern
man hat auch die Samen, noch bevor sie in den
Boden eingesenkt werden, elektrisch beeinflußt.
Ein derartiges Verfahren wurde erst in letzter
Zeit in Amerika von Wolf und Fry ausgear-
beitet und führt heute den Namen Wolfrynprozeß.
Die genannten Amerikaner gingen von der etwas
merkwürdigen Voraussetzung aus, daß die Heil-
wässer nicht nur auf den Menschen, sondern
auch auf die Pflanzensamen günstig einwirken
müßten. Daraufhin angestellte Versuche haben
ein gutes Resultat ergeben. Es zeigte sich aber,
daß ebenso, wie die Heilwässer, auch radium-
haltiges Wasser wirkte. Nun versuchten sie auch
die Wirkung einer kurzdauernden elektrischen
Durchströmung, wenn die Samen in einer Lösung
verschiedener Salze, hauptsächlich Salpeter, ein-
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
543
gelegt wurden. Solche Versuche mit einer elek-
trischen Samenbeize wurden im Jahre 19 19 mit
Unterstützung der Gartenbaugesellschaft von Erich
Bandl in Eßling bei Wien gemacht. Bei Hafer
wurde gegenüber der Kontrollkultur ein Mehr-
ertrag von ca. 80 % beobachtet. Da es sich in
diesen Versuchen jedoch nur um eine einmalige
Beobachtungsreihe handelt, so wird man bei der
Beurteilung des Erfolges ein wenig vorsichtig sein
müssen.
Von viel größerem Interesse sind aber die
Versuche über die Einwirkung der atmosphärischen
Elektrizität. Seit den Versuchen von Maimbray
ist ein lebhafter Streit um die Frage entbrannt,
ob die Luftelektrizität überhaupt wirksam sei.
Die Mehrzahl der Versuche hat ergeben, daß ein
Bedecken der Pflanzen mit einem geerdeten Gitter-
kasten, einem sogenannten Faradayschen Käfig,
zu einer Wachstumsverlangsamung, oft direkt zu
einer Verkümmerung führt.') Die ersten der-
artigen Untersuchungen stammen von Grandeau.
Aber die anderen Autoren lieferten in bezug
auf die Wirksamkeit der Elektrobestrahlung nur
ein sich gegenseitig widersprechendes Material.
Derartige Versuche werden gewöhnlich so ge-
macht, daß man über den Versuchspfianzen ein
Drahtnetz ausspannt und in dieses den Strom
einer Elektrisiermaschine oder den hochgespannten
Strom eines Ruhmkorff, der durch eine Ventil-
röhre gegangen ist, hineinleitet. Solche Versuche
sind auch von Wollny angestellt worden, welcher
durchwegs negative Resultate erzielte.
Nach den Arbeiten von Wollny schien das
Problem auf einem toten Punkt angelangt. Aber
schon nach kurzer Zeit brach eine neue Ära für
die Elektrokultur durch die Arbeiten von Lem-
ström an. Dieser wies darauf hin, daß die
Reifung der Gerste im nördlichen Norwegen
durchschnittlich um elf Tage früher erfolgt als in
Norddeutschland. Der Sommertag ist allerdings
im Norden länger, doch die dem Boden zugeführte
Menge an Licht und Wärme ist trotzdem geringer.
Als einziger den zeitlichen Unterschied erklärender
Faktor könnte seiner Meinung nach nur die Luft-
elektrizität in Frage kommen. Er verweist zu-
nächst auf die Tatsache, daß der Norden reich
an elektrischen Entladungen, wie Nordlichtern usw.,
ist, sowie daß die Pflanzen dieser Gegenden reich
mit spitzen Anhängseln, Grannen, Stacheln, langen
Blattspitzen usw., versehen sind. Indem er die
natürlichen Verhältnisse mit einer kleinen Elek-
trisiermaschine nachahmte bzw. verstärkte, erhielt
er tatsächlich bessere Ernteerträgnisse. Die Me-
thode von Lemström wurde dann vonLodge
und Newman in England eingeführt und ver-
bessert. Sie ersetzten das Netz durch eine Reihe
paralleler Drähte, welche in einem Abstand von
6 m voneinander gezogen waren und sich etwa
in Mannshöhe über dem Boden befanden. Die
') Da durch den geerdeten Käfig die Luftelektrizilät von
den Pflanzen abgehalten wird und daher nicht wirken kann.
Influenzmaschine wurde durch eine Maschine er-
setzt, welche einen hochgespannten Gleichstrom
lieferte. Die bei Birmingham ausgeführten Ver-
suche zeigten, daß in den elektrisch bestrahlten
Kulturen ein Mehrertrag von 35 % zu verzeichnen
war.
In der Folgezeit wurden solche Versuche viel-
fach in England angestellt und merkwürdiger-
weise wurde dort immer von günstigen Ergebnissen
berichtet. In Deutschland wurde zwar weniger
Elektrokultur getrieben, jedoch die Ergebnisse
waren so wie früher widersprechend. Die ganze
Elektrokultur krankte damals daran, daß man
Versuche machte, ohne die zugrunde liegenden
physiologischen Tatsachen festgestellt zu haben.
Man bestrahlte die Pflanzen elektrisch, ohne zu
wissen, in welchen Dosen eine solche Bestrahlung
erträglich und förderlich sei, ohne auch nur die
verschiedene Empfindlichkeit der einzelnen Arten
zu kennen. Die ersten systematischen Versuche,
welche einiges Licht in die Sache gebracht haben,
sind jüngsten Datums und stammen von Höster-
man n an der Gärtnerlehranstalt in Berlin-Dahlem.
Es wurden eine Reihe von Versuchsbeeten von
gleicher Bodenbeschaffenheit, gleicher Bewässerung
und gleicher Düngung ausgewählt, und mit Erd-
beeren, Radieschen, Rapünzchen und Möhren be-
pflanzt. Die Beete wurden in vier Reihen ein-
geteilt: die ersten dienten als Kontrollen, deren
Ertrag gleich lOO "/q gesetzt wurde; die zweite
Reihe erhielt Drahtkäfige zur Abschirmung der
atmosphärischen Elektrizität; dieses Beet ergab
einen geringeren Ertrag, etwa 86 %. Die dritte
Gruppe der Parzellen erhielt einen Überbau aus
einem Netz von Kupferdrähten, in die ein hoch-
gespannter Gleichstrom gesendet wurde. Starke
Ströme verminderten den Ertrag, bis zu go %,
während schwächere günstig wirkten und etwa
125 "/u lieferten. Die letzten Beete erhielten einen
ganz ähnlichen Überbau, aus Kupferdrähten, der
jedoch mit einem Fesselballon verbunden wurde,
welcher an einem Stahlkabel befestigt in einer
Höhe von 250 m schwebte. Diese Beete zeitigten
das günstigste Ergebnis: im Gegensatz zu den
Kontrollen lieferten sie 14O •'/q.
Besonders interessant sind aber auch die Neben-
ergebnisse von Höstermann. So konnte er fest-
stellen, daß Luft und Bodenfeuchtigkeit eine große
Rolle spielen. Die Bestrahlung wirkt um so
günstiger, je größer die Luftfeuchtigkeit ist, oder
je besser der Boden berieselt wird. Jetzt ver-
stehen wir, warum in England günstigere Ergeb-
nisse als in Deutschland erzielt worden sind: das
Klima Englands ist seiner Lage im Meere ent-
sprechend ein wesentlich feuchteres, als es in
Deutschland der Fall ist. Auch wechselt die
Feuchtigkeit natürlich an den verschiedenen Orten
Deutschlands sehr: an der Küste liegen weit
günstigere Verhältnisse vor als tief im Inneren
des Landes. Auch die Tageszeit der Bestrahlung
spielt eine Rolle : am besten ist die Zeit am
Morgen und am Abend. Dauernde Beeinflussung
544
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
schadet. Auch hier dürfte der Grund wieder in
den Verdunstungsverhältnissen gelegen sein.
Schon Gassner hatte beobachtet, daß die
solcherart elektrisierten Pflanzen mehr Wasser
verdunsten. Ähnliches hat schon vor Gassner
Nollet festgestellt. In der erhöhten Verdunstung
sieht nun der erstgenannte Autor auch das Wesent-
liche der elektrischen Bestrahlung: wenn nämlich
mehr Wasser verdunstet wird, so muß solches in
erhöhter Menge durch die Wurzeln aufgenom-
men werden. Da aber im Wasser immer
Salze gelöst sind, so wird auch eine reichere Salz-
zufuhr in den Pflanzenkörper stattfinden, und da-
durch soll eben der Mehrertrag bedingt sein.
Daß bei Durchleiten elektrischer Ströme tatsäch-
lich eine Erhöhung der Assimilationstätigkeit er-
folgt, ist durch Versuche von Pollaci, Thou-
venin und Koltonski erwiesen. Freilich bleibt
noch immer die Frage offen, wie die Mechanik
des Vorganges zu denken sei. Diese Frage wird
die Pflanzenphysiologie lösen müssen, bevor eine
wirklich rationelle Elektrokultur volkswirtschaft-
liche Bedeutung gewinnt.
Damit wollen wir das Gebiet der künstlichen
Stofifwechselsteigerung verlassen, denn es gibt
noch eine Reihe von außerordentlich interessanten
Tatsachen über die Wirkung der Luftelektrizität.
In Altholzbeständen ist die Gipfeldürre der Koni-
feren ein bekanntes Krankheitsbild. Zender
und Tubeuf konnten zeigen, daß solche Krank-
heitsbilder auch künstlich an eingetopften Koni-
feren nach Durchleiten hochgespannter Ströme
auftreten. Die genannten Autoren schließen da-
raus, daß auch in der Natur dieses Krankheits-
bild in gleicher Weise durch elektrische Entladun-
gen zustande kommt. Solche Entladungen sind
ja gar nicht so selten, und sie dürften gerade in
der Nähe von Koniferen besonders häufig auf-
treten, da Er n est und Zacek gefunden haben,
daß die Anwesenheit von Koniferenzweigen die
Leitfähigkeit der Atmosphäre erhöht. Interessant
ist auch die Beobachtung von Molisch, daß
die Wirkung von Radiumpräparaten in den ein-
zelnen Monaten eine verschiedene ist ; die Ham-
burger Botanikerin R. Stoppel hat dann ge-
zeigt, daß die Wirkungen, die Molisch in den
einzelnen Monaten erhalten hat, den Leitfähig-
keiten der Atmosphäre zu den Versuchszeiten
parallel gehen.
Die genannte Botanikerin R. Stoppel hat
auch die Schlafbewegungen der Bohnenblätter
untersucht. Es hat sich nämlich nachweisen
lassen, daß die Spreiten der einzelnen Blätter zur
Nachtzeit sinken und sich gegen Morgen wieder
heben. Diese Erscheinung ist in der Pflanzen-
physiologie schon lange unter der Bezeichnung
Pflanzenschlaf bekannt. Stoppel hat feststellen
können, daß für diese Bewegungen ein äußerer
rhythmisch sich ändernder Faktor verantwortlich
gemacht werden muß. Als solcher kommt nur
die Luftelektrizität in Betracht. Kontrollversuche
haben dies bestätigt. Wird z. B. der Topf iso
liert aufgestellt oder gar durch Aufstellen eines
geerdeten Netzes, eines sog. Faradeyschen Käfigs
die Luftelektrizität abgeleitet, so zeigen sich er-
hebliche Störungen, welche oft zu einem Ver-
schwinden der entsprechenden Zacke führen
können.
Die Bewegungen der Bohnenblätter sind durch
Schwankungen des osmotischen Druckes in den
Zellen des Stengels bedingt. Die Blätter nehmen
ihre tiefste Stellung zu einem Zeitpunkt ein, der
mit dem Maximum der Leitfähigkeit der Atmo-
sphäre zusammenfällt. Es ist nun jedenfalls inter-
essant, daß auch die Schlafkurven des Menschen
zwei Maxima zeigen, welche kurz nach den Ex-
tremen der Leitfähigkeitskurve liegen.
Und damit wollen wir uns den Reaktionen
der tierischen Organismen gegenüber dauernder
Elektrizilätswirkung zuwenden, denn die Versuche
über die Wirkung induzierter Elektrizität auf
Pflanzen, und wie ich gleich vorausnehmen will,
auch auf die Tiere, haben völlig negative Resul-
tate ergeben, wenn man nicht auf einige verein-
zelte Beobachtungen eingehen will, welche ebenso
gut Fehlbeobachtungen sein könnten.
Eine Reihe der verschiedensten Elektrothera-
peuten haben angegeben, daß Galvanisierung von
Tieren, entsprechend analogen Beobachtungen am
Menschen, zu einer leichten Steigerung des Stoff-
wechsels führen soll. Auch der bekannte Be-
gründer der experimentellen Entwicklungsmechanik,
Geheimrat Roux, hat auf diese Tatsache hinge-
wiesen.
Wenn man verschiedene Eier niederer Tiere
in einem elektrischen F'eld sich entwickeln läßt,
so tritt nach Angabe verschiedener Autoren eine
Entwicklungsbeschleunigung ein. Ich selbst habe
während des heurigen Winters Forelleneier wäh-
rend ihrer ganzen Entwicklung, d. i. während
53 Tagen, einem sehr schwachen elektrischen
Gleichstrom ausgesetzt und ebenfalls bei stärkeren
Strömen eine Abkürzung der Zeit, welche inner-
halb der Eischale zugebracht wird, beobachten
können. Die Beschleunigung des Schlüpfens be-
trug ca. 4 Tage. Allerdings hat die genaue
Untersuchung gezeigt, daß es sich in diesen Fällen
nicht etwa um eine Entwicklungsbeschleunigung
handelt, daß vielmehr unter dem Einfluß des
elektrischen Stromes eine Zerstörung der Ei-
membran erfolgt, so daß die Larven das Ei früher
verlassen können. Ob in den anderen, in der
Literatur beschriebenen Fällen auch nur eine
solche indirekte Wirkung des Stromes vorliegt,
werden erst weitere Untersuchungen entscheiden
können. Ich habe aber noch einige andere inter-
essante Beobachtungen machen können: so, daß
schon bei etwa 30 Tage alten Embryonen die
galvanotrope Reaktion eintritt, und dann, daß die
Eier, welche durch zu starke Stöme getötet wer-
den können, im Laufe der Entwicklung immer
widerstandsfähiger werden, so daß sie knapp vor
dem Ausschlüpfen gerade ein Zehntel ihrer ur-
sprünglichen Empfindlichkeit besitzen.
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
545
Von besonderem Interesse ist auch die elek-
trische Klimawirkung. Nach Helipach müssen
wir da unterscheiden: Wirkung der Elektrizität
des Bodens, Wirkung der atmosphärischen Elek-
trizität.
Zu den Wirkungen der Elektrizität müssen
wir wohl auch die Beeinflussung der Wünschel-
rutengänger durch unterirdische Substanzen rech-
nen. Es ist noch gar nicht so lange her, daß
ein ernster Wissenschaftler von der Wünschel-
rute sprechen durfte. Um nicht allzu weitschweifig
zu werden, will ich nur ganz kurz auf das Pro-
blem eingehen. Viele nehmen heute an, daß die
Wünschelrutengänger tatsächlich ein besonderes
Wahrnehmungsvermögen haben, daß sie nicht,
wie man früher glaubte, einfach Schwindler sind,
oder aber einer Selbsttäuschung erliegen. Speziell
die Versuche, welche Prof. Haschek am II. Phy-
sikalischen Institut der Wiener Universität ausge-
führt hat, haben wohl auch frühere Gegner zum
Schweigen gebracht.
Man versteht bekanntlich unter Wünschel-
rutengängern Individuen, welche von unterirdischen
Substanzen in einer derartigen Weise affiziert
werden, daß ein in den Händen gehaltenes Instru-
ment, die sog. Wünschelrute, in Drehung gerät.
Die Formen dieser Wünschelrute sind sehr ver-
schieden. Das gleiche gilt für das Material, aus
welchem sie gefertigt werden. Aber auch die
Haltung des Instrumentes ist bei verschiedenen
Individuen verschieden. Wenn nun einzelne
Rutengänger angeben, daß sie zum Aufsuchen
bestimmter Objekte verschiedene auf diese abge-
stimmte Wünschelruten haben müssen , so stellt
der unparteiische Statistiker dem bloß die Tat-
sache gegenüber, daß die einen für die gleichen
Substanzen gerade die entgegengesetztesten For-
men, Haltungen und Materialien verwenden, ja,
daß viele auf spezielle Wünschelruten ganz ver-
zichten, und entweder stets mit dem gleichen
Instrument arbeiten, oder erst an Ort und Stelle
sich eine Rute vom nächtbesten Baume schneiden,
daß endlich einige wenige die Rute vollständig
entbehren können und sich bei ihren Mutungen
lediglich ihren subjektiven Gefühlen überlassen.
Aus der Fülle der sich oft widersprechenden An-
gaben zieht der Statistiker nur den Schluß, daß
die Form, das Material und die Haltung
der Wünschelrute ganz belanglos ist.
Hat auch so mancher Rutengänger seine Lieb
lingsrute, so leistet doch jeder von ihnen das
gleiche mit ihr, sofern er eines besitzt : hinreichende
Wünschelrutenfähigkeit.
So ist denn das Wünschelrutenproblem als ein
rein physiologisches Problem aufzufassen. Die
Drehung der Wünschelrute erfolgt durch den
Rutengänger selbst, durch eine entsprechende
Tätigkeit seiner Muskulatur, welche nach Art
einer Reflexbewegung abläuft. Die Versuche von
Haschek haben nun ergeben, daß der Ruten-
gänger auf Änderungen des elektri-
schen Feldes der Erde reagiert. Dort, wo
die Stromlinien verdichtet wurden, dort trat die
Reaktion ein; das ist aber nur dort der Fall, wo
in einem Gebiete geringerer Leitfähigkeit ein
guter Leiter eingeschlossen ist. Mit dieser Be-
obachtung stimmen auch die Angaben von A m -
bronn überein, der die Stellen, wo Rutengänger
einen Ausschlag erhalten, vom physikalischen
Standpunkt aus untersucht hat. Er konnte unter
anderem feststellen, daß an solchen Orten die
Leitfähigkeit erhöht ist, daß also auch hier elek-
trische Phänomene im Spiele sind.
Die Wünschelrutenfrage gehört in die Gruppe
jener Erscheinungen, welche von dem Psychologen
Helipach als „geopsychische" Erscheinungen
beschrieben worden sind. Er versteht darunter
die seelischen Wirkungen vom Wetter, Klima
und Landschaft. Zu diesen „geopsychischen"
Erscheinungen gehört auch die sog. Föhnkrank-
heit, welche sich in ihrer höchsten Ausbildung
zu einer dumpfen Verzweiflung, zu einer qual-
vollen Bangigkeit, wie vor einem großen Unglück,
steigern kann. Föhnkranke verlieren ihre geistige
Leistungsfähigkeit, werden unruhig, ihre Glieder
erscheinen wie Blei so schwer, der Kopf wird
eingepreßt gefühlt, Speisen sind ohne Geruch und
Geschmack. Vielfach wirkt auch die Gewitter-
schwüle in ähnlicher Weise, obwohl zur Gewitter-
schwüle nicht wie beim Föhn trockene, sondern
feuchte Luft gehört. Beiden gemeinsam ist aber
die starke Jonisation und aus diesen Gründen
glaubt Helipach hier eine Wirkung atmosphä-
rischer Elektrizität vor sich zu haben. Außer
Gewitter und Föhn wirkt noch die Rauchschwüle
mit folgenden Schneefällen oder Graupelschauern
besonders auf empfindliche Menschen. Es ist
nun außerordentlich interessant, daß auch hier
wieder als meteorologisches Element die Luft-
elektrizität besonders in Erscheinung tritt. Es
soll aber nicht geleugnet werden, daß nicht etwa
noch andere Elemente, speziell der Luftdruck, mit
im Spiele sind, doch sprechen z. B. gegen die
alleinige Wirksamkeit des Luftdruckes gar zu
viele Argumente.
Epileptische Anfälle sollen periodisch mit den
Mondphasen ablaufen. Arrhenius hat dies an
einer langwierigen mathematischen Ableitung
nachgewiesen. Allerdings sind die Ergebnisse
.Arrhenius' nicht unwidersprochen geblieben —
z.B. von Gallus — , doch hat unter anderem
Am mann an einem einwandfreieren Kranken-
material als das von Gallus ebenfalls gezeigt,
daß „eine Periodizität der Anfallshäufigkeit" mit
dem Mond vorhanden ist.
Es hat sich auch feststellen lassen, daß die
Gewitter sich mit zunehmendem Mond häufen,
und Arrhenius und Ekholm haben dann ge-
zeigt, daß eine rund 27- und aötägige Periodik
aller luftelektrischen Erscheinungen der Gewitter
und Polarlichter insbesondere besteht, und die
genannten Autoren haben diese Periode als mond-
abhängig aufgefaßt. So wären denn die Wir-
kungen des Mondes auf den Epileptiker und den
546
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
Noktambulen nicht als direkte Wirkung zu denken,
vielmehr als eine Wirkung der atmosphärischen
Elektrizität.
Arrhenius hat auch für periodische Er-
scheinungen am menschlichen Weibe ein Ge-
bundensein an den Mond angenommen und auch
hier an luftelektrische Einflüsse gedacht. Eine viel
interessantere Beziehung des Geschlechtslebens
zum Mond zeigt aber nicht der Mensch, sondern
ein kleiner Wurm der Südsee, der sogenannte
„Palolo"wurm, Eunice viridis. Dieser Wurm lebt
in den Gängen von Koralleiirififen. Die Fort-
pflanzung erfolgt so, daß bei beiden Geschlechtern
die hintersten Segmente ihres Leibes sich zu
ganz kurzem selbständigen Dasein ablösen und
an die Meeresoberfläche ausschwärmen, ihre Keim-
zellen entleeren, um nach Vollendung dieser Auf-
gabe zu sterben. Die abgestoßenen Körperteile
werden von den Polynesiern „Palolo" genannt und
gern gegessen. Die Eingeborenen hatten nun
behauptet, daß die Palolo nur zweimal im Jahre
schwärmen und wieder nur in der Nacht vor der
Vollendung des letzten Mondviertels im Monat
November und Dezember. Eine Nachprüfung
dieser Angaben durch verschiedene Forscher hat
dies überraschenderweise bestätigt. Es fehlt
natürlich nicht an Vor- und Nachzüglern, aber
der Hauptschwarm tritt mondpünklich ein. Eunice
viridis hat im Atlantik einen Verwandten, Eunice
fucata. Bei dieser finden wir die gleichen Fort-
pflanzungsverhältnisse, nur tritt das Schwärmen
Ende Juni oder Anfang Juli ein, auch hier ist
eine Abhängigkeit vom letzten Mondviertel zu
beobachten, wenn sie vielleicht auch nicht so
deutlich ist, wie bei Eunice viridis. Wenn wir
nun nach einer Erklärung für das Palolophänomen
suchen, so bleibt nach Arrhenius nur wieder
die Luftelektrizität übrig. Daß hier eine Eigen-
periodik vorliegt, ist natürlich von vornherein
klar, aber das mondpünktliche Schwärmen bedarf
eines auslösenden Faktors. Mechanische Momente,
wie Ebbe und Flut können zur Erklärung nicht
herangezogen werden, da die Erscheinung auch
in vom I^eere abgeschlossenen Behältern beob-
achtet wird. Auch bedeckter Himmel oder son-
stige Verschiedenheiten der Witterung haben auf
das Schwärmen keinen Einfluß.
Die physiologische Wirkung der Luftelektrizität
ist ein interessantes und auch medizinisch wich-
tiges Problem, da es nicht ausgeschlossen ist, daß
sie auch einen Faktor des Höhenklimas darstellt.
Jedenfalls zeigen die bisherigen Versuche wieder
einmal in überaus deutlicher Weise die innige
Verknüpfung pflanzlichen, tierischen und nicht
zuletzt menschlichen Daseins mit den unbelebten
Elementen der Natur.
Einzelberichte.
Physiologische Untersuchuugeu au Flavoiioleu
und Authozyanen.
Mit der Bedeutung der Anthozyane für den
Haushalt der Pflanze beschäftigt sich eine Arbeit
von Kurt Noack (Zeitschr. f. Bot. 14, 1922).
Daß das Anthozyan innerhalb der Blütenregion
im Dienste der Insektenanlockung steht, ist ja
ohne weiteres klar. Nun tritt aber das Antho-
zyan auch sehr häufig in Laubblättern auf, die
dann die charakteristische rote bis violette Tönung
annehmen. Man hat viel über die Funktion
solchen Anthozyangehalts diskutiert und theoreti-
siert, ohne zu einer durchweg befriedigenden Er-
klärung zu gelangen. So ist es denn interessant,
daß Noack das Problem von einer ganz neuen
Seite angreift. Er geht von der Tatsache aus,
daß sich die Anthozyane nur durch die Oxy-
dationsstufe von einer anderen chemischen Gruppe,
den Flavonolen, abheben, deren reduzierte Phase
sie darstellen. Es bestehen hier also ähnliche
Beziehungen wie zwischen Chlorophyll b und
Chlorophyll a, Xanthophyll und Carotin, Atmungs-
pigment und Atmungschromogen. Von dem
System Atmungschromogen ■ Pigment ist nun
durch Wieland nachgewiesen, daß es eine wich-
tige aktive Rolle in dem Oxydationsprozeß der
Atmung spielt, und Noack verficht die Ansicht,
daß dem System Flavonol -Anthozyan eine ent-
sprechende Aufgabe in dem Reduktionsprozeß
der CO., -Assimilation zufällt, daß also die Oxydation
der Anthozyane zu Flavonolen ein Glied in der
Reduktionskette darstellt. Ist das richtig, dann
muß gefordert werden, daß in den betrefifenden
Pflanzenorganen Flavonol und zugehöriges Antho-
zyan stets gepaart auftreten. Hierfür konnte der
Nachweis in verschiedenen Fällen tatsächlich er-
bracht werden. Man muß nun annehmen, daß
in jedem Falle ein verschiebbares Verhältnis
zwischen beiden Stoffen vorhanden ist, derart,
daß das Gleichgewicht durch die Assimilation
mehr und mehr nach der Seite der Flavonole —
also Entfärbung — verschoben wird. Damit
stimmen die Erfahrungen über das Auftreten
von Anthozyanen in Laubblättern aufs schönste
überein. So kann man das Erscheinen von Rot-
färbung im Frühjahr und im Herbst damit er-
klären, daß im ersten P"all die Assimilationstätig-
keit noch nicht ihre normale Größe erreicht hat,
während sie im Herbst mit der Degeneration
des Chlorophylls schrittweise erlischt. Manchmal
läßt sich sehr deutlich beobachten, daß gerade bei
den Blättern, bei denen der Chlorophyllzerfall am
weitesten fortgeschritten ist, die Rotfärbung am
stärksten ist, während sie in benachbarten Zellen
mit noch normalem Chlorophyll fehlt. Außerdem
besteht ein sehr auffälliger Parallclismus zwischen
all den Eingriffen, die eine Hemmung der Assi-
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
547
milationstätiglceit bedingen, und dem Vorhanden-
sein von Anthozyan. Hierher gehört die Narkose,
der Entzug von Stickstoff und Phosphor (Störung
der normalen Bildung von Chlorophyll) und die
Zufuhr von Zucker, durch welche die Assimilation
nachweisbar unterdrückt wird. Auch die von
T o b 1 e r betonte Tatsache, daß rotblättrige Hedera-
formen am weitesten nach Norden vordringen,
ließe sich in diesen Rahmen einfügen. JVlan
braucht nur die Annahme zu machen, daß die
Kälteresistenz — wie so oft — durch gesteigerten
Zuckergehalt bedingt ist, um auch hier zu einer
Gleichgewichtsversciiiebung des Systems Antho-
zyan-Flavonol nach der Anthozyanseite zu ge-
langen. Neu ist die wiederum zugunsten der vor-
getragenen Deutung sprechende Beobachtung,
daß Rotfärbung durch CO.^- Entzug hervorgerufen
werden kann; dadurch wird ja ebenfalls die Assi-
milation gehemmt. Es muß weiteren Versuchen
überlassen bleiben, festzustellen, ob die Noacksche
Hypothese, die zweifellos heuristischen Wert be-
sitzt, weil sie so verschiedenartige Tatsachen
unter einem Gesichtspunkt vereinigt, allen Ein-
wänden gegenüber standhält. Vor allem wäre die
Art des Eingreifens der Anthozyane in dem Assi-
milationsprozeß noch näher zu präzisieren.
Stark.
Die Verbreitung der Erdbeben uud ihre
Bedeutung für Fragen der Tektonik.
Eine wichtige Bereicherung unserer Kenntnisse
über die geographische Verbreitung, Häufigkeit
und Stärke der Erdbeben und über ihre Beziehun-
gen zum tektonischen Bau bestimmter Erdräume
gibt uns A. Sieb erg.')
Als Grundlage seiner Untersuchung dienten
25 000 makroseismisch beobachtete Beben und
636 Großbeben. Sie verfolgt drei verschiedene
Aufgaben, deren vereinigte Ergebnisse erst einen
tieferen Einblick in die örtlichen Besonderheiten
der Erdbebentätigkeit ermöglichen : die ver-
gleichende Darstellung der mittleren Bebenhäufig-
keit in den verschiedenen tektonischen Einheiten
der Erdrinde — die Lagebestimmung und Fest-
legung der unterscheidenden Merkmale derjenigen
Bebenherde, die sich entweder durch große Stärke
oder durch große makro- und mikroseismische
Reichweiten auszeichnen — Ermittlung der Zu-
sammenhänge zwischen den statistisch erkannten
Bebenverhältnissen und dem tektonischen Bau
der Erdrinde.
Als wichtige Leitsätze werden formuliert:
Erdbeben geben im allgemeinen den Vollzug
echter Bruchdislokationen infolge tektoni-
scher Vorgänge zu erkennen. — Die Größe des
Schüttergebietes wächst bei gleicher Bebenstärke
im Epizentrum, wenn gleichzeitig die Tiefenlage
des unterirdischen Herdes und die dortige Beben-
') Veröffentlichungen der Hauptstation für Erdbeben-
forschung in Jena. Heft 1. Jena I922, G. Fischer.
stärke zunehmen. Daraus ergeben sich sechs
Charakterklassen von Beben (Welt- und Wieder-
kehrbeben, Groß-, Mittel- , Kleinbeben in zwei
Gruppen, und Lokalbeben). — Die lebensprudeln-
den Dislokationen sind an solche Erdräume ge-
knüpft, in denen orogenetische und epirogenetische
Bewegungen auch heute besonders energisch
am Werke sind; in ihnen werden die häufigsten,
heftigsten und weitest reichenden Beben auftreten.
— Dislokationen sind seismisch um so träger, je
früher die Gebirgsbildung in ihrem Bereiche zur
Ruhe gekommen ist.
Im „seismisch ■ tektonischen Antlitz der Erde"
werden Kontinente und Ozeane nach ihrer Seis-
mizität besprochen. Tabellen geben für ihre tek-
tonischen Elemente die mittlere Jahreshäufigkeit
der gefühlten und der seismisch registrierten
schweren Beben, für letztere auch die Zahl der
Epizentren , die makro- und mikroseismischen
Reichweiten. Hier ist eine erstaunliche Fülle von
Material übersichtlich verarbeitet und für tektoni-
sche Betrachtungen in vorbildlicher Weise nutzbar
gemacht.
Aus den „allgemeinen Ergebnissen" sei er-
wähnt :
Alljährlich ist bei den heutigen Beobachtungs-
mitteln mit dem Nachweise von mindestens 8 bis
10 000 Beben zu rechnen. Jede Stunde wird die
Erde von einem Beben erschüttert. Alle 52 Tage
verspürt sie ein Weltbeben des Festlandes, alle
28 Tage eins des Meeresgrundes.
Die seismisch regsamsten Teile der
Erde sind die Randsenken des Pazifischen Ozeans
(Tonga-, Kermadec-, Aleutengraben als Ursprung
der meisten und gewaltigsten Welt- und Groß-
beben). An zweiter Stelle steht Asien, dann
Südamerika mit den Hochgebirgen des Westens
und Nordens. Von einheitlicher Größenordnung
etwa sind Mittelamerika mit Westindien, Nord-
amerika (dabei ist die Westhälfte Südmexikos und
Mittelamerikas die am reichsten mit festländischen
Weltbeben ausgestattete Gegend der Erde) und
der Indische Ozean. In merklichem Abstände
erst folgt der Atlantische Ozean, in gleichem Ab-
Stande wieder Europa, dann Afrika, während die
größte seismische Ruhe in Australien herrscht.
Die bebenreichsten Landgebiete überhaupt sind:
die nord- und mittelchilenische Kordillere mit
über 1000 Beben im Jahre, die japanischen Inseln
mit 430 und die ostafrikanischen Gräben mit 300.
Die einzelnen tektonischen Grund-
elemente zeigen sehr verschiedenes seis-
misches Verhalten: das bebenärmste tektonische
Element (0,4 %) ist die Gesamtheit der paläo-
zoischen Rumpfgebirge. Es folgen die alten
Massen und Tafeln. Die großen festländischen
Einbruchsgebiete kommen an dritter Stelle. Es
schließen sich die tertiär gefalteten Hochgsbirge
an. Diese vier Grundelemente sind durch so ge-
ringe Bebentätigkeit charakterisiert, daß sie zu-
sammengenommen nur 8 "/o ''"^'' i^n Jahre ge-
fühlten Beben liefern. Eine große Kluft trennt
548
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
sie von den übrigen drei tektonischcn Grund-
elementen, in denen Brüche vorherrschen. Hier-
lier gehören die Bruchschollenländer, die in junger
Zeit durch Brüche zerstückelten P"altengebirge
und vor allem die den Tiefseerinnen benachbarten
Landgebiete. Hier entstehen die meisten Welt-
und Großbeben. Hieraus ergibt sich: Faltung
ist für die Auslösung von Beben von
ganz untergeordneterBedeutung, Bruch
und Verwerfung beherrschen das Feld.
Die Tiefseegräben sind in der Mehrzahl
nach ihrem seismischen Verhalten gewaltige
Verwerfungen, zum Teil die gewaltigsten
der Erde überhaupt.
Die Becken der Weltmeere haben nicht, wie
A. Wegener annimmt, einen ähnlichen, sondern
einen grundverschiedenen Bau, der ihre Entstehung
widerspiegelt. Die Absenkung des Bodens des
Atlantischen Ozeans geschah in der Hauptsache
bruchlos an F'lexuren. Die Atlantische Schwelle
in ihm ist ein werdendes großes Faltengebirge.
Der recht gleichförmige Boden der innerpazifischen
Tiefseeflur bildet im allgemeinen eine einheitliche
starre Tafel, die als Ganzes im Sinken be-
griffen ist.
Alles in allem darf angenommen werden, es
sei der Zusammenbruch der Erdrinde, der
sich in den Erdbeben zu erkennen gibt. —
Eine sehr schöne seismisch-tektonische Welt-
karte begleitet die ausgezeichnete Arbeit, deren
Folgerungen man sich vom geologischen Stand-
punkt aus nur anschließen kann.
Krenkel.
Die Chromosomen der Obstfliege (Drosopliila).
Bridges') geht von der Vorstellung aus, daß
ein Gen eine chemische Einheit ist , welche in
einem bestimmten Chromosom liegt. Das Gen
erzeugt in dem Organismus charakteristische
chemische Vorgänge und beeinflußt infolgedessen
die Entwicklungsvorgänge. Eine Eigenschaft kann
durch manche Gene stärker oder auffälliger ge-
macht werden, durch andere schwächer.
Die Beobachtungen von Bridges beziehen
sich auf die Obstfliege (Drosophila), welche ja
T. H. Morgan und seinen Schülern schon zu
vielen Experimenten gedient hat. Dieses Insekt
hat vier Paare von Chromosomen , wobei eines
eines davon das Geschlechtschromosomenpaar ist;
unter den übrigen Paaren (den „Autosomen") be-
findet sich eines mit kleinen kugeligen Chromo-
somen (Abb. i). Es gelang Bridges Individuen
zu finden, welchen eines von diesen kleinen Chro-
mosomen fehlte ,und die Folgen zeigten sich in
geringerer Größe, kürzeren Flügeln, kleineren
i'"ühlerborsten, blasserer Kür])erfarbe, dunklerem
Fleck auf dem Thorax (darker trident pattern),
und späterem Ausschlüpfen. Man erkennt daraus,
') Bridges, Dr. Calvin B., The origin of varialions in
sexual and seN-limited characters. .'\merican Naturalist vol. 56,
1922, p. 51—63. 7 Fig.
daß das kleine Chromosom in bezug auf den
P'leck einen hemmenden, hinsichtlich der anderen
genannten Eigenschaften einen fördernden Einfluß
besitzt. Auch bei anderen Eigenschaften, die auf
anderen Chromosomen beruhen, kommen die
kleinen Chromosomen mitwirkend in Betracht;
fehlt eines der kleinen Chromosomen, so zeigt
sich z. B. die haarlose Mutation, welche auf einem
anderen Autosomenpaar beruht, in verstärkter
V 6
')f 'X
'X T
Abb. I. Chromosomen von Drosophila.
Mach Morgan aus Goldschmidt, Mechanismus der
Geschlcchtsbestimmung. Berlin 1920.
Weise. — Wenn eines der kleinen Chromosomen
fehlt, hat das andere kleine Chromosom keinen
Paarung; infolgedessen kommt es bei den Rei-
fungsteilungen nur in die Hälfte der Sexualzellen;
kreuzt man also ein solches Tier mit normalen
Tieren, so entstehen zur Hälfte ebensolche Tiere,
zur Hälfte normale.
Fehlt eines von den großen Autosomen, so
ist die Störung so schwer, daß die Tiere nicht
am Leben bleiben.
Bei Drosophila ist eines von den 4 Paaren
das Geschlechtschromosomenpaar (Abb. i), und
dieses besteht im männlichen Geschlecht aus zwei
ungleichen Chromosomen (x und y), im weib-
lichen Geschlecht aus zwei gleichartigen (2 x).
Die Entfernung eines Geschlechtschromosoms
wirkt ähnlich wie die Entfernung eines der beiden
kleinen Chromosomen. Das y Chromosom scheint
allerdings nur einen unbedeutenden Einfluß zu
haben. Ein Individuum ohne y- Chromosom wird
männlich, ') aber kleiner als ein normales Männ-
chen, hat kleinere Fühlerborsten, ist weniger
lebenskräftig und schlüpft später aus.
Bridges hat Individuen gefunden, welche tri-
ploid sind, d. h. welche dreimal die halbe Chromo-
somenzahl enthalten, also 12 Chromosomen. Diese
Tiere sind Weibchen, aber ein wenig größer als
normale Weibchen. Unter ihren Nachkommen
gibt es intersexuelle Tiere, welche weder männ-
lich noch weiblich sind; diese besitzen die Auto-
somen triploid und haben zwei x- Chromosomen
und müßten demnach Weibchen sein, werden
aber durch die Autosomen nach der männlichen
1) Das erinnert an den bei vielen Tieren vorkommenden
Protenor-Typus, bei welchem im weiblichen Geschlecht zwei
Geschlechtschromosomen, im männlichen nur eines vorhanden
sind.
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
549
Richtung hin beeinflußt, was beweist, daß die
Autosomen neben den Geschlechtschromosomen
auch eine Einwirkung auf die Geschlechtscharak-
tere haben und einen Einfluß nach der männ-
lichen Seite hin ausüben. — Die geschlechtlichen
Zwischenformen (Intersexes) sind teils mehr männ-
lich, teils mehr weiblich.
Es kann vorkommen, daß man Tiere erhält
mit der diploiden Zahl von Autosomen, aber mit
3 X-Chromosomen; da die letzteren eine weibliche
Tendenz haben, entsteht ein „Überweibchen"
(Superfemale); es besitzt aber abnorme Ovarien
und ist unfruchtbar. Andererseits gibt es Tiere
mit einem einzigen x Chromosom und einer tri-
ploiden Zahl von Autosomen; da nun dem weib-
lichen Einfluß des x-Chromosoms der männliche
Einfluß der drei Sortirnente von Autosomen
gegenübersteht, gibt es „Übermännchen" (Super-
males), die aber auch unfruchtbar sind.
H. E. Ziegler (Stuttgart).
Bücherbesprechungen.
Pfaff, Dr. A., Für und gegen das Blinstein-
sche Prinzip. 44 S. Diessen vor München
1921, Jos. C. Huber.
Wittig, Hans, Die Geltung der Relativi-
tätstheorie. Eine Untersuchung ihrer natur-
wissenschaftlichen Bedeutung. 67 S. Berlin W
1921, Hermann Sack.
Richter, Dr. Hans, Prof a. d. Univ. Bern, Die
Entwicklung der Begriffe Kraft, Stoff,
Raum, Zeit durch die Philosophie mit Lösung
des Einsteinschen Problems. 30 S. Leipzig
1921, Otto Hillmann.
Strasser, Dr. H., o. Prof. d. Anatomie in Bern,
Die Grundlagen der Einsteinschen
Relativitätstheorie. Eine kritische Unter-
suchung. HO S. Bern 1922, Paul Haupt.
Die Denkempörung gegen Einstein kommt in
einer noch immer wachsenden Hochflut von
Streitschriften, die sich gegen die Relativitäts-
theorie richten, und zu denen auch diese vier
Arbeiten gehören, zum Ausdruck. Die Schrift
von Pfaff stellt eine eingehende Diskussion des
Michelsonschen Versuchs vom Standpunkte eines
Kritikers dar, der nicht Berufsmathematiker ist,
und kommt zu dem an sich jedenfalls richtigen
Schluß, daß die Relativitätstheorie in den Ver-
suchen von Michelson und Morley oder El-
ze au keinerlei physikalische Stütze findet. Die
Arbeit von Witt ig stellt eine sehr gründliche
Diskussion sowohl der physikalischen wie der
philosophischen Grundlagen der Einsteinschen
Theorie dar. Indem einzelne Gebilde der Rela-
tivitätstheorie, z. B. die Uhrentheorie oder die
mit Lichtgeschwindigkeit bewegt gedachte Materie
oder die „Verjüngung" rückläufig bewegter Lebe-
wesen zu Ende gedacht werden, gelangt der Verf
auf Widersprüche, die sich mit Hilfe der Rela-
tivitätstheorie nicht lösen lassen. Die angeblichen
Widersprüche in der alten Äthertheorie, die zur Zeit-
relativierung und Lorentzkontraktion führten,
werden als nicht vorhanden nachgewiesen. Der
Verf. kommt zu dem Schluß, daß für die Physik
kein Anlaß besteht, von der Annahme eines
,, Äthers" abzusehen. Würde die Naturwissenschaft
auf Grund rein formaler Entwicklungen den Äther
gänzlich annullieren, so müßte sie aus materialen
Gründen doch wieder zu einer anderen Hilfs-
hypothese greifen, um die Nahewirkung überhaupt
erklären zu können, die sie an die Stelle der
Newtonschen Fernwirkungen eingeführt hat. —
Die kleine Schrift von Richter ist ganz anderer
Art und macht den interessanten Versuch, vom
Standpunkt des Biologen eine Stellung zur Ein-
steinlehre oder richtiger zu den erkeantnistheore-
tischen Prinzipien der Mathematik und Physik zu
gewinnen. Das Gemeinsame zwischen Zeit und
Raum, mathematisch ausgedrückt „der Quotient"
des Verhältnisses Raum zu Zeit, erblickt er in
dem biologischen Prozeß der „Aufteilung", von
ihm als „Merie" bezeichnet. Die Schrift ist nur
vorläufig orientierend und man wird bei der Fülle
von anregenden Gedanken, die sie enthält, auf
die in Aussicht gestellte Fortführung in einer
breiter angelegten Abhandlung gespannt sein
dürfen. Strasser kommt auf Grund seiner
Untersuchungen zu einer sehr entschiedenen Ab-
lehnung der sog. Relativitätstheorie. Er glaubt
nachgewiesen zu haben, „daß Lorentz und Ein-
stein ihre ,Transformationsformeln' in rechnerisch
unstatthafter Weise abgeleitet haben. Es handelt
sich dabei um prinzipielle Verstöße gegen die
Logik der Deduktion, meist von der Art, daß
den gewonnenen Symbolen neue, mit den Prä-
missen unvereinbare Bedeutungen zuerkannt wer-
den." „Die Einsteinsche Lehre von der Konstanz
der Lichtgeschwindigkeit ist unhaltbar. Diese
Lehre ist durch keine Tatsache bewiesen und
wird zu Unrecht aus dem Versuch von Michel-
son und Morley gefolgert. Dieser Versuch
beweist nur die Konstanz der Geschwindigkeit
des Lichtes, das von einem auf der Erde ruhenden
Punkt ausgeht, der Erde gegenüber. — Es führt
auch die Lehre von der Konstanz der Licht-
geschwindigkeit zu ganz absurden Schlußfolge-
rungen." — „Die Lehre Einsteins von der Va-
rianz und Variabilität der Zeit wird zu einem un-
entwirrbaren Chaos." — „Das Uhrenbeispiel ist
eine naive und ganz unhaltbare Fiktion." Auch
die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie
werden einer Kritik unterzogen; insbesondere die
Lehre von den Zentrifugalkräften muß nacli An-
sicht des Verf. Bedenken erregen. P'ricke.
5 so
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
Hartwig, O., Das Werden der Organis-
men. Zur Widerlegung von Darwins Zufalls-
theorie durch das Gesetz in der Entwicklung.
3. Aufl. XX u. 686 S. mit 115 Abb. im Text.
Jena 1922, G. Fischer. Geh. 200 M. , geb.
240 M.
Selten hat ein Werk der biologischen Wissen-
schaften einen solchen Siegeslauf zu verzeichnen
gehabt, wie H er twigs Werden der Organismen.
Innerhalb der kurzen Spanne von vier Jahren ist
jetzt bereits die dritte Auflage nötig geworden,
ein Beweis dafür, welche begeisterte Aufnahme
das Werk gefunden hat.
Und berechtigt ist diese Begeisterung zweifel-
los, weil hier ein Werk vorliegt, das aus der
Feder eines der führenden Männer der nachdarwi-
nianischen Zeit stammend, in leichtverständlicher
Form einen Überblick gibt über die Errungen-
schaften, welche die Entwicklungslehre in den
letzten 50 Jahren aufzuweisen hatte. Vieles von
dem, was namentlich die erste Auflage vermissen
ließ, ist jetzt eingeflochten worden, so daß eine
weitgehende Abrundung des Gesamtbildes er-
reicht ist.
Die klare Entwicklung der Gedanken, die
ruhige Form der Darstellung, die kritische Wer-
tung der Tatsachen müssen auch auf den Laien
fesselnd wirken. Sie sind es, welche dem Werk
seine Verbreitung in und außerhalb des Kreises
der Fachgenossen gesichert haben.
Die weite Verbreitung des Hertwigschen
Werkes zwingt nun auch dazu, ein besonderes
Maß daran zu legen. Der Biologe wird gern aus
der Fülle des Gebotenen schöpfen und wird hier
und da vielleicht eine andere Folgerung daraus
ziehen. Der Laie wird, durch die überlegene Form
gefesselt, auch die Resultate des Werkes als ein-
wandfrei und bindend ansehen.
Darin liegt zweifellos eine gewisse Gefahr, die
von vielen Seiten auch klar erkannt worden ist.
So kommt es, daß das „Werden der Organis-
men" nicht nur begeisterte Zustimmung, sondern
auch heftigste Ablehnung gefunden hat.
Daß der Nebentitel von der Widerlegung von
Darwins Zufallstheorie für den gebildeten Laien
besonders deshalb zugkräftig ist, weil er dahinter
eine Widerlegung des Deszendenzgedankens ver-
mutet, ist selbstverständlich ; der Leser wird sich
in dieser Erwartung ebenso selbstverständlich ge-
täuscht finden, denn Hertwig vertritt den Ent-
wicklungsgedanken überall.
Das, was Hertwig vielmehr anstrebt, ist
eine Bekämpfung der speziell als Darwinismus zu
bezeichnenden Theorie der Selektion. Seine Deduk-
tionen, welche zu diesem Ziele führen sollen, sind
klar und einleuchtend. Sein Resultat, die Ableh-
nung des Darwinismus, ist aber trotzdem nicht
bindend, weil seine Voraussetzungen falsch sind.
Darwin dürfte der erste Vertreter deszendenz-
theoretischcr Vorstellungen gewesen sein, welcher
für die Artentwicklung zwei antagonistische Prin-
zipien verantwortlich machte, nämlich ein formen-
schöpfendes und ein formenvernichtendes Prinzip.
Das formenschöpfende war für ihn die Variation,
das formenvernichtende die Naturselektion. Die
Variation schafft dauernd neue Erscheinungsformen
von Organismen , die Selektion vernichtet davon
alle diejenigen, welche im Kampf ums Dasein
sich weniger bewähren.
Von den beiden Grundprinzipien war Dar-
w i n das formenschöpfende vorerst gleichgültig.
Rein deskriptiv stellte er das Vorhandensein einer
Variation fest, und, indem er sich mit dem Ge-
gebenen abfand, fragte er danach, wie daraus ein
Fortschritt resultieren könne. Die Naturselektion
gab ihm darauf eine restlos befriedigende Ant-
wort, denn wenn sie alles Minderwertige ausschied,
mußte äußerlich („phänotypisch" würde man
vielleicht prägnanter sagen können) ein Fortschritt
zu beobachten sein.
Heutzutage steht nicht mehr das negative
formenvernichtende Prinzip im Brennpunkt des
Interesses, sondern das positive, formenschöpfende.
Man fragt danach, woher die neuen Formen
kommen, wodurch die Variation bedingt wird.
Es herrscht jetzt also eine kausalanalytische Ten-
denz in der Bearbeitung der Entwicklungslehre vor.
Darwin machte den „Zufall" für das Auf-
treten neuer Formen verantwortlich. Zufall aber
ist eine Erfindung des Menschen, welche das be-
zeichnet, dessen Gesetzmäßigkeiten man noch
nicht kennt. Darwins Ansicht von der Zufällig-
keit der Variation ist also nichts weiter, als ein
vorläufiger Verzicht auf eine genauere Analyse.
Die neuere Biologie, und mit ihr Hertwig,
begnügt sich nicht mit diesem Provisorium, son-
dern setzt dafür allerlei Ursachen ein. Allerdings
hat Darwin schon die Verschiedenheit der
Varianten erkannt und Verschiedenheiten ihrer
Entstehung vermutet, ohne dem aber weiter nach-
zugehen. Heute ist gerade dies die herrschende
Problemstellung.
Hertwig tut also Darwin bitter unrecht,
wenn er behauptet, ihn widerlegt zu haben. ^)
Nicht um die Widerlegung eines Irrtums, sondern
um den Ausbau eines Provisoriums handelt es
sich, wenn Hertwig die Zufälligkeit der Varia-
tion bekämpft. Das Entscheidende an Darwins
Gedanken wird dadurch gar nicht berührt.
An der Bedeutung der Naturselektion als eines
formenvernichtenden Prinzips wird niemand zweifeln
können; Darwin ist damit heute noch ebenso
„modern", wie bei der Aufstellung seiner Theorie.
Die Analyse der Variation als des formenschöpfen-
den Prinzips ist aber in der Tat seit Darwin
schon erheblich gefördert worden; darüber gibt
Her twigs Buch trefflichen Aufschluß.
Wenn also Hertwigs „Werden der Organis-
men" als eine Übersicht über reiches Tatsachen-
') Es ist schwer verständlich, wie in der neuen Auflage
eine Stellungnahme zu den leider in der Form reichlich
schroffen, aber sachlich sehr beachtenswerten Bemerkungen
Study s zu Hertwigs „Werden der Organismen" fehlen
konnte 1
N. F. XXI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
551
material überaus wertvoll ist und daher nicht
warm genug empfohlen werden kann, so legt die
Achtung vor Darwin doch den Wunsch nahe,
es möge der irreführende Zusatztitel des Werkes
bei künftigen Auflagen verschwinden, und ebenso
alles, was diesen Zusatztitel zu unterstützen
scheint, einer Revision unterzogen werden. Möch-
ten doch recht viele Leser durch Hertwigs
Werk veranlaßt werden, auch einmal Darwins
Entstehung der Arten zu lesen, um Darwins
eigene Meinung kennen zu lernen!
H. Prell.
Schaffer, J., Lehrbuch derHistologie und
Histogenese, nebst Bemerkungen über
Histotechnik und das Mikroskop.
IL verb. Aufl., VIII u. 536 S., mit 600 z. Teil
färb. Abb. i. Text u. auf 14 Taf. Leipzig 1922,
W. Engelmann. Preis geh. 245. — M., in echt
Leinen geb. 290. — M., zuzüglich' 100 "/o Verleger-
zuschlag.
Die „Vorlesungen über Histologie" des Verf.
haben im vorliegenden Werke unter geändertem
Titel eine Neuauflage erfahren. Sachlich ist es
damit insofern anders gestellt, als man an ein
Lehrbuch andere Anforderungen stellen wird, als
an zwanglosere Vorlesungen über ein Gebiet. Und
in diesem Charakter weicht Schaffers Histologie
recht erheblich von den anderen Lehrbüchern
über das Gebiet ab. Ein Überblick über den
Inhalt zeigt das sofort.
Eine historische Einleitung bietet in gedrängter
Form einen guten Überblick über die wichtigsten
Daten aus der Geschichte der Histologie und
über den Wechsel der Probleme und Methoden.
Der erste Hauptteil (S. 8 — 37) widmet sich
einer Besprechung des Mikroskopes und seiner
Hilfsapparate. Hier hätte vielleicht die praktisch
kaum mehr gebräuchliche Parallelogrammführung
zugunsten eines kurzen Hinweises auf die Mecha-
nik der Feineinstellungen an den Leitzschen und
den neuesten Zeissschen Instrumenten gekürzt
werden können. Von den Zeichenapparaten ist
der Oberhäusersche kaum noch gebräuchlich,
jedenfalls weniger verbreitet, als die „Zeichen-
okulare" verschiedener Firmen. Eine stärkere
Benutzung des didaktisch geschickten Büchleins
von Leitz würde diesen Abschnitt erheblich ver-
bessern können. Auch würde es Ref. richtig er-
scheinen, hier die Bemerkungen über Untersuchung
im polarisierten Lichte anzuschließen, um alles
Technische zusammenzuhalten.
Der zweite Hauptteil führt dann in die eigent-
liche Materie ein und behandelt „die Lehre von
den einfachen Geweben", also die allgemeine
Histologie (S. 38 — 278). Die starke Betonung,
welche der allgemeine Teil findet, bildet mit den
charakteristischsten Zug von Schaf fers Histolo-
gie. Ob das für ein Lehrbuch in der Hand des
jüngeren Studenten zweckmäßig ist, mag dahin-
gestellt bleiben. Für den Fortgeschrittenen ist es
zweifellos recht wertvoll, auch genauere Hinweise
zu finden, insbesondere da auch von denen des
Verf. abweichende Ansichten Berücksichtigung
finden.
Der dritte Hauptteil schließlich führt in „die
spezielle Gewebelehre oder Histologie der Organe"
(S. 279 — 516) ein, also in das Gebiet der mikro-
skopischen Anatomie. Hier überrascht die
streng histologische Auffassung des Gebietes, bei
welcher weitgehend von dem Gesamtbau der be-
handelten Organe abgesehen wird. Nur wenige
Schemata versuchen, nicht stets glücklich, auch
die Einheit der Organe zu erläutern. Manche
Kürzen in der Behandlung dürften auf diese Zu-
spitzung zur rein histologischen Betrachtungsweise
zurückzuführen sein.
Ein doppelter Index, nach Tiernamen und nach
der Materie, erleichtert die Auffindung bestimmter
Gegenstände. Ein kurzes Literaturverzeichnis
orientiert über die wichtigsten Lehrbücher, deren
Gebiete berücksichtigt werden.
Was die Gruppierung des gesamten Stoffes
anlangt, so wäre es vielleicht richtiger gewesen,
den Abschnitt über das Mikroskop als den anderen
Hauptteilen des Werkes nicht gleichgeordnet in
die Einleitung zu übernehmen.
Eine Erweiterung der Einleitung durch einen
geschlossenen Überblick über die histologische
Technik würde sicher einen Gewinn bedeuten.
Allerdings wäre dabei nicht an die Wiedergabe
spezieller Handgriffe und Rezepte zu denken, wie
sie ja in zahlreichen sowieso unentbehrlichen Hilfs-
büchern zu finden sind. Wertvoll ist aber gerade
für den Anfänger, etwas über Zweck und Ziel
der verschiedenen Methoden, sowie über Charakter
und Wirkungsweise ganzer Farbstoffgruppen usw.
zu erfahren. Das pflegte in den Hilfsbüchern
hinter den praktischen Anweisungen verloren zu
gehen.
Daß eine besondere Behandlung der Zelle
als des elementaren Bausteines eines jeden Ge-
webes fehlt, wird vielen Benutzern des Schaf fer-
schen Buches recht unangenehm auffallen. Der
Hinweis auf die spezielle Behandlung der Zelle
von Böhmig, welche als Ergänzung heran-
gezogen werden soll, befriedigt (insbesondere im
Zeitalter der hohen Bücherpreise) nur wenig.
Vielleicht entschließt sich Verf. doch, in einer
Neuauflage trotz aller seiner Bedenken möglichst
vor der allgemeinen Histologie einen Grundriß
der Cytologie zu geben.
Während die Differenzierung der Zelle ja in
vieler Hinsicht schon von selbst im zweiten
Hauptteile behandelt wird, wäre hier dann viel-
leicht auf den primären Bau der Zelle, auf ihre
Vermehrungserscheinungen und auf die Vorgänge
bei der Gameten- und Zygotenbildung einzugehen.
(Die Behandlung der synaptischen Phänomene usw.
S. 437 ist wirklich zu knapp!)
Die Ausstattung der Schaf ferschen Histo-
logie ist buchtechnisch als mustergültig zu be-
zeichnen und entspricht vollkommen der Qualität,
SS2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 40
wie sie in besseren Zeiten üblich war. Sachlich
wäre es vielleicht kein Fehler gewesen, wenn
weniger Wert auf die Originalität der Abbildungen
gelegt wäre. Es ist vielmehr zweckmäßiger, aus
anderen Werken und Spezialarbeiten besonders
geglückte Abbildungen zu übernehmen, statt über-
all eigene Bilder vorzulegen. Hervorgehoben sei
als Beispiel nur ein Vergleich der Bilder von den
Zentren in Leukozyten mit Heidenhains Ab-
bildungen!
Eine stärkere Betonung des anatomischen Ge-
samtaufbaues der Organe läßt sich vielleicht trotz
der Tendenz des Werkes rechtfertigen und durch-
führen.
Im ganzen darf man Schaf fers Histologie
als ein wertvolles Glied der histologischen Lite-
ratur ansehen, dessen Anschaffung trotz des ver-
hältnismäßig hohen Preises denen, welche sich
eingehender mit Histologie befassen wollen, nur
empfohlen werden kann. Prell, Tübingen.
Karsten, Georg, Methoden der Pflanzen-
geographie. (Handbuch der biologischen
Arbeitsmethoden, Abt. XI, Teil i, Heft 3), S. 309
bis 324. Berlin und Wien 1922, Urban und
Schwarzenberg.
Rubel, Eduard, Geobotanische Unter-
suchungsmelhoden. Berlin 1922, Gebr.
Borntraeger.
Die Pflanzengeographie zählt nicht zu den
jungen Wissenschaften, ist aber auch heute noch
in sich wenig geschlossen. Darin liegt wohl mit
ein Grund dafür, daß wir eine Zusammenfassung
ihrer Methoden noch nicht besitzen. In Amerika
kamen 1905 Clements' Research methods in
ecology heraus, ein Buch, das nur die Pflanzen-
soziologie, diese allerdings eingehend, berück-
sichtigt, aber zu sehr auf amerikanische Verhält-
nisse zugeschnitten ist. Karstens kaum 16 Seiten
lange Arbeit kann die Lücke in keiner Weise
ausfüllen. Obwohl sie in einem „Handbuch der
biologischen Arbeitsmethoden" erschienen ist,
bietet sie von Methodenbeschreibung doch nichts;
denn wenn der Verf. auch von floristischer, öko-
logischer, genetischer Methode spricht, so handelt
es sich dabei immer um Darstellung „materieller
Gesichtspunkte" (Tschulok) der P'orschung.
Man könnte die Arbeit am treffendsten als eine
vortreffliche knappe Zusammenfassung dessen be-
zeichnen, was über Pflanzengeographie in jedem
Lehrbuch der Botanik stehen sollte. Leider be-
rücksichtigen die Lehrbücher diese Disziplin immer
noch ungenügend oder gar nicht.
Zu gleicher Zeit ist aber in Rübeis „Geo-
botanischen Untersuchungsmethoden" ein Ersatz
erschienen. Für jeden, der pflanzengeographisch
arbeiten oder als Lehrer pflanzengeographische
Arbeiten anregen und fördern will, ist das Buch
unentbehrlich. Es ist selbst entstanden als ein
Zusammenklang von praktischer Erfahrung und
Lehre. Bei der Abgrenzung des Gebietes gegen
Meteorologie, Physik, Physiologie, Bodenkunde,
Mineralogie, die Verf. selbst als sehr schwierig
bezeichnet, hat er wohl den richtigen Maßstab
verwendet. Die bedauerliche Vernachlässigung
der floristischen Pflanzengeographie — die
doch auch zur „Geobotanik" gehört und doch
auch ihre Methoden hat ■ — ist wohl auf die be-
sondere soziologische und ökologische Arbeits-
richtung der schweizerischen Pflanzengeographen
zurückzuführen. Für floristische Feldaufnahmen
bieten übrigens Ernst Kehl hofers „Ratschläge
für Anfänger in pflanzengeographischen Arbeiten"
(Zürich, Röscher & Co., 191 7) gute Fingerzeige.
Rubel gibt in der Einleitung seines Buches eine
Übersicht über die pflanzengeographischen Pro-
bleme und F"orschungsziele, erörtert dann die
Standortsfaktoren und ihre Messung und die dazu
dienenden Instrumente, im zweiten Hauptabschnitt
die Untersuchung der Pflanzenbestände. Dieser
letzte ist besonders wertvoll, weil die Methoden
der soziologischen Forschung in der deutschen
Literatur noch niemals zusammengestellt worden
sind. Die einzelnen Methoden werden diskutiert
und dabei wertvolle Anregungen zur Weiterbildung
dieses in vielen Punkten noch strittigen Forschungs-
gebietes gegeben. Von der kartographischen
Darstellung, die, soweit möglich, noch der Ver-
einheitlichung bedarf, handelt der Schluß des
Buches. Auf Einzelheiten kann unmöglich ein-
gegangen werden. Erwähnen möchte ich einige
Schönheitsfehler. Die schweizerische .Ausdrucks-
weise des Verf. macht es dem Reichsdeutschen
zuweilen schwer, den Sinn genau zu erfassen.
Sehr merkwürdig ist die Neben- und Unterord-
nung und die Zählung der Abschnitte. Wenn
darin nicht ein Versehen beim Druck erfolgt ist,
kann man diese Methode wohl sehr originell, aber
wenig übersichtlich nennen.
Hubert Winkler, Breslau.
Literatur.
Rutgers, Dr. med. J., Das Sexualleben in seiner bio-
logischen Bedeutung. Dresden 22, R. A. Giesecke.
Linke, Felix, Der ewige Kreislauf des Werdens. Be-
trachtungen über das Schicksal der Erde und des Lebens.
Leipzig '22, Th. Thomas. Geh. 36 M., geb. 52 M.
IiiIihU: U E. Ziegler, Über die Homomerie. (6 Abb.) S. 537. Kerd. Scheminsky, Moderne Probleme der Elektro-
biologie. S. 541. — Einzelbericbte- K. Noak, Physiologische Untersuchungen an Klavonolen und Anthozyanen. S. 546.
A. Sieberg, Die Verbreitung der Erdbeben und ihre Bedeutung für Kragen der Tektonik. S. 547. C. B. Bridges,
Die Chromosomen der Obsllliege (Drosophila). (l Abb.) S. 548. — Bücherbesprechungen: A. Pfaff, Für und gegen
das Einsteinsche Prinzip. H. Wittig, Die Geltung der Relativitätstheorie. H. Richter, Die Entwicklung der Be-
griffe Kraft, Stoff, Raum, Zeit. H. Strasse r, Die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie. S. 549. O.
Hertwig, Das Werden der Organismen. S. 550. J. Schaffer, Lehrbuch der Histologie und Histogenese, nebst Be-
merkungen über Histotechnik und das Mikroskop. S. 551. G. Karsten, Methoden der Ptlanzengeographie. Ed.
Rubel, Geobotanische Untersuchungsmethoden. S. 552. — Literatur: Liste. S. 552.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'ichen Bucbdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
■r ganzen Reihe 37. Ba
Sonntag, den 8. Oktober 1922.
Nummer 41.
[Nachdruck verboten.]
Beiträge zur Relativität der Individuen.
IV. Probleme der Symbiose.
Von Dr. Willi. Goctscb, München.
Mit 3 Abbildungen.
Selten hat wohl ein Schlagwort, das eigentlich
nur zu wissenschaftlichem Gebrauche geprägt
wurde, so sehr alle Wirkungskreise erobert wie
das Wort vom „Kampf ums Dasein", das Dar-
win zur Erklärung der artbildenden Umwand-
lungsprozesse heranzog. Ursprünglich ganz eng
gefaßt, gewann das Schlagwort allmählich immer
weitere, ausgedehntere Bedeutung, so daß es
schheßlich zu dem Begriff eines Kampfes aller
gegen alle wurde, und damit dann Entschuldigung
für vieles bot, was sonst nicht der Billigung der
Gesittung entsprach. Überschritt im privaten oder
gesellschaftlichen Verkehr ein einzelner das er-
laubte Maß zu eigenem Nutzen, oder unterdrückte
und vernichtete ein Staat um des reinen Erwerbes
willen fremde Völker oder Stämme, so konnte
man immer sich damit entschuldigen, daß man
achselzuckend sagte: „Das ist eben der Kampf
ums Dasein; naturgewollt und damit gottgefällig."
Ein beliebtes Gebiet, um Beispiele für das
vernichtende Ringen in der Natur anzuführen,
lieferten immer die Erscheinungen, die in der
Biologie als Parasitismus bezeichnet werden.
Die Unzahl von Mitteln, die dem Schmarotzer
bei der Ausnützung seines Opfers zur Verfügung
standen, und die Gegenmittel, mit denen sich der
Überfallene gegen die lästigen Bewohner wehrte,
boten Argumente genug, auf die hingewiesen
werden konnte.
Dabei vergaß und übersah man aber, daß es
gerade in diesem Kriege der Organismen unter-
einander Waffenstillstände und Friedensschlüsse
gab, und daß aus solchen Kampfeseinstellungen
Bündnisse von einer Stabilität entstehen konnten,
wie sie wohl sonst nirgends zu finden sind.
Wie groß deren Verbreitung ist, und wie sehr
wir rings umgeben sind von solch symbio-
tischen Vereinigungen, wie der wissen-
schaftliche Name heißt, dafür geht uns erst jetzt
durch die neuesten Forschungen das volle Ver-
ständnis auf. Das Zusammenleben von zwei ganz
verschiedenartigen Organismen kann so eng
werden, daß der eine förmlich zum Organ des
anderen wird, und der eine Teil ohne den anderen
nicht existenzfähig ist. Solche Geschöpfe sind
demnach aus einer Vielheit zusammengesetzt;
und das ist der Grund, weshalb die Probleme der
Symbiose hier bei unseren Untersuchungen über
die Relativität der Individuen behandelt werden
sollen.
Die Natur macht keine Sprünge, so sagt
das Sprichwort mit Recht; und so ist es kein
Wunder, daß bei den Formen der Vergesellschaf-
tung alle möglichen Übergänge zu finden sind.
Auf der einen Seite steht der reine Parasitismus;
d. h. nur der Schmarotzer hat vom Zusammen-
leben Nutzen, während das Wirtstier, auf dem er
lebt, geschädigt wird und nur gewissermaßen als
Medium dient, auf das der Parasit angewiesen ist
wie der Fisch aufs Wasser. Den anderen End-
punkt stellt die reine Symbiose dar, ein Begriff,
unter dem alle die Fälle zu verstehen sind, in
welchen sich Organismen verschiedener Kate-
gorien zu einem festen, dauernden Zusammen-
leben vereinigen, in der Art und Weise, daß
beide Teile voneinander Vorteil haben.
Das bekannteste Beispiel einer Symbiose ist
der Einsiedlerkrebs (Pagurus), der seinen weichen
Hinterleib in einem Schneckenhaus verbirgt und
dieses mit einer Seerose (Aktinie) besetzt. Der
Nutzen dieses Zusammenlebens besteht darin, daß
die Seerose auf diese Weise eine gesteigerte Orts-
bewegung bekommt; auch mögen mancherlei
Nahrungsbissen für sie abfallen, wenn der Krebs
Beute erjagt hat. Der Krebs wiederum hat be-
deutende Vorteile von der Seerose, da er von
der Aktinie Schutz genießt. Alle Seerosen sind
nämlich wegen ihrer Nesselorgane sehr gefürchtet
und werden kaum von räuberischen Tieren an-
gegriffen, so daß auch der Krebs, der sich mit
einem solchen wehrhaften Geschöpf vergesell-
schaftet hat, vor Nachstellungen sicherer ist.
Ein solches Zusammenleben von Tier mit Tier
führt niemals zu solch innigen Vereinigungen,
von denen wir hier zu reden haben; derart feste
Gemeinsehaften, welche für beide Teile lebens-
wichtig sind, kommen nur bei Bündnissen vor,
welche Vertreter des Pflanzen- und des Tier-
reiches miteinander eingehen.
Solche Symbiosen zwischen Tier und Pflanze
sind ungemein weit verbreitet; nachdem man ein-
mal auf ihre Wichtigkeit aufmerksam geworden
ist, findet man nach und nach in allen Tierklassen
Beispiele dafür, sogar bei den Säugetieren.
Eine der schon bekannteren Formen ist beim
Faultier zu beobachten. In seinem dichten Pelz
siedeln sich Algen der Gattungen Trichophilus
und Cyanoderma an, so daß das Fell stellenweise
eine grüne Farbe bekommen kann.
Der Vorteil für beide ist augenscheinlich; das
554
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
Faultier, das am Tage bewegungslos in den
Bäumen hängt, wird dadurch vor seinen Ver-
folgern leichter geborgen, und die Algen finden
in dem Pelzwerk mit seinen Ausscheidungspro-
dukten günstige Existenzbedingungen.
Die soeben beschriebene Symbiose ist ver-
hältnismäßig unkompliziert und mehr zufällig;
bei anderen lassen sich jedoch ganz konstante
Verhältnisse feststellen, besonders in Fällen, in
denen der eine Symbiont in den Zellen des
anderen lebt.
Aus der Fülle der Beispiele möchte ich hier
nur zwei extreme Vereinigungen von solch intra-
zellulärer Symbiose') anführen; zunächst einmal
das Zusammenleben von Insekten mit niederen
Pilzen und Bakterien, und dann die Symbiose
von kleinen Wassertieren mit grünen Algen.
Jeder hat schon einmal das Glühwürmchen
oder Johanniskäferchen bewundert, das in Sommer-
nächten mit seinem glitzernden Schein herum-
schwirrt und das Weibchen sucht, das, ebenfalls
leuchtend, an den Boden gebunden bleibt, weil
ihm die Flügel fehlen. In unseren Gegenden ist
das Glühwürmchen der einzige Vertreter der
leuchtenden Insekten; in wärmeren Regionen gibt
es dagegen eine ganze Anzahl solcher Lichtträger.
Der leuchtende Schein, der vom Körper dieser
Tiere ausgeht, ist nun nicht eigentlich in der
Organisation des Insekts begründet; sondern es
ist wirklich eine Art Laternchen, wie es von den
Johanniswürmchen in unseren Märchen immer
erzählt wird. Die Ursache des Leuchten? sind
nämlich Bakterien,-) und zwar ähnliche Bakterien,
die auch faules Holz zu Lichterscheinungen ver-
anlassen. Solche Leuchtbakterien sind am Hinter-
ende unserer Glühwürmchen angesiedelt; aber
nicht etwa äußerlich und zufällig, sondern in
ganz komplizierten inneren Organen, in denen sie
ganz gesetzmäßig angetroffen werden.
Das Tier, das in diesem Falle vom Leuchten
Vorteile besitzt, stellt also für die Pilze an ge-
wissen Körperstellen besonders günstige Be-
dingungen her, wo die Bakterien ein gutes Fort-
kommen finden. Und soweit geht die gegen-
seitige Förderung, daß sogar dafür gesorgt wird,
diese Symbiose dauernd zu erhalten. Mit Hilfe
komplizierter Einrichtungen ist es ermöglicht, auch
den Eiern gleich eine Portion des leuchtenden
Stoffes mitzugeben ; gerade das Leuchten der Eier
gab die Hinweise dafür, in den Lichtorganen sym-
biotische Verhältnisse zu suchen.
Wächst das junge Tier heran, so werden die
Symbionten an ganz bestimmten Stellen lokalisiert;
und die ausschlüpfenden Larven zeigen dann be-
reits eine Anzahl von Lichtpunkten. Die Stellen,
an denen die Larven ihre Helligkeit ausstrahlen
lassen, sind übrigens ganz andere als die am fer-
') Den derzeitigen Stand der intrazellulären Symbiose
gibt P. Buchner in seinem Werke: Tier und Pflanze in
intrazellularer Symbiose (Berlin 1921).
')Pierantoni, La luce dcgli insetti luminosi e la sini-
biosi cri-dilaria. Kcnd. delle R. Acrad, Sr. Napoli 1914.
tigen Tier; erst bei der Verwandlung zum Käfer
werden die Pilze an die hintere Partie der Leibes-
wand transportiert, wo sie dann beim erwachsenen
Tier zu finden sind. Nur an diesen ganz be-
stimmten Stellen können die Leuchtbakterien ihre
Funktion ausüben; in anderen Körperregionen
finden sie nicht die ihnen zusagenden Bedingungen.
Die Beziehungen der beiden Parteien sind dem-
nach ganz genauen Gesetzen unterworfen, die
immer konstant bleiben, und ein Symbiont ist
immer vollkommen auf den anderen angewiesen.
Die Erkenntnis, daß leuchtende Substanzen
bei gewissen Tieren Bakterien sind, führte nun
dazu, auch bei anderen Organismen mit Leucht-
organen nachzuforschen, ob ihnen nicht ebensolche
Symbiosen zugrunde liegen. Pierantoni und
andere italienische Forscher haben in dieser Rich-
tung gearbeitet, und zu gleicher Zeit entdeckte
unabhängig davon Buchner in München die
leuchtenden Symbionten in den Feuerwalzen.
Sie alle fanden, daß wirklich überall, wo bisher
ein Leuchten im Tierreich genauer untersucht
werden konnte, Bakterien die Ursache waren,
auch an den so kompliziert gebauten Organen
der Tintenfische, die mit projizierenden Linsen
versehen sind und nach Belieben der Tiere auf-
leuchten und verlöschen können.
Bei diesen Tintenfischen erreicht die Kompli-
ziertheit der Leuchtorgane überhaupt ihren Höhe-
punkt. Auch bei ihnen werden dem Ei immer
einige Leuchtbakterien mitgegeben, die in den
sog. akzessorischen Nidamentaldrüsen, deren Funk-
tion man sich immer nicht recht erklären konnte,
günstige Lebensbedingungen finden. Dort leuchten
sie aber im allgemeinen nicht; erst wenn sie
durch schlauchartige Gebilde an die streng loka-
lisierten Partien kommen, die durch besonders
gute Sauerstoffzufuhr begünstigt sind, werden sie
zum Leuchten gebracht; und da sie dort unter
Linsen und anderen lichtverstärkenden Einrich-
tungen lokalisiert sind, ist das Tier imstande, sich
in der dunklen Tiefsee seinen Weg zu erhellen
oder aber auch dem anderen Geschlecht Leucht-
signale zu geben, da es auf Grund der kompli-
zierten Organe befähigt ist, mittels Abbiendung
oder Sauerstoffzufuhr die Intensität des Lichtes
zu regeln.
Ich habe gerade die Symbiose mit Leucht-
bakterien als Beispiel gewählt, da sie mir am
instruktivsten erschien. Die Beziehungen der
Insekten und anderen Tiere mit anderen, nicht
leuchtenden Spaltpilzen, die noch weit größere
Bedeutung besitzen, zeigen teilweis mindestens
ebensolch interessante Verhältnisse. Beispielsweise
scheinen alle blutsaugenden Tierformen ganz be-
sondere symbiotische Anpassungen zu besitzen,
bei denen ebenso wie bei den Leuchtorganen
dafür gesorgt ist, daß die Bakterien auch der
neuen Generation mitgegeben werden.') In allen
') P. Bu ebner, Ilämophagie und Symbiose. Natur-
wissenschaften 1922.
N. F. XXI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
555
derartigen Fällen muß man annehmen, daß die
Symbionten ihrem Wirtstier irgendwie bei der
Verdauung Vorteile gewähren und sie befähigen,
Stoffe aufzunehmen, die sonst den verdauenden
Säften Schwierigkeiten entgegensetzen. Ganz ge-
klärt sind diese Erscheinungen noch nicht über-
all; das gesamte Gebiet der Symbiose mit Bak-
terien ist noch Neuland, dessen Bearbeitung erst
in den letzten Jahren begonnen ist.
Zum Stoffwechsel der Wirtstiere tragen sicher
auch die Algen bei, die mit vielen Wassertieren
in Symbiose leben ; in einigen Fällen ist die Ab-
hängigkeit beider Komponenten unmittelbar ex-
perimentell zu erweisen. Bei dieser Art der Sym-
biose, der wir noch einige Worte widmen wollen,
sind auch die Vorteile für die pflanzlichen Be-
standteile noch augenscheinlicher als bei den
Spaltpilzen. Die grünen oder braunen Algen er-
halten in den meist durchsichtigen Wassertieren
reichlich Licht zur Assimilation, außerdem steht
ihnen von selten der Wirte Wasser und Kohlen-
säure zur Verfügung. Ferner ist für sie noch der
gebotene Schutz von Vorteil, besonders wenn sie
sich, wie dies häufig geschieht, bei Seerosen,
Quallen und anderen mit nesselnden Organen
ausgerüsteten Tieren ansiedeln.
Andererseits bringen auch die Algen ihren
Wirten Nutzen. Manche derselben schaffen nicht,
wie die freilebenden Formen, Reservestoffe, son-
dern geben alle Überschüsse in gelöster Form
an das Tier ab, das sie bewohnen. Sie versehen
dasselbe ferner mit Sauerstoff zur Atmung, so
daß Tiere, die mit Algen behaftet sind, nach den
Mitteilungen mancher Autoren ungünstige Lebens-
bedingungen besser und leichter aushalten können
als algenfreie Individuen. Durch alle diese Be-
ziehungen kann eine derartige Einstellung aufein-
ander eintreten, daß manche solcher Symbiosen
ganz den Charakter eines einheitlichen Organis-
mus angenommen haben.
Bei den Convoluten beispielsweise, kleinen
Strudelwürmern des Meeres, ist das Zusammen-
leben von Tier und Pflanze ein unentbehrliches
Bündnis geworden, so daß beide Faktoren den
Tod finden, wenn sie getrennt werden.^)
Es ist verhältnismäßig leicht, die Convoluten
algenfrei zu bekommen, da die jungen, aus dem
Ei ausschlüpfenden Tierchen noch keine Algen
besitzen. Es sind also hier noch nicht die kom-
plizierten Einrichtungen getroffen wie bei den
Insekten und Tintenfischen, sondern die Infektion
muß immer von neuem erfolgen. Hindert man
nun die Tiere, die Algen aufzunehmen, so krän-
keln sie und sterben bald; sie sind jedoch am
Leben zu erhalten, sobald man ihnen Algen ein-
verleibt.
Das wird verständlich, wenn man sich vor
Augen hält, daß diese Strudelwürmer zeitweise
lediglich von den ölartigen Ausscheidungen der
') F. W. Gamble s und F. Keable, Proc. roy. Soc.
London 1905 u. 1907.
Algen leben, und die Algen wiederum die stick-
stoffhaltigen Exkretstoffe des Wurms so aus-
nützen , daß es gar nicht zur Aufstapelung ge-
formter Massen kommt, wie es normalerweise
geschehen müßte. Sie funktionieren ganz als ein
Organ des Wurms, als seine Nieren; und da
die Tiere in den Algen diese Ersatznieren be-
sitzen, haben sie die eigentlichen Apparate zur
Beseitigung der Exkrete auch vollkommen ab-
geschafft. Die Berechtigung dieser Annahme
geht daraus hervor, daß junge, noch nicht infi-
zierte Tiere noch nierenartige Vakuolen mit
langen, spitzen Kristallen besitzen, die später ver-
schwinden, wenn die Aufnahme der Algen er-
folgt ist.
Die gegenseitige Anpassung und Einstellung
aufeinander hat also einen sehr hohen Grad der
Vollkommenheit erreicht, der aber, wie alle ex-
tremen Anpassungen, zum Verderben ausschlagen
kann. Das zeigt sich auch bei einigen Formen
der Convoluten. Da sie ihr Nahrungsreservoir
in sich selbst tragen und dieses durch ihre eigenen
Abfallprodukte sich immer selbsttätig erneuert, so
brauchen sie überhaupt keine Beute mehr zu
fangen und schaffen somit schließlich auch noch
den Mund als überflüssig ab. Nun genügen zwar
die Fette der Algen eine Zeitlang als Nahrung;
später muß jedoch auch stickstoffhaltige Substanz
aufgenommen werden, da die Abscheidungen der
Symbionten zum dauernden Aufbau nicht aus-
zureichen scheinen. Hat der Stickstoffhunger im
Wurmkörper nun eine gewisse Stärke erreicht,
so fangen die Tiere an, nicht nur die Produkte
der Algen zu verdauen, sondern sich an diesen
selbst zu vergreifen. Damit ist dann der Stick-
stoffhunger einige Zeit gestillt — aber diese
Tiere sind dann auch selbst dem Tode geweiht.
Sie fressen damit ihre eigenen Nieren auf und
berauben sich gleichzeitig ihrer Fettquelle, so daß
sie elend zugrunde gehen. Da inzwischen aber
reichlich Nachkommen erzeugt sind, bleibt die
Art erhalten; und darauf kommt es der Natur ja
viel mehr an als auf die Erhaltung der Individuen.
Für die Probleme der Symbiose ist nun eine
Frage von Interesse: Ist es möglich, daß auch
jetzt noch neue Bündnisse zwischen Tier und
Pflanze entstehen? Und werden vielleicht dadurch,
daß eine solche Symbiose auftritt, die einzelnen
Teile irgendwie beeinflußt, so daß etwas Neues,
noch nie Dagewesenes entsteht?
Diese Fragen können nach den letzten Ergeb-
nissen des vergangenen Jahres wohl in bejahendem
Sinne beantwortet werden.
Die Organismen, welche eine neue Symbiose
eingingen, waren Süßwasserpolypen und grüne
Algen, die beide zu derartigen Verbindungen
neigen. Eine Art unserer Hydren verdankt dieser
Symbiose sogar ihren Namen, da sie sich normaler-
weise nicht von ihren grünen Bestandteilen trennt:
die Chlorohydra viridissima, früher Hydra viridis
genannt.
Die übrigen Spezies oder Gattungen sind braun
556
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
oder grau gefärbt, da sie der Algen entbehren,
und trugen daher früher auch die Namen Hydra
fusca und Hydra grisea, während sie jetzt nach
anderen Gesichtspunkten systematisch bewertet
werden, welche eine sicherere Feststellung ge-
währleistet als die leicht wechselnde Farbe.')
Diese algenfreien Tiere versuchte ich nun
künstlich zu einer Symbiose zu bringen, indem
ich ihnen algenhaltige Teile der grünen Form
einverleibte. Das war nicht ganz leicht, gelang
aber schließlich mittels einiger Kunstgriffe. Der
Erfolg war indessen vollkommen negativ; die
Hydren gaben die Algen, die ihnen mit der Nah-
rung in das Innere gebracht wurden, wieder von
sich , und die Versuche , durch Transplantation
grüne Teilstücke überzupflanzen, mißglückten
ebenfalls.
An demselben Tage, an dem ich diese Ver-
suche als aussichtslos aufgeben wollte, tat mir
die ■ Natur selbst den Gefallen : einige braune
Tiere begannen an gewissen Stellen grün zu
werden; und zwar waren es Tiere, mit denen
ich noch niemals experimentiert hatte, und die
Algen, welche diese Verfärbung verursachten,
waren ebenfalls ganz andere als die, welche bis-
her bei ihren grünen Verwandten bekannt waren 1
(Vgl. Abb. 3-)
Die ersten Anzeichen der Verfärbung machten
sich an der Mundpartie geltend; dann siedelten
sich die Algen an der Fußscheibe an, und im
Verlauf von 2 — 3 Wochen war der dazwischen-
liegende Raum ausgefüllt und aus dem braunen
Tier ein grünes geworden.
Die Knospen, die zu dieser Zeit auftraten,
waren noch so lange braun, als die mütterliche
Körperpartie, der sie entsprossen, algenfrei blieb;
war auch sie von Algen besiedelt, so bekam auch
das junge, neue Tier grüne Bestandteile mit.
Mein Bestreben mußte nun darauf gerichtet
sein, das mir durch diesen Zufall zuteil gewordene
Material zu vermehren und zu erhalten. Das war
zunächst nicht leicht, da das Eindringen der Algen
gewisse pathologische Erscheinungen hervorrief,
an denen die Tiere leicht eingingen. Es bedurfte
auch hier mancherlei Kunstgriffe und vor allem
vorsorglicher Pflege, um die Hydren diese kri-
tische Zeit überstehen zu lassen. Nach einiger
Zeit war dann eine Anpassung an die neuen Ver-
hältnisse eingetreten , und durch Aufzucht von
Knospen gelang es dann eine ganze Anzahl von
Kulturen herzustellen, die alle bis auf den heu-
tigen Tag die Symbiose beibehielten.
Auch glückte es nunmehr, die Algen, welche
einmal den Körper der Hydren passiert hatten,
auf andere, noch nicht infizierte Tiere zu über-
pflanzen und dort konstant zu erhalten. Stets
kam es in solchen F"ällen zunächst zu gewissen
krankhaften Erscheinungen, die sich aber über-
winden ließen, so daß einzelne Tiere und Kul-
') P. Schulze, Bcslimmungstabellen der deutschen Süß-
wasserhydrozoen. Zoolog. Anzeiger 192a.
turen jetzt schon i'', Jahre in diesen neuen V^er-
hältnissen leben.
Eine gleichmäßige konstante Verteilung der
Algen im Hydrakörper ist indessen nicht immer
leicht zu erhalten. Im Gegensatz zu anderen
Symbiosen wirken nämlich die Außenbedingungen
auf das neuentstandene Bündnis bedeutend ein.
Am besten bekommt den Algen ein warmer,
heller Standort und kalkhaltiges Wasser; an einer
solchen Stelle kam auch die erste Verbindung
zustande, da die Tiere, welche die Algen zuerst
in sich duldeten, in einem Warmwasserbassin ge-
halten wurden. Dunkelheit und Kälte läßt die
Zahl der Algen bedeutend abnehmen, und ähn-
lich wirkt eine Verminderung des Kalkgehalts.
Wenn es auch längerer Zeit bedarf, um die letzten
Reste der Algen zum Verschwinden zu bringen,
so genügen doch 4 — 5 Wochen Kälte oder Dunkel-
heit, um die Symbiose aufzuheben und die
Hydren auf die Dauer algenfrei zu machen.
Wie man sieht, haben sich noch keineswegs
dauerhafte Verhältnisse herausgebildet. Die Eier
werden auch nicht während ihrer ersten Ent-
wicklungsstadien mit Algen versehen, wie dies
bei den grünen Verwandten, bei Chlorohydra
viridissima, stets zu geschehen pflegt, so daß die
geschlechtlich erzeugten jungen algenfrei bleiben.
Kurzum, eine solche Konstanz, wie wir sie
bei anderen solchen Bündnissen gewohnt sind,
fehlt noch vollkommen — ein Zeichen für die
Neuheit dieser Symbiose.
Die Erfahrungen, die ich bei der Aufzucht und
Beobachtung der neu infizierten Hydren gesammelt
hatte, veranlaßten mich nun zu versuchen, wie
fest wohl bei den schon immer grünen Chloro-
hydren die symbiotischen Verhältnisse sind.
Ich ließ die Faktoren, welche den Algen sich
schädlich erwiesen hatten, kombiniert ein-
wirken; und wirklich gelang es mir, durch
wochenlang dauernde Kälte und Dunkelheit in
Verbindung mit herabgesetztem Kalkgehalt eine
Abnahme der Algen zu erreichen.
Da die mittlere Körperpartie zuerst algenfrei
wurde, glückte es schliefSlich, ganz weiße Chloro-
hydren zu züchten, die sich im allgemeinen von
ihren grünen Geschwistern nicht sehr unter-
schieden. Nur sind sie etwas hinfälliger als diese
und müssen sorgfältiger behandelt werden. Be-
sonders muß für regelmäßige, reichliche Fütterung
gesorgt werden, denn Hunger vertragen sie nicht
so gut wie die grün gebliebenen Exemplare.
Fünf weiße Tiere, die einem Hungerversuch unter-
worfen wurden, waren beispielsweise nach fünf
Wochen ganz klein geworden und gingen unter
Depressionszuständen ein, während die mit ihnen
zusammen gehaltenen grünen Individuen zu der-
selben Zeit unter denselben Bedingungen ohne
irgendwelche Krankheitserscheinungen blieben;
nur ihr Volumen war etwas verringert. Der-
artige Beobachtungen zeigen, daß auch die
Hydren von ihren Zellbewohnern Nutzen haben
müssen. (Vgl. Abb. i.)
N. F. XXI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
557
Das Eingestelltsein auf symbiotische Verhält-
nisse zeigte sich übrigens noch in anderer Weise.
Die weißen Chlorohydren hatten nämlich die
Tendenz, von neuem Algen aufzunehmen. Daß
es sich bei einem Wiederergrünen nicht etwa um
zurückgebliebene Symbionten handeln konnte,
bewies die Art der Entstehung. Tiere, die drei
bis vier Monate lang dauernd beobachtet wurden,
zeigten plötzlich an ein oder mehreren Stellen
kleine grüne Flecke, die sich dann ausbreiteten:
in genau der gleichen Weise traten die Algen
auf wie in all den Fällen, in denen durch Ver-
fütterung eine Wiederinfektion eingeleitet werden
konnte. Eine Bevorzugung gewisser Körper-
partien war bei den Chlorohydren niemals zu be-
merken ; während die bisher braun gewesenen
Arten die Algen zunächst nur an der Tentakel-
basis duldeten, konnte eine Chlorohydra an jeder
Körpersteile die Symbionten aufnehmen und
dauernd beherbergen.
Abb. 1. Grüne und weiße Chloro-
hydra viridissima nach einer Hunger-
periode von 5 Wochen. Das algen-
freie helle Exemplar ist bedeutend
verkleinert und der Auflösung
nahe, das dunkle, grüne Tier voll-
kommen normal.
.•\bb. 2.
Neuinfektion von weißen
Chlorohydren in der
Körpermitte.
Und wenn man trotz alledem immer noch im
Zweifel sein konnte, ob nicht doch etwa zurück-
gebliebene Symbionten die Ursache der neuen
Verfärbung wären, so mußte eine Tatsache jeden
Zweifel beseitigen: die Algen, die in den weißen
Chlorohydren auftraten, waren in drei Fällen ganz
andere als die, welche sonst in diesen Tieren
gefunden werden. Sie waren nicht rund mit den
typischen glockenförmigen Chromatophoren, son-
dern länglich oval mit deutlichem Kern (Abb. 3).
Auch ihr Umfang war bedeutend größer als wie
er sonst den Chlorellen von den grünen Hydren
zukommt, so daß eine Identität beider Formen
abzulehnen ist.
Die Chlorohydren , die auf künstliche Weise
algenfrei gemacht worden sind, suchen demnach
die Symbiose wiederherzustellen und nehmen
dabei nicht nur die Algen auf, die gewöhnlich
in ihnen zu finden sind, sondern auch andere,
ungewohnte, mit denen sie auch dauernd in Ge-
meinschaft bleiben können.
Innerhalb ganz kurzer Zeit sind demnach in
meinen Kulturen zwei neue Bündnisse entstanden,
ein Zeichen, daß auch jetzt noch Symbiosen ge-
bildet werden.
Wirken nun solch neue Symbiosen auch auf
die Art- und Rassenbildung? Das ist eine Frage,
die vorläufig noch nicht endgültig entschieden
werden kann. Bei den Hydren sprechen einige
Anzeichen dafür, da alle Tiere, die eine Algen-
infektion erlitten haben , gewisse Veränderungen
zeigen, so daß ihre Einreihung in das System
Schwierigkeiten macht. Da aber nicht einwand-
frei festgestellt werden kann, ob bei den Exem-
plaren, denen durch Transplantation oder Ver-
fütterung von algenhaltigen Teilstücken die Sym-
bionten einverleibt werden , nicht vielleicht eine
Art Bastard- oder Chimärenbildung eintritt, muß
diese Frage, inwieweit die Symbiose die Artbil-
dung beeinflußt, noch zurückgestellt werden. Ein
logisches Postulat ist eine solche Beeinflussung
aber unbedingt, da man sonst die Anpassungen
der Wirte an ihre Bewohner nicht recht erklären
könnte.
O
,€)©
^Ö
Abb. 3. a: Chlorella vulgaris, die typischen Symbionten
von Chlorohydra viridissima (== Hydra viridis),
b ; Chlorellen , die von der braunen Hydra attenuata aufge-
nommen werden und mit ihr eine dauernde Symbiose bilden
können
c: Algen, die von den künstlich algenfrei gemachten Chloro-
hydren aufgenommen wurden.
.Alle Algen sind in gleicher Vergrößerung gezeichnet.
Die Erscheinungen der Symbiose zeigen uns
in deutlichster Weise, daß es in der Natur nicht
nur einen Kampf aller gegen alle gibt, sondern
daß auch ein „Bund fürs Dasein" möglich ist;
ein Bund sogar zwischen Organismen, die ganz
verschiedenen Reichen angehören. Auf den An-
fangsstadien sind die Beziehungen noch recht
locker; das zeigen die Hydren, welche bei mir
die Symbiose eingingen und erst ganz kurze Zeit
mit den Algen in Gemeinschaft leben. Bei ihren
nächsten Verwandten, bei Chlorohydra, die nun
schon lange auf die Algen eingestellt sein muß,
ist die Abhängigkeit schon größer; Tiere, welchen
die Algen entzogen werden, halten ungünstige
Verhältnisse nicht mehr so leicht aus wie ihre
normalen Artgenossen. Auch ist bei diesen
Chlorohydren die Anpassung so weit gegangen,
daß bereits die Eier mit den Symbionten infiziert
werden. Andere Tiere sind mit ihren Symbionten
noch enger verbunden, und auf den extremen
Endstadien symbiotischer Vereinigungen kommt
es dann so weit, daß ein Teil ohne den anderen
absolut nicht existieren kann: Die Algen der
Convoluten und die Leuchtkörper der Insekten
und Tintenfische sind zu Organen dieser Lebe-
wesen geworden. Sie stellen somit Bestandteile
558
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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der Organisation dar, welche nicht fehlen dürfen
und nicht weggedacht werden können; oder mit
anderen Worten: das, was wir ein „Individuum"
nennen, ist in diesen Fällen zusammengesetzt aus
ganz verschiedenen Teilen ; Vereinigungen von
verschiedenen Lebewesen, die auch jetzt noch
entstehen können, bilden im Endstadium ihrer
Entwicklung eine solche Einheit, die alles das
enthält, was wir als Individualität zu bezeichnen
gewohnt sind.
Die Stinkdrüsen der Wanzen in ihrer Bedeutung als Schutzmittel.
[Nachdruck verboten.]
Von Franz Ueikertinger, Wien.
Die Wanzen [Hemipiera hcteroptera) sind mit
Stinkdrüsen ausgerüstet, welche bei den noch
flügellosen Larven auf den ersten Rückenplatten
des Hinterleibes, bei dem reifen Insekt hingegen
auf der Unterseite der IVIittelbrust , hinter den
Hüften der IVIittelbeine, ausmünden. Diese Drüsen
liefern ein Sekret, welches beim Verdunsten einen
eigentümlichen Geruch verbreitet.
Nach J. Guide, der die Dorsaldrüsen der
Larven zum Gegenstand einer eingehenden Unter-
suchung gemacht hat, ^) ist das Sekret eine helle,
klare Flüssigkeit, in welcher stark lichtbrechende
Öltröpfchen schwimmen, die beim Verdunsten
den bekannten, an Fettsäure erinnernden Wanzen-
geruch verbreiten. Nach Untersuchungen von
Künckel d'Herculais an der Bettwanze
stimmt das Sekret der Dorsaldrüse der Larven
mit jenem der Thorakaldrüse der Imagines über-
ein. Es ist eine stark sauer reagierende I'lüssig-
keit, deren wirksamer Bestandteil die Cimicinsäure
ist, die Lackmuspapier leicht rötet. Nach L. Ca-
rius ist diese Säure der Ölsäure nächstverwandt
und besitzt die Formel Cg^H^gO., ; über die bei-
gemengten widrigriechenden Substanzen erhielt
genannter Forscher keine Klarheit. Das Sekret
soll im menschlichen Munde einen scharfen Ge-
schmack haben (nach Schumacher). ^) ^) JVIanche
ausländischen Arten (z. B. Oiicome/is ostracioptera
aus Neukaledonien, Pachylis sp. aus IVIittelamerika)
sprühen das Sekret mehrere Fuß weit weg; in
die Augen geraten, soll es heftigen Schmerz ver-
ursachen. L a n d o i s berichtet, bei seinen Arbeiten
mit der Bettwanze durch Entzündung des Binde-
gewebes im Auge, heftiges Brennen und Stechen
belästigt worden zu sein, wogegen Guide nur
geringe Wirkungen auf das Auge verspürte. Bei
längerem Hantieren werden die F"inger von dem
Sekret wie von Salpetersäure gebräunt (Guide,
Schumacher).
Das Hervorstechende an dem Sekret für die
menschlichen Sinnesorgane aber ist sein Geruch,
der im allgemeinen als „ekelhaft", „widerwärtig"
usw. bezeichnet wird. Vom Standpunkt exakter
Forschung darf hierbei zweierlei nicht außer Be-
tracht bleiben:
1. Die Begriffe „ekelhaft" usw. sind ausschließ-
lich menschliche Urteile, auf menschlichen
Sinnesorganen basiert, menschlichem Ge-
schmacke angepaßt; es sind typische, naive
Anthropodoxismen, die a priori für
kein anderes Lebe wesen Gült igkeit be-
anspruchen können. Nur Beobachtungen
und Versuche am Tier selbst können Aufschluß
darüber geben, wie dieser Geruch auf ein Tier
wirkt. Der direkte Schluß vom IVIenschen auf
das Tier ist unzulässig, unwissenschaftlich.
2. Selbst für den Menschen sind nicht alle
Wanzensekrete widerwärtig; es gibt ihrer nicht
wenige, die von unbefangenen Forschern sogar
als dem Menschen angenehm riechend
bezeichnet werden. ') Es ist nicht zulässig, in
Bausch und Bogen von einem „Ekelgeruch der
Wanzen" zu sprechen , auch nicht für den Men-
schen allein.
Im Folgenden soll ein kurzer Blick auf die
menschliche Wertung der Wanzengerüche ge-
worfen und sodann sollen Beobachtungen und
Versuche im Abriß vorgeführt werden , welche
einen Blick in die tierische Wertung derselben
Gerüche gestatten.
Der Geruch einer Bett-, einer Baum- , einer
Beerenwanze ist dem Kulturmenschen unangenehm.
Ob Naturmenschen der gleichen Meinung sind,
ist zumindest sehr fraglich. Snellen van
Vollenhoven und Piepers berichten, daß die
Javanen Wanzen ihrer Reisfelder (z. B. Lepto-
corisa acuta), welche nach ihrem unangeneh-
men Gerüche „Walang sangit" genannt werden,
sehr gerne essen. Schumacher erwähnt, daß
in Assam die große Schildwanze Aspongopiis iic-
paleiisis zerstampft zum Würzen der Reisspeisen
verwendet wird. Gewohnheit und Erziehung,
engere Beziehungen zu natürlicher Tierernährung
usw. haben in diesen Dingen ausschlaggebenden
Einfluß.
Aber auch dem im Ekel vor Bett- und Beeren-
wanze aufgewachsenen Kulturmenschen dünken
weitaus nicht alle Wanzengerüche unangenehm.
Snellen van Vollenhoven nennt als ange-
') Man erinnert sich hier an die ungemein nahe chemi-
') Bericht d. Senckcnbergischen naturfursch. Gesellschaft sehe Verwandtschaft von Wohlgerüchen und Ekelgerüchen und
Frankfurt a. M., igo2, S. 85 — 134. die leichte Überführbarkcit der einen in die anderen. So
'') Nach F. Schumacher (Deutsche Entom. Zeitschr. werden aus der (beispielsweise im menschlichen Fußschweiß
1918, S. 161). vorhandenen) Valeriansäure die feinsten Wohlgerüche erzeugt.
') P. Mayer fand bei Pyrrliororis und Guide bei den — Auch die Konzentration eines Duftes kommt in Betracht;
Larven von Palornena prasina und Rhaphigasta- iiebulosa einen derselbe Stoff, der in feiner Verteilung angenehm wirkt, kann
süßlichen, an Chloroform erinnernden Geschmack. konzentriert schon unangenehm sein.
N. F. XXI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
559
nehm duftende Arten Capsus pastinacae und
Alydus calcaratus. Heymons erwähnt eine im
Sommer auf Wiesen häufige Capside, Adclphocoris
scticoniis, die „im Geruch an reife Birnen erinnert".
Die Dei'aeocoris - hr\.tn riechen nach Mitteilung
von A. Handlirsch nach Obst.') Nach Hahn
strömen tote BrotlirostctJms ammlipcs noch lange
einen sehr angenehmen Geruch aus. Theraplia
hyoscyami riecht nach Guide angenehm zimt-
artig; eine kleine, unter Rinde lebende Cimicide,
Piezostcthiis cursitaiis, verriet demselben Forscher
ihre Anwesenheit oft durch einen feinen erdbeer-
artigen Geruch. Nach Handlirsch duften
manche Wasserwanzen moschusähnlich und nach
W. A. Locy entströmt Belostoina ein angeneh-
mer, gut gereiften Birnen oder Bananen ähnlicher
Geruch.
Geteilt sind die JVIeinungen über die häufige
Coreide Syromasfcs marginatits. Heymons gibt
ihr einen eigentümlichen aromatischen Geruch,
der etwas an Borsdorfer Äpfel erinnert. Auch
Schumacher bezeichnet den Geruch der Co-
reiden als Apfelgeruch. Ich schließe mich ihnen
an und finde den Geruch, falls er nicht allzu kon-
zentriert auftritt, nicht unangenehm, obstätherartig.
Von den zarten Capsiden sagt Schumacher,
daß sie mitunter beim Nadeln einen ,, geradezu
köstlichen Wohlgeruch ausströmen". K. Friede-
richs berichtet von Stcnoceplialiis agilis , daß
dessen starker Geruch seinem Empfinden nach
für Menschen nicht unangenehm sei. Nach F"rey-
Geßner und V. G red 1er soll die berüchtigte
Stinkwanze Pciitatoma {Tropicoris) rufipes bei
geeigneter Behandlung ein feines, dem Patschuli
nicht unähnliches Parfüm liefern.
Zahlreichen Wanzenarten, besonders aus den
Familien der Nabiden, Saldiden, Capsiden, fehlt
der Geruch ganz oder fast ganz. Auch unter
den Stinkwanzen gibt es nicht selten Individuen,
die keinen oder nur einen sehr schwachen Geruch
von sich geben.
Es ist nach alledem nicht zulässig, wissen-
schaftlich von einem „Schutzgestank" der Wanzen
im allgemeinen zu sprechen. Wird der Menschen-
sinn als Maß genommen (was wissenschaftlich
unzulässig ist), dann bliebe die Entstehung des
anlockenden Wohlgeruches vieler Arten und die
Geruchlosigkeit anderer unerklärbar. Setzt man
aber den Menschensinn als Richter ab, dann ver-
sinkt damit auch der rein anthropodoxische Be-
griff ,, ekelhaft", eine der Grundlagen der Schutz-
mittelhypothesen, zur Gänze.
Nur Beobachtung und Versuch kön-
nen lehren, ob ein Insektenfresser von
dem Wanzengeruch irgendwie berührt,
am Fraß gehindert werden kann oder
nicht. Von diesem einzig wissenschaftlichen
Grundsatz darf keinerlei teleologisch noch so
lockende Erscheinung wegführen. Als Beispiel
einer solchen führe ich die Tatsache an, daß die
Ausmündungsporen der Stinkdrüsen bei den
Larven auf dem Rücken gelegen sind, mit der
Ausbildung der Flügel aber, die den Rücken
völlig bedecken, auf die freie Körperunterseite
verlagert werden. Wie zweckmäßig! Die Drüsen-
mündungen wechseln den Ort, um ihre Aufgabe
dauernd erfüllen zu können ! Sie müssen wohl
eine Aufgabe haben, wozu wären sie sonst da.?
Welche Aufgabe (gemeinhin gesprochen „welchen
Zweck") aber könnten sie haben als die eines
Schutzmittels? Es ist klar, daß diese Dinge ein-
leuchtend verlockend zu der beliebten Auffassung
derSlinkdrüsen als Schutzmittel hindrängen müssen.
Der objektive Tatsachenforscher aber kombi-
niert nicht, wenigstens insolange nicht, als noch
empirisch leicht lösbare Grundfragen ungelöst vor-
liegen. Und eine solche Grundfrage ist hier ge-
geben: Sind die Wanzen wirklich ge-
schützt? Zeigen Beobachungen und
Versuche mit Insektenfressern einen
Schutz?
Die möglichen Arbeitsmethoden sind zweierlei:
I. Beobachtungen an freilebenden In-
sektenfressern und 2. Versuche mit ein-
gezwingerten. Erstere lassen sich scheiden
in direkte und indirekte Beobachtungen.
So schwierig es ist, einen Freilandvogel bei der
Nahrungsaufnahme im Feld direkt zu beobachten
und die Art- oder Gattungszugehörigkeit eines
von ihm aufgenommenen Insekts sicher fest-
zustellen — so einfach und sicher gelingt diese
Feststellung auf dem indirekten Wege der Unter-
suchung des Magen- und Kropfinhaltes
im Freiland erlegter Vögel.
Die Frage nach der Art und Zusammensetzung
der Vogelnahrung ist noch von einer anderen
Seite her aufgeworfen worden, nämlich von der
landwirtschaftlichen, als Frage nach Nützlich-
keit oder S c h ä d 1 i c h k e i t jeder Vogelart. Und
da der Eigennutz des Menschen ganz andere
Mittel zur Verfügung stellte, so verfügen wir über
eine relativ recht befriedigende Literatur über
Vogelmageninhalte, eine Literatur, die für unsere
Frage den Vorzug objektiver Unbefangenheit be-
sitzt, weil die Verfasser, von ganz anderen Ge-
sichtspunkten ausgehend , unserer Frage fern
standen. Insbesondere ist in Europa und Nord-
amerika auf diesem Gebiete rege gearbeitet
worden.
In Europa sind es in erster Linie die ein-
gehenden Untersuchungen von E. Csiki,*) eines
kenntnisreichen Fachentomologen vom Ungarischen
Nationalmuseum in Budapest, die uns statistisches
Material an die Hand geben. Sie berücksichtigen
fast ausschließlich typische Insektenfresser und
umfassen ein reiches Material (im Durchschnitt
') Ich nehme die Gelegenheit wahr, Herrn Hofrat A. ') Positive Daten über die Nahrung unserer Vögel.
Handlirsch (Wien) für eine Reihe fachmännischer Hinweise Aquila, Zeitschr. d. Ungar. Ornithol. Zentrale. Budapest,
und Mitteilungen bestens zu danken. 11. — 21. Bd., 1904 — 1915.
56o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
mehr als 40 Magen von jeder untersuchten Vogel-
art). Aus Csikis Untersuchungen ergibt sich,
daß Wanzen in einem den übrigen In-
sektenordnungen völlig entsprechenden
Verhältnisse verzehrt werden, daß ein
Geschütztsein nirgends zutage tritt
und daß die verzehrten Wanzen viel-
fach gerade den übelriechendsten Arten
zugehören. Der mangelnde Raum verbietet
mir, diese Feststellung hier mit Einzeldaten zu
belegen; ich tue dies an anderer Stelle.*) Auch
die übrigen vorliegenden Untersuchungen von
Magen europäischer Vögel (ich verweise auf Ar-
beiten von Gr. Rörig, A. Reichert und E. Rey,
W. Baer, K. Loos u.a.) bezeugen, daß Stink-
wanzen nicht minder als andere Insekten verzehrt
werden.
Reicheres statistisches Material liegt aus Nord-
amerika vor. Hier hat das U. S. Department of
Agriculture großzügige Untersuchungen durch-
geführt, zu welchen etwa 40000 Vogelmagen auf-
gebracht wurden. Die Aufarbeitung erfolgte durch
W. L. Mac Atee, F. E. L. Beal, S. Judd u. a.;
eine Reihe von Arbeiten dieser Forscher, einzelne
Vogelgruppen betreffend, liegen als Bulletins des
Biological Survey obgenannten Departments vor.
Auch hier muß ich mir die Vorführung von Einzel-
heiten an dieser Stelle versagen und beschränke
mich auf ein zusammenfassendes Urteil, das Beal
nach reicher Tatsachenerfahrung abgegeben hat: -)
„ . . . Es hat die Untersuchung der Mageninhalte
zahlreicher Vögel erwiesen, .. daß trotz schützender
Färbung, schützender oder nachahmender Form,
ekelhafter Gerüche, scharfer Absonderungen und
abwehrender Rüstungen die dergestalt geschützten
Insekten von den Vögeln gefunden und gefressen
werden und in vielen Fällen einen namhaften
Prozentsatz deren jährlicher Nahrung ausmachen. . . .
So besitzen Pentatomiden einen äußerst wider-
lichen Geruch und Geschmack . . und haben hier-
zulande den Namen , stink bugs' erhalten. Es
zeigt sich jedoch, daß die Vögel sie gar
nicht ekelhaft oder irgendwie unan-
genehm finden, denn sie fressen die-
selben ohne Umstände. Tatsächlich
sind wenige Insekten in den Magen so
vieler Vogelarten und Vogel individuen
gefunden worden wie diese."
Über die Nahrung der Vögel Indiens haben
C. W. Mason und H. Maxwell Lefroy eitie
umfangreiche Arbeit geliefert. ^) Sie stellen darin
fest: „Die Heteroptera oderWanzen bil-
den eine durchaus allgemeine Nahrung
der Vögel..." Über die indischen Pirole Oriolits
kundüo und inelaiioceplialiis findet sich sogar die
Bemerkung, daß diese Vögel eine besondere
Vorliebe für Wanzen besäßen, was auch
') Biologisches ZcntralblaU (im Erscheinen).
^) The Relation between Birds and Insects. Ycarbook
Dept. Agric. Washington 1908, p. 346.
') The Food of Birds in India. Mem. Dept. Agric. i
India. III. igi2.
auffällig aus den Mageninhaltslisten hervorgeht. ')
Auch die Forschungen F. Dahls im Bismarck-
Archipel erweisen trotz der Dürftigkeit der An-
gaben die Schutzlosigkeit der Wanzen. Des-
gleichen die Forschungen G. A. K. Marshalls
in Afrika. Der unbefangene P'orscher wird sich
an den Tatsachenangaben überzeugen, daß Wanzen
nicht nur überhaupt verzehrt, sondern auch in
einer ihrer Rolle im Naturleben völlig entsprechen-
den Anzahl verzehrt werden, daß sie also weder
einen absoluten noch einen relativen
Schutz genießen. Soviel über die indirekte
Beobachtung.
Die zweite Untersuchungsmethode ist der
planmäßige Versuch. Er steht, da er stets ein
unnatürliches Element enthält, an Beweiskraft weit
hinter der Beobachtung zurück. Für ihn kommen
zwei Formen der Problemfassung in Betracht:
I. Die Behauptung, der „Wanzengestank" sei im
allgemeinen für Insektenfresser ekelhaft, sei
also im allgemeinen schützend wirksam.
— 2. Die Behauptung, der Wanzengestank sei
als Schutzmittel durch Auslese im Da-
seinskampf herausgearbeitet worden.
In den Versuchen zu Behauptung i sind beliebige
Kombinationen von Raubtier und Beutetier zu-
lässig; es kann beispielsweise ein britisches Insekt
einem indischen Vogel , es kann ein taglebendes
Insekt einem Nachtvogel usw. usw. angeboten
werden. In den Versuchen zu Behauptung 2 dürfen
aber nur Tiere der gleichen Lebensgemein-
schaft, die Zeit und Raum in allen Einzelheiten
miteinander gemeinsam haben, einander regel-
mäßig begegnen, verwendet werden; ein mittel-
europäisches, taglebendes Bauminsekt beispiels-
weise darf nur einem gleichfalls mitteleuropäischen,
tagjagenden Baumvogel vorgelegt werden, da sonst
die Möglichkeit dauernder Begegnung und Beein-
flussung und die Möglichkeit wirksamer Auslese
fehlt. So oft die Ungenießbarkeit der Stinkwanzen
in der Literatur a priori behauptet worden ist, so
wenig exakte Untersuchungen über den Gegen-
stand liegen vor und die von mir durchgeführten
Versuche, über die ich andernorts eingehender
berichten möchte, sind, soweit mir bekannt, so
ziemlich die umfangreichsten auf diesem Gebiete.
Ich habe mich bemüht, nach Möglichkeit mit
Individuenserien typischer Stinkwanzen einerseits
{Eiirygasfcr iiiaitra und jugrociicullata, Aclia
acuiinnata , Carpucoris p/trpnn'pcjtins , Dolycoris
baccantDi, Palomena prasina, Tropicoris rttfipes,
Eurydenia olcracciiiii, Syromasies inargüiafus)
und mit grellfarbigen Arten andererseits {Pyrrho-
coris aptcrus, Lygaeits saxatilis) zu arbeiten. Die
Ergebnisse sind, in Umrissen gekennzeichnet, fol-
gende:
I. Die Trutztrachlhypothesen besagen: Gut
schmeckende Tiere sind unauffällig gefärbt, schutz-
farbig — schlechtschmeckende Tiere dagegen
') Auch vom europäischen Pirol, Orlolus galbula, ist diese
Wanzenvorlicbe bekannt.
N. F. XXI. Nr. 41
Natu rwissenschaftliche Woch enschrift.
561
warnend grellfarbig; die Grellfärbung ist für sie
ein ausschlaggebender Vorteil, denn er warnt den
Feind im voraus vor dem Verkosten (welches
dem Beutetier, auch wenn es sich später als un-
genießhar erweisen sollte, doch das Leben kosten
würde).
Eine Voruntersuchung der verwendeten Wan-
zen mit menschlichen Sinnesorganen ergab nun:
Die aufgeführten Stinkwanzen sind (bis auf eine,
Eurydcma olcraceiim) ungeachtet ihres Geruches
unauffällig, gelblich, bräunlich oder grün gefärbt,
im großen und ganzen also schutzfarbig; die
grellfarbigen Arten {Pyrrliocon's, Lygaetis) dagegen
besitzen als Vollinsekten keinen nennenswerten
Geruch. Die Voraussetzungen für die Trutztracht-
hypothese sind somit nicht erfüllt, die Fär-
bungen sind eher im entgegengesetzten Sinne
verteilt, stehen im Widerspruch mit den Hypo-
thesen.
2. Die Trachthypothesen besagen: Die Stink-
wanzen sind durch Ekelgeruch geschützt. Die
Versuche (mehr als 200) erweisen, daß die Wan-
zen von allen jenen Insektenfressern,
welche Insekten dieser Größe, Körper-
beschaffenheit, Aufenthaltsorte usw.
überhaupt jagen, ohne jede Rücksicht
auf Gestank ebenso gern genommen
werden, wie irgendwelche andere, nicht
übelriechende Insekten. Der Geruch
findet keine Beachtung (die Vögel, die als
die Hauptfeinde der Insektenwelt in Betracht
kommen, sind bekanntlich außerordentlich geruchs-
und geschacksstumpf und beriechen eine Beute
niemals) und der Geschmack der Wanzen scheint
ihnen völlig zu behagen. Dagegen zeigen die
Versuche ein anderes belangreiches Ergebnis.
Die Fälle nämlich, in denen die Wanze vom
Vogel nicht angenommen wurde, betreffen fast
gar keine typischen Stinkwanzen, wohl aber nicht-
stinkende, grellfarbige Arten. Die Ablehnung
erfolgte auf den bloßen Anblick hin, ohne Be-
riechen, ohne Verkosten. Die Wanzen sind den
jahrelang eingezwingerten Vögeln sicherlich nicht
im voraus bekannt; der Grund für die Ablehnung
liegt offenkundig in Färbung oder Gestalt
der Wanzen.
Kontrollversuche bestätigen dies. Die grell-
farbige Feuerwanze, PyrrJwcoris apicnis, wird
häufig auf den bloßen Anblick hin verschmäht
(obwohl der erwachsenen Wanze der Wanzen-
gestank fehlt); der Leibesinhalt dieser Wanze,
unter die Normalnahrung von Vögeln gemengt,
wurde von diesen ohne Anstand verzehrt. Andere
Insekten, mit dem Leibesinhalt der Wanze be-
strichen , wurden verzehrt. Geruch und Ge-
schmack erscheinen sohin nicht als das Schützende.
Dagegen wurden sonst gerne gefressene Insekten
von Vögeln mit Vorsicht oder Ablehnung
behandelt, sobald ihnen ein ähnlich
grelles Aussehen gegeben wurde, wie
ies die Feuerwanze besitzt. Wurden bei-
spielsweise die sonst sehr gern gefressenen Eiiry-
gaskr-hrtzn mit geruchlosen Wasserfarben grell
rot und schwarz bemalt, so wurden sie mit dem-
selben Staunen betrachtet wie Pyrrlwcoris und
blieben wie diese oft eine Zeillang unverzehrt.
Auch grell bemalte Ameisenpuppen u. dgl. wurden
so behandelt, wogegen natürlich gefärbte Ameisen-
puppen sofort angenommen wurden, auch dann,
wenn sie mit sehr stark riechenden und scharf
schmeckenden Substanzen (ich verwendete Nelkenöl,
Kreolin , Petroleum , Essigäther u. a.) getränkt
waren. Es ist somit in der Regel das
auffällige, die Vögel befremdende und
sie mißtrauisch machende Aussehen,
das den Fraß zu verzögern oder für eine
Zeit zu verhindern vermag. Auch andere
Forscher haben diese Beobachtung des Stutzens
der Vögel vor fremden, ungewohnten Färbungen
gemacht, und auch aus ihren Beobachtungen er-
gibt sich, daß die fremde, ungewohnte Färbung
ihre fraßverhindernde Wirkung verliert, sobald
Gewöhnung eintritt. Ist diese letztere einmal
eingetreten, so bildet auch die Färbung kein
Fraßhindernis mehr. Es ergibt sich hiernach:
Grellfarbige Insekten werden in einer Mehr-
heit der E'älle ebensogut verzehrt wie unauffällig
ausgestattete. Werden grellfarbige Insekten aber
mit zögernder Vorsicht behandelt oder verschmäht,
so liegt der Grund hierfür* in der Regel nicht in
schlechtem Geruch oder in dem Wissen von
schlechtem Geschmack (denn die Versuchstiere
haben das Insekt früher nicht gekannt und auch
im Versuche weder berochen noch gekostet), '
sondern die Ablehnung erfolgt zumeist nach
bloßem Hinsehen aus dem Gefühle der Vorsicht,
des Befremdens, Mißtrauens heraus, das alle geistig
höher stehenden Tiere einem ihnen fremden, ihnen
auffällig Dünkenden entgegenbringen. „Was der
Bauer nicht kennt, das ißt er nicht", sagt ein
volkstümliches Sprichwort, das zwanglos auch
auf die höhere Tierwelt bezogen werden kann.
Es ist das Prinzip der Ungewohnttracht,
des Misoneismus, des Mißtrauens vor Neuem,
das ich andernorts dargelegt und eingehend be-
gründet habe.
Die Erörterungen abschließend, lege ich fest:
Insolange wir auf rein anthropodoxischer Basis
stehen, die Insektenfresser in bezug auf Geruchs-
und Geschmacksurteile als kleine Menschen be-
trachten und werten , erscheinen die Trutztracht-
hypothesen zum Teil leidlich begründet (zum
Teil nur, denn das Dasein anlockender VVohlge-
rüche, ferner die den Hypothesen vielfach ent-
gegengesetzte Verteilung der Färbungen usw.
bilden auch dann noch bleibende Widersprüche).
Sobald wir aber den anthropodoxischen Stand-
punkt verlassen und die wissenschaftliche Erkennt-
nis gewinnen, daß mit Menschensinnen nicht über
den Tiei geschmack (bzw. über Tausende unter sich
völlig verschiedener Tiergeschmacksarten) abge-
urteilt werden kann, sondern daß das durch Be-
obachtung und Versuch empirisch zu ermittelnde
Benehmen jedes einzelnen Insektenfressers den
S62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
alleinberechtigten Richter in dieser Frage darstellt, der Wanzen sagt sie uns, daß derselbe seinen
dann müssen wir uns entschließen, die einst auf Träger in keiner Weise vor natürlichen
naiv anthropodoxischer Basis aufgerichtete Hypo- Feind en seh ützt, daß es keinen „Schutz-
these, so lieb und vertraut sie uns inzwischen gestank" der Wanzen gibt, daßäufdie-
auch geworden sein mag, zu verlassen und aus ser Basis überhaupt kein Platz für eine
der Wissenschaft zu weisen. Hypothese ist. Ob die Stinkdrüsen der Wan-
Die Sprache der Tatsachen ist alleingültig in zen einen „Zweck" haben, das ist uns, wie so
der Wissenschaft. Hinsichtlich des Ekelgeruchs vieles andere, heute noch unbekannt.
Die künstliche Zedeguug von Elementen.
(Mit I Abbildung im Text.)
Vor 20 Jahren stellten Rutherford und
Soddy die kühne Hypothese auf, die von den
radioaktiven Stoffen ausgestrahlte Energie rühre
vom Atomzerfall dieser Elemente her. Ruther-
ford und Soddy konnten auch vom Thorium
Einzelberichte.
ihrer Verschiebungssätze mit völliger Sicherheit
voraussagen, daß das nach wiederholter Abspal-
tung von Helium entstehende Endprodukt des
radioaktiven Zerfalls von Uran, Thorium und Ak-
tinium Blei sein müsse, das aber im Atomgewicht
vom gewöhnlichen Blei abweiche. Dies wurde
im Jahre 19 14 und in der darauf folgenden Zeit
glänzend bestätigt, als durch Hönigschmid,
einen stark radioaktiven Stoff, das Thorium X, Richards und andere sehr genaue Atomgewichts-
auf chemischem Wege abtrennen, den das rück-
ständige Thorium immer wieder von neuem nach-
bildet. In gleicher Weise hatten bereits vorher
Crookes und Becquerel beim Uran die fort-
währende Neubildung von Uran X unter Aus
bestimmungen von Uranblei und Thorblei aus-
geführt wurden. Vor 3 Jahren ist es schließlich
Rutherford') gelungen, den zu den leichtesten
Elementen gehörigen Stickstoff künstlich zum
Zerfall zu bringen, indem aus den Stickstoffatomen
Sendung von radioaktiven Strahlen beobachtet, durch rasche «Strahlen Wasserstoffkerne abge-
Doch konnten die aus dem zerfallenden Uran splittert wurden.
oder Thorium entstandenen neuen Stoffe, das
UX und das ThX,') nicht in sichtbarer, wäg-
barer oder spektroskopisch nachweisbarer IVIenge
dargestellt werden; nur durch seine radioaktiven
Eigenschaften konnte das in verschwindend ge-
Trifft ein «-Teilchen von der Masse 4 mit
2 positiven Elementarladungen auf ein Wasser-
stoffatom von der Masse i, so muß dieses als
Wasserstoffion H+ die 16 fache Geschwindigkeit
und damit die 4 fache Reichweite der stoßenden
ringem Maße gebildete UX und ThX gekenn- « Strahlen erlangen. Die angewandten «-Strahlen
zeichnet werden. 1903 wurde von Rutherford, des Radiums C vermögen eine Luftschicht von
Becquerel und des Coudres die Ablenkbar- 7 cm zu durchdringen. Die Wasserstoffstrahlen,
keit der «Strahlen in starken magnetischen und welche durch «Strahlen von 7 cm Reichweite
elektrischen Feldern entdeckt und die Messungen aus Wasserstoff oder Wasserstoffverbindungen
ergaben, daß die «-Strahlen rasch bewegte, posi- entstehen, durchdringen eine Luftschicht von
tiv geladene Atome des Wasserstoffs oder Heliums 29 cm Dicke. Die Wasserstoffstrahlen des Stick-
sind. Rutherford und Soddy schlössen, daß Stoffs haben jedoch eine Reichweite von 40 cm,
das Helium wegen seines regelmäßigen gleich- so daß ein Teil ihrer Energie aus dem explo-
zeitigen Vorkommens in Uran- und Thorminera- dierenden Stickstoffatom stammen muß. Dies
lien eines der Zerfallsprodukte der radioaktiven Ergebnis zeigt, daß diese H -Teilchen nicht von
Stoffe ist. Im Juli 1903 machten dann Ramsay irgendeiner Wasserstoffverunreinigung herrühren
und Soddy die denkwürdige Entdeckung, daß können.
die Emanation des Radiums unter der spektro- Neuerdings berichtet Rutherford-) über
skopisch nachweisbaren Bildung von Helium zer- weitere Versuche zur Zertrümmerung von Ele-
fällt. Dies war eine glänzende Bestätigung für menten durch «-Strahlen. Die Stoffe wurden in
Rutherfords Hypothese vom Atomzerfall radio- Gasform oder in festem Zustand als dünne Schich-
aktiver Stoffe und war die erste mit den gewöhn- ten mit «Teilchen durchstrahlt. Eine Glimmer-
lichen Methoden der Analyse beobachtete Um- platte, welche in ihrem Bremsvermögen einer
Wandlung eines Elementes in ein gut bekanntes
anderes. 1909 zeigte Rutherford auf spektro-
skopischem Wege, daß die «Strahlen der radio-
aktiven Stoffe von Heliumatomen gebildet werden
und daß daher alle Elemente mit «-Strahlen eine
Neubildung von Helium aufweisen. F"ajans und
Soddy konnten dann im Jahre 1913 mit Hilfe
') Nach der damaligen Nomenklatur.
32 cm dicken Luftschicht gleichkommt, hält alle
Wasserstoffstrahlen aus etwaigen Verunreinigungen
des durchstrahlten Materials von der Beobachtung
fern. Die folgende Tabelle enthält in der i. Spalte
das untersuchte Element, die 2. Spalte gibt die
') Naturw. Wochenschr. XIX, S. 30 — 32, 1920.
'') Naturc Nr. 27.10, S. 584—586; Nr. 2741, S. 601— 602
und S. 614-617 (1922).
N. F. XXI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
563
Form an, in welcher der Stoff mit «-Teilchen
des Radiums C durchstrahlt wurde, und die
3. Reihe gibt die Reichweite der abgespaltenen
Wasserstoffteilchen in der Luft an.
Li
Li^O
—
Be
BeO
—
B
Bor
ungef. 45 cm
C
CO2
—
N
Luft
40 cm
0
0,
—
F
CaF„
über 40 cm
Na
Na^Ö
ungef. 42 cm
Mg
MgO
—
AI
Alu.ALO,
90 cm
Si
Si "
—
P
P (rot)
ungef. 65 cm
s
Su.SO.,
—
Cl
MgCl.,
—
K
KCl'
—
Bei den Elementen Ca, Si, Mn, Fe, Sn, Cu, Ag
und Au wurden keine Wasserstoffteilchen von
über 32 cm Reichweite beobachtet. Ob lang-
samere Wasserstoffkerne abgespalten werden, muß
noch untersucht werden. Zunächst scheint es,
als ob Elemente, deren Kernladung größer wie
15 ist, durch die a-Strahlen von Radium C nicht
zertrümmert werden.
Durch besondere Versuche wurde gezeigt, daß
die Energie der raschesten [i Strahlen und der •/-
Strahlen nicht ausreicht , um Wasserstofifstrahlen
aus irgendeinem Element abzuspalten. Die frühe-
ren Beobachtungen von J. J. Thomson, Ram-
say und anderen Forschern über das Auftreten
von Wasserstoff, Helium und den übrigen Edel-
gasen in Vakuumröhren nach der Kathoden-
bestrahlung von Elementen sind nach den Unter-
suchungen Rutherfords unmöglich durch eine
Zerlegung oder Neubildung von Grundstoffen zu
erklären. Die geringen spektralanalytisch nach-
gewiesenen Spuren von neu auftretenden Gasen
sind Verunreinigungen aus der Glaswand oder
aus den Elektroden. So erklärt Rutherford
auch eine jüngst aus Amerika gemeldete Be-
obachtung über das Auftreten von Helium beim
Zerstäuben von Wolframdrähten im Hochvakuum.
Eine Anzahl von Versuchen ') wurde ange-
stellt, um den Einfluß zu prüfen, den die Ge-
schwindigkeit der einfallenden «Strahlen auf die
Zahl und die Reichweite der abgesprengten
Wasserstoffteilchen hat. Im allgemeinen zeigte
sich die Reichweite der Wasserstoffkerne der
Reichweite der « Strahlen proportional; die Zahl
der ausgelösten Wasserstoffkerne nimmt mit der
Geschwindigkeit der «Strahlen rasch zu. So
scheinen im Aluminium durch « Strahlen von
5 cm Reichweite keine Wasserstoffteilchen mehr
abgelöst zu werden. Die zur Zertrümmerung
nötige Minimalenergie soll noch näher festgestellt
werden.
Durch die «Strahlen des Radiums C werden
im Aluminium Wasserstoffteilchen abgelöst, deren
kinetische Energie 1,4 mal größer ist wie die der
einfallenden «Teilchen und ein Teil der Energie
muß daher vom Aluminiumkern selbst geliefert
werden. Die Zertrümmerung der Aluminiumatome
geschieht nur in äußerst geringem Maße. Ein
«-Teilchen des Radiums C geht durch ungefähr
looooo Aluminiumatome; aber nur etwa 2 0-
Teilchen von i Million kommen dem inneren
Kern nahe genug, um ein Wasserstoffteilchen ab-
zuspalten. Die gesammelten «-Teilchen von i g
Radium ergeben im Jahr 163 cbmm Helium;
würden alle diese «Teilchen in Aluminium ge-
schossen, so könnte in einem Jahr doch nur
"1000 cbmm Wasserstoffgas befreit werden. Diese
Menge ist so gering, daß sie mit den gewöhn-
lichen physikalischen und chemischen Methoden
nicht nachgewiesen werden kann.
Ein auffallendes Ergebnis hatte die Unter-
suchung der im Aluminium ausgelösten Wasser-
stoffstrahlen in bezug auf die Richtung der ein-
fallenden «Strahlen. Es traten nämlich von der
Rückseite der Aluminiumfolie nahezu ebenso
viele Wasserstoffteilchen wie auf der Vorderseite
aus. Dies wird durch die Annahme erklärt, daß
die Wasserstoffteilchen im Aluminiumatom einen
Kreis um den Kern beschreiben, wobei dann die
Austrittsrichtung des Wasserstoffkerns nur von
seiner Stellung im Augenblick des Zusammen-
stoßes mit dem «-Teilchen abhängt. Die Abbil-
dung zeigt die Bahn eines rückwärts austretenden
Wasserstoffteilchens.
In früheren Versuchen ') schienen durch die
«Strahlen des Radiums C im Sauerstoff und Stick-
stoff Teilchen von der Masse 3 mit 2 positiven
Elementarladungen und 9 cm Reichweite befreit
zu werden; diese X3 genannten Teilchen wären
dem Helium isotop. Es ist nun sehr interessant,
daß neuerdings Rutherford '^) selbst das Vor-
kommen solcher Xg-Strahlen in Abrede stellt.
Rutherford erklärt, daß die vergleichende
Methode der Schätzung der Teilchenmassen nicht
länger vertrauenswürdig sei und daß eine sehr
große Zahl von Versuchen erforderlich sei, um
die Natur der Strahlung endgültig festzustellen.
Nach allen anderen Erfahrungen sind die Xj-
Atome doch ziemlich sicher Heliumkerne und
einstweilen ist Rutherford wenigstens beim
Sauerstoff der Nachweis gelungen, daß die „X3"-
») Phil-. Mag. 42, S. 809— S25 (1921) nach Phys. Ber
s. 313—314 (1922).
') Naturw. Wochenschr. XX, S. 729 (192 1).
') Nature 1. c.
564
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
Strahlen ihren Ursprung nicht im Gasraume haben,
sondern daß sie unmittelbar von der Strahlenquelle,
dem Radium C, ausgehen. Die Aussendung von
Strahlen mit 9 cm Reichweite stellt also eine bis-
her unbekannte neue Umwandlungsart des Ra-
diums C dar.
Man darf den weiteren Untersuchungen
Rutherfords über die „X3"-Strahlen mit Inter-
esse entgegensehen und man wird von der Radio-
chemie noch manche wichtige Aufschlüsse über
den inneren Bau und die Beständigkeit der Atome
zu erwarten haben. K. Kuhn.
Über die ältesten Nutz- inul Kulturpflauzeu.
Die noch immer spärlichen Altertumsfunde
vermögen uns nur ein unvollkommenes Bild der
Vorzeit zu übermitteln. Namentlich über die
ältesten Nutz- und Kulturpflanzen wissen wir bis-
her noch nicht allzu viel. Deshalb versucht H.
Brockmann-Jcrosch in der Vierteljahrsschrift
der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Bd. 62
auch die Volkskunde zur Klärung dieser Frage
heranzuziehen. Die alten Sitten und Gebräuche
namentlich von Volksteilen in abgelegenen Wohn-
gebieten sind nach ihrer Auffassung als die letz-
ten Reste einstiger primitiver Kulturstufen zu be-
trachten und deshalb können sie uns auch bis zu
einem bestimmten Grade Aufschluß geben über
die früheren Verhältnisse.
Mit Hahn u. a. Forschern ist auch Br.-J. der
Ansicht, daß sich die Völker im Urzustände we-
niger von der Jagd als vielmehr von gesammelten
Pflanzen ernährten. Allerhand Pflanzenteile, wie
Blätter, Knospen, Wurzeln, Knollen wurden ge-
sammelt und dienten als Hauptnahrung. („Sammel-
stufe".) Auf Grund der alten volkstümlichen Ge-
bräuche besonders der Bewohner abgelegener
Alpentäler stellt nun Br.-J. die vermutlich ältesten
Nutz- und Kulturpflanzen zusammen. Demnach
müssen früher die Mehl- oder Vogelbeeren (S o r -
bus spec.) viel allgemeiner als menschliche Nah-
rung gedient haben als heutzutage. Sicherlich
wurden diese nutzbaren Bäume auch schon in
früher Zeit nicht nur geschont, sondern auch an
günstigere Stellen verpflanzt. Der Unterschied
zwischen wildwachsenden Nutzpflanzen und Kultur-
pflanzen verwischt sich hier also noch völlig. Auch
die Kiche soll schon recht früh nicht nur ein
wichtiger Nutz- sondern auch ein Kulturbaum ge-
wesen sein, da die Eicheln eine wertvolle Mehl-
nahrung lieferten. Ebenso hätten Buche, Hasel-
nuß und Schlehe zu den ältesten Nutz- und
Kulturpflanzen zu gehören. Leicht erklärlich er-
scheint in diesem Zusammenhange, daß diese für
das Leben der Menschen so wiclitigen Pflanzen
früher als „heilig" galten. Auf die Beschädigung
der Eichen war bei den Germanen eine schwere
Strafe gesetzt. So bestimmte z. B. das Ober-
urseler Weistum: „Item es soll niemand Bäume
. . . schälen, wer das täte, dem soll man sein Na-
bel aus seinem Bauch schneiden und ihn mit
demselben an den Baum negeln und denselben
Baumschäler um den Baum führen, so lang bis
sein Gedärm alle aus dem Bauche auf den Baum
gewunden sein." Die Wertschätzung dieser nutz-
baren Laubhölzer kann nicht ohne Einfluß auf
das einstige Landschaftsbild geblieben sein.
Wenn die Ansicht von Br.-J. richtig ist, so
müssen auch manche unserer Sumpf- und Wasser-
pflanzen zu den ältesten Nutzpflanzen gezählt
werden. Wie stellenweise noch gegenwärtig, so
werden auch schon in frühester Zeit die getrock-
neten Wurzelstöcke des Schilfes und des P"ieber-
klees {AIoiyiDitlics trifoliatd), die jungen Triebe
des Rohrkolbens (7;y^/w- Arten) , die mehlreichen,
wohlschmeckenden Samen der Schwaden- oder
Mannagrütze [Glyccria ßuitans), die PVüchte der
Wassernuß (Trapa nafaiis) verwendet worden
sein. Wenn aber Br.-J. die einstige weitere Ver-
breitung der Wassernuß im mitteleuropäischen
Waldgebiet auf die Tätigkeit des Menschen zurück-
führt, so kann man ihr wohl nicht ohne weiteres
zustimmen.
Andere Nutzpflanzen sind ehemals Ruderal-
pflanzen gewesen. Hierher gehören der Gute
Heinrich {Choiopodiiim boiius Hairicus), dessen
Blätter noch heute in der Schweiz zur Spinat-
bereitung benutzt werden, der Hollunder {Sani-
buciis nigra) und der Alpenampfer [Riimex alpi-
niis), der mannigfache Verwendung im Haushalt
der Alpenbewohner findet, vor allem auch zur
Sauerkrautbereitung. Eine besondere Kultur die-
ser Ruderalpflanzen war kaum nötig. Es genügte
vielmehr, wenn sie in der Umgebung der mensch-
lichen Wohnstätten gelegentlich geschont wurden.
Daß Unkräuter mitunter Kulturpflanzen werden
können, dafür führt Br.-J. als Beispiel u. a. auch
den tartarischen Buchweizen {Fagopyrum tartari-
cinn) an, der in niederen Gegenden als ein lästi-
ges, schwer auszurottentes Unkraut gilt, in höhe-
ren Teilen der Alpen und des Himalaya als ge-
schätztes Getreide angebaut wird.
Das wäre im allgemeinen der Hauptinhalt der
gedankenreichen Arbeit. Ohne Zweifel ist der
Weg, den Br.-J. hier betreten hat, geeignet, die
Frage nach den natürlichen Verhältnissen der
Vorzeit zu klären. Zu wünschen wäre freilich,
daß die Ergebnisse, die durch diese Arbeitsweise
erzielt werden, durch prähistorische Funde be-
stätigt würden. E. Schalow (Breslau).
Ein ueuer xeroniorpher Spaltöttuiiugsapparat
bei den üiliotjiedoueu.
In der Osterreichischen Botanischen Zeitschrift,
Jahrgang 1922, Nr. i — 3 macht uns A. Mühl-
dorf mit einem neuen xcromorphen Spaltöffnungs-
apparat bekannt, den er bei einer Nieswurz {Hclle-
horiis lugcr) feststellen konnte und der seines-
gleichen in der Pflanzenanatomie sucht.
Die Spaltöfi'nungen, welche sich auch bei
Uellchorus iiigcr nur auf der Blattunterseite
finden, sind in der Flächenansicht fast kreisrund
N. F. XXI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
56s
und heben sich kaum über die Nachbarzellen
empor. Der Vorhof ist in der Regel mit einer
körnigen Masse angefüllt, die sich mit Alkannin
färbt. Diese Erscheinung ist auch bei anderen
Hcl/edofi/s -Arten anzutreffen^ Wodurch sich der
Spaltöffnungsapparat von Hellcborus iiigcr aber
besonders auszeichnet, das sind die 8 — 10 zähn-
chenartigen Leisten, die sich an den Wänden der
Spaltöffnung von der Zentralspalte an zeigen und
die nach innen zu immer kleiner werden. Diese
Leisten passen wie die Zähne zweier Zahnräder
genau ineinander, so daß eine recht innige Ver-
bindung der Schließzellen und ein vorzüglicher
Abschluß gegen die Außenluft erzielt werden
kann. Sicherlich kommt diese Einrichtung der
immergrünen Pflanze besonders im Winter zu-
statten, wenn die Wasseraufnahme aus dem Boden
infolge des Frostes bedeutend erschwert ist. Auf-
fällig bleibt es nur, daß diese abweichenden Spalt-
öffnungen früheren Untersuchern (Haberlandt,
Schwendener, Koernicke u.a.) entgangen
sind. E. Schalow, Breslau.
Bticlierbesprechiingen.
Hartwig, R., Lehrbuch der Zoologie. 8.
verm. u. verbess. Aufl. XIV u. 682 S. mit
588 Abb. im Text. Jena 1922, G. Fischer. —
Brosch. ICO M., geb. 130 M.
Im wesentlichen sind es drei Lehrbücher,
welche bei uns dem Studierenden das Eindringen
in das Gebiet der Zoologie erleichtern sollen, die
Lehrbücher von Boas, von Claus und Grob-
ben, und von Hertwig. Jedes in seiner Art
sehr charakteristisch, legt Boas den Hauptwert
auf die Herausarbeitung von Organisationstypen,
Claus-Grobben bietet eine möglichst reich-
haltige enggedrängte Stoffübersicht, Hertwig
aber versucht mehr, eine gewisse Beziehung zwi-
schen dem Studierenden und seinem Lernstoff zu
schaffen.
Es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn man
„den Hertwig" erst besonders charakterisieren
wollte. Die meisterhafte Form , in welcher dem
Leser spielend die wichtigsten Tatsachen eines
großen Gebietes vorgeführt werden, haben das
Lehrbuch ja lange zum weitaus verbreitetsten ge-
macht, und besonders dem jungen Mediziner ge-
hört es wohl zum selbstverständlichen Rüst-
zeuge. Die neue Auflage berücksichtigt auch in
Einzelheiten weitgehend die Literatur der letzten
Jahre, soweit ihre Resultate für den Rahmen des
Lehrbuches in Betracht kommen.
Nur an einigen Stellen ist der frühere Stand-
punkt gewahrt worden, wo eine Änderung am
Platze gewesen wäre. Unzweckmäßig erscheint
Ref. beispielsweise, daß, aus sonst wohl verständ-
lichen Gründen der Übersichtlichkeit, bei den
Insekten eine zu weitgehende Zusammenfassung
in Sammelgruppen beibehalten wurde. Die Archi-
ptera enthalten so heterogene Komponenten, daß
sie zerlegt werden müssen; sind doch Odonaten
und Ephemeriden Gruppen, welche den übrigen
Ordnungen zum mindesten gleichwertig zu achten
sind. Abgesehen von solchen Einzelheiten, die
in künftigen Auflagen vielleicht verschwinden
können, hält das Werk vollkommen die Höhe
der früheren Auflagen. Eine besondere Verbrei-
tung ihm erst zu wünschen, erscheint überflüssig,
da es sich seinen Weg wie bisher selbst schaffen
wird. Prell (Tübingen).
Nevi^man, H. H., The biology of twins
(m a m m a 1 s). The University of Chicago Press,
Vol. VI, 1917, X+186 p., Frontisp. -f- 55 Fig
1,50 Dollar.
Der Verf. versucht in gemeinverständlicher
Form einen Überblick über das Wesen der
Zwillingsbildungen bei Säugern zu geben. Zu
dem Zwecke wird zwischen fraternalen oder di-
zygotischen, also mehreiigen, Zwillingen und den
„duplicate Twins" oder monozygotischen, also
eineiigen, Zwillingen unterschieden. Monozygo-
tische Zwillinge kommen beim Menschen in etwa
V^ aller Zwillingsgeburten vor, wozu noch die
überwiegende Metirzahl der teratologischen Doppel-
bildungen hinzutreten würde. Über die Genese
derartiger eineiiger Zwillinge ist direkt kaum et-
was zu ermitteln. Den einzigen gangbaren Weg
bildet das Studium von Tieren, bei welchen dieses
Verhalten regelmäßig auftritt, und das gilt für
einige Gürteltiere. Bei dem texanischen Dasypus
iiovcmci'uctiis hat Verf. in Gemeinschaft mit anderen
Forschern ausgiebige Studien angestellt und gibt
an der Hand neuer, hervorragend übersichtlicher
Schemata einen Überblick über seine entwicklungs-
geschichtlichen Resultate. Während hier normaler-
weise stets Vierlinge geworfen werden, bringt der
argentinische D. Iiyhridus 7 — 12, vorwiegend
8 Junge bei jedem Wurf hervor, deren mono-
zygotische Entstehung im Anschluß an Fernan-
de z behandelt wird. Im Gegensatze dazu sind
die Zwillinge des argentinischen EiipJiracfiis vil-
losus stets zweieiig, also den Wurfgeschwistern
etwa bei Hunden gleichzuachten, obwohl sie ein
gemeinsames Chorion besitzen. Theoretisch kann
die Polyembryonie der Dasypus-AxXevs. als Blasto-
tomie, als Knospung oder als Teilung betrachtet
werden. Echte Blastotomie liegt nun sicher nicht
vor, da keineswegs jeder der vier Embryonen bei
D. novcmcincfus aus je einem Elastomer hervor-
geht, sondern erst viel später nach Ablauf der
Gastrulation. Knospung leuchtet wenig ein, weil
man die Gastrula nur ungern als agame Eiter-
generation oder Stock betrachten wird. Teilung
im üblichen Sinn läßt sich nach den ontogene-
tischen Vorgängen kaum vertreten. Eine neue
Definition der Teilung ermöglicht dann die Ein-
566
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
Ordnung bei dieser. — Auch bei Rindern kommen
gelegentlich Zwillinge vor, sehr selten mono-
zygotisch, meist dizygotisch und monochorial.
Bei ungleichgeschlechtigen Zwillingen ist es nun
bekannt, daß neben einem Stier entweder eine
Kuh oder ein Zwitter geboren wird. Die Unter-
suchungen Li 1 lies, welche den zweiten Fall auf
hormonale Beeinflussung infolge der Verschmelzung
der Choriongefäße beider Embryonen zurück-
führten, werden wiedergegeben; Kellers ent-
sprechende Beobachtungen sind dem Verf. an-
scheinend entgangen. — Angesichts der zygo-
tischen Geschlechtsbestimmung bei Säugern sind
monozygotische Zwillinge stets gleichgeschlechtig.
Wohl zu beachten ist aber, daß Geschlechtsdifife-
renzierung auch unabhängig davon später hormo-
nal bedingt sein kann. — Die Neigung zur
Zwillingsproduktion als solcher ist nach Beobach-
tungen am Schaf erblich. Ausgiebig wird dann
über spezielle Vererbungserscheinungen bei Gürtel-
tieren berichtet, wobei allerdings zum Vergleich
nur Mutter und Kinder herangezogen werden
können. Die Resultate erscheinen Ref. recht un-
sicher. Unregelmäßigkeiten des Panzers scheinen
als Tendenz vererbt zu werden, jedoch ohne be-
sondere Lokalisation. Da die vier Geschwister
einem Klon angehören und doch verschieden sind,
wird „somatic segregation" der elterlichen Anlagen
angenommen. Vergleiche mit den Verhältnissen
bei menschlichen Zwillingen beschließen diese
Erörterungen. — Das reiche Tatsachenmaterial
macht das Buch zu einer sehr lesenswerten und
recht wertvollen Einführung in ein interessantes
Gebiet, wenn man auch den theoretischen Er-
örterungen des Verf. nicht stets folgen wird.
H. Prell, Tübingen.
Coulter, J. H., The Evolution of Sex in
Plants. The Univefsity of Chicago Science
Series, Vol. L Und Impress. 1916, X-|-'40 S.
Preis in Ganzleinen geb. 1,25 Dollar.
Die ursprüngliche, zahlenmäßig überwiegende
Portpflanzungsweise der Pflanzen ist die unge-
schlechtliche Fortpflanzung (I). Sie führt
von einfacher Zellteilung zur Sporenbildung und
weiter zum Auftreten von allerlei Komplikationen
bei der Sporenbildung. Die Entstehung der
Geschlechtlichkeit (II) erfolgt dann, wenn
solche Sporen als Gameten fungieren, also zur
Bildung ruhebedürftiger Zygoten verschmelzen.
Durch nachträgliche Rückgängigmachung der
hierbei entstehenden Chromosomenverdoppelung
durch eine Reduktion entsteht ein Phasenwechsel.
Eine Spezialisierung der Geschlechter
(III) führt dabei von Isogametie zur Anisogametie
unter Wahrung des Entstehens eines fortpflan-
zungsfähigen Individuums als Hauptzug. Fort-
schreitende Entwicklung der Sexualorgane
(IV) läßt sich besonders bei den Algen verfolgen,
von der einfachen Umwandlung vegetativer Zellen
in Gameten beginnend bis zur Bildung hoch-
komplizierter Gametangien. Die Pilze zeigen
demgegenüber wieder eine fortschreitende Re-
duktion, wie das ähnlich auch für die Phanero-
gamen gilt. Das Vorkommen einer geschlecht-
lichen und einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung
nebeneinander bedingt dann einen Generations-
wechsel (V) zwischen Gametophyt und Sporo-
phyt, bei dem anfangs der erstere, dann der letz-
tere überwiegt. Im engsten Zusammenhang da-
mit steht die Differenzierung der sexuellen
Individuen (VI), vom Gameten allmählich über
den Gametophyten zur Spore, und weiter auch
über den Sporophylen sich ausdehnend, wobei
viele Komplikationen zu berücksichtigen sind. —
Parthenogenese (VII) als Entwicklung eines
Eies ohne Befruchtung zum Sporophyten wird
mehr anhangweise behandelt. Durch Nichtberück-
sichtigung der Marchalschen Moosversuche und
Beibehaltung der Theorie von der doppelten Ko-
pulation bei Ascomyzeten verliert der Abschnitt
an Wert. — Zum Schluß wird der Versuch ge-
macht, zu einer Theorie des Geschlechts
(VIII) zu gelangen. Da die kausalen Definitionen
einer Zelle als Geschlechtszelle, Beweglichkeit,
geringe Größe, Befruchtungsbedürftigkeit, versagen,
wird ein Gamet final definiert als eine unter dem
Einfluß gehemmten Slofirwechsels entstehende
Zelle, welche nach Fusion mit einer anderen zur
Bildung eines neuen Individuums führt. Aufgabe
dieser Fusion, also der Sexualität als solcher, ist
aber die Erweiterung und Beschleunigung der
organischen Evolution.
Das Büchlein als Ganzes will weniger Neues
bringen , als Bekanntes neu darstellen. Dabei
zeichnet es sich durch hervorragend klare und
übersichtliche Entwicklung eines überall festgehal-
tenen Gedankenganges aus, so daß es auch für
weitere Kreise biologisch interessierter Leser
durch seine große Überzeugungskraft von erheb-
lichem Werte sein dürfte. Prell, Tübingen.
Pietzsch, Kurt, Die geologische Literatur
über den Freistaat Sachsen aus der
Zeit 1870 — 1920. Veröffentlichungen der
Geologischen Landesuntersuchung von Sachsen.
Leipzig 1922.
Als erste Veröffentlichung der Sachs. Geolo-
gischen Landesuntersuchung erschien 1874 die
von A. Jentzsch bearbeitete Zusammenstellung
der „Geologischen und mineralogischen Literatur
des Königreichs Sachsen und der angrenzenden
Landesteile von 1835 — 1873".
Nunmehr ist, gewissermaßen als Fortsetzung
dieser ersten, eine zweite vollständige Zusammen-
stellung der über Sachsen vorliegenden geologi-
schen und mineralogischen Literatur erschienen,
die die Jahre 1870 — 1920 umfaßt. K. Pietzsch
hat sich in sehr dankenswerter Weise dieser um-
fänglichen Arbeit unterzogen. Die nicht eben
leichte Aufgabe, in die sehr beträchtliche wissen-
schaftliche Literatur dieser 50 Jahre Ordnung zu
N. F. XXI. Nr. 4 t
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
567
bringen, ist in glücklicher und übersichtlicher
Weise gelöst. Die „Geologische Literatur Sach-
sens" wird die wissenschaftliche Weiterarbeit sehr
erleichtern. Sie zeigt klar den Einfluß, den die
Geologen und Mitarbeiter der Landesuntersuchung
auf die Entwicklung der Kenntnisse des heimat-
lichen Bodens ausgeübt haben. Ebenso spiegelt
sich in ihr die allgemeine Entwicklung der geo-
logischen Wissenschaft, der Wechsel in den
Fragestellungen und in der Auswahl der am ein-
gehendsten behandelten Stoffe deutlich wieder.
Krenkel.
Vageier, P., Bodenkunde. Zweite völlig um-
gearb. Aufl. Sammlung Göschen, 1921.
Die „Bodenkunde" gibt zunächst die Ent-
stehung der Böden (Allgemeine Übersicht; boden-
bildende Gesteine, Pflanzen- und Tiergemein-
schaften; die bei der Bodenbildung wirksamen
Kräfte), die gegenwärtige Verteilung der Boden-
arten auf der Erde und die physikalischen und
chemischen Eigenschaften des Bodens. Weiter
werden besprochen die Beziehungen des Bodens
zur Lebewelt, und zwar der Boden als Vorbe-
dingung der Verteilung der natürlichen Pflanzen-
und Tierwelt und als Vorbedingung der Land-
wirtschaft und damit der Verteilung der landwirt-
schaftlichen Kulturgebiete der Erde. Den Schluß
bildet die Bewertung der Böden durch die land-
wirtschaftliche Praxis.
Die ganze Darstellung ist auf durchaus moder-
nen Anschauungen aufgebaut und wissenschaftlich
trefflich und klar. Doch scheint es, als ob die
gedrängte Kürze , mit der nicht immer einfache
Probleme der Bodenkunde gebracht werden, hin
und wieder nur auf Kosten der Verständlichkeit
für den weniger Eingeweihten erreicht ist.
Nicht einwandfrei ist der Abschnitt über die
bodenbildenden Gesteine; er bedarf dringend der
Umarbeitung. Krenkel.
Schröter, C, Die Aufgaben der wissen-
schaftlichen Erforschung in National-
parken. Handbuch der biologischen Arbeits-
methoden, Abt. XI, Teil i, Heft 2. Berlin und
Wien 1922, Urban u. Schwarzenberg.
Auch Schröter bietet nichts über die Me-
thoden dieses Arbeitsgebietes, begründet aber
seine dem Titel des „Handbuchs" nicht ent-
sprechenden Ausführungen mit folgenden Worten:
„Da die speziellen Methoden der wissenschaft-
lichen Untersuchung hier die allgemein gebräuch-
lichen sind, erblicke ich meine Aufgabe nicht
darin, hier die biologischen und anderen Unter-
suchungsmethoden zu beschreiben, sondern darin,
ein Untersuchungsprogramm aufzustellen, welches
den eigenartigen Bedingungen, die in der Un-
gestörtheit der Naturschutzgebiete liegen, beson-
ders Rechnung trägt." Dann wird „Naturschutz-
gebiet" definiert und sein Zweck dargelegt ; über
den Umfang des Schutzes und den Umfang des
Gebietes; über die wissenschaftliche Bedeutung
dieser Bestrebungen und endlich über die spe-
ziellen Aufgaben der wissenschaftlichen Beobach-
tung in Naturschutzgebieten gesprochen. Schrö-
ter gibt nur drei größere Gebiete an, die nach
einheitlichem Plan gründlich erforscht oder in der
Erforschung begriffen sind: das Plage fenn bei
Chorin in der Mark, das Sarekgebiet in
Schwedisch - Lappland, den Schweizerischen
Nationalpark im Unter-Engadin.
Hubert Winkler, Breslau.
Behrmann, Prof. D. W., Im Stromgebiet
des Sepik. Eine deutsche Forschungsreise
in Neu-Guinea. Mit lOi Textabbildungen und
einer Karte. Berlin 1922, A. Scherl. 80 M.
Der Verf. gehörte als Geograph einer Ex-
pedition an, die im Jahre 1912 vom Reichskolo-
nialamt nach Neu-Guinea gesandt wurde. Sie
wurde von Stolle geführt und hatte die Auf-
gabe, das Stromgebiet des Kaiserin- Augusta-Husses,
der an seiner IVIündung den inländischen Namen
Sepik trägt, zu durchforschen. Dieser F"luß, der
ungefähr die Länge des Rheines hat, aber erheb-
lich größere Wassermengen führt, wurde zuerst
1886 und 1887 von Schrader bis weit in seinen
Oberlauf hinauf befahren und auch später, wenn
auch nur in seinem Unterlauf berührt, so von der
Hamburger Südsee-Expedition. Man gewann da-
mals Kenntnis von der Bevölkerung unmittelbar
am Flußufer und ihrer hochstehenden Kultur, das
von dichtestem Wald bedeckte Land blieb da-
gegen ein Geheimnis. Selbst die im übrigen so
erfolgreiche, zum Zwecke der Festlegung der
deutsch holländischen Grenze 1910 ausgesandte
Expedition unter Leonhardt Schulze hatte
sich, den Sepik bis zum Oberlauf verfolgend, nur
hier im Gebiet des Grenzmeridians flächenhaft aus-
gebreitet und das Land erkundet. So war eigent-
lich im wesentlichen nur die Küstenlinie und der
Lauf des Sepik bekannt, der größte Teil des
Binnenlandes, namentlich die Gebirgssysteme
südlich des Flusses, gänzlich in Dunkel gehüllt.
Während etwas später im Jahre 191 3 Thurn-
wald an zwei Stellen nach Norden bis zur Küste
vorstieß, stand der Verf. vor der Aufgabe, an
möglichst vielen Stellen vom Sepik nach Süden
vorzudringen, um die Bodenbeschafifenheit zu er-
kunden. Das war mit großen Schwierigkeiten
verbunden, da der Sepik von ausgedehnten
Sümpfen umsäumt ist und das Land unabsehbar
weit unter ungeheuren Wäldern begraben liegt.
Der Verf. schildert nun einem größeren Publikum
in einer frischen Weise, auf die noch ein Ab-
glanz der ersten tlntdeckerfreude fällt, wie
sich die Expedition von ihrem Standlager in
Malu aus auf zahlreichen Zügen durch Sumpf
und Wald in das Innere des Landes hineinarbei-
tete und was sie erschaute und erlebte. Dies im
einzelnen wiederzugeben, ist nicht am Platze.
568
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 41
Man folgt dem Verf. dauernd mit größtem Anteil,
und auch der Leser, welcher sich gerne spannen
läßt, findet genug Szenen und Begebenheiten von
romantischem, ja abenteuerlichem Reiz.
Von den Ergebnissen sei nur hervorgehoben,
daß es dem Verf. gelang, das Rückgrat der Insel,
die zentrale Wasserscheide zu erreichen, daß
neben anderen ein wichtiger Seitenfluß des Sepik,
der Töpferfluß , entdeckt und festgelegt wurde,
der sich in seinem Oberlauf bis auf wenige Kilo-
meter dem zweiten bedeutenden Flusse unserer
ehemaligen Kolonie, dem Ramu, nähert. Er-
wähnenswert ist noch die geschickte Art, wie die
Expedition mit den Inländern in Verbindung trat.
Trotzdem die Mehrzahl nie oder nur sehr selten
einmal mit Fremden in Berührung gekommen
war und oft eine feindselige Haltung zeigte, ge-
lang es fast immer, durch besonnenes Auftreten
die Bevölkerung zu beruhigen und zu gewinnen
und Zusammenstöße zu vermeiden. Man möchte,
wenn das nicht ein frommer Wunsch wäre, dem
Buche viele aufmerksame Leser in jenen Län-
dern wünschen, die sich nicht genugtun konn-
ten in der gehässigsten Beschimpfung deutscher
Kolonialtätigkeit. Der deutsche Leser möge
aber auch aus diesem Buche das erhebende Be-
wußtsein von den großen Leistungen deutscher
I^orscher und Pioniere in Übersee schöpfen, die
nicht vergebens bleiben werden — wenn wir sie
nicht vergessen 1 Miehe.
Strömgren, E., AstronomischeMiniaturen.
Übersetzt von Bottlinger. 87 S. m. 14 Abb.
Berlin 1922, J. Springer. 36 M.
Jedem Liebhaber der Sternkunde, der sich
über die neuesten Forschungen namentlich auf
dem Gebiete der F"ixsternwelt belehren will, kann
die kleine Schrift als Ergänzung größerer Werke
älteren Datums warm empfohlen werden. Nach
einem Kapitel über die Kometen und Meteore,
in dem die Erkenntnis, daß diese Körper dem
Sonnensystem angehören, begründet wird, folgt
ein kurzer Abschnitt über die Sonne; der Haupt-
inhalt des Büchleins bezieht sich jedoch auf die
Fixsterne. Es werden die neueren Begriffe Par-
sek, absolute Größe erklärt, die der Sonne be-
nachbarten F'ixsterne werden in ihrer Lage zu
derselben bildlich dargestellt, die Beziehung zwi-
schen Eigenbewegung, Radialgeschwindigkeit,
Entfernung und Bewegungsrichtung erläutert, die
zur neueren Entfernungsbestimmung von Stern-
strömen (z. B. Hyaden) führt. Nachdem ein wei-
terer Abschnitt die Sternspektren und ihre Be-
ziehung zur absoluten Helligkeit und Parallaxe
gestreift und die verschiedenen Methoden der
Sternparallaxenbestimmung übersichtlich zusam-
mengestellt hat, sucht Verf. schließlich von der
sehr interessanten, aber schwer verständlichen
Methode Michelsons zur Messung kleiner
Winkelabstände am Himmel und scheinbarer
Fixsterndurchmesser durch Interferenzerscheinun-
gen einen Begriff zu geben. Das letzte Kapitel
endlich entwirft die gegenwärtige Lehre der
Sternentwicklung vom riesigen, noch kühlen Gas-
stern, der sich mehr und mehr kontrahiert, zum
heißen, weißen Stern und schließlich zum wieder
abgekühlten, roten Zwergen und die neueste Ver-
vollkommnung dieser Theorie durch Eddington,
die zu sehr bemerkenswerten Ergebnissen über
die Grenzen, zwischen denen die Massen der Fix-
sterne eingeschlossen sind, geführt hat. — Das
sachlich mit diesen sublimen Forschungen in gar
keinem Zusammenhang stehende, auf Seite 38
eingeschobene Kapitel über die Berechnung von
Wochentagen beliebiger Daten hätte besser fort-
bleiben können. Kbr.
Literatur.
Oltmanns, Friedrich, Das Pflanzenleben des Schwarj-
waldes. I. Text. Herausgegeben vom Badischen Schwarz-
waldverein 1922.
Oltmanns, Friedrich, Das Pflanzenleben des Schwarz-
waldes. II. Bilder und Karlen. Herausgegeben vom Badi-
schen Schwarzwaldverein 1922.
Klinckowström, C. von, Die Wünschelrute als wissen-
schaftliches Problem. Mit Anhang : Geophysikalische Auf-
Schlußmethoden. Stuttgart '22, Konrad Wittwer. 18 M.
Wissenschaft und Bildung 175: Wolff, Dr. Ferd. von,
Einführung in die allgemeine Mineralogie, Kristallographie,
Kristallphysik, Mineralchemie. Leipzig '22, Quelle & Meyer.
Geb. 24 M.
Aus dem Kaiser-Wilhelra-Inslitut für Kohlenforschung in
Mülheim-Ruhr. Fischer-Schrader, 2. Aufl. Entstehung
und chemische Struktur der Kohle. Essen '22, W. Girardet.
Geh. 20 M. und 10 "/(, Teuerungszuschlag.
Fischer-Geistbeck- Wagner, Erdkunde für höhere
Lehranstalten. Einheitsausgabe. i. Teil: Heimatkunde als
Zusammenfassung des Beobachtungsunterrichts. Deutsche
Landschaften. München-Berlin '22, R. Oldenbourg. 16 M.
Bergens Museums Aarbok 1920 — 1921. I. Heft: Natur-
videnskabelig Kaekke. Bergen '22, A. S. John Griegs Bok-
trykkeri Og. N. Nilssen & S0n.
Jäggli, Dr. Mario, 11. Delta della Maggia e la sua
vegetazione. Zürich '22, Rascher vi Co. 7 Fr.
City of New York American Museum of Natural History
1869 — 1921. Fifty-Third Annual Report for the Vear 1921.
Sammlung Göschen 3S3: Werner, Prof. Dr. Franz, Das_
Tierreich. III. Reptilien und Amphibien. I.Band: Reptilien.
Berlin-Leipzig '22, Vereinigung wissenschaftl. Verleger. 12 M.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'ichen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 15. Oktober 1922.
Nummer 43.
Theoretische Erwägungen über die Entstehung der Alterserscheinungen
und des Todes.
[Nachdruck verboten.]
Von Theodor Koppäuyi
Wenn wir es unternehmen das Problem des
Todes zu diskutieren, so müssen wir vor allem
einig sein, was wir eigentlich unter Tod zu ver-
stehen haben. Und gleich bei der begrifflichen
Begrenzung des Todes bieten sich nicht geringe
Schwierigkeiten dar. Daß der Tod ein Aufhören
des Lebens bedeutet, das wissen wir alle. Die
Lebewesen sind stationäre (im Gegensatz zu den
stabilen) Systeme, die die Eigenschaften der Er-
nährung, des Wachstums, der Fortpflanzung, der
Bewegung, der Reizbarkeit und der Regulation
aufweisen. Morphologisch aber können diese
Systeme aus einer oder aus mehreren Lebens-
einheiten, d. h. Zellen bestehen. Es kann daher
vorkommen, daß in einem mehrzelligen System
einige Zellen den Zusammenhang mit dem Zellen-
komplex verlieren und allmählich alle Eigen-
schaften verlieren, die der lebenden Zelle zu-
kommen. Diese Zellen sterben ab, sie werden
nekrotisch. Die Erscheinung kann als Zelltod
bezeichnet werden. Allgemein bekannt ist die
Erscheinung, daß an vom Arzt als tot bezeich-
neten Menschen die Zellen in ziemlich großer
Anzahl noch lange überleben und dann erst
serienweise ihre Funktionsfähigkeit einbüßen. Es
gibt also einen Zelltod im lebendigen Einzel-
wesen und Zelleben nach dem Tode des Einzel-
wesens. Daraus geht hervor, daß der Tod nur
dann eintritt, wenn der Organismus aufhört ein
der Außenwelt gegenüber handelndes Wesen zu
sein. Ein abgegrenztes der Außenwelt gegenüber-
stehendes Lebewesen wird in der Biologie als
Individuum bezeichnet, daher ist der Tod nur im
Sinne des individuellen Todes zu gebrauchen.
Bei den vielzelligen Tieren ist der Tod mit der
Anwesenheit einer Leiche verknüpft, da nur
wenige Zellen, wenige Keimprodukte, aus dem
zum Zerfall bestimmten Zellstaate gerettet werden
können. Bei den Einzelligen kann das Vergehen
sich darin bekunden, daß die Protistenzelle sich
in zwei Tochterzellen teilt. Sei der Tod im Zu-
rückbleiben einer Leiche oder in Zellteilung aus-
gedrückt, immerhin handelt es sich um ein Auf-
hören der bisherigen Individualität. Ein Indivi-
duum ist nicht teilbar, das wissen wir erfahrungs-
gemäß. Mit dem extrauterinären Leben des
Kindes haben die Ellern ja gar keine Gemein-
schaft, und genau so muß es sich verhalten mit
der Protistenmutterzelle. Wenn Doflein daher
sagt, daß der Tod der Protisten nur ein logischer
Tod, der mit der Naturwissenschaft gar nichts zu
tun hat, kein harter, bitterer Tod ist, da er die
Leiche vermißt, so müssen wir antworten, daß
Tod und Zelltod nicht identisch sind. Das ist
ja mit der Homologie der Fortpflanzung und der
Möglichkeit von in vitro-Kulturen genügend er-
klärt.
Wenn wir über die kausale Erforschung des
Todes berichten wollen, so versteht es sich von
selber, daß es sich da nicht um die Ursachen des
traumatisch-gewaltsamen oder durch eine Krank-
heit hervorgerufenen Tod handeln kann, bei dem
die Ursachen von Fall zu Fall gegeben, ver-
schieden und uns teilweise bekannt sind. Tod
heißt bei uns natürlicher Tod, welcher durch
einen vorbereitenden Alterungsvorgang eingeleitet
wird. Es wird auch behauptet, es gebe keinen
natürlichen Tod, da es kein Altern gibt, das nicht
mit gewissen Krankheiten identisch wäre. Unser
natürlicher Tod wäre demnach ein gewaltsamer,
durch Krankheit bedingter Tod. Wenn wir unter
Krankheit eine funktionelle Abnormität des Or-
ganismus verstehen, so ist das Altern gewiß
krankhaft, wenn es nicht wäre, so könnte man
es von der Jugend gar nicht unterscheiden und
führte nicht zum Tode. Für die Funktionsabnor-
mitäten des Alterns ist eben das charakteristisch,
daß die bei verschiedenen Tiergruppen in ver-
schiedenen konstanten Zeitpunkten in stets dem-
selben Bild erscheinen und praktisch in gleicher
Weise den Tod herbeiführen. Ja es gibt ganz ob-
jektive Merkmale des alternden Organismus. Man
kann ja bekanntlich einzelne vom Organismus
entnommene Gewebe in verschiedenen Körper-
flüssigkeiten dauernd am Leben erhalten, ja sogar
zum Wachstum reizen. Nun beobachtete Ca rrel,
daß in den zum Nährboden dienenden Körper-
flüssigkeiten die Gewebe schneller wachsen, wenn
der Körperflüssigkeitsspender jung, und langsamer,
wenn er alt war. Strudelwürmer können nach
Child in verdünnter Alkohollösung gedeihen.
Junge Individuen gewöhnen sich eher an Alkohol
als alte Exemplare. Wiederherstellungsprozesse
verlaufen in jungen Individuen viel rascher und
günstiger als in alten. Wir müssen also den
natürlichen Tod als ein Endprodukt
des Alterns auffassen und annehmen,
daß die Ursachen der beiden Phäno-
mene identisch sind.
Jeder Organismus ist mehr oder weniger ein
höchst kompliziert dififerenziert-integriertes System.
Im Bereiche dieses Systems hat jedes Organ seine
bestimmte Rolle, und es wäre nicht denkbar,
daß der Organismus als Ganzes betrachtet werden
5;o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
könnte, wenn es zwischen den Teilen des lebenden
Körpers keine Harmonie gäbe. Im lebenden
Körper herrscht Harmonie, die einzelnen Teile
sind einander korreliert, es besteht im Organis-
mus eine bewundernswerte Korrelation. Wir
haben erwähnt, daß der Zelltod, also das Ab-
sterben einzelner Teile im lebenden Körper, von
der richtigen Fassung des Todesbegriffes aus-
geschaltet werden muß. Es besteht also nur die
IVIöglichkeit, den Organismus als Ganzes, als ein
Korrelat vom Standpunkt des Todesproblemes
aufzufassen, ein Gedanke, auf den schon Goette
hingewiesen hat. Die Korrelation bedarf ver-
schiedener Bahnen, die diese bewirken. Es gibt
eine physikalische Korrelation, geleistet durch das
Nervensystem, und eine physikalisch - chemische,
geleistet durch die Zirkulation. Mit der dritten
und wichtigsten Form , der rein chemischen,
werden wir uns später beschäftigen. Ich möchte
gleich hier meine Erklärung für die Todesursachen
geben und dann erst die Beweise und den er-
klärenden Wert der Hypothese besprechen. Diese
Erklärung ist sehr naheliegend, fast selbstverständ-
lich; wenn die organische Korrelation aufhört,
so hört auch der Organismus als Korrelat, als
harmonisches System auf. Einzelne Teile können
noch überleben, aber nicht im Zusammenhange
mit anderen Organen, der Organismus hört auf
ein Individuum zu sein. Also tritt der Tod ein.
Wenn die Zirkulationseinrichtungen, die die
physikalisch chemische Korrelation bewirken, ver-
sagen, was infolge eines Aderlasses bei einem
Tier geschehen kann, und wenn die anderen
korrelativen Bahnen intakt sind, so verursacht
dieser Eingriff nicht den Tod des Versuchstieres.
(Zumindest nicht infolge ihrer korrelativen Tätig-
keit.) Wenn rechtzeitig die gesamte Blutmenge
des Tieres mittels Transfusion nicht defibrinierten
Blutes ersetzt wird, so erholt sich das Tier.
Ribbert hat in einer geistvollen Abhandlung
den Tod als Gehirntod bezeichnet, d. h. der in-
dividuelle Tod beginnt dann, wenn die Gehirn-
tätigkeit aufhört. Nach unserer Auffassung liegt
hier ein Versagen der physikalischen Korrelation
vor. Ich verkenne keineswegs die Bedeutung, von
der die Nerventätigkeit für die Individualität ist,
doch glaube ich, daß bei der Beurteilung der
Ausfallserscheinungen d6s Nervensystems beson-
ders aber des Gehirnes, wie überhaupt der an-
geblichen Zentren für den Tod eine Überschätzung
vorliegt. Vor allem könnte dieser Satz nur für
die Wirbeltiere gültig sein, da bei den Wirbel-
losen das Gehirn bzw. das Zerebral- oder Ober-
schlundganglion nicht lebenswichtig ist. Dies
haben besonders die ausgezeichneten Unter-
suchungen Bethes bei den Arthropoden gezeigt.
Aber auch für die Wirbeltiere kann der Rib-
bertsche Satz keine Gültigkeit beanspruchen.
IVIeine noch unpublizierten Versuche ergaben, daß
die Tritonen ohne Gehirn lebens-, ja bewegungs-
fähig sind. Das Psychische muß natürlich bei
der Beurteilung der Todesfrage wegfallen, da wir
auch ein Tier ohne assoziatives Gedächtnis als
lebend bezeichnen müssen, da doch auch ein
großhirnloser Hund lebt. Da wir Ichgefühle nur
dem Menschen zuzuschreiben berechtigt sind,
müssen derartige Erwägungen aus dem Spiele
gelassen werden. Andererseits aber ist das Ge-
hirn nicht gar so empfindlich wie es Ribbert
meint. Mit Beihilfe der günstigen Versorgung
kann man ja die schon eingestellte Tätigkeit des
Gehirnes wieder zum Aufleben bringen. Die
Versuche von Guthrie und seinen Mitarbeitern
haben gezeigt, daß, wenn man Hunde derart ent-
hauptet, daß die Gehirne keinen Moment lang ohne
Zirkulation bleiben, nach dem Eingriff die Atem-
bewegungen und die Cornealreflexe des abgetrennten
Kopfes erlöschen. Fünf Minuten später traten Atem-
bewegungen am Kopfe auf und auch Reflexe
der Hornhaut. Nach weiteren drei Minuten konn-
ten die Experimentatoren Bewegungen der Lider
feststellen, nach 22 Minuten löste ein in das Maul
gestecktes Fleisch Schluckbewegungen aus. Nach
einer halben Minute waren diese Reflexe jedoch
nicht mehr zu konstatieren.
Wir können also die Zirkulation ebensowenig
wie das Gehirn für den Tod verantwortlich machen.
Die Ausfallserscheinungen derselben sind meist
sekundäre Todesursachen. Man könnte z. B.
nicht die Altersdegeneration des Wirbellosen-
gehirnes für den Tod verantwortlich machen, wenn
das Tier ohne Gehirn weiterleben kann.
Gibt es noch einen Typus der Korrelation?
Ja, und zwar eine solche, die auf chemischem
Wege zustande kommt. Es gibt in den tierischen
Organismen Gebilde, welche äußerst spezifische
Reizstoffe, sog. Hormone produzieren und mit
diesen Stoffen Einflüsse auf andere Organe und
auf den ganzen Organismus ausüben, daher er-
halten sie eminent wichtige Wechselbeziehungen
zwischen den Teilen des Organismus aufrecht. Wir
müssen aber diesen hormonproduzierenden Or-
ganen, den Blutdrüsen, noch eine wichtige Funk-
tion zuschreiben. Die Blutdrüsen sind ausschlag-
gebend für die Entwicklung und das Wachstum
der organischen Formen. Sie sondern Reizstoffe
ab, welche die Entfaltung somatischer Merkmale
direkt hervorrufen können. Daher kann man
manche von ihnen als wahre Wachstumsdrüsen
bezeichnen. Wir werden noch Gelegenheit haben
diese Wirksamkeit näher zu besprechen. Jetzt
müssen wir uns aber mit dem Zusammenhange
der Wachstumsprozesse im allgemeinen beschäfti-
gen. Unter Wachstum verstehen wir generell die
Zunahme der lebenden Substanz. Daß die Einfuhr
und Verarbeitung fremder Stoffe und Energien
zum Wachstum allein nicht genügt, daß muß jedem
klar sein, da der Organismus sich auch in solchem
Lebensalter, vielleicht sogar besser, ernährt, wo
keine Spur von Wachstum mehr vorhanden ist.
Das Wachstum benötigt eine innere Disposition,
welche eben die genannten Reizstoffe bedingen.
Die Hormone, welche im Gegensatz zu den
übrigen Hormonen, die nur für die physiologischen
N. F. XXI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
571
Vorgänge bestimmend wirken, somatische Merk-
male zur Entfaltung bringen, werden mit G 1 e y
als Harmozone bezeichnet. Diese Harmozone
sind notwendig zum Wachstum. Schon R u b n e r
vertrat die Ansicht, daß das Aufhören der Wachs-
tumsphänomene die eigentliche Ursache des Todes
darstellt. Diesem Satze R u b n e r s können wir
zustimmen, nur dessen Begründung nicht. Wir
sehen es nicht ein, warum die Folgen des „ein-
seitigen Prozesses" des Kraftwechsels durch das
Wachstum vereitelt werden können, ja wir wissen
nicht einmal, warum diese Folgen dem Organis-
mus vom Nachteil wären. Wir geben seinem
Satze eine viel einfachere Begründung. Bei einem
nicht mehr wachsenden Individuum ist mit dem
Ausfall der Harmozone das korrelative Gleichge-
wicht gestört. Die Einstellung gewisser Blut-
drüsenfunktionen bewirken abnorme Funktionen
anderer inkretorischer Organe, welche Störungen
dann im Bilde der Seneszenz zum Vorschein
kommen.
Nun fragt es sich aber, ob die Hypothese auf
einer gewissen Wahrscheinlichkeit beruht, ob der
Ausfall der formbildenden Reizstoffe tatsächlich
solche Veränderungen hervorrufen kann, daß er
für ein Eintreten der Seneszenz verantwortlich
gemacht werden könnte. Diese Frage können
wir nur dann lösen, wenn wir die morphogenetisch
wirkenden Organfunktionen besprechen und dann
die Ausfallserscheinungen derselben uns vergegen-
wärtigen wollen.
Die Schilddrüse ist eine der wichtigsten der
inkretorischen Drüsen. Ihr obliegt die wichtige
physiologische Tätigkeit: die Regulierung des
Stoff- und Energiewechsels, außerdem entfaltet sie
morphogenetische Wirkungen. Sie wirkt entschei-
dend auf den Verlauf der Entwicklung und des
Wachstums. Hofmeister und Eiseisberg
ermittelten es für die höheren Säugetiere, daß bei
jungen Exemplaren die Exstirpation der Schild-
drüse zur Entwicklungshemmung führt, und auch
Wachstumsphänomene derart beeinträchtigt wer-
den, daß es zu regressiven Veränderungen kommt.
Bei den niederen Wirbeltieren liegen die Verhält-
nisse genau so, auch dort ist ja die Anwesenheit
der Schilddrüse für die Entwicklung, Metamorphose
und Wachstum unbedingt notwendig. — Was ge-
schieht nun, wenn dieses Organ in seiner hormon-
produzierenden Tätigkeit gestört wird ? Wir
kennen zufällig genau eine Krankheit, die zufolge
einer ungenügenden Schilddrüsentätigkeit eintritt.
Diese Krankheit ist das Myxoedem. Die Krank-
heit äußert sich im Ausfallen der Haare und Zähne,
in dem Faltigwerden der Haut. Die Körper-
temperatur sinkt, die Schweißabsonderung ist un-
zureichend. Die Verdauung ist träge und der
Stoffwechsel stark herabgesetzt. Es tritt in den
Anfaiigsstadien der Krankheit Fettsucht und dann
eine rasche Abmagerung ein. Die Geschlechts-
organe werden atrophisch, die psychischen Po-
tenzen nehmen allmählich ab und die gesamte
Nerventätigkeit kann als herabgesetzt bezeichnet
werden. Daß dieses Bild mit dem der Seneszenz
übereinstimmt, haben schon Horsley, Lorand
und andere betont, die auch auf die gewebliche
Degeneration der inkretorischen Drüsen bei den
Alterungsprozessen hingewiesen haben. Bei der
Schilddrüse haben wir ein schönes Beispiel, wie
die physikalischen Korrelationsbahnen durch die
Störung der chemischen in Mitleidenschaft ge-
zogen werden können, daß die Veränderung des
Nervensystems bei dem Altern auch eine sekun-
däre sein kann. Der Kretinismus ist auch auf
eine Hypofunktion der Schilddrüse zurückzuführen.
— '- Auch die Nebenschilddrüsen sind lebenswichtige
Organe, die wahrscheinlich eine ähnliche Rolle
wie diese haben.
Die Thymus ist im intrauterinären Leben und
im frühesten Kindesalter ein lebenswichtiges,
morphogenetisch wirkendes Organ. Wenn man
bei I — 3 Wochen alten Tieren die Thymus ent-
fernt, so tritt eine Entwicklungshemmung des
Knochengerüstes ein, es kann auch Muskelatrophie
erfolgen. Mit dem Beginn der Keimdrüsentätigkeit
bedarf der Organismus nicht mehr der Briesel-
funktion und sie wird auch involviert. Interessant
und beweisend für das notwendige Hormongleich-
gewicht im Körper ist die Tatsache, daß, wenn
die Thymus sich nicht zurückbildet (Thymus
persistens), unter Umständen ein plötzlicher Tod
(mors thymica) eintreten kann. — Daß der Briesel
auch ein physiologisch wichtiges Organ darstellt,
zeigt die Tatsache, daß mittels Injektion von
Thymus-Extrakten die Muskelermüdung aufge-
hoben werden kann. (H. Müller, Del Campo.)
Der Gehirnanhang (Hypophyse) reguliert bei
sämtlichen Wirbeltieren die Entwicklung des
Binde-, Knorpel- und Knochengewebes. Die Ent-
fernung des Gehirnanhanges bewirkt regressive
Entwicklung. Von der Bedeutung, die der Hypo-
physe für das Wachstum zukommt, überzeugen
uns am besten Fälle, bei denen wir es mit der
Überproduktion der Hypophysenhormone zu tun
haben. Dabei kommt es nämlich im frühesten
Alter zu einem wirklichen Riesenwuchs (Gigan-
tismus) , in späteren Lebensperioden zur Ver-
größerung des Unterkiefers und der Gliedmaßen
(Akromegalie oder Pachyakrie). Bei dem Zwerg-
wuchs (Nanismus) werden wir es vermutlich mit
der Hypofunktion des Gehirnanhanges zu tun
haben. Als eine interessante Tatsache sei er-
wähnt, daß der magyarische Paläontologe Freiherr
V. Nopcsa auch die riesenhafte Körpergröße
und das Aussterben der Dinosaurier mit der
Überfunktion des Gehirnanhanges in Zusammen-
hang bringt. Seiner Ansicht nach deutet die
ungewöhnliche Größe der Knochengrube an der
unteren Schädelbasis dieser Saurier auf eine Hyper-
plasie der Hypophyse. Da diese Abnormität erb-
lich ist, wird auch das rasche Untergehen der
Dinosaurus-Gattungen versländlich.
Die Nebennieren sind eminent lebenswichtige
Organe, deren Entfernung bei den meisten Tier-
arten den Tod zur Folge hat. Auch die Neben-
572
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
niere nimmt mit ihren Lipoidstoffen unter den
morphogenetisch wirkenden Blutdrüsen einen vor-
nehmen Platz ein. Außerdem obliegt ihr die
Regulierung des Tonus der Gefäßwände und da-
mit des Blutdruckes. Nun ist jetzt schon eine
allgemein bekannte, in allen Lehrbüchern zitierte,
hauptsächlich von J o s u e entdeckte Tatsache, daß
Nebennierenmarkextrakte (Adrenalin) eine typische
Verkalkung, Atherosklerose hervorrufen können.
Es liegt daher sehr nahe, anzunehmen, daß die
für das Altern so charakteristische
Atherosklerose einer Nebennierendys-
funktion ihr Dasein verdankt.
Außerdem muten wir noch den Nebennieren
eine sehr wichtige, für die Seneszenz äußerst ver-
hängnisvolle Funktion zu : die Regulierung des
Pigmentstofifwechsels. Schon M ü h 1 m a n n gab
seiner Ansicht Ausdruck, daß die Nebennieren
den Tyrosinstoffwechsel beherrschen. Tyrosin ist
ein Chromogen, ein Farbbildner, der mit Zusatz
eines oxydativen Fermentes, der Tyrosinase, als
Niederschlag ein melanolisches Pigment gibt. Nun
gibt es Ansichten, nach denen Adrenalin aus
Tyrosin entstehen kann, wir benötigen aber diese
Ansicht ja gar nicht, da Tryptophan, ja auch der
wichtigste Bestandteil der Nebenniere, Adrenalin,
als Muttersubstanzen des melanotischen Pigments
dienen können, wie dies von Meirowsky, Neu-
berg, Jager u. A. gezeigt worden ist. Diese
fanden nämlich in dem menschlichenlntegument und
in Melanosarkomen ein Ferment, welches nicht das
Tyrosin, sondern das Adrenalin zu einem dunklen
Farbstoff oxydierte. Die Addisonsche Krankheit,
die sich auch in einer dunklen Verfärbung der
Haut (bronced skin) äußert, beruht auf einer
Hypofunktion der Nebenniere. (Übrigens hat
auch diese Krankheit viel Ähnlichkeit mit den
Alterungssymptomen.)
Für den Vorgang des Alterns ist die pigmen-
töse Degeneration des Nervensystems sehr charak
teristisch. Schon Mü hl mann betonte, daß das
Alterspigment tyrosinogen sei, wir möchten hin-
zufügen, höchstwahrscheinlich epinephrogen.
Es widerspricht nicht den bisherigen Erfahrungen,
wenn wir annehmen, daß die Entstehung des
Alterspigmentes genau so, wie die Haut Verfärbung
auf unrichtiger Pigmentregulation durch die Neben-
niere beruht.
Die Pigmentdegeneration im Altern ist eine nicht
bloß auf die Wirbeltiere beschränkte Erscheinung.
Harms und andere haben gefunden, daß für die
Würmer und Arthropoden ungefähr dasselbe gilt.
Die degenerativen Prozesse überfallen am deut-
lichsten das Nervensystem, was uns ja nicht
wundern kann, wenn wir uns vor Augen halten,
daß die Adrenalinproduzenten echte Paraganglien
sind, welche aus den Sympathogonien sich ent-
wickeln. Außerdem besteht zwischen Nerven-
system und Blutdrüsen eine innige Beziehung,
wir kennen Fälle, wo die Hormon Wirkung nur
via Nervensystem zur Geltung kommen kann.
Harms hat vor kurzem eine sehr bedeutsame
Entdeckung gemacht. Er fand bei Würmern
(Gephyreen) eine nebennierenähnliche Blutdrüse:
das Internephridialorgan, dessen Exstirpation oder
Hypofunktion vollkommen den Symptomen der
Addisonschen Krankheit ähnelt. Die Haut solcher
der genannten Blutdrüse beraubten Tiere wird
grau, dann pechschwarz. Das Organ ist lebens-
wichtig, die dauernde Abwesenheit führt zum
Tode. Haben wir hier nicht Beweise für die
Möglichkeit des Zustandekommens der pigmen-
tösen Altersdegeneration geleistet durch die Neben-
niere auch bei den Wirbellosen ? Ist da nicht eine
Übereinstimmung zwischen Evertebraten und
Vertebraten zu konstatieren? Die Afunktion des
Adrenalinproduzenten führt bei allen untersuchten
Tieren zur Pigmentanhäufung.
Wir haben in diesen morphegenetischwirkenden,
lebenswichtigen Organen Systeme kennen gelernt,
die eminent lebenswichtig sind , deren Ausfall
typische Cachexie- und Comaerscheinungen her-
vorruft. Es ist nicht zu leugnen, daß
diese Cachexie erscheinungen der Alters-
cachexie ähneln.
Nun wäre noch ein Organ zu besprechen, das zwar
imstande ist, morphogenetische Prozesse hervor-
zurufen, dessen Ausfall aber keine Cachexie bewirkt,
also nicht lebenswichtig ist. Dieses Organ ist die
Keimdrüse. Die Entfernung der Keimdrüse, die
Kastration, bewirkt zwar Veränderung im Habitus,
aber keine Hemmung des Wachstums. Sie ist so
wenig lebenswichtig, daß bei den Pflanzen mittelst
Kastration sogar eine Verlängerung des Lebens
erzielt werden kann.
Und gerade bei dieser Drüse ist es Steinach
gelungen, durch die Neubelebung derselben im
alten Organismus einen gewaltigen Aufblühungs-
effekt hervorzurufen. Der Effekt wäre gar nicht
verständlich, wenn wir es nicht wüßten, daß
zwischen allen Blutdrüsen ein inniger Zusammen-
hang besteht, daß durch die Überproduktion einer
die anderen auch in Hyperfunktion geraten können.
So kann z. B. bei der Akromegalie nicht nur eine
Hyperfunktion der Hypophyse, sondern auch der
Schilddrüse, des Thymus und der Keimdrüse
festgestellt werden. Genau so verhält sich die
Keimdrüse in bezug auf andere inkretorische Or-
gane.
Immerhin bleibt noch die Frage offen, wie
wir bei der Anwendung unserer Hypothese die
zum Tode führenden Prozesse, nämlich den Weg-
fall der Harmozone beseitigen können. Den Weg
hat Steinach angebahnt. Die Keimdrüse hat
sicher einen Einfluß auf die Arbeitsleistung des
Körpers, das haben die ergographischen Versuche
von Zoth gezeigt. Sind aber keine anderen Or-
gane da, dessen Substitution auf Grund unserer
Hypothese dies besser leisten könnten.?
Da sind die Harmozonproduzenten, deren Ver-
sagen nach dem Stillstehen des Wachstums auch
in anatomischen Veränderungen ausgeprägt ist.
Das ist ja der Gedanke Bütschlis, der die Ur-
sache des Todes in einem allmählichen Verbrauch
N. F. XXI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
573
(wir sagen Ausbleiben) der zum Leben notwendi-
gen Fermentstoffe erblickte. Wir müssen daher
die Harmozone dem alternden Organismus zurück-
geben, damit das korrelative Gleichgewicht nicht
gestört werde. Die Substitution der Schilddrüse
mittels Transplantation jungen Thyreoideal-
gewebe (die bei Basedow- Kranken in genügender
Anzahl entfernt wird und daher zur Verfügung
steht) könnte nach unseren Anschauungen das
korrelative Gleichgewicht wiederherstellen. Ebenso
könnte man Fall zu Fall mit anderen jugendlichen
funktionstüchtigen Blutdrüsen experimentieren.
Es besteht die Hoffnung nach anderen Versuchen,
daß nach der Überpflanzung selbst das bisher trag
oder gar nicht funktionierende Organ zur ge-
steigerten Tätigkeit gereizt werden könnte. Dies-
bezügliche Tierversuche werde ich zur Befestigung
meiner Hypothese in der nächsten Zukunft aus-
führen.
Nun gäbe es noch einige Fälle zu be-
sprechen , die den erklärenden Wert der Hypo-
these noch mehr demonstrieren. So wäre es zu-
nächst noch zu bemerken, daß bei den Einzelligen
gerade die Störung der Kcrnplasmarelation , also
eine Störung der Korrelation, den Tod, bzw. die
Zellteilung hervorruft.
Auch die Befunde von Carrel können von
unserem Standpunkte erklärt werden : in der
Körperflüssigkeit des jungen Spenders sind Har-
mozone anwesend, die nur ihre wachstumsfördernde
Wirkung äußern.
Weiter fragt es sich, auf welche Art und
Weise können wir nach unseren Anschauungen
die Abnahme bzw. das Ausbleiben der Reparations-
prozesse im Alter erklären ? Gerade hier sind
wir imstande den erklärenden Wert unserer Hypo-
these am besten zu demonstrieren. Walt her
hat nämlich ermittelt , daß bei den Tritonen die
Exstirpation der Schilddrüse eine Unfähigkeit zur
Regeneration verursacht. Es ist somit klar, daß
die Hypofunktion der Thyreoidea eine Abnahme
der Restitutionsfähigkeit, die Afunktion dieser
Blutdrüse das gänzliche Aufhören des Ersatz-
wachstums bedeutet.
Man macht und mit Recht für manche Alters-
veränderungen Vergiftungsprozesse, Intoxikationen
verantwortlich. D. h., daß die Exkretionsapparate
die anhäufenden giftigen Produkte, nicht im not-
wendigen Maße ausscheiden können. Das erklärt
sich zwanglos aus unserer Hypothese. Schon
Wiesel, Schur, Darre, Parisotu. A. haben
darauf hingewiesen, daß die Dysfunktion der
Nebenniere schwere Nierenschädigungen verur-
sacht. In neuester Zeit aber haben Marschal
und Davis entdeckt, daß bei der Exstirpation
der Nebennieren die exkretorische Tätigkeit der
Nieren stark herabgesetzt wird. — So erklärt sich
die Intoxikation aus dem Wegfall der Hormone.
Gegen Diabetes ist der jugendliche Organismus
viel weniger widerstandsfähig als der alte. Nun
ist aber ermittelt worden, daß der Wegfall der
Schilddrüsenhormone die Bauchspeicheldrüse (deren
Erkrankung für den menschlichen Diabetes ver-
antwortlich gemacht wird) zur gesteigerten Funk-
tion reizt.
Die kleinen Verschiedenheiten in der Morpho-
genese der beiden Geschlechter werden auch da-
durch verständlich, daß die Nebennieren, wie das
K o 1 m e r ermittelte, echte sekundäre Geschlechts-
merkmale darstellen und daß die wichtigste Blut-
drüse, die Schilddrüse, bei den beiden Geschlech-
tern von verschiedener Größe ist.
Die Abnahme der psychischen Fähigkeiten er-
klärt sich auch aus dem Wegfall der Schilddrüsen-
hormone.
Man könnte aber zum Schlüsse fragen, ja,
warum hört plötzlich die Harmozonproduktion
und damit das Wachstum auf?
Auf diese Frage kann ich eine Antwort geben,
die mir plausibel scheint und das fußt auf den
Ideen Boltzmanns und Hasenöhrls. Boltz-
mann hat bekanntlich die Entropie als einen
Übergang vom unwahrscheinlicheren Zustande
in das Wahrscheinliche definiert. Hasenöhrl
fragte nun: daß sich in einem nach Außen abge-
schlossenen Quantum Wasser und Luft aus einem
Samen eine Pflanze bildet, ist das ein Übergang
vom Unwahrscheinlichen ins Wahrscheinliche ?
Nein, es scheint uns dies von vornherein ein
Übergang von Wahrscheinlichem zu Unwahr-
scheinlichem. Ich möchte noch hinzufügen:
Ist die wunderbare Harmonie des Körpers,
das Hormongleichgewicht und die daraus resul-
tierenden morphogenetischen Prozesse nicht et-
was höchst unwahrscheinliches? Die geringste
Störung muß wieder zum Zustande der Wahr-
scheinlichkeit führen. Das Unwahrscheinliche muß
zusammenbrechen, um in einem wahrschein-
licheren Zustande übergehen. Die Lebensdauer
wäre mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung be-
stimmbare Zeit, die sich aus der Dauerfahigkeit
der Harmozonproduzenten und des Hormon-
gleichgewichtes ergibt.')
Natürlich ist diese Hypothese nur ein Versuch
bekannte Tatsachen zu erklären und sie führt
sicherlich nicht zur Befriedigung. Aber gerade
das ist das Schöne an_ der Forschung, daß man
immer deutlicher bemerkt, wie wenig wir wissen
und wieviel zu erschließen ist, daß man mit Re-
sultaten nie zufrieden sein kann, daß gerade dies
der Wissenschaft die Ewigkeit sichert, der Wissen-
schaft, die nach den schönen Worten v. Baers
„ewig in ihren Quellen, unermeßlich in ihrem
Umfange, endlos in ihrer Aufgabe, unerreichbar
in ihrem Ziele ist" (zit. nach Nusbaum).
') Dieser Satz soll nicht etwa als ein Ausgleich mit den
Abnützungshypothesen aufgefaßt werden. Unserer Meinung
nach handelt es sich hier um eine nachweisbare Wechsel-
beziehung zwischen inneren und äußeren Kaktoren. Die Rück-
bildung der Thymus wird durch die beginnende Keimdrüsen-
inkretion verursacht, und da die Blutdrüsen größtenteils emp-
findliche Epithelien sind, ist ihre Abhängigkeit von schäd-
lichen Aufienfaktoren (Hitze usw.) eine ziemlich große.
574
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
Die Eutstehuug der diluvialen Kalktuffe des Ilmtales bei Weimar.
[Nachdruck verboten.) Von Dr. Frit
Als vom 4. — 6. August d. J. in Weimar der
Verband Deutscher Vorzeitforscher tagte, standen
im Vordergrunde des wissenschafthchen Interesses
die zwischeneiszeitlichen Kalktuffe von Weimar —
Taubach — Ehringsdorf mit ihrer Fülle von pflanz-
lichen und tierischen Versteinerungen, unter denen
die beiden 1914 und 1916 im Kämpfeschen Stein-
bruch gefundenen menschlichen Unterkiefer die
größte Bedeutung haben, und ihrem Reichtum an
Feuersteinwerkzeugen der Altsteinzeit, die Ehrings-
dorf zur wichtigsten altvorge>-chichtlichen Fund
Stätte Norddeutschlands machen. Geschlagene
Feuersteine waren zwar in den Kalktuffbrüchen
von Taubach schon seit den 70 er Jahren bekannt,
aber erst der Abbau in den Ehringsdorfer Brüchen
ergab die wunderschönen Sammlungen wirklich
bearbeiteter Werkzeuge, die durch das Entgegen-
kommen der Steinbruchsbesitzer in ihrer Gesamt-
heit als dauernde Leihgabe an das Naturhistorische
Museum zu Weimar kamen und dieses damit zu
einer der wichtigsten Stätten deutscher prähisto-
rischer Forschung machten.
Über die Entstehung der Kalktuffe, die diese
wertvollen Schätze bergen, herrscht vielfach noch
wenig Klarheil, so daß es mir lohnend erscheint,
den Inhalt meines Vortrages, gelegentlich der
Führung der Teilnehmer des Verbandes Deutscher
Vorzeitforscher nach Ehringsdorf, weiteren Kreisen
zugänglich zu machen.
Unter „Kalktuff" versteht man einen meist
porösen, lockeren an der Oberfläche der Erde
gebildeten Süßwasserkalk (in Italien lapis tibur-
tinus = Tibergestein genannt, woraus der auch in
Deutschland gebräuchliche Ausdruck „Travertin"
geworden ist), während die in Höhlen, also im
Innern der Erde durch Verdunstung kalkhaltigen
Wassers entstandenen dichten Kalkausscheidungen
(Tropfsteine u. a.) als „Kalksinter" bezeichnet
werden. „Seekreide und Wiesenkalk" dagegen
sind Kalkabsätze am Grunde von Seen oder
flachen Gewässern, also in ihrer Entstehung und
Struktur grundsätzlich verschieden von dem Kalk-
tuff, der ein Absatz aus Quellwasser ist. Wenn
demnach früher die Ansicht verbreitet war, daß
die Ilmtalkalktuffe in einem großen See ent-
standen wären, so ist diese Deutung schon aus
petrogenetischen Gründen völlig irrig, weil dann
Seekreide hätte entstehen müssen, in der sich
ausschließlich die Reste von Wassertieren und
■pflanzen vorgefunden hätten. Da wir außerdem
wissen, daß am Grunde der Kalktuffe grobe
Schotter einer eiszeitlichen Um liegen, also ein
durchgehendes ehemaliges Flußtal vorhanden war,
so hätte zuerst eine Sperrmauer von etwa 20 m
Höhe bei Weimar aufgerichtet werden müssen,
um das Ilmwasser so hoch aufzustauen, daß sich
ein 16 — 18 m mächtiges Kalktufflager in dem
entstandenen Stausee hätte bilden können. Solche
z AViegers.
Werke der modernen Technik aber hat der
Neandertaler noch nicht gebaut.
Die richtigen Hinweise für die Erklärung der
Bildung des Kalktuffes geben uns die Pflanzen
und Tiere, die in ihm erhalten geblieben sind,
und die allgemeine geologische Lagerung. Die
Ufer der diluvialen Um werden gebildet von den
Schichten des Muschelkalks, auf den sich nach
Norden zwischen Taubach, Umpferstedt und Tie-
furt der Untere Keuper auflegt. Das Ilmtal selbst
ist aber kein reines Erosionstal, das der Fluß sich
ausgenagt hat, sondern es ist ein sogenannter
„Graben",') der dadurch entstanden ist, daß ein
ungefähr i km breiter Streifen des Geländes um
etwa 120 m in die Tiefe gesunken ist, wodurch
die weichen Mergel des Mittleren Keupers in
gleicher Höhe neben die harten Bänke des Oberen
Muschelkalks gelagert wurden. In diesen weichen,
wenig widerstandsfähigen Mergel nagte sich die
Um ihr Bett und lagerte während der zweiten
Eiszeit eine Schotterterrasse aus bis faustgroßen
Thüringerwaldgesteinen ab, die mit wenigen nor-
dischen Gesteinen vermischt sind. Hierauf folgt
zunächst eine 0,5 m mächtige grünliche Ton-
schicht, entstanden bei den Überschwemmungen
des Flusses, wie noch unser heutiger Eibschlick
bei regelmäßig eintretendem Hochwasser aus der
tonigen Flußtrübe sich niederschlägt. Über dem
Ton liegt der Kalktuff.
Durch die Einsenkung des Ilmgrabens und die
dadurch veränderte Lagerung der Schichten folgte,
daß die wasserdurchlässigen klüftigen Kalke des
Oberen Muschelkalks in der Horizontalen un-
mittelbar gegen die undurchlässigen tonigen Mer-
gel des Mittleren Keupers stießen. Da auch der
Mittlere Muschelkalk tonig ausgebildet ist, so
mußte sich über ihm ein Grundwasserhorizont
ansammeln, dessen Wasser schließlich in einer
Reihe von „Verwerfungsquellen" längs der Ver-
werfungsspalte zum Überfließen kam. Dieses
Wasser hatte beim Durchsickern des Oberen
Muschelkalks eine Menge Kalk gelöst und zwar
in der Form des doppeltkohlensauren Kalkes
Ca(Co^)^, den es nun beim Überrieseln der Ilmaue
wieder abgab, sobald die Pflanzen durch Entnahme
von einem Molekül Kohlensäure, die Lösungs-
fähigkeit des Wassers soweit vermindert hatten,
daß ein einfachkohlensaurer Kalk ausfiel. Als
feststehende Tatsache muß also zunächst gelten,
daß Quellen die erste Ursache der Entstehung
des Kalktuffes sind. Nun haben sich an organi-
schen Einschlüssen in ihm zahlreiche Pflanzen-
und Tierreste gefunden , die auf die biologischen
Entstehungsbedingungen Licht werfen. B.
') P. Michael, Die Ilmtalslörung bei Weimar. Jahr-
buch der Geolog. Landesanstalt 1916, Bd. 37, I, S. 415 — 442.
3 Taf.
N. F. XXI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
575
Hergt') hat die Flora des Travertins be-
schrieben und 41 Arten bestimmt. Wenn wir
die Liste überfliegen, so finden wir eine sehr
gemischte Gesellschaft, nämlich Wasserpflanzen,
Sumpfpflanzen und Landpflanzen. Wasserbe-
wohner sind die Grünalgen (Conferven) und die
Armleuchtergewächse (Chara hispida L.), die am
Grunde von flachen Teichen 25 — 30 cm hohe
Unterwasserwiesen bilden. Von den Moosen leben
das Ouellenmoos (Fontinalis antipyretica) und
das flutende Astmoos (Hypnum fluitans) im Wasser,
während das Kranzastmoos (Hypnum triquetum)
meist an trockenen waldigen Stellen , aber auch
auf Wiesen vorkommt. Schachtelhalm, Schilf
(Phragmites communis), Wasserschwaden (Glyceria
aquatica), Minze u. a. sind ausgesprochene Sumpf-
pflanzen, ebenso wie die verschiedenen Weiden-
arten (Salix caprea und S. aurita) und die Schwarz-
erle am Rande der Gewässer wachsen. Dagegen
sind Birken, Hasel, Eichen, Linde, Ahorn, Hart-
riegel, Walnuß, Wilder Apfel, Mehlbeere (?), Hecken-
rose, Lebensbaum, Fichte und Kiefer Waldbäume
und -Sträucher, die z. T. sehr trockene Böden
vorziehen, wie auch das felsenbewohnende Bart-
moos (Barbula muralis). Von der Kiefer sind
zahlreiche Zapfen und Nadeln, so wie auch ein
ganzer benadelter Zweig gefunden worden, und
sehr häufig sind die Blattabdrücke des Hasel-
strauches; die anderen Pflanzen sind seltener.
Bemerkenswert sind 2 Abdrücke von Hagebutten
(Rosa canina) und die in Ehringsdorf gefundenen
Platten mit Abdrücken von Äpfeln. Sehr be-
zeichnend ist ferner, daß sich sowohl der Keim-
ling einer dikotylen Pflanze, wie Reste ganzer
Baumstämme, sowie ein Stück vielleicht zu Betula
gehöriger Rinde im Kalktuff erhalten haben und
A. Weiss-) erwähnt aus dem Hirschschen Stein-
bruch bei Weimar aufrecht stehende Baumstämme,
leider ohne Angabe, was es für Bäume waren,
und aus welcher Schicht sie stammen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die
genannten Pflanzen sämtlich bodenständig waren,
und daß sie nicht durch Einschwemmung in die
vorhandenen Teiche gekommen sind. Nach He r g t
geben die Platten mit dem Pomaceen - Früchten
, .vollständig das Bild des unter der Baumkrone
befindlichen schlammigen Bodens wieder, in den
die herabfallenden Früchte sich eindrückten. Die
eine Platte enthält über 50 solcher Eindrücke von
Früchten mit bis zu 3,5 cm großem Durchmesser;
einige Abdrücke zeigen mehr oder minder deut-
lich das Kerngehäuse". ■ —
Der Kalktuff tritt uns in den Brüchen in drei-
facher Form entgegen : Als fester Kalkstein (Werk-
bankkalkstein), als poröser Kalkstein und als
pulvriger Kalkstein (Scheuer-, Tuff- oder Knochen-
sand); er ist bald dickbankig, bald dünnplattig,
schwach geneigt nach der Um; die Schichten
') B. Hergt, Die Flora der Travertine von Weimar und
Ehringsdorf. Weimar 19 12.
^) A. Weiss, Das Pleistozän der Umgegend von Weimar.
Hildburghausen.
keilen meist linsenförmig aus. Wir finden alle
Übergänge vom festen, harten Kalkstein bis zum
losen Kalksand ; die harten Werksteinbänke sind
häufig von Schilfstengeln durchzogen und Schilf
wächst mit Vorliebe am Rande flacher Gewässer.
Nun wissen wir aus den Untersuchungen von
S. Passarge, ^) daß in den Schilfregionen unserer
Seen die Algen eine große Rolle spielen und zwar
die Spaltalgen, Schizophyceen (Nostoc-Arten) und
die Grünalgen (Confervoideen), denen eine starke
kalkabscheidende Tätigkeit zukommt, wodurch die
Zwischenräume zwischen den inkrustierten Stengeln
höherer Pflanzen ausgefüllt werden.
Man könnte sich also vorstellen, daß die
Schilfzone eines Teiches durch allmähliche Inkru-
stierung mit Kalk in einen zunächst weichen und
lockeren Kalktuff umgewandelt würde, in dem die
im Wasser lebenden Schnecken ebenfalls einge-
bettet werden. Dieser Annahme steht aber die
Tatsache entgegen, daß die Pflanzensubstanz des
Schilfs und der Algen, wenn sie unter Wasser
verwest, Humussäuren bildet, die den Kalk durch
Bildung von Kalkhumaten in Kalkschlamm um-
wandelt und daß auch die Molluskenschalen, die
im Kalktuff in schönen dickwandigen Exemplaren
enthalten sind, durch die Humussäuren stark zer-
setzt oder ganz zerstört werden. Ebeilfeo verhält
es sich mit dem CharaRasen, der von einem
dichten Netz von Algen übersponnen ist. Trotz-
dem die Charen ihre Stengel mit einer dicken
Kalkkruste überziehen , wird diese durch die
Humussäuren völlig in einen weichen, weißlich-
gelblich-grauen Schlamm umgewandelt. Im Ilmtal
aber ist ein lockerer oder nur schwach verkitteter
Kalksand, der als „Scheuersand" verkauft wird
und kein Charenschlamm vorhanden. Es muß
daher die Bildung des Kalktuffs unter wesentlich
anderen Umständen vor sich gegangen sein, als
sich in den Seen die Bildung von Kalkablagerungen
vollzieht. Es darf vor allem keine Bildung der
Humussäuren und Quellsatzsäuren stattgefunden
haben, da durch diese sämtliche Inkrustierungen
wieder zerstört und die Bildung von Abdrücken,
von Blättern und Stengeln unmöglich gemacht
wird. Die pflanzliche Substanz darf nicht unter
Wasser in Humus, bzw. Humussäuren umgewan-
delt, sondern sie muß an der Luft gasförmig ver-
west sein, so daß sich die Krusten und Abdrücke
erhalten konnten.
Ich stelle mir die Entstehung des Kalktuffs
daher so vor: Von dem etwa 3 km langen Quell-
horizonte von Weimar bis Belvedere floß das
Wasser zunächst in schmalen Rinnsalen den steilen
tonigen Hang hinunter und bildete dann in der bis
40 m tiefer gelegenen Ilmaue kleine flache Quell-
teiche, in denen Grünalgen, Charen und Wasser-
moose wuchsen, und deren Ränder mit Schilf,
Wasserschwaden, Minze, Weiden und Erlen umsäumt
') S. Passarge, Die Kalkschlammablagerungen in den
Seen von Lychen, Uckermark. Jahrb. d. Geol. Landesanstalt
1901, Bd. 22, S. 99-^-152. I Taf.
576
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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waren. In nassen Jahreszeiten überrieselte es auch
die mit Wald und Gebüsch bestandene Aue, die
in trockenen Jahreszeiten für den Menschen durch-
aus bewohnbar war. Alle Pflanzen, die von dem
Wasser überrieselt wurden, entzogen ihm Kohlen-
säure, so daß sich auf ihren Blättern und Stengeln
Kalk niederschlug, der auch die im Herbst zu
Boden gefallenen Blätter und Früchte überkrustete,
wodurch langsam, Schicht auf Schicht, ein Lager
von Pflanzenkalken entstand. Dadurch, daß die
Tümpel und Teiche verlandeten und sich an an-
deren Stellen wieder neu bildeten, erklärt sich
das gemeinsame, d. h. eigentlich neben- oder über-
einander Vorkommen von Land- und Wasser-
pflanzen, von Land- und Was^erschnecken, zu-
sammen mit Wirbeltieren, Resten des Menschen,
seiner Werkzeuge und seiner Feuerstätten.
Nach A. Weiß überwiegen unter den Con-
chylien die Wasserschnecken; die Gehäuse der
Landschnecken sind aber nicht, wie Weiß meint,
als Geniste angeschwemmt , sondern die Tiere
haben auf den die Quellteiche umsäumenden
Sumpfflanzen gelebt, zwischen denen auch das
grünfüßige Rohrhuhn (Gallinula chloropus), die
Wildente (Anas boschas) und der Lappentaucher
(Colymbus sp.) nisteten; auch der Biber hat
die Teiclfe gelegentlich aufgesucht, wenngleich
sein eigentlicher Standort wohl die Um selbst
gewesen ist.
Neben Wasserschnecken, die für Quellteiche
und kleine Seen charakteristisch sind, wie die
massenhaft vorkommende Belgrandia marginata,
die vielen Planorben, Lymnäen, Bithynien, Val-
vaten und Pisidien, kommen zahlreiche Land-
schnecken vor, wie Hyalinen, Heliciden, Clausilien,
Succineen, Pupen u. a., von denen Pupa muscorum
und Buliminus (Chondrula) tridens u. a. nur an
trockenen Standorten leben. Das alles spricht
ebensosehr gegen eine einheitliche Entstehung
der Tuffe im Wasser, wie die Pflanzenwelt und
der so außerordentlich wechselnde Gesteins-
charakter der Schichten selbst. Weiß konnte
in einzelnen Brüchen bis zu 33 verschiedene mit-
einander wechselnde Schichten unterscheiden, die
eine Mächtigkeit von i cm bis über 4,5 m be-
saßen.
Eingelagert sind im grauen Kalktuff dünne
schwarze humose Schichten und mehrere bräun-
liche Tonschichten, von denen die mächtigste
(0,5 — I m) unter dem Namen „Pariser" bekannt
ist. Sie wurde nach Weiß von dem verstorbenen
Finanzrat Dr. Herbst in Weimar schon vor 1860
als „poröser Kalktuff" bezeichnet, woraus die Ar-
beiter den Namen „Pariser" gemacht haben. Diese
Tonschicht ist stellenweise so kalkreich, daß der
Kalk in Form von Kalkknauern chemisch wieder
ausgeschieden ist, die gelegentlich so zahlreich
auftreten können, daß sie den Ton fast verdrängen.
Der Pariser ist kein durchgehender Horizont; er
ist im Kämpfeschen Steinbruch in Ehringsdorf
gut entwickelt, keilt aber seitlich aus, und ich
bin der Ansicht, daß zeitweise größere flache
Wasserbecken vorhanden waren, denen die Quellen
von der Höhe so lange toniges Material von ver-
wittertem Muschelkalk zuführten, bis die flachen
Wasserbecken ausgefüllt waren, und die normale
Kalktuffbildung wieder einsetzte. Der Pariser
trennt den Kalktuff in zwei ungefähr gleich mäch-
tige Teile; während der untere Teil ziemlich frei
von fremden Beimengungen ist, enthält der obere
in Ehringsdorf häufig große Mengen von runden,
ei- bis faustgroßen Gerollen von Quarziten und
porphyrischen Gesteinen, die durch Regenwasser
von den Höhen heruntergespült sind.
Die dünnen humosen Schichten , die von
manchen Autoren irrtümlich für Kulturschichten
gehalten wurden, stellen normale Toif oder
Humusbildiingen dar, in denen neben Valvata
cristata, die in stehenden Gewässern und Sümpfen
lebt, vor allem Landschnecken massenhaft vor-
kommen, und zwar Carychium minimum, Xero-
phila striata und Buliminus tridens, von denen
die letzten beiden ausgesprochen trockene Orte
bewohnen.
Als weitere Voraussetzung für die Kalktuff-
bildung ist mithin anzunehmen, daß die Quellen
nicht dauernd in gleicher Stärke flössen, sondern
daß sie in den warmen Jahreszeiten versiegten
und die Quellteiche austrockneten. Dann konnten
die Pflanzen an der Luft verwesen, während die
Kalkkrusten erhalten blieben, ohne in Schlamm
umgewandelt zu werden ; die Charenstengel
brachen ab und ihre Bruchstücke bedeckten den
Boden mit einer Schicht von Kalksand; der
Mensch konnte auf den ausgetrockneten Teich-
böden hausen und seine Lagerfeuer brennen, bis
in der feuchten Jahreszeit die Quellen die Teiche
wiederfüllten. Hätten die Quellen eine größere
Stärke und eine Sommer und Winter gleich-
bleibende Wasserfülle gehabt, wie die auf der-
selben Verwerfungsspalte westlich Weimar ent-
springende Lottenquelle oder die auf einer anderen
nördlich gelegenen Verwerfungsspalte entsprin-
genden beiden starken Quellen, die als Leutra
und Papierbach der Um zufließen, so hätten sich
aus den Quellen ebenfalls Bäche entwickelt, und
es wäre trotz des Kalkgehaltes ebensowenig zur
Bildung von Kalktufflagern gekommen, wie am
heutigen Lotten , Leutra- und Papierbach. Der
Unterschied in den Quellen liegt darin, daß diese
als aufsteigende Verwerfungsquellen aus großer
Tiefe kommen, während die „Kalktuffquellen" ab-
steigende Verwerfungsquellen waren, deren Stärke
von der Menge der jährlichen Niederschlagsmengen
abhängig war.
Heß von Wichdorf') hat 1912 zuerst auf
die Ähnlichkeit der Thüringer Kalktuffe mit re-
zenten Quell- und Gehängemooren aufmerksam
gemacht, die er in Ostpreußen und Pommern be-
obachtet hatte. Diese Moore bestehen „aus einer
') Heß von VVichdorf: Zur weiteren Kenntnis der
Quellmoore in Norddeulschland. Jahrb. der G. L. A. 1912,
Bd. 33, II, S. 319— 34I1 H Abb.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Wechselfolge von Bänken erdigen, feinstengeligen
Kalktuffs und Schichten von Humus und kalktuff-
reichen Riedbodens". Im Kalktuff, wie in den
Riedböden fanden sich gelegentlich starke Baum-
stämme und Stubben von Kiefern und Birken
bzw. Erlen, ferner zahlreiche Haselnußfrüchte.
Die Molluskenfauna der Quellmoore setzte sich
aus 18 Arten Landschnecken, 5 .'\rten Süßwasser-
Schnecken und 2 Arten Süßwassermuscheln zu-
sammen, von denen die letzten in den kleinen
Moortümpeln gelebt haben. Wichtig ist für den
Vergleich unseres Kalktuffs mit den Mooren, daß
auch in letzteren Wachstumszonen bzw. Trocken-
stadien mit einer Baum- und Strauchflora fest-
gestellt werden konnten, im übrigen sind aber
doch noch erhebliche Unterschiede in der Ent-
stehung beider Bildungen vorhanden.
Die Tuff- oder Knochensande der unteren
Kalktuffschichten sind die Hauptfundschichten der
Säugetiei^reste, unter denen das Merckische Nas-
horn, der Altelefant, Reh, Hirsch, Riesenhirsch,
Pferd, Bison, Wildschwein, Höhlenlöwe und Höhlen-
hyäne zu nennen sind. Von der allergrößten Be-
deutung aber sind die Funde vom Menschen. Der
Backenzahn eines Erwachsenen , der Milchzahn
eines 9jährigen Kindes von Taubach und einige
Schädelknochen von Ehringsdorf waren schon
früher bekannt. 19 14 und 1916 sind dazu
die beiden Unterkiefer und Teile eines kindlichen
Skelettes aus dem Tuffsand des Kämpfeschen
Steinbruches gekommen (vgl. Naturw. Wochenschr.
1922, S. 398). Dadurch gewinnen die vielen
Feuersteinwerkzeuge und die Feuerstätten des
Neandertalers mit Holzkohlen und angebrannten
Knochen eine erhöhte Bedeutung. Das Ilmtal
war zur letzten Zwischeneiszeit die besuchteste
Siedlung des Diluvialmenschen in Nord- und
Mitteldeutschland. Die Kultur, die dort geschaffen
wurde, in der Weiterentwicklung der Markklee-
berger Kultur der zweiten Eiszeit zu den schönen
dreieckigen Handspitzen, Doppelspitzen und Scha-
bern bedeutet einen Höhepunkt der geistigen
Fähigkeiten der aussterbenden Neandertalrasse,
so daß wir ihr mit Recht als „Weimarer Stufe"
eine besondere Stellung in der Chronologie des
fossilen Menschen gegeben haben.
Einzelberichte.
Die Gnindzüge der Verbreituug der Vege-
tation im Europäischen Rußland. *)
Der Wechsel der Vegetation im Europäischen
Rußland ist vielseitig und interessant. Tundra,
Wald, Steppe und Halbwüste lösen einander in
durchaus gesetzmäßiger Weise ab, jedes Vegeta-
tionsgebiet entspricht einer bestimmten klimati-
schen Zone, welche ziemlich genau von Westen
nach Osten geht. Diesen Zonen entsprechen nicht
nur bestimmte Zusammensetzungen der Vegetation,
sondern auch bestimmte Bodentypen, z. B. den
Wäldern — die Bleicherden (Podsol), der Steppe
— die Schwarzerden, der Halbwüste — Salz-
böden. In keinem Lande ist diese strenge Gesetz-
mäßigkeit der Zonen so deutlich, wie gerade in
Rußland , dessen Ebenen von keinen Gebirgen
unterbrochen werden, dessen Vegetation noch
ursprünglicher, weniger vom Menschen beeinflußt
ist als im Westen. — Einige pflanzengeographi-
schen und bodenkundlichen Fragen sind spezifisch
russische und nur in Rußland zu lösen, so das
Problem der Entstehung der waldlosen Steppen,
die Frage nach der Ursprünglichkeit der Wiesen-
vegetation in den Flußtälern usw.
Von Norden nach Süden gehend stößt man
in Rußland auf folgende Boden- und Vegetations-
zonen: I. die waldlose Tundra in schmaler Zone
am nördlichen Eismeer; 2. das Gebiet der Nadel-
wälder, ganz Finnland und den Nordosten Ruß-
') Hauptsächlich nach W. Aljochin, Die Grundzüge
der Verbreitung der Vegetation im Europäischen Rußland.
(Moskau 1921.)
lands einnehmend, nach Süden begrenzt etwa
durch die Linie Petersburg — Kostroma, Kasan,
Ufa; 3. das Gebiet der Mischwälder, ein breiter
Keil, dessen größte Breite vom Bottnischen Meer-
busen bis Kiew reicht, dessen Spitze bei Kasan
liegt ; 4. das Gebiet der Steppe, nach Norden be-
grenzt etwa von der Linie Kiew, Orel, Kasan, Ufa,
im Südwesten vom Schwarzen und Asowschen
Meer, weiterhin durch eine nordöstlich nach Uralsk
verlaufende Linie; 5. die Halbwüste — der süd-
östliche Winkel des europäischen Rußland am
Kaspischen Meer.
Die Vegetation der "Tundra und der Wald-
gebiete hat ein verhältnismäßig junges Alter, da
während der Eiszeit der größere Teil des Landes
vom Gletscher bedeckt war, der nur den äußer-
sten Süden und Südosten freiließ. Nach dem
Zurückweichen des Eises drang die Waldvegetaiion,
hauptsächlich Nadelhölzer, aus dem eisfrei geblie-
benen Sibirien wieder ein ; aus Westeuropa rück-
ten die Laubhölzer und Mischwälder vor; der
Zusammenstoß dieser zwei Ströme erfolgte in
Mittelrußland, etwa dem nördlichen Lauf der
Wolgau entlang (Linie Petersburg — Kasan). Nur
durch diese fortschreitende Bewegung läßt sich
der eigenartige Verlauf vieler Baumgrenzen in
Rußland erklären, die bei einer Reihe von Nadel-
hölzern (sibirische Tanne, Lärche und Zirbel)
Westgrenzen und nach Westen vorgewölbt sind,
bei vielen Laubhölzern (Buche, Hainbuche, Esche,
Eiche) mit einer Wölbung nach Osten abgegrenzt
werden. Wahrscheinlich sind diese Grenzen keine
klimatischen, sondern Verbreitungsgrenzen und die
Bäume durchaus im Vorschreiten begriffen.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
Die am meisten hervorstechenden Züge der
Tundra sind ihre Waidlosigkeit, ihr ewig ge-
frorener Boden, welcher auch im Sommer l<aum
auftaut (Torf nur 30 cm tief, Sand 150 cm in die
Tiefe) und dessen starke Versumpfung. Aller-
dings wird die Torftundra an vielen Stellen durch
die lehmige oder steinige Flechtentundra abgelöst.
Die hervorstechendsten Pflanzen sind mehrjährige
Kräuter, Halbsträucher und kleine Sträucher
(Zwergweiden, Multbeere, Rauschbeere, Seggen,
Wollgräser usw.). Oft bilden die Pflanzen flache
Polster; so sind sie am besten vor den kalten,
trockenen Winden geschützt. Nach Kihlman
sind auch diese austrocknenden Winterwinde die
Ursache des Absterbens der Bäume in der Tundra.
Tanfiliew schreibt das Zurückweichen des
Waldes dem fortschreitenden Gefrieren des Bo-
dens zu. Er meint, daß an den Nordrändern der
Wälder die torfbildenden Moose besonders üppig
wuchern; der sich bildende Torf ist ein schlechter
Wärmeleiter und verhindert das Auftauen des
darunter liegenden Bodens, so daß die Bäume in
dem Eise schließlich zugrunde gehen müssen und
die Waldgrenze weiter nach Süden zurückweicht.
Für den nördlichen Teil der russischen Wald-
gebiete ist die „Taiga" charakteristisch, diese
endlosen Wälder, teilweise nur aus Fichten be-
stehend, düster und einförmig, teilweise lichter
mit Kiefern bestanden. Wie bei uns wachsen in
den Fichtenwäldern Seidelbast, Sauerklee, Preißel-
beere, Heidelbeere, Siebenstern, Fichtenspargel
usw., in den Kieferwäldern Wacholder, Heidekraut,
Katzenpfötchen, Schafschwingel, Renntiermoos, an
feuchteren Stellen Beerenhalbsträucher. Stark ist
in diesen Wäldern die Neigung zum Versumpfen,
eine Folge der Verkittung tiefer liegender Erd-
schichten durch humose und eisenhaltige Sub-
stanzen, welche aus den höherliegenden, bleich-
werdenden Schichten ausgewaschen werden. Auch
siedeln sich stark wasserhaltige Weißmoose, die
Sphagnen an ; in deren rasch nachwachsender
Decke bildet sich in Rußland eine eigenartige
Zwergform der Kiefer (Pinus silvestris f. pumila)
wie sie sonst nur in den Mooren der Alpen und
Voralpen von der Bergkiefer bekannt ist; es sind
das buschartige Kuscheln ohne Hauptstamm, stark
verzweigt, wo nur noch die Zweigenden benadelt
sind und aus dem Moos herausstehen.
In den südlich sich anschließenden Misch-
wäldern sind besonders die „Sasseki" hervorzu-
heben, uralte Eichenwälder, besonders schön ent-
wickelt in den Gouvernements Tula und Kaluga;
in ihnen haben sich einige interessante Pflanzen
erhalten, welche nach der Meinung einiger russi-
scher Botaniker charakteristisch für die Randwälder
des großen Gletschers waren, so z. B. mehrere
Dentaria- Arten, F"estuca silvatica, zwei Corydalis-
Arten, Asperula tinctoria usw.
Weiter nach Süden kommt das weite Gebiet
der Steppe, welches aber durchaus nicht gleich-
förmig ist und gut in drei Typen geschieden
werden kann.
Der nördliche Typus ist die Wiesensteppe,
welche die ganze Vegetationszeit in saftigstem
Grün prangt und sich durch viele reizvolle
blühende Kräuter auszeichnet. Fast jede Woche
bieten diese Steppen wieder einen anderen far-
bigen Anblick; charakteristisch ist für sie eine
bunte Mischung von Gräsern und Kräutern (Adonis
vernalis, Anemone silvestris, Salvia pratensis, Avena
pubescens usw.). Sie umfassen die Gouvernements
Kiew, Poltawa, Kursk und Teile der Gouverne-
ments Woronesh, Tambow, Pensa und Simbirsk.
An die Wiesensteppen schließen sich im Süden
die Pfriemengrassteppen an, welche sich
auf die Gouvernements Cherson, Ekaterinoslaw,
Charkow, Samara und Saratow erstrecken. Hier
ist der Typus der Steppe am vollständigsten aus-
gedrückt. Ihr überwiegender Bestandteil sind die
Gräser, deren hervorstechendsten die Pfriemen-
gräser Stipa pennata, St. capillata und Festuca
ovina ssp. sulcata sind. Am reizvollsten ist die
Steppe im Frühjahr, zur Zeit der Blüte von
Zwiebelgewächsen und Adonis vernalis; dann im
Sommer, wenn die ganze Fläche von den Federn
des Stipa wogt; im Spätsommer und Herbst wird
sie braun und unscheinbar, blühende Kräuter
findet man nur vereinzelt (Astern, Beifußarten).
Bezeichnend für die Steppe ist der lockere, un-
dichte Stand ihrer Gräser und das häufige Auf-
treten von sogenannten „rollenden Kräutern",
kugelförmig verzweigten Stauden, welche zur Zeit
der Fruchtreife abbrechen, um dann vom Winde
getrieben über die weiten Ebenen zu hüpfen und
ihre Samen zu zerstreuen (z. B. Statice latifolia).
Weiter südlich gelangt man in eine Abart der
Steppe, welche schon eher den Charakter der
Halbwüste hat, noch spärlicher mit Pflanzen
bestanden ist und überall den kahlen Boden zeigt.
Schon in ihrem nördlichen Teil tritt das Pfriemen-
gras stark zurück, es herrschen hier der gefurchte
Schafschwingel (Festuca sulcata) und Chrysanthe-
mumarten (C. corymbosum, C. achilleifolium usw.).
Die Schwarzerde läuft hier aus und wird von
kastanienbraunen Böden abgelöst. Der äußerste
Süden am Schwarzen und Kaspischen Meer hat
stark salzige Böden, welche nur von vereinzelten
und kümmerlichen Beifußstauden (Artemisia mari-
tima, A. pauciflora usw.) bestanden sind und einen
trostlosen Anblick bieten; nur im Frühjahr wird
hier das Auge durch einen weiß gelben Tulpen-
flor erfreut.
An der Nordgrenze der Steppe schiebt sich
zwischen Grasflur und Wald eine schmale Zone
der sogenannten „Waldsteppe", wo sich beide
in buntem Wechsel ablösen und ganz offensicht-
lich im Kampf miteinander liegen. Die Frage,
warum denn weiter südlich der Wald der Steppe
weicht, ist noch nicht endgültig gelöst. Einige
Forscher meinen, der Wald wäre von dem
Menschen ausgerottet worden (Taliew), andere
suchen den Grund für das P'ehlen des Waldes in
der Eigenart des kleinkörnigen Steppenbodens,
während der Waldboden eine haselnußartige
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Körnung hat (Kostytschew). Korshinski j
suchte zu beweisen, daß in dem Konkurrenzkampf
der zwei Vegetationsformen der biologisch stär-
kere Wald schließlich die Steppe zurückdrängen
müßte.
Endlich entspricht es vielen Beobachtungen,
daß der Wald auf stark salzigem Boden nicht
gedeihen kann; Dokutschajew, Sibirzew
und Tanfiljew schreiben deshalb dem hohen
Salzgehalt der südrussischen Böden, welche erst
spät vom IVleere freigegeben wurden, die Wald-
losigkeit der Steppe zu. Patsch osskij geht
sogar so weit, daß er annimmt, die Vegetation
eines jeden Gebietes müßte alle Stadien von der
Halbwüste über die Steppe und zum Walde
durchlaufen, wenn das Meeressalz durch die
Niederschläge allmählich aus dem Boden entfernt
wird und sich eine Humuskrume bildet. Er sieht
denn auch die südrussischen Steppen nur als ein
vorübergehendes Stadium an, das vom Walde ab-
gelöst werden muß. Freilich wird das kaum
stattfinden, denn die Steppe ist dem Untergang
durch Feldbau geweiht, noch ehe sie in Wald
übergehen könnte. Jedenfalls besteht in Rußland
für den Wald die Tendenz, im Norden zurück-
zuweichen und im Süden vorzudringen, es ist
also eine allgemeine Verschiebung des Wald-
gebietes nach Süden festzustellen.
Noch eine Eigenheit der Vegetation von Ruß-
land sei erwähnt, welche für weite Ebenen charak-
teristisch ist. In jeder Zone findet man außer
der für diese typischen Vegetation auch solche
Vegetationsflecken, welche für die benachbarten
Zonen charakteristisch sind und als „intrazonale
Vegetationen" bezeichnet werden. So finden wir
in der Pfriemengrassteppe die typische Zusammen-
setzung nur auf den ausgedehnten Wasserscheiden;
in den flachen Tälern dagegen sind die Nord-
hänge mit Pflanzen bewachsen, welche eher der
Wiesensteppe angehören, die Südhänge mit Ver-
tretern der Halbwüste. Im südlichen Waldgebiet
finden sich an den stärker erwärmten Südhängen
Steppenpflanzen. Somit gibt die genaue Erfor-
schung einer jeden Zone zugleich auch einen
Begriff von der Vegetation der ihr benachbarten.
Selma Ruoff.
Die Strukturformel des Kupfersulfids.
Selten hat man bisher für Cuprisulfid eine
andere Formel als Cu = S in Erwägung gezogen.
So gut wie alle Umsetzungen, in denen der Stoff
eine Rolle spielte, ließen sich mit dieser Formel
befriedigend darstellen. Erst die feinere Unter-
suchung des Sulfides durch W. Gluud^) legt
die Vermutung nahe, daß, zum mindesten in ge-
wissen Fällen auch eine andere Strukturformel
haltbar ist. Wird nämlich eine 1,5 proz. Cupri-
sulfatlösung, der io°/q Ammoniak zugesetzt wurden,
mit Schwefelwasserstoff gefällt, so hat das un-
mittelbar ausgefallene Kupfersulfid andere
Eigenschaften als das einige Zeit gealterte. Wird
nämlich unmittelbar nach der Fällung mit Luft-
sauerstoff oxydiert, so tritt die Bildung elemen-
taren Schwefels ein. Nach einigen Stunden
Stehens aber (4 — 5 Std.) führt die Oxydation
nicht mehr zu Schwefel, sondern sämtlicher an
Kupfer gebundener Schwefel wird in Form von
Sulfat- oder Thiosulfat-Jon entbunden 1
Offenbar hat man es in den beiden gekenn-
zeichneten Fällen mit untereinander verschiedenen
Formen des Sulfides zu tun. Nach Diskussion
einiger unwahrscheinlicher Deutungen trifft Gluud
schließlich eine Entscheidung auf experimentellem
Wege. Beide Sulfidformen zeigen abweichendes
Verhalten auch gegen Kaliumcyanid. Das
primär entstehende Sulfid nämlich liefert keine
Rhodanreakiion, wohl aber in starkem Maße das
einige Stunden gealterte Sulfid.
Gluud erteilt dementsprechend dem ersten
Kupfersulfid die übliche Formel Cu^S, dem
nachher aus ihm hervorgehenden Sulfid aber die
Formel ^ "> S = S. Beide Formeln decken die
Cu -^
beschriebenen Umsetzungen allein und befrie-
digend. Bei der Entstehung von Cyansäure
HCNO tritt eine Reduktion am Kupfer ein. Eine
solche Bildung von Cyansäure findet aber (nach
Treadwell) bei der Umsetzung von Cu = S mit
Kaliumcyanid statt. Anders bei einem Kupfer-
sulfid der Formel (Cul^Sj. Hier ist das Kupfer
bereits erschöpfend reduziert: es wird also glatte
Umsetzung mit Kaliumcyanid eintreten nach der
Formel Cu^S, + 8 KCN = 2 KgCuCCN)^ + K^S^.
Das KoSo seinerseits wird mit überschüssigem
Kaliumcyanid alsbald Kaliumsulfid und Kalium-
rhodanid bilden. Dieser letzte Fall ist nun
die Regel. So käme also dem gewöhnlichen
Sulfid die Formel (Cu)2S., zu, CuS aber wäre die
Strukturformel der unbeständigen Form des
Kupfersulfides.
Berichterstatter weist darauf hin, daß eine
Untersuchung daraufhin erwünscht wäre, ob
Unterschiede beider Formen auch morphologisch
nachweisbar sind und ob nicht die leicht sich
bildenden niederen Sulfide des Kupfers, über
deren Gleichgewichte so gut wie nichts bekannt
ist, eine Rolle in den mitgeteilten Verhältnissen
spielen. H. Heller.
Die Raumformel des Wassermoleküls.
Über die wahrscheinliche sterische Formel des
Wassers, HjO, spricht sich zusammenfassend Jean
Piccard aus.^) Gewisse physikalische Eigen-
schaften des Wassers, wie Dielektrizitätskonstante
und Refraktionsindex, sind nach unseren heutigen
molekularphysikalischen Vorstellungen nur erklär-
bar, wenn man das Schwerezentrum der positiven
Ladungen des Wassermoleküls nicht mit dem der
') Berichte d. d. Cheiu. Gesellsch. 55, S. 1760, 1922.
') Helvetica Chimica Acta 5, S. 72, 1922.
58o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
negativen Ladungen zusammenfallen läßt.") Die
übliche Formulierung des Wassermoleküls H-O-H,
wobei man den Zusammenhang zwischen 0 und
beiden Hatomen durch negative Elektronen her-
gestellt sein läßt, kann also nicht richtig sein.
Zwei IVIöglichkeiten einer anderen sterischen For-
mulierung stehen nun offen. Man kann die An-
ordnung der Atome und der sie verkettenden
Elektronen in einer Geraden bestehen lassen,
denkt sich aber den Abstand der beiden Wasser-
stofifatome vom O verschieden groß: H-0 — H.
Für eine solche Auffassung fehlt jedoch jeder zu-
reichende Grund. Oder aber man verläßt die
Anordnung in einer Geraden und läßt eine drei-
eckige Konfiguration zu: H — O, .
H
Durch das Studium der organischen Sauerstoff-
verbindungen wird Piccard zur Annahme der
letzten Formel geführt. Bekanntlich nimmt man
für den Kohlenstoff an, daß er sich inmitten eines
fiktiven Tetraeders befinde, nach dessen vier Ecken
seine vier „Valenzen" ausstrahlen, d. h. sie befinden
sich in völlig symmetrischer Verteilung um den
C als Zentrum. Jede Ablenkung der Valenzbeträge
aus diesem Gleichgewichtsverhältnis bedingt ge-
wisse Spannungen im Molekül, da ja jede
Valenz in den stabilen Zustand des isolierten
Kohlenstoffatoms zurückzukehren bestrebt ist.
Daher die leichte Lösbarkeit sogenannter „Doppel-
bindungen". Baeyer hat dieser von ihm auf-
gestellten „Spannungstheorie" viele experimentelle
Stützen zu geben vermocht, auf hetero-
zy kusche Verbindungen konnte sie bisher je-
doch nur mit Mühe bzw. nicht ausgedehnt werden.
Denn es ist Tatsache, daß Ringsysteme aus Kohlen-
stoff- und Sauerstoffatomen stabil sind, wenn nur
die Gesamtsumme der Atome 5 oder 6 be-
trägt. Was für reine Kohlenstoffringe ein schönes
Beispiel für die Baeyersche Theorie war, nämlich
der Einklang zwischen dem natürlichen Winkel
zweier Kohlenstoffvalenzen mit dem von zwei
solchen Valenzen im 5- oder 6 ring eingeschlossenen
Winkel, versagt bei den Heterozyklen. Denn
nimmt man für Wasser die eingangs erwähnte
lineare Struktur H-O H an, so ist der Winkel
zwischen den Wasserstoffatomen 180". Mithin
müßte die Stabilität der 5 oder 6 Ringe aus C und O
abhängig von der Zahl der Sau erstoff atome
sein. Die Erfahrung widerspricht dem. Bei-
spielsweise geben Oxysäuren leicht innere An-
hydride, wenn zwei ihrer Hydroxyle durch 4 oder
5 Kohlenstoffatome voneinander getrennt sind.
Dann entsteht ein Ring aus 5 oder 6 Gliedern,
von denen eines ein Sauerstoffatom ist. Die
Ringe der Laktide bestehen aus 4 C und 2 O,
der Ring des Paraldehyds aus 3 C und 3 O.
Ringe aus 2 C und 4 O sind wohl möglich, aber
aus energetischen Gründen wahrscheinlich instabil,
zerfallen doch schon Ozonide mit 3 benachbarten
') Dcbye, Physikal. Zeitschr. 13, S. 97, 1912. — Jona,
ebenda 20, S. 14, 1919.
Sauerstoffatomen sehr leicht. Man ersieht also,
daß auch heterozyklische Systeme aus 5 und
6 Gliedern stabil sind, wenn nur die Gesamt-
summe der Atome beiden Zahlen entspricht.
Dies läßt darauf schließen, daß sich C und O
hinsichtlich der Richtung ihrer Valenzen sehr
ähneln müssen. Nimmt man die gewinkelte
Struktur des Wassermoleküls an, so ist der von
den Wasserstoffatomen eingeschlossene Winkel
120". Der von den Valenzen des tetraedrischen
Kohlenstoffs 109" 28'. Der Unterschied ist also
gering. In einem Ring aus 3 C und 3 O beträgt
die mittlere Abweichung 2" 38', im Zyklohexan
mit einem Ring aus 6 Kohlenstoffen ist sie 5 "
16'. Der Heterozyklus aus 3 C und 3 O ist also
noch stabiler als der Homozyklus, was mit der
Erfahrung übereinstimmt.
Ist nun aber wahrscheinlich, daß die gegen-
seitige Lage der Valenzen im Sauerstoff in den
besprochenen Fällen nicht linear, sondern angular
ist, so ist es erlaubt, diese Vorstellung auf das
Sauerstoffatom zu übertragen und die gleiche
Lage im Wasser anzunehmen. Von der mit-
geteilten Möglichkeit eines Ausbaus der Baeyer-
schen Spannungstheorie abgesehen, bietet sich
also nunmehr eine weitere Handhabe der sterischen
Formulierung des Wassermoleküls. Und auch
andere Erwägungen führen zu diesem Ziel. Aus
der Existenz und den Eigenschaften der Oxo-
n i u m salze scheint hervorzugehen, daß der Kohlen-
stoff koordinativ dreiwertig ist.') Drei
symmetrisch angeordnete Valenzrichtungen in der
Papierebene schließen aber Winkel von 120" ein.
Als Beispiel für die Wahrscheinlichkeit einer
solchen Konfiguration der Oxoniumsalze, als die
man die Hydrate aufzufassen hat, diene der ge-
löste Chlorwasserstoff, die Salzsäure, die zu
formulieren wäre:
H
H
OH
Gl.
Die Valenzen des Sauerstoffs sind mithin nach
den Ecken eines gleichseitigen Dreiecks gerichtet.
Diese Position der Koordinationsvalenzen nimmt
Piccard nun als „topographische Eigenschaft"
des Sauerstoffs überhaupt an. H,,0 muß also
H - O, sein. Seine hexagonale Kristallform
H
stimmt damit überein.
Zu ähnlichem Ergebnis gelangt auf anderem
Wege neuerdings D.Vorländer.-) Dieser fand
bei seinen ausgedehnten Untersuchungen über
') Über den Begriff der ,, Koordination" vgl. „Die che-
mische Valenz in heutiger Auffassung" v. Verf., Naturw.
Wochenschr., N. F. 18, S. 273, 1919. — Neuerdings weist
Hantzsch nach, daß auch der vierwertige Kohlenstoff ko-
ordinativ dreiwertig ist (Ber. d. D. Chem. Gesellsch. 54,
.S. 2627, 1921). Sollte sich diese Auffassung allgemein be-
stätigen lassen, so wäre damit eine neue Parallele zu der
Valeuzchemie des Sauerstoffs geschaffen, die den Ausführungen
Piccards eine Stütze gibt.
'■') Zeitschr. f. angew. Chemie 35, S. 249, 1922.
N. F. XXI. Nr. 42
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
581
den „kristallinisch-flüssigen" Zustand die allgemeine
Beziehung, daß dieser Zustand zu seinem Zustande-
kommen eines möglichst langgestreckten
und geradlinig orientierten JVloleküls bedarf.
So sind alle para-substituierten Abkömmlinge des
Diphenyls stark kristallin - flüssig :
X
X.
Schaltet man aber zwischen die beiden Benzol-
ringe ein Sauerstoffatom ein, hat man also Ab-
kömmlinge vom Diphenyläther
X
— O
■X,
so verschwindet der kristallin-flüssige Zustand als-
bald! Hieraus schließt Vorländer, daß der
zweiwertige Sauerstoff nicht linear gerichtete
Valenzen habe, daß diese vielmehr einen Winkel
miteinander einschließen. „Für das Wasser ist
eine winkelförmige Gestalt die wahrscheinlichste."
Vorländer schätzt allerdings den Winkel am
Sauerstoff etwas kleiner als am Kohlenstoff, d. h.
< 109".
Kann man angesichts dieser Erwägungen an
einer angularen Raumformel des Wassers kaum
noch zweifeln, so erscheint dem unbefangenen
Betrachter die unsymmetrische Formel H — O
H
doch sicherlich gezwungen, unwahrscheinlich und
darum unbefriedigend. Sollte die auf verschiedenen
Wegen erwiesene starke Assoziation des Was-
sers darauf zurückzuführen sein, daß das Wasser-
molekül durch Zusammentritt zu „D i -Wasser"
eine Symmetrie zu schaffen bestrebt ist, die dem
monomolekularen Stoff versagt ist?
H H
H H
Berichterstatter glaubt diese seine Ansicht als
nicht unwahrscheinlich bezeichnen zu dürfen.
H. Heller.
Die neue Noriiialtemperatur : -\-'20'^ C.
In seiner letzten Vollsitzung hat der „Ausschuß
für Einheiten und Formelgrößen" (AEF), der sich
aus Mitgliedern der bedeutendsten physikalischen,
technischen und chemischen Gesellschaften zusam-
mensetzt, dafür entschieden, daß bei der Berech-
nung oder Kennzeichnung von Stoffen und Stoff-
systemen als einheitlich anzuwendende Normal-
temperatur -[-20" C zu gelten habe. Auf diese
Temperatur also sind auch alle Meßgefäße und
-Werkzeuge zu eichen; bei dieser Temperatur sollen
künftig Messungen, wie etwa die der elektrischen
Leitfähigkeit, vorgenommen werden, sofern die
Natur der Sache diese Temperatur nicht per se
ausschließt. Ausnahmen von dieser Festsetzung
sind: die Nulltemperatur bei der Festlegung der
Einheiten „Meter", „Ohm" und „Atmosphäre" und
bei Barometerangaben; ferner wird die Vohim-
einheit „Liter" bei 4 " beibehalten , wie auch
Dichtebestimmungen auf Wasser von dieser Tem-
peratur bezogen werden sollen.
Mit dieser Festsetzung ist eine Vereinbarung
von größter Tragweite getroffen, mit der sich
jeder an den exakten Naturwissenschaften Be-
teiligte vertraut machen sollte. Denn bei ein-
gehender Betrachtung der Umstände, die gerade
20 " als Normaltemperatur rechtfertigen , erweist
sich, daß mit dieser Normung eine wahrhaft
erfreuliche Übereinkunft getroffen worden ist.
Die Bestrebungen zur Schaffung einer einheit-
lichen Bezugstemperatur sind nicht erst neuerer
Zeit zu danken. Seit 1907 schon bemühte sich
der oben erwähnte Ausschuß um diese Aufgabe.
Das Ergebnis der Verhandlungen ist niedergelegt
in einer Arbeit von K. Strecker.^) Auch
Auerbach, Scheel u. a. haben sich dazu in
der Literatur geäußert.-) Nachdem 1914 eine
Einigung erzielt war, verhinderte der Krieg ihre
praktische Auswertung. Daß sie nunmehr bald
und allseitig geschehe, ist eine der Forderungen
des Tages.
Es erübrigt sich, die Normung der Temperatur
im allgemeinen zu begründen. Vergegenwärtigt
man sich, daß kaum eine zahlenmäßige Kenn-
zeichnung unabhängig von der bei der Messung
vorhandenen Temperatur ist, die das Ergebnis in
oft bedeutendem IVIaße beeinflußt, so erkennt man
ohne weiteres, daß es eine große Energieersparnis
ist, wenn man durch Benutzung einer Tempe-
ratur jeglicher Umrechnung enthoben wird. Eine
solche Umrechnung war aber bisher in der Regel
notwendig, denn gerade in Chemie und Physik
waren die verschiedensten Meßtemperaturen in
Gebrauch. So gilt in der Alkoholometrie als
Normaltemperatur 15"; die Polarisationsdrehung
wässeriger Lösung wird in der Regel bei 20", die
Viskosität bei 25 ° gemessen. Elektrische Leit-
fähigkeiten werden bei 18° oder bei 25*' bestimmt.
Von den galvanischen Normalelementen ist das
von Clark auf 15", das Cadmiumelement auf 20"
bezogen. Hierzu kommt in vielen Fällen eine
weitere „Normal"temperatur, die „Zimmertempe-
ratur", worunter man meist 15 — 20" versteht. Es
herrscht, wie gesagt, in der Wahl wissenschaft-
licher und technischer Bezugstemperaturen voll-
endete Willkür, so daß die vom AEF getroffene
Vereinbarung einen wesentlichen Fortschritt dar-
stellt.
Der unbestimmte Begriff der „Zimmertempe-
ratur" ist bei der Wahl der neuen Norm richtung-
gebend gewesen. In der Tat werden die meisten
praktischen Messungen, die von wissenschaftlicher
Höchstgenauigkeit absehen können, bei der gerade
im Versuchsraum herrschenden Temperatur ange-
stellt. Im allgemeinen ist die Laboratoriums-
temperatur etwa 18^', weshalb Kohlrausch
') AEK, Verhandlungen des Ausschusses f. Maßeinheiten
und Formelgrößen in den Jahren 1907 — 1914. Herausgeg. v.
K. Strecker. Berlin 1914, J. Springer.
'•') Zeitschr. f. Elektrochemie 20, S. 583, 1914.
582
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
gerade diese Temperatur für die Bestimmungen
von Leitfähigkeiten festsetzte. Bestimmt aber
liegt 15" unter dem Durchschnitt. Merl< würdiger-
weise werden aber gerade die meistbenutzten
IVIeßgefaße, Zylinder, Büretten, Pipetten, Kolben
usw. gerade auf diese Temperatur geeicht. Jeder-
mann weiß jedoch, daß Abkühlen auf eine be-
stimmte Temperatur mehr Umstände verursacht
als Anwärmen. Somit ist die Annahme der neuen
Normaltemperatur im Sinne der Praxis gutzuheißen.
Wirklich waren die genormten Glasgefäße für
chemische Laboratorien, deren Sammlung auf der
letzten Ausstellung für chemisches Apparatewesen
in Hamburg (Juni 1922) gezeigt wurde, durch-
gängig auf 20" geeicht. IVIan denke auch daran,
daß im Winter meist eine Zimmertemperatur von
etwa 20" herrscht. Diese Temperatur ist darum
auch dann die gegebene Norm.
Viele äußerliche Umstände sprechen des wei-
teren für die allgemeine Anwendbarkeit der neuen
Normaltemperatur. So hat die Internationale
elektrotechnische Kommission 20" als Normal
festgesetzt; desgleichen hat der Deutsche Normen-
ausschuß für die Industrie diese Temperatur als
Bezugsnorm für Meßwerkzeuge und Werkstücke
angenommen.
Selbstverständlich handelt es sich bei der
neuen Temperatur um eine aus praktischen Er-
wägungen heraus getroffene willkürliche Fest-
setzung. Für wissenschaftliche Untersuchungen
ist die Wahl einer anderen Bezugstemperatur
möglich und erlaubt. Zum mindesten jedoch
sollten solche Messungen auch bei 20" vorge-
nommen werden, damit der in anderem Sinne
damit Arbeitende der Mühe einer Neubestimmung
oder Umrechnung enthoben ist. Aber auch die
Wissenschaft mag sich bewußt bleiben, daß bei-
spielsweise o" ebenfalls völlig willkürlich gewählt
worden ist. — Ausgeschieden von der Verpflich-
tung zur neuen Bezugstemperatur sind des weiteren
naturgemäß alle die Fälle, deren Charakter die
Wahl von gerade 20 " überhaupt ausschließt.
Einige solcher bzw. verwandter Fälle nennt der
Beschluß des AEF selbst. H. Heller.
Bücherbesprechungen.
Titschack, E., Beiträge zu einer Mono-
graphie der Kleidermotte, Tincola bisel-
liella. Mit 4 Tafeln und 91 Textabb. Zeitschr.
techn. Biologie Bd. 10, Heft 1/2, 168 S., 1922.
Bis vor kurzem verhielt sich die deutsche In-
dustrie der angewandten Biologie gegenüber ab-
lehnend, im Gegensatz zum Auslande, das dadurch
nicht nur in der Industrie selbst, sondern auch in
der angewandten Biologie uns vielfach überflügelte.
Der Krieg und seine Folgen haben auch hier för-
dernd gewirkt, und immer mehr macht sich die
Industrie die angewandte Biologie zu nutze.
Vorliegende Arbeit ist entstanden im Auftrage
der „Farbwerke vorm. Friedr. Bayer & Co., Lever-
kusen bei Köln a. Rh.". Sie gehört zu den besten,
die die junge deutsche angewandte Entomologie
hervorgebracht hat und findet in bezug auf Er-
fassung des Problems, auf Gründlichkeit und Sorg-
falt kaum ihresgleichen. Verf. und die Farbwerke
können stolz darauf sein.
Die ökonomische Bedeutung der Kleidermotten
ist wohl allgemein bekannt, sicher aber überall
sehr unterschätzt. Jeder kennt nur seine eigenen
Erfahrungen, bedenkt aber nicht, wie diese sich
bei einem 70-Millionenvolk mit ausgedehnter und
hochentwickelter Kleiderstoff- und Möbelindustrie
vervielfachen. Namentlich bei den heutigen Preisen
betragen die jährlichen Verluste durch die Kleider-
motten sicher geradezu fabelhafte Summen.
Von den etwa 10 an Kleiderstoffen gefundenen
Mottenarten ist die genannte weitaus die wichtig-
ste. Ursprünglich dürfte sie im Freien an ein-
getrockneten Tierleichen gelebt haben. Mit der
Aufspeicherung von Wolle und Wollstoffen für
Handel und Industrie gelangle sie in Gebäude und
fand hier die denkbar besten Lebensbedingungen :
Überfluß an Nahrung, günstige Temperatur, Schutz
vor ungünstiger Witterung und den meisten natür-
lichen Feinden. Ein Glück nur, daß sie sich ver-
hältnismäßig langsam entwickelt. Unter günstig-
sten Bedingungen — passende Nahrung, ständig
geheizte Räume — können sich 4 Generationen
im Jahre entwickeln; normalerweise werden es
nur I, höchstens 2 sein. Was das sagen will,
zeigen die Feststellungen und Berechnungen
Titschacks über die verbrauchte Nahrung. Im
I.Falle können die Nachkommen eines Weibchens
im Jahre bis 46 kg Wolle zerstören, im letzteren
genügt I g.
Der Verf beschreibt alle Stadien aufs genaueste,
gibt die Unterschiede von anderen Motten auf
Wollstoffen an und, wo vorhanden, die der ein-
zelnen Altersstadien der verschiedenen Entwick-
lungsformen, Angaben, die auch für die Praxis sehr
wichtig sind, insbesondere für die Fragen nach
Herkunft und Zeitpunkt des Befalles. Er unter-
sucht eingehend das biologische und physiologi-
sche Verhalten der verschiedenen Stadien. Aus
der Überfülle der Ergebnisse nur wenige Daten:
Die Weibchen fliegen nie ohne zwingenden Grund,
suchen laufend neue Plätze für die Ablage ihrer
je 100 — 150 Eier; sie bedürfen keines Hochzeits-
fluges. Nach etwa 7 Tagen schlüpfen die Räup-
chen aus, die 18 Tage bis 10 Monate fressen
können. Sie finden sich nur auf toten Tierstoffen,
auf bzw. zwischen denen sie lange, mit Stoffteil-
chen bedeckte Gänge anfertigen. Baumwolle wird
nur im äußersten Notfalle gefressen , wohl aber
zur Herstellung der Gänge verwendet. Zur Ver-
puppung fertigen die Raupen einen besonders
dichten und sorgfällig bedeckten Köcher.
Von Gasen tötet Schwefelkohlenstoff am schnell-
N. F. XXI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
583
sten alle Stadien, ist aber zu explosionsgefährlich.
Xylol und Chloroform töten bei mehrmaligem
Benetzen die in den Stoffen vorhandenen Tiere.
Dichlorbenzol und Naphthalin schützen reine Stoffe
vor Befall, töten bereits vorhandene Stadien aber
nur bei reichlicher Anwendung und völligem Luft-
abschluß. Kälte und Wärme (45—50" C) sind
gute Schutzmittel. Klopfen, Lüften, Besonnen
verhindern Befall, wenn oft und sorgfältig ausge-
führt. Fest schließende Verpackung in Papier
desgleichen. Die Farbe der Stoffe ist für den
Befall bedeutungslos; gewisse Farbstoffe geben
bedingten Schutz. Das beste und sicherste Gegen-
mittel ist aber das Tränken der Stoffe mit dem,
von den Farbwerken nach den Angaben von Dr.
IVIeckbach hergestellten „Eulan", das farblos
ist und die Verarbeitung der Stoffe in keiner
Weise beeinträchtigt.
Wenn hiermit das Kleidermottenproblem in
der Hauptsache gelöst ist, so bleiben doch noch
viele wissenschaftliche Fragen offen , deren Be-
arbeitung bei dem Verf. zweifellos in besten Hän-
den ist, und deren Auswirkungen auf die Praxis
von vornherein kaum zu übersehen sind.
Reh.
Lehmann, H., Die Obstmade. Cydia {Carpo-
capsa) pomonella L. Heft i : Ihre Bekämpfung
auf wissenschaftlicher Grundlage. Mit 26 Text-
abbildungen. 8". 69 S. Neustadt a. d. H. 1922.
Die Raupe des Apfelwicklers ist zweifellos
einer der größten Schädlinge unseres Kernobst-
baues. Schon im Frieden dürfte der jährliche
Verlust durch sie in Deutschland auf einige
IMillionen einzuschätzen gewesen sein, selbst wenn
man berücksichtigt, daß bei nicht zu starkem Be-
falle ihre Tätigkeit ausdünnend, d. h. bessernd
auf die übrigbleibenden F'rüchte wirkt. Aber auch
in allen anderen Kernobst bauenden Erdteilen
liegen dieselben Verhältnisse vor, daher man hier
schon seit Jahrzehnten den Apfelwickler aufs
eingehendste studiert. Wie immer gingen auch
hier die Vereinigten Staaten von Nordamerika
mit glänzendem Beispiele voran; ihnen folgten
Kanada, Südafrika, Australien, Argentinien, die
übrigen europäischen Staaten. Nur Deutschland
blieb auch hier, wie überall im Pflanzenschutze,
weit zurück. Um so freudiger ist zu begrüßen,
daß endlich der Verf, im Auftrage von Prof.
EscherichMünchen,an der Staatl. Versuchsanstalt
für Wein- und Obstbau in Neustadt a. d. H., wo
dieser Schädling durch das Klima ganz besonders
begünstigt wird, umfassende Untersuchungen und
Versuche über ihn anstellt, deren I.Teil hier vor-
liegt. Im großen ganzen konnte er allerdings
nur die amerikanischen Ergebnisse bestätigen;
bei der unglaublichen Unkenntnis, die aber in
Deutschland über dieses gemeine Insekt handelt,
ist auch deren Zusammenstellung sehr nützlich.
Von großer Bedeutung ist, daß er die vielfach
voreilig gebildete Ansicht, als habe der Apfel-
wickler, wie in wärmeren Erdteilen, auch in
Deutschland normal zwei oder mehr Generationen,
dahin richtig stellen konnte, daß das selbst in der
warmen Pfalz nur für ^3 <^c'' Tiere zutrifft. Sehr
eingehend behandelt er die Bekämpfungsmethoden.
Er stellt für solche allgemeine P'orderungen auf,
die zwar theoretisch durchaus berechtigt, für die
Praxis aber doch zu eng gefaßt sind. Seine
Schlußfolgerung, daß eine solche „wirtschaftlich"
sei, trifft dagegen den Nagel auf den Kopf. Das
ist aber jede Methode, bei der die Ergebnisse
größer sind, als ihre Kosten (Material -|- Zeit).
Verf. schließt sich dann durchaus der bereits
1898 von dem amerikanischen Entomologen
Slingerland ausgearbeiteten Methode an: die
Bäume sofort nach dem Abwerfen der Blüten-
blätter mit einem Arsenmittel so zu spritzen, daß
die jetzt noch offene Kelchgrube, durch die sich
85 "/(, der jungen Räupchen einbohren, mit dem
Gifte gefüllt wird. Er vergißt aber die Betonung
der Hauptsache, daß dazu von oben und mit
starkem Drucke in die Bäume gespritzt werden
muß. Und wenn er ausschließlich für die Kupfer-
arsensalze eintritt, so setzt er sich damit in Gegen-
satz zu den Jahrzehnte alten Erfahrungen in den
angelsächsischen Ländern, wo sich das Bleiarsenat
weit besser bewährt hat. Er empfiehlt nur eine
einzige Spritzung, während in jenen Ländern bis
zu 7 mal gespritzt wird. Eine 2 — 3(4)malige dürfte
auch bei uns ratsam sein, besonders in Lagen
oder Jahren, wo Wärme eine zweite Generation
begünstigen. Die übrigen in Deutschland üb-
lichen Methoden verwirft Verf. alle mit Ausnahme
der winterlichen Reinigung der Bäume von loser
Borke, Moosen und Flechten. Hierin geht er
entschieden zu weit, wie sich schon daraus er-
gibt, daß auch die Amerikaner usw. einen Teil
dieser Methoden als ergänzende sehr empfehlen.
Auch eine einfache Rechnung zeigt deren Berech-
tigung. Verf. konnte durch die Arsenspritzungen
den Befall auf 10",, der Früchte zurückführen.
Das sind bei einem Behang von 10 Zentnern am
Baum und 500 Früchten auf den Zentner also
ebensoviele befallene Früchte, bzw. Raupen
und Falter. Sei die Hälfte davon Weibchen,
und lege jedes lOO Eier, so hätten wir im
nächsten Jahre für den Baum theoretisch
wieder 25000 Raupen, also für jede Frucht
5 Raupen. Wenn die Wirklichkeit sich natür-
lich auch anders verhält, als diese Berechnung,
so zeigt diese immerhin, daß ergänzende Be-
kämpfungsmaßregeln durchaus von Nutzen sind.
Als solche ist in erster Linie das häufige Ab-
schütteln oder Abklopfen der Bäume wichtig mit
sofortigem Aufsammeln der gefallenen Früchte.
Vielleicht stellt Verf. einmal Versuche an über
die Menge der Raupen, die auf diese Weise dem
Garten entzogen werden. Daß das Aufsammeln
der von selbst gefallenen Früchte, des Fallobstes,
keinen Wert hat, darin ist ihm entschieden bei-
zupflichten. Ebenso ist es wertvoll, die Fenster
der Lagerräume des Obstes im Frühjahre bis nach
584
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 42
Schluß der Kernobstblüte geschlossen zu halten.
I'^anggürtel schließlich werden von den Angel-
sachsen neuerdings wieder sehr empfohlen. Vor
allem aber ist zu berücksichtigen, daß die für Halb-
stämme ausgearbeitete Slingerlandsche Methode
in unseren alten Hochstammkulturen gar nicht
auszuführen ist. — Alle diese Aussetzungen und
Ergänzungen sollen den Wert der Lehmannschen
Schrift keineswegs herabsetzen. Sie ist als erster
Versuch, diesen wichtigen Schädling gründlich zu
behandeln, freudig zu begrüßen, bringt nicht nur
sehr eingehende kritische Besprechung der deut-
schen Literatur, sondern trägt durch die planvoll
eingeleiteten Untersuchungen und Versuche viel
zur Kenntnis des Verhaltens des Apfelwicklers
in der Rheinpfalz bei. Reh.
Marzell, Heinrich, Die heimischePflanzen-
welt in Volksbrauch und Volksglau-
ben, kl. 8". 133 S. 3 Abb. Quelle & Meyer
(Wissenschaft und Bildung 177). 1922. Laden-
preis 42 M.
Es gibt ein Buch von Franz Sohns über
unsere Pflanzen, ihre Namenserklärung und ihre
Stellung in der Mythologie und im Volksglauben.
Es ist ganz unzuverlässig und hat doch manche
Auflage erlebt, weil eben ein derartiges Werk
von Pflanzenfreunden sowohl als auch von Er-
forschern der Sitten und Meinungen des Volkes
gesucht wird. Jetzt hat Marzell uns ein solches
Buch geschrieben, das nicht nur viel besser, son-
dern gut ist. Bei Marzell kann man sich darauf
verlassen, daß er die im Volke umlaufenden, an
mancherlei Glauben und Tun haftenden Pflanzen-
namen entweder richtig deutet oder als zurzeit
unverständlich zurückstellt. Nur auf Seite 1 1 5
hat er die mecklenburgisch-vorpommersche Faul-
esche fälschlich als Fraxinus excelsior gedeutet;
sie ist die Espe, angeblich zuweilen auch die
Schwarzpappel; Frax'inus heißt Zähesche. Verf.
bespricht die Beziehungen der Pflanzen zu den
Festen, zu Geburt, Liebe, Hochzeit und Tod, ihre
Rolle im Kinderspiel, im bäuerlichen Aberglauben,
in Medizin und Hexerei, fügt am Schlüsse eine
Anzahl Sagen und Legenden an. Unglaublich viel
ist in dem kleinen Heft zusammengetragen, alles
ging freilich nicht hinein. Ref. vermißt auf S. 23
eine Erwähnung des in Hannover, Schleswig-
Holstein und Mecklenburg herrschenden Brauches,
Pfingsten die Häuser, Stuben, Fuhrwerke, selbst
Lokomotiven, mit Birkenzweigen zu schmücken.
Sehr wertvoll ist es, daß überall die Literatur
nachgewiesen wird, so daß das Buch nicht nur
nützlich und gut zu lesen, sondern auch als Weg-
weiser bei ernster Forschung zu gebrauclien ist.
Für den Botaniker ist die Kenntnis alter Volks-
sitten von Wert, wenn er Heimat und Geschichte
der Arten aufklären will. Hoffentlich findet das
Buch soviel Absatz (als Quellennachweis für ver-
gleichende Volkskunde und historisch - geographi-
sche Botanik ist es auch für das Ausland wert-
voll), daß der Verlag in zweiter Auflage mehrere
Bogen zugeben kann. Das Register enthält nur
deutsche Pflanzennamen , die nächste Auflage
sollte auch die lateinischen aufnehmen, die man
stellenweise doch vermißt. Aus dem S. 92 zitier-
ten Spruch „Verbeen, agrimonia, modeiger Char-
freytags graben hilfft dich sehr" ist nur Modelger
ins Register aufgenommen. Doch das sind kleine
Mängel, alles in allem ist das Buch sehr zu emp-
fehlen. Ernst H. L. Krause.
Literatur.
Sammlung Göschen. Bd. 440: Bö hmig, Prof. Dr. Ludw.,
Das Tierreich. VI. Die wirbellosen Tiere. II. Band. Berlin-
Leipzig '22, Vereinigung wissenschaftl. Verleger. •
849: Langenbeck, Prof. Dr. R., Physische Erdkunde.
I. Die Erde als Ganzes und die Erdoberfläche. Berlin-Leip-
zig '22.
Kolkwitz, R., Pflanzenforschung. I. Phanerogamen
(Blütenpflanzen). Jena 22, G. Fischer. Brosch. 30 M.
Kolkwitz, R., Pflanzenphysiologie. Versuche und Be-
obachtungen an hölieren und niederen Pflanzen. 2. Aufl.
Jena '22, G. Fischer. Brosch. 130 M., geb. 180 M.
Platc, Dr. Ludwig, Allgemeine Zoologie und Abstam-
mungslehre. I. Teil: Einleitung, Cytologie, Histologie, Pro-
morphologie, Haut, Skelette, Lokomolionsorgane, Nerven-
system. Jena 22', G. Fischer. Brosch. 360 M., geb. 420 M.
Suesscnguth, Dr. K., Untersuchungen über Variations-
bewegungen von Blättern. Jena '22, G. Fischer. Brosch.
36 M.
Lubosch, Dr. Wilhelm, Durchschnittsanatomie und In-
dividualanalomie. Jena '22, G. Fischer. Brosch. 24 M.
Schaxel, Julius, Grundzüge der Theorienbiidung in
der Biologie. 2. Aufl. Jena '22, G.Fischer. Brosch. 150M.,
geb. 210 M.
Weckmann, P. F., Ornithologisch- photographische
Naturstudien. Bielefeld-Leipzig '22, Velhagen & Klasing.
Willis, J. C, Age und Area. Cambridge '22, At thc
University Press.
Hermann, Albert, Naturwissenschaftlicher Unterricht als
I'>ziehungs- und Bildungsmittel an höheren Schulen. Leipzig-
Berlin '22, B. G. Teubner. Geh. 60 M.
Finstein, A., Vier Vorlesungen über Relativitätstheorie,
gehalten im Mai 1921 an der Universität Princeton. Braun-
schweig '22, Iriedrig Vieweg i'^ Sohn A.-G. Geh. 60 M.
Handbuch der Bienenkunde in Einzeldarstellungen.
Zander, Prof Dr. F., HI. Der Bau der Biene. 2. Aufl.
Stuttgart '22, Eugen Ulmer.
Schulz, Roman, Michaels Führer für Pilzfreunde. Aus-
gabe E. I. Lieferung. Zwickau '22, Förster S Borries.
InllHlt: Th. Kopprinyi, Theoretische Erwägungen über die Entstehung der Alterserscheinungen und des Todes. S. 569.
Fr. Wiegers, Die Entstehung der diluvialen Kalktuflfe des Ilmtales bei Weimar. S. 574. — Einzelbericbte: Die
Grundzüge der Verbreitung der Vegetation im Europäischen Rußland. S. 577. W. Gluud, Die Strukturformel des
Kupfersulfids. S. 579. J. Piccard, Die Raumformel des Wassermolcküls. S. 579. K. Strecker, Die neue Normal-
temperatur: -|-2o'' C. S. 581. — Bücherbesprechungen: E. Titschak, Beiträge zu einer Monographie der Kleider-
motte, Tineola biselliella. S. 582. H. Lehmann, Die Obstmade. Cydia (Carpocapsa) pomonella L. S. 5S3. H.
Marzell, Die einheimische Pflanzenwelt im Volksgebrauch und Volksglauben. S. 584. — Literatur: Liste. S. 584
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'ichen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H,, Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 2i. Band;
^r ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 22. Oktober 1922.
Nummer 43.
[Nachdruck verboten.]
Velella spirans.
Von Dr. Lazar Car-Zagreb.
Mit 3 Abbildungen,
Den Bau und die Lebensweise der Velella,
eines reizenden glasartigen azurblauen Repräsen-
tanten aus der Ordnung oder Subklasse der Sipho-
nophoren (Klasse Hyodrozoa, Stamm Cnidaria,
resp. Coelenterata) muß ich als bekannt voraus-
setzen. Nur so viel. Es ist das ein Siphonophor
etwa 4 cm lang, der zu der zweiten Gruppe der
Siphonophoren (im Haeckelschen Sinne) , zu den
Diskonanthen gehört. Diese stellen eine Meduse
mit randständigen Tentakeln oder Palponen vor;
aus der Mitte der Subumbrella hängt der zentrale
Magenstiel (Hauptsiphon), und um ihn herum viele
sekundäre Siphonen oder Gonozoiden. An den
sekundären Siphonen, die kleiner sind als der
Hauptmagen (oder Hauptsiphon), die aber bei der
Velella auch mit Mundöffnung ausgestattet sind,
knospen kleine Medusen, sog. Chrysomitren , die
erst nach der Ablösung weiterwachsen und ge-
schlechtsreif werden, damit sie die Velella nicht
zu stark beschweren. Speziell bei der Velella ist
die Umbrella flach scheibenförmig von rhomboider
Form. In der Richtung der kürzeren Diagonale
ist ein aufrechtgestellies Segel angebracht, eine
vertikal gerichtete Duplikatur der Haut der Exum-
brella, mit einem in der Mitte grätenartigen chiti-
nösen Skelett, das das Segel steif hält. Die Ve-
lella läßt sich ganz passiv von dem Winde herum-
treiben und fängt ihre Nahrung (Plankton) wäh-
rend der Fahrt, indem sie, durch den Wind ge-
trieben, stets in andere Gebiete ankommt. Dieses
Segeln ist aber so eigentümlich, daß es wirklich
der Mühe lohnt, einmal darauf etwas näher ein-
zugehen. Wie dies geschieht, will ich eben hier
zeigen. Vor allem muß man sich die Stellung
des Tieres nach der beistehenden Abb. i ansehen.
Der Wind bläst also von hinten. Die Größe
seiner Kraft wäre etwa „a". Da diese Kraft schief
an der Fläche wirkt, müssen wir sie zerlegen , in
eine Komponente die parallel mit der Fläche
läuft „b", und in eine, die senkrecht auf sie fällt
„c". Die erste Komponente „b", die parallel mit
der Fläche läuft, geht fast ganz verloren, und so
bleibt nur die Komponente „c", die aber jetzt
freilich kleiner ist als die Resultante, nämlich die
ursprüngliche Kraft. Versetzen wir jetzt diese
Komponente auf einen anderen Punkt, etwa in die
Mitte „c"', so sehen wir, daß sie das ganze Tier
nach vorne rechts zieht. Nun aber kommt in
Betracht der Widerstand des Wassers, der auf die
vorderen Seiten wirkt. Diese Kraft des Wider-
standes wirkt wieder schief, und so mössen wir
auch hier nur die senkrecht wirkende Komponente
aufnehmen, also „d" und „e". Nachdem dieser
Widerstand unter etwa gleichen Winkeln an die
beiden Seiten stoßt, so würde er auch an beiden
Seiten gleich stark sein ; doch nachdem die rechte
Seite viel länger ist, erübrigt nur die Differenz
zugunsten der Kraft, die von der rechten Seite
schräg gegen hinten links zieht, also ,,e'". Und
so bekommen wir jetzt die beiden Komponenten
„c"' und „e"', von denen die Resultante „R" ist.
Natürlich ist jetzt die Kraft des Windes wieder
um etwas verringert , aber die Richtung ist mit
dem des Windes beibehalten.
Im Falle, daß sich die Kraft des Windes ver-
stärken würde, so wäre einfach auch die Kompo-
nente „c"' größer, aber in demselben Verhältnisse
auch die andere Komponente „e"', also auch die
Resultante „R", ohne daß sie die Richtung ver-
lassen würde (Abb. 2). Nehmen wir aber an, daß
sich die Richtung des Windes ändert; er komme
plötzlich, statt von hinten, von hinten links, also
mehr senkrecht auf das Segel als früher. Auch
in diesem Falle würde die Komponente „c"'
wachsen (sogar bei derselben Stärke des Windes),
aber ohne daß der Widerstand größer würde;
also die Resultante, so wie auch das ganze Tier
würden nach rechts schwenken, so lange bis nicht
wieder die Richtung des Windes erreicht wäre.
Wenn hingegen der Wind mehr von der rechten
Seite, also noch schräger, unter einem spitzeren
Winkel ankommen würde, so müßte die Korn-
586
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 43
ponente „c"' kleiner werden, der Widerstand
des Wassers aber im Verhältnis größer. Die
Resultante und das ganze Tier müßte nach
links schwenken, wieder so lange, bis es nicht in
die Richtung des Windes gelangen würde. Die
Velella ist schon so gebaut, daß sie der Wind
nur vorwärts treibt, wenn er unter einem ganz
bestimmten Winkel an das Segel stößt; in jedem
anderen Falle dreht er sie so lange herum, bis
sie nicht in diese Richtung fällt.
Abb. 2.
Wenn aber der Wind ganz umschlägt, wenn
er von der vorderen Seite, links oder rechts, mehr
oder weniger schräg, oder auch gerade von vorne
kommen würde? Das Schififlein braucht sich in
diesem Falle gar nicht umzudrehen. Nachdem es
vorne und hinten ganz gleich gebaut ist, so würde
einfach jetzt das Vordere zum Hinteren und um-
gekehrt.
Es ist also gesichert, daß die Velella jeden
Wind ausnützt, und daß sie von demselben immer
nach vorne getrieben wird, also mit dem Winde
segelt. Die deutschen Seeleute nennen sie zwar
„Der Segler bei dem Winde", das bezieht sich
aber nur auf die Stellung des Segels, welches sich
nicht senkrecht zum Winde stellt, wie es der
Schiffer machen würde, wobei der Wind freilich
besser ausgenützt wäre, sondern das Segel wird
gegen den Wind immer schräg gestellt. Und es
kann schon wegen der Konfiguration der Kon-
turen der Velella gar nicht anders sein. Der
plattförmige Körper ist nämlich nicht wie ein
Schiff spindelförmig, sondern vorne und hinten in
gleicher Richtung schräg abgestutzt. Es ist ein
Rhomboid. Freilich nicht ganz streng geometrisch
mit vollkommen geraden Seiten und scharfen
Winkeln (was ja in unserem Falle gar nicht not-
wendig ist), aber im ganzen doch ein Rhomboid.
Und gerade damit ist alles erreicht. Nehmen wir
an die Velella wäre symmetrisch gebaut, vorne
und hinten gleich spitzig oder gleich gerade ab-
gestutzt, der Wind würde sie in diesem Falle als-
bald in seine Richtung, gleich einer Wetterfahne,
bekommen, und dann hört auch die Wirkung des
Windes völlig auf. Eben erst durch die schräge
Abstutzung, und zwar vorne und hinten in paral-
leler Richtung, und zwar so, daß das vordere
Ende zwei ungleich lange Seiten dem Widerstand
des Wassers bei Segeln bietet, also durch die trape-
zoidische Form, ist das ein- für allemal völlig
ausgeschlossen.
Damit ist also erreicht, daß die Velella mit
jedem Wind immer weiter und weiter fährt, ge-
radezu segelt, was für ihre Ernährungsweise von
der größten Wichtigkeit ist. Sie besitzt keine
langen Fangfäden, mittels welcher sie ihre Um-
gebung weithin abtasten und Beute fangen könnte.
Der zentrale Magen (Hauptsiphon) ist auch kein
langes Saugrohr; alle ihre übrigen Anhänge sind
auch kurz an der unteren Fläche der Scheibe
(Subumbrella) angebracht. Sie kann daher nur
jener Beute habhaft werden, die in ihre unmittel-
bare Nähe kommt. Deswegen muß sie selbst die
Beute aufsuchen, also eine große Beweglichkeit
besitzen. Damit sie aber ihre Kräfte nicht zu
viel in Anspruch nimmt, damit sie ihre Energie
spart, überläßt sie sich ganz dem Winde, und
läßt sich von ihm passiv herumtreiben. Mittels
des aulrechten, dreieckigen, sog. lateinischen Segels
ist ja erreicht, daß sie vom Winde getrieben wird,
und durch die ganz eigentümliche, ja fast einzig
im ganzen Tierreiche dastehende rhomboidische
Form der Scheibe ist wieder streng nach allen
Regeln der Mechanik dafür gesorgt, daß sie nicht
wie eine Wetterfahne in die Richtung des Windes
gelangt, wodurch ja natürlich die Kraft desselben
völlig vernichtet wäre. Gewiß also eine geniale
„Erfindung". —
Damit ist aber noch nicht alles abgetan. Am
Körper der Velella bemerken wir noch einen
biegsamen häutigen Saum, der den Körper rings
herum umsäumt, und welcher nicht durch das
chitinige Skelett, mit seinen konzentrischen luft-
erfüllten Ringen, unterstützt ist. Dieser Haut-
saum, natürlich auch von rhomboidischer Form,
wird wohl auch nicht, wie überhaupt nichts in
der Natur, umsonst da sein. Schon aus der Be-
schaffenheit, Form und Lage dieses Hautsaums,
der auch einfach Kragen (collare) genannt wird,
geht hervor, daß er eine Bremsevorrichtung dar-
stellt. Bei sehr starken reißendem Winde würde
die Velella mit einer rasenden Geschwindigkeit
dahinsausen, so daß es ihr gar nicht möglich
wäre zu fressen. Und solche Witterung kann ja
bekanntlich auch längere Zeit andauern. Wenn
sie aber diesen Saum an ihren beiden hinteren
Seiten nach unten schlägt, müssen sie ohne
weiteres eine Hemmung in der Geschwindig-
keit des Fluges, oder eigentlich des Segeins be-
wirken. Es fragt sich nur ob nicht dadurch
eine Abschwenkung von dem eingeschlagenen
Kurse hervorgerufen wird. Der Widerstand des
Wassers, der, wie oben angenommen würde, auf
N. F. XXI. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
587
die scharfen Ränder der beiden ungleich langen
vorderen Seiten eingewirkt hat, stößt jetzt noch
stärker an die inneren Flächen des nach unten
geschlagenen Saumes der beiden hinteren Seiten;
sie bieten ja jetzt eine größere Fläche dem Wider-
stände dar, als der horizontal ausgebreitete Saum
an den beiden vorderen Seiten tun konnte. Wie
wir oben gesehen haben, waren die beiden durch
den Widerstand erzeugten Kräfte der vorderen
Seiten nicht gleich stark. Die eine überwog und
zog nach links, korrigierte eben die Richtung der
Komponente „c"' und erzeugte erst dadurch die
schließliche Resultante „R". Die längere Seite,
jetzt können wir bei dem nach unten geschlagenen
Saume auch wohl mit größerem Rechte von den
Flächen reden, ist ja aber jetzt an der linken
Seite, die kürzere auf der rechten. Nun, das
würde ja noch nicht viel ausmachen, denn der
stärkere Zug ist ja auch früher nach links erfolgt.
Da aber jetzt die Komponente gewachsen ist,
müßte die ganze Velella mehr nach links
schwenken und somit die Richtung des Kurses
— das ist die Richtung des Windes, den sie ja
Abb. 3.
nicht verlassen darf — aufgeben. Die Abb. 3
veranschaulicht uns das noch besser. Wir sehen,
daß die Komponente „e"', rebus hie stantibus,
gewachsen ist, und da müßte auch freilich die
Resultante von „R" nach „R"' ziehen. Aber die
Angriffspunkte der Kraft des Widerstandes waren
ja früher an der vorderen Hälfte von der Längs-
achse, an beiden vorderen Seiten, angebracht.
Jetzt befindet sich jedoch die hintere rechte Seite
(Fläche) ganz und die linke zum größten Teile
in der hinteren Hälfte des Tieres. Wenn man
aber an einem zweiarmigen Hebel, und das stellt
der Körper der Vetella auch vor, das hintere
Ende nach links schiebt, so muß dadurch —
wenn der Stützpunkt in der Mitte liegt — das
vordere Ende gerade um soviel umgekehrt, näm-
lich in diesem Falle nach rechts ablenken.
Also die Genialität geht in der Tat noch
weiter, und die Velella verfügt, wie wir sehen,
in ihrer Art des Bremsens noch immer über Mittel,
die ihr gestatten sich nicht vom Winde in seine
Richtung fangen zu lassen. Die Resultante „R"'
muß also wieder in die vorgeschriebene Richtung
„R" gelangen, nur ist sie, wie es schon aus der
Figur ersichtlich ist, wieder kleiner geworden.
Die Velella kann somit, indem sie wie eine
Feder leicht ist, schon von dem schwächsten
Winde getrieben werden, und andererseits kann
sie sich vor dem zu schnellen Fluge durch ihre
ganz spezifische Art von Bremse wehren. Und
was das wichtigste ist, sie behält stets dieselbe
Lage ihres Körpers dem Winde gegenüber bei;
sie ist also wahrlich durch die permanente Stel-
lung ihres Segels ein „Segler bei dem Winde".
Wir haben als die Vorrichtung der Retention,
des Bremsens, den Umschlag der Falten der hin-
teren Hälfte angenommen, warum auch nicht der
vorderen ? Ich glaube, daß die Biegung auch
noch der vorderen Seiten resp. Flächen nicht
viel mehr dazu beitragen könnten. Denn, wenn
man eine Fläche gegen einen Widerstand oder
überhaupt gegen eine Kraft wirken läßt, so kann
eine andere ebensolche knapp vor ihr oder nach
ihr liegende, mit ihr parallellaufende Fläche gar
nichts daran ändern. Der Umschlag des hinteren
Saumes kann aber noch die Bedeutung haben,
daß das gefangene Plankton unter der Subum-
brella aufgehalten, aufgestaut wird, damit es nicht
bei einem zu raschen Fluge zu eiligst unter dem
Körper davon läuft. Fände das auf der vorderen
Hälfte statt, so könnte die Beute gar nicht bis
zum Magenstiel gelangen. Daß der Saum auch
an der vorderen Hälfte des Körpers vorkommt,
kann uns nicht überraschen, denn die Velella ist
eben so gebaut, daß ihr Vorderteil dem hinteren
ganz gleich ist und jederzeit der eine die Rolle
des anderen übernehmen kann.
Nun aber wollen wir nur noch eine kleine,
eventuelle Frage im vorhinein beantworten. Was
würde geschehen, wenn sich nicht beide hinteren
Falten umschlagen möchten oder nicht gleich
stark wären? In diesem Falle ist es klar, daß
die Velella von ihrem Kurse ablenken könnte,
also steuern. Das tut sie aber nicht. Denn die
Stellung ihres Segels dem Winde gegenüber ist
geradezu ideal, und andererseits verfügt sie nicht
über solche Fernsinne, mit denen sie eruieren
könnte, ob sich eine größere Beute auf der linken
oder rechten Seite ihres Kurses befindet. Das
letztere ist aber auch verhängnisvoll genug für
sie. Die Velellen werden, wie uns die Beobach-
tung lehrt, sehr oft gerade in Unmassen auf den
Strand geschleudert, wobei sie natürlich zugrunde
gehen müssen. Sie sind eben vollkommene pela-
gische Tiere, die nur an die Hochsee angepaßt
sind, aber an diese in einer ganz besonderen,
geradezu genialer Weise.
Was geben uns aber solche Beispiele der
scharfsinnigsten Einrichtungen, die wir nach allem
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 43
unseren Denkvermögen unbedingt genial nennen
müssen, in der unvernünftigen Natur zu denken?
Daß sie eben nicht vernunftlos ist; daß das zu-
fällige richtungslose Variieren, daß mit einem
Worte der bloße Zufall das nie zustande bringen
könnte. Können wir aber annehmen, daß die
Velella mit einem vorgefaßten Entwürfe, mit
Zirkeln und Linealen, mit Kräfteparallelogrammen
und mit dem Behelfe der ganzen Mechanik zu
Werke gegangen ist? Auch nicht. Aber ebenso
wie die Naturgesetze, so scheint auch die zwin-
gende Logik überall in der Welt zu walten. Auch
wir vernünftigen Menschen erreichen nicht immer
unser Ziel durch einen unfehlbaren Plan, sondern
die Praxis korrigiert zu oft unsere Fehler und
belehrt uns eines Besseren. Wenigstens aber ein
gewisses Denkvermögen, das uns lehrt was besser
und was schlechter, was für uns vorteilhafter und
was nicht ist, müssen wir unbedingt besitzen.
Wenn wir aber ein solches haben, dann können
wir oft auch ohne glückliche Einfälle, ohne In-
vention mit diesem Vermögen allein schon sehr
vieles erreichen und weiter fortschreiten. Und
wenigstens dieses geistige Vermögen müssen wir
auch den Tieren, ja auch den Pflanzen unbedingt
konzedieren. Ich sagte ,, wenigstens", denn was
wissen wir was in einem Tiere vorgeht. Wir
glauben nur das zu wissen, was unser Bewußtsein
uns lehrt. Es kann aber noch ein anderes Wissen
in uns selbst und auch außer uns geben. Wenn
uns also schon nach unserem bewußten Denken
vorkommt, daß irgend etwas nicht nur nach den
Gesetzen der Natur — denn außer diesen kann
ja nichts in der Welt vorkommen, sie sind eben
der Reflex der Welt — sondern auch mit erfin-
derischen Gaben außerordentlich glücklich und
geistreich zusammengestellt ist, daß die Gesetze
in einer vernünftigen Weise kombiniert und aus-
genützt sind, also wenn wir etwas Rationelles,
wirklich Sinnreiches wo immer finden, wer kann
uns dann daran hindern, es auch als solches an-
sehen ? Vor so ein Rätsel einmal gestellt, heißt
aber dann nicht das Geniale leugnen, sondern im
Gegenteil den Auktor, das Genie aufsuchen. Eine
Frage, richtig gestellt, ist freilich noch nicht zu-
gleich eine Beantwortung derselben, aber der erste
Schritt dazu ist damit doch immer getan.
Einzelberichte.
Neue Beiträge zur Theorie uud Praxis
katalytisclier Hydrierungen. II.
In Naturw. Wochenschr. N. F. XX, S. 396
(1921) war unter dem gleichen Titel eine Arbeit
von R. Willstätter und E. Waldschmidt-
Lei tz^) referiert worden, die zu zwei wichtigen
und weittragenden Folgerungen geführt hatte:
Es war darin die für die Praxis hochbedeutsame
Entdeckung mitgeteilt worden, daß „katalytische
Hydrierung durch Platin und Palladium als Mohr
und als Oxyd nur bewirkt wird , wenn diese
Sauerstoff gebunden enthalten". Der Vorgang
der Anlagerung von Wasserstoff bedürfe also not-
wendig seines Antagonisten, des Sauerstoffs I Es
war ferner die für die Theorie des Hydrierungs-
vorgangs wichtige Auffassung formuliert worden,
daß jene Wirksamkeit des Sauerstoffs auf der
intermediären Bildung eines Peroxyds, etwa
/°
der Formel Pt( | , beruhe, das mit Wasserstoff
^0
in ein Peroxydhydrid der Formel /Pt\ | über-
H^ \0
geht. „Danach beruht die Wasserstoffübertragung
auf einem Spiele zwischen zwei Valenzstufen des
Platins." Willstätter fügt allerdings hinzu, daß
beim Nickel (das in der Fetthärtung weitaus
wichtigste Katalysatorenmaterial) „die den Wasser-
stoff übertragenden Sauerstoffstufen nicht per-
oxydisch sind". -')
') Ber. d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 54, S. 113, 1921.
*) Ebenda S. 120.
Wie zu erwarten, haben diese Mitteilungen
Aufsehen gemacht. Eine Reihe von Arbeiten zu
dem Thema haben die beiden Hauptbefunde einer
eingehenden kritischen Prüfung unterzogen. Es
soll darüber im folgenden berichtet werden.
Unter den Veröffentlichungen, die sich auf den
rein experimentellen Inhalt der Willstätter sehen
Arbeit beziehen, nehmen naturgemäß die Arbeiten
der Industriechemiker, die mit Hydrierungen in
großem Maßstabe eng vertraut sind, die Haupt-
stellung ein. Ms Erster hat C. Kelber^) die
Richtigkeit der Beobachtungen Willstätters
bestritten. Ihm war ein besonderer Einfluß der
Luft, also des Sauerstoffs, bei Hydrierungen nie
aufgefallen. Bei einer Nachprüfung der Will-
stätt ersehen Arbeit wurde bestätigend gefunden,
daß eine Erhöhung der Aktivität des Katalysators
infolge Sauerstoffbeladung nicht stattfindet. Bei
diesem glatten Widerspruch muß jedoch auf einige
Unterschiede in der IVIethode beider Autoren auf-
merksam gemacht werden. Willstätter gewann
sein katalytisch wirkendes Nickel aus dem
Oxalat, das durch Glühen in das Oxyd, dieses
durch Reduktion in das Metall übergeführt wurde.
Kelber geht aus vom basischen Nickel-
karbonat. Der hieraus dargestellte Katalysator
soll nach seinen Untersuchungen dem aus Oxalat
gewonnenen überlegen sein. Kelber hält es
für nötig, zu derartigen Vergleichsversuchen „nor-
mal wirksame" Katalysatoren zu verwenden, da-
mit eine etwaige „Inaktivität" nicht etwa der
Minderwertigkeit des Katalysator metalls an
') Ebenda S. 1701.
N. F. XXI. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
589
sich zur Last falle. (Hierzu ist zu fragen, welches
Kriterium für „normale" Wirksamkeit denn be-
steht? Auch das von W. bereitete Nickel kata-
lysiert ja, wenn die Reduktion bei niederer Tem-
peratur vorgenommen wurde. Ref.) Wenn
K eiber die Hydrierung in einer Schiittelente
vornahm, die vorher als Gefäß zur Darstellung
des Nickels gedient hatte (so daß Umfüllen, also
Lufteinwirkung vermieden wurde), so zeigte sich,
daß bei 350 — 360° hergestellter Nickelkatalysator
gut aktiv warl Ein Katalysator jedoch, der
bei tieferer Temperatur als der angegebenen her-
gestellt war, war wesentlich geringer aktiv.
Dies steht in vollem Gegensatz zu Willstätters
Befunden. Sodann wurde der bei 350 — 360** her-
gestellte Nickelkatalysator mit Sauerstoff geschüt-
telt. Er nahm beträchtliche Mengen davon auf.
Bei der nachfolgenden Prüfung auf Hydrierfähig-
keit erwies sich der sauerstoffbeladene Katalysator
jedoch völlig inaktiv! Auch dies steht in
ganz auffallendem Widerspruch zu Willstätters
Befund und verneint gerade den Kernpunkt von
dessen Untersuchung, wonach der Sauerstoff zur
Hydrierung unerläßlich sei. Ein zweiter Unter-
schied in der Arbeitsweise der beiden Forscher
kann für diesen Widerspruch nicht verantwortlich
gemacht werden. Er besteht darin, das WiU-
stätter die Hydrierung bei 60", Kelber aber
bei 18 — 20" vornimmt. Denn einmal muß, im
Sinne der W.schen Vorstellung vom Verlauf der
Hydrierung, der Einfluß des Sauerstoffs immer
der gleiche sein. Hier bewirkt er aber einander
entgegengesetzte Wirkungen! Und auch
die erhöhte Temperatur bei W. ist nicht aus-
schlaggebend, denn wäre sie von Einfluß, so
müßten sich bei gewöhnlicher Temperatur wenig-
stens Andeutungen einer dem Sinne nach gleichen
Wirkung des Sauerstoffs zeigen : werden doch die
meisten Fetthärtungen und anderen Hydrierungen
bei Zimmertemperatur, nicht aber erst bei 60"
wirksam gemacht und praktisch angewendet. —
Hier steht zunächst Behauptung gegen Behauptung.
Die Befunde Kelbers finden nun aber eine
wertvolle Bestätigung durch eine soeben erschie-
nene Arbeit von W. Normann, dem Bahnbrecher
der technischen Hydrierungen.*) Die Arbeit Nor-
manns zeichnet sich vor allem aus durch sorg-
fältigste Handhabung der Methodik, deren Haupt-
inhalt der absolute Ausschluß des Sauerstoffs
war. Auch gegen Kelber kann noch der Ein-
wand gemacht werden, daß zwar sein Katalysator
und sein Versuchsapparat sauerstofffrei waren,
nicht aber möglicherweise der von ihm benutzte
Wasserstoff. Gerade auch hierauf legte Nor-
mann Gewicht. In der Tat zeigte sich der
Wasserstoff, wie er in der Regel zu Hydrierungen
benutzt wird, oft genug nicht völlig frei von
Sauerstoff. Selbst der elektrolytisch dargestellte
Wasserstoff enthält nach Normann häufig merk-
liche Mengen davon. Die Bezeichnung „garantiert
') Ebenda 55, S. 2193, 1922.
rein" ist mithin cum grano salis, nicht wissen-
schaftlich exakt zu bewerten. Als Indikator selbst
für Spuren von Sauerstoff diente eine unter Luft-
abschluß hergestellte alkalische Pyrogallollösung.
Auch eine durch etwas Hydrosulfit eben entfärbte
Lösung von Indigokarmin kann als Sauerstoff-
indikator dienen. Eine Spur davon färbt die
Lösung alsbald blau. — Demnächst stellte Nor-
mann unter Berücksichtigung der vorerwähnten
Umstände absolut sauerstofffreien Wasserstoff da-
durch her, daß er elektrolytisch gewonnenen
Wasserstoff über eine erwärmte Flocke von Palla-
diumasbest leitete, hierauf durch eine der ge-
nannten Indikatorlösungen schickte. Aus der
Unveränderlichkeit der Lösungen ergab sich, daß
der Norman nsche Wasserstoff bestimmt rein
war. Von einem Vergleich verschiedener Kata-
lysatoren oder Arbeitsbedingungen sah Nor mann
mit Fug ab. Es handelt sich in seiner Arbeit
lediglich um die Hauptfrage, ob katalylische
Hydrierungen ohne Sauerstoff möglich sind.
Dennoch wurde selbstverständlich auf Sauerstoff-
abwesenheit auch in den Katalysatoren Wert ge-
legt. Als solche wurden verwendet das Chlorid
und das Cyanid des Nickels. Die Hydrierung
wurde vorgenommen an raffiniertem, mit Dampf
ausgeblasenem Baurnwollsaatöl. (Auf Abwesenheit
von Luftspuren im Ol wurde wohl geachtet? Ref.)
Das Ergebnis war ganz eindeutig und glatt zu
erzielen. Es spricht gänzlich gegen Will-
stätter. Nickelcyanid reduzierte bei etwa 200"
ohne Ermüdung 3 Stunden hindurch und lieferte
ein talghartes Fett. Nickelchlorid mit einer
Menge von 0,3 "/„ Nickel reduzierte gleichfalls
mehrere Stunden lang und lieferte ein festes „hoch-
talghartes" Fett ! Endlich wurde auch ein Edel-
metall zur katalytischen Hydrierung verwendet:
0,1 g Palladiumchlorür, in Wasser gelöst und auf
Kieselgur niedergeschlagen reduzierten, härteten
also Baurnwollsaatöl genau so wie Nickel inner-
halb 2 Stunden zu talghartem Fett. Nor mann
kommt mithin zu dem Ergebnis, daß Sauerstoff
zur Hydrierung im besonderen der Öle nicht
unerläßliche Bedingung sei. „Die von Will-
stätter gemachten Beobachtungen erfordern
wohl eine andere Erklärung." Diese Ergebnisse
decken sich auch mit der industriellen Erfahrung,
daß ein Sauerstoffgehalt von nur einigen Zehntel-
prozenten den Hydrierungsvorgang stört. Für
die schon von Brochet') gemachte Beobachtung,
daß restlos reduziertes, also gänzlich sauerstoff-
freies Nickel inaktiv sei, gibt Normann eine
einleuchtende, weil experimentell beglaubigte Er-
klärung: selbst bei niedriger Reduktionstemperatur
sintert das reduzierte Metall zusammen, büßt also
an Oberfläche ein. Die Oberfläche aber, darin
stimmt man überein, ist von wesentlichem Ein-
fluß auf die Wirksamkeit des Katalysators. Ist
dagegen ein Träger für das reduzierte Nickel an-
wesend, etwa Kieselgur, so verhindert dieser das
') BuUetia de la Soc. Chim. 15, S. 554, 1914.
590
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 43
Sintern, wahrt also die bedeutende Oberfläche und
gestattet restlose Reduktion, die denn ein Metall
von normalem Katalysatorenwert liefert.
Ein dritter Forscher, der sich gegen die Be-
obachtungen Willst ätters kehrt, ist A. Skita.*)
Skita, dessen wertvolle experimentelle Arbeiten
auf dem Gebiet der katalytischen Hydrierungen
ihn zu einem gewichtigen Gewährsmann machen,
führte Parallel versuche dergestalt aus, daß unter
sonst übereinstimmenden Bedingungen je eine
Hydrierung in gewöhnlicher Weise, ohne beson-
deren Ausschluß von Sauerstoff, und eine solche
mit bestgereinigtem Wasserstoff unter Sauerstoff-
ausschaltung vorgenommen wurde. Reduziert
wurden Pulegon und as.-p-Xylidin mit Platin und
Palladium als Katalysatoren. Beide Stoffe lieferten
in quantitativer Ausbeute die erwarteten
Reduktionsprodukte, nämlich Menthon und i-
Amlno 2- 5.-dimethyl-cyclohexan ! Damit ist be-
wiesen I. daß Sauerstoff auf die Geschwindigkeit
so wenig wie auf den qualitativen Verlauf der
katalytischen Hydrierung irgendwelchen Einfluß
hat; daß 2. die Bildung eines Superoxyds als
intermediärer Katalysator nicht angenommen
werden muß, denn in je einem der Versuche war
auf absolute Abwesenheit jeglichen Sauerstoffs
Wert gelegt worden. Ja, die von Skita ausge-
führten Hydrierungen hätten überhaupt nicht vor
sich gehen können, wenn die Bildung einer Super-
oxyds, wie Willstätter annimmt, die Voraus-
setzung für die Wirksamkeit des Platins wäre.
Denn der völlige Ausschluß von Sauerstoff in
einigen Versuchen schließt die Bildung eines Oxy-
des oder gar Peroxydes aus. Um aber sicher zu
gehen, wurde von Skita weiterhin unmittelbar
auf die Anwesenheit eines Superoxydes geprüft.
Ein solches macht, auch in kleinsten Mengen, aus
Jodiden bekanntermaßen Jod frei. Dieses läßt
sich scharf nachweisen durch die Bläuung von
Stärke und seine veilgefärbte Schwefelkohlenstoff-
lösung. Aber eine kolloidale Platinlösung in
Alkohol, der etwas Kaliumjodid zugefügt war und
die mit Wasserstoff 2 Stunden lang geschüttelt
wurde, zeigte auch nicht die Spur freien Jods an.
Es war also ein Peroxyd sicherlich nicht ge-
bildet worden. Ferner sollten Hydrierungen mit
Platin als Katalysator in Gegenwart von Kalium-
jodid überhaupt völlig negativ verlaufen, wenn
die Annahme der Peroxydbildung zuträfe: das
gebildete Superoxyd müßte sofort Jod frei machen,
würde also verbraucht, der Katalysator wäre
mithin wirkungslos. Wenn Skita jedoch der
eben erwähnten jodidhaltigen Lösung Phenol
zusetzte und mit Wasserstoff weiterhin schüttelte,
so wurde in 2 Stunden das Phenol quantitativ
in sein Reduktionsprodukt Cyclohexanol überge-
führt. Auch dieser Befund ist ganz eindeutig
gegen die theoretischen Vorstellungen Will-
stätters. Freilich beziehen sich dessen Mit-
teilungen auf Hydrierungen bei Temperaturen,
die teilweise weit über Zimmertemperatur liegen.
Es zeigte sich axich in Skitas Versuchen ein
Einfluß der Temperatur, so daß hier experimentell
noch nicht völlig klare Verhältnisse herrschen.
Wohl aber darf man festhalten, daß für die An-
nahme einer Peroxydbildung keine experimen-
telle Begründung vorliegt.
Diesen Nachweis führt auch K. A. Hofmann')
in Versuchen über die Katalyse von Sauerstoff-
Wasserstoffgemischen durch Platinmetalle. Auch
diese belangvolle und inhaltsreiche Arbeit spricht
sich entschieden gegen Willstätter aus. Ihr
hier in erster Linie angehender Inhalt ist der
Nachweis, daß weder chemisch noch in Potential-
messungen ein Anhalt für die Annahme eines
Peroxydhydrids gegeben ist. In dem Schenkel
eines U-Rohres war ein mit Platin getränktes
Tonrohr befestigt, das von 17 proz. Schwefelsäure
umgeben war. Nach mehrtägiger Sauerstoffbela-
dung konnte die Aktivierung des Sauerstoffs durch
Jodabscheidung aus Jodid deutlich und sehr glatt
nachgewiesen werden. Nunmehr wurde Wasser-
stoff zugeführt. Alsbald setzte die Katalyse kräf-
tig ein, aber nicht die Spur von Jodabscheidung
wurde noch bemerkt. Ganz sicherlich also ist
die Knallgaskatalyse nicht mit dem Auftreten
eines Peroxydes, das sich bei reinem Sauerstoff
auf Platin leicht bildet, verknüpft. Ein zweiter
Nachweis hierfür ist der folgende: wurde das U-
Rohr mit einer i proz. Titansulfatlösung in 17 proz.
Schwefelsäure gefüllt, so konnte niemals die für
Hydroperoxyd so sehr kennzeichnende Gelbfär-
bung beobachtet werden, auch wenn Gemische
von Wasserstoff und Sauerstoff mit großer Ge-
schwindigkeit katalysiert wurden. Vielmehr trat
nach längerer Beladung mit Wasserstoff die
helle Veilfarbe des Titan (3)-sulfates auf (Wir
erwähnen diesen Versuch, weil er ein schönes
Demonstrationsstück für die Reduktionswirkung
des an Platin aktivierten Wasserstoffes ist.) —
Die auch von anderer Seite gemachte Beobach-
tung, daß Sauerstoff ermüdete Platinkatalysatoren
belebt, erklärt Hofmann in sinnreicher Weise
so, daß bei der Knallgaskatalyse (nur diese hat
er untersucht. Ref) neben den ,, physikalischen"
Adsorptionskräften „die chemische Anziehung"
eine bedeutende Rolle spielt. Denn es ließ sich
nachweisen, daß Vorausbeladung des Platinkon-
taktes sowohl mit Wasserstoff einerseits, wie
auch mit Sauerstoff im anderen Falle in glei-
cher Weise die Aufnahmefähigkeit für das zur
Wasserbildung noch fehlende Element erhöht!
Also kommt, zum mindesten in diesem Falle,
dem Sauerstoff nicht eine spezifische Wirk-
samkeit zu. Und so dürfte sich seine Rolle in
den von W. beschriebenen Fällen darauf be-
schränken, daß er auf den mit Wasserstoff über-
sättigten Katalysator reinigend in dem Sinne
wirkt, daß die katalysierende Oberfläche sich mit
dem zur chemischen Umsetzung nötigen anderen
') Ber. d. Deutsch. Chem. üesellsch. 55, S. 139, 1922.
') Ebenda S. 573, 1922.
N. F. XXI. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
591
Partner der Katalyse, d. h. den zu reduzierenden
Stoff beladen kann.
Zusammenfassend können wir den heutigen
Stand des Problems der katalytischen Hydrierung
so präzisieren: die Behauptung von Willst ätt er
und Waldschmidt-Leitz, daß katalytische
Hydrierungen „nur" bei Anwesenheit von Sauer-
stoff vor sich gehen, ist unzutreffend. Nicht
nur ist der Sauerstoff per se unnötig, sondern
zuweilen (so in der Fetthärtung*)) sogar schäd-
lich. In vielen Fällen kann er eine zur Erreichung
des Katalysationspotentials nötige „Reinigung"
des Katalysators bewirken. Hierauf dürfte es
beruhen, daß neuerdings K. Heß-) mit erneuter
Sauerstoffbeladung nach Ermüdung des Kataly-
sators diesen wiederbelebte, was ausdrücklich
auf Grund der W.schen Aj-beit vorgenommen
wurde. ^) Die weitere hypothetische Vorstellung
Willstätters, daß ein Platinsuperoxyd die
katalytisch wirksame Zwischenstufe sei, ist gleich-
falls experimentell so gut wie völlig unwahr-
scheinlich geworden. Immerhin wird es vieler
Arbeiten bedürfen um in diese Verhältnisse ent-
gültige Klarheit zu bringen. H. Heller.
Neue Misteluntersuchungen.
Während die Blütenbiologie unserer einhei-
mischen Mistel {Vtscuiii album L.) noch immer
nicht völlig aufgeklärt ist, scheinen nun wenigstens
dank der sorgfälligen Untersuchungen von E. Hein-
richer die Bestäubungsverhältnisse der rotbeerigen
Mistel ( V. cruciatuvi) sicher festgestellt zu sein.*)
Von einer Frühjahrsbestäubung durch Insekten,
wie sie nach v. Tubeuf auch bei dieser Mistel
stattfinden soll, kann nach den Beobachtungen
von E. H. keine Rede sein. Vielmehr weisen die
Blütenverhältnisse ganz deutlich auf Windbestäu-
bung hin. Die Blüten von V. criiciatmn sind
nämlich im allgemeinen noch kleiner und unan-
sehnlicher als die unserer einheimischen Mistel.
Auch konnte E. H. keine Nektarausscheidung
wahrnehmen. Die zähklebrige Substanz, welche
das Glänzen der Narbe verursacht, kann nicht als
Nektar angesehen werden. Außerdem sind die
männlichen Blüten deutlich gestielt und zeigen
das Bestreben, sich nach abwärts zu neigen, wo-
durch die Ausschüttung der kleinen, staubförmigen
Pollenkörner erleichtert wird. Zudem hat E. H.
neuerdings auch bei Erschütterung der Pflanze
deutliches Stäuben der männlichen Blüten beob-
achten können. Alle diese Einzelheiten deuten
unzweifelhaft auf Windbestäubung hin, demgegen-
über die stachlige Oberfläche der Pollenkörner
kaum ins Gewicht fallen dürfte. Hoffentlich er-
halten wir nun auch bald Klarheit über die Be-
stäubungsverhältnisse unserer einheimischen Mistel.
E. Schalow, Breslau.
') Vgl. insbesondere die Arbeit von Normann.
') Ber. d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 54, S. 3014, 1921.
') Der Berichterstatter bekam auch von befreundeter Seite
mitgeteilt, dafi sich Willstätters Methode experimentell in
vielen Fällen bewähre, denen man bislang ratlos gegenüber-
stand.
*) Vgl. E. Heinricher, Über die Blüten und die Be-
stäubung bei Viscum cruciaium. Ber. d. Deutsch. Bot. Gesell-
schaft, Bd. XL, 1922.
Bficherbesprechungen.
Dahl, Friedrich, Vergleichende Psycho-
logie oder dieLehre von dem Seelen-
leben des Menschen und der Tiere.
104 Seiten. Mit 25 Abbildungen im Text.
Jena 1922, G. Fischer. 35 M.
Bezüglich des Seelenlebens besteht im Tier-
reich eine Stufenreihe, welche von den niederen
Organismen allmählich zu dem Menschen hinauf-
führt. In diesem Sinne will der Verf. die Ent-
stehung und Ausbildung des Bewußtseins be-
trachten. Da er Zoologe ist, könnte man erwarten,
daß er die Entwicklung der psychischen Fähig-
keiten mit der stufenartigen Ausbildung des Ner-
vensystems in Beziehung setzte, aber er will rein
psychologisch vorgehen und versteht unter Psycho-
logie nur die Wissenschaft von den Bewußtseins-
vorgängen. Dieser Standpunkt hat allerdings für
die Tierpsychologie insofern etwas Bedenkliches,
als man über das Bewußtsein und die Gefühle
bei den Tieren am wenigsten Sicheres sagen kann.')
In dem ersten Abschnitt stellt Dahl solche
Vorgänge zusammen , bei welchen er noch kein
Bewußtsein annimmt, und bringt hier die Tropis-
men und Taxien der Pflanzen neben die Reflexe
im menschlichen Körper. Der zweite Abschnitt soll
„Bewußtseinsvorgänge einfachster Art" behandeln
und betrifft die Lebensäußerungen bei Protozoen
(Amöben und Infusorien), bei Cnidarien (Hydra), bei
Echinodermen (Seestern) und bei Würmern. Man
kann dem Verf. darin zustimmen, daß das Bewußt-
sein in dem Tierreich alimählich entstanden ist,
aber es bleibt doch eine Sache subjektiver Schät-
zung, ob man mit Dahl bei den Ringelwürmern
und speziell bei der Begattung der Regenwürmer
das erste Anzeichen des Bewußtseins finden will.
Eine Tierpsychologie, welche die Frage nach
dem Bewußtsein und nach den Gefühlen in den
') Die Tierpsychologie Dahls bildet in dieser Hinsicht
einen Gegensatz zu der von mir vertretenen Ansicht, daß man
die Begriffe der Tierpsychologie auf objektiv feststell-
bare Merkmale begründen muß. Ich habe darüber schon
im Jahre 1907 eine Diskussion mit Dahl geführt (Zoolog.
Anzeiger 32. Bd., 1907, S. 251 — 256) und meine Auffassung
in meinen tierpsychologischen Büchern eingehend dargelegt
(H. E. Ziegler, Der Begriff des Instinktes einst und jetzt,
3. Aufl., Jena 1920 und Tierpsychologie, Göschenbäadchen,
Berlin 1921). Ich sah meine Aufgabe gerade darin, eine von
der Frage des Bewußtseins unabhängige Tier-
psychologie zu begründen.
592
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 43
Vordergrund stellt, kann eben bei den niederen
Tieren nur zu etwas willkürlichen Analogie-
schlüssen führen. — In den beiden folgenden Ab-
schnitten betritt der Verf sichereren Boden indem
er die Sinnesorgane und die Sinneswahrnehmung
betrachtet. Von da kommt er zu den Instinkten
und Kunsttrieben, dann zu dem Gedächtnis und
den höheren Geistesfähigkeiten. Er betrachtet
die Instinkte ganz richtig als ererbte Fähigkeiten,
aber er bringt sie mit Gefühlen in Verbindung,
wie sie beim Menschen meistens mit Gefühlen
zusammenhängen. Auch hier läßt sich wieder
der Einwand machen, daß wir über die Gefühle
der wirbellosen Tiere nur Vermutungen haben
können. Dahls Auffassung der Tierseele paßt
am besten auf die die höheren Wirbeltiere, bei
welchen Analogieschlüsse vom Menschen aus am
meisten Berechtigung haben.
Im ganzen sehe ich den Wert des Buches
nicht gerade in den theoretischen Anschauungen
des Verf., sondern in den zahlreichen Beispielen,
welche das Buch lesenswert und anregend machen.
Da hl nimmt vielfach auf die Insekten und die
Spinnen Bezug und ist auf diesem Gebiet ein
Kenner. Dies zeigt sich auch in dem Abschnitt,
welcher die Tierstaaten behandelt. — Schließlich
mag noch erwähnt werden, daß der letzte Ab-
schnitt des Buches die Religion betrifft und daß
der Verf da von einer „Weltpsyche" spricht,
welche „alle Materie durchdringt und auch in
unserem Gehirn zur Wirkung kommt".
H. E. Ziegler (Stuttgart).
Fuchs, Dr. Franz, Grundriß derFunken-
telegraphie in gemeinverständlicher Dar-
stellung. Zwölfte neubearbeitete Auflage. 94 S.
160 Abb. München u. Berlin 1922, R. Olden-
bourg. Geh. 40 M.
Das sehr empfehlenswerte Büchlein ist aus
Demonstrationsvorträgen während des Krieges
hervorgegangen. Zur Einführung sind die allge-
meinen Grundlehren des Gleich- und Wechsel-
stroms unter besonderer Berücksichtigung der in
der Funkentelegraphie angewandten Apparate
vorausgeschickt. Nach eingehender Behandlung
der elektrischen Wellen sind die wichtigsten
funkentelegraphischen Systeme in ihren Grund-
zügen gekennzeichnet. ' Neu hinzugefügt wurden
in der zwölften Auflage Abschnitte über die
Maschinensender von Nauen und Eilvese, die
Rahmenantenne, den Hochfrequenzverstärker und
die Röhrensender des Reichsfunknetzes. Beson-
ders hervorzuheben ist die große Zahl der Abbil-
dungen, von denen durchschnittlich fast zwei auf
jede Seite kommen, sowie ihre praktische Anord-
nung. Fricke.
Newcomb- Engelmanns Populäre Astrono-
mie. 6. Aufl. Herausgegeben von H. Luden-
dorff Mit 240 Abbildungen. Leipzig 1921,
W. Engelmann.
Dieses ausgezeichnete Buch ist auch in seiner
neuen Auflage sorgfältig durchgesehen und er-
weitert worden. Von den Herausgebern der vori-
gen Auflage sind inzwischen zwei gestorben, näm-
lich Schwarzschild und Kampf An ihre
Stelle sind Freundlich und Kohlschütter
getreten. Besonders weitgehend umgearbeitet ist
die Stellarastronomie. Erwähnenswert ist ferner,
daß im ersten Teil Freun dlich einen Abschnitt
über die Entwicklung der Mechanik von Newton
bis zur Gegenwart eingeschoben hat, in welchem
auch die Relativitätstheorie Einsteins eine kurze
Darstellung findet. Das Buch hat sich so sehr
einen Platz in der guten populären Literatur er-
obert, daß sich eine erneute eingehende Würdigung
erübrigt. Es gehört zu jenen Büchern, die der
Fachmann ebenso gern zur Hand nimmt wie der
gebildete Laie, ein Zeugnis für die glückliche
Vereinigung von Volkstümlichkeit und Wissen-
schaftlichkeit. Zu rühmen ist die gute Ausstattung
des Buches. Miehe.
Richtigstellung.
In meinem Aufsatz „Die Eiszeit in Deutschland und der
vorgeschichtliche Mensch" (Nr. VJ dieser Zeitschrift) bemerkte
ich bei der Literaturangabe, daß in der neuesten Auflage von
VVah nschaf f es Oberflächengestaltung des norddeutschen
Flachlandes zahlreiche Arbeiten dem Verf. entgangen sind.
Hierzu erfahre ich, dai3 bei der großen Fülle des
Stoffes der Neubearbeiter Herr Prof. Dr.Schucht
erst einige Kapitel umarbeiten konnte und den
größten Teil des Buches von der früheren Auf-
lage übernehmen mußte. Ich freue mich, nach noch-
maliger Durchsicht feststellen zu können, daß der von mir
erhobene Vorwurf auf die von Herrn Prof. Schucht neu-
bearbeiteten Teile nicht zutrifft.
Im Anschluß hieran teile ich mit, daß nach mündlicher
Mitteilung von Herrn Prof. Dr. Solger auch der chinesische
Löß in drei Stufen zerfällt, von denen die unterste rot, die
mittlere rotbraun und die jüngste gelb gefärbt ist. Das ist
ein neuer wichtiger Hinweis darauf, daß auch hier zeitliche
Gegenstücke zu den periglazialen nordeuropäischen Lössen
vorliegen. Der Entstehung nach gehört der chinesische Löß
allerdings zu den ,,Sleppenlössen", die sich in den Steppen-
noren der Umrahmung großer Wüsten bilden, während die
„glazialen" Lösse Nordeuropas, Nordamerikas und Argentiniens
durch Winde aufgeweht wurden, die als ,, Eisföhne" von den
diluvialen Gletscherdecken herabwehten. Allerdings scheinen
auch diese Steppenlösse heute nicht in dem Umfange weiter-
gebildet zu werden, wie im Eiszeitalter. Hieraus ergeben
sich wichtige Folgerungen, die ich bei weiterer Durcharbeitung
dieser Frage eingehender behandeln werde.
Dr. K. Olbricht-Breslau.
IllllHlt: Lazar Car, Velella spirans. (3 Abb.) S. 585. — Einzelberichte: Neue Beiträge zur Theorie und Praxis kata-
lytischcr Hydrierungen. II. S. 588. E. lleinricher, Neue Misteluntersuchungen. S. 591. — Bücherbesprechungen:
Fr. Dahl, Vergleichende Psychologie oder die Lehre von dem Seelenleben des Menschen und der Tiere. S. 59^-
Fr. Fuchs, Grundriß der Funkentelegraphie. S. 592. Newcomb - Engelmanns populäre Astronomie. S. 592. —
Richtigstellung. S. 592.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pütz'ichen Bucfadr. Lippert & Co. G. m. b, H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 29. Oktober 1922.
Nummer 44.
Das Verhältnis der Relativitätstheorie Einsteins zur Kantschen
Erkenntnistheorie.
VoD Hermauu Kranichfeld.
[Nachdruck verboten.!
Die Einsteinsche Relativitätstheorie ist eine
physikalische Theorie, doch erfahren durch sie
die physikalischen Grundbegriffe eine so weit-
gehende Umgestaltung, daß sie zweifellos in ihren
Konsequenzen auch auf das Grenzgebiet zwischen
Naturwissenschaften und Philosophie, das die Er-
kenntnistheorie einnimmt, hinübergreift. Die Frage
erhebt sich daher, ob sie überhaupt noch mit der
bisherigen Erkenntnistheorie, soweit sie auf Kant
zurückgeht, in Einklang gebracht werden kann.
Auch für den Naturwissenschaftler, der nicht auf
dem Standpunkt der Einsteinschen Relativitäts-
theorie steht, hat die Frage ein Interesse. Da es
sich bei ihr zugleich um die erkenntnistheoretische
Stellung der ganzen modernen Physik handelt,
deren Gedanken Einstein zum Teil nur weiter-
geführt hat.
Zwei auf das Problem tiefer eingehende
Schriften von Hans Reichenbach und Ernst
Cassirer') haben seine Lösung von entgegen-
gesetzten Gesichtspunkten aus in Angriff genom-
men. Sie sind daher besonders geeignet zu einer
kritischen Untersuchung der ganzen Frage anzu-
regen.
H. Reichenbach ist Vertreter der theore-
tischen Physik, Ernst Cassirer Philosoph und •
hervorragender Neukantianer. Beide stimmen in-
sofern miteinander überein, als sie auf dem Stand-
punkt der Einsteinschen Relativitätstheorie stehen.
H. Reichenbach war auf dem letzten Physiker-
tag in Jena einer ihrer Hauptvertreter. Dagegen
scheinen sie hinsichtlich der Übereinstimmung
der Relativitätstheorie mit der Kantschen Er-
kenntnistheorie zu ganz entgegengesetzten Resul-
taten zu kommen. Nach Cassirer ist eine
Übereinstimmung vorhanden, nach Reich en -
bach ist das nicht der Fall. Für ihn gibt es
nur zwei Möglichkeiten : „entweder ist die Rela-
tivitätstheorie falsch oder die Kantsche Erkenntnis-
theorie bedarf in ihren Einstein widersprechenden
Teilen einer Änderung" (S. 4). Für Reiche n -
bach gilt die zweite Alternative.
Cassirer folgt bei seiner Untersuchung als
Neukantianer in gewissem Sinne einer gebundenen
Marschroute. Denn wenn eine Übereinstimmung
zwischen der Einsteinschen Theorie, die er als
richtig anerkennt, und Kant nicht vorhanden ist,
') H. Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis
a priori. Berlin, Julius Springer, 1920. HO S.
Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie.
Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Berlin, Bruno Cassirer,
1921. 134 S.
muß er seinen philosophischen Standpunkt auf-
geben. Es wird sich daher empfehlen bei unserer
Prüfung der Frage von der Schrift Reichenbachs,
welche ihr freier gegenübersteht, auszugehen.
Es handelt sich dabei zunächst nicht um die
Aufgabe, die Richtigkeit der Einsteinschen Rela-
tivitätstheorie oder die der Kantschen Erkenntnis-
theorie festzustellen, sondern nur um die Frage,
ob die beiden Theorien miteinander in Einklang
stehen. Das Ergebnis derselben ist eine Klärung
der hier in Betracht kommenden Begriffe. Sie
ist zweifellos ein Bedürfnis auch der naturwissen-
schaftlichen Kreise. Mit ihr fällt dann aber auch
ein Licht auf die beiden Theorien selbst.
Reichenbach faßt, wie der Titel seiner
Schrift besagt, vor allem die Frage des a priori
ins Auge, d. h. die F'rage, ob das a priori Kants
gegenüber den Tatsachen, auf welche sich die
Einsteinsche Relativitätstheorie stützt, und gegen-
über der Deutung, welche sie durch diese er-
fahren, noch aufrecht erhalten werden kann.
Kant nahm die reinen Anschauungsformen von
Raum und Zeit und die reinen Verstandesbegriffe
oder Kategorien an, die nach ihm nicht aus der
Erfahrung stammen können, weil sie die Voraus-
setzung der Erfahrung sind und durch sie die
Erfahrung erst zustande kommt. Sie sollen, weil
sie logisch der Erfahrung vorangehen, nicht a po-
steriori, sondern a priori sein.
Reichenbach läßt das a priori in gewissem
Sinne gelten, unterscheidet jedoch bei dem Kant-
schen a priori zwei verschiedene Bedeutungen.
Einmal heiße es „soviel wie apodiktisch gültig
und für alle Zeiten gültig und zweitens bedeute
es den Gegenstandsbegriff konstituierend" (S. 46).
Nur in der zweiten Bedeutung will Reichen-
bach das a priori Kants gelten lassen. „Es
war die große Entdeckung Kants, daß der Gegen-
stand der Erkenntnis nicht schlechthin gegeben,
sondern konstituiert ist, daß er begriffliche Ele-
mente enthält, die in der reinen Wahrnehmung
nicht enthalten sind" (S. 47). Reichenbach
will nichts von der empiristischen Philosophie
wissen, „die glaubt alle wissenschaftlichen Sätze
in einerlei Weise mit der Bemerkung: alles ist
Erfahrung, abtun zu können". Sie habe den
großen Unterschied nicht gesehen, der zwischen
physikalischen Einzelgesetzen und allgemeinen Zu-
ordnungsprinzipien bestehe, und ahne nicht, daß
die letzteren für den logischen Aufbau der Er-
kenntnis eine ganz andere Stellung haben als die
ersteren. Doch sind auch diese „aprioristischen
S94
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 44
Prinzipien", die er mit dem Kantschen a priori
identifiziert, nach ihm dem Wandel unterworfen.
Und gerade die Relativitätstheorie habe an ihnen
die tiefgehendsten Abänderungen vollzogen.
Letzteres gilt zweifellos hinsichtlich der von
Reichenbach als „aprioristisch" bezeichneten
Prinzipien.
Die Spezielle Relativitätstheorie lehrt die
Relativität aller Längen und Zeitmaße in den ver-
schiedenen Bezugssystemen. Der Physiker hat
nach ihr nicht nur das zu messende Objekt selbst,
sondern zugleich die besonderen Bedingungen,
unter denen die Messung erfolgt, mit ins Auge
zu fassen. Denn je nach dem Bezugssystem
ändern sich die Längen- und Zeitmaße, indem
der bewegte Körper dem ruhenden gegenüber
eine Verkürzung erfahrt. Da nun alle Be-
wegung relativ ist und man bei zwei gegeneinander
bewegten Körpern A und B ebensowohl A als
bewegt und B als ruhend, wie B als bewegt und
A als ruhend ansehen kann, so kann man auch
„je nachdem man das Bezugssystem mit dem
einen oder mit dem anderen Körper ruhen läßt,
sowohl den einen wie den anderen als kürzer
bezeichnen". Reichenbach gibt damit der
Relativität der Längenbestimmung im Einstein-
schen System den schärfsten Ausdruck. Sie ent-
hält nach ihm keinen Widerspruch, wenn man
die Länge als eine nur in Bezug auf ein be-
stimmtes Koordinatensystem definierte Größe an-
sieht. „Das, was wir als Länge messen, ist nicht
die Relation zwischen den Körpern, sondern
gleichsam nur eine Spiegelung der zugrunde-
liegenden Eigenschaft in die Darstellung eines ein-
zigen Koordinatensystems." Einen unabhängigen
Sinn erhält die in emem Koordinaten oder Bezugs-
system ausgeführte Messung wohl insofern, als
man ,, gleichzeitig die Transformationsformel auf
jedes andere System angeben kann". Diese Trans-
formationsformel ist die Lorentzsche. Mit ihrer
Hilfe läßt sich ohne weiteres berechnen, wie die
in einem Bezugssystem gemessene Länge in jedem
anderen Bezugssystem ausfallen muß. Die Längen-
bestimmung bleibt aber natürlich auch in diesem
wieder immer nur relativ.
Da in der Lorentzschen Transformationsformel
das Zeitmaß mit dem Längenmaß funktionell ver-
bunden ist, gilt die Relativität der Längenmaße
auch für die Zeitmaße.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß sich
damit, daß im Einsteinschen System die Längen-
und Zeitmaße aus absoluten Größen zu relativen
Größen werden, eins der wichtigsten, dem lo-
gischen Aufbau der Physik dienenden Erkenntnis-
prinzipien ändert.
Die Annahme, daß die Raum- und Zeitmaße
absolute, allgemeingültige Maße seien, gehörte
deswegen zu ihnen, weil alle F"eststellungen der
Physik auf Messungen beruhen. Die Methode der
Messung ist für diese so wesentlich , daß die ge-
gebenen Empfindungsinhalte, bevor sie Gegen-
stand physikalischer Behandlung werden können,
erst in ,, meßbare Gedankensymbole" verwandelt
werden müssen; Tonqualitäten werden in der
Physik als Schwingungszahlen von Luftteilchen,
Licht- und Farbentöne als bestimmte Frequenzen
transversaler Ätherwellen oder elektromagnetischer
Wellen beurteilt und gemessen.
Noch bedeutender ist die Abänderung der Er-
kenntnisprinzipien, welche die Allgemeine
Relativitätstheorie mit sich führt. Um von den
gemessenen Längen zu der bestimmten Anord-
nung im Raum zukommen, muß noch ein System
von Regeln für die Verbindung der Längen ge-
geben sein. Dazu diente in der klassischen Physik
die euklidische Geometrie. Sie ist in der allge-
meinen Relativitätstheorie durch die nichteuklidi-
sche zu ersetzen. Letztere war schon lange vor
der Einsteinschen Relativitätstheorie entdeckt und
besonders durch Riemann als ein System be-
grifflicher Konstruktionen in einem vierdimensio-
nalen räumlich-zeitlichen Kontinuum entwickelt
worden, das die gleichen Denknotwendigkeiten
in Anspruch nehmen konnte, wie die euklidische
Geometrie; doch hatte man diesen Konstruktionen
nur eine abstrakte Denkmöglichkeit zugeschrieben,
während die euklidische Geometrie die einzige
Grundlage für die Wirklichkeitserkenntnis sein
sollte. Die allgemeine Relativitätstheorie forderte
nun, daß gerade diese nichteuklidische Geometrie
zur Beschreibung der Wirklichkeit, also für die
Physik zu verwenden sei.
Gilt die Einsteinsche Relativitätstheorie, so
haben sich daher mit der Umwandlung der ab-
soluten Raum- und Zeitmaße in nur relative
Größen und mit dem Ersatz der euklidischen
Geometrie durch die nichteuklidische in der Tat
Erkenntnisprinzipien der Physik geändert, die für
ihren bisherigen logischen Aufbau von größter
Bedeutung waren.
Die Einsteinsche Theorie ist nun auf physika-
lischem Wege gewonnen. Es haben sich damit
die betreffenden Erkenntnisprinzipien als von der
empirischen Forschung abhängig erwiesen. R.
leitet daraus den Satz ab, welcher den Haupt-
gedanken seiner Ausfuhrungen enthält:
„daß die aprioren Prinzipien der Erkenntnis
nur auf induktivem Wege bestimmbar seien
und jederzeit durch Erfahrung bestätigt und
widerlegt werden können."
Es bedeutet dies nach ihm einen Bruch mit
der kritischen Philosophie Kants.
Der Schluß wäre richtig, wenn Kant und
Reichenbach unter „aprioristischen Prinzipien"
das gleiche verständen. Das ist jedoch nicht der
Fall. Die diesbezüglichen Ausführungen Reichen-
ba chs beruhen auf einer Quaternio terminorum.
Reichenbach versteht unter aprioristischen
Prinzipien die Erkenntnisprinzipien, welche dem
„logischen Aufbau" der besonderen Wissenschaft,
hier der Physik, dienen. Sie nehmen eine ausge- ■
zeichnete Stellung ein, weil sie nicht nur einzelne
Gesetze, sondern den ganzen Aufbau der Spezial-
wissenschaft betreffen. Solche übergeordnete
N. R XXt. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S95
Erkenntnisprinzipien, aus denen und mit deren
Hilfe man die Einzelgesetze ableitet, gibt es
zweifellos und ebenso zweifellos ist es, daß sie
einer fortwährenden Umgestaltung unterworfen
sind.
Sie sind wandelbar, weil sie, wenn sie auch
nicht als solche in der Natur gegeben sind, doch
nicht ohne stete Rücksicht auf die Erfahrung auf-
gestellt werden und darum mit dem Fortschritt
der Wissenschaft immer wieder Berichtigungen
erfahren müssen. Doch irrt sich Reichen-
bach, wenn er annimmt, daß Kant in
dieser Hinsicht anders geurteilt habe.
Die stete Wandlung der in der empirischen
Naturwissenschaft aufgefundenen Erkenntnisprin-
zipien, die Reichenbach im Auge hat, wird
von Kant nicht nur als Tatsache behauptet,
sondern prinzipiell gefordert. Nach Kant
ist das Ziel der empirischen Wissenschaft aller-
dings ein letztes Prinzip der Erfahrung, in dem
alle Erfahrungstatsachen aufgehen sollen. Wäre
dies Ziel erreicht, so würden alle Erfahrungs-
wissenschaften nur eine Wissenschaft bilden, es
gäbe ein einheitliches, unveränderliches System
aller menschlichen Erkenntnis. Diesem Ziele
soll die Naturwissenschaft ununterbrochen zu-
streben. „Sie soll bei aller Erweiterung stets
zugleich die Einheit ihrer Erkenntnisse im Auge
behalten und fortwährend bestrebt sein, alle ihre
Teile zu einem Ganzen der Wissenschaft zu
vereinigen" (K. Fischer). Doch ist dies Ziel
nach Kant prinzipiell unerreichbar, denn es ist
nur eine Vernunftidee, d. h. eine Forderung der
Vernunft, deren Erfüllung — wie die aller anderen
Kantschen Vernunfiideen — niemals gegeben ist,
der sich vielmehr die Erfahrung nur nähern kann.
Bei der Aufstellung der Gesetze und ebenso der
Reichenbachschen ,,aprioristischen" Erkenntnis-
prinzipien folgen wir der Forderung der Vernunft,
eine Einheit herzustellen. Sie sind gedacht, ehe
sie in der Erfahrung gefunden werden, aber wir
stellen sie auf im Hinblick auf die Erfahrung, d. h.
im Hinblick auf die Möglichkeit, die gegebenen
Beobachtungen einem einheitlichen Prinzip unter-
zuordnen. Wir haben so auch nach Kant bei
Aufstellung der betreffenden Gesetze und Er-
kenntnisprinzipien ein formales Prinzip: die For-
derung der Vernunft, eine Einheit herzustellen und
ein materielles Prinzip : die gegebenen Beobach-
tungen, welche der Einheit untergeordnet werden
sollen, zu unterscheiden. In dem Augenblick, wo
die Wissenschaft Tatsachen ermittelt, welche mit
den bis dahin geltenden Erkenntnisprinzipien in
Widerspruch stehen, müssen wir gemäß dem for-
malen Prinzip, d. h. gemäß der Forderung eine
Einheit herzustellen, ein neues Erkenntnisprinzip
aufsuchen.
Wenn daher die Relativitätstheorie versucht,
der Forderung der Vernunft, den Widerspruch
zwischen dem Fizeauschen und dem Michelson-
schen Versuch und zwischen der klassischen
Mechanik und der Elektrodynamik aufzuheben.
dadurch zu entsprechen, daß sie das Erkenntnis-
prinzip der absoluten Längen- und Zeitmaße durch
das Erkenntnisprinzip der relativen Längen- und
Zeitmaße ersetzt, so ist das durchaus kein Bruch
mit der Kantschen Auffassung der empirischen
Naturwissenschaft. Ob der Ersatz richtig und
angängig ist, ist eine Frage für sich; aber der
Versuch selbst liegt ganz in der Richtung der
Kantschen Gedanken.
Von den sowohl nach Kant wie nach
Reichenbach sich ändernden methodologischen
Erkenntnisprinzipien der empirischen Naturwissen-
schaft total verschieden ist das a priori
Kants. Es ist von den Ergebnissen der empi-
rischen Forschung unabhängig, weil alle Urteile
der letzteren nach Kant erst durch dasselbe, d. h.
durch die Kategorien und Grundsätze des reinen
Verstandes zustande kommen. Ohne die Geltung
dieser hätten auch die Urteile der empirischen
Forschung keine Geltung. Die Geltung der
Kategorien und der Grundsätze des reinen Ver-
standes ist darum nach Kant die Voraussetzung
der Geltung der Urteile der empirischen Forschung;
diese ist von jener abhängig, nicht umgekehrt.
Man kann sich die Auffassung Kants an dem
Beispiel des Boileschen Gasgesetzes, das Reichen-
bach als ein Erkenntnisprinzip in seinem Sinne
anführt, deutlich machen. In der Formel des-
selben: p.V = R-T wird das Abhängigkeitsver-
hältnis, in welchem Gasdruck (p), Temperatur (T),
Gasvolum (V) und die Konstante für den Aus-
dehnungskoeffizienten (R) zueinander stehen, wie-
dergegeben. Das Gasgesetz gehört der empiri-
schen Forschung an; es kann sich daher eventuell,
wenn eine genauere Feststellung der physikalischen
Verhältnisse erfolgen sollte, ändern. Das ist die
Behauptung Reichen bac hs; sie entspricht aber
auch vollständig der Auffassung Kants. Was
aber nach Kant in diesem Gesetz unverändert
seine Geltung behauptet, sind die seiner Aufstellung
zugrunde liegenden Kategorien und Grundsätze
des reinen Verstandes. Bestände z. B. der sog.
mathematische Grundsatz der Quantität, daß alle
Erscheinungen extensive Größen sind, nicht mehr
zu recht, dann würde ein Messen der Temperatur,
des Gasvolumens und des Gasdruckes, sowie eine
Feststellung der Konstante R nicht möglich sein.
Ebenso muß invariant sein der Grundsatz der
Kontinuität und Stetigkeit; ohne ihn wäre eine ,
Interpolation zwischen zwei Messungen ausge-
schlossen. Gelte ferner der Grundsatz der Kausa-
lität, „daß alles, was geschieht, etwas voraussetzt,
worauf es nach einer Regel folgt", nicht mehr,
dann ließen sich überhaupt keine Gesetze auf-
stellen.
Mit dieser Widerlegung des Reichenbachschen
Einwandes ist nun freilich noch nicht bewiesen,
daß sich die Relativitätstheorie wirklich mit der
Kantschen Erkenntnistheorie im Einklang befindet.
Es handelt sich schon bei der Speziellen Rela-
tivitätstheorie nicht nur darum, daß durch die-
selbe irgendwelche methodologische Erkenntnis-
596
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. K. XXI. Nr. 44
Prinzipien überhaupt eine Änderung erfahren,
sondern daß diese Abänderungen gerade die für
das Kantsche System so wichtigen Raum- und
Zeitbegriffe betreffen. Noch tiefer in die Kant-
sche Vorstellungswelt greifen die naturwissen-
schaftlichen Begriffe der Allgemeinen Relativitäts-
theorie ein. Sie führen zwar nur die Vorstellungen
weiter, auf denen die ganze moderne Physik be-
ruht. Diese steht aber im scharfen Gegensatz
zur klassischen Physik und Mechanik Newtons,
und gerade dessen Hauptwerk Philosophiae natu-
ralis principia mathematica bildete für Kant „den
festen Codex der physikaüschen Wahrheit". Nach
C o h e n - Marburg wollte Kant nichts anderes sein
als der philosophische Systematiker der Newton-
schen Naturwissenschaft. Ist nun diese nicht nur
durch die Allgemeine Relativitätstheorie, sondern
auch — darauf beruht das allgemeine Interesse,
welches das uns jetzt beschäftigende Problem in
Anspruch nimmt — durch die ganze Entwicklung
der modernen Physik ins Wanken gekommen,
dann drängt sich uns eben doch die Frage auf,
ob nicht mit dem naturwissenschaftlichen Funda-
ment, in welchem das philosophische System
Kants verankert war, auch die Geltung der Kant-
schen Erkenntnistheorie erschüttert ist und even-
tuell wesentlich eingeschränkt werden muß.
Das ist der Gesichtspunkt, von dem aus Cas-
sirer unser Problem behandelt.
Die Veränderung der ganzen naturwissen-
schaftlichen Auffassung seit Newton ist jeden-
falls eine tiefgehende und weitgreifende.
Dem Newtonschen Natursystem lagen die Be-
griffe, des Raumes, der Zeit, der Kraft und der
Masse zugrunde. Newton hatte den alten Dua-
lismus von Raum und Masse, den schon Demo-
krit aufgestellt hatte, beibehalten. In dem Raum,
der für Newton eine physikalische Realität war,
befinden sich nach ihm die Massen wie in einem
allgemeinen Behältnis. Die Quantität der Massen
und die Entfernungen, in welchen die einzelnen
Massen sich voneinander befinden, gehen als
Hauptfaktoren in sein Gravitationsgesetz ein; sie
bilden die Grundbestimmungen, aus denen sich
nach ihm das All aufbaut. Newton machte
garnicht den Versuch, diesen Dualismus in eine
Einheit zusammenzufassen. Das ist jedoch in der
neueren Physik geschehen. In dem elektromagne-
tischen F'eldc hat sie einen Miitelbegriff ge-
schaffen, der den Begriff der „Materie" und des
„leeren Raumes" ausfallen läßt. Die Physik des
elektromagnetischen P'eldes „kennt weder den
bloßen unterschiedslosen Raum an sich, noch eine
Materie an sich, die nachträglich in diesen fer-
tigen Raum eingeht, sondern legt die Anschauung
einer nach einem gewissen Gesetz bestimmten
und ihm gemäß qualifizierten und differenzierten
Mannigfaltigkeit zugrunde" (Cassirer). Das
„F"eld" bedarf nach der Auffassung, welche z. B.
Mie vertritt, nicht mehr der Materie als seines
Trägers, die Materie ist vielmehr nur eine be-
sondere Differenzierung des „Feldes". Ebenso-
wenig kann von einem leeren Räume die Rede
sein, da das „Feld" den ganzen Raum einnimmt.
Ein zweiter Dualismus bestand bei Newton
zwischen Materie und Kraft. Es sind fern-
wirkende Kräfte, welche nach der Gravitations-
lehre Newtons die „trägen" Massen in Bewegung
versetzen. Die neuere Physik hatte zunächst den
Begriff der Kraft als der Ursache der Beschleu-
nigung durch den Begriff der Energie ersetzt.
In dem Gesetz der Erhaltung der Energie und
der Erhaltung der Masse blieb freilich der alte
Dualismus bestehen ; doch ergab die moderne
Elektronentheorie (Kaufmann), daß die Masse
eines Elektrons sich mit der Geschwindigkeit
desselben rasch vergrößert, sobald die Geschwin-
digkeit sich der Lichtgeschwindigkeit nähert. Die
Masse, d. h. die Trägheit ist daher nicht unver-
änderlich, sondern wächst mit ihrer Bewegung
und ihrer elektrischen Ladung; es wird durch
diese der Geschwindigkeitsänderung ein immer
größerer Widerstand entgegengesetzt; ein solcher
Widerstand ist aber das Maß der Masse. Man
kommt beim Weiterverfolgen dieses Gedankens
zu der Auffassung, daß die angeblich „schwere"
Masse der Elektronen gleich o zu setzen ist.
Das Elektron besitzt keine materielle, sondern
nur elektromagnetische Masse. Und da das ma-
terielle Atom nur ein System von Elektronen ist,
die Materie aber aus Atomen besteht, so gelten
für die Materie nur noch die Gleichungen für die
elektromagnetische Masse, d. h. die Gleichungen
für das elektromagnetische Feld. An Stelle der
Bewegung der Massen gibt es dann nur noch ein
Fortschreiten von Abänderungen im elektromagne-
tischen P"elde. „Es sind nur Verdichtungen des
Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
Es hat darum keinen Sinn, von einer Wanderung
materieller Teile als einem Transport von Dingen
zu reden; was stattfindet, ist ein fortschreitender
Verdichtungsprozeß, der eher der Wanderung
einer Wasserwelle verglichen werden kann." Die
Fernwirkungen sind damit zugleich durch Nahe-
wirkungen ersetzt. Die allgemeine Relativitäts-
lehre Einsteins zieht nur die letzte Konsequenz
aus diesen Vorstellungen. Auch für sie gibt es
keinen Raum an sich mehr und keine raum-
erfüllende Substanz, mag man sie als Materie oder
als Äther bezeichnen ; ebenso keine Kraft an sich.
Sie kennt Raum, Kraft und Materie nicht mehr
als gesonderte physikalische Gegenstände, sondern
nur noch die Einheit bestimmter Funktionsverhält-
nisse.
Wie die Spezielle Relativitätstheorie das Rätsel
eines Widerspruchs in den Ergebnissen der exak-
ten Forschung, nämlich des Widerspruchs zwischen
den Plzeauschen und den Michelsonschen Ver-
suchen löst, so löst die Allgemeine Relativitäts-
theorie das Rätsel einer seltsamen Übereinstim-
mung derselben, nämlich der längst bekannten,
aber in neuester Zeit durch Eötvös noch be-
sonders mit den Mitteln schärfster physikalischer
Messung festgestellten Äquivalenz von Trägheit
N. F. XXI. Nr 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
597
und Schwere, d. h. der Gleichheit des Wider-
standes, welchen ein Körper seiner Bewegung in
horizontaler Richtung entgegensetzt, und des
Widerstandes, welcher erforderlich ist, um das
Eintreten der Fallbewegung in vertikaler Rich-
tung zu verhindern. Diese Äquivalenz war be-
kanntlich die physikalische Grundlage, von der
aus Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie
aufstellte.
Diese ganze Auffassung der Natur ist jeden-
falls von der Newtons und Kants wesentlich
verschieden. Wird durch sie auch das a priori
Kants geändert?
Hinsichtlich der sog. mathematischen Katego-
rien und Grundsätze ist dies nicht der Fall. Daß
in allen Erscheinungen „die Empfindung und das
Reale, welches ihr an dem Gegenstand entspricht
eine intensive Größe, d. i. einen Grad haben
muß", gilt nach wie vor. Denn wenn gar kein
Eindruck und keine ihm entsprechende Empfin-
dung davon da ist, kann überhaupt keine Wahr-
nehmung des Gegenstandes stattfinden. Alle Er-
scheinungen müssen ferner, wie wir schon gesehen
haben, extensive Größen sein, sonst gäbe es
keine Physik; denn diese besteht im Messen, und
Messen ist nur bei extensiven Größen möglich;
sie müssen endlich kontinuierliche Größen sein,
sonst könnte das Messen nie zu Ende geführt
werden, da Interpolationen zwischen zwei Messun-
gen nur unter der Voraussetzung der Stetigkeit
der Größen zulässig sind. Die drei mathemati-
schen Grundsätze sind daher unverändert in
Geltung.
Bei den Kategorien und Grundsätzen der
Relation verhält es sich anders. Da in der neueren
Physik die drei Newtonschen Grundgesetze: das
Gesetz der Trägheit, der Proportionalität von
Kraft und Beschleunigung und der Wechselwirkung
nicht mehr anerkannt werden — sie kommen in
Wegfall, wenn es keine Einzeldinge, keine zwischen
diesen Einzeldingen wirkenden Kräfte und keine
Fortbewegung materieller Teile gibt — geht die
neuere Physik in bezug auf die Auffassung der
Grundbegriffe Substanz, Kausalität und Gemein-
schaft, also der Grundbegriffe der Relation, „über
Kant hinaus" (Cassirer). Nach Kant war die
Materie die Substanz. Diese Auffassung ist bei
den modernen physikalischen Anschauungen nicht
mehr möglich. Denn Substanz soll das sein, „was
im Wechsel der Erscheinungen beharrt, dessen
Quantum in der Natur weder vermehrt noch ver-
mindert wird". Der Grundsatz der Erhaltung der
Materie gilt aber nicht mehr; sie kann in Energie
übergehen und durch Aufnahme von Energie ver-
mehrt werden. Bei dem Grundbegriff der Gemein-
schaft bzw. der Wechselwirkung, welche uns die
Gemeinschaft erkennen läßt, stand Kant die
gegenseitige Anziehung der Körper und ihrer
Teile vor Augen. Sie allein läßt uns nach Kant
das Zugleichsein zweier Gegenstände bzw. der
Teile eines Gegenstandes und damit der Gemein-
schaft objektiv erkennen. Auch diese Vorstellung
fällt in der modernen Physik. Endlich kann der
Kausalität nicht mehr wie bei 'Kant die Vor-
stellung einer der wirkenden Kraft entsprechenden
Bewegungsbeschleunigung zugrunde gelegt werden.
Dabei muß der Kantsche Grundsatz der Kausali-
tät: „Alles was geschieht, setzt etwas voraus, wo-
rauf es nach einer Regel folgt" in gewissem Sinne
bestehen bleiben. Denn auch die moderne Physik
stellt Gesetze auf. Nur hat man das „folgen" nach
Schottky nicht im zeitlichen, sondern im funk-
tionellen Sinne zu nehmen — „wenn ich das und
das festgestellt habe, so passiert das und das" —
und die Begriffe „Ursache und Wirkung" durch
den Begriff der Funktion zu ersetzen, so daß die
moderne Physik im Grunde genommen auf das
schon von Mach aufgestellte Kausalitätsprinzip
hinauskommt : „das Kausalgesetz ist hinreichend
charakterisiert, wenn man sagt, es setze eine Ab-
hängigkeit der Erscheinungen voneinander voraus".
Die Auffassung der Kategorien der Modalität,
der Grundbegriffe der Möglichkeit, Notwendigkeit
und Wirklichkeit hängt wieder wesentlich vom
philosophischen, nicht vom physikalischen Stand-
punkt ab. Auf sie geht Cassirer nicht ein, wie
er auch' hinsichtlich der Kategorien und Grund-
sätze der Relation nur sagt, daß Kant seine
„Analogien der Erfahrung" im wesentlichen nach
den drei Newtonschen Grundgesetzen gestaltet
habe, und daß es deswegen unbestreitbar sei, daß
in der modernen Physik ein Schritt über Kant
hinaus getan sei. Was für Cassirer im Vorder-
grund des Interesses steht, ist nicht die P'rage,
ob die Kategorien und Grundsätze des reinen
Verstandes noch gelten, sondern ob die Kantsche
transzendentale Ästhetik ein Fundament sei
breit und fest genug, um nicht nur das Gebäude
der klassischen Mechanik, sondern auch das der
modernen Physik zu tragen ; denn die Lehren vom
Raum und von der Zeit sind nach Cassirer das
eigentliche a priori der Physik. Die zweite Frage,
die ihn beschäftigt, ist das Problem, ob sich bei
der modernen Physik, speziell bei der Einstein-
schen Relativitätstheorie, noch die Vernunftidee
Kants der Einheit der Natur festhalten läßt.
Inbetreff der zweiten Frage berühren sich seine
Ausführungen mit denen Reichenbachs, nur
sieht er in den Wandlungen der methodologischen
Prinzipien der empirischen P"orschung nicht einen
Widerspruch mit der Erkenntnislehre Kants,
sondern den von Kant geforderten Fortschritt
zur einheitlichen Auffassung der Natur.
Es handelt sich dabei nicht nur um die Wider-
sprüche zwischen den Ergebnissen der empirischen
Forschung, wie sie bei den Versuchen von Fi-
zeau und Michel so n und in den Gleichungen
der klassischen Mechanik und den Maxwell Hertz-
schen Grundgleichungen der Elektrodynamik her-
vortreten und in der Speziellen Relativiiätslehre
durch die Lorentzschen Transformationsformeln
ihre Lösung gefunden hatten. Dem Formal-
prinzip der empirischen Forschung, der Forde-
rung einer einheitlichen Naturauffassung, entsprach
59»
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 44
es auch nicht, daß die allgemeinen Naturgesetze
wohl in gleicher Weise für alle gleichförmig
bewegten Bezugssysteme gelten sollten, nicht aber
für die Bezugssysteme mit beschleunigter Be-
wegung. In der Allgemeinen Relativitätstheorie
wird ihre Geltung auch auf letztere ausgedehnt.
Die allgemeinen physikalischen Gesetze erhalten
in ihr eine Form, in der sie ihre Gültigkeit auch
für die Bezugssysteme mit beschleunigter Bewe-
gung bewahren. Aber während nach der Spe-
ziellen Relativitätstheorie sich die Längen- und
Zeitmaße nur von einem Bezugssystem zum
anderen ändern, d. h. je nachdem der Beobachter
bewegt oder in Ruhe ist, sind sie nach der All-
gemeinen Relativitätslehre von dem Gravitations-
potential des Ortes des beobachteten Gegenstandes
abhängig und ändern, da das Gravitationspotential
im allgemeinen an den verschiedenen Orten ver-
schieden ist, von Ort zu Ort. Damit wird auch
die letzte absolute Größe, die es nach der Spe-
ziellen Relativhätstheorie noch gab, die Licht-
geschwindigkeit, relativiert. Auch sie ist ver-
schieden und nur noch gleich an Orten mit glei-
chem Gravitationspotential.
Die Einheit der Naturauffassung, die dadurch
gewonnen wurde, daß die allgemeinen Natur-
gesetze für alle Bezugssysteme, sowohl die mit
gleichförmiger wie die mit beschleunigter Be-
wegung gelten, scheint damit wieder aufgehoben
zu sein. Die Beobachter kommen, da die Raum-
und Zeitmaße je nach ihrem Standort verschieden
sind, zu ganz verschiedenen Resultaten der Mes-
sung. Laue sagt darüber: „Ort und Zeit der
beobachteten Veränderung an einem Himmels-
körper kann nur auf Grund der optischen Ge-
setze festgestellt werden. Daß zwei verschieden
bewegte Beobachter, wenn jeder sich selbst als
ruhend betrachtet, diese Einordnung auf Grund
derselben Naturgesetze (nach der Relativitätslehre)
verschieden vornehmen, enthält keine logische
Unmöglichkeit".*) Die Messungen, die je nach
dem Standort der Beobachter verschieden aus-
fallen, sind daher nicht objektiv oder allgemein-
gültig. Doch sind diese verschiedenen Resultate
nicht unabhängig voneinander. Sie entsprechen
sich wechselseitig und sind nach bestimmten
Regeln einander zugeordnet. Nach den Lorentz-
transformationsformeln kann man berechnen, wie
die Längen- und Zeitmaße, die in einem Bezugs-
system mit der Geschwindigkeit v gemessen sind,
bei einer Messung an dem Bezugssystem mit der
Geschwindigkeit v' ausfallen müssen. Die gegen-
seitige Zuordnung der an verschiedenen Orten
verschiedenen Längen- und Zeitmaße bleibt auch
in der Allgemeinen Relativitätslehre bestehen.
Und diese gesetzlichen Beziehungen, die in dem
von Einstein für sie aufgestellten Systeme von
Gleichungen zum Ausdruck gebracht sind, sind
nach Relativierung aller Raum- und Zeitmaße die
letzte objektive allgemeingültige Erkenntnis.
i) Vgl. oben S. 595.
Diese Einheit der naturwissenschaftlichen Auf-
fassung oder der Natur, wie sie Einstein lehrt,
unterscheidet sich wesentlich von der Kants.
Nach Kant hat es der empirische Naturforscher
nur mit der Erscheinungswelt zu tun und die
Beziehungen zwischen den Gegenständen der-
selben festzustellen, indem er sie in meßbare Ge-
dankensymbole verwandelt, ihre Größen nach ab-
soluten Längen- und Zeitmaßen bestimmt und
diese miteinander vergleicht. In den absoluten
Längen- und Zeitmaßen besitzt er gewissermaßen
den Generalnenner, aufweichen er alle Er-
scheinungen bringen kann. In der Allgemeinen
Relativitätstheorie ist der Generalnenner ein an-
derer geworden. An die Stelle der absoluten
Längen- und Zeitmaße, die es für sie nicht mehr
gibt, tritt das für alle relativen Einzelmessungen
geltende Gesetz der gegenseitigen Zuordnung.
Wir haben hier nicht mehr eine Einheit von
Dingen, sondern von Gesetzen und Relationen.
Die Gegenstände tauchen daher in dem von
Einstein aufgestellten System von Gleichungen,
wie bei den Maxwell-Hertzschen Grundgleichungen,
unter, in dem die Gleichungen für alle Orte in
gleicher Weise Geltung haben, mögen es die Orte
der Gegenstände oder Orte zwischen den Gegen-
ständen sein. Die Grenzen der Gegenstände ver-
schwinden in den Gleichungen. Ebenso aber
auch die Unterschiede zwischen Raum und Zeit.
Soll das Einsteinsche System von Gleichungen
die Form der für alle Orte und Zeiten in gleicher
Weise geltenden allgemeinsten Gesetze sein, so
müssen die Gleichungen invariant sein gegen die
gemessenen Zeit- und Raumgrößen, von denen
jede nach Einstein ja nur relative Geltung hat.
Die vier Koordinaten der gemessenen Zeit- und
Raumgrößen treten daher in den Gleichungen als
die variabeln Größen Xj, x._,, Xj, x^ auf. Da die
Gleichungen gegen sie doch invariant sind, ver-
schwindet auch der Unterschied zwischen den
drei Raumkoordinaten und der Zeitkoordinate.
Die Zeitkoordinate ist nicht mehr ausgezeichnet,
wie noch in den Gleichungen der Minkowskischen
Wehformel. Es kann jede der vier Koordinaten
als Zeilkoordinate gelten. Damit ist freilich nicht
gesagt, daß der empirische Naturforscher etwa
aufhörte, „das Kontinuum, das er Raum nennt,
von dem Kontinuum, das er Zeit nennt", scharf
zu unterscheiden. Nur für die Aufstellung der
allgemeinen Gesetze kann und muß er von diesem
Unterschied absehen. Es darf in diese allgemein-
gültigen Gesetze überhaupt keine festgelegte Raum-
oder Zeitbestimmung hineinkommen, da diese
stets eine nur relative Gültigkeit haben und da-
mit auch dem ganzen Gesetz den Charakter einer
nur relativen Gültigkeit verleihen würden. Das
gilt in ganz gleicher Weise für die Zeit- und
Raumbestimmungen. Insofern haben sie für die
allgemeinen Gleichungen die gleiche Bedeutung
und brauchen nicht unterschieden zu werden.
Daß die Auffassung des Zeit- und Raumbe-
griffs bei Kant und Einstein verschieden ist,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
599
liegt nach dem Gesagten auf der Hand. Doch
fragt es sich, ob die Differenz die reinen An-
schauungsformen von Raum und Zeit selbst oder
nur die Anwendung derselben auf die Erschei-
nungswelt, d. h. den empirischen Raum und die
empirische Zeit betrifft. Diese sind wie die ganze
Erscheinungswelt Gegenstand der empirischen
Forschung. Nur im ersten Falle würde es sich
daher um eine erkenntnistheoretische Frage, im
zweiten Falle dagegen um eine Frage der empi-
rischen Forschung handeln, deren Entscheidung
nicht der Philosophie, sondern der empirischen
Induktion bzw. Verifikation zufällt.
Die reinen Anschauungsformen von Raum und
Zeit bedeuten für Kant, wie Cassirer mit
großer Klarheit darlegt, nur ein festes Gesetz des
Geistes, ein Schema der Verknüpfung, durch wel-
ches alles sinnlich Wahrgenommene in bestimmte
Beziehungen des Nebeneinander (Raum) und
Nacheinander (Zeit) gesetzt wird. Das kann
nach Kant nicht dadurch geschehen, daß man
das Verhältnis der Zeit- und Raumstelle zu einer
absoluten Zeit und einem absoluten Raum, wie
ihn noch Newton als für sich bestehende, sich
gleichbleibende Realität annahm, feststellt. Einen
solchen absoluten Raum und eine solche absolute
Zeit gibt es nach Kant nicht. Für ihn gibt es
Raum und Zeit nicht außer den Dingen, sondern
nur in den Dingen, indem die Erscheinungen ein-
ander ihre Stellen in Raum und Zeit selbst be-
stimmen. Die Zeitordnung beruht nach Kant
bekanntlich auf dem Kausalitätsgesetz. Nur da
haben wir nach ihm ein festgelegtes, objektives
Nacheinander, wo die Erscheinungen im Verhält-
nis von Ursache und Wirkung stehen. In ana-
loger Weise bestimmen die Erscheinungen selbst
sich auch ihr Nebeneinander. In bezug auf diese
untrennbare Union von Raum, Zeit und Dingen
stimmen Kant und Einstein vollständig über-
ein. Gerade die Allgemeine Relativitätslehre bringt
sie zum schärfsten Ausdruck. Die Differenz zwi-
schen beiden besteht nicht in der Annahme, daß
sich die Erscheinungen ihre gegenseitige Stellung
in Raum und Zeit selbst bestimmen, sondern in
dem Resultat dieser Bestimmung. Nach Kant
ergibt sich für die Mannigfaltigkeit des Sinnlich-
Gegebenen ein homogener Raum und eine homo-
gene Zeit. Beide existieren nach der Relativitäts-
theorie nicht. Einstein ist aber auf rein induk-
tivem Wege zu der Auffassung gekommen, daß,
wenn anders eine einheitliche Naturauffassung
zustande kommen soll, die Größe des Gravitaiions-
potentials die Zeit- und Längenmaße an den ver-
schiedenen Orten entsprechend verändern muß
und daß, da das Gravitationspotential im allge-
meinen von Ort zu Ort verschieden ist, die Orte
differenziert sind und ein homogener Raum und
damit auch eine homogene Zeit in solchem Falle
nicht existiert. Die Kantsche Auffassung der
reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit,
daß nämlich die Erscheinungen ihr Nebeneinander
im Raum und ihr Nacheinander in der Zeit gegen-
seitig selbst bestimmen, wird dadurch nicht be-
rührt. Das Wie? kann nur Resultat der physi-
kalischen Untersuchung sein. Nur in diesem
weicht Einstein von Kant ab. Ob diese Ab-
weichung berechtigt ist oder nicht, muß auf
dem Wege der Induktion bzw. Verifikation, also
nicht durch die Philosophie, sondern die empiri-
sche Forschung, entschieden werden.
Doch wenn die Einsteinsche Allgemeine Rela-
tivitätstheorie auf dem letzteren Wege wirklich
verifiziert werden sollte, dann ist jedenfalls der
empirische Raum und die empirische Zeit, also die
physikalische Beschaffenheit der Erscheinungswelt
hinsichtlich der Raum- und Zeitverhältnisse anders
aufzufassen als es von Kant im Sinne seiner Zeit
geschah. Die unmittelbare Folge davon ist dann
aber, daß die euklidische Geometrie, die nur für
den homogenen Raum gilt, auf die wirklichen
Raumverhältnisse im allgemeinen nicht mehr an-
gewandt worden kann.
Hier ist nun der Punkt, von dem aus man
schließlich doch zu der Erkenntnis kommt , daß
zwischen der Kantschen Erkenntnistheorie und
der Einsteinschen Relativitätstheorie ein Gegen-
satz besteht, der nicht ausgeglichen werden kann.
Reichenbach hat ihn nicht berührt auch Gas -
sirer geht nicht auf ihn ein, da es sich bei ihm
um die ursprüngliche Erkenntnistheorie Kants
handelt, welche die Neukantianer nur zum Teil
festgehalten haben.
Der Gegensatz entsteht jedoch nicht schon
durch den Übergang von der euklidischen zur
nichteuklidischen Geometrie.
Cassirer hebt mit Recht hervor, daß die
Behauptung, schon dieser Übergang sei mit der
Kantschen Erkenntnistheorie unvereinbar, nicht
gerechtfertigt ist. Nach Rei chenbach „ist gar
kein Zweifel, daß Kants transzendentale Ästhetik
von der unbedingten Geltung der euklidischen
Geometrie ausgeht und — daß mit der Ungültig-
keit dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist".
Man kann das ohne weiteres zugeben; aber die
andere Behauptung Reichenbachs, daß nach
der Allgemeinen Relativitätstheorie „nun in der
Tat die Sätze der euklidischen Geometrie für die
Wirklichkeit überhaupt falsch" seien, muß be-
anstandet werden. Wenn die physikalischen Ver-
hältnisse so liegen, wie Einstein annimmt, daß
sich nach der Größe des Gravitationspotentiales
eines Ortes an demselben die Längen- und Zeit-
maße ändern — nur um diese handelt es sich
bei Einstein — so reicht allerdings die eukli-
dische Geometrie im allgemeinen nicht aus, die
durch diese physikalischen Verhältnisse bedingte
räumliche Ordnung der Erscheinungen wiederzu-
geben, da sie einen homogenen Raum voraussetzt,
aber sie gilt nach wie vor im Prinzip unbedingt,
d. h. mit absoluter Notwendigkeit für alle homo-
genen Räume und in Wirklichkeit für alle Räume
bei physikalischen Verhältnissen, unter denen das
Gravitationspotential unverändert bleibt und die
Bewegung keine Beschleunigung zeigt. Das ist
600
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 44
immer der Fall, wenn wir hinlänglich kleine Ge-
biete im Raum betrachten. Darum bleibt die
euklidische Geometrie, wie Cassirer sagt, „die
eigentliche Geometrie unendlich kleiner Bezirke".
Kant setzt jedoch nicht nur die absolute
Geltung der geometrischen Axiome voraus, son-
dern auch ihren synthetischen Charakter. Sie
sollen nicht nur überhaupt Urteile a priori, son-
dern synthetische Urteile a priori sein, die
nicht wie die analytischen Urteile a priori
auf dem Wege des logischen Schlusses nur das
herausholen, was in dem Hauptsatz, der Propo-
sitio major, schon gegeben ist, sondern unsere
Erkenntnis über das bereits Gegebene hinaus er-
weitern. Das ist bei den geometrischen Axiomen
nach Kant der Fall, weil sie aus der reinen An-
schauung abgeleitet sind, die reine Anschauung
aber ein Spiegelbild der Wirklichkeit hinsichtlich
ihrer räumlichen und zeitlichen Ordnung ist oder
vielmehr nach Kant die räumliche und zeitliche
Ordnung der Wirklichkeit durch sie erst her-
gestellt wird.
Das ist es nun, was mit der Auffassung, die
sich vom Einsteinschen Standpunkt aus ergibt,
unvereinbar erscheint.
Zunächst sieht man die Sätze der Geometrie
überhaupt nicht mehr als synthetische, sondern
nur noch als analytische Urteile an. In diesem
Punkte läßt sich die Kantsche Auffassung noch
rechtfertigen. Hilbert hat zwar die geome-
trischen Sätze ausnahmslos aus seinen sogenannten
impliziten Definitionen abgeleitet. Der Weg, den
er bei seinen Deduktionen einschlägt, ist folgender.
Er stellt von den Grundbegriffen der Geometrie
scheinbar willkürliche Definitionen auf. Aus den
mit diesen kombinierten Definitionen gegebenen
Urteilen leitet er andere Urteile ab und so kommt
er auf dem Wege des Schlusses zu den geome-
trischen Sätzen. Es sind das scheinbar analytische
Urteile, da sie auf dem Wege des Schlusses aus
beliebigen Definitionen gewonnen wurden. Das
Wunderbare aber ist, daß die aus solchen belie-
bigen Definitionen abgeleiteten Sätze ein so groß-
artiges, in sich geschlossenes System mathema-
tischer Wahrheiten bilden. Die Lösung des
Rätsels liegt darin, daß Hilbert als Definitionen
der Grundbegriffe die Axiome wählte. Wären
ihm nicht durch die Axiome die richtigen zu-
sammenstimmenden Definitionen schon an die
Hand gegeben gewesen, so würde er es wohl
haben unterwcgen lassen müssen, solche zu finden.
Aus den Axiomen als den Elementen der reinen
Anschauung läßt sich dagegen, auch wenn sie
nur als Definitionen verwandt werden, das System
der reinen Anschauung aufbauen.
Der Unterschied zwischen Begriff und reiner
Anschauung, zwischen analytischen Urleilen und
mathematischen Sätzen läßt sich, wie Kant in
seiner Methodenlehre hervorhebt, nicht ver-
wischen.i) Bei dem Begriff erkennt man das
Besondere im Allgemeinen, bei der reinen An-
schauung das Allgemeine im Besonderen. Aus
dem allgemeinen Begriff Hund kann ich schließen,
daß eine einzelne Hunderasse zu den Hunden ge-
hört, dagegen kann ich aus der Anschauung eines
Individuums der einzelnen besonderen Rasse den
allgemeinen Begriff des Hundes nicht ableiten.
Anders bei der reinen Anschauung. Aus einem
einzelnen beliebigen ebenen Dreieck leite ich
durch Konstruktion alle die Eigenschaften ab, die
notwendig allen ebenen Dreiecken im homogenen
Raum gemeinsam sind. Auch Reichenbach
weist auf die Tatsache hin, daß der euklidische
Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, der zu
einer Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
Axiome führt. Es ist das nach ihm ein „noch
vollkommen unerklärtes Phänomen". Es erklärt
sich aber daraus, daß die Axiome Elemente der
reinen Anschauung sind. Der Begriff der reinen
Anschauung ist natürlich nicht mit dem naiven
Begriff der Anschaulichkeit zu verwechseln. Nach
Kant gehören alle mathematischen Sätze, auch
die arithmetischen, der reinen Anschauung an.
In dieser liegt das Prophetische der mathema-
tischen Sätze, das auch ohne die Befruchtung
durch Fortschritte der empirischen l^orschung
über den schon gewonnenen Standpunkt hinaus-
weist. Auch die nichteuklidische Geometrie ging
aus der euklidischen Geometrie hervor, indem
man diese nur als besonderen Fall auffaßte, ohne
daß die physikalischen Annahmen der Allgemeinen
Relativitätstheorie vorangegangen wären und den
Anstoß dazu gegeben hätten.
Wenn man daher auch fortfahren kann, die
mathematischen Sätze als synthetische, aus der
reinen Anschauung abgeleitete Sätze zu betrachten,
so muß doch das Verhältnis der reinen Anschau-
ung zur Erscheinungswelt, wenn die Einsteinsche
Allgemeine Relativitätstheorie gilt, anders sein als
Kant annahm.
Um das klar zu erkennen, muß man den Aus-
gangspunkt seiner ganzen kritischen Stellung ins
Auge fassen.
Kant ging in der Kritik der reinen Vernunft
von den synthetischen Urteilen a priori aus. Ihre
Existenz nahm er als erwiesen an. Was ihn be-
schäftigte, war daher nicht die Frage, ob solche
synthetischen Urteile existieren, wohl aber die
Frage, wie sie überhaupt möglich seien. Aus der
Erfahrung können sie nicht stammen, denn durch
diese kommt man immer nur zu einer kompara-
tiven Allgemeinheit. IVIan muß die allgemeinen
Erfahrungsurteile stets durch den Zusatz ein-
schränken : soweit die bisherigen Erfahrungen
reichen. Die analytischen allgemeinen Urteile
aber, d. h. die aus einem Obersatz auf logischem
Wege abgeleiteten allgemeinen Urteile haben wohl
den Charakter absoluter Allgemeinheit, doch
bringen sie nur logische Verhältnisse zum Aus-
druck und bezichen sich nicht direkt auf die Er-
fahrungswelt. Wie können wir daher überhaupt
') Vgl. H. Kranichfeld, Ein Lehrbuch der Philosophie
für Naturforscher. Naturw. Wochenschr. 1920, S. 536.
N. F. XXI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
601
von einem Vorgang dieser sagen: das muß so
sein ? Warum muß sich die Erfahrungswelt nach
unseren Verstandesschlüssen richten?
Um diese Fragen beantworten zu können,
vollzog Kant die „Kopernikanische Wendung".
„Bisher", sagt er in der Einleitung der Kritik der
reinen Vernunft, „nahm man an, alle unsere Er-
kenntnis müsse sich nach den Gegenständen rich-
ten, aber alle Versuche, über sie a priori etwas
durch Begriffe auszurichten, wodurch unsere Er-
kenntnisse erweitert werden [d. h. zu synthetischen
Urteilen a priori zu kommen] gingen unter dieser
Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher
einmal, ob wir nicht besser damit fortkommen,
daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich
nach unserem Erkenntnis[vermögen] richten". Ge-
geben sind nach Kant nur die einzelnen Ein-
drücke. Wir sind es erst, die diese Eindrücke
mittels unserer aprioren reinen Anschauungsformen
von Raum und Zeit in Erscheinungen verwandeln
und diese Erscheinungen durch die reinen Ver-
standesbegriffe oder Katogorien, wie z. B. den
Begriff der Kausalität verknüpfen und in geord-
neten Zusammenhang bringen.
Die Kategorien und Grundsätze des reinen
Verstandes sind daher nicht nur, wie wir schon
gesehen haben, die unveränderlichen Bedingungen
unserer Erkenntnis, da durch sie allein unsere
Urteile zustande kommen; sie sind auch nach
Kant mit den reinen Anschauungsformen des
Raumes und der Zeit die Bedingungen des Zu-
standekommens der Gegenstände unserei Er-
kenntnis; denn durch sie entstehen erst die Gegen-
stände der Außenwelt, unsere Erfahrungsobjekte,
sie machen dieselben. Das ist der springende
Punkt der ganzen Kantschen Erkenntnistheorie.
Er hat diesen Gedanken in genialer Weise in
seiner Deduktion der reinen Verstandesbegriffe
durchgeführt.
Bei dieser Entstehung der Gegenstände der
Erkenntnis kann die Erkenntnis in einer Über-
einstimmung mit dem Gegenstande bestehen.
Denn der Gegenstand ist ja selbst nichts als
Vorstellung. Aber noch ein weiteres folgt aus
der Kopernikanischen Wendung Kants.
Die Natur, die wir ,, machen", ist nämlich nach
Kant nicht etwa nur das wissenschaftliche Natur-
system, das wir aufstellen, sondern die ganze
äußere Erfahrungswelt, deren Ordnung wir nach-
träglich wissenschaftlich untersuchen und uns da-
mit zum Bewußtsein bringen. Darin besteht ja
der kritische Idealismus Kants, daß wir es sind,
die erst die ungeordneten Eindrücke, die wir
empfangen, durchweg gestalten. Die geformte
und geordnete Natur finden wir nun schon vor,
ehe der Erkenntnisprozeß einsetzt. Die Gegen-
stände sind, ehe wir sie mit Bewußtsein untersuchen
und ihre gesetzlichen Zusammenhänge erforschen,
bereits von uns bestimmt und zwar so bestimmt,
daß wir genötigt sind, sie immer auf dieselbe
gemeingültige Weise vorzustellen. Ein transzen-
dentales, intellektuelles Vermögen, „die produk-
tive Einbildungskraft" Kants führt diese
Synthese unbewußt nach den Regeln der reinen
Anschauungsformen und der reinen Verstandes-
begriffe aus. Alles Erkennen ist so nach Kant
nur ein bewußtes Wiedererkennen dessen, was
wir selbst unbewußt geordnet haben. Es ist
daher bei Kant nicht, wie Reichenbach sagt,
„ein großer Zufall der Natur", wenn die Ver-
.standesbegriffe mit ihr übereinstimmen; nach
Kant müssen sie es tun, da die Verstandes-
begriffe notwendig mit sich selbst übereinstimmen.
Bei der „Kopernikanischen Wendung" Kants
kommt man um die Annahme der ,, produktiven
Einbildungskraft" nicht herum. Die Weltordnung
Einsteins mit ihren von Ort zu Ort wechseln-
den Raum- und Zeitmaßen und ihren damit zu-
sammenhängenden komplizierten nichteuklidischen
metrischen Bestimmungen ist eine physikalische
Ordnung und gehört zu der Erfahrungswelt, die
wir vermöge unserer reinen Anschauungsformen
von Raum und Zeit und unserer reinen Ver-
standesbegriffe aufzufassen und zu erkennen im-
stande sind; sie muß daher auch ein Erzeugnis
unserer produktiven Einbildungskraft sein. Wie
hätten sie danach nach der Kantschen Erkenntnis-
theorie, ehe sie Einstein erkannte, selbst unbewußt
geschaffen. Das ist aber eine nichtvollziehbare
Vorstellung. Gilt daher die Einsteinsche Relativi-
tätstheorie, so können wir die Übereinstimmung
unserer Erkenntnis mit dem Naturverlauf; die
Tatsache, daß wir sagen können, die Naturerschei-
nungen müssen in bestimmter Weise auftreten,
nicht mehr durch die Kopernikanische Wendung
Kants erklären, die Übereinstimmung zwischen
dem Verlauf der Naturprozesse in der astrono-
mischen und physikalischen Welt und unseren
aprioristischen Setzungen muß, wenn wir letztere
überhaupt gelten lassen, dann darauf beruhen, daß
Natur und Geist aufeinander angelegt sind, daß,
wie die Mathematiker längst behauptet haben,
eine prästabilierte Harmonie zwischen Mathematik
und Natur besteht. Cassirer weist darauf hin,
wie diese Auffassung vor allem von Leibniz
vertreten wurde. Nach ihm bildet jede Monade
eine in sich geschlossene Welt, die von eigenen
Gesetzen beherrscht ist, aber jede dieser indivi-
duellen Welten gehört einem gemeinsamen Uni-
versum an, dessen Einheit dadurch zustande
kommt, daß die verschiedenen Welten sich in
ihren inneren Beziehungen und der allgemeinen
Form ihres Aufbaues einander ,, funktional" ent-
sprochen. Dieses Entsprechen besteht darin, daß
eine beständige und geregelte Beziehung zwischen
dem besteht, was sich von dem einen und dem
anderen aussagen läßt. So drückt die algebraische
Gleichung y=ypx eine geometrische Figur, die
Parabel; eine perspektivische Projektion das ihr
zugehörige geometrische Gebilde; die Zeichnung
einer Maschine die Maschine aus. Bei diesem
bloßen Entsprechen kann die Erkenntnis dann
nicht mehr wie bei Kant die Übereinstimmung
mit dem Gegenstande bedeuten. Für den Be-
6o2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 44
griff der Übereinstimmung tritt der Begriff
der Zuordnung ein. Ihn hat Reichenbach
in sehr eingehender und klarer Weise in einem
besonderen Kapitel seiner Schrift erörtert. Am
besten verdeutlicht ihn die Anwendung der
arithmetischen Funktionen auf die geometrischen
Figuren in der analytischen Geometrie. In dem
oben angeführten Beispiel wird eine arith-
metische Gleichung der Parabel „zugeordnet".
Die arithmetische Gleichung y = ]'px stellt an
sich eine Funktion zwischen Zahlen dar. Ist der
Parameter p = 4, so wird bei x=4 y = + 4;
bei X ^ 9 wird y = + 6 usw. Ordnet man aber
diese Zahlenverhältnisse einem rechtwinkligen
Koordinatensystem XY zu, so erhält man für
jedes X bestimmte Raumpunkte, die Punkte einer
Parabel. Das Charakteristische der Erkenntnis als
Zuordnung ist daher, daß die mathematische For-
mel, welche für die Erkenntnis der Verhältnisse
auf dem einen Gebiete gewonnen ist, auf ent-
sprechende Verhältnisse auf einem anderen Ge-
biete übertragen wird. In der analytischen Geo-
metrie überträgt man die auf einem mathemati-
schen Gebiete gewonnene Formel nur auf ein
anderes mathematisches Gebiet. In der Physik
werden die mathematischen Formeln auf das
„Empirische", d. h. auf Gebiete angewandt, die
einer „prinzipiell verschiedenen Gattung" ange-
hören. „Die theoretische Beziehung, welche die
Wissenschaft nichts desto weniger zwischen ihnen
herstellt, kann nur darin bestehen, daß sie, indem
sie die inhaltliche Verschiedenheit der beiden
Reihen durchaus zugibt und festhält, zwischen
ihnen doch eine immer genauere und vollkomme-
nere Zuordnung zu stiften versucht" (Cassirer).
Eine solche Zuordnung würde z. B. bei Geltung
der Allgemeinen Relativitätstheorie damit gegeben
sein, daß dasselbe System von Gleichungen, wel-
ches als der Ausdruck der metrischen Eigen-
schaften eines nichteuklidischen Raumes aufgestellt
war, zugleich für das Gravitationsfeld gilt. Daß
das Verhältnis der mathematischen Gleichungen
zu den physikalischen Verhältnissen das der Zu-
ordnung, nicht der Übereinstimmung ist, ist die
jetzt herrschende Auffassung, die auch Cassirer
vertritt; nach der ursprünglichen Kantschen Er-
kenntnistheorie müßte sie abgelehnt werden.
Der Streit zwischen dem ursprünglichen kriti-
schen Idealismus Kants und dem kritischen
Realismus dürfte durch die Relativitätstheorie zu-
gunsten des letzteren entschieden sein und das
wäre ein Verdient derselben; freilich ist über ihre
eigene Geltung die Entscheidung noch nicht ge-
fallen. Sie liegt bei den Vertretern der theoreti-
schen Physik und der Astronomie. Wenn unser
großer Mathematiker Hilbert einmal gesagt hat:
„Die Physik ist für die Physiker viel zu schwer",
so muß jedenfalls der Nichtphysiker hinsichtlich
der Relativiiätsiehre mit seinem Urteil zurückhalten.
Aber eine vorläufige eigene Stellung kann er
doch zu ihr einnehmen, solange zwischen ihren
notwendigen Konsequenzen noch ungelöste logi-
sche Widersprüche vorhanden sind. Sie vermag
auch der Nicht-Mathematiker und Nicht • Physiker
zu beurteilen.
Ich möchte zum Schluß nur noch auf einen
solchen Widerspruch hinweisen, der mir um so
schwerer zu wiegen scheint, als Einstein selbst
sich zu demselben ausgesprochen hat — es han-
delt sich um das sog. Uhrenparadoxon — ohne
eine befriedigende Lösung des Rätsels geben zu
können. Einstein hat den Versuch in der F"orm
eines Dialogs mit einem Freund, den er in den
,, Naturwissenschaften" veröffentlichte,') gemacht.
Nach der Speziellen Relativitätstheorie muß
die Uhr von A , der nach einer längeren Fahrt
zu seinem Freund B zurückkehrt, gegen die von
B nachgehen. Nun kann man sich aber nach der
Relativiiätsiehre vorstellen, daß nicht A sondern
B in der Zwischenzeit in Bewegung und A in
Ruhe war. Deswegen muß auch die Uhr von B
gegen die von A nachgehen. Beides zugleich
anzunehmen schließt einen unlösbaren logischen
Widerspruch in sich. Einstein versucht ihn
auszuschalten, indem er annimmt, daß neben der
gleichförmigen Bewegung Strecken mit ungleich-
förmiger Bewegung, beim Beginn und bei der
Umkehr der Fahrt, auftreten. Für das beschleu-
nigte Koordinatensystem bei der Rückkehr läßt
Einstein im Falle der Bewegung des B ein
Gravitationsfeld in Wirksamkeit treten, bei dem
der bei der gleichförmigen Bewegung des B ver-
zögerte Uhrengang so überkompensiert wird, daß
die Uhr des B auch im Falle der Bewegung des
B nachgeht. Die Uhr des B muß daher bei der
Annahme Einsteins nachgehen, mag man sich
den A oder den B als bewegt vorstellen.
Dieser Weg einer Eliminierung der Schwierig-
keit, der schon an sich gesucht erscheinen muß,
ist aber überhaupt nicht gangbar bei einem Ge-
dankenexperiment, bei dem die Umkehr des A
und eine zeitweilige Beschleunigung der Bewegung
ausgeschlossen ist. Für ein Gedankenexperiment
existieren keine technischen Schwierigkeiten. Wir
können uns also ein Luftschiff vorstellen, das mit
einer gleichförmigen Geschwindigkeit, die der
Geschwindigkeit der Bewegung der Erde bei der
Umdrehung um ihre Achse gleich ist, dem Äquator
entlang nach Westen fährt. Früh erreicht das
Luftschiff eine Station des festen Landes, bei der,
ohne daß das Luftschiff anhält oder seine Ge-
schwindigkeit ändert, durch gegenseitige Licht-
blitze im Moment des Passierens einer bestimmten
Linie Zeichen gegeben werden, nach welchen man
die Uhren auf Luftschiff und Station gleichstellen
kann. Am anderen Morgen passiert das Luftschiff
nach Zurücklegen der Reise um die Welt die
betreffende Linie zwischen Luftschiff und Station
wieder. Die Lichtblitze wiederholen sich. Die
Stellung der Uhren kaim nach ihnen für den Mo-
ment des Passierens der Linie festgestellt werden.
Die Uhr auf dem Luftschiff muß gegen die Uhr
') Naturwissenschalten 1918, S. 697 ft.
N. F. XXI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
603
der festen Station nachgehen. Natürlich kann man
sich in diesem Falle aber auch die Station als
bewegt, das Luftschiff als ruhend vorstellen. Die
Station hat sich ja tatsächlich mit der Erde nach
Osten bewegt. Also muß die Uhr auf der Station
auch gegen die Uhr auf dem Luftschiff nachgehen.
Die Lösung des Rätsels des Uhrenparadoxons
durch Einstein gilt für dies Gedankenexperiment
nicht. Wir haben es hier allerdings nicht mit
einer geradlinigen, sondern mit einer kreisförmigen
Bewegung zu tun; aber andere geradlinige Be-
wegungen als diese haben wir auf der Erde über-
haupt nicht.')
Nur kurz kann ich auf das hochinteressante,
letzte Kapitel der Schrift von Cassirer eingehen.
Er führt hier den Gedanken aus, den ich bei der
Besprechung der Schlickschen Erkenntnistheorie
nur angedeutet habe,-) daß die Betrachtungsweise
des Physikeis notwendig immer eine einseitige ist,
welche die Wirklichkeif nicht erschöpft. Der
Physiker betrachtet die Erscheinungen nur unter
dem Gesichtspunkt und der Voraussetzung der
Meßbarkeit. Er „sucht das Gefüge des Seins und
Geschehens zuletzt in ein reines Gefüge, in eine
Ordnung der Zahlen aufzulösen". Die klassische
Mechanik schaltete die Differenzen der Empfin-
dung aus, indem sie den Unter.-ichied der Empfin-
dung auf einen Unterschied der Bewegung zurück-
führte. In der Bewegung besteht aber immer
noch der Dualismus von Raum und Zeit. Die
Relativitätstheorie geht in ihrer Weltformel auch
über diesen Unterschied hinaus. Die Unterschiede
der zeitlichen und räumlichen Auffassung, die in
unserem subjektiven Bewußtsein so fest verankert
sind, daß ohne sie ein Bewußtsein überhaupt
nicht möglich ist, sind in dem System von
Gleichungen, das nach Einstein die allgemein-
sten Weltgesetze wiedergibt, ebenso ausgeschaltet,
wie in die physikalische Begriffsbestimmung des
Lichtes und der Farbe nichts von der subjektiven
Gesichtsempfindung eingeht. „Vergangenheit und
Zukunft unterscheiden sich in der Form, die der
Weltbegriff hier einnimmt, nicht anders als die
-f-- und Richtung im Raum, die wir durch
willkürliche Festlegung bestimmen können. In
') Ein neues Uhrenparadoxon wurde von K. Vogtherr
aufgestellt. Nalurw. Wochenschr. 1922, S. 497 ff.
') Naturw. Wochenschr. 1920, S. 537 u. S. 530 f.
der Starrheit der mathematischen Weltformel ist
von dem Strom des Geschehens in unserem Be-
wußtseinsleben nichts übrig geblieben. Der Be-
griff des physikalischen Gegenstandes fällt jedoch
mit der Wirklichkeit keineswegs zusammen. Ge-
rade die Relativitätslehre muß, wenn sie sich als
richtig erweisen sollte, die Überzeugung auf-
drängen, daß „die Annahme einer Einfachheit
und Einerleiheit der Wirklichkeitsbegriffe" auf
einer Täuschung beruht. „Der theoretisch-wissen-
schaftlichen Erkenntnis treten andere Formen und
Sinngebungen von selbständigem Typus und selb-
ständiger Gesetzlichkeit wie die ethischen und
die ästhetischen Formen gegenüber." Keine
dieser Einzelformen kann den Anspruch erheben,
die Wirklichkeit als solche, die absolute Realität
in sich zu fassen und zum vollständigen und
adäquaten Ausdruck zu bringen. ,,In dem Augen-
blick, indem wir das Gebiet der Physik über-
schreiten, in welchem wir nicht die Mittel , son-
dern das Ziel der Erkenntnis selbst verändern,
nehmen damit auch alle Sonderbegriffe eine neue
Fassung und Formung an. Jeder dieser Begriffe
bedeutet etwas anderes, je nach der allgemeinen
„Modalität" des Bewußtseins und der Erkenntnis,
innerhalb deren er steht und von der aus er be-
trachtet wird. Der Mythos und die wissenschaft-
liche Erkenntnis, das logische und das ästhetische
Bewußtsein sind Beispiele derartig verschiedener
Modalitäten."
Die Ausführungen im Schlußkapitel derCassirer-
schen Schrift sind außerordentlich interessant.
Auch in den vorhergehenden Kapiteln behandelt
er die Fragen in so klarer und fesselnder Weise,
daß der Leser seine Schrift nicht aus der Hand
legen wird, ohne dem Verfasser für genuß- und
gewinnreiche Stunden dankbar zu sein. Die
Reichenbachsche Schrift setzt beim Leser eine
gewisse Kenntnis der Relativitätslehre voraus,
doch kann auch sie noch unter die allgemein-
verständlichen Darstellungen der Relativitätslehre
gerechnet werden. Auf die neuen wertvollen
Gesichtspunkte, die sie nach verschiedenen Seiten
eröffnet, besonders auch auf die interessante Aus-
einandersetzung über das Zuordnungsprinzip,
konnte leider bei der Besprechung nicht näher
eingegangen werden, da es sich bei dieser nur um
das Verhältnis der Kantschen Erkenntnistheorie
zur Einsteinschen Relativitätstheorie handelte.
Die Wandlungen der Auhel'tung bei verschiedeneu Gruppen der Meerestiere.
Von Prof. N. N. Takowleff, Petersburg.
[Nachdruck verboten.]
Tiere, die eine beständige festsitzende Lebens-
weise an ein und derselben Stelle führen, werden
ausschließlich im Wasser vorgefunden. Dies er-
klärt sich erstens dadurch , daß im Wasser die
tens ist das Wassermedium insofern günstig, als
in ihm mehr Nahrung als im gleichen Volumen
Luft enthalten ist. Endlich ist bei etwa in der
Luft lebenden festsitzenden Tieren eine Kreuz-
Beute schwimmt und dem Organismus durch die befruchtung, die für das Leben der Art so günstig
Strömung oder einen von den Tieren selbst her- ist, unmöglich gemacht oder doch äußerst er-
vorgerufenen Wasserstrudel zugeführt wird; zwei- schwert. Bei den im Wasser festsitzenden Tieren
6o4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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wird eine solche Befruchtung dadurch bewirkt,
daß die Geschlechtszellen ins Wasser ausgeschieden
werden, wo sie sich so lange bewegen können,
bis sie auf die Genitalzellen des anderen Ge-
schlechts stoßen. Die sedentäre Lebensweise
stellt keine hohen Anforderungen an die Organi-
sation und ermöglicht einen geringen Stoffwechsel
im Organismus, da dieser keine aktive Orts-
bewegung besitzt. Somit weist die festsitzende
Lebensweise große Vorteile auf, weswegen sie
auch nicht selten angetroffen wird. Die sedentäre
Lebensweise, sogar das Festanwachsen an das
Substrat wird bei allen Stämmen des Tierreichs,
angefangen bei den niedersten und bis zu den
Wirbeltieren hinauf, angetroffen und kommt, wenn
auch nicht bei den Wirbeltieren selbst, so doch
bei den ihnen verwandten und zu dem gleichen
Typus der Clwrdata gehörenden Tunicaten vor.
Die festsitzende Lebensweise trifft man nicht nur
an der Küstenlinie des Meeres, wo die Befestigung
einen Schutz gegen die starke Brandung des
Wassers bietet, sondern auch bei den Tiefsee-
tieren an. Dieses wird begreiflich, wenn man in
Erwägung zieht, daß ein Leichenregen — wie
man sich ausdrücken könnte — an tiefen Stellen
von der Oberfläche auf den Grund fällt, wo die
Tiefseetiere entweder im Schlamme wühlen, ihre
Nahrung auf diese Weise aufsuchend, oder das
fallende Nahrungsmaterial auffangen, zu welchem
Zwecke die festsitzende Lebensweise sehr passend
ist. Wegen der Aufgabe der aktiven Ortsbewe-
gung nähern sich bis zu einem gewissen Grade
die festsitzenden Tiere den Pflanzen. Diese
Lebensweise führt die Atrophie der Organe des
animalen Lebens — der Sinnes- und Fortbewe-
gungsorgane — nach sich. Die Lokomotions-
organe verkümmern, wenn sie nicht durch An-
passung an die neuen Verhältnisse die Ausübung
anderer, nützlicher Funktionen auf sich nehmen.
So bilden sich die Fußstummel und Borsten
der Ringelwürmer in der Gruppe der Tiibicolae
infolge des Überganges zur festsitzenden Lebens-
weise zurück. Es wird der Fuß reduziert bei
den Muscheln, bei Ostraea, GrypJiaca, Spoiidylus,
Cliatna. Gleichfalls bei den bohrenden Desmo-
doiitcii {Teredo, Aspergillnm, Pholas).
Bei Schnecken (bei denen man nicht so häufig
eine festsitzende Lebensweise antrifft) bleibt bei
der sedentären Lebensweise der Fuß erhalten
und dient als Haftorgan {Patclla, Chiton, Ilaliofis);
bei den festsitzenden jedoch dient er, oder viel-
mehr der an dem F"uße befestigte Deckel zum
Schließen der Schalenmündung. Bei den fest-
sitzenden Krebsen, Rankenfüßlern {Cnisiacca, Cir-
ripcdia), erlangen die Gliedmaßen die F"orm der
Rankenfüße, welche für eine F"ortbewcgung der
Tiere untauglich sind; sie dienen ausschließlich
zur Herbeiführung der Nahrung und zur Atmung.
Wie bereits erwähnt, beobachten wir bei fest-
sitzenden Tieren eine Reduktion nicht nur der
Bewegungs-, sondern auch der Sinnesorgane, was
augenscheinlich damit im Zusammenhange steht,
daß diese dem sedentären Tiere beim Aufsuchen
der Nahrung oder zum Meiden des Feindes nicht
dienen können. Im Gegensatz zu den freilebenden
Tieren vermögen die festsitzenden ihre Beute
nicht zu verfolgen und können auch nicht vor
ihrem Feinde flüchten. Deshalb reduzieren bei-
spielsweise die Tastorgane, die Fühler oder An-
tennen; bei Rankenfüßlern sind die vorderen ver-
kümmert, die hinteren fehlen ganz. Es fehlen die
Augen bei denselben Rankenfüßlern, bei fest-
sitzenden Stachelhäutern (Crinoiden). Die Seh-
organe sind bei denjenigen festsitzenden Tieren
von Bedeutung, die sich in ihrer Schale verstecken,
sich kontrahieren, den Kopf mit den Tentakeln
in den Körper einziehen, die Öffnung, die in ihre
Schale führt, schließen. In diesen Fällen ent-
wickeln sich die Sehorgane an ungewöhnlichen
Stellen: bei Röhrenwürmern an den Kiemen,
welche ausgestülpt werden können, oder bei den
Muscheln an dem Mantelrande.
Infolge ihres Unvermögens, ihre Beute selbst
zu verfolgen, sind die festsitzenden Tiere größten-
teils auf den Plankton, auf die mikroskopischen
Organismen, welche vom Wasserstrom ange-
schwemmt werden und mehr oder weniger
mechanisch in die Mundhöhle gelangen, ange-
wiesen. Bei solchen Ernährungsverhältnissen ist
es natürlich, daß die Kauwerkzeuge verkümmern
und sogar atrophieren, wie z. B. bei den Ranken-
füßlern, Crinoiden und sogar bei den freilebenden
Muscheln, welche infolge ihrer schwachen Loko-
motionsfähigkeit und Ernährung durch den
Plankton sich stark von den übrigen Mollusken
unterscheiden und sich wegen des Fehlens der
Kauwerkzeuge und öfter auch der Augen den
festsitzenden Tieren nähern.
Wenn einerseits die animalen Funktionen der
festsitzenden Tiere stark reduziert sind, was vom
physiologischen Standpunkte als ein Zeichen des
Regresses betrachtet wird, und somit die sedentären
Tiere im Vergleich mit den freilebenden auf einer
niedrigeren Entwicklungsstufe stehen, so ist doch
andererseits die ganze Organisation der fest-
sitzenden Tiere an das Auffangen und Festhalten
der Nahrungspartikel möglichst erfolgreich an-
gepaßt. Zu diesem Zwecke entwickeln sich be-
sondere Vorrichtungen : bei festsitzenden Würmern
und Cölenteraten mit Wimpern besetzte Tentakel,
vermittels welcher sie einen Wasserstrudel hervor-
rufen, der ihnen die Nahrung zum Munde führt;
bei den festsitzenden Stachelhäutern {Pcknalozoa)
und Brachiopoden .'\rme; bei den Moostierchen
(Vibraculen und Avicularien), bei den Muscheln:
Wimpern an den Kiemen und an den Mund-
tentakeln; Rankenfüße bei den Rankenfüßlern;
dieses sind solche Vorrichtungen.
Bei den meisten Korallen und Actinien ist
der Mund nicht rund sondern zweiseitig-symme-
trisch, spaltenförmig, und die Schlundröhre ist
nicht zylindrisch , sondern etwas flachgedrückt.
An der Berührungsstelle der beiden platten Seiten-
wände des Schlundes bilden sich Rinnen, welche
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
605
sich längs der Röhre hinziehen. Wenn sich nun
die Mundöfifnung zusammenzieht, bleiben die über
den Rinnen gelegenen Mundwinkel dennoch offen,
und die Rinnen verwandeln sich in geschlossene
Röhren, die eine Vermittelung zwischen der
Leibeshöhle und dem Außenmedium herstellen.
Die eine Rinne ist mit Wimperhärchen versehen
und ist überhaupt besser entwickelt als die andere.
In ihr wird vermittels der Wimpern ein Wasser-
strom von außen nach innen erzeugt, während
in der anderen Rinne oder in dem übrigen
Schlundteile die Stromrichtung eine entgegen-
gesetzte ist. Bei einigen Actinien {Siphonadininc)
sind die Mundwinkel in über das Mundfeld hinaus-
ragende Siphone ausgezogen , während die der
Achse der Actinie zugewandten Teile zerschnitten
sind. Bei den paläozoischen Korallen Ritgosa
scheinen die Zeitrinnen an der Oberfläche des
Nebenmundfeldes des Polypen im Zusammenhange
mit den sogenannten fossulae gebildet zu sein.
Eine sehr interessante Körperform ist den
Bryozoen der Steinkohlenzeit — Archimcdcs —
eigen, bei denen der plattenförmige Körper der
Kolonie in senkrechter Richtung ausgezogen und
spiralförmig eingerollt ist, analog der archime-
dischen Schraube in der Mechanik oder der
Schraube einer Fleischmaschine. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß vermittels dieser Vorrich-
tung das Wasser kontinuierlich längs dem ganzen
Körper von unten bis nach oben hingetrieben
wird, so daß der Vorrat von Nährstoffen voll-
kommen ausgenutzt wird.
Mit Ausnahme der letzten Zeilen über die
fossilen Formen entnehme ich das Obendargelegte
der vorzüglichen Arbeit von A.Lang „Über den
Einfluß der festsitzenden Lebensweise auf die
Tiere". Jena 1888. Obgleich diese Arbeit vor
ziemlich langer Zeit erschienen ist, ist sie nicht
veraltet und steht einzig und allein in diesem Ge-
biete der Wissenschaft. Im weiteren werde ich
näher auf die Frage eingehen, unter welchen Be-
dingungen die festen und beweglichen Befestigungs-
arten entstanden sind, und welche von ihnen, vom
phylogenetischen Standpunkte aus betrachtet, die
ältere ist. Eigentümlicherweise ist letztere Frage
bis heute noch nicht berührt worden, was mich
auch dazu bewegte, mich mit derselben zu be-
schäftigen.
Die Befestigungsarten, die in den meisten
Fällen so große Verschiedenheiten aufweisen, sind
zweierlei Art: eine bewegliche (elastische), ver-
mittels eines Stieles oder wurzeiförmiger Aus-
wüchse und eine feste, vermittels Ausscheidung
von Kalksubstanz, Zementierung und unmittel-
baren Anwachsens der Schale. Die bewegliche
Anhefiung vermittels des sog. Füßchens treffen
wir bei den Brachiopoden ; vermittels des, dem
Füßchen analogen Stieles: bei den Krebsen Cirri-
pedia, Pedimculata {Lcpadidae usw.); bei den
Crinoiden vermittels eines andersgearteten Stieles;
vermittels eines Bündels von Hornfäden {Byssiis)
bei den Muscheln. Die feste unbewegliche An-
heftung trifft man bei denselben Gruppen an ;
bei den Brachiopoden, bei den Krebsen Cirri-
pcdia Opercidata [Balanidac usw.), den Muscheln,
selten bei den Crinoiden.
Die bewegliche Befestigung weist in einiger
Hinsicht Vorteile vor der unbeweglichen auf.
Die festsitzenden Tiere trifft man in Scharen
an ein und demselben Orte an; dieses ist für sie
sogar charakteristisch und dabei können die Tiere,
dank ihrer Nachgiebigkeit das Substrat besser
ausnutzen, indem sich eine größere Anzahl von
Individuen ansiedelt.
Ferner kann, wie Lang erwähnt, die beweg-
liche Befestigung bei stark bewegter See bevor-
zugt werden , da sie eine schaukelnde Bewegung
auf den Wellen ermöglicht, was eine Abschwächung
der mechanischen Wirkung der Wellen nach sich
zieht. Andererseits ist vielleicht die Anheftung
vermittels Zementierung insofern günstiger, als in
diesem Falle das Tier besser vor dem Feinde
geschützt ist.
Meiner Ansicht nach findet Längs oben-
erwähnte Annahme von dem Vorzug der beweg-
lichen Befestigung in der Verbreitung der fest-
sitzenden Tiere in den verschiedenen Meerestiefen
ihre Bestätigung. Wir gelangen sodann zu dem
Ergebnis, daß die bewegliche Befestigung in ge-
ringeren Tiefen als die unbewegliche anzutreffen
ist. So sind die mit einem Byssus versehenen
Muschelgattungen: My/iliis, Alüdiola, Puma. Me-
leagriiin in der nächstgelegenen Zone zu finden,
während die durch Zementierung befestigten
Gattungen, wie Osfraca,A)iomia,Spondyliis, Chamo,
Myodiama in weiter vom Uler entternten Zonen
vorkommen.
Genau ebenso leben die, zu den Ecardiiics ge-
hörenden Disdiia aus der Gruppe der Brachiopoden,
die mit einem Fußchen versehen sind, in geringeren
Tiefen als die zementierten Craiiia, die sowohl in
mäßigen, als auch in bedeutenden Tiefen vor-
kommen. Unter den übrigen Brachiopoden,
Tcsticardines, besitzen die, an besonders flachen
Stellen lebenden Tercbratuliiin und Waldhcimia
einen P'uß, während man die vermittels Zemen-
tierung befestigten Theddium, wiederum in großer
Tiefe antrifft. Etwas anders verhält es sich mit
den Rankenfüßlern ; der Balanits, bei welchem
die Schale an das Substrat anwächst, kommt in
der Uferzone vor, jedoch ist er durch sein dauer-
haftes kuppelartiges Gehäuse, dessen breite Basis
anwächst, an die starke Brandung gut angepaßt.
Der Bala)!us ist an das Leben an felsigen Ufern
angepaßt, wo die Brandung eine besonders heftige
ist. Überhaupt wohnen die Baliviidae so hoch
an den Felsen, daß Chlalmiis z. B. nur 2 von 24
Stunden vom Wasser bedeckt wird. Dabei ist es
für das Tier von Wichtigkeit, gänzlich in der
Schale eingeschlossen zu sein, was es vor dem
Vertrocknen schützt. Von den 4 Gattungen der
Balaniden leben 2 in der Küstenzone und die
übrigen 2 in der nächsten, während die, ver-
6o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 44
mittels eines Stieles befestigten Lepadiden in der
Küstenzone nicht vorkommen.
Was die phylogenetische Kontinuität im Sinne
der Befestigungsart betrifft, so sind die Tiere mit
beweglicher Befestigung denjenigen mit der un-
beweglichen vorangegangen.
Bei den Muscheln repräsentieren hauptsächlich
Hetcromyaria die bewegliche Befestigung und die
starre die Monomyaria, wobei diese die Nach-
kommen jener sind. Wahrscheinlich steht die
Verbreitung der Hetcromyaria vorzugsweise in
dem Paläozoikum damit im Zusammenhange.
Was die vermittels Zementierung befestigte Mono-
myaria, wie Ostrca, Spoiidylus u. a. betrifft, so
erscheinen sie zum Ende der paläozoischen Ära,
ohne hier eine so große Verbreitung erlangt zu
haben wie später. Bei den Myochamidae erscheint
die starre Befestigung bloü in den tertiären
Schichten, bei den Unioniden [^ktlieria) erst in
der Jetztzeit. Was die schloßiragenden Brachio-
poden [Tcsficardines] anbetrifft, so hat ihre unbe-
wegliche Befestigung auch verhältnismäßig un-
längst Verbreitung gefunden. Bei den silurischen
StropJwmcnaacn stellt die Befestigung durch Ze-
mentierung eine Seltenheit vor, in De\/on trifft
man sie öfter an, jedoch am häufigsten findet
man sie bei den Vertretern aus der Steinkohlen-
und Permformation (Schuchert) und zwar bei
der spezialisierten Gruppe der Prodiictidac, zu der
Richthofcnia gehört, die den äußersten Grad der
Speziahsierung vorstellt. Unter den schloßlosen
Brachiopoden (Ecardiiics) könnte die Befestigung
vermittels Zementierung als frühentstanden er-
scheinen {Craniidac der Silurformation), jedoch
wäre diese Annahme irrig, da die Entwicklung
der schloßlosen wahrscheinlich zum größten Teil
in der präkambrischen Zeit stattgefunden hat.
Bei den Rankenfüßlern sind die mit einem
Stiel versehenen Pediincidata in geologischer
Hinsicht älter (paläozoische Ära), als die stiel-
losen Opcrciilata (mesozoische Ära).
Bei den Crinoiden, bei denen man selten eine
unbewegliche Befestigung antrifft, tritt dieselbe
erst im Jura auf [Ilolopidar).
Da die unbewegliche Befestigung im ganzen
die bewegliche ablöst, sp liegt es nahe, die Frage
aufzuwerfen, inwiefern die bewegliche Anheftung
eine gelungene Anpassung vorstellt.
Nach Schuchert ist die Befestigung ver-
mittels eines Fußes bei den Brachiopoden eine
schlechte Anpassung: das Füßchen ist von der
Schale umgeben, die den Wuchs des Fußes hemmt,
und deshalb ist es der Degeneration preisgegeben.
Es ist bemerkenswert, daß die Befestigung ver-
mittels der Zementierung sich bei den Siroplw-
menaccae und den Spiriferaccac entwickelt, bei
denen die Öffnung für das Füßchen nicht auf dem
Scheitel der Schale liegt, und sich bei denen, die
diese Öffnung auf dem Scheitel oder in seiner
Nähe führen, nicht entwickelt, — Rliyiiclwncllacca
und Tercbratidacea. Liegt der Grund dafür nicht
darin, daß letztere Lage bequemer, weniger störend
für das Füßchen ist?
Ich nehme an , daß auf dieselbe Weise auch
der Byssus der Muscheln der Degeneration ver-
fallen ist.
Die Entwicklung der Hetcromyaria aus den
Homoinyaria und der Alonomyaria aus den Hetcro-
myaria steht bekanntlich mit dem Vorhandensein
des Byssus bei Homomyaria und Hetcromyaria
in Verbindung. Der Byssus der Homomyaria,
welcher die Entwicklung des vorderen Muskels
hinderte, war auch der Grund seiner Reduktion
und der Entstehung der Hetcromyaria. Später
führte derselbe Vorgang zur Atrophie des vorde-
ren Muskels und zur Entstehung der Monoviyaria.
Durch die Verschiebung des einzigen Muskels
zum Zentrum hin (diese Lage ist für die Punktion
eines Muskels die günstigste) und durch die wahr-
scheinlich damit im Zusammenhange stehenden
Errungenschaften einer kreisförmigen Schale, wurde
für die Monomyaria die Möglichkeit der Anhef-
tung mit den verschiedenen Stellen der Schale
und öfter mit derem Zentrum eröffnet. Dieses
ist möglich im Falle der Zementierung und un-
möglich bei der Befestigung vermittels Byssus,
so daß man annehmen kann, daß der letztere
der Degeneration anheimgefallen war. Es darf
jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß die unge-
schmeidige Befestigung bei Homomyaria, Oiama,
Myochama , Cliamostrea , Dimya , AetJicria , den
Rudisten vorkommt, so daß die Befestigung durch
Zementation möglicherweise in einigen Phallen un-
abhängig davon entstand, ob die nächsten Ahnen
sich vermittels eines Byssus befestigten oder nicht;
wenn sie sich aber auf diese Weise anhefteten, so
blieb ihnen natürlich nur die eine Möglichkeit noch :
es vermittels der Zementierung zu tun. Nebenbei
gesagt, können die , vermittels des Byssus be-
festigten Formen, keine solche Vertiefung der be-
festigten Klappe, wie die zementierten Rudisten
oder sogar die Austern, Spoiidylus, CJiama, Clia-
mostrea, AetJieria erreichen. Beim Vorhandensein
eines geraden Schloßrandes an der sich vertiefen-
den Klappe, erhält man, ähnlich den Brachiopoden,
eine Area; bei seinem Ausbleiben wird die Schale
kegelförmig [Craiiia, Rudisten). Der Byssus ist in
erster Linie primitiveren und ihrer Herkunft nach
älteren Muscheln eigen — Taxodoiita und Plagio-
doiita ; bei den höheren, Ileterodoiita (Herkomm-
jinge der Plagiodoiita) fehlt er. Die Anwesenheit
des Byssus bei den niederen Muscheln ist in An-
gesicht dessen, daß die Byssusdrüse als ein Ana-
logon der schleimausscheidenden sog. Fußdrüse
(Sohlendrüse) der Schnecken betrachtet wird, be-
greiflich. Augenscheinlich haben sowohl diese
als auch jene Drüsen gemeinsamen Ursprung.
Wenn die bewegliche Befestigung der Brachio-
poden und Muscheln der Degeneration obliegt,
so kann augenscheinlich allein die Befestigung
vermittels Zementierung sie ablösen, jedoch ge-
schieht es nicht immer. Bei den Muscheln
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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kommt es nur in Gegenden mit heißem Klima
und in der anUegenden gemäßigten Zone vor,
nicht aber in der kalten Zone. Das ist mit
dem großen Kalkgehalt des Wassers der war-
men Meere zu erklären. Eine der Zementie-
rung entsprechende Rolle spielt augenscheinlich
der Zustand der bohrenden Muscheln. Diese ge-
hören zu den Desmodonta, denen die Befestigung
vermittels der Zementierung unmöglich war wegen
der Zerbrechlichkeit ihrer Schale — eine Eigen-
schaft, die sich schon bei den paläozoischen F"or-
men bemerkbar macht. Bei der geringen Dicke
der Klappen wäre in der Zone starker Wellen
die Befesügung durch Zementierung totbringend.
Die Befestigung am Verharrungsort in ausgebohr-
ten Hohlräumen hat auch augenscheinlich die Be-
festigung vermittels des Byssus abgelöst, und
zwar verhältnismäßig spät, denn die bohrenden
Muscheln sind mit Bestimmtheit erst im Meso-
zoikum bekannt; denn die Funde aus der Siein-
kohlenperiode (PJwladidae, Teredinidae) sind noch
sehr zweifelhaft.
Bücherbesprechungen.
Tschirch, A., Erlebtes und Erstrebtes.
Lebenserinnerungen. VI u. 254 S. Bonn 1921,
Friedr. Cohen.
Ein bekannter Naturforscher erzählt aus der
ersten Hälfte seines reichen Lebens. Alexander
Tschirch, der in seinen dicken, aber stets eigen-
artigen Büchern sich als ein Gelehrtencharakter
erwiesen hat, tritt uns hier auch von seiner
menschlichen Seite als ausgeprägte Persönlichkeit
entgegen, schon rein körperlich : „Ich habe seinen
(des Großvaters) breiten, runden Schädel (die
Freude aller Bildhauer, Maler und Kunstphoto-
graphen)". Etwas weitläufig, aber anschaulich
schildert der Verf. seine Jugendzeit in der Heimat-
stadt Guben, wo der Vater Pastor war, und seine
Lehrzeit in der Apotheke von Loschwitz bei
Dresden. Während der Gehilfenjahre führte ihn
seine Wanderlust nach Oberlahnstein, Freiburg i. B.
und Bern. Seit 1878 studierte Tschirch in
Berlin Chemie und Botanik, promovierte mit einer im
Seh wenden er sehen Institut entstandenen phy-
siologisch-anatomischen Arbeit, wurde Assistent
bei Pringsheim und Franck und habilitierte
sich auf Anregung Eichlers für Botanik. Jetzt
unternahm er es, seine schon früher betriebenen
Bestrebungen zu verwirklichen: den Unterricht in
der Pharmakognosie zu reformieren. Die schlech-
ten Vorlesungen Garckes in diesem Fache
hatten solche Pläne in ihm erweckt; der gute alte
Herr verübelte ihm seine Konkurrenzvorlesung,
die ein Charakter wie Tschirch natürlich nicht
ohne Vorwissen Garckes hielt, nicht, sondern
unterstützte ihn. Besonders pflegte Tschirch
ein botanisch mikroskopisches Praktikum mit spe-
zieller Berücksichtigung der Drogen und Nahrungs-
mittel, das erste dieser Art in Deutschland. Da
ihm in Preußen nicht die nötige Unterstützung
seiner Reformideen zuteil wurde — • leider wird
ja auf die Lehrbefähigung und Lehrwilligkeit der
Universitätsdozenten auch heute noch wenig Ge-
wicht gelegt — nahm er 1890 einen Ruf auf den
Lehrstuhl der Pharmazie nach Bern an , wo er
noch in reger Tätigkeit wirkt. Mit der Übersied-
lung nach der Schweiz schließt das Buch. Hoffent-
lich beschert uns Tschirch auch noch die Dar-
stellung seines zweiten Lebensabschnitts, der er
wohl mit Recht den Titel „Erreichtes" geben
könnte.
Die Darstellung der inneren geistigen Ent-
wicklung des Verf. hätte man etwas eingehender
und tiefer gewünscht. Die Schilderungen der
Persönlichkeiten aber sind, auch wo sie nur aus,
wenigen Strichen bestehen, wahre Porträts, z. B.
die von Paul Magnus (S. 146). Manche inter-
essante Mitteilung betrifTt die Entwicklung der
naturwissenschaftlichen Institute und des Unter-
richtsbetriebes. 15 Tafeln zeigen uns Stätten und
Menschen, die in des Verf. Leben eine Rolle ge-
spielt haben, doch auch allgemeiner Teilnahme
sicher sind. Hubert Winkler, Breslau.
Lehmann, H. , Die Baumweißlingskala-
mität und die Organisation zu ihrer
Bekämpfung. Nach Erfahrungen in der
Rheinpfalz bearbeitet. Flugschr. Deutsch. Ges.
angew. Entom. Nr. 10. 8". 31 S., 11 Fig.
Berlin 1922, P. Parey.
Der Baumweißling, Aporia cratacgi L., früher
in Deutschland wohl allgemein und häufig, tritt
seit langer Zeit nur lokal und vorübergehend
stärker auf. Die Epidemie schwillt gewöhnlich
rasch an, um nach wenigen Jahren wieder ebenso
zu verschwinden. Ein solches Anschwellen fand
in der Rheinpfalz seit dem Jahre 1917 statt. Im
Jahre 1920 hatte sich die Kalamität „einer unge-
heueren Flutwelle gleich" über die ganze Vorder-
pfalz und die tiefer gelegenen Teile der Nord-
und Westpfalz ausgebreitet, so daß für 1921 die
dortigen, überaus reichen Obstbaugebiete mit
einer Katastrophe bedroht schienen. Bereits im
Jahre 1918 hatten Bekämpfungsmaßnahmen ein-
gesetzt, Absammeln der Winternester, Spritzen
mit Arsengiften, Sammeln der Puppen, Zerquet-
schen der Raupen, Abklopfen derselben und Ver-
hinderung des Wiederautbaumens durch Leim-
ringe. Da aber alle diese Maßnahmen nicht all-
seitig durchgeführt wurden, hatten sie keinen be-
sonderen Erfolg. Im Winter 1920/21 wurde dann
auf Betreiben Prof. Stellwaags der Kampf
organisiert, mit Begehungen, Versammlungen mit
Vorträgen, Zeitungsartikeln, Flugblättern usw., vor
6o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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allem aber durch polizeilichen Zwang zum Ab-
raupen bis zu bestimmtem Tage, widrigenfalls
das zwangsweise geschah. In erster Linie wurden
die Winternester entfernt und vergraben, die
kleinen dürren Blattbüschel, in denen die jungen
Raupen überwintern. Arsenspritzungen erwiesen
sich als unwirksam, da zu ihrer Zeit die Bäume
zu stark sprossen und so den Raupen immer
neues Grün darbieten. In einer Gemeinde wur-
den auch die Puppen abgesammelt, 957 Pfund,
etwa I Mill. Stück. Die Kosten der ganzen Be-
kämpfung betrugen 22—25 Mill. Mark. Der Er-
folg war aber auch vollständig; im Jahre 1922
standen alle Bäume in kräftigster Belaubung. —
Zum Schlüsse weist Verf. auf die Wichtigkeit der
Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis
hin, was Ref. dick unterstreichen möchte ange-
sichts der neuerdings einsetzenden Bestrebungen
in Deutschland, die wissenschaftliche angewandte
Entomologie von der Praxis, dem „Pflanzenschutze"
zu trennen, Bestrebungen, die Ref. geradezu als
unheilvoll bezeichnen möchte. Jede angewandte
Wissenschaft kann nur in dauernder Verbindung
mit der Praxis gefördert werden und sägt sich
den Ast ab, auf dem sie sitzt, wenn sie sich von
dieser loslösen will. Reh.
Anregungen und Antworten.
Die südamerikanischen Equiden keine Stütze für A. Wege-
ners Hypothese. Der Aufsatz von W. R. Eckliardt (diese
Zeitschrift Seite 326) über Wegeners Hypothese der Kontinent-
verschiebung und die Tiergeographie hat mich erneut veran-
laßt, die driinde für das Aussterben der südamerikanischen
Pferde zu prüfen, und zwar am fossilen Material selbst. Wir
sind heute wohl in der Lage, paläontologisch die inneren
Ursachen für das Erlöschen diluvialer Säugetierarten anzugeben,
denn es ist klar, daß diese Ursachen in der Organisation der
Tiere begründet sein müssen, und daß die äußeren Einflüsse
nur den letzten Anstoß zum Untergang geben. Eme von außen
wirkende regionale Ursache, welche die im Diluvium von
Panama bis Patagonien in allen Höhen verbreiteten Pferde
zum Aussterben gebracht hat, kennen wir nicht, es sei denn,
daß wir zu Annahmen greifen wie Wegener. Von den drei
hauptsächlichsten südamerikanischen Pferdestammen können
wir mit Sicherheit sagen, daß zwei davon, nämlich die Hippi-
dien und die Onohippidien, erloschen sind. Ihr .Artentod ist
leicht zu verstehen, denn sie sind in ihrer Organisation teils
primitiv teils hoch spezialisiert, also in Sackgassen der Ent-
wicklung verrannt, durch die sie bei Klima- und Vegetations-
verschlechlerung, wie sie die Eiszeit hervorrief, dem Untergang
entgegengingen. Obwohl einhufig, waren Hippidium und
Onohippidium doch plumpe und schwerfällige Tiere mit kur-
zen und stämmigen Beinen ; der große Kopf besaß einen kur-
zen Rüssel und niedrigkroniges Gebiß. Sie waren viel mehr
an das Leben im leuchten Iropenwald angepaßt als an den
Aufenthalt in der Steppe. Hippidium ging im Verlauf des
Eiszeilallers auf den vegetationsarmen Ebenen Argentiniens
früher zugrunde als das kleinere Onohippidium, das, bis Pala-
gonien gedrängt, dort mit Haut, Huf und Haar in der Eber-
hardlhöhle am Meerbusen von Ultima Esperanza gefunden ist,
also noch mit dem Menschen zusammen bis nahe an die
Gegenwart heran vorkam. Ganz anders steht es mit dem
driiten Stamm der echten Pferde! Die bestbekannten Arten,
z. B. F.quus Andium lassen in ihrer ganzen Organisation kein
einziges Merkmal erkennen, das auf ein baldiges Erlöschen
hindeutete. Die verschiedenen Arten sind der Ebene wie
dem Gebirge vorzüglich angepaßt. Sie stimmen im Gebiß so
nahe mit den europäischen diluvialen VVildpferden überein,
daß nur der Kenner imstande ist, kleine morphologische
Unterschiede herauszufinden. So steht das genannte diluviale
Andenpferd, ein stämmig gebautes Gebirgspferd, unserm Tau-
bacher Wildpferd (Equus taubachensis des letzten Interglazials)
in der Bezahnung und Unterkieferform sehr nahe. Das letzte
ist nur als Waldweidenpferd der Ebene größer und schwerer.
So wenig nun in Mitteleuropa die Gattung Equus während des
Diluviums erloschen ist, ebenso wenig ist dies für die süd-
amerikanischen Pferde anzunehmen. Zwar sind uns die dilu-
vialen Pampasarten nicht so genau bekannt wie das Andenpferd ;
aber sie stimmen im Gebiß und Schädel so mit ihm überein, daß
wir von diesen argentinischen Arten , die dort noch in histo-
rischer Zeit lebenden Pferde herleiten dürfen. Es ist ledig,
lieh Nachbetung, wenn gesagt wird, daß es kein präkolumbi-
sches Pferd in Südamerika gegeben habe; Die paläontulogi-
schen Funde sprechen durchaus dafür, daß die Gattung Equus
in Südamerika im Diluvium la Platas nicht erloschen ist, son-
dern dort vor Ankunft der Conquisladores noch vorhanden
war. Daß das argentinische ,, Wildpferd" sich mit dem euro-
päischen Hauspferd fruchtbar kreuzt, ist nur ein Beweis dafür,
daß sie beide auf eine gemeinsame Wurzel, nämlich ein plio-
zänes nordamenkanisches Wildpferd, zurückgehen.
Wie die Pferde, so bieten auch die anderen Familien
der südamerikanischen Diluvialfauna ein schönes Beispiel für
die Gesetzmäßigkeit, daß alle zugleich primitiven und
abwegig spezialisierten Gattungen bei Auslösung äuße-
rer, die Lebenslage verschlechternder Ursachen (hier das Eis-
zeilalter) ausgemerzt werden, während die primitiven oder
spezialisierten Typen, wenn schon zurückgedrängt, sich halten
können. Dies läßt sich ausnahmslos für Elephas, Mastodon,
Macrauchenia, Toxodon, die Riesenfaultiere, Glyptodontiden
und Säbelkatzen erweisen. Tapir, Hydrochoerus, Dicoiyles
u. a. sind unter den eiszeiilichen Einflüss>n merklich kleiner
geworden, Pferde, Lamas, Hirsche, Dasypodiden, die meisten
Nager, Beuteliiere und Camivoren haben ddgegen ohne merk-
liche Änderungen bis heute ausgedauert.
VV. O. Dietrich.
Literatur.
Baumann, J., Gärungslose Früchteverwertung. Stutt-
gart '22, Eugen Ulmer.
The Distribution of Bird Life in the Urubamba Valley
of Peru. Chapman, Frank M., Smithsonian Institution Uni-
ted States National Museum Bulletin II7. Report on the
Birds CoUected by the Yale Universily, National Geographie
Societys Expeditions. Washington '21, Government Printing
Office.
Blake, S. F., Smithsonian Institution Uniied States Na-
tional Museum. Contributions from the United States National
Herbarium Vol. 20, Part 10. Revisions of the Genera Acan-
thospermum, Floucrnsis, Oyedaea and Tithonia. Washington
'21, Government Printing Office.
lulialt: H. Kranich feld, Das Verhältnis der Relativitätstheorie Einsteins zur Kantschen Erkenntnistheorie. S. 593.
N. N. Yakowleff, Die Wandlungen der Anheftung bei verschiedenen Gruppen der Meerestiere. S. 603 — Bücher-
besprechungen: A. Tschirch, Erlebtes und Erstrebtes. S. 607. H. Lehmann, Die Baumweißlingskalamilät und
die Organisation zu ihrer Bekämpfung. S. 607. — Anregungen und Antworten : Die südamerikanischen Equiden keine
Stütze für A. Wegeners Hypothese. S. 608. — Lit«r»tur: Liste. S. 608
nuskripte und Zuschriften
den an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H„ Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
der g:
Neue Folge 21. Band;
Reihe ^7. Hand.
Sonntag, den 5. November 1922.
Nummer 45.
Nährpflanzen und Heilpflanzen in der Geschichte.
[Nachdruck verbofn.] ^<'° GeOrS StlckeF, Würzburg.
Soweit wir in die Vergangenheit der Völi<er ununterbrochen geübt bHeb
zurückbUcken, werden vom Menschen unter seinen
Nährmitteln und Heilmitteln die Gaben der
Pflanzenwelt besonders hochgeschätzt. Vielleicht
gab es Zeiten und Orte, wo unsere frühesten
Vorfahren ausschließlich oder vorwiegend auf
Kosten der Tierwelt lebten, weil die Pflanzenwelt
ihrer Wälder und Steppen wenig Anlockendes bot.
Aber wir dürfen uns kaum vorstellen, daß dieses
jemals die Regel gewesen sei bei jenem zwei-
händigen Geschlecht, das, Fnit Gebiß, Magen,
Darm für pflanzliche Kost mindestens ebenso
ausgerüstet oder angepaßt wie für tierische, sich
in der letzten Zeit des Tertiärs weiter entwickelte,
in der Zeit, als das heulige Grönland Koniferen-
wälder mit Sequoia und Taxodium und zugleich
Platanen, Magnolien, Sassafraslorbeeren, Pappeln,
Eichen, Walnußbäume trug. Ebensowenig wird
sich der werdende Mensch der quaternären Epoche
auf Tierjagd und Fischjagd beschränkt haben an
den nordischen Spitzbergen und in der weiten
Ebene des nordischen Festlandes, als dort neben
den Nadelwäldern mit Rottanne, Weißianne, Kiefer,
Taxusbaum, Lebensbaum, Wachholder auch weite
Wälder und Haine mit Eichen, Platanen, Berg-
ahorn, Linde, Walnuß, Hainbuche, Pappel, Weiß-
birke, Kreuzdorn, Haselstaude standen; wo Sümpfe
mit Sumpfzypresse, Stechpalme, Schilfrohr, Wasser-
säge, Wasserrose sich ausdehnten; wo Ulmen,
Eschen, Erlen, Weiden den Bächen und Flüssen
folgten; wo Kräuter, Pilze, Körner, Beeren, Schalen-
früchte, Steinobst, Kernobst, Wurzeln, Knollen
ebenso zum Genuß einluden wie jagdbare Kriech-
tiere, Insekten, Vögel, vierfüßiges Wild und Fische.
Das mußte freilich anders werden, als mit den
eintretenden vieltausendjährigen Vergletscherungen
und Überschwemmungen die große Baumwelt
starb und über den untergegangenen Wäldern
endlose Tundren und Haiden sich ausdehnten,
karge Weideplätze des Renntieres, des Moschus-
ochsen, des Lemmings, des Vielfraßes, des Schnee
huhns. Auch mögen die Zeiten der Steppenfauna,
welche den Rückzügen der Eiswüste geduldig
folgte, um unter ihrem Wiederkehren verküm-
mernd zu weichen, mehr zur Jagd geladen haben
als zur Pflanzenkost, solange als sie neben Steppen-
ziesel, Bobak, Pfeifhase, Wühlratte, Iltis, Hermelin,
Schakal , Wolf auch noch die Herden des Ele-
fanten, des Nashorn, des Mammut, des Büffels,
des Auerochsen, des Riesenhirsches, des Elen, des
Wildpferdes, der Trappe und andere Hühnervölker
nährten; so lange als der diluviale Mensch, be-
drängt von Bär und Löwe und Wolf und Hyäne,
der Abwehr wie
in der Verfolgung der Tierwelt. Sicher ist, daß
wir bisher aus der Zeit des Höhleniebens im Di-
luvium jedes unmittelbare Andenken daran, daß
der Mensch damals Blätter, Früchte, Wurzeln ver-
zehrt habe, vermissen; wir müßten denn eine
auffällige Abschleifung des Gebisses, die sich beim
Menschen der Altsteinzeit durchgängig findet, als
Wirkung harter pflanzlicher Kost deuten dürfen.
Das ist nicht ohne weiteres erlaubt; auch das
Abnagen und Zermahlen von Knochen, Muschel-
tieren, Käfern schleift die Zähne ab; dazu kommt,
daß das älteste uns bekannte Leiden des Vorzeit-
menschen, die Höhlengicht, wie sie als Glieder-
sucht Gelenke und Knochen angreift, auch dem
Zahnwuchs und der Zahnerhaltung feindlich ist.
Übrigens teilt der diluviale Mensch die Verderbnis
seines Gebisses mit einigen pflanzenfressenden
Riesengefährten, insbesondere mit dem Merck-
schen Nashorn und mit dem Mammut; bei diesen
finden wir schlechtes Zahnwerk in einer Form,
die weniger einer fortschreitenden natürlichen Ab-
nutzung entspricht als einer schwachen Anlage
und Ausbildung der Zähne.
Sogar noch im jüngeren Paläolithikum, wo ein
herdfeuerpflegendes und kunstliebendes Menschen-
geschlecht die Wände seiner Wohnhöhlen, seine
Waffen und andere Gebrauchsgegenstände mit
naturwahren Zeichnungen und Malereien und
Schnitzbildern verziert, fehlen sichere Beweise
für eine Schätzung der Pflanzenwelt als mensch-
licher Kost. Die Aurignacrasse wie die Cro-
Magnonrasse hinterläßt Bildnisse ihrer selbst, ihrer
Zelte, Kleider, Schmucksachen, ihrer Jagdiiere,
Nashorn, Ziege, Wildkatze, Nilpferd, Hirsch, Mam-
mut, Bison, Renntier, Fische; aber Pflanzenbilder
zeichnet der Mensch erst am Ausgange des Dilu-
viums neben Ranken und Zierlinien. Daß er
sich mit wildwachsenden Kräutern und Flüchten
und Wurzeln genährt habe, ist eine vielmals aus-
gesprochene Vermutung, aber doch mehr ein
Rückschluß vom Leben der alluvialen Sieinzeit-
menschen und vom Leben der heutigen wilden
Völker und Affengeschlechtern als Gewißheit.
Auch unter den ältesten Küchenabfallhaufen
der muschelverzehrenden Küstenbewohner im
Norden lassen sich regelmäßige Pflanzenbestand-
teile als Nutzreste nicht nachweisen.
Das ändert sich deutlich mit den Anfängen
der frühneolithischen Zeit des Alluviums, wo der
Mensch nicht mehr ausschließlich als Jäger und
Frischer erscheint, sondern mehr und mehr als
Hirte auftritt und endlich als Ackerbauer und als
6io
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Städttgründer. Jetzt ist ein großer Teil der Tier-
welt, die dem Menschen der Vorzeit das Leben
fristete, verschwunden. Mammut und Höhlenbär
sind ausgestorben; Löwe und Hyäne sind in
wärmere Zonen ausgewandert; Rennlier, Gemse,
Steinbock, Murmeltier haben sich mit den Glet-
schcrfeldern in den hohen Norden oder an die
Schneegipfel der Alpen zurückgezogen. Immerhin
ist Gelegenheit genug zur Jagdbeute geblieben;
im Walde der Edelhirsch, das Elchtier, das Reh,
das Wildschwein, Vögel aller Art; auf der Steppe
Pferd und Rind und Geflügel, soweit die Ebenen
des alten FesUandes reichten. Die Raubtiere, die
dem Menschen die Jagd verderben und streitig
machen, Bär, Wolf, I'uchs, Luchs sind scheuer
und nicht mehr so furchtbar wie die Tischgenossen
der Urzeit. Ein Teil der Tiere, die mit dem
Menschen das neue gemäßigte Klima teilen, ist
der Zähmung und Züchtung zugänglich; der
Hund wird dem Menschen Gefährte und Jagd-
gehilfe; Rind, Ziege, Schaf werden milch-, fleisch-,
kleidunggebende Haustiere und Herdentiere.
So stand es vor rund fünftausend Jahren für
das weiße Menschengeschlecht im Herzen Asiens,
das sich gelbe Menschenhorden und Rinder,
Pferde und Schafe zu Haus- und Hürdetieren er-
zogen hatte und, vom treuen Hund begleitet,
seine weiten Weidegebiete schützte. Aus un-
bekannten aber dem steppenkundigen Loimologen
nicht schwer enträtselbaren Ursachen mußten
jene weiße Menschen, die sich Arier, die Gebie-
tenden nannten, wiederholt nach allen Himmels-
gegenden flüchtig werden, um neue Weideplätze
und Wohnsitze zu suchen. So geschah es im
dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus bei
den germanischen Zweigen der Urarier; nach
Norden verdrängt und immer aufs neue von der
Kargheit des Bodens, von der Unwirtlichkeit des
Himmelsstriches, von bodenspaltender Dürre mit
Versiegen alles Pflanzenwuchses, von den Piagen
der tierischen Umwelt und von menschenmorden-
den und viehmordenden Seuchen zum Aufbruch
gezwungen, kamen sie nach unübersehbaren Wan-
derungen und unsäglichen Muhsalen endlich zu
den Gestaden Nordeuropas und besiedelten von
hier aus auch die weiten Urwaldungen zwischen
Weichsel und Donau und Rhein.
Der Ursprung und die Schicksale der germa-
nischen Stämme in jener Vorzeit sind in Körper-
form und Sprache, in Sagen und Gebräuchen
und Sitten befestigt; nebenher lassen uns einzelne
von ihnen mitgetragene Pflanzen Herkunft und
Wanderzug ahnen; so die Z u ck er w u r zel (sium
sisarum L.), die in der Mongolei einheimisch mit
den Germanen ihren Weg zum Rheine gefunden
hat. Die Verehrung der Eichen m ist el (viscum
quercinum L.) und die heiligen Gebräuche, die
von den Druiden beim Pflücken dieser Pflanze
und bei der Bereitung des Guthyl daraus geübt
wurden, gehen auf die Bereitung des uralten
arischen Göttertrankes Haoma zurück; ebenso
das Anzapfen der Birke (betula alba L.) und des
Bergahorns (acer pseudoplatanus L.) zur Be-
reitung des Birkenweins und des Ahornweins;
vor allem auch die Gährung des Meihs aus ver-
schiedenen Früchten und Fruchtsäften unter Zu-
satz von Wasser und Honig.
Bei der Einwanderung aus den russischen
Steppen in die neue, durch Urwälder und Sümpfe
unwirtliche Heimat wurden die Germanen ge-
zwungen, die bisherige Grundlage ihres Lebens
zum Teil aufzugeben, die Viehzucht einzuschränken
und durch Erträgnisse der Jagd zu ergänzen; bei
karger Jagdbeute und raschem Viehsierben auch
wohl in der Pflanzenwelt allein Nahrung zu suchen.
Im Laubwalde fand der streifende Jäger Him-
beeren, Brombeeren, Haselnüsse, Schlehen, Kirschen,
Apfel, Birnen, Eicheln, Bucheckern. Auf der
Weide verriet die Gräserwelt dem aufmerksamen
Hirten eine ähnliche Neigung zu fast unbegrenzter
Herdenbildung, wie er sie von den F"amilien des
Rindes und anderer Zweihufer kannte und nutzte;
der Viehzüchter lernte so nicht nur, die wohl-
schmeckenden und nahrhaften Samen der Gräser
als gelegentliche Beikost zu verwenden; er lernte
auch Fruchtmieten und Fruchtspeicher anzulegen
und Gerste und Weizen zu säen und ernten.
In der jüngeren Steinzeit sind sechszeilige
Gerste (hordeum hexastichum L ), Emmer (tri-
ticum dicoccum Schrank), Einkorn (triticum
monococcum L), Weizen (triticum elegansj an-
gebaute Gräser; außer ihnen werden Pastinak
(pastinaca saliva L.), Zuckerwurzel (sium sisa-
rum L.), Mohrrübe (daucus carota L.), Linse
(ervum lens L.), Lein (linum usitatissimum L.)
angepflanzt. Hierzu kommen später, in der
Bronzeeisenzeit, Roggen (secale cereale L.),
Spelt (triticum spelta L.), Hafer (avena sativa),
Saubohne (vicia faba L.), Ackererbse (pisum
arvense L.).
In den Pfahlbauten der Schweiz können wir
Schritt für Schritt verfolgen, wie der schweifende
Hirt und Jäger zum seßhaften Stallzüchter und
Fischer wird, wie er Hund, Rind, Ziege, Schaf,
Schwein zu Haustieren macht; wie er Weizen,
Gerste, Hirse in verschiedenen Arten pflegen, ihr
Korn bewahren, zu Brei bereiten, zu Brot ver-
backen lernt.
Im Germanien der Römerzeit ist der seßhaft
gewordene Arier immer noch ein Liebhaber der
Jagd; aber er läßt sein Leben nicht mehr von
den Erträgnissen der Jagd allein abhängig sein.
Indessen, durch Boden und Wetter an F"rost und
Hunger gewöhnt, ist er mit wenigem zufrieden
und treibt die Ackerwirtschaft nicht weiter als
zum Leben unbedingt erforderlich ist. Der freie
Mann läßt sich ohne äußeren Zwang nicht darauf
ein, das Land zu bebauen und des Jahres Ertrag
abzuwarten. Wenn er nicht in den Krieg zieht
oder auf der Jagd ist, so bringt er den ganzen
Tag am Herdfeuer zu in süßem Nichtstun bei
Essen, Trinken und Schlafen. Getreide fordert
er vom Boden; aber Weiber, Greise und Schwäch-
linge besorgen Feld und Hof und Haus und
N. F. XXI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6ii
bergen für den Winter die Feldfrucht im Boden
oder in unterirdischen Höhlen. Wildes Obst,
frisches Wildbret und saure Milch bleiben die
Lieblingskost des Germanen; ein Gebräu aus
Gerste oder Weizen gibt den unentbehrlichen
Trunk. So war es, als Cäsar über die Alpen
drang, um Germanien zu besiedeln, und als Ta-
citus die Eigentümlichkeiten, die Tugenden und
Fehler der deutschen Stämme aufschrieb.
In guten Zeiten ehrte der Germane das heilige
Dach der Fiche, die gesunde Beikost der Obst-
bäume, die methspendende Kornfrucht. In Zeiten
der Not, in Viehseuchen, im Mißwuchs der Felder,
in eigenen Krankheiten wird ihm die ganze
Pfl.mzenwelt ehrwürdig und heilig. Dann er-
schließen zahllose Früchte, Kräuter, Wurzeln gute
Gaben. Die Geschichte solcher Zeiten des Man-
gels und der Not lesen wir in den ältesten Namen
unserer einheimischen bodenständigen Pflanzen.
Wer mit Höfler diese Namen auszulegen ver-
steht, der vermag zu sehen, wie die große Lehrerin
der Menschheit, das Bedürfnis, unseren Stamm-
vätern die Nährmittel und die Heilkräfte in der
sie umgebenden Pflanzenwelt gezeigt hat. Im
täglichen Kampf um die Notdurft des nackten
Lebens versuchten die Darbenden und Leidenden
alles, was das erste menschliche Bedürfnis, den
Hunger, unschädlich stillen, was Schwäche be-
seitigen, Schmerzen mildern konnte. Was wir
heute verachten, mußten sie hochschätzen.
Die Pfahlbauten bei Bobbenhausen in der
Schweiz zeigen, daß ihre Bewohner aus den
Samenkörnern vom guten Heinrich (cheno-
podium bonus Henricus) ihr tägliches Brot buken;
in den östlichen Ländern Europas wird heute, wie
so oft in vergangenen Zeiten , wieder einmal
Hungerbrot daraus gebacken; und alles, was in
späteren Zeiten in Deutschland als Not- und
Hungerbrot galt, diente den Urgermanen vieler-
orts durch lange Zeiten zum Hauptgericht: Eichel-
brot, Büchelbrot, Schlehenbrot, Kleebrot.
Von den ältesten Nutzpflanzen haben sich die,
welche reich an Mehlstoff oder Zucker oder Fett
sind, am zähesten unter den Volksheilmitteln der
Schwindsucht erhalten: so die Früchte des Speise-
bau m es, der Buche; des Gedeihbaumes,
der Eiche; Adebars Brot oder Gott esgn ad e,
die Knollen des Storchschnabels. ■ — ■ Vielen ande-
ren Pflanzen schrieb und schreibt das Volk die
Kraft zu, die Fruchtbarkeit vermehren und das
Gebären zu erleichtern, dem Frauenblatt
(achillea moschata), dem Sonnenwendgürtel
oder Schooßwurz (artemisia absinthium). dem
Keusch lamm, der Männertreu. — Zahlreiche
Pflanzen erwiesen sich als Vernichter von Unge-
ziefer und als Abwehrer von Krankheitsgeistern :
die Pflanze Orval, d. h. Erdfall oder Milzbrand;
das Biswurmkraut; das Wanzenkraut oder
Wurmkraut oder Herrgottshöltzl; die
Lausblume, Seidelbast; der Hexenbesen,
Birkenmistel ; das Schelmenkraut, Kreuzwurz ;
das Schwindholz, Esche. — Als Wundkräuter
dienten die Blätter des Wundbaumes, der
Esche; die Blutwurz oder Bukwurz; die Eiter-
wurz. — Stärkend wiikten der Barfuß und die
Machtwurz. — Eine große Giuppe umfaßt
Gräser und Kräuter mit schmerzstillender Wir-
kung: Pflanzenteile, die kühlend wirken wie der
Wegetritt oder wie der gute Heinrich;
betäubend wie die Schlafbeere, wie das
Schlafkraut (Bilsenkraut), wie die Nickel-
ruh (Schlafmohn), wie der Nachtschaden;
beruhigend wie die G r i m m b eer e, tröstend wie
die blaue Blume des Wegewaris Nimmerweh.
Wer so das Volk der Vorzeit Nahrung und
Hilfe bei der Pflanzenwelt suchen und finden
sieht, der versteht seinen Rat: Pflanze Linden
um dein Haus, dann können die Hexen
nicht ankommen; der ehrt seine fromme
Mahnung: Vor dem Holler sollst du den
Hui abnehmen oder niederknien!
In den römischen Siedlungen an Donau und
Rhein scheinen die genannten Heilkräuter nicht
viel gegolten zu haben. Der weltbeherrschende
Römer hatte es längst verlernt, mit Cato dem
Censor im einheimischen Krauskohl (raphanis
Theophrasti, crambe Plinii, brassica crispa), das
trefflichste Nahrungsmittel und wirk^amste Heil-
mittel zu schätzen, dessen kraftgebende Wirkung
sogar durch den Harn vermittelt werde; sie ver-
achteten den Rat: Sammle deinen Harn, wenn
du Kohl gegessen hast; die kleinen Knäblein, die
du damit wäschest, werden niemals Schwächlinge
sein. — Sie hörten auf Cato nicht mehr; darum
entarteten sie. Wirkliche Arzneien mußten für
den Römer der Kaiserzeit aus Ägypten, aus Ara-
bien, aus Indien kommen. Der hochgebildete
und sicherlebende Städter hat keine Veranlassung,
die gewöhnliche Pflanze am Wege mit Ehrfurcht
zu betrachten und ihr zu vertrauen. Ihm gilt der
einfältige Unterricht des Volksgeistes nichts, am
wenigsten wenn er von Rohlingen, wie den Ger-
manen, kommt. Ihm ist maßgebend die hohe
Schule des Imhotep, des Theophrastos,
des Dioscorides, des Galen os.
Dem domestierten und zivilisierten Germanen
in römischen Diensten an Donau und Rhein
wurde die heilige Thräne der Isis (hiera-
botane Diosc. ; verbena officinalis L.) ein begehrens-
wertes Heilmittel; aber daß sein eigenes E isen -
hart (verbena officinalis L.), das an allen Wegen
stand, noch die von den Druiden gerühmte Kraft,
hieb-, Schuß- und fieberfest zu machen, habe,
konnte er nicht glauben. Die römische p 1 a n t a g o
oder septemnervia lernte er gemäß der Emp-
fehlung des Griechen Themison als Allheil-
mittel schätzen; den eigenen Wegerich (plan-
tago) sah er nicht mehr an. Da der Leibarzt des
Kaisers Augustus, Antonius Musa, die Vet-
tonica der spanischen Alpen in einem Gedicht
gepriesen hatte und es die höchste Schmeichelei
für einen Römer geworden war, zu hören: Du
bist mit Tugenden mehr begabt als die betonica,
6l2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 45
so wurde das Zehr kraut (betonica) der deutschen
Waldwiesen überflüssig.
Indessen verdankte der Germane dem Römer
große und gründliche Vorbilder in der Pflege des
heimischen Bodens; Anleitungen zum Ackerbau,
zur Obstbaumpflege, zur Wiesenbewässerung, zur
Anlegung von Gemüsegärten, zur Anpflanzung des
gallischen Weinstockes zeigten ihm, wie reich,
wie unerschöpflich die harte Mutter Erde ist für
den, der sie in treuem Dienst lieben lernt und
sie wiederlieben lehrt.
Es kamen die Unruhen, die Stürme, die Ver-
heerungen der Völkerwanderung, mit ihnen die
Vernichtung der Wechselbeziehungen zwischen
Beden und Volk. Der Germane, herd- und
herdenlos geworden, mußte aufs neue den Zu-
fällen der Jagd und des Raubkrieges vertrauen,
mußte bei der Pflanzenwelt, die er zu beherrschen
gelernt hatte, wieder betteln gehen. Er mußte zufrie-
den sein, wenn das, was Wald und Anger, Sumpf und
Fluß abgaben, ihm und nicht feindlichen Drängern
zufiel.
Endlich ließ das halbt^usendjährige Drängen
und Kämpfen, Verbluten und Sterben der germa-
nischen Völker nach ; der Rest der deutschen
Stämme sah wieder die Möglichkeit, feste Wohn-
sitze auf eigenem Grunde zu behaupten und Herd
und Hof, Stall und Feld einzurichten. Statt ge-
walttätiger Eroberer kamen jetzt milde Kultur-
träger ins Land, die Söhne des heiligen Bene-
diktus. Sie kamen von den britischen Inseln,
wohin sie vordem auf Befehl des großen Papstes
Gregor den Angeln und Sachsen Nächstenliebe
und Gottesverehrung gebracht hatten. Sie sahen
ihre nächste Aufgabe darin, Pflanzschulen der
germanischen Jugend zu gründen und mit ihrer
Hilfe das verwüstete und verwilderte Land aufs
neue urbar zu machen. Es entstand die Mehrerau
am Bodensee unter Columban und Gallus;
die Kultur des Friesenlandes unter Wil librord;
die Kultur der Franken unter Emm'eran und
Kilian; es entstanden die Stifte und Schulen zu
Fulda, Mainz, St. Gallen, W'eißenburg, Reichenau,
Corvey, Prüm unter Winfried, dem Apostel
der Deutschen, der den Mönchsnamen Boni-
facius trägt, und unter seinen frommen Nach-
folgern Burkard, Willibald, Wunibald,
Walpurgis. Wo diese Boten der Gotteskind-
Schaft und Hüter menschenwürdiger Sitte hin-
kamen, da versprach die deutsche Erde aufs neue
für alle, die sich ihr anvertrauen wollten, reich-
lichen Unterhalt. Anfänglich gab es noch schwere
Notzeiten, wo Wurzeln und Kräuter und wilde
Früchte das nackte Leben retten, langwierige
Schmerzen lindern , tödliche Krankheiten und
Seuchen abwehren mußten. So hilfreiche Kräfte
sollten unvergessen bleiben. Darum wurden sie
jetzt nach dem Christengott selber und nach
seinen Heiligen benannt.
Manche schlichte Pflanze kam damals zu hohen
Ehren. So die F"eigwurz, der Warzen bahnen -
fuß (ranunculus ficaria L.); beim Volk stand ihr
Kraut seit uralter Zeit bei den bösen Anschwel-
lungen, Geschwüren und Lähmungen der Hunger-
krankheit, die später den Namen Scharbock
bekommen hat, in Ansehen; ihre Wurzelknöllchen,
die in karger F'rühlingszeit gelegentlich ein Regen aus
dem Boden wusch und die dann als Weizenregen
willkommen waren, bekamen den Namen Him-
melsgerste; die ganze Pflanze wurde nun
Gotsgenad, gratia Dei genannt. Später ist
sie zum kleinen Schöllkraut (chelidonia minor
officinarum, Matthiolus-j- 1577) erniedrigt wor-
den, während ein anderes Kraut mit wundheilen-
der Kraft, der stinkende Storchschnabel (geranium
robertianum L.), der ebenfalls kleines Schöllkraut
(Chelidonia minor Sanctae Hildegardisf 11 79)
hieß, den Ehrennamen Sankt Rupertskraut,
nach dem Stifter des Zisterzienserordens Robertus
(■\- 1108), erhielt und behalten hat. — Auch zwei
Farnkräuter, die Natternzunge (ophioglossum
vulgatum L.) und die Mondraute (botrychium
seu osmunda lunaria L) wurden ausgezeichnet:
Die Natternzunge mit ihrer Heilkraft für
Wunden, Geschwüre und Entzündungen erhält
den Klosternamen lancea Christi; in beiden
Benennungen wirkt der uralte Glauben der Indo-
germanen nach, daß, was Wunden schlägt, auch
Wunden heilt; die Mondraute, ebenfalls hilf-
reich bei Wunden und Geschwüren und auch bei
Bruchschäden der Kinder, bekommt den Namen
herbaSanctae Walpurgis, nach der Äbtissin
Walpurg in Heidenheim (7 779), der Schutzfrau
wider allen bösen Zauber. — In allgemeiner
Schwäche, besonders auch bei Schwächezuständen
der Brust und des Gedärms, war die Brust-
wurz von alters her geschätzt; damals erhielt
sie den Namen Engelwurz (angelica silvestris
und angelica archangelica L.) und sogar, wegen
der Heilsamkeit ihres Auszuges in Klosterweinen
radix Sancti Spiritus. — Flüsse der Brust
und des Bauches, Hustenleiden und Ruhr, heilte
das Kreuzkraut (senecio jacobaea L); in Erinne-
rung an den Apostel Jacobus den Älteren erhielt
es den Namen Jakobskreuzkraut, herba
Sancti Jacob i. — Ein wirksames Volksmittel
in langwierigen Bauchstockungen und Wasser-
suchten ist durch seine abführende Wirkung der
Wilde Aurin; er bekam den Namen Gnaden-
kraut oder Gott esgnade, gratiola (gratiola
officinalis L.). — In hartnäckigen Drüsenbeulen,
Eiterungen, Brustleiden hatte sich der Roßhuf
oder Eselsfuß, Huflattig (tussilago farfara L.) be-
währt; er wird nunmehr herba Sancti Qui-
rini genannt, in Erinnerung an den römischen
Tribun Quirinus, der zum Christentum übertrat,
als der Papst Alexander seine Tochter vom Übel
der Skrofeln, mal de Saint Quirin, geheilt
hatte. — In der schweren Gliedersucht mit Reißen,
Zittern, Lähmungen und in der hinzutretenden
Qual des Blasensteines hitte von jeher die
Frühlingsschlüsselblume ( primula veris L.)
als herba arthritidis guten Ruf; in der Kloster-
apotheke wird sie zum Himmelsschlüssel,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
613
herba Sancti Pauli. — Gegen die Fußgicht
hatte sich der Giersch oder Geißfuß (aego-
podium podagraria L.) stets heilsam erwiesen ; er
wurde in Erinnerung an den wohltätigen Abt
Gerhard vonBrogne(7 959) herba Sancti
Gerardi genannt. — Wunden, Wechselfieber
und sein Gefolge, Leberleiden, Bauchwassersucht,
heilte der VVasserhanf oder Wasserdosten,
auch braunes Leberkraut genannt (eupatorium
cannabinum L.), sogar der verwundete Hirsch
suchte ihn auf und stillte damit das Blut; die
Ärzte Italiens nannten ihn nach dem Fürsten der
Ärzte eupatorium Avicennae; als herba Sanc-
tae Kunigundae wurde er dem Andenken der
Kaiserin Kunigunde (f 1040), der Bamberg auch
die Anzucht des Süßholzes (glycyrrhiza glabra L.)
zu verdanken hat, geweiht. — Wider Krämpfe
und Fallsucht genoß das petenstro, das gelbe
Labkraut (galium verum L.), Vertrauen ; es wurde
als Unserer lieben Frau Bettstroh, Stra-
tum lecti beatae Mariae, in den Schutz der Him-
melskönigin gestellt. — Flin wirksames iVlittel
wider Würmer und das davon erregte Krampf leiden
der Kinder und die Drehkrankheit der Lämmer
war der Wurzelstock des Wurmfarren (polypodium
filixmas); die zubereitete Wurzel, feugera, fougere,
bekam den Namen Johannishand, manus
Sancti Johannes, in Erinnerung an Johannes
den Täufer, dem das Haupt vom Rumpfe sprang.
— Wider den Freisam, Milchschorf der Säuglinge,
und die ihn begleitenden Krämpfe war das drei-
farbige Ackerveilchen (viola canina L.) gebräuch-
lich als Freisamkraut; es gewann als Drei-
faltigkeitskraut neues Vertrauen.
Zäher als diese Namen, die, wenngleich unter
Anrufung guter Geister, immerhin einem magi-
schen Mißbrauch altbewährter natürlicher Heil-
mittel Vorschub leisteten, sind Namen und Ver-
ehrungen aus heidnischer Vorzeit geblieben, die
wider böse unsichtbare Feinde gerichtet waren :
das Berufs kraut (erigeron acris L.), auch blaues
Flöhkraut oder Altmannskraut genannt, wider das
Beschreien der Kinder ; das Hexenkraut (circaea
lutetiana L.); das Druden kraut, Teufelsklaue
(lycopodium clavatum L.) mit seinem Hexen-
mehl, Bärlappsamen; der Gauch h eil (anagallis
arvensis L.), womit Hundswut und Krebs und
alle bösen Geister gezähmt werden; das Wisunt,
Quendel (thymus serpyllum L.); der Teufels-
abbiß (scabiosa succisa L.), ein Schutz wider
Bezauberung des Viehes; das Johannisblut
(fuga daemonum, hypericum perforatum L.), ein
Allheilmittel, das, in der Nacht der Sommersonnen-
wende, Johannisnacht, gesammelt, noch zur Zeit
des Paracelsus das wichtigste Bannmittel wider
alle bösen Geister, wider Gespenster, Einbildungen,
Tobsucht, Aberwitz, Würmer ist; das Johannis-
kraut (herba Sancti Johannis, verbena officinalis
L.), die älteste, den Ägyptern, den Griechen, den
Druiden heilige Wundpflanze und Zauberpflanze.
Den christlichen Mönchen des Abendlandes
lag in keiner Weise daran, eine magische Heil-
kunst zu finden und zu pflegen. Sie suchten
natürliche Heilmittel und ihre natürlichen Kräfte.
Führer dabei waren ihnen die Schriften der Alten.
Was von einheimischen Pflanzen in Germanien
von jeher und noch zur Zeit der Geburt des
Herrn wuchs, zu welchem Gebrauch eine jeg-
liche diente und welche besonderen Tugenden
sie als Heilmittel hatte, das überlieferte ihnen
ausführlich die Naturgeschichte des Plinius.
Sie brauchten nur um sich zu blicken, um wahr-
zunehmen, daß Jahrhunderte von Völkerschicksalen
kurze Augenblicke in der Welt Gottes sind. Noch
stand, wie es Plinius vor siebenhundert Jahren
verzeichnete, aus den Tagen der Schöpfung in
dichten Urwäldern die tausendjährige, die fast
unsterbliche Eiche, quercus robur, unter deren
breitem Schutzdach die Gebete an AUfadur den
Unsichtbaren und an seinen Stellvertreter Odin
gerichtet wurden und die heiligen Opfer ge-
schahen; deren gewaltiger Einbaum dreißig
Männer über die Gewässer tragen konnte; deren
Frucht als gesunde Kost für den Menschen und
als starke Mast für das Schwein der Herbst in
unendlicher Fülle herabschüttelte. Noch wuchs
auf der Eiche das Allheilmittel der Druiden, die
Eichenmistel, viscum quercus, die beim
Scheine des sechstägigen Mondes von weiß-
gekleideten Priestern mit goldener Sichel ge-
schnitten nach der Opferung eines weißen Stier-
paares unter Anrufung des Gottes zum Guthyl
wird, dessen Saft alles Lebendige fruchtbar macht
und jedes Gift bändigt. Noch drängte sich in
den Torfsümpfen die heilige Erle, ellenum (al-
nus glutinosa L.) mit heilsamem Blatt und
Rinde; auf den Heiden die gesellige Birke,
betulla, als gefürchtete Rutenspenderin, aber auch
Geberin von Korbgeflecht, Harz und heilsamem
Frühjahrswein; auf Triften und Hügeln stand der
weitschattende zuckersaftliefernde Feldahorn,
platanus, und Bergahorn, acer; auf den Bergen
ragten Lärche, larix (pinus larix L.) und Edel-
tanne, abies, hundertundzwanzig Fuß hoch und
höher empor. Im Unterholz der Waldränder und
Lichtungen wuchsen neben dem giftigen Gold-
regen, laburnus, den die Bienen meiden, der
Pimpernußstrauch, staphylodendron (staphy-
lea pinnata L) mit eßbaren Samen, Schlehe,
Spina (prunus spinosa), Sauerkirsche und
Vogelkirsche, cerasus (prunus cerasus, prunus
avium L.) mit herben, sauren und süßen Früchten;
an Bergeshalden stand die Weinrebe, vites vini,
aus Gallien eingeführt.
Von Kräutern wurde der flachsgebende Lein,
linum, gepflegt; die nährende Saubohne, faba
(vicia faba L.); der Ol rettig, raphanus (rapha-
nus sativus L.); die Zuckerwurzel, siser (sium
sisarum L.), die der Kaiser Tiberius alljährlich
als Zins einforderte; der Spargel, asparago, as-
paragus gallicus (Asparagus officinalis et silvestris
L.); die wurmtreibende Mohrrübe, daucus
(daucus carota L.); die keltische Narde, sa-
liunca (Valeriana celtica L.), und der Feldküm-
6i4
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mel, casia (thymus serpyllum L.) mit magen-
stärkenden Krähen. Noch wuchs der Wasser-
ampfer, britannica frumex aquatica L.), mit
mundfäuleheilendem, nervenstärkendem und
schlangengiftwidrigem Saft und mit den Blüten,
deren Genuß vor Thonars Keilen schützt; das
Hexenkraut oder Donnerkraut, gallicum
nardum (Valeriana officinalis); die Bergflocken-
blume, centaurea (centaurea montana L.), mit
bittersüßem, wundenheilendem Wurzelsaft; das
Bein heil, der Wasser faden, conferva (con-
ferva fluviatilis L.), radix symphyti seu consolida
major officinarum, Apulejus, mit knochenbruch-
bindender Wurzel; das unschätzbare Erdgal,
Fieberkraut, Tausendgüldenkraut, cen-
taurion lepton (erythraea centaurium L.). Von
brotgebenden Gräsern wurden wieder wie vordem
ausgesät der Roggen, siligo (secale cereale L.),
der Weizen, triticum (triticum aestivum et hi-
bernum L), die Gerste, hordeum (hordeum vul-
gare L.), die Hirse, panicum (panicum miliaceum
L.). Sorgfältig sammelte man das pfeilgebende
Rohrschilf, calamus (arundo phragmiies L.),
den Färber waid, glastum (isatis tinctoria L.),
womit ehemals der britannische Krieger sich blau
färbte, und der später, wie auch die blaue
Heidelbeere, vacinia (vaccinium myrtillus L),
zur Färbung der Sklavenkleider diente; ferner das
Seifenkraut, planta saponis (saponaria offi-
cinalis L.), als Haarbeize den Germanen und den
Römerinnen dienend; die IVIoosbeere, samol
der Druiden (vaccinium oxycoccus L), bei leerem
Magen mit linker Hand und abgewendetem Ge-
sicht gepflückt und in die Tränkrinnen geworfen,
ein kostbares Heilmittel in den Krankheiten der
Rinder und der Schweine.
Zu diesen Nutzpflanzen und Heilpflanzen Ger-
maniens, die schon vor der ersten Römerzeit bei
den deutschen Stämmen geschätzt wurden, hatten
die Mönche seit Col um ban und Gall us manche
andere in ihren Heilschatz aufgenommen; fast für
jeden Körperteil und Schaden hatten sie ein be-
sonderes Kraut; den Augentrost, ocularia
(euphrasia officinalis L.), den Zahntrost, den-
taria (euphrasia odontites L.). das Lungen kraut,
pulmonaria (pulmonaria officinalis L.), das Harn-
kraut, urinaria (ononis spinosa L.), das Bruch-
kraut, herniaria, herba millegrania seu cancri
(herniaria glabra L.), das Gicht kraut, rheuma-
tica (geranium pratense L.), das Ruhrkraut,
sanguisorba (poterium sanguisorba L.), die Wund-
heilktäuter, sanicula (sanicula europaea L.), Heil
aller Schäden, und ulceraria (ballota nigra L.)
und centummorbia (lysimachia nummularia L);
das Schindkraut (chelidonium majus L.) usw.
Nicht wenige Heilkräuter wurden von den
Mönchen aus Italien und anderen Ländern in die
Klostergärten eingeführt und dort gepflegt; wir
werden nachher einige zu nennen haben. —
AlsKarlderGroße, der Friedenschaffende,
die staatliche Einigung, Christianisierung und Ge-
sittung aller deutschen Stämme als seine Lebens-
aufgabe erkannte, fand er in den Vorarbeiten der
Benediktiner eine feste Grundlage; mit Bedacht
nahm er ihren Rat und Hilfe weiterhin in An-
spruch. Seine Hauptsorgen waren die Sicherung
der Grenzen, der Wegebau, der Handelsverkehr,
die Pflege des Ackerbaues, der Herdenzucht, des
Handwerkes, die Schulung der Jugend in Wissen
und Kunst. Für sich selber bestellte er als Lehrer
den Angelsachsen Alkuin, den Leiter der Bene-
diktinerschule zu York in England. Rasch er-
blühten unter dessen Hilfe und unter Mitwirkung
der bereits vorhandenen Abteien und Klöster des
Reiches alte und neue Mittelpunkte treuen Tage-
werkes und geistigen Lebens.
Eine der merkwürdigsten und wichtigsten
Schöpfungen des Kaisers ist seine Landgüter-
ordnung, das capitularc de villis vel cur-
tis imperii, das unter Beihilfe des Benediktiner-
abtes Ansegis von St. Wandrille zustande kam
und im Jahre 8oo oder früher erlassen wurde.
Es enthält die Regelung des ländlichen Betriebes
auf den Krongütern nach bewährten Vorbildern
aus römischer Zeit und angelsächsischer Übung;
die Dreifelderwirtschaft, der Weinbau, die Obst-
pflege, die Zucht von Hausvieh und Herdenvieh,
Pferden, Rindern, Schafen, Schweinen, Ziegen,
Bienen, Fischen sind bis ins einzelne vorgezeichnet
als Bestandteile vorbildlicher Musterwirtschaften.
Dieses Reichsgesetz zählt im letzten, dem 70. Ab-
schnitt des einzelnen alle Pflanzen auf, welche in
den königlichen Gärten vorhanden sein mußten.
Die Zahl der Nutzkräuter war 73 Arten, die der
Fruchtbäume 14 .Arten mit verschiedenen Abarten.
Ihre Aufzählung lautet in deutscher Übertragung:
Lilie, Rose, Bockhornklee, Frauen-
minze (costus, balsamita vulgaris Gesneri, tana-
cetum balsamita L.), gebräuchlicher Sal-
bei, gemeine Raute, Eberreisbeifuß,
Gartengurke, Melonengurke, Kürbis,
Vietsbohne, Kreuzkümmel, Rosmarin,
Feldkümmel, italiänische Kichererbse,
Meerzwiebel, deutscher Schwertel (Sieg-
wurz, AUermannsharnisch), Drachenwurz,
Anisbiberneil, Springgurke (coloquentis),
Sunnenwirbela (solsequium, cichoreum intybus
L), Bärenwurzel (ameus, ammi copticum),
Zuckermerk (silum), G a r t e n 1 a t t i c h ,
Schwarzkümmel (Gith Plinii), Raukenkohl
(eruca alba L.), Brunnenkresse, Ampfer
(oder Klette? parduna), Poleiminze, Ross-
eppich (oli-^atum, smyrnium olusatrum, Myrrhen-
kraut), Peter silge, Eppich, Liebstöckel,
Sadebaum, Dill, Fenchel, Endivien-
salat, Diptam, weißer Senf, Bohnen-
kraut (satureia), Gartenkresse, Krause-
minze, Waldminze, Rainfarrn (? tanazita),
Katzenminze, Fieberkraut (febrefugia,
Kleintausendgüldenkraut, erythraea centaurium L.),
Schlafmohn, Mangold, Haselwurz (vulgi-
gina, asarum europaeum L.), Eibisch, Rosen-
eibisch (Malve), M öh re (carruca), Pastinake,
Gartenmelde (adripia, atriplex hortense L.),
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Erdspinat, Kohlrübe, Grünkohl, Perl-
zwiebel (uniones), Schnittlauch (briila, bli-
tum capitatum L.), Lauchzwiebel, Garten-
rettich, Schalotte, Küchenzwiebel,
Knoblauch, Färberröte (Krapp, warentia,
rubia tinctorum L.), Weberdistel (cardo),
Saubohne, Mohrenerbse (pisum maurisicum),
Coriander, Kle tterkörbel, kreuzblätte-
rige Wolfsmilch (Springwurz, lacteris, euphor-
bium lathyris L.), Muskatellersalbei (sclareia).
Der Gärtner aber habe auf seinem Haus den
Jupitersbart (Donnerkraut, jovis barba, Haus-
wurz, sempervivum tectorum L.).
Von Obstbäumen sind zu halten in verschie-
denen Arten und Abarten Zwetschenbäume,
Speierlinge, Mispelbäume, Birnbäume,
Kastanienbäume, Pfirsichbäume, Quit-
tenbäume, Haselnußstauden, Mandel-
bäume, Maulbeerbäume, Lorbeerbäume,
Kiefern (pinus), Feigenbäu me, Wal nuß-
bäume, Kirschenbäume. Von Äpfeln ins-
besondere Gozmaringer, Geroldinger,
Crevedeller, Spirauken, süße und sauere,
frühreife und winterharte.
Zwei Inventare kaiserlicher Gärten von den
Hofgütern Asnapium und Treola enthalten über-
einstimmende Bestände.
Das ist eine selbständige Flora, die im Ver-
gleich mit anderen ausländischen Floren damaliger
Zeit, insbesondere mit der römischen, der griechi-
schen, der kleinasiatischen, der ägyptischen, der
spanischen, sich nur so weit berührt, als sie einige
wenige Zier- und Arzneipflanzen als italische Ein-
fuhr enthält.
Eine Ausführung des Capitulare de villis oder
vielleicht auch ein älteres Vorbild dafür sehen
wir in der vor uns liegenden Zeichnung eines
für das Kloster in Sankt Gallen geplanten Neu-
baues aus dem Jahre 820. Dieses Kloster, im
Jahre 630 von Gallus Scotus, dem schotti-
schen Apostel der Germanen, gegründet, hat
unter anderen Dokumenten jener Zeit auch den
genannten Bauriß aut bewahrt, den Ferdinand
Keller veröffentlicht hat. Der Bauplan enthält
neben den weiteren Gebäulichkeiten die Anlage
eines Ärztehauses mit Krankensaal, Schröpfstube,
Kräuterkammer, Kräutergarten, Küchengarten und
Obstgarten ; der letztgenannte ist auf dem Gottes-
acker angesiedelt; das alles ein Achtel des Grund-
risses einnehmend.
Für den Heilkräutergarten (herbularius) sind
auf sechzehn Beeten die folgenden Heilpflanzen
vorgesehen: lilium, rosas, fasiolo (Vieths-
bohne), sataregia (Bohnenkraut), costo
(Frauenminze), fenagraeca, rosmarino,
menta, salvia, ruta, gladiola, pulegium,
feniculum, lubestico (Liebstöckel), cumino,
sisimbria (Wegsenf, erysimum officinale L.).
Für den Küchengarten (hortus) sind achtzehn
Beete bestellt mit den folgenden Gewächsen :
cepos (Zwiebel), porros (Lauch), apium (Ep-
pich), coliandrum (Koriander), a n e t u m (Dill),
papaver (Feldmohn), radices (Rettich), ma-
gones (Gartenmohn), betas (Mangold), alias
(Knoblauch), ascolonias (Schalotte), petro-
silium (Petersilie), cerefolium (Kerbel), lac-
tuca (Salat), sataregia (Bohnenkraut), pasti-
nochus (Mohrrübe), caulus (Kohl), gitto
(Schwarzkümmel).
Auf dem Friedhof (ager Dei) sollten wachsen
diese fünfzehn Bäume: malari u s (Apfel), pera-
rius (Rirne), prunarius (Pflaume), pinus
(eßbare Kiefer), sorbarius (Speierling), mis-
polarius (Mispel), laurus (Lorbeer), caste-
narius (Edelkastanie), ficus (Feige), guduni-
arius (Quitte), persicus (Pfirsich), avelle-
narius (Haselnuß), amendelarius (Mandel-
baum), murariu s (Maulbeere), nugarius (Nuß-
baum). —
In das Kloster Sankt Gallen trat im Jahre 834
der achtundzwanzigjährige Walafrid Strabus
ein. Er war erzogen worden durch Hrabanus
Mau r US, Alkuins berühmten Schüler, in dem
Benediktinerkloster zu Fulda, das im Jahre 744
der heilige Bonifat i US gegründet hatte; Wala-
frid ist später, im Jahre 842, Abt des von Pir-
min (724) gegründeten Klosters auf der Insel
Reichenau am Zeller See geworden, wo unter
anderen Büchern aus jener Zeit auch ein Bücher-
verzeichnis, worin Karls Capitulare, Galens
Werke, die Naturgeschichte des Plinius usw.
angeführt werden, erhalten geblieben ist. Wala-
frids Name tritt in der Geschichte deutscher
Heilkunde und Pflanzenkunde durch eine kleine
Dichtung hervor, die er im Jahre 828 beendet
hat: hortulus ad Grimaldum Abbatem.
In diesem Gedicht werden nach den Vorbildern
der Georgica und Bucolica des Vergilius (f 19
a. Chr. n), der Res rustica des Moderatus Co-
lumella (um 50 p. Chr.), der Medicinae prae-
cepta salußerrina des Seren us Sammonicus
(zu Beginn des 3. Jahrhunderts), der Medicamenta
desMarcellusEmpiricus (nach 400), des Her-
barius des Lucius Apulejus (um 420) die
Kräfte von 23 Heilpflanzen besungen. Davon
sind 18 unter denen, welche im Capitulare de
villis Caroü magni gefordert werden; außerdem
5 andere: Wermut (absinthium, artemisia absin-
thicum L.), Traubenkraut (ambrosia seu atha-
nasia, tanacetum vulgare L.), Andorn (marrubium,
ballota nigra?), Betonie (betonica, betunia offi-
cinalis), Odermennig (agrimonia, agrimonia
eupatorium L.). Diese fünf Pflanzen finden sich
schon in der Naturgeschichte des Plinius. Nur
dreizehn von den im Plan der Gärten Sankt
Gallens vorbemerkten Heilkräutern hat Wala-
frid besungen; die anderen einundzwanzig un-
besungenen stehen aber im Capitulare, und ebenso
die zehn Kräuter, die Walafrid besungen hat,
die hingegen Sankt Gallen nicht verzeichnet.
Demnach könnte man annehmen, daß Wala-
frid einen Teil seiner Pflanzen aus literarischen
Quellen, insbesondere nach dem Plinius, ge-
wählt habe; ungleich dem Plinius selber, der
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die weitaus meisten der von ihm beschriebenen
Pflanzen lebend im botanischen Garten seines
Lehrers Antonius Castor zu Rom kennen
lernte. Doch die Abhängigkeit Walafrids von
Plinius ist nicht wahrscheinlich; er konnte seine
Pflanzen wenn nicht im Klostergarten so überall
in Anger und Feld und Wald finden und ihren
Gebrauch beim Volke sehen.
Die Anregung der kaiserlichen Landgüter-
ordnung zog im Lauf der Jahrhunderte immer
weitere Kreise; die Klostergüter wetteiferten mit
den Krongütern, und die Landgutbesitzer ver-
suchten beiden zu folgen. In Küchengärten und
Kräutergärten hätte man schließlich gerne alle
Nährpflanzen und Arzneipflanzen beisammen ge-
habt, inländische wie ausländische. Aber die
Unzahl ließ sich kaum mehr beherrschen. Die
heilige Hildegard, Äbtissin der Benediktine-
rinnen auf dem Rupertsberge bei Bingen am
Rhein (1098 — 11 80), gibt im zweiten und dritten
Buche ihrer Physica (Argentorati 1533) eine
selbständige Aufstellung von zweihundertundfünfzig
und mehr deutschen und in Deutschland einhei-
misch gewordenen Gräsern, Kräutern und Früchten
mit ihren Nährwerten und Heilkräften an; noch
eine Reihe anderer in ihrem Arzneibuch Causae
et curae, die meisten in lateinischer Benennung,
manche aber auch mit ihren damaligen deutschen
Volksnamen oder sonst in abgeschliffenen Ver-
deutschungen. Hier eine kleine Liste solcher
volkstümlichen Bezeichnungen: vichbona (lupi-
nus alba L.); venich (panicum, Fennichhirse);
brunnecrasso (sisymbrium nasturtium L.);
bachminza (mentha aquatica L); punga (vero-
nica beccabunga L.); weg gras (polygonum avi-
culare L., Vogelknöterich); würz (rheum rapon-
ticum L.); lunchwurtz (pulmonaria officinalis
L.); hagel wurtz (asarum europaeum L.); weich
(holcus lanatus L.); heiternezzelun (urtica);
libestichel (levisticum); nahtscaden (Sola-
num); stur (conium maculatum L.); christiana
(helleborus niger L., Christblume); hymels-
schlüzela (primula veris L.); pefercrut (satu-
reja); biboz (artemisia, Beifuß); bertram (pyre-
thrum); citterwurz (zedoaria); ascheloch
(ascalonia); kranichsnabil (geranium pratense
L.); storkensnabil (erodium) usw. usw.
Während die medi/cinisch bedeutenden Schriften
der heiligen Hildegard rasch der Vergessenheit
anheimfielen und vorübergehend verloren gingen,
gewann in jener Zeit ein lateinisches Gedicht,
I'loridus Macer de viribus herbarum, raschen
Ruf und kam in mehrhundertjährigen Gebrauch.
Sein Verfasser ist unbekannt geblieben; man hat
darüber gestritten, ob er ein Cisterzienserabt Odo
von Morimont in Burgund (f 1161) oder ein Laie
OJo von Meudon an der Loire gewesen sei. Der
F"loridus, in 67 anerkannten und 22 angezwei-
felten Hauptstücken überliefert, beschreibt in mehr
als 2700 Versen die Heilkräfte von 85 Kräutern
und Gewürzen, zum größten Teil einheimische
Gewächse. Da die Abfassungszeit des F 1 o r i d u s
— sie wird auf das Jahr 1 170 angegeben — nicht
genau bekannt ist, so bleibt die Frage, ob und
wieweit das Buch von Hildegards Schriften
beeinflußt ist, ofifen; der Inhalt der selbständigen,
auf unmittelbarer Naturansicht beruhenden Phy-
sica einerseits und der von alten literarischen
Quellen, Plinius Secundus, Dioscori-
des Pedanios, Gargilius Martialis,
Oreibasios und Isidorus Hispalensis
(f 636), stark gespeisten Floridus andererseits
stimmt stellenweise auffallend überein. Den
Walafrid Strabo scheint Floridus nicht ge-
kannt zu haben. Floridus hat eher eine nach-
teilige Wirkung auf Botanik und Heilmittellehre
als eine günstige geübt. Er führte von der An-
schauung, Pflege, Untersuchung und Erprobung
der lebendigen Pflanzen in Feld, Wald, Garten,
Küche, Krankenstube ab und legte den Grund
zu einem beschränkten historisch - literarischen
Gedächtniswissen in kurzen Merkversen ; nur der
Apotheker mochte dabei gewinnen; er konnte in
der Drogenvertauschung die größte Willkür üben,
wenn er den Gewinn über die Kunst schätzte.
Den ersten großen Versuch im Mittelalter, an-
stelle einer oberflächlichen Kräuternamenkenntnis
eine wissenschaftliche Pflanzenkunde zu setzen,
machte der Dominikaner Albert Graf von
Bo 11 Stadt aus Schwaben (1193 — 1280), den
seine Zeitgenossen den doctor universalis
nannten, die Nachwelt Albertus Magnus
nennt. Als Professor in Köln schrieb er sieben
Bücher de vegetabilibus et plantis, vor-
bereitet durch eine genaue Kenntnis des Welt-
lehrers Aristoteles, unermüdlich in selbsttätiger
F"orschung. Sein Werk wird erst heute in seiner
ganzen Bedeutung geschätzt; auf seine Zeitge-
nossen hat es so wenig Einfluß geübt wie die
damals verlorenen Schriften des griechischen Zeit-
alters, des Aristoteles (384 — 332 a. Chr. n.),
des Theophrastos (370 — 285), des Diosco-
rides (i. Jahrh. p. Chr.). Damals hätte man
vielleicht das eine Verdienst Albeits anerkannt,
nämlich, daß die Zahl der von ihm beschriebenen
Pflanzen die Liste des Capitulare Caroli impera-
toris verdreifacht hat; aber für die Absicht Al-
be rts, wie Aristoteles das Pflanzenreich zu
ordnen, die Zusammensetzung, Lebensweise, Er-
nährung der einzelnen Pflanzen zu erkennen und
damit den Ursachen ihrer Wirkungen auf den
Menschen näher zu kommen, hatte man, in Deutsch-
land wenigstens, zu jener Zeit kein Verständnis.
Vergleicht man seine Pflanzenreihe mit der deut-
schen F"lora, wie wir sie im neunten, sechsten,
ersten Jahrhundert fanden, so sieht man, daß im
großen und ganzen die Pflanzenwelt ziemlich un-
verändert ihren Bestand gewahrt und sich wohl
nur scheinbar vervielfältigt hat, insoweit als das
menschliche Bedürfnis nach und nach mehrere
Gewächse in seinen Gesichtskreis und Gebrauch
zog. Auch ist wohl nichts von Pflanzen in ab-
sehbarer ZeitAmtergegangen ; wenn bei Albertus
Magnus ungefähr zwanzig Pflanzen des Capitu-
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lare vermißt werden, so beruht das darauf, daß
es ebensowenig Albert dem Großen wie
Karl dem Großen auf Vollzähligkeit ankam.
Immerhin wurde eine Kenntnis sämtlicher
Gewächse Deutschlands, unabhängig von ihrem
Nutzen oder Schaden, allmählich zum Bedürfnis.
Das empfanden tief ein paar Männer zu Beginn
des sechzehnten Jahrhunderts. Mit ihnen beginnt
die wissenschaftliche Pflanzenkunde der neuen Zeit.
Otto Brunfels (1488—1554) aus Mainz,
zuerst Schullehrer, später Arzt in Bern , sah klar
die zunehmende Verwirrung in der Benennung
und damit auch im Gebrauch der Heilpflanzen
und erkannte die große Gefahr, welche daraus
für die Heilkunst erwuchs. Zur sicheren Sonde-
rung der Pflanzen genügte es fürder nicht mehr,
einige wenige mit volkstümlicher oder wissen-
schaftlicher Bedeutung herauszugreifen und zu be-
schreiben; es mußten so viele wie möglich, end-
lich alle, genau gekannt und unterschieden wer-
den. Hierfür erschien die beste Beschreibung
nicht ausreichend, woferne sie nicht durch eine
gute Abbildung unterstützt würde. Brunfels
legte als Grund zu einer solchen zunehmenden
Kenntnis und Sonderung eine Sammlung treff-
licher Umrißzeichnungen von vaterländischen
Kräutern an und ließ sie in Holz schneiden; so
weit es anging in Naturgröße. Sein Novum
herbarium und seine herbarum vivae eico-
nes, die in den Jahren 1530— 1536 in Straßburg
herausgegeben wurden, bedeuteten für die Botanik
das, was zehn Jahre später für die Anatomie die
humani corporis fabrica des Andreas
Vesal wurde, den Versuch unbedingter Natur-
treue in der Auffassung, Festhaltung und Wider-
gabe der sinnlichen Gegenstände. Mit Brunfels
gleichgesinnt strebte der Tübinger Professor der
Medizin Leonhard Fuchs (1501 — 1565) aus
Wembdingen in Schwaben, „Natur in Natur zu
studieren". Seine historia stirpium und
paradoxeis brechen mit dem alten Arabismus
in der Schulbotanik, so wie das feierliche Pro-
gramm seines Lands- und Zeitgenossen, des Arztes
Theophrast US Bombast von Hohenheim
am 5. Juni 1527 mit der Schulgelahrtheit in der
Medizin brach. Als dritter schloß sich an Brun-
fels und Fuchs der Schullehrer und spätere
Arzt Hieronymus Bock (1498 — 1554) in Zwei-
brücken an mit seinem New Kreuterbuch,
das mit Bildern bereichert im Jahre 1 551 in Straß-
burg zum zweiten Male erschien. Was Brun-
fels, Fuchs, Bock geleistet, wollte vollendend
abschließen der Züricher Arzt und Gelehrte Con-
rad Gesner (1516— 1565) in einer durch 1500
Tafeln erläuterten Pflanzenlehre. Ein paar Vor-
arbeiten dazu gab er selber heraus; die nachge-
lassenen Schriften erschienen nach langen Irrsalen
und bedeutend verstümmelt erst in den Jahren
1751 — 1771, als Gesneri opera botanica
per duo secula desiderata, durch Casimir
Christoph Schmidel in Nürnberg zum Druck
Seit Brunfels geht die wissenschaftliche Bo-
tanik in Deutschland und dann auch in den
anderen Ländern einen stetig aufsteigenden Gang.
Daß neben den Pflanzenabbildungen seit der
Mitte des sechzehnten Jahrhunderts planmäßige
Sammlungen gepreßter und getrockneter Pflanzen,
im „herbariu m vivum", angelegt wurden, war
keine geringe Hilfe für den Verkehr und die gegen-
seitige Verständigung der Gelehrten und Forscher.
Mit der fortschreitenden Kenntnis der einheimi-
schen Hora wuchs dann das Interesse für die
ausländische Pflanzenwelt, auch unabhängig von
ihrer Bedeutung für den menschlichen Nutzen.
Der gesteigerte Verkehr mit Ost und West,
die Entdeckung neuer Erdteile, das Gerede von
neuen unerhörten Krankheiten und wunderwürdi-
gen Heilpflanzen der neuen Welt vermehrte den
Pflanzenreichtum und die Pflanzenkunde im Reiche
Karls des Fünften und besonders in Deutschland
von Jahr zu Jahr. Die Pflanzenliebhaber führte
der Wunsch, jene ausländischen Pflanzen genau
kennen zu lernen und bei sich wachsen zu sehen,
zur rasch wachsenden Erweiterung ihrer Kloster-
gärten, Pastorengärten, Arztgärten, Apotheker-
gärten. Schließlich brachte das Gerücht mexika-
nischer Gärtenpracht die alten Sagen von den
Lustgärten der Könige Adonis und Alkinoos, von
den hängenden Gärten des Syros und der Semi-
ramis, von den F'ruchtgärten der Hesperiden in
Erinnerung; solche Herrlichkeiten wiederherzu-
stellen schien nicht unmöglich. In Ferrara hatte
der Herzog Alfonso di Este um das Jahr 1 500
einen Ziergarten angelegt, der weit von sich reden
machte; der Arzt Musa Brassavola legte im Jahre
1533 den botanischen Zuchtgarten zu Padua an;
es folgten weitere öffentliche Gärten in Pisa (1544),
Florenz, Neapel, Bologna (1568). Den ersten
öffentlichen Pflanzengarten in Deutschland finden
wir zu Königsberg (1551); besonders gelobt wurde
der des Arztes Joachim Camerarius zu Nürnberg
(um 1570). Ley den (1577), Leipzig (1580), Breslau
(1587), Heidelberg (1597) schließen sich an; dann
enistehen die berühmten Gärten zu Montpellier
(•597). Paris (1633), Kopenhagen (16401, Warschau,
Upsala, Chelsea (1657) usw. usw.
Diese botanischen Gärten waren je nach der
Neigung und Absicht des Gründers von Anfang
an mehr Zier- und Prunkgärten oder mehr Nutz-
gärten, insbesondere Arzneigärten ; unter der Pflege
und Aufsicht gelehrter Ärzte wurden sie nach und
nach, besonders im Anschluß an die Universitäten,
wissenschaftliche Pflanzschulen, zumal am Ende
des sechzehnten Jahrhunderts. Später verwan-
delten sie sich mehr und mehr in öffentliche
Schaugärten, die bald keiner Hauptstadt und
keiner Residenz mehr fehlen durften. Endlich
sind sie die Lungen und Lustorte aller euro-
päischen Städte geworden; gelegentlich werden
darin neue auswärtige Ankömmlinge der An-
ziehung und des Staunens halber angebracht.
Nebenher entwickelten sich auch Bauerngärten,
anfänglich zu eigenem Nutz und Zier; allmählich
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zum Teil als Handelsgärtnereien. Der eigentliche
Bauerngarten folgt bis in unsere Tage der Vor-
schrift des Capitulare vom Jahre 8oo.
Neben absichtlichen Anpflanzungen entstehen
im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert bei
uns auch manche zufällige Ansiedlungen von
Nutz- und Ziergewächsen, ohne die wir uns unser
I^and heute kaum denken können. So kam im
Jahre 1436 aus der Tatarei über Rußland nach
iVIecklenburg der Buchweizen (polygonum fago-
pyrum L.), um dort und weiterhin in Europa
eine neue Honigquelle der Bienen, ein wichtiges
Grünfutter des Stallviehes und ein gutes Brotkorn
für den Menschen zu geben. Im Jahre 1520
wurde aus Mexiko der Mais (zea mais L.) nach
Spanien und bald auch zu uns gebracht, um eine
der wichtigsten Getreidepflanzen für Volk und Vieh
in Europa zu werden. Um dieselbe Zeit wurde in
unseren Gärten das wohlriechende Veilchen
(viola odorata L.) aus Savoyen angesiedelt ; ferner
die farbenfrohe Totenblume (tagetes patula
und t. erecta L.) aus Tunis, die vordem als
flores africani nur getrocknet in unsere Apo-
theken gekommen war; neue Arten dieser Pflanze
schickte Mexiko im Jahre 154I; ferner wurde der
Samen des schon früher aus Mittelasien zufällig
hereingebrachten Stechapfels (datura stramo-
nium L) jetzt aus Peru geschickt und als Zier-
pflanze in den Gärten gepflegt. Un>^ere Roß-
kastanie (aesculus hippocastanum L.) beginnt
erst mit dem Jahre 1588 in Deutschland ein-
heimisch zu werden; sie wurde damals aus Mittel-
asien über Konstantinopel nach Wien gebracht,
um sich rasch als augenerfreuender, schatten-
gebender, Viehfutter und Stärkemehl liefernder
Gast unentbehrlich zu machen. Ebenfalls aus
der Türkei waren im Jahre 1560 der persische
Lilak oder spanische Flieder (syringa vul-
garis L), die in Sibirien einheimische Jerusalem-
blume oder brennende Liebe (lychnis chal-
cedonica L.), die levantinische Gichtrose oder
Pfingstrose (paeonia officinalis L.), der syrische
Eibisch oder Türken rose (hibiscus syriacus
L). die Gartentulpe (tulipa gesneriana L.),
die Kaiserkrone (fritillaria imperialis L.), zum
Teil nach Wien, zum Teil nach Augsburg ein-
geführt worden, um sich, in unsere damals noch
bescheidenen Gärten einzuleben und diese rasch
an orientalische Pracht zu gewöhnen. Die Tulpe,
die, siebzig Jahre nach ihrer Ansiedlung in Augs-
burg schon über ganz Europa verbreitet, sich in
siebzig Spielarten gefiel, zählte nach einem wei-
teren Jahrzehnt gegen tausend Spielarten; in den
Jahren 1634-40 erregte sie in Holland eine der
merkwürdigsten psychischen Seuchen, welche die
europäische Menschheit heimgesucht hat; zur
selben Zeit als ein anderer Wahnsinn unter dem
Vorwamlc des christlichen Glaubens Deutschland
mit dreißigjährigem Krieg zerfleischte und ver-
wüstete.
Ebenfalls im Jahre 1560 kam die erste Pflanze
eines Krautes nach Europa, dessen Herrschaft in
unabsehbarer Weise fortdauert, der Tabak (nico-
tiana tabacum L.). Von den Entdeckern Amerikas
auf Sankt Domingo bei den Wilden als mücken-
abwehrender Rauchgeber vorgefunden, wurde das
Tabakkraut damals aus Florida durch einen flan-
drischen Kaufmann nach Lissabon dem Gesandten
des Franzosenkönigs Frargois IL, Jean Nicot, ge-
schenkt, um den „Nasenkrebs" eines Pagen zu
heilen; es wurde durch Katharina von Medici als
Wunderkraut weiter empfohlen; nun machte sich
das Königinnenkraut rasch die europäischen
Völker dienstbar, trotz der ungeheuren englischen
Zölle des Jahres 1604, trotz dem päpstlichen
Bann vom Jahre 1624, trotz der Androhung des
Nasenabichneidens in Rußland im Jahre 1640,
trotz der erbitterten Feindschaft, welche die ganze
zivilisierte Menschheit in Nichtraucher und Raucher
geschieden hält.
Die Geschichte der ehrwürdigen Kartoffel
(Solanum tuberosum L.), die ihre Heimat in den
kalten Höhen der chilenischen und peruanischen
Anden hat und die für einen großen Teil der
europäischen Völker fast die einzige und dabei
immer liebe Nahrung geworden ist, beginnt in
Deutschland mit ihrer Anpflanzung als auslän-
disches Ziergewächs in den botanischen Gärten
von Wien und Frankfurt im Jahte 1588. Als
Nährpflanze fand die Kartoffel erst weit später,
1717 in Sachsen, 1728 in Schottland, 1758 in
Preußen weite Anerkennung; seitdem hat sie bis
zum heutigen Tage die Wiederkehr der furcht-
baren Hungersnöte, unter denen die mittelalter-
lichen Völker infolge von Mißwuchs der Getreide-
saaten und von Kriegsdrangsalen so oft und so
hartnäckig gelitten haben, fast ganz verhütet.
Außer der Kartoffel sind die aus Mexiko und
Peru im Jahre 1569 zu uns gebrachte Sonnen-
blume (helianthus annuus L.), die um das Jahr
1600 aus Spanien nach Deutschland eingeführte
Schwarzwurzel (scorzonera hispanica L.) und
die im Jahre 1614 von Padua aus weitergegebene
virginische Nachtkerze oder Gartenrapun-
zel (oenothera biennis L.) kleine aber keineswegs
verächtliche Gaben.
Neben diesen und anderen willkommenen Zu-
wüchsen unserer Flora sind manche zudringliche
Unkräuter mit zäher Ansiedlungs- und Ausbrei-
tungskraft zu uns gelangt. Als Adventivflora
machen sie dem Florakundigen viele Arbeit und
Freude; als Wanderpflan zen und Ruderal-
pflanzen bieten sie dem Arzte Analogien zu
den Menschenwanderungen, Tierwanderungen,
Seuchenwanderungen und sind ihm dadurch
höchst merkwürdig und lehrreich. Das erste
dieser Wanderkräuter, das genannt zu werden
pflegt, ist das kanadische Berufs kraut
(erigeron canadensis L.) mit dem Datum 1655;
ein weiteres ist die syrische Schnabelschote
(anastatica syriaca, euclidium syriacum L.), die
im Jahre 1683 vor den Mauern Wiens von
der Türkenbelagerung zurückgeblieben ist; die
Ausbreitung der mexikanischen Pflanze paica
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jallo durch die napoleonischen Feldzüge über
ganz Deutschland als Franzosenkraut oder
Gängelkraut (galinsoga parviflora Cavanilles;
galinsogea Willdenow) ist ein drittes großes Bei-
spiel, dem viele weitere könnten angereiht wer-
den; ein Teil von diesen Wanderpflanzen gedul-
dige Ansiedler, ein Teil flüchtige Erscheinungen;
einige wilde Schädlinge, andere sich anpassende
Tischgenossen, einzelne zukünftige Wohltäter des
Landwirtes und des Volkes. — Natürlich hat die
Geschichte dieser Wanderpflanzen, die man mit
dem Berufskraut beginnen läßt, ihre Vorge-
schichte. Die ist, wenn wir von Victor Hehns
wertvollen linguistischen Untersuchungen und
Ergebnissen absehen wollen, noch wenig erforscht;
es sei an folgendes erinnert: Das Wandkraut,
(parietaria officinalis L.), unserer Brennessel ver-
wandt, ist von den Römern in ihren Donaukastellen
beim heutigen Wien hinterlassen worden; von dort
ging es über ganz Deutschland; der Kalmus
(acorus calamus L.) kam mit den Tataren im
Miitelalter zu uns; den Stechapfel (datura
stramonium L.) brachten die Zigeuner als Toll-
kraut bei ihrem ersten Besuch, im Jahre 1417,
nach Deutschland, wo er, hier und da, als Un-
kraut anwuchs, bis er aufs neue aus iVIexiko als
Zierpflanze eingeführt wurde.
Der Name Unkraut ist ein unfreundliches
Wort; wollen wir ihn beschränken auf die Pflan-
zen, die einen von uns bearbeiteten Boden sich
aneignen, verdammen, versperren, versumpfen,
und die unsere Pflanzungen und Saaten entwerten,
erdrosseln, vergiften, so hat er seine Berechtigung.
Die Bekämpfung der Unkräuter im weiteren
Sinne, als wildwachsender, sich ohne Menschen-
pflege und Menschenzucht ihres Daseins erfreuen-
der Gewächse, ist unbescheiden und töricht. Man
kann nie wissen, was aus einem sog. Unkraut
wird. Nicht sinnlos ist uns der Rat gegeben, erst
am Tage der Ernte das Unkraut von der Saat
zu trennen. Es gibt Kräuter, die früher einmal
Unkräuter waren und heute zu den wichtigsten
Nährpflanzen und Heilpflanzen gehören ; es gibt
Unkräuter, die in Hungerzeiten Brot gaben, wie
der gute Heinrich und die Himmelsgerste,
oder, wenn Wolle und Flachs ausgingen, Kleidung
gaben, wie die Nesse 1 pflan ze, der Ginster,
die Wiesen wolle. Es gibt sogar böse Gift-
pflanzen , aus denen ein kluger Mann gesunde
Volk;nahriing zubereiten vermag, wie der tapiocca-
trächtige Cassavastrauch Südamerikas; furchtbare
Giftpflanzen, mit deren Hilfe der Mensch sich
Nahrung verschafft, indem er seinen Jagdpfeil da-
mit bewehrt, oder aus denen der Arzt große
Heilmittel gewinnt. Doch von Giftpflanzen woll-
ten wir hier nicht sprechen; nur die verfehmten
Unkräuter loben. Als Unkraut wird heute vieles
bezeichnet, was den Vernünfilern zu weiter nichts
nutz erscheint, als dazu, Auge und Nase müssiger
Leute zu ergötzen. Unter diesem Vorwand fangen
sie hier und da an, botanische Gärten zu be-
schränken oder auszurotten — auch wo Ödland
und Wüste genug herumliegt — , indem sie daraus
Kartofifeläcker , Rübengärten, Tabakpflanzungen
machen. „Nutzgärten anstatt Prunkgärten und
Lustgärten!" ist ihr Ruf.
Sollen wir noch einmal die Geschichte der
Kartoffel erzählen, die im Jahre 1588 nur in Zier-
gärten stand und heute als eines der unentbehr-
lichsten Lebensmittel der Menschheit in Europa
und Amerika die Breitengrenzen und Höhengrenzen
aller Getreidekultur überragt? Oder sollen wir
die Geschichte von der Runkelrübe, der Konti-
nentalsperre und dem Rübenzucker erzählen?
Aber die ist etwas weitläufig. Sie könnte auch
zweimal und dreimal erzählt werden und würde
doch die Ohren derer nicht erreichen, die dazu
geboren erscheinen, nichts hervorzubringen, so viel
wie möglich zu verzehren und alles übrige zu
verwüsten. Wir wollen sie nicht Unkraut nennen.
Sie haben ihren unsterblichen Recht.sbrief : nos
numerus sumus et fruges consumere nati, sponsi
Penelopae nebulonesl Auch für sie hat die Erde
Raum. Die Nützlichkeitsphilosophie ist nicht die
Lehre der Weltordnung. Im einzelnen i-parsam,
genau, geizig, das Individuum, Kristall, Pflanze,
Tier, Mensch, Weltkörper, nach allen Seiten be-
schränkend und auf seinen engsten Umkreis an-
weisend, strömt die Natur im ganzen verschwen-
derisch eine unbegrenzte Fülle der verschiedensten,
widerspruchsvollsten und unverträglichsten Wesen
aus, ihnen allen Dasein und Wirken gönnend, so
lange sie nicht ihren Kreis überschreiten und der
Weltordnung Vorschriften machen wollen. Den
Nörgler straft sie mit Humor und Ironie durch
sein Gegenbild. Nach dem Utilitarier Jeremy
Bentham mit dem Panopticonzuchihaus ließ sie
den Botaniker George Bentham auf die Welt
kommen und President of the Linnean society of
London werden. Sie hatte nichts dawider, daß
Jeremy Ben tham und Au gus te Comte und
John Stuart Mill mit Herz und Hand gelob-
ten, über die größte Anzahl der Menschen das
größte Glück zu verbreiten; aber vorher sorgte sie
dafür, daß Friedrich der Einzige in seinem
Lande die Felder und die Fruchtbäume bestellte und,
weil es nottat, den Kartoffelbau zwangsweise aus-
breitete. Sie sieht gelassen zu, wenn Volksredner
Leichensteine türmen, nachdem sie Brot und Glück
versprochen haben ; aber sie erweckt auch Männer
wie Karl Achard, Justus Liebig, Louis
Pasteur, Anton de Bary, Hermann Hell-
riegel, die unverdrossen arbeiten, um den hilf-
losen Völkern neue Nahrungsquellen zu eröffnen
und sogar aus Moder und Steinen Brot erwecken.
Sie gönnt den hungrigen und gequälten Leibern
Nährpflanzen und Heilpflanzen; aber sie gönnt auch,
daß das Pflanzenreich die Herzen erfreue und erhebe
und die Geister veredele; uns allen freundlich
lächelnd, ob wir mühsam das Feld bestellen und
mühsam die Ernte speichern oder dankbar hoffend
beten: unser tägliches Brot gib uns heute; ob
wir gesellig durch Huren und Wälder und Gärten
wandern oder an einsamer Alpenzacke die letzte
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Steinflechte suchen; ob wir für das sterbende
Kind die blaue Wunderblume in eine Scherbe
pflanzen oder mit Unsterblichen, Theophrastos,
Linne, Rousseau, Goethe, Humboldt,
Darwin, Fechner, eine Sonntagsstunde in der
ewig sich verjüngenden Pflanzenwelt feiern.
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Leunis, Johannes, Synopsis der Pflanzenkunde; 3. Aufl.
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Mabillon, Joannis, Annales Ordinis S. Benedicti.
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Matthioli, Petri Andreae, Commcntaria in sex libros
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Meyer, Ernst Heinr. Friedr., Geschichte der Botanik.
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Bücherbesprechungen.
Schworetzky, Gustav, Weltäther und Welt-
all. 96 S. Stuttgart 1922, J. F. Steinkopf.
Geh. 10 M.
Berg, Anton, Ätherst römungs- und Ather-
strahlungshypothese zur Erklärung vor-
nehmlich kosmischer Erscheinungen auf dem*
Gebiete der Strahlimg und des Magnetismus
aus Gegenwart und Urzeit unter Ausschaltung
und mit Überholung moderner, ätherfeindlicher
Hypothesen. 2. Band. 190 S. München 1922,
Verlag Natur und Kultur. Geh. 36 M.
Rüther, Dr. R., Systematik und Synthese
der Elemente. Ein Beitrag zur Frage des
Weltäthers. 8 S. Paderborn 1920, R. Heydeck.
Maag, Ernst, und Reihling, Dr. Karl, Vom
Relativen zum Absoluten. I. Teil: Das
Äth errätsei und seine Lösung. 44 S
N. F. XXI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
621
Stuttgart 1921, E. Schweizerbartsche Verlags-
buchhandlung (Erwin Nägele).
Diese vier Schriften sind ein erfreuliches
Zeichen dafür, daß das Interesse am Weltäther
wieder im Wachsen begriffen ist und daß man
die vielen einer allzu grauen Theorie entstammen-
den Bedenken allmählich in immer weiteren
Kreisen als unzutreffend empfindet. Die beiden
erstgenannten Schriften sind sehr spekulativ ge
halten und werden vorläufig wohl nicht in allen
Teilen auf die Zustimmung der kritischen Fach-
welt rechnen können. Seh wo retzky lehnt die
Annahme eines festen, unbeweglichen Äthers —
wohl mit Recht — ab. An Stelle der negativen
und positiven Elektronen führt er Äthermoleküle
ein, die sich aus negativen und positiven Atomen
zusammensetzen. Diese Moleküle verdichten sich
dann weiter zu den wägbaren Substanzen und
der Vetf. glaubt diese Vorgänge besonders bei
den rätselhaften Vorgängen zu erkennen, die sich
in den Kometen abspielen. — Die Schrift von
Berg stellt eine Fortführung früherer Arbeiten
dar und enthält zunächst einen sehr interessanten
geschichtlichen Überblick über die Entwicklung
der Äiherlehre. Mit Recht hebt Berg hervor,
daß man den Äther nur als ein widerstehendes
Mittel in die Astronomie einführen dürfe und ver-
wirft die angeblichen astronomischen Beweise
gegen den Ätherwiderstand. Berg nimmt ver-
schiedene Strömungen des Äthers in der Um-
gebung der Erde an, und sucht sie an Hand der
luftelektrischen Erscheinungen, der Polarlichter
u. dgl. genauer zu ergründen. Diesen Äther-
strömungen, die in verschiedenen geologischen
Zeiten verschieden stark aufgetreten sein sollen,
legt er nach den Ergebnissen der „Elektrokultur"
eine große Bedeutung für das Wachstum der Or-
ganismen bei und erklärt den riesenhaften Wuchs
vorweltlicher Tiere aus einem als ,,Elektronatur"
bezeichneten Ätherzufluß. Weiterhin gelangt er
dann zu sehr kühnen Hypothesen über eine Ver-
änderung der Rotationsdauer und Umlaufsdauer
der Erde, die infolge einer Durchschreitung von
kosmischen Nebelmassen zur Eiszeit eingetreten
sein soll, welchen Vorgang er als eine „Neustern-
katastrophe" der Erde bezeichnet. Als Stütze für
diese Annahme wird besonders das hohe Alter
der biblischen Urväter angeführt. — Die kleine
Schrift von Rüther enthält Berechnungen über
Atomgewichte und u. a. auch eine Formel für
das Atomgewicht des Äthers; die Grundlagen
für die Berechnungen sind jedoch viel zu knapp
angedeutet, als daß sie ein klares Bild von den
Gedankengängen des Verf geben könnten. —
Die Schrift von Maag und Reihling endlich
knüpft an die modernen wissenschaftlichen Streit-
fragen an, die bei dem Kampf zwischen dem sub-
stantiellen Äther und der Relativitätstheorie im
Vordergrunde des Interesses stehen. Wie sehr
durch das anspruchsvolle Vordrängen der letzteren
die einfachen und natürlichen Ideen über den
Äther verschüttet worden sind , erkennt man da-
ran, daß die Verff. den Äther systematisch neu
entdecken mußten und eingestehen, daß sie erst
während der Fertigstellung der Arbeit die gleich-
artigen Bestrebungen von Gehrcke, Lenard,
Nernst, Wiechert, Wiener und Zehnder
kennen gelernt haben. Die Grunderkenntnis
lautet: ,,Die Welt der ponderablen Materie steht
im allgemeinen im Energiegleichgewicht mit dem
Äther, aus dem sie entstanden ist, und zwischen
beiden besteht ein dauernder Energieaustausch,
auf dem alles physikalische Geschehen beiuht."
Der Äther wird dabei als ein Gas nach der kine-
tischen Gastheorie aufgefaßt. Das Buch enthält
sehr interessante Eiklärungen, wenn ich auch
glaube, daß sich manche der angeblichen
I.Schwierigkeiten" der Ätherphysik wohl noch
leichter beseitigen lassen, als die Verff. ahnen.
So ist es diesen anscheinend unbekannt, daß eine
Unmöglichkeit von Transversalwellen nach Art
des Lichtes in Flüssigkeiten und Gasen gar nicht
besteht. In allen normalen Flüssigkeiten und
Gasen sind Transversalwellen möglich; ich ver-
weise nur auf Cl Schäfer, Theoretische Physik,
Leipzig 1914, I. Bd., S. 893 — 894. Beobachter
wie die Gebrüder Weber hielten sogar die
Schallschwingungen in Luft zu einem Teil für
transversaler Natur, worauf ich in den VerhandJ.
der Deutsch, phys. Ges. VIII. Jahrg. 1906, Nr. 12,
S. 249 — 251 hingewiesen habe. Nur in „reibungs-
losen" Flüssigkeiten, die es aber lediglich in der
Mathematik und nicht in der Physik gibt, sind
Transversalwellen undenkbar. Das Märchen von
der Unmöglichkeit der Transversalwellen in
Flüssigkeiten, das auch Einstein in seinem
Leydener Vortrag über den Äther wieder aufge-
wärmt hat, läßt sich jedoch anscheinend nicht
ausrotten. Auch die Behauptung Einsteins,
wonach zwischen den Ergebnissen der Versuche
von Fizeau und Michelson und der Aberra-
tion unüberbrückbare Widersprüche bestehen
sollen, kann längst als widerlegt gelten, vgl. die
Diskussion zwischen Gehrcke und Einstein,
Verh. der D. Phys. Ges. 1919, sowie Phys. Zeit-
schrift 1921, S. Ö38. Die Kenntnis dieses Sach-
verhalts würde den Veiff. ihre Arbeit wesentlich
erleichtert haben. Jedenfalls zeigt die Schrift, die
noch durch zwei weitere Teile ergänzt werden
soll, daß eine Erörterung des Äherproblems auf
der Grundlage des gesunden Menschenverstandes
nirgends zu unüberwindlichen Schwierigkeiten
führt. Fricke.
Fischer, Franz, und Schrader, Hans, Ent-
stehung und chemische Struktur der
Kohle. Zweite, durch neue Ergebnisse er-
gänzte Auflage. Essen 1922, W. Girardet.
24 M.
Die Humuskohlen sind der Torf der Vorzeit.
Der Torf ist aus Landpflanzen entstanden und
der Körper der Landpflanzen besteht wesentlich
aus Zellulose. Es war also naheliegend , zu be-
622
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XXI. Nr. 45
haupten, die Humuskohlen seien aus der Zellulose
hervorgegangen. Dieser üblichen Ansicht steht
die Hypothese Franz F"ischers gegenüber.
Fischer ist nämlich auf Grund chemischer Über-
legungen und Beobachtungen zu der Meinung
gelangt, nicht die Zellulose, sondern die gewissen
Zellwänden des Pflanzenkörpers eingelagerte ver-
holzende Substanz, das „Lignin" sei das Aus-
gangsprodukt der Kohle. Die ursprünglich vor-
herrschende Zellulose müsse der zerstörenden
Tätigkeit von Bakterien anheimgefallen sein. So
befremdend diese Ansicht zunäch>t auch erscheinen
mag, sie wird um sehr vieles verständlicher, wenn
man Fischers Beweisführung hört. Das Kohlcn-
hydrat Zellulose hat eine rein aliphatische oder
eine furanähnliche Konstitution. Für das Lignin
dagegen möchten Fischer und Schrader an-
nehmen, daß ihm eine aromatische Struktur zu-
grunde liegt. Es soll also u. a. den Benzolring
enthalten. Die Benzolstruktur ist aber auch die
Grundlage der die Humuskohlen zusammensetzen-
den Kohlenwasserstoffe. Nimmt man nun an,
daß die chemischen Verbindungen der Kohle in
irgendeiner Beziehung zu den Verbindungen stehen,
aus denen die Ursprungssubstanz der Kohle auf
gebaut war, so wird man gern die Humuskohlen
vom Lignin ableiten. Mündlich hat Franz
Fischer mir gegenüber betont, daß ersieh vom
Standpunkte des Chemikers aus nicht vorstellen
könne, wie sich durch den Inkohlungsprozeß ein
Produkt vom Aufbau der Zellulose in ein solches
von der Struktur der Humuskohle verwandeln
könne. Immerhin ist zu überlegen, daß in der
lebenden Pflinze ein ähnlicher Prozeß stattfindet.
Weiter sei daran erinnert, daß unzählige Bildun-
gen, die uns die Erdrinde bietet, im Laboratorium
nicht nachgeahmt werden können, weil uns für
unsere Experimente nicht die hinreichende Zeit
zur Verfügung steht.
Seit Franz F"ischer seine Hypothese von
der Ligninabstammung der Humuskohlen aufge-
stellt hat, sind viele Stimmen laut geworden, die
sich mit dieser Anschauung nicht einverstanden
erklären wollten. Meist waren es Chemiker, die
sich meldeten. Franz Fischer hat alle diese
Einwände ruhig angehört, gewissenhaft überprüft,
und wir erfahren nun aus der zweiten Auflage
seiner Schrift, daß er seinen Standpunkt nicht ge-
ändert hat. Die Einwände von chemischer Seite
wollen aber noch nicht verstummen.
Die Fisch ersehe Theorie betrifft nun aber
einen Gegenstand, der auch den Geologen in
hohem Maße interessieren muß, und es ist dem
Geologen um so weniger möglich, die Theorie
stillschweigend hinzunehmen, als durch sie auch
auf geologischem Gebiet mannigfache Unklarheiten
entstanden sind. Diese mußten beseitigt werden.
Hierbei hat sich herausgestellt, daß man die
F'isch ersehe Frage auch mit Hilfe rein geolo-
gisch paläontologischcr Mittel klären kann. Ich
habe diese Klärung in einer in Nr. 20 dieses
Jahrgangs der Zeitschrift „Braunkohle" erschiene
nen Arbeit versucht und bin dabei zu dem Er-
gebnis gelangt, daß auch die Zellulose sehr weit-
gehend als Ausgangsprodukt der Humuskohle in
Frage kommt.
Daß auch die Zellulose recht beträchtliche
Mengen von Humu^kohle zu bilden vermag, kann
zunächst durch die Untersuchung solcher Fälle
bewiesen werden, in denen man genau feststellen
kann, aus was für Pflanzen gewisse kleinere
Mengen von Kohle entstanden sind. Allbekannt
sind die inkohlten Pflanzenreste der Steinkohlen-
formation, die sich zwischen Tonschieferplatten,
wie zwischen den Blättern eines Herbariums aus-
gebreitet finden. Sie bestehen häufig aus be-
trächtlichen Mengen von Kohlensubstanz, und hier
läßt die anatomische Untersuchung oft ganz ein-
wandfrei den Schluß zu, daß diese Kohle fast nur
aus Zellulose entstanden sein kann. Weiter ist
es dem Geologen bekannt, daß man in der Braun-
kohle noch viele merkwürdig gut erhaltene Holz-
reste findet. Wie kommt das? Es gibt nur eine
Erklärung: Gelangt ein verholzter Pflanzenteil
wirklich einmal rechtzeitig in den Torf hinein,
was ja — wie uns die heutigen Moore zeigen —
nur in geringem Maße vorkommt, dann bedingt
die die Zellulose imprägnierende verholzende
Substanz (das Lignin) die Konservierung der
Zellulose. In der Tat lassen sich durch mikro-
skopische Methoden aus den Hölzern der Braun-
kohlen noch tadellos erhaltene aus Zellulose be-
stehende Tracheiden herstellen. Die Braunkohle
ist also für uns ein besonders geeignetes Unler-
suchungsobjekt. Wir werden von ihr sagen, was
in sie an verholzter Pflanzensubstanz hineingeraten
ist, zeigt sich uns noch heute als ein Holz, das nach
wie vor Zellulose enthält; nur die nicht oder nur
wenig verholzt gewesene Zellulose ist bereits zu
typischer Braunkohle geworden. Wo ist aber das
übrige Holz des Braunkuhlenwaldes geblieben? Es
ist, ganz wie das meiste Holz unserer heutigen Torf-
moore schon vor der Einbettung über Tage der
Verwesung anheimgefallen, die ja im Gegensatz
zur Vertorfung praktisch keine Spuren hinterläßt.
Weitere gegen die Fisch ersehe Hypothese
sprechende geologische Tatsachen suche man in
der vorhin genannten Arbeit.
Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, daß
Fischer S. lo ausdrücklich betont, es bestehe
noch Uneinigkeit in der Frage, ob die Kohlen
aus Meeres oder Landpflanzen entstanden seien.
Es sei deshalb mitgeteilt, daß die Bewohner der
Steinkohlenmoore fast ausschließlich Sumpf- und
Landpflanzen waren, und daß die Einwände, die
Johannes Walther hiergegen macht, als nicht
stichhaltig abgelehnt worden sind. So hat sich
erst kürzlich Gothan in zwei Vorträgen in der
Deutsch. Geol. Gesellschaft und in der Berliner
Paläontologen Vereinigung energisch dagegen aus-
gesprochen und ich selbst habe u.a. 1920') eine
Widerlegung veröffentlicht. R. Potonie.
') K. Potonie, Der mikrochem Nachw,, Jahrb. d. Preuß.
Geol. LandesaDst., 1920, Bd. XLI, Teil 1, Heft i, S. 178 ff.
N. F. XXI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
623
Kolkwitz, R. , Pflanzenphysiologie. Ver-
suche und Beobachtungen an höheren und
niederen Pflanzen einschließlich Bakteriologie
und Hydrobiologie mit Planktonkunde. Zweite,
umgearbeitete Auflage. IMit 12 zum Teil far-
bigen Tafeln und 153 Abbildungen im Text.
Jena 1922, Varlag von Gustav Fischer.
— — , Pflanzenforschung, i. Phanerogamen
(Blütenpflanzen). Mit i farbigen Tafel und 37
Abbildungen im Text. Jena 1922, Verlag von
Gustav Fischer.
Wir sind gewohnt, das Gebiet der Pflanzen-
physiologie einzuteilen in Stoffwechselphysiologie
und Reizphysiologie oder die Entwicklungsphysio-
logie noch als besondere Disziplin herauszuschälen.
Das ist jedoch lediglich Sache der Zweckmäßig-
keit; worauf es aber in allen Fällen bei einem
Lehrbuch oder Praktikum der Pflanzenphysiologie
ankommt, ist die mehr oder weniger ausführliche
Darstellung des Gesamtgebietes, je nach
den Bedürfnissen des Leserkreises, für den das
Buch bestimmt ist. In der Kolk witzschen
,, Pflanzenphysiologie" finden wir diese Forderung
nicht verwirklicht, und wenn der Verf im Vor-
wort sagt, „daß das Buch als Vereinigung einer
theoretischen und einer praktischen Physiologie
gellen kann", so muß man dem widersprechen,
ganz abgesehen davon, daß wir unter ,, praktischer"
Pflanzenphysiologie in der Regel die Anwendung
der Pflanzenphysiologie auf die Praxis, also auf
Landwirtschaft, Gärtnerei usw. verstehen. Der
Verf. will offenbar sein Buch als ein Mittelding
zwischen Lehrbuch und Praktikum aufgefaßt
wissen, was es aber nur bedingt ist. Denn abge-
gesehen davon, daß keineswegs das Gesamtgebiet
der Pflanzenphysiologie behandelt wird, verbietet
auch die vom Verf. gewählte Einteilung des
Stoffes nach botanisch - systematischen Gesichts-
punkten eine den Bedürfnissen des Studierenden
der Pflanzenphysiologie entsprechende methodische
Verarbeitung des Gebietes. In einem Lehrbuch
der Pflanzenphysiologie, an denen ja übrigens kein
Mangel ist, suchen wir nach einer Diskussion der
Lebensvorgänge der Pflanze und wollen die theo-
retischen Erörterungen durch Versuchsbeispiele
illustriert sehen. Das Objekt ist dann mehr oder
weniger Nebensache und nur dann von Bedeutung,
wenn sich z. B. eine phanerogame Pflanze und
ein Pilz der Schwerkraft, der Einwirkung chemi-
scher Agentien gegenüber usw. verschieden ver-
hält. Das Ziel aller Wissenschaft ist doch wohl,
allgemeine Gesetze zu finden oder wenigstens das
Gemeinsame aus den individuellen Vorgängen zu
abstrahieren, soweit es möglich ist. Dieses Stre-
ben ist aus der Lektüre des Kolk wit zschen
Buches nicht zu erkennen und lag auch wohl nicht
in der Absicht des Verf. Fast überall, wo wir
nach Vertiefung des Verständnisses für die Lebens-
vorgänge, wo wir eine Stellungnahme zu Theorien
und wissenschaftlichen Streiifrngen suchen, wird
auf die Werke anderer Forscher verwiesen oder
es wird das Problematische einfach übergangen.
Daraus folgt, daß der Haupfteil des Buches
„Pflanzenphysiologie" als verlehlt zu betrachten
ist. Und das auch noch aus einem anderen
Grunde: die Kryptogamen umfassen den Haupt-
teil des Buches, und es werden da in der Haupt-
sache ökologische oder biologische Erscheinungen
besprochen , die aber nur teilweise nach physio-
logischen Gesichtspunkten analysiert werden.
Betrachten wir das Kolkwitzsche Buch
ganz vorurteilslos und ohne Rücksicht auf den
irreführenden Haupttitel, so stellt sich die Arbeit
der als eine Sammlung von physiologischem und
ökologischem Versuchs- und Beobachtungsmaterial;
es entspricht also der Inhalt des Buches etwa
dem gewählten Untertitel und muß demgemäß
beurteilt werden. Im Vordergrund steht also das
Objekt, die einzelnen Pflanzen, mit denen gut zu
experimentieren ist oder an denen interessante
Erscheinungen zu beobachten sind. Da das Buch
aus langjährigen praktischen Unterrichtserfahrungen
hervorgegangen ist und da der Verf das größte
Gewicht auf das Gelingen der Versuche legt, so
findet der Lehrer, für den das Buch wohl in erster
Linie bestimmt ist, viele Anregungen, und auch
sicher viele Freude an dem Gebotenen. Es wird
ihm beim Unterricht ein ausgezeichnetes Hilfs-
mittel sein und da ein reichhaltiges Literaturver-
zeichnis vorhanden ist, so wird es ihm ein leichtes
sein, sich eingehender mit der Materie zu be-
schäftigen und seinen Schülern soviel Theoretisches
zu übermitteln, wie es seinen Bedürfnissen oder
den Lehrplänen entspricht. Von diesem Gesichts-
punkt aus sind auch die biologischen Hmweise
bei den Kryptogamen von großem Wert; setzen
sie doch den Lehrer in den Stand, seine Schul-
exkursionen vielseitig und interessant zu gestalten.
Die Behandlung der Hydrobiologie und Plank-
tonkunde, die in dem Buch einen breiten Raum
einnimmt, wird auch manchem Botaniker und
allen denen, die amtlich oder nichtamtlich mit
dem Wasser und allem, was dazu gehört, zu tun
haben, willkommen sein, da etwas ähnliches in
der Literatur fehlt. — Die vorliegende zweite
Auflage des Buches hat, vorwiegend in seinem
ersten Teile, den Phanerogamen , einige Erweite-
rungen erfahren, besonders in Hinsicht auf die
Reizphysiologie und die Vererbungslehre, so daß
nunmehr im ersten Teil der Stoff in folgenden
Kapiteln besprochen wird: Notwendige Elemente
und Nährsalze; das Chlorophyll und seine F"unk-
tionen; Diffusion, Osmose und Turgor; Zucker,
Stärke, Reservezellulose, fettes Öl; Eiweiß; Wasser
und Luft; Atmung; Bewegung, Wachstum und
Reiz; Fortpflanzung und Vererbung. — Au( Ein-
zelheiten kann hier aus Raumgründen niiht ein-
gegangen werden ; dem Ref. sei nur gestattet, dem
Wunsche Ausdruck zu verleihen, daß der Verf.
bei einer dritten Auflage dem ersten Abschnitte
eine etwas abgerundetere, alle Teile der Pflanzen-
physiologie gleichmäßiger umfassendere Form
gibt, was trotz der aphoristischen Behandlung des
Gegenstandes um so leichter geschehen kann, da
624
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXi. Nr. 45
der Verf. als Ergänzung seines Buches gleichzeitig
Einzelhefte erscheinen läßt, die er unter dem
Titel „Pflanzenforschung" herausgibt. Auf diese
Weise braucht der Umfang des „Stammwerkes"
nicht vergrößert zu werden. Was das vorliegende
erste Heft der „Pflanzenforschung" betrifft, das
die Phanerogamen in derselben Manier wie in
der „Pflanzenphysiologie" behandelt, so ist der
Inhalt „im wesentlichen eine Wiedergabe von
Originalversuchen aus der Pflanzenphysiologie"
mit kleinen Ergänzungen , wie der Verf selbst
sagt. Es wird nicht begründet, warum eigentlich
dieses Heft, das den ersten Teil der „Pflanzen-
physiologie" entbehrlich macht, erschienen ist;
nach Ansicht des Ref. hätte bei der großen
Papierknappheit und -teuerung eigentlich schon
das erste Heft lediglich Neues enthalten dürfen,
wie es für spätere Hefte beabsichtigt ist. Das
Ziel des Verf, in den Heften „wertvolle und er-
probte Versuche, Methoden und Beobachtungen
so zu schildern, daß sie allgemein belehrend
und anregend wirken", ist natürlich nur zu be-
grüßen. Wächter.
Kolbe, L. , Flüssige Luft, Sauerstoff,
Stickstoff, Wasserstoff. Deutsche Über-
setzung und Erweiterung des Buches „air li-
quide, oxygene, azote" von G. Claude, Paris.
430 Seiten, 207 Abb., 6 Tafeln. Leipzig 1920,
J. A. Barth.
Das vorliegende Buch ist eine freie Über-
tragung des französischen Werkes von G. Claude
über flüssige Luft, die von L. Kolbe durch Ein-
schaltung einer Reihe von Kapiteln eine wesent-
liche Erweiterung und Anpassung an den heu-
tigen Stand der Technik erfahren hat. Dabei ist
die außerordentlich anschauliche und lebendige
Darstellungsweise des Originals durchaus bei-
behalten worden, so daß der Leser in angenehmer
Weise mit einem guten Beispiel französischer
Schreibweise bekannt wird.
Das Buch stellt sich das Ziel, Theorie und
Praxis gleichmäßig zu berücksichtigen. Der erste,
theoretische Teil wird auch weiteren Kreisen
leicht verständlich sein. Er ist nicht auf breiter
thermodynamischer Basis aufgebaut, sondern knüpft
immer an das Experiment und an die historische
Entwicklung an, die gerade auf diesem Gebiete
reich an spannenden Momenten gewesen ist. In
vorteilhafter Weise wird von instruktiven Figuren
und Diagrammen reichlicher Gebrauch gemacht.
Die weiteren Abschnitte behandeln die indu-
strielle Verflüssigung, die Aufbewahrung und die
Eigenschaften der flüssigen Luft sowie die Schei-
dung der Luft in ihre Bestandteile; Tabellen, eine
Übersicht über die Patente sowie eine sehr aus-
führliche Literaturzusammenstellung beschließen
das Buch. Die neu hinzugetretenen Kapitel um-
fassen insbesondere die Edelgase und ihre Ge-
winnung durch Rektifikation aus der Luft, die
Gewinnung von Wasserstoff und Stickstoff aus
Gemischen, sowie praktische und wirtschaftliche-
Fragen.
Auch der technische Teil zeichnet sich durch
flüssige Darstellungsweise aus, die durch reich-
liche und gute Abbildungen unterstützt wird.
Sehr anschaulich werden auch eine Reihe schöner
Handversuche beschrieben und illustriert.
E. Regener, Stuttgart.
Anregungen und Antworten.
Arbeitsgemeinschaft für anthropo-ökologische Forschung.
An der Wiener Universität wurde kürzlich eine Arbeitsgemein-
schaft für anthropo-ökologische Forschung gegründet. Ihr
Ziel ist die genauere Erforschung der Abhängigkeit sowohl
des Einzelindividuums im Bau, physischer wie psychischer
Hinsicht, als auch sozialer Verbände und Kulturen von Art
und Charakter der Lebensbedingungen, des Entstehungs- und
Standortes. Die Anregung zur Grüadung ging von Herrn
Dr. Jul. Spinner und Herrn Dr. Ferd. Scheminzky
aus, von denen der letztere die Organisation der naturwissen-
schaftlich biologischen Gruppe, der erstere jene der psycho-
logisch und soziologisch-kulturwissenschaftlichen übernommen
hat. Kine Anzahl namhafter Forscher hat bereits ihre Mit-
arbeit zugesagt. Über die Forschungsergebnisse soll in ein-
zelnen Veröffentlichungen, sowie durch Herausgabe eines
Sammelwerkes berichtet werden. Die Gründung eines -Insti-
tutes für anthropo-ökologische Forschung in Wien ist in Aus-
sicht genommen.
Die Arbeitsgemeinschaft richtet an alle auf gleichem Ge-
biete arbeitenden wissenschaftlichen Verbände und Forscher
die Bitte ihr luhalt und Umfang bereits in Angriff genomme-
ner einschlägiger Arbeiten behufs Vermeidung überflüssiger
Diippclbcarbeitung kurz bekannt zu geben und ihr allfällige
Publikationen zur Verfügung zu stellen. Zuschritten und An-
fragen sind erbeten: An die Arbcitsg'-meinschaft für anthropo-
ökologische Forschung, Wien I, Universität.
Literatur.
Gotlschalk, Dr. A. , Begriff des Stoffwechsels in der
Biologie. Berlin '21, Gebr. Bornträger. 12 M.
Reinke, Prof. Dr. Joh., Grundlagen einer Eiodynamik.
Berlin '22, Gebr. Bornträger. 120 M.
Hundt, R., Erdgeschichtliche Bilder aus dem mittleren
F.lstertal. Gera '22, Reußische Druckerei und Verlagsanstalt.
lllbitlt: G. Sticker, Nährpflanzen und Heilpflanzen in der Geschichte. S. 609 — Bücherbesprechungen: G. Schwo-
retzky, Weltäther und Weltall. A. Berg, .Xtherströmungs- und Äthcrstrahlungshypothese. R.Rüther, Systematik
und Synthese der Elemente. E. Maag und K. Reihling, Vom Relativen zum Aiisoluten. S. 620. Fr. Fischer
und II. Schrader, Entstehung und chemische Struktur der Kohle. -S. 621. R. Kolkwitz, Pflanzenphysiologie.
Dcrs.. l'llanzcnforschung. S. 623. L. K o 1 b c , Flüssige Luft, Sauerstoff, Stickstiifl', Wasserstoff. S. 624. — Anregungen
und Antworten: Arbeitsgemeinschaft für anthropo-ökologische Forschung. S. 624 — Literatur: Liste. S. 624.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 12. November 1922.
Nummer 46.
Mathematik und Wirklichkeit.
Von A.
[Nachdruck verboten,]
Wirklich sind für uns nur die Empfindungen
unserer Zufallsinne. Die außerhalb des Ich pro-
jizierten Empfindungen, das unnahbare Unbekannte,
das die Empfindungen auslöst oder sich als Emp-
findung offenbart, nennen wir unsere Wirklichkeit,
Welt, Natur. — Wir können sie mit Hilfe der
Sprache und Mathematik nur beschreiben aber
nicht erkennen, ihr Prüfstein sind einzig unsere
Empfindungen.
Gleich organisierte Menschen haben die gleiche
Wirklichkeit: Einen von den Zufallsinnen empfun-
denen Ausschnitt aus einer qualitativ und quanti-
tativ unvorstellbaren. Wie dem einzelnen die
Wirklichkeit bewußt wird, d. h. wie er die Sinnes-
empfindungen mit der Sprache und der Mathe-
matik verarbeitet, hängt von seiner Intelligenz
und Bildung ab.
Das Bedürfnis nach gegenseitiger Mitteilung
der Empfindungen führte zur Erfindung der
Sprache, die notwendig Gehörsprache werden
mußte. Aus Empfindungslauten wurden zufällige
Empfindungsworte, die Adjektive unserer Gram-
matik. Nach Fr. Mauthner') war das Adjektiv
bei der Erfindung der Sprache der erste, bei ihrer
Formulierung der letzte Redeteil. Mauthner
unterscheidet drei Welten: Die adjektivische
Welt, die allein uns zugängliche Welt unserer
Empfindungen (auch die Welt des Tieres), die
substantivische Welt des Seins, des Raumes,
des Mythos und der Mystik und die verbale
Welt des Geschehens, der Zeit. Streng ge-
nommen gehört die verbale Welt als partizipiale
auch zur adjektivischen und somit blieben nur
zwei verschiedene Welten, in denen wir uns zu-
recht finden müssen. Die ursprüngliche Welt
der empfindbaren Eigenschaften, unsere
Wirklichkeit, die schon vor der Sprache emp-
funden wurde, und die erst in der Sprache durch
Abstraktion gewonnene Welt der nicht emp-
findbaren Begriffe.-)
Der Unscharfe unserer Sinne und der Abstrak-
tion verdanken wir die erfolgreichste Erfindung
in der Sprache: Die Zahl, bzw. die besondere
von nichts abstrahierte Zahlenwelt. Bis vor
zwei oder drei Jahrtausenden genügte die Sprache
mit einfachen Zahlen zur Mitteilung der an-
geschauten Wirklichkeit. Die Erweiterung des
Gesichtskreises, schärfere Beobachtungen zwangen
Radovanovitch.
zu Vergleichen und zu Messungen, und da versagte
die Sprache. Gekürzte konventionelle Ausdrucks-
formen wurden notwendig. Es entstand die Ma-
thematik, die mit dem geometrischen Bild und
der analytischen Formel Ökonomie in die Ver-
ständigung brachte. Die Mathematik ist prä-
zisierte konzentrierte Sprache, die in der Zahl
latent enthalten war und noch ist. Mit der Er-
findung der Zahl war sie auch gegeben. Die
mathematischen Operationen — ein zwangläufiges
Aneinanderreihen von Zahlen (Zahlen haben nur
einen Stellungs- aber keinen Richtungswert) und
Zeichen — mußten nur stufenweise hervorgeholt
und die notwendigen Zeichen hinzuerfunden
werden. Die Zwangläufigkeit oder die mathe-
malische Notwendigkeit gilt in beiden Richtungen
zwischen Prämisse und Resultat: Die mathe-
matischen Operationen sind umkehr-
bar.') Die Bedeutung des Behandelten wird dabei
weder beeinflußt noch geändert. Schopenhauer
hat die Umkehrbarkeit so angedeutet: „Da sie —
die Anschauung, welche der Mathematik zugrunde
liegt — a priori ist, mithin unabhängig von der
Erfahrung, die immer nur teilweise und sukzessiv
gegeben wird ; liegt ihr alles gleich nahe, und
man kann beliebig vom Grunde oder von der
Folge ausgehen." „Mathematik und Logik lehren
uns aber eigentlich nur, was wir schon vorher
wußten." Das besagt, daß die Mathematik selbst
nicht mehr hervorbringen kann, als schon in die
Prämissen hineingelegt wurde. Schlüsse und Be-
weise der Sprache und der Mathematik sind
Mausefallenbeweise: Man zieht die Maus hervor,
die man vorher in die Falle hineingetan hat.
Das Neue wird geschaffen durch neue Taten,
neue Beobachtungen, neue Einfälle, Apergus. Der
Prüfstein der Einfälle auf ihre Wirklichkeit sind
nur die Sinnesempfindungen. Das Neue wird
erst wirklich, wenn es empfunden wird.
Sprache und Mathematik sind ungleiche Mittel
zur Beschreibung der Wirklichkeit. Die Unbe-
ständigkeit und Unbestimmtheit der Sprache
machen sie unfähig, die Wirklichkeit genauer zu
fassen.^) Die eindeutige, zwangläufig operierende
Mathematik kann dagegen die Wirklichkeit schärfer
einstellen, aber ihr Werkzeug, die starre unwirk-
liche Zahl gestattet ihr keinen innigen Kontakt
mit der Wirklichkeit.
') Wörterbuch der Philosophie, 2 Bde., 1910 — 14
(G. Müller). Der kundige Leser wird in folgendem den
Einfluß Mauthners nicht verkennen.
") Mit diesem kam Unbeständigkeit, Unbestimmtheit und
Unaufrichtigkeit in die Sprache.
') Zuerst ausgesprochen von Mauthner im sehr lesens-
werten Büchlein „Spinoza" 1921 (C. Reissner).
'') Aber diese Mängel eignen sie gerade so vortrefflich
für die Poesie, den Mythos und die Mystik, d. h. für eine
verschleierte bis gefälschte Darstellung der Wirklichkeit,
626
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 46
Sprache und Mathematik sind nicht wirklich.
Beim gesprochenen Wort Mars ist wirklich die Be-
wegung der Sprechwerkzeuge und die Erschütte-
rung der Luft, beim geschriebenen der Tintenstrich,
beim gemalten Mars die Farbe und beim gemeisel-
ten der geformte Stein. Dasselbe gilt auch von der
gesprochenen, geschriebenen, zeichnerisch oder
körperlich dargestellten Formel. Nicht das Dar-
gestellte ist wirklich, sondern nur die Mittel der
Darstellung. Das Dargestellte, ein konventionelles
Mittel der Verständigung, kann, muß aber nicht
der Wirklichkeit entsprechen bzw. sie beschreiben
oder abbilden. Ein Gemälde kann eine wirkliche
Landschaft darstellen, eine gemalte Landschaft
muß nicht wirklich sein. Ein geometrisches Bild
kann einen wirklichen Zustand oder Vorgang ver-
anschaulichen, seine Wirklichkeit jedoch nicht be-
weisen. Ein analog unserem berechnetes und
gezeichnetes Planetensystem beweist allein noch
nicht die planetarische Struktur der Atome. Die
Möglichkeit der Vorstellung, Veranschau-
lich u n g und Berechnung ist kein sicheres
Kennzeichen der Wirklichkeit. Sprach-
liche, bzw. mathematische Notwendigkeit bedingt
noch keine wirkliche.
Der eigentliche Entdecker des Neptun war
schon Bouvard. Er sprach die Vermutung aus,
daß die Ursache der Störungen der Uranusbahn
ein transuranischer Planet sein müsse. Leverrier
berechnete die Bahnelemente des bereits ange-
sagten Störenfrieds (die gesuchte Maus war schon
in der F"alle), aber erst als ihn Galle im Fern-
rohr sah, wurde der neue Planet für uns wirklich.
Wäre Neptun ein schwarzer Körper, dann würde er
heute noch nicht wirklich sein, und wir dürften
nur an eine störende Kraft glauben. — Dieses
Schulbeispiel zeigt treffend, wie erst unsere Emp-
findungen die Wirklichkeit bestätigen, ferner, wo
die Hilfe der Mathematik in der Naturforschung
einsetzt. — Bei veränderlichen Sternen vom Al-
goltypus führten Beobachtungen zur vorstellbaren
und durch die Rechnung bestätigten Annahme,
daß sich zwei nahezu gleich große Körper, ein
heller und ein dunkler, um den gemeinsamen
Schwerpunkt bewegen; die Erde fliegt ungefälir
in der Bahnebene der Körper und der dunkle
verdeckt zeitweise den hellen. Dennoch ist das
Sternpaar nicht unbedingt wirklich. Wirklich
sind nur die Empfindungen der veränderlichen
Lichtstärke und der Verschiebung gewisser Spek-
trallinien. Das weitere sind aus der Annahme
mathematisch notwendige, aber sinnlich nicht
wahrnehmbare Folgerungen. Periodische Erup-
tionen leuchtender Massen auf einem bereits
dunklen Weltkörper, die in der Richtung gegen
die Erde geschleudert werden und wieder zurück-
fallen, könnten gleiche Beobachtungen hervorrufen.
Sagen mathematische Berechnungen Zustände
oder Ereignisse voraus, die von Empfindungen
bestätigt werden, so beweist das nur, daß die
Prämissen dem wirklichen Geschehen gut an-
gepaßt waren (es wurde die richtige Maus in die
Falle gesteckt), nicht aber, daß das wirkliche,
nicht zahlenmäßig und doch restlos verlaufende
Geschehen einem „Gesetz", d. h. einer Formel
folgt. Diese bleibt auch bei Berücksichtigung
von immer mehr Reihengliedern nur eine An-
näherung an die Wirklichkeit. Sprache und
Mathematik sind Menschenwerk, und die
Wirklichkeit kümmert sich nicht um sie. Es ist
eine Überhebung zu behaupten, menschliche Ma-
thematik gelte ,,ewig" und auch dort, wo keine
Menschen sind. Die große Übereinstimmung der
mathematischen und wirklichen Notwendigkeit in
der Mechanik hat zur Überschätzung der Mathe-
matik — nicht nur in Laienkreisen — geführt,
wozu noch ihre glänzende formale Ausbildung
viel beigetragen hat. Die Mathematik ist keine
eigentliche Wissenschaft, sie vermittelt kein Wissen
wie die Forschung, sie ist nur das zuverlässigste
Werkzeug der Wissenschaften, bzw. erst die An-
wendung mathematischer Methoden macht das
Forschen zur exakten Wissenschaft. Ungefähr
wie ein Präzisionsmeßinstrument nur mit einem
Präzisionswerkzeug gemacht werden kann. Meß-
instrument und Werkzeug sind aber nicht gleich-
artig.')
Der Begriff „Raum" konnte erst nach der Er-
findung der Abstraktion und der Begriff „Zeit"
erst nach der Erfindung der Zahl gebildet werden.
Raum und Zeit sind Sprachprodukte — sogar
ziemlich späte — , sind nicht wirklich und werden
es auch nicht durch mathematische Behandlung.
Die Zeit als angenommene vierte Koordinate
und die daraus gezogenen mathematisch notwen-
digen Folgerungen haben nur formale Be-
deutung. Für die Wirklichkeit beweisen sie nichts.
Während die Zeit als Verhältniszahl -) bei der
Beschreibung der Wirklichkeit eine wichtige Rolle
spielt, kommt dabei der Raum gar nicht in Be-
tracht, sondern nur wirkliche Körper und ihre
Eigenschaften. Von den vier traditionellen Grund-
pfeilern der Welt : Raum — Zeit, Materie — Ener-
gie sind für uns nur die zwei letzten wirklich.
Raum und Zeit überlassen wir der Metaphysik,
und was die beiden beim Besprechen der
Wirklichkeit bedeuten , interessiert uns nicht.
Energie ist Ausdruck der bewegten Materie, und
somit bleibt schließlich als unsere Wirklichkeit
nur bewegte, geformte und beeigen-
schaftete Materie übrig, aus der wir auch
die konventionellen Maßstäbe für ihre Beschrei-
bung wählen.
Unsere Wirklichkeit reicht soweit wie unsere
Sinne. Daß sie an der Grenze des Sehsinnes auf-
hören sollte, ist für uns unvorstellbar. Die Un-
vorstellbarkeit ließ uns das Wort „unendlich" er-
finden, das bedeutet: Wenn wir nach allen Rich-
') Man wähnt die alten Götter überwunden zu haben und
merkt nicht, wie gläubig man sich vor einem neuen, dem
Gott der Differentialgleichungen beugt. Und dieser hat den
mechanistischen Monismus erschaffen.
*) Siehe Naturw. Wochenschr. 192 1, Nr. 47: „Was ist
die /.eitf"
N. F. XXI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
627
tungen vordringen, empfinden wir überall eine
Wirklichkeit. Wir nennen also unsere Welt un-
endlich. Die Relativitätstheorie kommt, von ge-
wissen Voraussetzungen ausgehend, zur Endlich-
keit der Welt. Die Frage, welche der beiden
Welten wirklich ist, hat keinen Sinn und Wert,
da sie von den allein maßgebenden Sinnesempfin-
dungen nicht beantwortet werden kann.
Die Ergebnisse der speziellen Relativitätstheorie
gelten mit mathematischer Notwendigkeit als ge-
sichert. Werden sie auch durch Beobachtungen
schon einwandfrei bestätigt und damit unserer
Wirklichkeit eingereiht ? Dieselbe Frage darf auch
bei der ebenfalls mit mathematischer Notwendig-
keit aus den Maxwellschen Gleichungen gefol-
gerten „Nahwirkung" gestellt werden. — Es
scheint, daß diese Fragen noch nicht bejaht
werden können.
Die Relativitätstheorie setzt zwei gegeneinander
bewegte Beobachter voraus. Die Beobachtungen
beider gelten in unserer Wirklichkeit nur dann,
wenn beide wirklich sind und wenn sie ihre
Standorte vertauschen können ohne Änderung
ihrer Empfindungsfähigkeit. (Auf der Erde ist
ein Beobachteraustausch nur innerhalb einer
dünnen Kugelschale möglich.) Werden diese
Voraussetzungen nicht erfüllt, dann können wir
die Beobachtungen beider Beobachter nicht als
gleichwertig anerkennen. Auf dem Monde, oder
weiter im Weltall, auf einem nahezu mit Licht-
geschwindigkeit bewegtem Fahrzeug, können wir
uns zur Not einen wie wir organisierten Beob-
achter vorstellen und auch annehmen, daß er
dort leben könne, aber seine Wirklichkeit in einer
uns unbekannten Umgebung ist nicht mehr vor-
stellbar. Wie eine Erdenuhr auf dem Monde usw.
geht, wissen wir nicht, und von einer photogra-
phischen Platte können wir nicht behaupten, daß
sie auf dem Monde usw. chemisch ebenso reagiert
wie auf der Erde.
Unsere Welt ist euklidisch dreidimensional.
Die euklidischen Axiome werden durch unsere
Sinnesempfindungen direkt und indirekt bestätigt;
sie entsprechen der wirklichen Notwendigkeit.
Die nichteuklidische Geometrie beweist mit mathe-
matischer Notwendigkeit, daß der Raum nicht
euklidisch ist, daß mehrere gleichwertige ge-
krümmte Räume möglich sind.') Mathematische
und wirkliche Notwendigkeit widersprechen sich.
Allerdings wird zugegeben, daß noch innerhalb
unserer Welt der euklidische Raum mit den nicht-
euklidischen nahezu vollkommen übereinstimmt.
Uns fehlt aber ein Infinitesimalsinn, mit dem wir
die Raumkrümmung innerhalb unserer Welt emp-
finden könnten, und der uns auch die nach der
Relativitätstheorie notwendigen, der Größe und
Richtung nach stetig wechselnden, Änderungen
der Körperdimensionen bestätigen könnte.
') Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Teufel durch den
elliptischen Raum des entführten Professors nicht gefoppt
wird, und daß dieser nimmer zur Erde wiederkehrt. Kurd
Laßwitz; „Wie der Teufel den Professor entführte."
Der Analogieschluß von der zweidimensionalen
unbegrenzten und dennoch endlichen Kugel-
fläche auf einen dreidimensionalen, unbegrenzten
endlichen gekrümmten Raum ist nicht
zwingend. Es kann nur eine Wirklichkeit
sein, und wir haben die Wahl zwischen der emp-
fundenen und der mathematisch postuUerten.
Die Wirklichkeit verfügt über ungeahnte in-
einander greifende Möglichkeiten; die Mathematik
kennt nur eine durch die starre Zahl festgelegte.
Deshalb kann sich mathematische Notwendigkeit
mit der wirklichen, die starre Zahlenwelt
mit der elastischen adjektivischen Welt
nicht decken.')
Zwei Dolmetscher bieten sich an, uns die
Wirklichkeit zu übersetzen. Der erste kommt
mit einem Wörterbuch, das ungenau und stets
veraltet ist. Die zünftige Philosophie bedient sich
noch seiner mit Vorliebe und glaubt von ihm Er-
kenntnis der Wirklichkeit zu erlangen. Der zweite
hat eine immer logisch ergänzte Formelsammlung,
ist gewissenhafter, aber einseitig; er kann der
Wirklichkeit nur mit Zahlen nahekommen. Was
er bietet: „Das Resultat besagt nie mehr als
Wieviel; nie Was" (Seh openau er).
Abseits steht der Künstler. Er verzichtet auf
Genauigkeit, er will mit Worten, Farben, Formen
und Tönen nur mitteilen, wie er die Wirklichkeit
erlebt. Zauber echter Kunst läßt den Empfänger
die Schöpfung des Künstlers als eigenes Erlebnis
empfinden.
Aber wem soll eigentlich die Sprache (Wissen-
schaft und Kunst inbegriffen) die Wirklichkeit ver-
dolmetschen? Was ist unser Ich, unser Bewußt-
sein, Denken, Gedächtnis, Vernunft, Geist, Seele
usw.? Ist das alles nicht unsere Sprache? Dol-
metscher und Ich sind eins, sind eben
nichts anderes als Sprache und letzten Endes
nur — Illusion, der Wagen des Königs Milinda
aus der Buddha-Legende. Mit der Sprache
haben wir die größte Illusion — uns
selbst, das Ich erfunden. Deshalb können
wir der Zirkelgleichung Ich ^ Empfindung = Wirk-
lichkeit = Sprache =; Ich, dem eigentlichen Monis-
mus, nicht entrinnen, deshalb ist das Unbekannte
draußen für uns unzugänglich und Welterkennt-
nis durch Sprache und Mathematik unmöglich.
Der eine setzt sich darüber hinweg; resigniert
lächelnd greift er zum Ignorabimus.
Der zweite hofft trotzdem jenseits der Sinnes-
empfindungen die eigentliche Welt und ihren
Sinn zu finden. Ihm gehört die substanti-
vische Welt, die seiner Phantasie freies Spiel
gewährt.
Der dritte nimmt die adj ekti vische Welt
wie sie ist, anerkennt ihre Grenzen und beschreibt
sie auf Grund neuer Beobachtungen und neuer
Einfälle immer wieder von neuem. Und sein
verläßlichster Gehilfe dabei ist die Mathematik.
') Wäre es so, dann hätten schon die Pythagoräer Recht
gehabt als sie behaupteten: Die Zahl ist das Wesen der
Dinge.
028
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 46
Einzelberichte.
Die Wahrheit über Beringers Lithographia
Wirceburgensis.
Die tragikomische Geschichte, wie „versteinerte"
Abbilder von abenteuerlichen Tier- und Pflanzen-
formen, ja von Sonne, Mond und Sternen sowie
gar hebräischen Buchstaben den ernstgemeinten
Stoff zu einem gelehrten Werke, der Beringerschen
„Lithographia Wirceburgensis" (1726),
abgaben, wurde in der „Naturw. Wochenschr."
bereits zweimal durch Prof. Andre e behandelt
(1917, S. 719 ff. und 1920, S. 295 f.). Sie wird
neuerdings geradezu als Angelpunkt in der Ent-
wicklung der geologischpaläontologischen Wissen-
schaft hingestellt. Namentlich ist es Othenio
Abel, der in seinen Schriften (besonders 19 14
„Paläontologie und PaläozooJogie" in „Kultur der
Gegenwart" III, 4 IV, S. 313 ff; 1920 „Lehrbuch
der Paläozoologie" S. 32) das Mißgeschick Be-
ringers zur entscheidenden paläontologischen
Ideenwende stempelt: mit dem Zusammenbruch
der Würzburger „Figurensteine" sei jahrtausende-
alten Fabelvorstellungen der Todesstoß versetzt
und endlich eine richtigere Auffassung der Ver-
steinerungen eingeleitet 1 Selbstverständliche Vor-
aussetzung hierbei ist, daß Beringer seine Funde
wirklich für echte Versteinerungen hielt und sie
nach alter Art als Naturspiele o. ä. zu erklären
suchte. Beides ist nun aber keineswegs so selbst-
verständlich. Überhaupt stellt sich bei genauerer
Untersuchung die Geschichte ziemlich anders
dar, als sie seit mehr denn anderthalb
Jahrhunderten berichtet wird. An Hand
aller auffindbaren Quellen, insbesondere
nach einem bisher unbeachtet geblie-
benen zeitgenössischen Briefe*) des
mitbeteiligten Geschichtschreibers v. Eckhart
(veröffentlicht 1780 im Nürnberger „Historisch-
diplomat. Magazin für das Vaterland" I, 159 ff.)
und nach Andeutungen in der Lith. Wirc.
selbst, gelang es, die lange verkannte Wahrheit
über den Beringerfall festzustellen. Meine aus-
führliche Arbeit darüber findet sich im diesjährigen
Oktoberheft der Monatschrift „Stimmen der
Zeit" (Herder, Freiburg), worauf für alle Einzel-
heiten und Quellenangaben verwiesen werden muß.
Als Verlasser der Lith. Wirc. ist zunächst
unzweifelhaft Beringer erwiesen, mehr noch als
') Dieser Brief hatte schon 1749 den Herausgeber (Chr.
Ludw. Scheid t) der heihnizischen Fro^oo^nea (Vorrede S. IX,
Anm.) von dem längst vermuteten Betrug in der Beringer-
sache überzeugt. Hierauf machte mich gütigst Herr Geh.- Rat
Prof. Klockmann (Aachen) aufmerksam, den schon A nd ree
1920 als Gewährsmann nei:nen konnte. Beide weisen auch
auf den Antiquarialskatalog von Dultz & Co. in München hin,
den ich nicht als selbständige Quelle aufführte. Seit 1911
(Katal. FerUirata) ist die /Jt/t. Wirc. zum Verkauf angezeigt,
zuerst mit einer dem Ebertschen Allg. Bibliograph. Lexikon
entnommenen Beifügung, die im Katalog 14 (1913) und e^-enso
31 (1018) wie 40(1921) nach Leydigs Ho?af zoologirae ab-
geändert wurde. Der Preis stieg seit 1911 von 35 über 48
auf 80 und 300 M. und ist jetzt nur auf Anfrage zu erfahren !
And ree dies in seiner zweiten Mitteilung (192O)
berichtigend zuzugestehen schien. Zwar ließ
Beringer der Zeitsitte gemäß die Arbeit unter
seinem Präsidium in einer Inauguraldissertation
von seinem Schüler Gg. Ludw. Hueber vor-
legen, wodurch dieser wenigstens als Mitverfasser
erscheinen konnte. Doch schon im ersten Satze
seiner einleitenden Widmung schreibt Hueber
selbst die Dissertation ausdrücklich seinem Präses
zu, dessen Urheberschaft auch sonst aus allem
aufs klarste hervorgeht und von Anfang an als
selbstverständlich bezeugt ist. Nicht einmal zu
den Druckkosten mußte Hueber beisteuern (vgl.
Lith. Wirc. S. 95 Mitte), der auch gewiß an
der Fälschung der Steine ganz unbeteiligt war.
Ein ergebener Schüler Beringers, wurde er 1737
dessen langjähriger Nachfolger.
Die Fälscher waren nicht etwa übermütige
Würzburger Studenten, wie das seit Mitte des
19. Jahrhunderts oft behauptet ist. Unschuldig
sind auch „die Jesuiten" oder „der Jesuit
Rodrick", der bis auf unsere Tage vielfach als
der Hauptübeltäter hingestellt wird, entweder
allein oder in Gemeinschaft mit dem bekannten
Geschichtschreiber Gg. v. Eck hart. Die eigent-
lichen Fälscher waren vielmehr drei junge Stein-
arbeiter, Söhne einer armen Witwe von Eibelstadt.
Durch Gewinnsucht verlockt, verfertigten sie aus
gewöhnlichem Hauptmuschelkalk, wohl mit Hilfe
eines bis zu den hebräischen Anfangsgründen ge-
diehenen Studentleins, in den sechs Monaten von
Juni bis November 1725 über zweitausend „Fi-
gurensteine", die sie Beringer geschickt in die
Hände spielten, sei es, daß sie die auf einer
Bergeshalde bei Eibelstadt vergrabenen Steine
ihn selbst finden ließen oder sie als dort ge-
funden ihm nach Würzburg ins Haus brachten.
Der an sich grobe Betrug gelang so vollkommen,
daß auch anfängliche Zweifler durch Teilnahme
an der Grabung sich überzeugen oder doch be-
schwichtigen ließen. Selbst der berühmte Ge-
schichtsforscher Gg. V. Eckhart, seit 1724 in
Würzburg, wußte sich eine Zeitlang die Sache
nicht anders zu erklären, als daß hier verscharrte
Zaubersteine oder Talismane der alten Germanen
vorlägen! Erst mit der Dazwischenkunft eines
früheren Jesuitenscholastikers, des Rheinländers
Ignaz Roderique, der als Schützling und
Freund Eckharts im Dezember 1725 zur Über-
nahme der neuen Laien professur für Geographie
und Algebra nach Würzburg kam, wurde das
Geheimnis gelichtet. Es gelang nämlich dem
Freundespaar, einen mitbeteiligten oder doch ein-
geweihten Burschen von Eibelstadt zum Geständ-
nis zu bringen. Als Probe aufs Exempel ver-
fertigte Roderique selbst einige kunstvolle
Figurensteine und schickte den Burschen damit
zu Beringer. Siehe da, dieser nahm sie wirk-
lich hochbeglückt als echt entgegen , belohnte
den Überbringer reichlich und ermunterte ihn zu
N. F. XXI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
629
weiteren ähnlichen Funden. Ja er lud sogar den
Fürstbischof zur Besichtigung der neuen Fund-
stelle ein. Für diese Gelegenheit mußte Rode-
rique nochmals mit selbstgefertigten Bildsteinen
aushelfen, die denn auch glücklich gefunden und
gläubig bewundert wurden. Da aber hielt Eck-
hart die Stunde für gekommen, öffentlich den
ganzen Betrug zu enthüllen. Inzwischen hatte
Beringer gerade sein Werk über die seltsamen
Steine, eben die Lithographia Wircebur-
gensis, vollendet und ließ es in feierlicher In-
auguraldissertation im Mai 1726 vorlegen. Er
hielt hier unentwegt an der Echtheit wenigstens
der früher gefundenen und auf 21 Kupfertafeln
abgebildeten Figurensteine fest. Seine Vertei-
digungsgründe dafür erscheinen denn auch zum
Teil so einleuchtend, daß man seine Täuschung
wenigstens verstehen lernt. Selbst ein so hoch-
stehender Zeit- und Fachgenosse wie Joh. Jak.
Baier, der Verf. der OryctographiaNorica
und Präsident der Leopoldinisch-Karolinischen
Akademie der Naturforscher, teilte so ziemlich
Beringers Ansicht. Dieser scheint sie denn auch
bis an sein Lebensende allem Zweifel, Wider-
spruch und Hohne zum Trotz festgehalten zu
haben. Nirgends finden wir etwas von einem
demütigen Eingeständnis oder Widerruf seines
Irrtums, nirgends auch die Nachricht vom Funde
seines Namenssteines, der ihm endlich die Augen
geöffnet habe! Fabel ist auch die IVleldung, Be-
ringer sei bald aus Kummer über den Betrug
gestorben; lebte er doch noch 14 Jahre danach
als angesehener Professor bis in sein 70. Lebensjahr!
Auch die fast überall behauptete VViederein-
ziehung seines Werkes ist geschichtlich unerweis-
bar. Tatsache scheint nur zu sein, daß Beringer,
über die bald einsetzenden Angriffe verärgert,
eine unliebsame Weiterverbreitung seiner Schrift
möglichst zu verhindern suchte. Die so verblei-
benden Restbestände gelangten dann später in
fremde Hände, durch die sie, wohl ohne betrüge-
rische Absicht, unverändert, nur mit vereinfachtem
Titel, als sog. 2. Auflage 1767 nochmals heraus-
gegeben wurden. Entgegen der allgemeinen
bibliographischen Annahme scheint diese zweite
Auflage bedeutend seltener zu sein als die ziem-
lich weitverbreitete Erstausgabe.
Eine Hauptberichtigung bezieht sich auf die
innere Seite der Lithographia Wircebur-
gensis, auf die eigentliche Ansicht Beringers.
Kaum einer scheint sich bisher bemüht zu haben,
daraufhin das freilich oft schwere Latein der
Schrift durchzulesen. Es galt einfach als selbst-
verständlich, daß der Verf. seine Figurensteine
als echte Versteinerungen betrachtet und als
seltsame Naturspiele erklärt habe. In Wirk-
lichkeit weist Beringer aber für seine Funde
all die alten Meinungen von Naturspielen, Samen-
dünsten usw. mit großer Literaturkenntnis zurück
und unterscheidet (bes. 8. Kap.) scharf zwischen
gewöhnlichen Versteinerungen , die er aus der
Sündflut oder doch dem Meere herleitet, und
seinen ganz anders gearteten „idiomorphen" Fi-
gurensteinen I Nur diese, keine „echten Versteine-
rungen aus dem Muschelkalk", bildet er in der
Lith. Wirc, ab. Und seine Erklärung, ob natür-
licher oder künstlicher Ursprung der einzigartigen
Figurensteine? Er überläßt sie vernünftigerweise
dem Urteil der Gelehrten und weiterer Forschung!
Das einzige, was er hartnäckig bekämpft, ist die
Annahme einer künstlichen Herstellung und Unter-
schiebung in jüngster Zeit. Gegen einen
früheren künstlichen Ursprung, nämlich gegen
die Deutung, daß es etwa vergrabene alte heid-
nische und jüdische Zaubersteine oder Zierstücke
mittelalterlicher Grotten und Burgen seien, hat
er nichts Wesentliches einzuwenden, ja er hält
diese Erklärung sogar für näherliegend (cogitatu
pronius, S. 73). Allerdings will er auch eine
natürliche Entstehung nicht von vornherein
als unmöglich ablehnen, indem er glaubt, seine
Funde vielleicht als irgendwie von der Natur
geformte Abbilder,nicht als Reste, der dargestellten
Lebewesen und Gegenstände ansehen zu können!
Das ist der Zoll, den Beringer überkommenen
Wahnvorstellungen als Kind seiner Zeit zahlte.
Selbst führende Geister waren damals nicht frei
davon, ohne deshalb den Fluch der Lächerlichkeit
zu verdienen. Für eine richtige Einschätzung
geologisch - paläontologischer Befunde fehlte es
eben noch besonders an zwei grundlegenden
Voraussetzungen: keine Phantasie ahnte damals
die mannigfachen gewaltigen Festlandsverschie-
bungen und Meeresüberflutungen, die hauptsäch-
lich unsere geologischen Schichten schufen, und
kein Menschengeist überblickte noch die gesamte,
namentlich marine Organismenwelt, um in den
versteinerten Gebilden ausgestorbene Formen er-
kennen und so rückschreitend eine erdgeschicht-
liche Zeitenfolge festlegen zu können. Dies er-
klärt genugsam so manche frühere Absonderlich-
keit in Geologie und Paläontologie, die gewiß
nicht in „biblischer Überlieferung" begründet liegt.
In diesen Rahmen eingefügt, erscheint auch Be-
ringer und seine Lith. Wirc. menschlich ver-
ständlich und entschuldbar. Nicht Spott, nicht
mitleidiges Lächeln ist es, was ihm gebührt, son-
dern eher Abbitte angetanen Unrechts und An-
erkennung eines lauteren Gelehrtenstrebens, das
auch im Irrtum uns Wahrheit erschloß.
Aug. Padtberg S. J., München.
Gegen die „Pnbertätsdrüse".
Unter den zahlreichen Veröffentlichungen, die
sich gegen die St ei nachsehe Pubertätsdrüsen-
lehre richten, ragt vor allem die Arbeit von H.
Tiedje über „die Unterbindung am Hoden und
die Pubertätsdrüsenlehre" *) hervor, die sich durch,
auf exakten Untersuchungen beruhende, klare
Angaben und vorsichtige Schlußfolgerungen aus-
') Veröffentlichungen aus der Kriegs- und Konstitutions-
pathologie. 2. Bd., Heft 4, 1922, Gustav Fischer.
6?,o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 46
zeichnet. Tiedje ist auch nicht in den Fehler
verfallen, mit der „Pubertätsdrüsenlehre" die Ver-
jüngungstheorie von vornherein zu verwerfen, wie
dies meist von den Gegnern Stein achs ge-
schieht. Wohl darf man mit den oft gar zu ein-
seitigen Folgerungen Steinachs nicht einver-
standen sein, doch ist kein Grund vorhanden, alle
Ergebnisse Steinachs deshalb für wertlos zu
erklären. Gerade die Versuche von Tiedje
zeigen in histologischer Beziehung eine deutliche
Übereinstimmung mit denen Steinachs.
Tiedje kommt jedoch zu einer ganz anderen
Auffassung, die schließlich „eine besondere , Puber-
tätsdrüse' im Sinne Steinachs ablehnen muß".
Tiedje wählte zur Prüfung der „Pubertäts-
drüsenlehre" die Unterbindung am Hoden.
Er operierte 29 Meerschweinchen, 17 geschlechts-
reife und 12 jugendliche. Hier seien die Ver-
suchsreihen angegeben :
I. Einseitige Unterbindung des Vas deferens
bzw. zwischen Hoden und Nebenhoden mit
gleichzeitiger anderseitiger Kastration.
II. Isolierte einseitige Unterbindung.
III. Beiderseitige gleichzeitige Unterbindung.
Nach einseitiger Vas deferens • Unterbindung
konnte Tiedje beobachten, daß sich die jugend-
lichen Hoden normal weiter entwickelten, wäh-
rend die geschlechtsreifen zunächst degenerierten,
um später wieder vollständig zu regenerieren.
Die isolierte einseitige Unterbindung rief eine
völlige Inaktivitätsatrophie des unterbundenen
Hodens hervor, während der andere Hoden kom-
pensatorisch hypertrophierte. Beiderseitige gleich-
zeitige Unterbindung führte zu ähnlichen Ergeb-
nissen wie die unter I. angeführten Versuche.
Tiedje glaubt nun, daß die Steigerung der
sexuellen Funktion nach der Unterbindung nicht
auf die Hypertrophie der Zwischenzellen, wie
Steinach meint, sondern auf die „vermehrte
Resorption der Eiweißsubstanzen de-
generierter generativer Zellen" zurück-
zuführen sei. Die Zwischenzellen spielen nach
seiner Auffassung nur eine nutritive Rolle.
Tiedje stellt also die inkretorische Bedeutung
der Zwischenzellen in Abrede; er lehnt deshalb
auch alle therapeutischen Theorien auf inter-
stitieller Grundlage ab. Doch verwirft er keines-
wegs die inkretorische Bedeutung der Keimdrüsen
im allgemeinen. So lehnt er den interstitiellen
Hermaphroditismus ab und hält „den Versuch,
die Diagnose der Homosexualität aus dem Ver-
halten der Zwischenzellen zu stellen" mit Stieve
für unmöglich. Eine Beziehung der inkretorischen
Funktionen der Keimdrüsen zur Homosexualität
hält Tiedje dagegen nicht für ausgeschlossen.
In ähnlicher Weise behandelt er die Verjüngungs-
frage, wie eingangs schon hervorgehoben wurde.
Die Arbeit Tiedjes trägt entschieden dazu
bei, die Zwischenzellcnfrage zu klären. Die Tat-
sache, daß von einer isolierten Pubertätsdrüse
keine Rede sein kann, wird durch sie erneut be-
stätigt. In vieler Hinsicht zeigt auch diese Ver-
öffentlichung, daß manche Folgerungen Stei-
nachs und seiner Anhänger zu einseitig sind.
Deshalb ist eine solche Revision der St ei nach-
sehen Theorie, wie sie Tiedje vorgenommen
hat, sehr zu begrüßen. Gustav Zeuner.
Aussterben der Naturvölker.
Einen beachtenswerten Beitrag zur Klärung
des Problems des Aussterbens der Naturvölker
hat kürzlich die Universitätsdruckerei zu Cambridge
veröffentlicht, nämlich eine Sammlung von Auf-
sätzen über die Entvölkerung Melanesiens. M Vor
dem Eindringen der Europäer herrschte wahr-
scheinlich kein Bevölkerungsrückgang, aber die
Volkszahl wurde durch Kämpfe, Kindermord,
große Kindersterblichkeit, Vernachlässigung alter
und invalider Leute, Ausmerzung jener, die gegen
die Sittengesetze verstießen und andere Einflüsse
verhältnismäßig klein gehalten. Mit der Ankunft
der Europäer trat keine Besserung, sondern eine
Verschlimmerung des Zustandes ein. Es wurden
bis dahin unbekannte Krankheiten verbreitet und
namentlich Lungenleiden haben viel zur Bevölke-
rungsverminderung beigetragen Nach Berührung
mit Europäern, die ,, Schnupfen" (colds) mit sich
bringen, sagt der Missionar Durrad in einem
der Aufsätze, treten bei den Eingeborenen vielfach
schwere Bronchitis und Pneumonie auf, die zahl-
reiche Sterbefälle zur Folge haben. Andere euro-
päische Krankheiten scheinen nicht weit verbreitet
zu sein. Die Einführung fremder Lebensgewohn-
heiten bringt ebenfalls Nachteile. „Von allen
üblen Gewohnheiten, die durch die Zivilisation
gebracht wurden, ist das Tragen von Kleidern
wahrscheinlich die schlimmste", schreibt der ge-
nannte Missionar und in mehreren anderen Aul-
sätzen kommt dieselbe Auffassung zur Geltung.
Europäische Kleidung ist nicht nur des Klimas
wegen ungeeignet, sondern es kommt noch dazu,
daß die Eingeborenen die Kleider nie wechseln
und sie auch nicht zu reinigen verstehen, so daß
die sonst im allgemeinen reinlichen Menschen
infolge des Kleidertragens mit Schmutz bedeckt
und mit Hautkrankheiten behaftet sind. Dr.
Speiser, der über die Zustände auf den Neuen
Hebriden schreibt, mißt auch dem Übergang von
der früher üblichen Pflanzenkost zu vorwiegender
Reis- und Fleischnahrung, ebenso wie dem Alko-
hol, eine üble Wirkung auf die Gesundheit der
Eingeborenen bei. Nachteilig ist ferner der Über-
gang zu solider gebauten \A^ohnhäusern , welche
die Lüftung erschweren. Viel Schuld an dem
Bevölkerungsrückgang haben zweifellos die Arbeiter-
anwerbungen. Ein großer Teil der Angeworbenen
kehrt überhaupt nicht zurück und die Zurück-
kehrenden bilden einen P"remdkörper unter den
daheimgebliebenen Stammesgenossen; sie tragen
bei, die Auflösung der bestehenden sozialen Or-
') Essays on the Depopulation of Melanesia. Edited by
W. H. R. Rivers. Cambridge 1922, University Press.
N. F. XXI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
631
ganisation und die Beseitigung der überlieferten
Lebensgewohnheiien zu beschleunigen. Da» in
der Regel keine neuen geistigen und sozialen
Lebensinhalte an die Stelle der alten treten, wird
das Dasein der primitiven Menschen inhaltsleer,
womit wieder der ohnehin herrschende Fatalis-
mus gesteigert und die geringe Willenskraft noch
mehr herabgesetzt wird. Die Zerstörung der alt-
hergebrachten gesellschaftlichen Einrichtungen und
der Religion der Melanesier , die europäischen
Verwaltungsbeamten und Missionaren gewöhnlich
unverständhch sind, hat vielleicht mehr zum
Untergang dieser Menschen beigetragen, als irgend-
eine andere Ursache, weil infolge davon das Inter-
esse am Leben und der Wille zum Dasein schwan-
den. Dr Rivers warnt in seinem Beitrag über
den „psychologischen Faktor" eindringlich davor,
die Bedeutung der seelischen Einflüsse des Kultur-
wandels zu unterschätzen. Er schreibt u.a.: „Auf
den ersten Blick mag die Annahme übertrieben
erscheinen, daß ein Faktor, wie der Verlust des
Interesses am Leben, jemals zum Aussterben eines
Volkes führen könnte, aber meine Beobachtungen
brachten mich zu der Folgerung, daß dieser Ein-
fluß so groß ist, daß er kaum überschätzt wer-
den kann. . . . Man hört oft davon sprechen , wie
leicht die Eingeborenen sterben. Immer wieder
wird erzählt, daß ein Eingeborener, der gesund
und wohlauf zu sein schien, nach einem Tag oder
zwei Tagen augenscheinlich leichter Erkrankung
seinen Geist aufgab, ohne daß Anzeichen wahr-
nehmbar geworden wären, die bei uns gewöhn-
lich das Nahen des Todes anzeigen. Ein kranker
Eingeborener verliert den Mut sofort. Er hat
keinen Wunsch zu leben und bekundet vielleicht,
daß er nun sterben werde, ohne daß der Be-
obachter einen Anlaß dazu merken kann. Die
Sache wird leichter verständlich, wenn man er-
wägt, mit welcher Leichtigkeit die Leute durch
Zauberei oder infolge Verstoßes gegen religiöse
oder gesellschaftliche Verbote (Tabus) sterben.
Es ist erdrückendes Beweismaterial dafür vorhan-
den, daß Menschen wie die Melanesier infolge des
Glaubens, das Opfer feindlichen Zaubers zu sein
oder bewußt oder unbewußt gegen ein religiöses
Verbot verstoßen zu haben, erkranken und im
Verlauf weniger Stunden oder Tage sterben.
Wenn Leute, die Interesse am Leben haben und
nicht zu sterben wünschen, in kurzer Zeit bloß
infolge eines Glaubens getötet werden können,
wie viel leichter ist es dann, zu begreifen, daß
sie das Opfer eines krankhaften Einflusses werden
können, der auf den Körper wie auch auf den
Geist wirkt. Die weitgehende Beeinflußbarkeit
des Körpers durch den Geist bei Melanesiern und
anderen tiefstehenden Völkern führt dazu, den
Verlust des Lebensinteresses als vornehmlichste
Ursache ihres Aussterbens aufzufassen."
Eine starke Lebenskraft haben die Bewohner
jener melanesischen Inseln bewahrt, die noch
nicht von Europäern betreten wurden , oder wo
dem Eindringen derselben bisher erfolgreich wider-
standen wurde, aber auch die Bewohner der In-
seln, die das Christentum nicht nur äußerlich an-
genommen haben, was darauf zurückgelührt wird,
daß der neue Glaube den Menschen auch neue
Lebensinhalte gebracht hat.
Von Dr. Rivers aufgezeichnete Stammbäume
bringen klar zum Ausdruck, daß neben der ver-
mehrten Sterblichkeit eine verringerte Geburten-
häufigkeit an dem Aussterben der Melanesier
schuld trägt. Auf der Eddystone-Insel, wo die
ganze Bevölkerung in Dr. Rivers Untersuchung
einbezogen werden konnte, betrug die relative
Zahl der kinderlosen Ehen in der ersten Gene-
ration 19,4 "/o, in der zweiten 46,1 "/„ und in der
dritten 52,7 %. Die Ehen mit 3 oder mehr Kin-
dern betrugen in der ersten Generation 37,1 "/o
der Gesamtzahl, in der zweiten 22,2 "j,, und in
der dritten 5,5 "/„ , wobei in der zweiten Gene-
ration die Kinderzahl in 2,7 "/q und in der dritten
in 9,1 "ii der Ehen noch zweifelhaft ist. Wäh-
rend von den Kindern der ersten Generation nur
6,4 'Vo der Knaben und 4,5 "/^ der Mädchen jung
starben, waren die entsprechenden Zahlen für die
dritte Generation 31,1 und 14,8 "/,,. Ganz ähn-
liche Verhältnisse wurden auf Vella Lavella auf-
gedeckt. Auf beiden Inseln bestehen keine der
Einflüsse, denen das Aussterben der Naturvölker
gewöhnlich zugeschrieben wird. Aber „niemand
könnte lang auf Eddystone sein, ohne zu merken,
wie sehr dem Volk das Lebensinteresse mangelt
und wie jedes Streben geschwunden ist. Dieser
Interessemangel ist größtenteils auf die Unter-
drückung der Kopfjägerei seitens der britischen
Regierung zurückzuführen. Dieser Brauch bildete
den Mittelpunkt einer sozialen und religiösen Ein-
richtung, die das ganze Leben des Volkes be-
herrschte", nämlich des Ahnenkults. Auch mit
der wirtschaftlichen Tätigkeit stand die Kopf-
jägerei in mancherlei Beziehung, sie diente als
Anregung zum Schiffbau, wie auch zum Garten-
bau und der Schweinezucht; so wie sie beseitigt
war, waren auch die Antriebe zu diesen Tätig-
keiten geschwunden. Die Unlust am Leben ver-
anlaßt diese Inselbewohner zu freiwilliger Kinder-
losigkeit, oft auch zur Ehelosigkeit. Rivers
macht Vorschläge, die bezwecken, die traditio-
nellen Einrichtungen und Bräuche der Natur-
völker, die mit unseren Auffassungen von Mensch-
lichkeit oder Sittlichkeit nicht vereinbar sind, so
zu modifizieren, daß das Anstößige ausgemerzt
wird, ohne damit die religiösen und sozialen
Grundlagen des Lebens der Völker selbst zu zer-
stören. Ob solche Abänderungen praktisch mög-
lich sind, ist aber doch sehr fraglich. Die übrigen
Aufsätze des Buches enthalten gleichfalls man-
cherlei Anregungen betr. die Verhütung des Aus-
sterbens von Naturvölkern. H. Fehlinger.
63i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XXI. Nr. 46
Bücherbesprechungen.
Hauser, G., Die Damaster-Coptolabrus-
Gruppe der Gattung Carabus. Sonder-
abdruck aus „Zoologische Jahrbücher". Abt.
f. Systematik. 45. Band. 1921. Mit lO Tafeln
in Lichtdruck u. i lithogr. Tafel. 394 Seiten.
140 M.
Die Arbeit von Haus er behandelt wohl eine
der schönsten Gruppen der Laufkäfergattung
Carabus, denn die ansehnlichen im ostasiatischen
Gebiete beheimateten Käfer der Coptolabrusgruppe
zeichnen sich zum großen Teil durch wahrhaft
blendende Färbungen und prächtigen Metallglanz
aus. Der Verf., der als einer der besten Kenner
dieser Abteilung gelten kann, hat, gestüzt auf
seine langjährigen Erfahrungen, eine monographi-
sche Übersicht über die hierhin gehörenden For-
men gegeben und geht in dem einleitenden Teil
auch auf verschiedene Fragen ein, die von allge-
meinerem Interesse sind. So werden in bezug auf die
hier in Rede stehenden Käferarten die Verschie-
denheiten in Form und Färbung, Rückschlags-
erscheinungen, die Einwirkung klimatischer Be-,
dingungen, Nahrung und Vorkommen der be-
treffenden Tiere, die Stellung der einzelnen Arten
zueinander und ähnliches erörtert, ebenso wie die
Fassung des Artbegriffs, die Abgrenzung der
Varietäten und Aberrationen behandelt sind. Das
Alter der zur Coptolabrusgruppe gehörenden For-
men Ist dem Verfasser zufolge als ein ziemlich
hohes anzusehen, er glaubt aus bestimmten
Gründen annehmen zu können, daß ihre Ent-
stehung noch vor dem Tertiär stattgefunden
haben muß und wahrscheinlich In die Trias-
periode verlegt werden kann. Der umfangreiche
spezielle Teil mit seinen sorgfältig ausgearbeiteten
analytischen Tabellen und Kennzeichnungen der
einzelnen Arten Ist vorwiegend für den F"achento-
mologen von Wichtigkeit. R. Heymons.
Wissler, Clark, The American Indian. An
Introduction to the Anthropology of the New
World. XXI u. 474 Seiten. New York 1922,
Oxford University Press, American Branch.
Die Spezialliteratur üter die Indianer Amerikas
ist zwar ungemein reichhaltig, aber WIsslers
Buch ist die einzige umfassende Darstellung des
Gesamtgebietes der Ethnologie, Urgeschichte und
Somatologie der einheimischen Bevölkerung beider
Amerika. Am gründlichsten erforscht sind die
Indianer der Vereinigten Staaten und Canadas,
weshalb sie auch In weiterem Umfange berück-
sichtigt werden als jene Lateinamerikas. Die Ab-
schnitte I bis 13 betreuen die indianische Eigen-
kulten, die in scharfem Gegensatz zu jener der
alten Welt steht. Es sei nur bemerkt, daß der
indianischen Wirtschaft Pflug und Zugtiere fremd
sind, die Bodenbewirtschaftung hatte ausschließ-
lich die Form des Hackbaues. Die von Asien
einwandernden Vorfahren der Indianer brachten
aus Ihrer Heimat wohl Elemente primitiver Kultur
mit, doch die Hochkulturen der Azteken und
Inka sind auf amerikanischem Boden selbst er-
wachsen. Weitere Abschnitte behandeln die ur-
geschlchtllche Einteilung der indianischen Kulturen,
die Zeitfolge der Kulturen und die sprachliche
Gliederung. Der Somatologie ist Kapitel 18 ge-
widmet (S. 324 — 356), in dem auch die Herkunft
der Indianer und ihre Beziehungen zu den Men-
schen der alten Welt In scharfsinniger Weise er-
örtert werden. Dann folgen noch Abschnitte über
die Theorien der Kulturentwicklung und die Be-
sonderheiten der indianischen Kultur, von denen
so manches Stück zur Bereicherung unseres eige-
nen Kuhurbesitzes gedient hat. Nicht berück-
sichtigt blieb die Kriegführung, weil über sie das
lesende Publikum am besten unterrichtet ist und
auch weil bereits einige ausführliche Schriften
über diesen Gegenstand vorliegen (Bau deller,
Frie derlei). Sehr zum Vorteil gereicht dem
Buche Übersichtlichkeit sowie klare allgemein-
verständliche Schreibweise. H. Fehlinger.
Scherzer, Hans, Erd- und pflanzenge-
schichtliche Wanderungen durchs
Frankenland. 2. Teil: Die Juralandschaft.
I. Bd. Mit zahlreichen Profilen, Naturaufnahmen
und einer geologischen Tabelle. 191 S. Nürn-
berg 1922, Lorenz Spindler.
Dem auf S. 1 59 dieser Zeitschrift angezeigten
Teil des Scherzerschen Buches Ist jetzt der
I. Band des 2. Teiles gefolgt. Er behandelt die
„Fränkische Alb" und zwar von den Neumarkter
Bergen bis zum Staffelberg. Auch dieser Band
ist wertvoll wegen der zahlreichen geologischen
Profilaufnahmen, der Fossilien- und Pfianzenllsten.
Da die Schriften von Gümbel, Schlosser,
Reuter u. a., die sich in neuerer Zeit mit der
Geologie des Frankenjura beschäftigt haben, nur
schwer zugänglich sind, ist es ein großes Verdienst
des Buches, wenn es die Ergebnisse dieser Forscher
in allgemein verständlicher Form einem größeren
Leserkreis zugänglich macht. Übrigens enthält
der Band wieder eine Anzahl eigener Beobach-
tungen des Verf. besonders auf botanischem Ge-
biet. Marzell.
Inhalt: A. Radovanovitch, Mathematik und Wirklichkeit. S. 625. — Einzelberichte; A. Padtberg, Die Wahrheit
über Behringers Lithographia Wirceburgensis. S. 62S. H. Tiedje, Gegen die „Pubertätsdrüse". S. 029. Rivers,
.Aussterben der Naturvölker. S. 630. — BUcberbesprecbungen: G. Haus er, Die Damaster-Coptolabrus-Gruppe der
Gattung Carabus. S. 632. Cl. Wissler, The American Indian. S. 632. H. Scherzer, Erd- und pflanzengeschicht-
liehe Wanderungen durch Frankenland. S. 632.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. PStz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 2i. Band:
ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 19. November 1922.
Nummer 47.
Die Vitülhj^pothese Arthur Meyers. '}
Von Dr. Fritz JUrgeo Meyer, Braunschweig.
[Nachdruck verboten.)
Die Frage nach der Zusammensetzung der
lebenden Substanz hat schon die Naturforscher
des Altertums beschäftigt. Hippokrates z.B.,
der berühmteste Arzt des Altertums — er wurde
460 V. Chr. auf der Insel Kos geboren und starb
377 zu Larissa in Thessalien — , stellte sich vor,
daß der menschliche Körper aus einem Gemisch
bestehe, das aus Blut, Schleim und Galle in be-
stimmtem Verhältnis zusammengesetzt sei. Die
Alchymisten des Mittelalters glaubten
sogar, dem Geheimnis der lebenden Substanz
schon so weit auf der Spur zu sein, daß sie jeden
Tag hofften, der Homunculus, das ideale Ziel
ihrer Forschungen, könne fertig aus einer ihrer
Retorten hervorsteigen und ihnen verkünden, daß
sie selbst gotlähnliche Schöpfer seien. Dürfen
wir auf diese Leute mit Spott zurückblicken?
Keineswegs I Es war das Bestreben aus der da-
maligen Zeit geboren, und niemand ahnte die
Schwierigkeiten der gestellten Probleme, jeder
ging mit Feuereifer und heiligem Ernst an d i e
Arbeit, die uns jetzt lächerlich erscheinen mag.
Und haben wir uns denn überhaupt von der
naiven Auffassung der Alchymisten schon so lange
frei gemacht? Es ist doch wohl kein wesent-
licher Unterschied, ob ein Alchymist den Homun-
culus entstehen lassen will oder ein Naturforscher
des 19. Jahrhunderts lebende Substanz schaffen
will. Aber eins ist allen vorzuhalten : sie wußten
nicht, was die lebende Substanz ist, wie sie sich
zusammensetzt, und doch sollte sie bei ihren Ver-
suchen entstehen.
Der erste Fortschritt, der aus diesem „alchy-
mistischen Stadium" herausführte, war die Ent-
deckung Schleidens, daß sich innerhalb der
Zellwandungen außer der Zellflüssigkeit noch
„P f 1 a n z e n s c h 1 e i m" oder nach der Bezeichnung
Mohls „Protoplasma" befinde. Daß dieses
Protoplasma der wesentliche Bestandteil einer
lebenden Zelle ist, entdeckte jedoch erst IVIax
Schultze in den 60er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts im Anschluß an seine Untersuchungen
der Rhizopoden.
Und auf diesen Grundlagen baute sich dann
die weitere Erforschung der lebenden Substanzen
auf. Man wußte jetzt, wo die chemische Analyse
einsetzen mußte, und ging eifrig ans Werk. Je-
doch ein trübes Mißgeschick verfolgt den Che-
miker, wenn er das Plasma untersuchen will.
Den bitteren Spott des Mephistopheles muß er
sich gefallen lassen:
Mit 14 Abbildungen.
,,Wer will was Lebendig's erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt leider nur das geistige Band.
Eiicheiresin naturae nennt's die Chemie,
Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie."
Aber daran läßt sich einstweilen leider nichts
ändern; wir müssen mit dem zufrieden sein, was
uns die chemische Analyse und die mikrochemi-
schen Reaktionen ermöglichen. Und was ist das?
Zwei Zitate aus neuesten Lehrbüchern mögen
uns Auskunft geben. Das Bonner Lehrbuch
der Botanik enthält in der Auflage von 1917
die Angabe: „Die Teile des Protoplasten sind
nicht ein einheitlicher chemischer Körper, sondern
bestehen aus einem Gemische einer großen Zahl
chemischer Verbindungen. . . . Die wichtigsten
Bestandteile in diesem Gemische sind die Eiweiß-
körper. . . . Und zwar ist in dem lebenden Plasma
eine ganze Reihe von Eiweißkörpern aufgefunden
worden. . . . Außerdem enthält das Protoplasma
wohl stets Spaltungsprodukte der Eiweiße, vor
allem Amide; außerdem Enzyme, Kohlehydrate
und in feiner Emulsion Lipoide, wie Fette, Lezi-
thine und Phytosterine; ferner unter Umständen
Alkaloide, Glykoside. Daß auch Mineralstoffe im
Protoplasma jiicht völlig fehlen, geht daraus her-
vor, daß es Asche hinterläßt." Es wird hier aus-
drücklich gesagt: „in dem lebenden Plasma", in
der Tat handelt es sich aber nur um getötetes
Plasma. Ein zweites Zitat möchte ich aus der
zoologischen Literatur anfügen, aus dem erst 1919
erschienenen „Grundriß der Zoologie" von
Steche: „Zwar kennen wir auch jetzt noch nicht
den Aufbau der lebenden Substanz, wir sind aber
in der Lage, darüber einige wichtige Aussagen
zu machen. Die erste lautet dahin, daß das Ma-
terial, an dem sich die Lebensprozesse abspielen,
sich aus den gleichen chemischen Elementen
aufbaut, wie die uns umgebende, sog. unbelebte,
anorganische Natur. Ein Unterschied liegt nur
in der Komplikation der Zusammensetzung der
Verbindungen in den Organismen. Die zweite,
noch wichtigere Feststellung ist die, daß die Vor-
') Nach einem 1921 in der botanisch- zoologischen Ab-
teilung des Vereins für Naturwissenschaft in Braunschweig
von mir gehaltenen Vortrage gestatte ich mir, die nachfolgende
Darstellung der Vitülhypothese meines leider jüngst inmitten
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit verstorbenen, hochverehrten
Lehrers weiteren Kreisen darzubieten. Die Hypothese war
bisher nur in A. Meyers „Morphol. u. physiol. Analyse der
Zelle" (Fischer, Jena 1920) veröffentlicht. Die hier beigefüg-
ten Abbildungen entstammen diesem Werke,
634
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
gänge im lebenden Organismus, soweit sie bisher
analysiert sind, den gleichen physikalischen und
chemischen Gesetzen gehorchen, wie die anorga-
nische Welt. Im besonderen gelten auch hier die
Gesetze von der Konstanz der Materie und der
Energie, die Gesetze der Thermodynamik usw.
Man kann also auf den Gebieten, welche physi-
kalischer und chemischer Untersuchung zugänglich
sind, keinen qualitativen, sondern nur einen quanti-
tativen Unterschied der organischen von der an-
organischen Welt feststellen." An anderer Stelle
sagt Steche dann noch: „Zusammenfassend
können wir also das Protoplasma definieren als
eine Substanz von sehr komplizierter Zusammen-
setzung aus labilen organischen Verbindungen in
kolloider Lösung."
Überblicken wir solche Auseinandersetzungen,
so sehen wir, daß also die Annahme vom leben-
den Eiweiß gewissermaßen zum Dogma') ge-
worden ist; jeder glaubt es, und keiner hat es
bewiesen, keiner wohl überhaupt daran gedacht,
daß der Satz noch eines Beweises bedürfe.
Da trat im Winter 1914/15 Arthur Meyer
in einer Sitzung der Marburger Geseilschaft zur
Förderung der gesamten Naturwissenschaften mit
der Hypothese auf: „Die in den Zellen vorkom-
menden Eiweißkörper sind stets ergastische Stoffe."
Als ergastisch bezeichnet Arthur Meyer die-
jenigen Stoffe utid Gebilde in einer Zelle, welche
nicht zur Substanz eines Organs der Zelle, also
des Zytoplasmas, des Zellkerns oder der Chloro-
plasten gehören, sondern von der Zelle erarbeitet
sind und neu entstehen können; sie sind entweder
Einschlüsse oder Ausscheidungen des Protoplasten,
und eine Konsequenz dieser Tatsachen ist, daß
sie im Gegensatz zu dem Protoplasten tot sind.
Die obige These sagt also aus : AlleEiweiß-
körpersindtotl ,
JVlit dieser Behauptung, die so vollkommen
dem allgemein stillschweigend Anerkannten wider-
sprach, stieß Arthur Meyer selbstverständlich
vielerseits auf harten Widerstand; jedoch
konnte er immerhin zeigen, daß seine zwar auch
nicht, sicher bewiesene Hypothese viel besser
gestützt ist als die Hypothese, daß sich die
Moleküle der Eiweißkörper am Aufbau der leben-
den Substanz selbst beteiligen, wofür überhaupt
nicht die geringsten Beweise vorliegen.
Aber woran läßt sich denn erkennen, ob ein
Stoff ergastisch ist oder zum lebenden Proto-
plasten gehört? Arthur Meyer stellt dafür
folgende Kriterien auf:
I. ist der Beweis für die ergastische Natur
eines Stoffes erbracht, wenn er in einem Organ
') Daß ich mit diesem Ausdruck keineswegs zuviel gesagt
habe, beweist ein Satz in einem erst vor einigen Wochen er-
schienenen Buche von Prof. K. W. F r ö h 1 i c h (Bonn) : ,, Grund-
züge der Physiologie". Der Verf. schreibt: ,,Es ist ein Satz
von grundle<.'ender Bedeutung, dafi die lebende Substanz aus
den gleichen chemischen Elementen aufgebaut ist wie die leb-
lose Natur...." Und später: „....die wichtigsten Baustoffe
der lebenden Substanz, nämlich die Eiweiflkörper, Kohle-
hydrate und Fette. . . ."
einer Zelle, in dem er zuvor völlig gefehlt hat,
neu auftritt,
2. wenn er in einem oder mehreren nachein-
ander angewandten Reagentien, welche erfahrungs-
gemäß Organsubstanz nicht zu lösen vermögen,
völlig löslich ist (Osmiumsäurelösung, Äther,
Alkohol usw.),
3. wenn er nachweislich nur aus chemi-
schen Substanzen besteht, wobei es freilich
leicht unsicher bleibt, ob wir die Analyse völlig
durchführen können, und
4. wenn sich zeigen läßt, daß er kristalli-
siert, denn Kristalle sind stets nur aus Mole-
külen chemischer Substanzen aufgebaut.
Die so charakterisierten ergastischen Stoffe
können in den Organen, in denen sie enthalten
sind, gelöst sein (ergastische Organstoffe)
oder sie treten in Gestalt von besonderen er-
gastischen Gebilden auf; solche Gebilde
können innerhalb der Zelle geteilt werden, sich
bewegen und sich chemisch und iarberisch ver-
ändern.
Und nun können wir an die Frage herangehen,
ob tatsächlich alles Eiweiß ergastisch ist. Zu-
nächst sei darauf hingewiesen, daß nach Angaben
von Sachs über Parenchymzellen (1862) und von
Sosnowski über Paramäcium (1900) Ei weiß -
körper in der lebenden Substanz unter
Umständen fehlen können, Angaben, wel-
che Arthur Meyer übrigens nur mit Vorbehalt
zitiert. Zuverlässiger spricht gegen das Dogma
vom lebenden Eiweiß die Tatsache, daß von
Wasser durchtränkte Sporen von Bacillus sub-
tilis bei 80" 75 Stunden, bei loo" 3 Stunden
und bei iio" über eine halbe Stunde leben
können; das wäre ja doch nicht möglich, wenn
Eiweiß am Aufbau der lebenden Substanz be-
teiligt wäre, da dann die Tötung des Plasmas in
ähnlicher Weise von der Temperatur abhängig
sein müßte wie die Koagulation der Eiweiß-
körper.') Dies sei vorausgeschickt, um zu zeigen,
daß der Versuch, die ergastische Natur aller Ei-
weißkörper nachzuweisen, nichts Absurdes ist.
Eiweißkörper können in den pflanzlichen und
tierischen Zellen in verschiedener Form vorkommen,
zunächst als Kristalle. Diese sind nach den
zitierten Kriterien selbstverständlich ergastisch.
Außerdem ist aber auch die Kristallisation
von einigen andeien Eiweißkörpern gelungen, so
von verschiedenen Albuminen und Globulinen,
sowie Hämoglobinen.
Um die 'ergastische Natur der in den Zellen
auftretenden Eiweißkristalle noch besonders zu
bestätigen, hat Arthur Meyer die Sprosse
von Phyllocactus phyllanthoides genau
untersucht, ferner die Fruchtknotenepider-
mis vonCampanula trachelium. Es zeigte
sich, daß die Eiweißkristalle des Protoplasten in
') Anra. d. Red. Ob die in Wasser suspendierten Sporen
des HeubaziUus wirklich „von Wasser durchtränkt" sind, ist
fraglich, weshalb dies Argument keine volle Beweiskraft be-
anspruchen kann.
N. F. XXI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
63s
der gleichen Weise wie andere Eiweißkristalle
wachsen und von den Zellen auch restlos wieder
gelöst werden können. Es handelt sich somit
also tatsächlich um ergastische Gebilde, und zwar
Gebrauchsgebilde, die bei Überfluß an Nährstoffen
abgelagert werden, bei eintretendem Nährstoff-
mangel jedoch wieder gelöst und zum Wachstum
^s::^^
teilchen, „welches mit unbewaffnetem Auge nicht,
wohl aber mit dem Mikroskope erkannt werden
kann, also größer als 0,09 Mikromillimeter ist".
Die Allinante sind „nichtkristallinische, weiche
ergastische Eiweißante des Zytoplasmas, welche
aus Eiweißkörpern bestimmter chemischer Reak-
tion, aus Allin, bestehen". Die Allinante sind in
Abb. I. Von Gürber herge-
stellte große Kristalle des Serum-
albumins. 100 fach vergr.
Abb. 2 u. 3. Epidermiszellen des Kladodiums von Fhyllo-
caclus phyllanthoides mit einem Eiweißkristall (g) und einem
Nadelbüschel aus Eiweißkristallen.
U»
\
^. .1
Abb. 4. Zellkerne aus der Fruchtknotenepidermis von Cam- Abb. 5. Allinante und Leukoplasten aus den Parenchym-
panula Irachelium mit Eiweißkristallen; a— e lebend, f mit Zeilen der Zwiebelscbuppen von Allium cepa. Gefärbt nach
Pepsin hehnndplt 000 farh verer. Mewcs. 2000 fach vergr.
Abb. 6. Allinante und ein Chloroplast von Mesembryanthe-
mum linguiforme, lebend. 2 100 fach vergr.
und zur Arbeit der Zelle verbraucht werden
können. (Derartige Eiweißkristalle kommen in
allen Organen der Zellen vor, im Zytoplasma, im
Kern und in den Chloroplasten.)
Die zweite wichtige Gruppe von Eiweißkörpern
in lebenden Zellen sind die „Allinante". Unter
einem „Ant" versteht A r t h u r Meyer ein Massen-
-^'
:iia
m
m.
Abb. 7. Teil einer Assimilationszellc des Protonemas von
Polytrirhum commune mit Kern (mit großem Nukleolus),
Stärkekornhaitigen Chloroplasten und stäbchenförmigen und
rundlichen AUinanten, mit Jod-Osmiumsäure behandelt.
2000 fach vergr.
der Regel sehr kleine Gebilde; die größten bisher
beobachteten sind stäbchenförmige Ante von i6jtt
636
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
Länge. Wie sich z. B. an den durch schwache
Plasmaströmungen verursachten Krümmungen der
stabförmigen Allinante von Allium cepa erkennen
läßt, sind sie weiche, plastische Massen.
Daß sie tatsächlich ergastischer Natur
sind, erhellt aus den Untersuchungen Scherrers
an dem Lebermoose Anthoceros. Dort sind
nämlich die Allinante in der Scheitelzelle des
Thallus nicht vorhanden, jedoch treten sie dort,
wo die Grenzen der Scheitelzellen sich verwischen,
neu auf. Ebenso sind die Sporenmutterzellen von
Anthoceros frei von Allinanten.
Für die Annahme, daß die Allinante Reserve-
stoffe sind, sprechen eine Reihe von Tatsachen.
Zunächst treten sie besonders an solchen Stellen
in den pflanzlichen Geweben auf, wo man die
Ansammlung von Reservestoffen erwarten kann ;
ferner ist ihr Vorkommen im Pflanzenreich dort
festgestellt, wogewisse andere Reservestoffe fehlen;
z. B. Allin und Volutin schließen sich gegenseitig
aus, auch pyrenoidführende Algen sind frei von
Allinanten. Wenn dagegen eine Abnahme des
Allins in verdunkelten Blättern nicht erzielt
werden konnte, so liegt das wohl daran, daß Ei;
weiß in hungernden Blättern überhaupt lange
Zeit unberührt bleibt. Bei Polygonatum latifolium
ließ sich im Gegensatz zu dieser Tatsache im
Ende des austreibenden Rhizoms eine deutliche
Abnahme des Allins feststellen.
In der älteren Literatur sind die Allinante all-
gemein alsChondriosomen undMitochon-
drien bezeichnet. Es ist diesen Chondriosomen
auch die Fähigkeit zugeschrieben, sich durch Tei-
lung zu vermehren und sich in andere Gebilde,
insbesondere in Chromalophoren umzugestalten.
Beides entspricht jedoch nicht den Tatsachen und
ist in Wirklichkeit auch von niemandem beob-
achtet. Vielmehr sind die Miiochondrien und
Chondriosomen stets Allinante oder kleine Va-
kuolen oder kleine Chromatophoren gewesen.
Und so erklärt sich auch eine Reihe verschiedenster
Angaben, wie z B. die, daß iVlitochondrien Stärke
bilden und ergrünen können, andererseits, daß in
ihnen Anthozyan entstehen könne.
Die Mitochondrien der tierischen
Zellen sind von Arthur Meyer zwar nicht
selbst untersucht, aber auf Grund der kritischen
Durchsicht der diesbezüglichen Literatur schließt
er: „Die Eigenschaften der von Benda, Meves
und Duesbcrg zu den Chondriosomen gestellten
Gebilde der tierischen Zelle stehen nicht im Wider-
spruch mit der Annahme, daß Allinante und
Chondriosomen analoge Gebilde seien." Das
heißt also: Auch die tierischen Chondriosomen
sind orgastisch.
Die orgastische Natur Aleuronkörner, die
ja auch beträchtliche Massen von Eiweißkörpern
repräsentieren, ist zur Genüge dadurch bewiesen,
daß die Aleuronkörner aus Zellsafitropfen ent-
stehen und bei der Samenkeimung wieder auf-
gelö.st werden.
Der nächste Eiweißkörper, dem in dem Arthur
Meyerschen Buche eine besondere Behandlung zu-
teil geworden ist, ist das Volutin, das vor allem
im Zytoplasma, aber auch in den Chromatophoren
gewisser Pflanzengruppen vorkommt. Es findet
sich bei wahrscheinlich allen Pilzklassen, bei Cyano-
phyceen, Euglenen, Diatomeen und manchenChloro-
phyceen, Phaeophyceen und Rhodophyceen. Auch
im Tierreich ist es gefunden, beispielsweise bei
Protozoen und einigen Säugetieren.
Abb. 8. Vier im Zytoplasma des Endosperms liegende
Aleuronkörner von Ricinus communis, nach Hehandlung mit
absolutem Alkohol, Wasser, Osmiumsäure, Methylviolett. Die
Aleuronkörner sind durchsichtig geworden, die Öltröpfchen
des Zyioplasmas sind herausgelöst.
Daß die Volutinante orgastische Gebilde
sind, ergibt sich aus der Tatsache, daß sie in
zuvor freien Zellen neu entstehen können,
während gewisser Entwicklungsvorgänge (wie der
Sporenbildung) aber wieder gelöst werden.
Schließlich die letzten wichtigen Eiweißante
der Zeilen sind die Nukleolen der Zellkerne
(Abb. 7 u. 9). Nukleolen kommen wohl in allen
Pflanzenspezies vor, auch in allen Zellarten, ab-
Abb. 9. Kerne mit großen Nukleolen aus dem jungen Zentral-
zylinder der Wurzel von Galtonia candicans.
gesehen von den männlichen Geschlechtszellen,
wofern solche überhaupt in der betreffenden Spe-
zies differenziert sind. Da die Nukleolen Reserve-
stoffe sind, so ist dies nicht verwunderlich : denn
allgemein werden in den Eizellen soviel Reserve-
stofife aufgespeichert, daß die männlichen Zellen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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reservestofffrei bleiben können. Die Nukleolen
treten in den einzelnen Kernen in verschiedener
Anzahl auf, gewöhnlich sind es I — 3, zuweilen
auch mehr, so bei Lilium Martagon bis 30 ; ihre
Größe schwankt von der unteren Grenze der
Sichtbarkeit bis zu 5 //. Daß sie mehr oder
weniger zähflüssig sind, geht daraus hervor,
daß -sie sich beim Durchwandern der Sterigmen
der Basidiomyzeten stark deformieren.
Daß die Nukleolen rein ergaslische Ge-
bilde sind, wird jetzt wohl allgemein angenom-
men; schon 1891 hat Korscheit diese Auf-
fassung einmal ausgesprochen , und die neueren
Untersuchungen von ArthurMeyerundKiehn
haben die Richtigkeit der Annahme bestätigt.
In der Tat sind die Nukleolen rein ergastische
Gebilde, die im Zellkern völlig neu gebildet und
vollständig gelöst werden können. Sie bestehen
aus Eiweißstoffen, welchen unter den makro-
chemisch bekannten Eiweißstoffen die Nukleo-
proteide mikrochemisch am meisten gleichen.
Es ist wahrscheinlich , daß die Eiweißstoffe der
verschiedenen Nukleolen einer chemischen Gruppe
angehören, wenn sie auch wohl unter sich so ver-
schieden sein können wie die Globoide der ver-
schiedenen Samen. Einstweilen müssen sie als
Kernkörpereiweiße bezeichnet werden.
Die Versuche, welche bestätigten, daß die
Nukleolen ergastisch sind und zwar Reservestoffe,
waren teils Hungerversuche, teils handelte es sich
um die Untersuchung der verschiedenen Organe
und Gewebe während der normalen Entwicklung.
Bemerkenswert ist, daß an Kiehns Versuchs-
pflanze Galtonia große Nukleolen dort auftreten,
wo keine oder nur kleine Eiweißkristalie vor-
kommen, und umgekehrt. Die frühzeitige Auf-
lösung der Nukleolen und Eiweißkristalle bei der
Kernteilung i>t vielleicht — abgesehen davon, daß
die Stoffe wohl zum Teil bei der Kernteilung
verbraucht werden — vorteilhaft, weil beide Ge-
bilde wohl bei der Ausbildung und Bewegung
der Kernteilungsfigur stören. Im übrigen scheint
es, als ob das Kernkörpereiweiß vorzüglich auch
beim Wachstum des ganzen Proioplasten ver-
wendet wird.
Gegen diese Auffassungen sagen die für die
tierischen Zellen bekannten Tatsachen nichts
aus, im Gegenteil, einige können sogar als be-
sondere Stützen herangezogen werden. So sind
analog den an Pflanzen ausgeführten auch an
Tieren Hungerversuche angestellt; und in beson-
deren Zellarten sind besonders große Nukleolen
gefunden, die offenbar als Reservestoffe zu be-
trachten sind, z. B. Eizellen.
Hiermit wäre nunmehr die Reihe orgastischen
Eiweißante erschöpft; es findet sich jedoch außer-
dem in dem Protoplasten noch eine beträchtliche
Menge von Eiweißstoffen in amikrosko-
pisch feiner Verteilung. Diese Stoffe könn-
ten ja nun am Aufbau der lebenden Substanz
beteiligt sein! Wir wollen sehen, wie sich Arthur
Meyer zu dieser Frage stellt.
„Es läßt sich nun in der Tat zeigen, daß die
zur Gewohnheit gewordene Anschauung, die
Eiweißkörper dienten für den Aufbau der ver-
erbbaren Struktur der Zelle, irgendwelche Beweise
nicht vorliegen, und daß es sogar viel wahrschein-
licher ist, daß die Eiweißkörper keine Bausteine
der lebenden Substanz sind, sondern ausschließlich
ergastische Stoffe. Die kritische Durchsicht der
rnakrochemischen Untersuchungen über die Zusam-
mensetzung der Organe des Protoplasten . . . zeigt
uns, daß die Arbeiten keinen Beweis für die Be-
teiligung der Eiweißkörper am Aufbau der leben-
digen Substanz enthalten. Ferner zeigt die kriti-
sche Durchsicht der chemischen Arbeiten, daß
die von den Chemikern aus pflanzlichen und tieri-
schen Zellen gewonnenen Eiweißkörper sicher zum
allergrößten Teil von ergastischen Gebilden der
Zellen stammen, und daß es in ganz wenigen
Fällen zweifelhaft bleibt, ob es so ist oder nicht."
Besondere Schwierigkeiten macht die Erledi-
gung dieser Frage bei den Nukleoproteiden.
Die Meinung, daß die Nukleinsäure zu den wich-
tigsten Bausteinen der Substanz des lebenden
Zellkernes gehört, ist verbreitet. Kos sei z. B.
schreibt, daß die Nukleinsäure nur in dem Zell-
kern vorkomme und ihn besonders charakterisiere.
Diese Angaben sind jedoch nicht richtig. Nuklein-
säure scheint sich auch im Zytoplasma und in
ergastischen Gebilden zu finden. So z. B. scheint
das im Plasma vorkommende, in den Zellkernen
dagegen fehlende Volutin eine Nukleinsäureverbin-
dung zu sein. Andererseits hält Arthur Meyer
es für ausgeschlossen, daß eine einzelne chemische
Verbindung, die so massenhaft vorkommt wie die
Nukleinsäure, die so überaus kompliziert gebaute
Zelimaschine aufzubauen imstande sei. Daß die
Nukleoproieide ergastische Substanzen sind, dafür
spricht auch das, was wir von der Verteilung
der wichtigsten Reservestoffe in den Organen der
Zelle wissen: Im Zytoplasma sind stets Kohle-
Abb. 10. Kern aus dem Ei einer Patella-Spezies mit Nukleolen.
hydrate, meist auch F"ette enthalten, in den Chro-
matophoren Kohlehydrate und Eiweiß. Den Ker-
nen fehlen dagegen Fette und Kohlehydrate, nur
Eiweißkristalle kommen hier und da als ergastische
Gebilde vor. Da ist doch nun nichts wahrschein-
licher, als daß die Nukleoproteide die ergastischen
638
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
Substanzen sind, welche eine ähnliche Rolle in
den Kernen spielen, wie die Fette und Kohle-
hydrate in den übrigen Organen der Zelle. Ferner
sind die Nukleinsäureverbindungen in wachsenden
Organen in größeren IVIengen vorhanden. Es ist
nun aber nicht nötig, daß die Nukleinverbindungen
erheblich angegriffen werden, wenn ein Organis-
mus hungert. Man kann zwar aus dem schnellen
Verschwinden einer Substanz im Hungerzustande
schließen, daß sie ein Reservestoff ist, aber nicht
aus dem langsamen Verbrauch , daß sie kein Re-
servestoff ist; denn sie könnte ja etwa für den
Betrieb der nicht wachsenden Zelle unwichtig sein
und nur für den Aufbau neuer Organe des Proto-
plasten gebraucht werden. Wichtig ist schließ-
lich auch noch, daß Fälle bekannt sind, in denen
den Chromosomen des Zellkernes Nuklein?äure
fehlt. Insgesamt dürfen wir also wohl annehmen,
daß für die Ansicht, die Nukleinsäureverbindungen
seien am Aufbau der lebenden Substanz beteiligt,
nicht der geringste Beweis vorliegt, daß aber die
Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, daß die Nuklein-
säureverbindungen ergastische Substanzen sind.
Überblicken wir das Gesagte nochmals, so
dürfen wir nunmehr wohl mit einigem Rechte
sagen, daß alle Eiweißkörper ergastisch
sind. Arthur iVIeyer nennt daher die im
Plasma gelösten Verbindungen ergastische Organ-
stoffe.
Es könnten hiergegen zwar noch immer Ein-
wendungen gemacht werden. Jedoch ich erinnere
zunächst an die schon erwähnte Widerstands -
fähigkeit der lebenden Substanz in
Bakteriensporen gegen hohe Temperaturen.
Es könnte auch die Tatsache, daß bei sero-
logischen Untersuchungen die Gleichheit,
Ähnlichkeit und Verschiedenheit der in den Spe-
zies enthaltenen Eiweißkörper den Grad der mor-
phologischen Verwandtschaft der Spezies bis zu
einem gewissen Grade wiederspiegelt, als Gegen-
beweis herangezogen werden. Jedoch haben auch
die sicher ergastischen Stoffe der ergastischen Ge-
bilde (wie der Aleuronkörner) ganz den gleichen
verwandtschaftsdiagnostischen Wert.
Merkwürdig ist auch, daß die Pflanze die
Moleküle des Sameneiweißes bei der
Keimung der Samen stets sehr weitgehend
zerspaltet, viel weitgehender, als es zum Zweck
der Wanderung nötig ist. Vielleicht geschieht
dies wegen des damit verbundenen Energie-
gewinnes.
Schließlich ließe sich gegen die Arthur Meyer-
sche Hypothese noch einwenden, daß in aus-
gehungerten Geweben auch nach dem Tode
noch Eiweiß vorkommt. Da aber durch den At-
mungsprozeß zuerst die Kohlehydrate verzehrt
werden und erst zuletzt die Eiweißkörper, so ist
es selbstverständlich, daß einzelne Zellen der Ge-
webe aus Mangel an Reserven zugrunde gehen
und den Tod der Gewebe bedingen, ehe alles
Eiweiß der Gewebe aufgezehrt ist.
Um ein genaueres Bild von diesen Verhält-
nissen zu geben, sei es mir gestattet, einige
zahlenmäßige Angaben über die Größe des Kerns,
der Chromatophoren und des Zytoplasmas in den
Palisadenzellen von Tropaeolum malus
die ich seinerzeit für Arthur Meyer untersucht
habe, anzufügen :
Es beträgt das Volumen (in einer Zelle)
dunkelgr. Blatt gelbes Blatt Abnahme
der reinen Kernsubstanz 53,3 «^ 32,3 »^ 38 "/„
der Gesamtchloroplasten-
substanz 493 11^ 191 /r> 61 "/o
des Zytoplasmas 244 //^ 90 /i'^ 63 "/„
der Nukleolen 2,0 »^ 2,1 ir' o %
Abb. II. Kern (a) und Chloroplasten (b) aus den Palisaden-
zellen des dunkelgrünen Blattes von Tropaeolum malus, nach
Benda-Fixage und Heidenhain-Färbung. 2600 fach vergr.
m:-
■7^
A^^
Abb. 12. Kerne (a) und Chloroplasten (b) wie in Abb. u,
aber aus gelbem Blatt.
Also beträchtliche Mengen von Eiweiß sind aus
den Zellen abgewandert oder verbraucht, die
Nukleolen , deren Abbau offenbar besonders
schwer für die Zelle ist, sind jedoch noch un-
berührt geblieben.
Die ergastische Natur der übrigen orga-
nischen Verbindungen im pflanzlichen und
tierischen Organismus, also die der Kohlehydrate,
Fette, der Sekrete, des Kalziumoxalats usw. ist
schon längst allgemein anerkannt; auf die Be-
handlung dieser Stoffe in dem Arthur Meyerschen
Werke möchte ich daher nicht mehr näher ein-'
gehen. F'ür unsere heutigen Zwecke, als Grund-
lage für die Viiülhypothese, genügt das Gesagte
vollkommen.
Arthur Meyer ist also zu dem Schlüsse ge-
kommen, daß alle organischen Verbin-
dungen, die sich in den lebenden Zellen finden,
ergastisch und somit tot sind. Das zwingt
ihn nun zu der Annahme, daß außer den Mole-
külen noch andere Gebilde vorhanden sein müssen.
Soweit es für das Verständnis seiner Hypothese
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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nötig ist, wollen wir hier seinen Überlegungen
folgen :
Der Protoplast muß eine höchst kompliziert
gebaute Maschine sein. Dafür spricht die ungemein
mannigfaltige Reaktionsfähigkeit gegen äußere
Agentien und die ungeheuer mannigfaltigen und
feinen Auslösungsvorgänge, ferner die Tatsache,
daß sich aus jeder Eizelle der IVlillionen von Or-
ganismenspezies stets wieder ein Individuum der
gleichen Spezies entwickelt. Und der solche
Mannigfaltigkeiten bedingende Bau des Protoplasten
ist so fest gefügt, daß der Protoplast seine Ar-
beitsfähigkeit in gleicher Weise durch Millionen
von Jahren beibehält.
Da der Protoplast aus physiologisch homo-
genen Flüssigkeiten besteht, von denen man
Stücke ohne Schädigung der Maschine abtrennen
kann — ich erinnere nur an die bekannten Ver-
suche mit dem Trompetentierchen Stentor — , so
kann die Maschinenstruktur nicht ein zusammen-
hängendes System sein, das den ganzen Proto-
sten Bakterienzelle wiegt 2,7- lO''''' mg, davon sind
mindestens ^/^ ergastisch, also für die Vitüle blei-
ben höchsten 6,75 -10^'*, und nehmen wir nur
10 Vitüle im Protoplasten an, so würde also ein
Vitül höchstens 6,75-10""'^ wiegen. Damit ist
zum mindesten die Größenordnung großer Eiweiß-
moleküle erreicht (ein Molekül des Hundehämo-
globins würde 1,4- lO~'' mg wiegen). Bei Zu-
grundelegung des Zellkerns von Pseudomonas
olivae (0,04 .« Durchmesser) würden wir noch
kleinere Zahlen erhalten.
Trotz der geringen Größe müssen die Vitüle
aber ungemein kompliziert gebaut sein, wenn
sie die Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen
ermöglichen sollen. Zu einem derart komplizierten
Bau kann aber die verhältnismäßig geringe Zahl
von Molekülen oder Atomen, welche in einem
Vitül enthalten sein könnten, nicht ausreichen.
Und somit müssen wir annehmen, daß die Vitüle
aus anderen Elementarbestandteilen aufgebaut sind.
Arthur Meyer denkt sich ein Vitül, ähnlich
Abb. 13. Regeneration bei einem in 3 Stücke, a, b, c, zer-
schnittenen Stentor.
plasten einnimmt, sondern es muß die Maschinen-
struktur, durch welche die Leistung des Proto-
plasten zustandekommt, in jedem der groben
Maschinenteile, im Zytoplasma, Zellkern, eventuell
auch in den Trophoplasten mehrfach vorhanden
sein. Die Gebilde, welche die vererb-
bare Maschinenstruktur besitzen und in
einem einkernigen Protoplasten mehrfach vor-
handen sind, nennt Arthur Meyer ,, Vitüle";
In allen Organen sind also neben den Mole-
külen der ergasiischen Substanzen noch Vitüle
vorhanden, und zwar, da die Organe verschiedenes
leisten, in jedem Organe besondere Vitüle: Zyto-
plasma vi tül e, Kernvitüle, Tropho-
plastenvitüle. Die Vitüle werden je nach
ihrer Lage im Plasma, wenn auch nur äußerst
wenig verschieden sein, da Änderungen in der
Beschaffenheit ihrer Umgebung geringen Einfluß
haben müssen.
Diese Vitüle müssen nun ungemein kleine
Gebilde sein. Die Trockensubstanz einer klein-
Abb. 14. Schema der amikroskopischen Struktur des Zyto-
plasmas nach Arthur Meyer. V Vitüle, M Moleküle des
Wassers, f des Fettes, k der Kohlehydrate, Ch des Choleste-
rins, 1 des Lezithins, e der dispersen Teilchen der kolloiden
Proteinstotfe und anderer Lyosole, m verschiedenster Stoffe.
(Die Größenvethältnisse der Kreise sind bedeutungslos, ebenso
die Kreisform selbst; die Zeichen in den Vitülen sollen be-
deuten, daß die Vitüle, je nach ihrer Lage im Zytoplasma
etwas, wenn auch äußerst wenig, verschieden sein werden.)
wie ein Atom als ein System von in Bewegung
begriffenen Elektronen aufgefaßt wird, als ein sehr
kompliziertes bewegtes System von kleinsten
Realitäten, die er Mionen nennt. Während die
Masse eines Elektrons etwa 2000 mal kleiner als
die eines Wasserstofifatoms ist, müßte seiner Mei-
nung nach ein Mion wohl mehr als 20GOmal
weniger Masse besitzen als ein Elektron, wenn die
Mionen zum Aufbau eines so komplizierten Systems
brauchbar sein sollen, wie es ein Vitül sein muß.
640
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
Die Mionen sind auch vielleicht die
Ursache von Energieformen, welche die
Physik noch nicht untersucht hat, Energieformen,
welche die Eigenartigkeit der Lebenserscheinungen
mit hervorrufen.
Solche Energieformen sind auch von anderen
Forschern schon früher angenommen : So spricht
Ostwald von Nerve nenergie, die er aus
chemischer Energie entstanden denkt, IVIares
von physiologischer Energie, andere von
biotischer, psychischer und Lebens-
energie.
Da eine Zelle ins Ungeheuere wachsen kann,
so ist es selbstverständlich, daß ihr immerzu
Mionen zufließen müssen. Diese IVIionen
können nur durch Zertrümmerung von Atomen
gewonnen werden, zu der dem Protoplasten Ener-
gie, welche durch Atmungsprozesse frei wird, zur
Verfügung steht.
Welche Moleküle und Atome zur Zertrümme-
rung benutzt werden, kann man fragen. Vielleicht
können alle Atome der zum Leben des Proto-
plasten absolut notwendigen Elemente benutzt
werden, und vielleicht hängt damit die auffallende
Tatsache, daß diese alle ein niedriges Atomge-
wicht besitzen, zusammen.
H— I C— 12 Mg — 24 K— 39
N — 14 P — 31 Fe — 56
O— 16 S — 32
Da man annehmen muß, daß die Mionen
nur innerhalb der lebenden Zelle exi-
stenzfähig sind und beim Absterben des Proto-
plasten in den Zustand der in der toten Natur
beständigen raumerfüllenden kleinsten Realitäten
übergehen, so werden sich also aus den Bruch-
stücken der Vitüle chemische Substanzen bilden,
die wir hernach bei der chemischen Untersuchung
des getöteten Protoplasten finden werden. Solche
aus Bestandteilen der Vitüle entstandenen che-
mischen Substanzen nennt Arthur Meyer
„vitülogene Stoffe".
Bei dem Prozeß der Entstehung von vitülo-
genen Stoffen aus Vitülen muß nun Energie frei
werden, wahrscheinlich in Form von Wärme.
Versuche, eine Wärmetönung des Todes fest-
zustellen, haben bisher fz. B. mit Vogelblut-
körperchen) zwar noch keinen positiven Erfolg
gezeitigt, vielleicht könnte es aber gelingen mit
Zellen, die an ergastischen Stoffen arm sind, z. B.
Seeigelsperma.
Als zusammenfassenden Überblick möchte
ich nun zum Schluß noch das folgende Schema
geben :
Protoplast
lebende Substanz ergastische Organstoffe
Vitül
Mion
Molekül
I
Atom
I
Elektron
Atome der vitülogenen Substanzen
Erwähnt sei noch, daß Arthur Meyer
wünscht, daß die Vitüle nun in der gleichen Weise
untersucht und für sie analog den chemischen
Formeln Strukturformeln aufgestellt würden , aus
denen die Eigenschaften der Vitüle zu erkennen
seien. Das stößt naturgemäß auf ungeheuere
Schwierigkeiten, da ja dazu die Physiologie und
sogar die Psychologie herangezogen werden müßte,
andererseits der lebende Protoplast, in dem allein
doch die Mionen und somit die Vitüle existenz-
fähig sind, der Untersuchung zu schwer zugäng-
lich ist.
Überblicken wir schließlich die Vitülhypothese
noch einmal von einem anderen Gesichtspunkte,
so können wir feststellen, daß sie sich von allen
bis jetzt aufgestellten Hypothesen, in denen kleinste
Teilchen zur Erklärung der Lebenserscheinungen
benutzt wurden, ganz wesentlich dadurch unter-
scheidet, daß sie eine Forderung der mikro-
skopischen Anatomie ist, daß sie nicht
nur Einzelerscheinungen erklären will
und ganz auf dem Boden des physikali-
schen Hypothesengebäudes bleibt.
Joseph Petzoldt.
rN»chdr"clc verboten. 1 Von Prof. A. Angersbacll, Weilburg.
Der bekannteste Vertreter einer ganz in der Nachdem P., der Sohn eines Altenburger Kauf-
Erfahrung wurzelnden, streng biologisch und mannes, das Gymnasium seiner Vaterstadt besucht
psychologisch gerichteten Weltanschauung, der hatte, widmete er sich auf den Hochschulen zu
gewandle Verfechter des relativistischen Stand- Jena, München. Genf, Leipzig und Göttingen mathe-
punktes, schließt am 22. November sein 60. L' bens- malischen, naturwissenschaftlichen und philoso-
jahr ab. Den Lesern der Naturw. Wocheiischr., phi^chcn Studien, promovierte 1S90 und fand I^9^
derjenigen Zeitschrift, die mit größter Wärme lür am Gymnasium zu Spandau eine Anstellung als
die positivistische Lehre eingetreten ist, wird ein Oberlehrer. Ah dieser Anstalt wirkte er, bis auf
Ubi rblick über das Lebenswerk des Philosophen die während des Wellkrieges in Belgien verbrachten
nicht unwillkommen sein. Jahre, dauernd — seil 190t) als Professor — ; 1904
N. F. XXI. Nr.
^1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
641
übernahm er auch noch eine philosophische Do-
zentur — seit 1920 Professur — an der Tech-
nischen Hochschule zu Charlottenburg.
Als Student faßte P. den physikalisch einwand-
freien Gedanken, daß die in einem möglichst ge-
schlossenen Systeme sich A)spielenden Vorgänge
auf Verwirklichung von Dauerformen hinzielen.
Den gleichen Gedanken fand er in dem Fech-
n ersehen „Prinzip der Tendenz zur Stabilität"
wieder, das in der aus dem Jahre 1873 stammenden
Schrift „Einige Ideen zur Schöpfungs- und Ent-
wicklungsgeschichte der Organismen" formuliert
ist. Fechner glaubte in der Dauerfähigkeit das
objektive IVIerkmal des „Zwecks" gefunden zu
haben und suchte damit die Darwinsche Lehre,
in der das durch den Kampf ums Dasein Aus-
gelesene auch als das Zweckmäßige erscheint, zu
vertiefen.
18S6 nun zeigte P. in seiner ersten philoso-
phischen Veröffentlichung, „Zu R. Avenarius'
Prinzip des kleinsten Krafimaßes und zum Begriff
der Philosophie", daß R. Avenarius in seiner
Schrift ,, Philosophie als Denken der Welt gemäß
dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes; Prolegomena
einer Kritik der reinen Ei fahrung" (1876) das
Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zu unvermittelt
eingeführt habe und es besser im Fechnerschen
Satze verankert hätte. Ferner betonte er, daß
das Wesentliche des philosophischen Denkens
nicht allein in der Richtung auf die Gesamtheit
des Seienden zu erblicken sei, wie Avenarius
meint, sondern in der Verbindung dieser Richtung
mit dem Streben, möglichst vorurteilslos an das
Gege ene heranzutreten und dieses in seiner Einzel-
erscheinung immer mit dem Blick auf das Ganze
zu erfassen.
P. erwarb sich durch seine Abhandlung die
innige Freundschaft Avenarius'. Noch ehe er
sich aber mit dessen 1888 und 1890 erschienenen
„Kritik der reinen Erfahrung" eingehend be-
schäftigt hatte, veröffentlichte er seine Doktor-
arbeit „Maxima, Mmima und Ökonomie" (1890).
Mancherlei Sätze der Physik, insbesondere die
Grundsätze der Mechanik, machen den Eindruck,
als bevorzuge die Natur ausgezeichnete Größen,
Maxima oder Minima, als offenbare sie eine weise
Ordnung. F. zeigt, daß jene Sätze nichts anderes
ausdrücken als die eindeutige Bestimmtheit
des Naturgeschehens. Nun gibt es aber
auch Vorgänge, bei denen wir ein wirkliches
Sparen von Kräften beobachten. Dieselben sind
nur als durch längere oder kürzere Entwicklung
vermittelte zu begreifen. Darwins Lehre war
der erste umfassende Versuch, die Entwicklung
der Lebewesen verständlich zu machen. Fechner
suchte sie durch sein genanntes Prinzip, zu dem
auch einige von Zöllner aufgestellte allgemeine
Sätze in lehrreicher Beziehung stehen, sowie durch
die Prinzipe der „bezugsweisen Differenzierung"
und der , abnehmenden Veränderung" zu vertiefen.
Nach einer eingehenden Untersuchung dieser
Ökonomiesätze geht P. zur Festlegung des Ent-
wicklungsbegriffes über. Als Entwicklungsfaktoren
unterscheidet er die durch das augenblickliche
Gefüge des Organismus bedingten Tendenzen
und die zwischen den Tendenzen sich abspielenden
Konkurrenzen, die bei Entwicklungsabschluß
zu einem stationären Zustand fuhren. Als
Entwicklung selbst ist der Weg zu verstehen,
den die Resultante vom Beginne des Wettbewerbes
bis zum Eintritt des Dauerzustandes nimmt. Der
psychophysische Parallelismus gestattet das Stabi-
litätsprinzip auch auf das geistige Gebiet zu über-
trafen. Und hier ist dasselbe entschieden vorteil-
hafter als etwa der von Mach geprägte Begriff
der Denkökonomie oder der von R. Avena-
rius herangezogene Begriff des kleinsten
Kraft maße s. Auch für die Grundlegung von
Ethik und Ästhetik erweist es sich al« das um-
fassendere. Nicht Maxima, Mmima und Ökonomie,
sondern Eindeutigkeit und Dauer fähigkeit
heben die Seiten der Wirklichkeit hervor.
Mach wurde durch diese Arbeit so angezogen,
daß er sich in verschiedenen Werken eingehender
mit ihr beschäftigte und dem jungen Philosophen
ebenfalls seine dauernde Freundschaft gewährte.
Staudingers prächtiges Werk ,,Die Gesetze
der Freiheit" (1887) gab P. Anlaß zu der umfang-
reichen Arbeit , Einiges zur Grundlegung der
Sittenlehre" (1893/94). Hatte Staudinger seine
Ethik auf den Begriff des „Widerspruchs"
aufgebaut und in dem durchgängigen wider-
spruchsfreien Zusammenhange aller Zwecke inner-
halb der menschlichen Gemeinschaft das höchste
Gut erblickt, so baute P. seine Sittenlehre durch-
aus auf objektiver Grundlage auf und zwar
auf drei von der Wissenschaft anerkannten all-
gemeinen Sätzen, dem Satze vom psychophysischen
Parallelismus, dem Enetgieprinzipe und dem Fech-
nerschen Stabilitätssatze. Hatte Avenarius in
seiner „Kritik der reinen Erfahrung" auf Grund
seiner Vitalreihenlehre, die ganz in den Rahmen
des Stabilitätsbegriffes fällt, das Entwicklungsziel
der Menschheit formal nach der physischen
Seite zu bestimmen gesucht, so wagt P. es nun
auch, den psychischen Dauerzustand zu be-
schreiben, insbesondere den sittlichen Ideal-
zustand, den uns verpflichtenden Zustand, den
Staudingerschen Zustand der Widerspruchslosig-
keit aller Zwecke.
1895 veröffentlichte P. die bedeutungsvolle Ab-
handlung ,,Das Gesetz der Eindeutigkeit". Wer
in der vollständigen Beschreibung der Tatsachen
die Aufgabe der Naturwissenschaft sieht, muß
vieldeutige und unklare Begriffe wie die der Ur-
sache und der Wirkung ablehnen. Wundts
Versuch, die letzteren für die Physik zu retten,
ist mißlungen. Die vorbildliche Form der Be-
schreibung ist die physikalische Gleichung. In
ihr treten die betjrifflichen Bestimmungselemente
als voneinander abhängig auf; und zwar ist die
Abhängigkeit eine rein logische, streng gegen-
seitige, simultane. Wenn trotzdem die physika-
lische Gleichung auch die stetige Aufeinanderfolge
642
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
innerhalb eines Vorgangs zum Ausdruck bringt,
so liegt das daran, daß sie durch Änderung irgend-
eines ihrer Parameter, insbesondere des Zeitpara-
melers, die Form nicht einbüßt. Eine rein logische
Abhängigkeit zeigt sich auch noch in einer zweiten
Beziehungsgruppe, in der zwischen Gehirn- und
Seelenzuständen. Darf man aber der Natur eine
durchgängige Bestimmtheit zuschreiben?
Mach zweifelt daran. Aber die Erhaltung des
Einzelmenschen und der menschlichen Gesamtheit
sowie das Bestehen der Wissenschaften sind ohne
jene allgemeine Bestimmtheit undenkbar. Wir
müssen die Eindeutigkeit des Geschehens for-
dern. Das Gesetz der eindeutigen Bestimmtheit
beleuchtet aufs schärfste die Tatsache, daß Be-
wegungen als ausgezeichnete Fälle erscheinen, es
klärt den Sinn des Hertzschen Grundgesetzes der
Mechanik auf, nicht minder den des Trägheits-
satzes, es ist unentbehrlich für die Begründung
des Energiegesetzes und ist die Wurzel des psycho-
physischen Parallelismus; ja selbst die logischen
Sätze der Identität und des Widerspruchs setzt
er in ein helleres Licht.
R. Avenarius hatte _ sich in seiner „Kritik
der reinen Erfahrung" die Aufgabe gestellt, die
Idee der reinen Erfahrung und die Berech-
tigung der in ihr gelegenen Forderung sowie die
Aussichten auf deren Verwirklichung zu prüfen.
Aber seine Untersuchung sprengte diesen Rahmen
und weitete sich aus zu einem Versuch, die Grund-
lagen einer Theorie des menschlichen Erkennens
und Handelns, ja die einer Wissenschafislehre über-
haupt zu bereiten. Dabei beherrschte ihn die
Einsicht, daß ,, etwas wissenschaftlich begreifen"
nicht nur darin besteht, es „auf Bekanntes zurück-
zuführen", sondern es auch ,,als eindeutig be-
stimmt zu denken". Das der Eigengesetzlichkeit
entbehrende psychische Geschehen muß daher
gewissermaßen als ,,m ath ematische Funktion
nervenphysiologischer Vorgänge" aufgefaßt werden.
So wagt es denn Avenarius im 1. Bande seines
Hauptwerkes eine Naturgeschichte des Hirnlebens
zu geben. Als dessen Grundvorgang entdeckt er
die unabhängige Vital reihe. Der 2. Band
ist dann dem parallel verlaufenden psychischen
Geschehen gewidmet, dem die abhängige
Vitalreihe zugrunde liegt.
Im „Menschlichen Wehbegriff" (1891) führt
Avenarius die Spaltung der natürlichen Einheit
der empirischen Welt in „Innen- und Außenwelt",
„Objekt und Subjekt" auf „In troj e kt ion" zu-
rück. Die eine Tatsache, die Tatsache der Wahr-
nehmung von Sachen, wird dabei in zwei ge-
spalten, in Sache und Wahrnehmung; jene wird
der Außen-, diese der Innenwelt zugerechnet, zu
beiden aber werden absolute Träger hinzugedichtet.
Eine solche Verfälschung der Wirklichkeit kann
nur durch Ausschaltung der Introjektlon rück-
gängig gemacht werden. Die endgültige Aus-
schaltung aber führt den unveränderlichen Welt-
hegriff herbei.
Die Form der Avenariusschen Werke konnte
den Leser nicht anziehen. Die Systematisierung
war dem Philosophen wichtiger als eine die Unter-
richtsregeln befolgende Einführung. Eine ganz
neue, umfangreiche Fachsprache erschwerte das
Eindringen. Ein lapidarer, das Wesentliche und
Unwesentliche gleichtnäßig umfassender Stil ließ
das Bedeutungsvolle nur schwer erkennen. Die
Beweisführung war nicht selten umständlich.
Carstanjen hatte eine lesbare Wiedergabe der
Kritik der reinen Erfahrung versucht, war aber
über einen Auszug kaum hinausgekommen.
M. Klein hatte in freier, allgemeinverständlicher
Form eine Reihe schöner, auch jetzt noch lesens-
werter Aufsätze über die neue Lehre in der
Natur w. Wochenschr.*) gebracht, hatte aber seine
Tätigkeit zu früh eingestellt.
In seiner ,, Einführung in die Philosophie der
reinen Erfahrung" (1899 und 1904) nun gab P.
der Lehre Avenarius' nicht nur die ansprechende
Form, sondern unterzog sie auch einer gründ-
lichen Beurteilung, um sie zu läutern und weiter
auszubilden. Der erste, von der Bestimmtheit
der Seele handelnde Abschnitt des ersten Bandes
weist wieder nach, daß das eigener Bestimmungs-
elemente entbehrende geistige Geschehen ohne
den psvchophysischen Parallelismus unverständlich
ist. Der zweite Abschnitt ist der Kritik und
dem Ausbau der Avenariusschen Einteilung der
psychischen Grundformen und deren Abhängig-
keit von den nervösen Grundprozessen, den un-
abhängigen Vitalreihen, gewidmet. Hier gelangt
P. vielfach zu erheblich abweichenden Auffassungen,
deren Aufzählung wir uns versagen müssen.-) Er-
wähnt sei nur, daß er durch seine Begriffe der
physischen und psychischen „Bestände" weit
tiefer in das Wesen des „Begriffs" und der „Be-
griffsentwicklung" eindringt. Dabei entdeckt er,
daß Enge und Einheit des Bewußtseins die
gleiche Wurzel haben, daß sie nichts anderes aus-
drücken als die bis an die Grenzen des Möglichen
gesteigerte Fähigkeit des Hirns, im Falle einer
Bedrohung alle Kräfte in den Dienst der Erhal-
tung zu stellen. F'erner nenne ich die lehrreichen
Untersuchungen über das Verhältnis zwischen
Sprache und Denken, über das „Wiedererkennen" ,
usw. Der zweite Band mit dem Untertitel ,,Auf
dem Wege zum Dauernden" handelt zunächst
vom Auslaufen der Entwicklungsvorgänge in
Dauerzustände. Die Regelmäßigkeiten des Geistes-
lebens sind nur als Entwicklungsergebnisse ver-
ständlich. Der Mensch selbst ist in lebhafter
Entwicklung begriffen. Daß er bei gesügender
Konstanz des irdischen Systems einer Dauerform
entgegengeht, ist eine Forderung des Stabilitäts-
satzes, der selbst wieder in zwei Grundtatsachen
wurzelt: in der Eindeutigkeit des Naturgeschehens
') Bd. IX, S. 1 — 6; Bd. .\, S. 453-462; Bd. XI, S.377
bis 382; S. 389—394; S. 425 — 430; siehe auch Bd. IX,
S. 301 — 309!
2) Naturw. Wochenschr. N. K., Bd. IV: Angersbach,
Das Verhältnis zwischen Psychischem und Physischem nach
Avenarius und Pet^oldl.
N. F. XXI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
643
und in der „von selbst" sich vollziehenden Ab-
nahme aller physikalischen Differenzen. Da sich
der Dauerzustand nach der formalen Seite hin
erschließen läßt, so sind damit die Grundlagen
für Ethik, Ästhetik und Erkenntnislehre gegeben.
Meisterhaft und überaus spannend ist die Dar-
stellung der Dauerbestände der Seele. Besonders
interessiert die Beantwortung der Frage nach der
zu erwartenden Weltanschauun g. Diese darf
als allgemeine und dauernde keine Teile oder
Seiten enthalten, die mit gleichem Rechte durch
andere ersetzbar sind. Die Erfahrung ist die allei-
nige Erkenntnisquelle. Das Gegebene, bzw. die
Elemente des Vorgefundenen, sind die irgendwie
charakterisierten Empfindungen, aber nicht
die Empfindungen im Sinne eines rein Subjektiven,
rein Psychischen, sondern im Sinne des naiven
Realismus ohne dessen animistische Beimengung.
Einer Substanz als Trägers der Eigenschaften be-
darf es daher nicht. Da jeder Begriff ohne einen
Gegenbegriff sinnlos ist, ist ein Psychisches ohne
ein Physisches undenkbar; beide sind nicht als
seiende oder absolute Gegensätze, sondern
lediglich als logische oder relative aufzu-
fassen. Bemerkt sei, daß P. den hier angedeu-
deten Grundfehler des Idealismus und Materialis-
mus noch in der Schrift „Solipsismus auf prak-
tischem Gebiet" (1901) einwandfrei nachgewiesen
hat. Eine haltbare Weltanschauung kann nur
relativistischer Art sein. Glaubte Avenarius
noch das Weltproblem durch einen positiven Be-
griff lösen zu können, so lehnt P. diese Auf-
fassung ab, die Ge-amtheit des Gegebenen ist
aus Mangel an einem Gegenbegriff jeder Kenn-
zeichnung unfähig. Damit wäre denn das Welt-
problem in derselben Weise aus der Philosophie
ausgeschaltet wie die Quadratur des Kreises aus
der Geometrie oder das Perpetuum mobile aus
der Mechanik.
1906 hielt P. lehrreiche Vorlesungen bei den
Hochschulkursen in Salzburg. Im selben Jahre
veröffentlichte er ,,Das Weitproblem vom posi-
tivistischen Standpunkte aus", ein Werk, das
später als 14. Band der Sammlung ,, Wissenschaft
und Hypothese" zwei Neuauflagen (1912 u. 192 1)
erlebt hat. Diese einzigartige Schrift sucht die
Geschichte der Philosophie unter dem Gesichts-
punkte der Entwicklung und Rückbildung des
Substanzbegriffes aufzufassen. Mit größter
Spannung verfolgen wir die Wege, die von der
vorwissenschaftlichen Weltanschauung zur wissen-
schaitlichen führen. Aber diese wird durch die
Substanzvorstellung in mannigfaltiger Weise ge-
trübt und befreit sich erst auf höchst verschlun-
genen Wegen von ihr. Mach, Avenarius und
Schuppe sind die drei Philosophen, die den
Substanzbegriff endgültig ausschalten, dem Goeihe-
schen Ausspruche „Ort für Ort sind wir im Innern"
eine feste Grundlage und der Geschichte der Philo-
sophie einen natürlichen Abschluß geben.
Im vollen Einklang mit der Lehre des rela-
tivistischen Positivismus steht die Entwicklung
der Mathematik und Physik. Jener ist es ge-
lungen, „ihre Beweise rein begrifflich zu gestalten,
sie von räumlicher Anschauung und Konstruktion
vollständig unabhängig zu machen", den Bezieh-
ungen das Übergewicht über die sinnlichen
Elemente zu geben. Und wenn Einstein
sein physikalisches Relativitätsprinzip
aufgestellt hat, so hat er damit eine Forderung
zu erfüllen gesucht, die Mach seit 1866 wieder-
holt ausgesprochen hat. Auch P. war stets für
diese P'orderung eingetreten. In der lehrreichen
Abhandlung „Die Gebiete der absoluten und rela-
tiven Bewegung" (1908) betont er, daß man den
Begriff der absoluten Bewegung lediglich als De-
finition gelten lassen dürfe in der Hoffnung, er
möge der Physik auch wirklich Dienste leisten;
ferner liefert er den Nachweis, daß L. Langes
Versuch, ein Koordinatensystem aufzufinden, in
bezug auf welches ein lediglich seiner Trägheit
unterworfener Massenpunkt sich geradlinig und
gleichförmig bewegt, mißglückt sei.
Daß P. einer der ersten Führer im harten
Kampfe um die neue physikalische Relativitäts-
lehre ist, dürfte allbekannt sein. Von den auf
diesen Gegenstand sich beziehenden Schriften er-
wähne ich außer der 3. Auflage des „Weltproblems"
nur die 19 14 in der Zeitschr. f. posit. Philos. er-
schienene Abhandlung ,.Die Relativitätstheorie in
der Physik" und die prächtige Arbeit „Die Stel-
lung der Relativitätstheorie in der geistigen Ent-
wicklung der Menschheit" (Sibyllenverlag, 192 1).
Wer irgend in die neue Lehre eindringen will,
muß sich unbedingt mit diesen Schriften befassen.
Der Kampf ums Relativitätsprinzip ist im Grunde
ein Kampf zwischen der relativistischen und ab-
solutistischen Weltanschauung, insbesondere zwi-
schen jener und der mechanistischen Auffassung.
P. ist weit entfernt davon, in Einsteins Lehre
die restlose Erfüllung der Machschen Forderung
zu sehen; in lehrreicher Weise zeigt er, wie Ein-
stein und Minkowski noch keineswegs sich
zum strengen relativistischen Standpunkte empor-
gearbeitet haben.
Von sonstigen beachtenswerten Schriften er-
wähne ich noch: „Die vitalistische Reaktion auf
die Unzulänglichkeit der mechanischen Natur-
ansicht" (1909), „Naturwissenschaft" im Hand-
wörterbuch für Naturwissenschaften (1912), die
„biologischen Grundlagen der Psychologie" (1914)
und „die biologischen Grundlagen des Strafrechts"
(1920).
Auch auf dem Gebiete des Unterrichtswesens
blieb P. nicht untätig. Sehr bekannt geworden
sind seine Bestrebungen, hervorragend befähigten
Schülern die zweckmäßigste Ausbildung zu ver-
schaffen; für die philosophische Propädeutik suchte
er eine neue Grundlage zu gewinnen.
Als hervorragender Organisator erwies er sich
dadurch, daß er die Freunde seiner Sache zu
sammeln verstand und im Jahre 1902 die „posi-
tivistische Gesellschaft" gründete und erfolgreich
leitete. Eine wertvolle Stütze fand er dabei an
644
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
H. Potonie, dem 191 3 verstorbenen Heraus-
geber der Naturw. Wochenschr., der selbständig
im Jahre 1891 ähnliche Gedanken wie Mach
und Avenarius ausgesprochen und seine Zeit-
schrift begeisterungsvoll der empiriokritischen
Lehre zur Verfügung gestellt hatte.') Leider be-
reitete der Ausbruch des Weltkrieges nicht nur
der von der Gesellschaft herausgegebenen Zeit-
schrift ein jähes Ende, sondern bedrohte auch
das Fortbestehen der Gesellschaft selbst. Da ge-
lang es P. 1921, seine Anhängerschaft der großen
„Kantgesellschaft" als Sonderabteilung einzu-
gliedern.
P. erfreut sich einer wunderbaren körperlichen
und geiNtigen Frische und Leistungsfähigkeit. Un-
ermüdlich wirkt er in Rede und Schrift. Weder
Enttäuschungen noch das furchtbare Schicksal,
daß seine beiden ein/igen Söhne, die, aus glück-
lichster Ehe mit Frida Kresse, der hochgebil-
deten Tochter eines Altenburger Kaufmanns
stammend, als tapfere Kämpfer und Führer den
Tod fürs Vaterland erlitten, konnten ihn dauernd
zermürben. So dürfen wir denn noch manche
reife Frucht aus seiner Hand erwarten. Nicht
ohne Befriedigung sieht er seine Lehren sich,
wenn auch langsam so doch sicher, ausbreiten,
dazu in einer Zeit, die reich an mystischen Re-
gungen ist. Seine größeren Werke erleben Neu-
auflagen und werden sogar in fremde Sprachen
übersetzt ! iVIöge er auch noch erleben, daß die
gewaltige Entwicklungsstörung innerhalb unseres
Volkes, ja innerhalb des menschheitlichen Ge-
samtverbandes, nur eine Episode sei. eine Vital-
differenz, an die sich ein lebhafteres Fortschreiten
zu neuen und gefestigteren Dauerzuständen an-
schließt 1
') Angersbach, „Zum Begriff der Entwicklung". G.
Fischer, 1912.
Angersbach, ,,Die naturw. und insbes. die naturph.
Tätigkeit H. Potonies". Zeitschr. f. pos. Phil., 2. Jahrg.
Einzelberichte.
jv ^ ,„ j. also mit der Turbulenzenergie, d. i. der ,.kine-
lier »egeinilg. ) tischen Energie der vertikalen und seitlichen Wind-
Die Darstellung, eine Zusammenfassung Schwankungen" und hängt' davon ab, ob die
des vielfach nicht genügend beachteten Stoßwirkung dieser inneren Elemente
Lebenswerkes des Verfassers gibt auf eines nie gleichförmigen Windes auf
Grund neuer Beobachtungen eine sehr klare An-
schauung vom gesamten Problem. Der begriff-
lichen Festlegung des Segelflugs folgt zunächst
eine Erörterung der früheren Erklärungsversuche.
den Flügel quantitativ ein Äquivalent
der Flügelschlagwirkung bedeutet.
Die genaue Untersuchung der Turbulenz (Strom-
und Kraftlinien, vgl. hydrodynamische Methoden)
Weder die im Vogel vermuteten Ursachen auch im quantitativen Verhallen, ferner die Unter-
aerostatischer Art, ferner „Segel"- und Drachen- suchung des Verhaltens von Turbulenz zum F"lug-
wirkung, schnellste Vibrationen der Flugflächen, wind bestätigen diese Möglichkeit, unter der Vor-
noch die von O. Lilie nthal betonte Wölbung aussetzung eines automatisch regulierbaren (Ein-
bedingen ihn, noch reichen außerhalb des Vogels Stellwinkel der F'lügelspitze u. a.) Mechanismus
gesuchte Faktoren, wie von Ahlborn selbst im Vogelflügel.
früher als ausreichende Erklärung angesehene
gleichförmige horizontale Winde oder arbeits-
fähige Wmdkräfie anderer Art (aufsteigende
Winde dynamischer oder thermischer Art u. a.)
oder gewisse Faktoren der ungleichförmig be
wegten Luft (wie stetige Zunahme der Wind-
geschwindigkeit nach oben, pulsatorische Verände-
rungen der Windströme [vgl. Olshausen, Mouil-
lard, Rayleigh Langley, Lanchester],
Böen und Flauten und deren bewußte bzw. in-
„Der segelnde Vogel wird daher
durch Turbulenzkräfte des Windes in
derselben Weise schwebend erhalten
und beschleunigt wie durch aktive
P'lügelschläge. Das Geheimnis des
Segelfluges ist damit enthüllt."
Ein sehr vertiefter Einblick in den Bau des
Vogelflügels läßt die Wirksamkeit der Flügel-
schläge bzw. der natürlichen Windstöße noch
schärfer erfassen und verstehen, warum die üb-
stinktive Ausnutzung seitens der Vögel), trotz der liehen Drachenflugzeuge und Rhön-Flugapparate
in ihnen enthaltenen mehr oder weniger günstigen keine Segelwirkung erzielen, sondern die für den
Momente zur Erklärung des Segelflugs, insbeson- Segelflug als hauptsächliche Kraftquelle in Be-
dere der Umwandlung des Auftriebs in nutzbaren tracht kommende Turbulenz als Hindernis — und
Vortrieb, aus. zwar mit Auftrieb und Hemmungswiderstand, aber
Vielmehr hängt das Wesen des Segelflugs ohne Vortrieb — empfinden. Einzelheiten be-
innig zusammen mit der inneren Struktur der züglich Form und Bau der verschiedenen Segel-
Windströmung, mit dem Wesen und den Ur- flieger (Tragflügel, Triebflügel), ihre geographische
Sachen dynamischer und thermischer Turbulenz, Verbreitung, lokales Vorkommen und dortige Ge-
mit der Wirbelbildung in turbulenten Strömungen, wohnheiten weisen auf den engsten Zusammen-
hang mit dem jeweiligen Turbulenzverhalten der
') Fr. Ahlborn, licihefi 5 Zeitschr. f. Fl.-Z.u. Mot. 192 1. Winde hin, wie zahlreiche Beispiele, neuerdings
N. F. XXI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
645
auch an mazedonischen Raubvögeln Ahlborn
gezeigt haben; sie charakterisieren den in Kurven-
flugbahn seine höchste Vollendung erreichenden
Segelflug als Spiel.
Regelmäßige Schwankungen der Flugbahn,
Steuerung, Bremsung, Landung und Fallschirm-
flug, die Unterscheidung von zweierlei Flächen-
veränderung (Segelschaltung von Gleitschaltung)
vervollständigen den Einblick in die mannigfachen
Kombinationsmöglichkeiten bei jeweiligem Flug-
verhalten, der mittels einer Übersicht über die
Flugarten der Vögel eine Zusammenfassung ge-
stattet. Die Erörterung der Möglichkeit, unsere
üblichen Drachenflieger, die noch auf der
primitiven Stufe des Archaeopteryx, des Ur-
vogels ohne Handschwingen, stehen, durch Aus-
rüstung mit selbsttätigen Triebflügeln segel-
tüchtig zu machen, läßt Zweifel an der
Erreichbarkeit dieses Zieles nicht zu;
der lange Weg bis dahin hat eine enge Fühlung-
nahme der Techniker mit den Biologen zur Vor-
aussetzung. Fr. Voß.
Die Stimulienins: (Hebung:) der Zellfuuktloiien
und ihre theoretische und landwirtschaftliche
Bedeutung. ')
Ausgehend von theoretischen Erwägungen habe
ich vor 8 Jahren den Schluß gezogen, -) daß die
Agentien der künstlichen Befruchtung, der künst-
lichen Parthenogenese, nicht nur auf die reifen,
unbefruchteten weiblichen Geschlechtszellen, die
Eier, entwicklungsfördernd wirken, sondern daß
sie dieselbe entwicklungsfördernde Wirkung auf
alle Körperzellen, tierische wie pflanzliche, aus-
dehnen; mit anderen Worten die Agentien der
künstlichen Parthenogenese, welche chemischer
') Vortrag, gehalten bei der Hundertjahrfeier der Gesell-
schaft Deutscher Naturforscher und Ärzte.
^) I. Depression der Protozoenzelle und der Geschlechts-
zellen der Mctazoen. — Archiv f. Protistenkunde. Festband
R. Herlwig 1907.
2. Experimentelle Zellstudien I. — Über die Teilung der
Zelle. Archiv f. Zellforschung Bd. I, 1908.
3. Experimentelle Zellstudien II. — Über die Zellgröße,
ihre Fixierung und Vererbung. Archiv f. Zellforschung Bd. III,
1909.
4. Experimentelle Zellstudien III. — Über einige Ur-
sachen der physiologischen Depression der Zelle. Archiv f.
Zellforschung Bd. IV, 1909.
5. Experimentelle Zellstudien IV. — Geschlechtsvorgänge,
Partherogenese und Zellenverjüngung. Archiv f. Zellforschung
Bd. XIV, 1915.
6. Über den Einfluß chemischer Reagentien auf den
Funktionszustand der Zelle. Silz.-Ber. d. Ges. f. Morph, u.
Physiol. in München 1909.
7. Über stimulierende Einwirkungen auf Zell- und Ge-
weberegeneration. Deutsche Mediz. Wochenschrift 1915.
8. Künstliche Parthenogenese und Zellstimulantien. Biol.
Zentralbl. 1916.
9. Über die Behandlung atonischer Wunden mit Äther.
Der Militärarzt. Wien 1916.
10. Über die Stimulierung der Zellfunktionen. Biolog.
Zentralbl. 1922.
11. Stimulierung der geschwächten Zellfunktionen. Rek-
toratsrede 1920. Ausgabe der Univ. Sofia.
oder physikalischer Natur sein können, müssen
allgemeine Zellstimulantien sein.
Um diese Schlußfolgerung zu begründen, habe
ich in einer Reihe von Publikationen meine Unter-
suchungen über die stimulierende Wirkung der
chemischen Agentien der künstlichen Partheno-
genese auch auf schwer heilende Wunden und
auf in Winterruhe sich befindende Pflanzen dar-
gelegt. Es zeigte sich, daß, wenn reine Wunden
mit Magnesiumsalzen (MgCl,, MgClj + NaCl usw.)
behandelt werden, dieselben schneller heilen und
sich schließen, als nach Behandlung mit den ge-
wöhnlichen, bisher gebrauchten Wundheilmitteln.
Auch auf pflanzliche Zellen erweisen sich die
Magnesiumsalze als sehr wirksam. Wenn die
Knospen von in Winterruhe sich befindenden
Pflanzen mit Magnesium- oder Mangansalzen in
verschiedener Konzentration und verschiedener
Zusammensetzung injiziert werden, so entwickeln
sich Blüten und Blaltknospen in 2 — 3 Wochen
fast vollständig, während die Kontrollen, unter
gleichen Bedingungen, unentwickelt bleiben.
Dieselben günstigen Resultate habe ich auch
bei einzelligen Organismen, bei Infusorien, erzielt.
Durch, kurze Einwirkung von Magnesiumsalzen
auf das weitverbreitete Infusor Paramaecium ist
es mir gelungen, die Lebensfunktionen dieses ein-
zelligen Tieres und folglich auch seine Vermeh-
rungsgeschwindigkeit so sehr zu heben, daß z. B.
in der Zeit von 7 Tagen, wo die von zwei Tieren
ausgegangene Kontrolle nur 242 Tiere zählte, die
ebenfalls mit zwei Geschwistertieren der Kontrolle
begonnene, aber mit Magnesiumsalzen stimulierte
Kultur nach 7 Tagen schon 2027 Tiere aufwies.
Eine andere unter denselben Bedingungen be-
gonnene, aber schwächer stimulierte Kultur zählte
nach derselben Zeit 864 Tiere. Beachtenswert
ist dabei, daß die Tiere der stimulierten Kultur
durchwegs um ca. '4 größer als die normalen
Kontrolltiere waren.
Alle diese Versuche beweisen, wie stark die
stimulierende Wirkung der Magnesium- und Man-
gansalze auf die lebende Substanz ist.
Schon im Jahre 191 5 habe ich weiterhin be-
tont, daß diese, die Lebensfunktionen so stark
hebende Wirkung der Magnesium- und Mangan-
salze nicht nur eine große theoretische, sondern
auch eine wichtige praktische Bedeutung ge-
winnen könnte, wenn sie auf in Funkiionsruhe
sich befindende pflanzliche Zellen, an erster Stelle
auf Pflanzensamen, angewandt würde.
Nach vielen Versuchen ist es mir nun nach
zwei Jahren gelungen, durch Einwirkung auf
Pflanzensamen mit Magnesium- und Mangansalzen
[MgClj, Mn(N03)2. (MnSOJ in Konzentrationen
von 10 '7oo t)^s 32 "/m, entweder allein oder in ver-
schiedenen Kombinationen angewandt: MgCl» -|-
MgSO,, MgCU -I- MniNOglj, MgCl, -f MnCU,
MgS04 -f- iVlnS04] diese so stark zu stimulieren,
daß sich Pflanzen entwickelten, welche durch-
schnittlich um '/a t>'S V2 größer und schwerer als
die normalen waren, und was noch wichtiger ist:
646
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
auch der Ertrag derselben (Weizen, Hirse, Mais)
war durchschnittlich um ca. 40 "/„ bis 50 "/q , ja
in besonders günstigen Fällen [durch Stimulierung
mit iVlgSO^ + MnSO, oder mit MCI, + Mn(N03)2]
bis zu 100 %, zu heben.
Nach vielen Versuchen konnte die optimale
Behandlungszeit von vielen Kulturpflanzen — so-
wohl Korn- wie Faserpflanzen — bestimmt wer-
den, die je nach der Stärke der Samenhüllen
zwischen einer Stunde (Senfsamen), drei Stunden
(Mais, Weizen, Roggen), acht Stunden (Gerste),
zehn bis zwölf Stunden (Hafer usw.) schwankt
und überall dieselbe Steigerung der Wachstums-
intensität hervorruft.
Durch Kombination der oben erwähnten chemi-
schen Lösungen mit einer nachträglichen kurzen
Behandlung mit Ätherdämpfen ist es mir neuer-
dings gelungen, die Stimulation der Samen noch
um ein beträchtliches zu steigern. Eine beachtens-
werte stimulierende Wirkung auf die Samenent-
wicklung zeigen auch die Ätherdämpfe allein.
Diese Wirkung des Äthers steht im Einklang mit
seinen bekannten Eigenschaften als Pflanzen
frühtreibendes Mittel.
Ich bin der Überzeugung, daß durch die An-
wendung der hier erwähnten stimulierenden Mittel
eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produk-
tion in allen Zweigen erfolgen wird, um so mehr
als die Anwendung leicht und der Preis der an-
gegebenen chemischen Mittel gering ist.
Methodi PopofT, Sofia.
Verdunstung und Niederschlag auf dem Meer.
Die absolute Größe des jährlichen Wasser-
haushaltes der Erde ist wesentlich abhängig von
der möglichst genauen Feststellung der Verdun-
stungsmenge über dem Ozean. Es ist daher leb-
haft zu begrüßen, daß Wüst') aufs neue ver-
sucht, diese Menge zu schätzen. Sie beträgt nach
ihm 304200 cbkm, da er aber selbst zugibt, daß
dieser Zahl eine Fehlergrenze von ± 10 "/^ an-
haftet, so halte ich eine Genauigkeit bis auf hun-
derte von cbkm für unsinnig und überflüssig und
möchte sie auf rund 300 000 cbkm reduzieren,
entsprechend 84 cm Verdunstungshöhe. Sie ist
erheblich geringer als die Brücknersche Angabe
(105) und erst recht als diejenige von Lütgens
(146). Wüst ist der Ansicht, daß Brückner
in der Erkenntnis der Tatsache, daß die üblichen
kleinen Verdunstungsmesser erheblich zu hohe
Werte liefern, noch nicht weit genug gegangen
ist und daß aus Messungen, welche der Amerikaner
Bigelow an verschieden großen Gefäßen ange-
stellt hat, ein Reduktionsfaktor 0,82 für die
Brücknersche Zahl zu erfolgen habe, woraus
eine mittlere Verdunstung des Weltmeeres zu
86 cm folgt, also beinahe die gleiche ZaW, die
Wüst gefunden hatte. Die' sehr viel höhere
Zahl, die Lütgens bringt, erklärt Wüst damit,
') Zeilschr. Ges. f. Erdk. zu Berlin 1922, Nr. 1/2.
daß jener unterlassen habe, eine Umrechnung der
Messung von Bordhöhe auf Meereshöhe vorzu-
nehmen; tut man dies, so weichen nach Beobach-
tungen in der Ostsee die Zahlen nicht mehr
wesentlich ab. Die Niederschlagssummen über
dem Festland und ihr Überschuß über die Ver-
dunstung, mit denen Wüst operiert, fußen noch
immer auf den von Fritzsche 1906 berechneten
Zahlen, doch glaubt Wüst auf Grund seiner Er-
gebnisse über die ozeanische Verdunstung, daß,
wenn man die von Fritzsche für die Zonen von
60" N bis 40" S errechneten Werte der Landverdun-
stung polwärts ergänzt, als Gesamtverdunstung des
Festlandes 75000 cbkm pro Jahr, als rund 7 "j^
weniger herauskommt als nach der Rechnung von
Fritzsche. Hält man an der früher berechneten
Niederschlagsmenge auf dem Festland, nämlich
II 2000 cbkm fest, so stellt sich der Abfluß des
Festlandes auf 37000 cbkm. Zieht man diese
Zahl von der Ozeanverdunstung ab, so ergibt sich
als Niederschlagsmenge auf dem Ozean 267000
cbkm. Auf tausende cbkm reduziert würden wir
nach Wüst für den Wasserhaushalt der Erde,
immer vorausgesetzt, daß der Kreislauf des
Wassers ein vollständiger ist, folgende Bilanz er-
halten:
Niederschlag
Verdunstung
Weltmeer
267
304
Festland
112
75
Erde
379
379
Bisher nahm man für den jährlichen Überschuß
von N über V auf dem Festland 32 000 cbkm an.
Wüst erhöht diese Zahl bereits auf 37000. Ich
glaube aber, daß man sie noch weit mehr erhöhen
muß und zwar aus folgenden Gründen. Einmal
fließt nicht nur oberflächlich Wasser vom Festland
nach dem Ozean ab, sondern es geht auch durch
Verdunstung ein weiterer Teil durch die Atmo-
sphäre in den Ozean zurück und endlich fließt
ein nicht unbeträchtlicher Teil durch das Grund-
wasser in das Weltmeer. Von diesen drei Posten
können wir den zuerst genannten nur dann einiger-
maßen sicher abschätzen, wenn wir von allen
Hauptflüssen der Erde den durchschnittlichen Ab-
fluß kannten, was aber bisher keineswegs
der Fall ist. Wir wissen ihn nur von einer
Reihe der wichtigsten unter ihnen und auch von
diesen nur auf Grund z. T. zeitlich sehr be-
schränkter Messungen. Bei den anderen beiden
Posten sind wir bisher leider lediglich auf Ver-
mutungen angewiesen. Immerhin werden wir
aber doch noch in die Lage kommen, über die
Wassermenge, welche durch die Atmosphäre vom
Festland aus dem Ozean wieder zugute kommt,
genaueres auszusagen, sobald wir über die Häufig-
keit ablandiger und anlandiger Winde auf den
Hauptküstengebieten der Erde etwas näheres
wissen. Der unterirdische Abfluß nach dem
Ozean zu wurde früher vielfach gänzlich über-
sehen, so z. B. noch von Murray und Fritzsche
erst durch neuere Untersuchungsergebnisse
N. F. XXI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
647
(Friedrich in Lübeck) hat man begonnen, ihm
ernstliche Aufmerksamkeit zu schenken. So be-
deutende Gewährsmänner auf ganz verschiedenen
Gebieten, wie der Geologe Keil hack und der
bekannte Professor der Kulturtechnik an der
Landwirtschaftlichen Hochschule zu Beriin, E.
Krüger, betonen den bedeutenden Anteil des
Grundwassers an dem Abfluß der Flüsse. So
schreibt Krüger in seinem „Kulturtechnischen
Wasserbau", Berlin 1921, S. 51: „Unter dem Fluß-
bett, oder seitwärts davon im Flußtal, bildet sich
diesem gleichlaufend noch ein Grundwasserstrom
aus, so daß zwei Ströme mit sehr verschiedener
Geschwindigkeit über- oder nebeneinander zum
IVleere fließen. Auf diese Weise gelangt
ein großer Teil der im Sammelgebiet
gefallenen Niederschläge als Grund-
wasser zumlVIeere, ohne in einem Fluß-
lauf das Tageslicht wieder erblickt zu
haben." Über die Menge des Grundwassers, das
direkt in den Ozean zutritt, sind wir natürlich
bisher lediglich auf Vermutungen angewiesen
doch kann man aus den angegebenen Gründen
als sicher annehmen, daß das sog. „Betriebs-
kapital" im Wasserhaushalt der Erde erheblich
höher ist, als man bisher vermutete und daß da-
her die Verdunstung auf dem Weltmeere größer,
auf dem Festland geringer sein muß, als nach
den Aufstellungen von Wüst. Um wieviel ent-
zieht sich bisher unserer Kenntnis. Immer wieder
muß scharf betont werden, daß alle von den
verschiedenen Autoren angeführten Zahlenangaben
sich immer noch zu sehr auf Schätzung, zu wenig
auf zuverlässigen direkten Beobachtungen beruhen,
daß sie daher bisher mehr ein theoretisches als
ein praktisches Interesse beanspruchen können.
Das wird erst dann der Fall sem, wenn einmal
die Zahl der Messungen sowohl des Niederschlags
wie der Verdunstung eine erheblich größere ge-
worden ist und wenn andererseits die Methoden
die Verdunstung zu messen, eine wirklich exakte
genannt zu werden verdient. Halbfaß.
BOcherbesprechungen.
Kaiser, Alfred (Arbon), Die Sinai wüste. 106 S.,
mit 1 Karte und i2Textfig. Selbstverlag 1922
und Mitteil. derThurgauer Naturforsch.- Ges. 1922.
Der bekannte Kenner des Sinai gibt in dieser
interessanten Schrift eine Zusammenstellung un-
serer Kenntnisse dieser Halbinsel, die 2 Erdteile
miteinander verbindet und auf der sich so manche
bedeutungsvolle Ereignisse abgespielt haben. Er
behandelt nacheinander: Geschichte, Landschaft,
Forschungsreisen, Geologie, Bergbau, Klima, Be-
völkerung, Tier- und Pflanzenleben des Meeres,
Wüstenflora und Tierwelt. Der Verf. ist mit dem
Sinai vertraut wie wohl kein anderer Gelehrter.
Während die meisten Naturforscher auf ihr nur
wenige Monate weilten, hat Kaiser drei Reisen
dorthin unternommen, i8b6 für 7 Monate, 1887
im Frühjahr und dann mit 2jähriger Unter-
brechung von 1890 — 1898, während welcher Zeit
er in Tor eine kleine wissenschaftliche Station
eingerichtet hatte, von der aus er Streifzüge nach
allen Richtungen unternahm. Als ich selbst zu
Korallenstudien 1901 in Tor weilte, konnte ich
mich wiederholt davon überzeugen, in welch
angenehmer Erinnerung die Beduinen den Verf.
noch hatten. Aus dem konzentrierten Inhalt der
Schrift, die für alle späteren Besucher der Halb-
insel ein unentbehrlicher Führer sein wird, können
hier nur einige Punkte hervorgehoben werden, die
den Ref. besonders interessiert haben. Die ka-
nonendonnerartigen Geräusche, die Kaiser zu-
weilen am Tage im Hochsommer in den Gebirgs-
tälern gehört hat, würde ich vermutungsweise
auf Abstürze zurückführen, die durch die starke
Gesteinserwärmung veranlaßt werden. Von Säuge-
tieren sind nur ca. 30 Arten beobachtet worden,
darunter Panther, die gestreifte Hyäne, der Wolf,
der Hyrax syriacus, die Ibex sinaiiica (Steinbock),
die Gazelle {Antilope dor'cas) und mehrere Füchse.
Löwen kommen nicht mehr vor. Von den ca.
190 Vogelarten finden sich 126 auch im euro-
päischen Gebiet, 76 sind Brutvögel und nur 3
sind für die Halbinsel spezifisch. Ein Busch-
schlüpfer Drymoeca inqiiicfa Rupp., Carpoßaens
synntcus Licht, und Cacabis chukar Bp. (Siein-
huhn). Interessant ist, daß die Raben {Corvus
umbrünts) vor Hunger zuweilen zu Raubvögeln
werden und den weidenden Kamelen große
Fleischslücke aus dem Rucken reißen. Gift-
schlangen sind sehr häufig. Die Hornviper springt
meterweit nach dem Angreifer und beißt ihn ins
Gesicht oder in die Hände oder Füße. Die
Waraneidechse {Varaitiis griseiis) ist ebenfalls
wegen ihrer Angriffslust gelurchtet. Die Wander-
heuschrecke überfällt den Sinai fast alle Jahre
und zerstört nicht nur die Vegetation ganzer
Landstriche, sondern sogar die Takelage der ver-
ankerten Segelschiffe und die mit Kohlen ge-
füllten Säcke. Da Kaiser für das nächste Jahr
eine vierte Reise plant, wünschen wir ihm auch
bei dieser Gelegenheit vollen Erfolg! Quailles
quetir, nischalla Allah! L. Plate, Jena.
Klut, H., Untersuchung des Wassers an
Ort und Stelle. Vierte neu bearbeitete Auf-
lage. Mit 34 Textabbildungen. Berlin 1922,
Julius Springer.
Jedem, der sich schnell und gründlich über
die praktischsten Methoden der Wasserunter-
suchung orientieren will, kann man das bekannte
Klutsche Buch auf das angelegentlichste empfehlen.
— Obwohl in erster Linie die Untersuchung an
648
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 47
Ort und Stelle berücksichtigt wird, so geniigen
die Ausführungen des Verfassers wohl in den
allermeisten Fällen auch weiteren Anforderungen
derjenigen Praktiker, die ihre Untersuchung im
Laboratorium fortsetzen wollen, also Apothekern,
Kreisärzten, Bezirkstierärzten usw. — Großes Ge-
wicht legt der Verf. auf außerordentlich reich-
haltige Literaturangaben, ein Vorzug des Buches
für alle diejenigen, die sich eingehender mit der
Materie zu beschäftigen wünschen. — Die Stel-
lung des Verf. als Mitglied der preußischen Landes-
anstalt für Wasserhygiene, in der Bakteriologen,
Botaniker, Zoologen, Chemiker und Techniker in
ständiger Fühlung miteinander stehen, setzte ihn
in die Lage, die Beurteilung des Wassers nicht
einseitig vom chemischen Standpunkt aus zu be-
handeln; ferner war es ihm möglich, die vielen
in dem Buche erwähnten praktischen und hand-
lichen Apparate in der Anstalt jahrelang auszu-
proben, bevor sie im Handel erschienen und den
Praktikern empfohlen wurden; ein Umstand, auf
den hinzuweisen mir notwendig erscheint ange-
sichts der gegenwärtigen Teuerungsverhältnisse.
Wächter.
Das Wertvollste an dem ganzen Buche dürfte die
gute Auswahl der Gedichte, die über heimische
Pflanzen handeln, sein. Marzell.
Reling, H., und Brohmer, B., Unsere Pflan-
zen in Sage, Geschichte und Dichtung.
3 Teile. 5. Auflage. 106+ 128 -|- 120 Seiten.
Dresden 1922, L. Ehlermann.
Diese vorliegende 5. Auflage des bekannten
Werkes erscheint jetzt in 3 Teilen und ist auch
sonst in mannigfacher Beziehung verändert. Wenn
in dieser Auflage die biologischen Tatsachen mehr
als in den früheren berücksichtigt sind, so ist das
zwar recht erfreulich, dient aber dem Zweck des
Buches, wie ihn der Titel verheißt, so -gut wie
gar nicht. Wer sich über die Geschichte unserer
Pflanzen und über die Volksbotanik (folkloristische
Botanik) unterrichten will, der findet meist nur
die alten, abgedroschenen, meist falschen Erklä-
rungen und Deutungen. Um nur ein Beispiel zu
nennen: Es ist völlig unerwiesen, daß die Schlüssel-
blume (Primula) von den alten Druiden unter
allerlei geheimnisvollen Bräuchen gepflückt worden
ist usw. Plinius (Hist. nat. XXIV, 104) sagt
dies vielmehr von einer Pflanze ,,samolus", die
aber sicher nicht eine Primula ist und übrigens
auch nicht die Samolus Valerandi L. Die Quellen
sind leider nur ganz ungenügend angegeben. Im
allgemeinen zeigt das Werk ungefähr die gleichen
Mängel, wie sie Ref bei dem denselben Gegen-
stand behandelnden Buch von Sohns beanstanden
mußte (Naturw. Wochenschr. N. F. 20 [1921]. 360).
Burckhardt- Erhard, Geschichte der Zoo-
log i e. Sammlung Göschen, Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger. In 2 kleinen Bänden.
9 M. der Band.
Erhard hat die Burckhardtsche Ge-
schichte der Zoologie in 2. Auflage bearbeitet
und ergänzt. In sehr ansprechender Schreibweise
wird ein bei aller Kürze umfassender Überblick
über die geschichtliche Entwicklung der Tier-
forschung gegeben. Der über zwei Göschen-
bändchen verteilte Stoff ist in Urgeschichte, an-
tike, mittelalterliche und neuzeitliche Zoologie
gegliedert. Aus der Erkenntnis heraus, daß jeder
wissenschaftliche Fortschritt an einzelne Persön-
lichkeiten gebunden ist, wird das Lebenswerk
bedeutender Forscher eingehend gewürdigt. Das
Werk ist aber nicht nur eine Zusammenstellung
von Biographien, sondern gleichzeitig eine Ge-
schichte der tierwissenschaftlichen Probleme, an
deren Lösung die deutsche Forschung ruhmreich
mitgearbeitet hat. „In den glücklichsten
Jahren deutscher Geschichte, seit dem
Jahre 1870, hat die deutsche Zoologie
die Fackel allen übrigen Ländern vor-
ausgetragen. Schon droht die amerikanische
Zoologie sie zu überflügeln. Möge nie der -Geist-
des Gerbers K 1 e o n , der den allmählichen Nieder-
gang der griechischen Biologie einleitete, auch
über unsere deutsche Wissenschaft kommen und
sie zum Veröden bringen." Das Werk kann warm
empfohlen werden. H. v. Lengerken.
Literatur.
Hunt er, Waler S., Behavior Monographs Vol. 4, Nr. 4,
1922 , Serial Number 20. Visual Perceplion of the Chick.
Baltimore, Williams iS: Wilkins Company.
Morgan, Th. H., Die stofflichen Grundlagen der Ver-
erbung. Deutsche Ausgabe von H. Nachtsheim. Mit llSAbb.
Berlin '21, Gebr. Bornträger. 69 M.
Sirks, M. J., Handboek der Algemeene Erfelijkheidsleer.
Met 5 gekleurde Platen en 127 Af beeldingen. s'Gravenhage
'22, M. Nijhoff. 15 fl.
Rinne, Prof. Dr. F., Das feinbauliche Wesen der Ma-
terie nach dem Vorbilde der Kristalle. 2. u. 3. Aufl. Berlin
'22, Gebr. Bornlr.ager. I17 M.
Handbuch der Pflanzenanatomie, herausgegeben von K.
Linsbauer. Allgemeiner Teil: Cytologie Hand I (Bg. I — 12).
Zelle und Cytoplasma von H. Lundegärdh. Mit 193 Text-
figuren. Hd. II. Allgemeine Pflanzenkaryologie von G. Tischler.
Berlin '21, Gebr. Bornträger. 225 M.
InbHlt: Kr. J. Meyer, Die Vitülhypothese Arthur Meyers. (14 Abb.) S. 633, A. An g er sb ach , Joseph Petzoldt. S. 640.
— Einzelberlcbte: Fr. Ahlborn, Der Segclflug. S. 644. M. Pop off, Die Stimulierung (Hebung) der Zellfunklionen
und ihre theoretische und landwirtschaftliche Bedeutung. S. 645. Wüst, Verdunstung und Niederschlag auf dem Meer.
S. 646. — BUcberbesprecbungen: A. Kaiser, Die Sinaiwüste. S. 647. H. Klut, Untersuchung des Wassers an Ort
und Stelle. S. 647. II Reling und B. Brohmer, Unsere Pflanzen und Sage, Geschichte und Dichtung. S. 648.
Burckhardt-Erhard, Geschichte der Zoologie. S. 648. — Literatur: Liste. S. 648.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miebe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Fätz'icben Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 26. November 1922.
Nummer 48.
Wandernde Fledermäuse.
[Nachdruck verboten,]
Von Hans Stadler.
Daß Vögel ziehen und dabei oft riesenhafte
Strecken durcheilen, ist jedermann geläufig. Nicht
immer legen sie ihren Weg fliegend zurück; das
Tüpfelsumpfhuhn läuft auch auf der Herbst-
wanderung stunden- und tagelang. Distelfalter,
Weißlinge, Wasserjungfern, Heuschrecken, Ameisen
wandern zuweilen in ungeheuren Scharen. Auch
manche Säugetiere erfaßt der Zugtrieb : Die Hasen
der Rhön ziehen sich im Herbst von den rauhen
Höhen des Gebirges in die milderen Flußtäler
des Mains und der Werra ; Renntier und Sibirischer
Lemming wandern im Zusammenhang mit dem
nordischen Winter; im Kapland zogen ehedem
Millionen von Springböcken, der Dürre des tropi-
schen Sommers ausweichend, in wasserreichere,
oft sehr weit entfernte Gebiete. Es ist daher
nicht erstaunlich, daß auch Fledermäuse, diese
flugbegabten nächtlichen Säugetiere, wandern.
Was wir allerdings von ihren Wanderzügen wissen,
ist mehr als lückenhaft, und die Berichte darüber
sind so sparsam, daß es sich verlohnt, die bis-
herigen Mitteilungen hierüber zusammenzustellen
und eine neue eigene Beobachtung mitzuteilen.
Von kurzen Wanderungen berichten G e i s e n -
heyner, Blasius und Brehm. Geisen-
heyner^) spricht (S. 15) von der eigentümlichen
Gewohnheit der Teichfledermaus (Myotis dasy-
cneme), „gegen Winter die von ihr im Sommer
bewohnten wasserreichen Ebenen des oberen
Rheins zu verlassen und ins Gebirge zu wandern",
so daß „sie zur Zeit ihrer Winterruhe ebenso im
Hunsrück gefunden werden könnte . . . wie . . .
im Taunus und in noch weiter nördlich liegen-
den Gebirgen. . ." Blasius") (S. 75) schreibt
von der zweifarbigen Fledermaus (Vesperugo dis-
color = Vespertilio murinus): „Gloger gibt
Gründe dafür an, anzunehmen, daß sie in Schle-
sien im Frühjahr aus der Ebene allmählich in die
höheren Gebirge hinaufziehe." Derselbe Be-
obachter spricht auch von größeren Reisen
gewisser Fledermäuse. So S. 70: „Es scheint,
daß [die Bergfledermäuse] in der Art wie die
Zugvögel mit ihrem Sommer- und Winteraufent-
halt wechseln: im Herbst aus den Gebirgen in
die Ebenen, aus nördlichen Gegenden in mildere
wandern, und im Frühjahr oder Sommer, sobald
die geeigneten Bedingungen eingetreten sind, da-
hin zurückkehren", und S. 72/73 erläutert er das
') Geisenheyner, Ludwig, Wirbeltierfauna von Kreuz-
nach. II. Teil : Säugetiere. Wissenschaftliche Beilage Gym-
nasium Kreuznach 1891.
*) Blasius, Naturgeschichte der Säugetiere Deutschlands
1857.
an dem Beispiel von Vesperugo (Eptesicus) Nils-
soni, der Umber- oder Nordischen Fledermaus.
„Nach dem, was ich über diese Art im Norden
von Rußland, wo sie die einzige dort vorkom-
mende Fledermaus ist, erfahren habe, scheint sie,
gleich den Zugvögeln, mit ihrem Aufenthalt für
verschiedene Jahreszeiten auf große Entfernungen
hin zu wechseln. Daran, daß sie von der Breite
der Ostseeprovinzen bis in die Nähe des Weißen
Meeres ziemlich überall verbreitet ist, scheint
nicht zu zweifeln. Doch sieht man sie im Früh-
jahr und zu Anfang des Sommers nirgends in den
nördlichen Gegenden ihres Verbreitungsbezirks.
Darin stimmen die Aussagen der Nordrussen und
meine eigenen Beobachtungen vollkommen über-
ein. Ich habe im Norden von Rußland manche
Nacht im Freien zugebracht und nie eine Fleder-
maus gesehen, obwohl mir aus denselben Gegen-
den im Spätsommer gefangene Tiere zugeschickt
wurden. Erst im August, mit dem Eintritt der
längeren, dunkleren Nächte, wird sie in den nörd-
lichen Breiten sichtbar. Es scheint, als ob die
taghellen kurzen Juni- und Julinächte einen frühe-
ren Aufenthalt im Norden nicht zuließen, dagegen
diese Tiere teilweise in der 2. Hälfte des Som-
mers, nachdem die Jungen hinreichend erwachsen
sind, wandernd an die nördlichen Grenzen ihrer
Verbreitung hinaufziehen. Daß dabei Land-
strecken von lo Breitengraden durchzogen wer-
den, scheint klar zu sein. Außer dem Renntier,
das fast dieselben nordischen Gegenden bewohnt,
ist kein Säugetier bekannt, das regelmäßig jähr-
lich so große Strecken durchwandert." Leunis-
Ludwig^) (Synopsis) S. 215 schöpft offenbar aus
Blasius, wenn er bemerkt: „Vesperugo Nils-
sonii wechselt ähnlich den Zugvögeln ihren
Aufenthalt.... V. discolor: Auch sie scheint
ähnlich wie V. Nilssonii zu wandern." In B r e h m s ^)
Tierleben S. 382 heißt es: „Es ist sehr wahr-
scheinlich, daß weit mehr unserer Flattertiere, als
wir annehmen, wandern, obschon in beschränk-
terer Weise als die Vögel. Daß einige Fleder-
mäuse bei uns manchmal von der Höhe zur
Tiefe und umgekehrt ziehen, ja daß sie gegen
den Winter hin nach südlicher gelegenen Gegen-
den pilgern, war längst bekannt. Mitunter näm-
lich findet man im Sommer Fledermäuse in einer
Gegend, wo sie zu anderen Jahreszeiten nicht
vorkommen. So verschwindet laut Koch die
') Leunis-Ludwig, Synopsis der Tierkunde I. 3. Aufl.
■*) Brehm s Tierleben 4. Aufl., Bd. 10.
650
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
Umberfledermaus . . . aus einem großen Teile des
nördlichen Rußland, wandert bis Schlesien, Mäh-
ren, Oberfranken, ja selbst bis in die Alpen und
überwintert hier. Ebenso sieht man die Teich-
fledermaus . . . während des Sommers immer in
den norddeutschen Ebenen über Flüsse und Seen
hin- und herfliegen, begegnet ihr aber um diese
Zeit nur ausnahmsweise in den Gebirgen Mittel-
deutschlands, wogegen im Winter Felsenhöhlen
dieser und anderer Gebirge gerade von ihr sehr
häufig zum Überwintern benutzt werden. In den
Wäldern Hessens hält es äußerst schwer, im
Winter eine Vesperugo noctula Schreb. aufzu-
treiben, obgleich ßaumhöhlen genug da sind, die
zu ihrem Aufenthalt geeignet erscheinen; im Som-
mer dagegen sieht man diese Fledermaus häufig
genug über den Waldungen umherschwärmen,
und im Taunus und im Lahntal überwintert sie
regelmäßig, ohne daß im Sommer eine größere
Anzahl von ihnen vorhanden sein dürfte als dort,
wo sie nicht überwintert. Wenn die Beobach-
tungen über das Wandern der Fledermäuse nicht
so schwierig wären und öfters darauf geachtet
würde, dürfte eine größere Anzahl von geeigneten
Beispielen vorliegen als jetzt noch der Fall ist."
Leydig*) berichtet S. 213, Anmerkung: „Die
südliche Fledermaus Dysopes Cestonii (jetzt:
Nyctinomus taeniotis Rafinesque), seinerzeit von
Savi beschrieben, wurde vor einigen Dezennien
in Basel gefangen (G. Schneider, 1870). Doch
ist es bei dem einzigen Fall geblieben." Dieser
Fall beweist, daß Fledermäuse zuweilen die Alpen
überfliegen, ähnlich gewissen Nachtfaltern (Toten-
kopf, Oleander- und Livornoschwärmer) und einer
Feldheuschrecke des Südens, Acridium aegypticum.
Gegen die Behauptung ausgedehnter
Wanderzüge der Fledermaus erhebt Jäckel**)
Einwendungen (S. 44): „Blasius vermutete, daß
diese Art den Zugvögeln gleich mit ihrem Aufent-
halt in den verschiedenen Jahreszeiten wechselt,
also ein Zugtier, wie das Renntier, sei und jähr-
lich große Strecken bis zu 10 Breitengraden durch-
wandere. Mit Gewißheit behauptet das Blasius
nicht, aber nach einer Reihe von Sätzen mit:
Es scheint nicht zu zweifeln, daß usw. , es scheint
als ob usw., es scheint klar zu sein usw., kommt
er zu dem Schluß, daß V. Nilssonii zu ziehen
scheine. Anderen Forschern, namentlich Kole-
nati, der unsere Fledermaus in Mähren und
Schlesien gefunden, genügten diese Vermutungen
und wurde ihr sofort die Eigenschaft des Wander-
tieres in großartigem Maßstabe zugesprochen und
behauptet, sie ziehe in Mähren nur durch und in
Schlesien sei sie Wintergast. Inzwischen wurde
das Tier von Blasius in den Alpen gefunden
und von Karl Koch im April 1863 ... bei
Dillenburg geschossen. . . . Am 8. August 1852
wurde in Memmingen ein Exemplar gefangen . . .
'') Leydig, Horae zoologicae 1880.
') Jäckel, A. J., Die Säugetiere der drei fränkischen
Kreise Baierns. 9. Bericht der naturf. Gesellschaft zu Bam-
berg 1870.
bei Wassertrüdingen . . . und im Herbst 1860 ein
junges Männchen von-Regensburg ... So ist denn
die sog. nordische Fledermaus in Bayern im Früh-
ling, Sommer und Herbst, und da man, wo es
sich um Fledermäuse handelt, auch noch den
April zu den Wintermonaten rechnen darf, auch
im Winter beobachtet worden, weshalb mir die
Annahme, daß sie im Sommer weit gegen Nor-
den vorkomme, den Winter in wärmeren Gegen-
den zubringe und in Süddeutschland nur auf der
Durchreise angetrofifen werde, als unhaltbar er-
scheint." Auch Brehm'') schließt sich (S. 462/63)
diesen Zweifeln an: „Wenn Umberfledermäuse
überwinternd in Schlesien, im April in Mähren,
Nassau und in Baiern (Mittelfranken), im Mai in
Mähren und Baiern (Regensburg), im Sommer in
der Schweiz, am 7. August in Oberungarn und
am 8. August in Schwaben beobachtet wurden,
wo sie doch nach Blasius schon in Nord-
deutschland sein sollten, so begreift man nicht,
wie sie noch in demselben Monat an das Ziel
ihrer Reise gelangen können. Das hierzu erfor-
derliche Flugvermögen scheint mir kein Flatter-
tier zu besitzen, zumal es auf der Reise den Tag
über ruhen und schlafen und in den 9 — 10 Stun-
den langen Augustnächten auf jeder Raststation
2 — 3 Stunden auf Insektenjagd verwenden müßte,
und Gewitter, starker Regen, widriger Wind ihnen
in mancher Nacht die Fortsetzung der Reise un-
möglich machen würde. Daß sie aus den Ostsee-
provinzen und Ländern gleichen Breitengrades
im August nach dem Norden Rußlands bis zum
Weißen Meere zieht , demnach wirklich wandert,
soll nicht in Abrede gestellt werden."
Ich kann nun eine neue Beobachtung mitteilen
über Fledermauszug, eine Beobachtung, die ein
sehr zuverlässiger fränkischer Feldornithologe,
Herr Otto Hepp in Neuendorf am Main, seinerzeit
gemacht hat. „Von Jugend auf", so berichtet
Hepp, „habe ich auf Vögel geachtet, angeregt
von Vater und Großvater, die auch schon „Vogels-
narren" waren wie ich und jetzt wieder mein
13 jähriger Sohn. So sah ich schon als Kind
Krähen und Wildgänse, Lerchen und Schwalben
ziehen. Ums Jahr 1890, etwa Ende September,
an einem schönen Herbsttag mittags, flog ein
Schwärm von einigen Hundert Mehlschwalben
langsam gerade über mir weg von Ost nach West,
vielleicht 60 — 70 m hoch. Aus diesem Schwärm
kamen mehrmals scheinbar einzelne Schwalben
heraus, begleiteten die geschlossene Schar ein
Weilchen und tauchten wieder in die Masse der
anderen ein. An dem Hackenschlagen und mit
meinen sehr scharfen Augen erkannte ich sofort
zu meinem Erstaunen, daß diese sich absondernden
und zum Schwärm wieder zurückkehrenden Tiere
Fledermäuse waren, die wohl Mücken in der
Luft fingen. Nun erkannte ich Fledermäuse auch
mitten in der Schwalbengeseilschaft: sie waren
leicht zu unterscheiden, weil sie etwas stärker
(größer) waren als die Vögel. Es waren ihrer
viele in dem Schwärm. Ich stelle mir vor, so
N. F. XXI. Nr. 4S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
651
gewagt es vielleicht auch erscheinen mag, daß
auf solchem gemeinsamen Zug die Schwalben bei
Tag den Weg weisen, die Fledermäuse nachts."
An dieser Beobachtung erscheint dreierlei neu
und auffallend. Erstens : ein nächtliches Tier wie
die Fledermaus fliegt bei Tage, wo sie doch nach
allgemeiner iVIeinung ruhen müßte. Zweitens: ein
allerdings flugbegabter Säuger zieht mit Angehö-
rigen einer ganz anderen Wirbeltiergruppe, mit
Vögeln, Mehlschwalben. Drittens: zeigt die Be-
obachtung Fledermäuse auf dem herbstlichen
Fernzug nach Westen, und schließlich: sie fliegen
zusammen mit Schwalben; in deren Gesellschaft
müssen sie sehr schnell fliegen und sehr aus-
dauernd, denn die Schwalben legen auf dem Zug
vermutlich ohne Unterbrechung oft Hunderte von
Meilen zurück. — So allein, wie es auf den ersten
Blick scheinen könnte, steht die Beobachtung je-
doch nicht. Ich selbst habe Fledermäuse im
Herbst wie im ersten Frühjahr nicht nur an Nach-
mittagen, also nahe dem Einbruch der Dämme-
rung, stundenlang auf Kerbtiere jagen sehen, son-
dern auch in den Vormittagsstunden. Und
Fr. W. Eckard t,') der bekannte vogelkundige
Meteorologe, schreibt: „Zu Anfang Juli 192 1
waren im südlichen Thüringen die Nächte sehr
kühl. Zusammen mit den Schwalben suchten
daher im warmen Sonnenschein in den Vormittags-
und Mittagsstunden Fledermäuse über der Werra
und dem Kanal ihre Nahrung. Dabei konnte ich
beobachten, wie die Fledermäuse größere flie-
gende Insekten, etwa vom Umfang unserer Stuben-
fliege, bereits aus 3 — 4 m Entfernung wahrnahmen."
Und Jäckel") sagt auf S. 42: „Bei Neuhaus sah
ich [Vesperugo noctula] am 27. September und
21. Oktober 1856 und am 20. April 1857 schon
nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr, am letzt-
genannten Tag bei herrlichem Wetter und Sonnen-
schein auch gegen Abend über den dortigen
Weihern in großer Anzahl fliegen." Ähnlich
Blasius'-) S. 21: „Die größte Gewandtheit und
Schnelligkeit im Flug hat entschieden Vesperugo
noctula: Man sieht sie zuweilen schon vor Sonnen-
untergang turmhoch und in raschen kühnen Wen-
dungen mit den Schwalben umherfliegen; und
diese Art hat den verhältnismäßig schlanksten
und längsten Flügel, über 3 mal so lang als breit."
Diese drei zuverlässigen Beobachter berichten also
übereinstimmend, daß Fledermäuse am hellen Tag,
auch vormittags, stundenlang fliegen, und melden
sogar Fledermäuse in ebenfalls stundenlanger Ge-
sellschaft von Schwalben, so daß eine Art Lebens-
gemeinschaft beider einander sonst so fernstehender
Tierarten nicht zu bestreiten ist, und wenn beide
die Nahrungssuche für viele Stunden an den
gleichen Orten zusammenführt, so ist nur ein
Schritt zu der Möglichkeit, daß auch ein gemein-
sames Reiseziel sie vereinigt. Und Eckardts
Mitteilung, daß seine F'ledermäuse Insekten auf
3 — 4 m wahrnehmen, stimmt vortrefflich zu der
') Eckardt, F. W., Ornith. Monatsschrift 1922.
Beobachtung in unserem Fall, daß die Fleder-
mäuse das geschlossene Geschwader verließen und
seitlich ausschwärmten, weil sie des Wegs kom-
mende Mücken rechtzeitig erblickten! — Ohne
weiteres drängt sich sodann der Vergleich auf
mit den Verhältnissen in der Vogelwelt. Wie
hier ein nächtliches Tier bei Tag wandert,
so ziehen alljährlich Millionen von Tagvögeln
ins Winterquartier und nach den Brutplätzen
nachts, selbst in den finstersten Neumond-
nächten — Schwalben, Lerchen, Pieper und Bach-
stelzen, Unkenvögel, Goldhähnchen, Raubvögel,
Tauben I Auf dem Wanderzug halten Vögel
ganz verschiedener Arten zusammen — nicht nur
Saatkrähen und Dohlen, Stock- und Krickenten,
Steppen- und Sandflughühner: auch Stare und
Krammetsvögel, Stare und Krähen, Stare und
Kiebitze; Meisen, Baumläufer, Kleiber und Spechte I
Bleibt noch die Frage, ob Fledermäuse die Kraft
aufbringen können, mit so schnell fliegenden Vögeln
wie Schwalben stundenlang Schritt zu halten?
Hierzu läßt sich sagen : Tiere, die nachts auf Jagd
nach anfliegenden Kerfen viele Stunden hindurch
eine Bogenlampe rastlos umstreifen in hastigem
Flug — warum sollten die nicht die Flügelkraft
besitzen, auf der Wanderung stundenlang schnell
dahinzueilen ? Die Vogelwelt liefert uns da wieder
vortreffliche Seitenbeispiele und noch weit über-
raschendere Tatsachen. Es ist selbstverständlich,
daß Sänger, Finken, Schnepfen, Regenpfeifer,
Möven, die im Brutgebiet immerfort unterwegs
sind und im Lauf eines Tages insgesamt lOO km
verfliegen, auf dem Zug diese Strecken in einer
Richtung zurücklegen. Aber noch mehr. Arten,
die nur schlecht und im Brutgebiet wie im Winter-
standort nur wenig fliegen : Teichhühner und
Blässen, die Sumpfhühnchen; Arten-, denen nur
kleine schwache Flügel eigen sind: Steißfüße und
Seetaucher; Arten, die zur Brutzeit monatelang
überhaupt nicht fliegen : der Wachtelkönig, die
Wachtel — ihnen allen wächst mit dem Zugtrieb
die Flügelkraft ins Unfaßliche, so daß sie, die
schlecht und selten fliegenden Geschöpfe, auf ein-
mal die Fähigkeit bekommen, looo Meilen nachts
in wenigen Tagen fliegend zu bewältigen. So von
Grund aus gestaltet die Natur den Instinkt von Tieren
um, wenn die Erhaltung der Art in Frage steht.
Was in der Vogelwelt den Flugstümpern gelingt,
sollte so glänzenden Fliegern wie Fledermäusen
unmöglich sein ?
Eine wirkliche Mehrung unseres Wissens durch
unsere Beobachtung ist, daß in unseren Breiten
Fledermäuse zum erstenmal auf dem Fernzug
unmittelbar gesehen worden sind, daß sie sich,
wie Vögel, zu einer größeren Gesellschaft ver-
einigt (und sich dann abermals einem Schwalben-
schwarm angeschlossen) hatten; und daß sie nach
Westen zogen — also die Zugrichtung ein-
hielten, die jahraus jahrein zahllose Vogelscharen
auf der Herbstwanderung einschlagen. Vielleicht
ist es auch kein Zufall, daß sie ein Plußtal, den Main
entlang, also auf einer Zugstraße flogen. Diese
6s2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
Feststellung: ein Trupp Fiedermäuse in weit ent-
legene westliche Winterstandorte reisend — ist
für Europa jedenfalls neu. Sonst ist sie jedoch
keineswegs die einzige oder erste ihrer Art.
Denn Brehm*) S. 382 schreibt: „In heißen
Ländern, wo die Fledermäuse in so großer Menge
auftreten, fällt ihr Wandern mehr auf. Viele
ziehen sich zur Zeit der Dürre in das Gebirge,
andere suchen ferne Gegenden mit der von ihnen
vorher bewohnten zu vertauschen, kehren aber
nach einiger Zeit wieder dahin zurück; einige
scheinen in den kälteren Jahreszeiten dem Äqua-
tor näher zu rücken, und wieder andere ziehen
in den wärmeren Monaten nach kühleren Gegen-
den oder höher nach dem Gehirge. In manchen
Fällen scheint der Grund des Ortswechsels in
den klimatischen Verhältnissen zu liegen; in den
meisten Fällen aber ziehen unsere Tiere den In-
sekten nach. Für nordamerikanische Fledermäuse
hat Hart Merriam regelmäßige Wanderun-
gen nachgewiesen, und zwar sind es nach seinen
Forschungen in erster Linie die Baumhöhlen-
bewohner, die wandern; denn in ihren Verstecken
sinkt die Temperatur mit der äußeren Luft, wäh-
rend sie sich in tieferen unterirdischen Höhlen
eher in gewissen mäßigen Grenzen hält. Diese
Winterwanderungen nordamerikani-
scher Fledermäuse dehnen sich bis auf
die Bermudainseln aus, und die Tiere er-
scheinen bei dieser Gelegenheit regelmäßig an
gewissen einsamen Leuchttürmen. Für flugbe-
gabte Warmblüter gibt es eben außer dem Winter-
schlaf noch eine zweite Möglichkeit, über Kälte
und Nahrungsmangel hinwegzukommen: die
Wanderung, und es ist nicht mehr wie natürlich,
daß auch dieses Mittel von Fledermäusen ange-
wandt wird. So liefern sie annähernd eine Paral-
lele zu den Zugvögeln."
Über Lichtablenkung nahe der Sonue und Perihelbewegung.
Nachtrag zu dem Aufsatz in Heft 23.
VoD S. T. Kobbe, Coblenz.
rboien.] Mit I Abbildung.
In Heft 23 dieser Zeitschrift hatte ich ver-
sucht, eine einfache Herleitung für die Ablen-
kung des Fixsternlichtes im Schwere-
feld der Sonne zu geben. Ausgehend von
der Newtonschen Mechanik ging ich zur spe-
ziellen Relativitätstheorie über und zwar mit Hilfe
der Beschleunigungsgleichungen. Da hiergegen
sich manches einwenden läßt, liegt es mir daran,
zu zeigen, daß auch allein mittels der Zeitänderung,
wie sie die spezielle Relativitätstheorie fordert,
das gleiche Ergebnis erzielt wird. Nach der
Newtonschen Mechanik ist — wie dort ab-
geleitet — die Bahn des Lichtstrahls von einem
Fixstern dicht am Sonnenrande vorbei nach der
Erde eine flache Hyperbel, deren Gleichung lautet:
(l) r(i-|-6cos(/0 = r„(i-f f)
Hierin bedeuten:
r,Jp = Polarkoordinaten. Nullpunkt : Sonnenmitte.
e = 472 000 = Exzentrizität,
r, := 695 400 km = Halbmesser der Sonne.
A(, = — ; wo : Q = arcrad. in Sek., so ist
Ist
2 Aß die gesuchte Ablenkung in Bogensekun-
den dicht am Sonnenrande. Wir fanden:
(2) Ablenkung = 2 A,, = 0,87"
Beim Übergang zur Relativitätstheorie
schlagen wir nun einen anderen Weg ein. In
den Lorentz-Transformalionen:
f
= t
wird für die Bewegung eines Massen punktes:
x' = 0; also: x = vt; und daher:
(3) t
■='1/-?^
-5; oder
Gesetzt: t'
(4)q
=.(,-y,
= t — q ; so wird :
; oder: t-fq = t(2-
Hier stellt q die Verlängerung der Zeit t im Sinne
der Relativitätstheorie dar. Für ein Bogenelement
der krummlinigen Bahn eines Massenpunktes gilt
daher:
(5.)
d(t + q) = dt 2
-]'
Nach dem 2. Keplerschen Gesetz ist für Zentral-
bewegungen:
= Constant.
Hier bedeutet r einerseits die Entfernung : Sonnen-
mitte— Fixstern, andererseits die Entfernung:
Sonnenmilte — Erde. Da gegen die Entfernung
nach dem Fixstern der Halbmesser der Sonne
verschwindet, so wird auf dieser Seite:
2 ' e ■
Gegen die Entfernung (r = e) Sonne — Erde darf
der Sonnenhalbmesser r^ unmittelbar nicht ver-
nachlässigt werden, hier wird:
v, = ^'^-':"+A«;
^ 2 e ' (>
aber der Summand r„ : e bleibt un geändert, ob
wir nach Newton, oder nach der Relativitäts-
theorie rechnen. Nur auf die Änderung p von A„
kommt es an. Somit ist beiderseits der Sonne r
als konstant anzusehen. Dann folgt nach (6) :
^^' dt d(t + q) '
Nach (5) und (7) haben wir:
Winkel in Sekunden.
N. F. XXI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6S3
(8) d(Ao-f p) = dAo 2— L/i rj; und durch
Integration :
(9) A„ -|- p = Ao (2 — U i— ^,| ; Const = O.
Handelt es sich um einen Lichtstrahl, so ist
zu setzen :
V = c ; und es wird :
(10) Ao + p = 2A„.
Das besagt: Ist auf Grund der Newtonschen
Mechanik die (2) Lichtablenkung = 2 Ag = 0,87"
berechnet, so ergibt die Relativitätstheorie
die
(11) Ablenkung: 2(Ao +p) = 4A0 = 1,74"
Dies ist das gleiche Ergebnis, wie es auch auf
Grund der Allgemeinen Relativitätstheorie be-
rechnet worden ist.
nach aem Fixstern
^Erde
Liclitablenkung nahe der Sonne.
Zur Berechnung der Perihelbe wegung
elliptischer Bahnen haben wir die Gleichungen :
a(i — £^) dr a(i — £^)s-s\mp
(12)
l+£cosi/»' (iip (i +£• cos )/'/-'
wo: 2a = große Achse der Bahneliipse, und
es ist:
, , r^dip 2 7ra-]/i — «•■'
(13) -zrr'~ h = Const.
dt 1
T = ganze Umlaufszeit, also :
d (// 2 7C(I -j-« ■ cost/')-
dl" ~ T(i—e'^}'l' '
/d(//\^_47r^(i+£.cosi/^)^
Idt/ ~ T^(i—ey
Weiter wird:
^,^r=dj/^4-dr-_r2d(//2 ,dr\3 Idm-
"^ ~" " dt^ ~ dt^ + \d^/ ■ \dt I
(14)
4 7g^a''(i+£.cos (/>)•-' 47r2a2
■s^)
«'-sin-i//
■ cos ip
T-(i-t-) ' T-(i — t-)'
In (13) ist r die Entfernung des Planeten von
der Sonne, die an einem bestimmten Bahnpunkt
gleich sein muß, ob man sie nach der Newton-
schen Mechanik, oder nach der Relativitätstheorie
berechnen würde. Daher ist in (13) r als kon-
stant anzusehen, und nur auf die Änderung p von
(// kommt es an. Somit gilt, vgl. (7):
(•5) -7= .^7:;; ""d nach (55):
(16)
dt d(t + q)
d(i//-)-p) = di/'(2
Da V gegen c immer sehr klein ist, so dürfen
wir ohne merklichen Fehler die höheren Potenzen
von v-:c- vernachlässigen und schreiben:
(17) d(^ + p) = d.//(i + ^,j
Hierin ist der Wert für v' aus (14) einzusetzen:
,. , , , ,,/ , 27r-a-(i+i") 4n''a'-e-cosip\
(18)
Die Integration ergibt
_27i'a^(i -{-e^
272(1.
xp.
4 7r"^a"e-sin j//
■£'^) - ' c^T-^(i
Const. := o.
Für einen ganzen Umlauf wird i/i = 2
also:
47r3pa'-(i +«■■') .
p = — .2YY1 aV '" Bogensekunden
(19)
Ist
ellipse :
(>2) ■ — ,
I -|- £ • cos »/'
SO heißt sie zurzeit t > o :
/ ^ aCl— £2)
(20) '- '
zurzeit t = O die Gleichung der Bahn-
a(i — £-)
I +£-C0S(»/^4"P)'
worin p nach (18) zu berechnen ist.
Da nun weder Größe (aj noch Form (t) der
Bahn sich geändert haben, so sind die Gleichun-
gen (12) und (20) nur dann widerspruchsfrei, wenn
in der Zeit t die ganze Ellipse gegen die Null-
richtung ((/j=:o), die zurzeit t = 0 durch das
Perihel ging, eine Drehung p um die Sonnenmitte
ausgeführt hat. Das Perihel ist um den Winkel p
unter den Fixsternen vorgerückt. Ist T die Um-
laufzeit, an den Fixsternen gemessen, soistT-j-q
die Zeit, während welcher der Planet von Perihel
zu Perihel wandert.
Formel (19) liefert die Perihelbewegung für
einen Umlauf T und entspricht in ihrem zahlen-
mäßigen Betrage einer Formel, die Herr Prof. Dr.
Sommerfeld ebenfalls auf Grund der speziellen
Relativitätstheorie aber auf anderem Wege her-
geleitet und für die von ihm entdeckten Ellipsen-
654
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
bahnen der Elektronen um den Atomkern benutzt
hat. Im Vergleich mit dem Ergebnis der Allge-
meinen Relativitätstheorie gibt Gleichung (19)
wesentlich kleinere Werte — wenigstens für Pla-
netenbahnen, deren Exzentrizität klein ist — , so
z. B. für den Planeten Merkur: 7,45" in lOO Jahren.
Neuere Forschungen zum ükouoiniepriuzip.
Die neuere Naturphilosophie ist im Gegensatz
zu der in der Mitte des 19. Jahrhunderts herr-
schenden spekulativ gerichteten dadurch charak-
terisiert, daß sie in engstem Zusammenhange mit
der einzelwissenschaftlichen Forschung steht. Be-
zeichnend hierfür ist die Tatsache, daß natur-
philosophische Probleme jetzt ebenso oft von Ver-
tretern der Einzelwissenschaften wie von Philo-
sophen in Angriff genommen werden. Einer der
ersten Bahnbrecher dieser neuen Naturphilosophie
war Ernst Mach. Unter den mannigfachen An-
regungen, die er gegeben hat, ist besonders sein
„Prinzip der Ökonomie des Denkens" bekannt ge-
worden und seitdem für die Theorie, insbesondere
der exakten Naturwissenschaften, zu entscheidender
Bedeutung gelangt. Mach bezeichnet „die öko-
nomische Darstellung des Tatsächlichen als die
wesentliche Aufgabe der Wissenschaft". ^) Frei-
lich bleibt bei dieser Formulierung noch manches
zu fragen übrig. Was heißt es, Tatsachen öko-
nomisch darstellen? Wie steht diese Aufgabe zu
den anderen Aufgaben der Wissenschaft? usw.
So ist es denn kein Wunder, daß, so sehr das
Ökonomiegesetz auch bei den verschiedensten
Denkern eine Rolle spielt, darunter durchaus nicht
immer dasselbe verstanden wird. Zum Beispiel
lehnt H. Cornelius die biologistische Theorie,
die das Prinzip bei R. Avenarius findet, aus-
drücklich ab.
Im folgenden soll nun hingewiesen werden
auf einen neuerdings gemachten Versuch, durch
tiefergehende Analyse den wirklich fruchtbaren
Kern des Prinzips klarzustellen.
Der Münchener Mathematiker H. Dingler
hat soeben eine Schrift erscheinen lassen „Rela-
tivitätstheorie und Ökonomieprinzip" (Hirzel, Leip-
zig 1922, 77 S.), die in wesentlich erweiterter
Form diejenigen Probleme behandelt, über die
Dingler auf der Jenaer Tagung der deutschen
physikalischen Gesellschaft 1921 unter dem Titel
„Die Rolle der Konvention in der Physik" -) vor-
getragen hat.
Daß Konventionen in der Physik eine große
Rolle spielen, so führt der Verf. aus, ist eine be-
kannte Tatsache. Aber erst Poincare legt den
Konventionen eine für die Theorie der physi-
kalischen Wissenschaft geradezu ausschlaggebende
Bedeutung bei. In „Wissenschaft und Hypothese"
s. 40,
') Mach, Analyse der Empfindungen. 6. Aufl. 1911,
Abgedruckt in Physik. Zcitschr. 23, 47, 1922.
Einzelberichte.
(deutsch von v. Lindemann 1904) legt er dar,
daß sogar die Frage nach der geometrischen
Natur unseres Raumes dahin zu beantworten sei,
daß es sich hier lediglich um eine konventionelle
Abmachung handle. Die euklidische Geometrie
ist ebensogut durchführbar wie eine nichteukli-
dische. Die nun sofort auftauchende Frage,
welche von den verschiedenen möglichen Geo-
metrien der Physiker denn wählen wird, beant-
wortet Poincare dadurch, daß er sagt: die
euklidische, denn diese ist die einfachste. Daß
sie die einfachste ist, kann mir freilich nur die
Erfahrung zeigen, denn a priori kann ich nur sagen,
daß die euklidische Geometrie als mathematische
Theorie möglich ist; ob sie aber für die Dar-
stellung der physikalischen Tatsachen sich ge-
eignet erweisen wird, das muß mir erst die Er-
fahrung lehren. Es hat sich nun eben gezeigt,
daß sie am vorteilhaftesten, am bequemsten ist,
und darum wird sie gewählt.
Mit diesem letzten Teile der Poincare sehen
Auffassung setzt sich Dingler kritisch ausein-
ander. Gewiß verlangt das Prinzip der Ökonomie,
wenn wir zwischen verschiedenen „logischen Hohl-
formen", Mathematiken, Physiken, Mechaniken die
Wahl haben, welche wir in der Wirklichkeit zur
Durchführung bringen wollen, daß wir die ein-
fachste wählen. Aber eben das so formulierte
Ökonomieprinzip kann noch etwas sehr Verschie-
denes bedeuten, nämlich: „I. Diese Hohlform,
dieses Schema wird bestimmt durch die Forde-
rung, auf einfachste Weise die vorhandenen (Tat-
sachen' darzustellen. II. Dieses Schema wird be-
stimmt durch die Forderung, daß seine eigenen
Grundlagen nach logischen Regeln und nach rein
praktischen, von jeder generellen Erfahrung un-
abhängigen Gesichtspunkten die einfachst denk-
baren sind."
Bezeichnen wir die Ansicht I als die der
außenbestimmten Einfachstheit, die Ansicht II
als die der „innenbestimmten Einfachstheit",
so gilt es, zwischen beiden zu entscheiden.
Dingler sucht nun im Gegensatz zu Poin-
care die Ansicht II als die richtige zu erweisen.
Der Gedankengang ist folgender: Das Problem
der Geometrie unseres Raumes fällt zusammen
mit dem Problem des sogenannten starren
Körpers. Es handelt sich also um die P^rage:
Kann ich den starren Körper durch das Experi-
ment feststellen, oder kann die Erfahrung mir
wenigstens lehren, wie ich den starren Körper
zweckmäßigerweise definiere? Ehe man die Ant-
wort auf diese allgemeine P'rage gibt, kann man
zunächst einmal rein tatsachenmäßig feststellen.
N. F. XXI. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6SS
wie die Herstellung des starren Körpers in den
Fabriken für Präzisionsinstrumente geschieht. Es
zeigt sich nun, daß diese Herstellung unter Ex-
haustion der euklidischen Geometrie vorgenommen
wird, d. h. von zwei Körpern wird derjenige als
der starrere angesehen , der den Gesetzen der
euklidischen Geometrie in höherem Maße genügt.
Es dient hier also, wenn auch meist unbewußt,
das Erfülltsein der euklidischen Geometrie als De-
finition des starren Körpers. Nun freilich bleibt
noch die allgemeinere und schwierigere Frage :
Muß das so sein?
Man konnte vielleicht versucht sein, diese
F"rage zu verneinen und zu behaupten, der natür-
liche Weg sei, einfach empirisch den starren
Körper festzustellen. Nun ist aber zu beachten,
daß der Terminus „starrer Körper" nur eine sym-
bolische Ausdrucksweise ist, denn der starre
Körper kann beliebig weich sein; worauf es an-
kommt, ist nur, daß er keine Gestaltsver-
änderung, d. h. keine geometrische Verände-
rung erfährt. Das ist aber gleichbedeutend damit,
daß er bei jedesmaliger Nachprüfung den Gesetzen
einer bestimmten Geometrie genügt, nämlich der-
jenigen, die zu seiner Definition dient. Diese
logische Definition des starren Körpers ist dann
der Bestimmung der Geometrie des Raumes
gleichwertig. Der Plan, den starren Körper em-
pirisch festzustellen, muß also so lange scheitern,
als ich nicht eine Definition des starren Körpers
habe. Diese aber empirisch zu finden, ist unmög-
lich, denn ich könnte sie höchstens aus der geo-
metrischen Natur des Raumes entnehmen wollen,
was aber wieder den starren Körper voraussetzen
würde. So bleibt uns also nichts anderes übrig,
als von uns aus eine bestimmte Geometrie als
Kriterium des starren Körpers festzusetzen. Leitet
uns nun bei dieser Wahl das Ükonomieprinzip,
so werden wir zu der einfachsten und damit zur
euklidischen Geometrie greifen. Dann erst haben
wir die Möglichkeil, den starren Körper wirklich
herzustellen, denn daß ein unserer Definition
genügender starrer Körper in der Wirklichkeit
vorhanden ist, ist freilich möglich, braucht aber
nicht so zu sein.
Die Einführung der euklidischen Geometrie
erfolgte, wie wir sahen, unter Anwendung des
Okonomieprinzips, und zwar in seiner zweiten
Form als Forderung nach innenbestimmter Ein-
fachstheit. Tatsächlich ist nämlich die Forderung
außenbestimmter Einfachstheit für die Wahl der
Geometrie gar nicht erfüllbar, denn diese P'orde-
rung setzt folgendes voraus: Eine gewisse Menge
von Tatsachenmaterial liegt uns bereits vor. Das
Schema ist dann so zu wählen , daß diese Tat-
sachen darin in einfachster und vollständigster
Weise zusammengefaßt werden. Solche von jedem
Schema, jeder Messungsbasis unabhängige Tat-
sachen gibt es nun selbstverständlich auch; hier-
her gehören nämlich die einfachen phänomeno-
logischen Tatbestände, etwa die Wahrnehmung,
daß die Quecksilbersäule in einem Thermometer
bei Erwärmung steigt. Aber, für die Physik wenig-
stens bedarf es nicht nur solcher phänomenologi-
scher Feststellungen, sondern es bedarf quanti-
tativ durchgeführter Messungen! Diese
aber erfordern bereits den starren Körper, denn
alle Meßinstrumente sind ja nur spezielle Formen
des starren Körpers, und insofern steckt in allen
begrifflich formulierten und quantita-
tiv festgestellten Tatbeständen der starre
Körper bereits darin I Habe ich nun aber einmal
bei diesen Messungen denjenigen starren Körper
gebraucht, der durch das Erfülltsein der euklidi-
schen Geometrie definiert ist, dann kann ich nicht
hinterher irgendwelche Resultate, die etwa nicht
gleich erklärbar sind, durch Einführung einer nicht-
euklidischen Geometrie und damit eines ganz
anderen starren Körpers erklären wollen. An
dieser Stelle führen die Dingl ersehen Über-
legungen zur Ablehnung der Relativitätstheorie.
Die bisherigen Darlegungen umfassen den
ersten Teil der vorliegenden Schrift; ein zweiter
Teil geht auf naheliegende Einwände ein.
Man wird etwa sagen, das angegebene Ver-
fahren der Exhaustion sei doch früher nicht be-
kannt gewesen; trotzdem aber habe man schon
immer starre Körper hergestellt, und zwar sogar
mit ständig steigender Genauigkeit. Gewiß ist
das so; man hat vielleicht ursprünglich Stein oder
Stahl, der dem Tastsinne besonders hart erschien,
ausgewählt und daraus Lineale, Ebenen und Zir-
kel angefertigt. Mit diesen Instrumenten wurden
dann Zeichnungen ausgeführt, und es stellte sich
heraus, daß diese die Gesetze der euklidischen
Geometrie meist erfüllten; nicht immer, aber die
Ausnahmen wurden eben auf fehlerhafte Instru-
mente zurückgeführt, etwa darauf, daß die zur
Anfertigung verwandte Sorte Stahl ungeeignet
sei; man merzte solche Instrumente wieder aus,
traf also zwischen den hergestellten wieder eine
Wahl, die, wenn auch unbewußt, gleichbedeutend
war mit einer Exhaustion der euklidischen Geo-
metrie.
Ging dieser eben besprochene Einwand von
der Voraussetzung aus, daß doch irgendwie der
starre Körper in der Natur in ganz bestimmter
Weise vorgegeben sei, so wird andererseits auch
gelegentlich behauptet, die Wahl des starren
Körpers sei eine ganz beliebige, es sei mög-
lich, auch ein beliebiges Stück Gummi als starren
Körper zu definieren, nur würden dann ganz an-
dere geometrische und physikalische Gesetze
herauskommen. Dies kann entweder so gemeint
sein, daß ein bestimmter Stoff als Material für
den starren Körper angegeben wird oder aber
so, daß ein ganz bestimmtes Körperindividuum
ein für allemal als starrer Körper bezeichnet wird.
Die erste Art der Bestimmung würde nun nicht
anwendbar sein, ohne diesen StofT in bestimmter
Weise zu definieren, wobei man sich aber bereits
der Messung und damit des starren Körpers be-
dienen müßte. Die zweite Art der Bestimmung
wäre aber auch nicht durchführbar, denn ein sol-
656
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
ches Körperindividuum, das heute der Sinnes-
wahrnehmung etwa starr erscheint, kann, wenn
es im Laufe der Zeit unter andere Bedingungen
kommt, sich deutlich verändern; dann bliebe aber
nichts anderes übrig, als eine neue Wahl zu
treffen, die wieder der gleichen Unsicherheit aus-
gesetzt ist. Die Ansicht, daß im Urmeter von
Sevres bei Paris etwa der Prototyp des starren
Körpers vorliege, ist irrig, denn dieses Urmeter
ist vielmehr selbst das Resultat feinster und kom-
pliziertester IVIessungen und wird durch ständigen
Vergleich mit noch feineren starren Körpern
möglichst starr erhalten.
Schwerwiegender als diese beiden Einwände
ist der folgende: Ein Mathematiker wird etwa
sagen, die Axiome der euklidischen Geometrie
sagen nur etwas aus über Beziehungen zwischen
Grundgebilden; diese Grundgebilde selbst können
dabei noch ganz verschiedener Natur sein. So
gelten die euklidischen Sätze über Ebene und
Gerade nicht nur für Gebilde, die dem, was man
anschaulich Ebene und Gerade nennt, ähnlich
sind, sondern auch zum Beispiel für das parabo-
lische Kugelgebüsch, wo dann die Kugeln den
Ebenen, die Schnittkreise den Geraden entsprechen
(bei ausgeschnittenem Büschelmittelpunkt). Die
euklidischen Axiome vermögen also die geome-
trischen Elementargebilde keineswegs eindeutig
zu definieren, also ist auch mit der gegebenen
Definition des starren Körpers dieser noch nicht
eindeutig festgelegt. Um das zu erreichen,
müssen vielmehr bestimmte geometrische Daten,
etwa, wie J. Steiner für die Geometrie der
Ebene angegeben hat, ein fester Kreis mit IVIittel-
punkt und ein Lineal empirisch vorgegeben sein.
Dadurch wird aber der starre Körper bereits vor-
ausgesetzt.
Diese Schwierigkeit (als mathematisches Problem
besonders eindringlich von Wellstein und
Weber im 2. Bande ihrer Enzyklopädie der
Elementar-Mathematik hervorgehoben) löst sich
aber auf folgende Weise. Das für die euklidische
Geometrie übliche Axiomensystem bedarf aller-
dings einer Ergänzung, wenn man zu bestimmten
realen geometrischen Gebilden, wie zu dem starren
Körper, kommen will. Diese Ergänzung besteht
nun einfach darin, daß ' man verlangt, die Ebene
soll eine Fläche sein, deren beide Seiten, abge-
sehen von ihrer Lage, nicht unterscheidbar sind.
Fügt man hinzu, daß die Gerade als Schnittlinie
zweier solcher Ebenen aufzufassen ist, so ist tat-
sächlich nur eine einzige Realisierung
möglich und die angeführte Schwierigkeit be-
hoben. Zur Herstellung des starren Körpers ge-
nügt also nicht die gewöhnliche relative eukli-
dische Geometrie, d. h. diejenige, die die Grund-
gebilde nur untereinander in Beziehung setzt,
sondern es bedarf dazu der reflexiven Geometrie,
d. h. derjenigen, die diese Grundgebilde auch z u
uns in Beziehung setzt.
So zeigt also die Auseinandersetzung mit
diesen Einwänden einerseits, daß eine empirische
Auffindung des starren Körpers nicht möglich ist,
andererseits, daß die Definition des starren Kör-
pers durch die euklidische Geometrie anwendbar
ist. Das ist aber gleichbedeutend damit, daß bei
der Wahl der Geometrie das Ökonomieprinzip
nur als Forderung der innenbestimmten Einfachst-
heit in Frage kommt, als solche aber auch wirk-
lich erfüllbar ist.
In einem dritten Teile werden die gegebenen
Darlegungen noch vertieft durch kritische Aus-
einandersetzungen mit verschiedenen anderen
Forschern auf dem Gebiete der Grundlagen der
exakten Wissenschaften, so mit Einstein,
Schlick, Reichenbach, Born undCarnap.
Darauf soll hier nicht näher eingegangen
werden.
Fragen wir indessen noch, wie die Dingler -
sehe Interpretation des Ükonomiegesetzes zu der
Auffassung anderer Forscher steht, die sich neuer-
dings mit diesem Prinzip auseinandergesetzt haben.
M. Schlick^) betont vor allem, daß das
Okonomieprinzip eine logische Forderung sei,
nicht eine psychologische. Damit ist folgendes
gemeint: Es kommt nicht darauf an, daß man in
der Wissenschaft die Tatsachen in einer möglichst
faßlichen und leicht verständlichen Weise formu-
liert, sondern vielmehr darauf, mit einem Mini-
mum von Begriffen auszukommen. Daß diese
beiden Forderungen durchaus nicht Hand in Hand
gehen, ist leicht ersichtlich. Es ist zum Beispiel
sehr bequem und, was den Aufwand an psy-
chischer Energie angeht, ökonomischer, wenn
man jede Tatsache, die aufgefunden wird, mit
einem neuen Namen bezeichnet, aber gerade
dieses würde dem wahren Geiste des Ökonomie-
gesetzes widersprechen. Es gilt vielmehr, die
Tatsachen untereinander in Beziehung zu setzen,
aufeinander zurückzuführen und so mit einem
Minimum von Begriffen auszukommen. Es ist
bezeichnend, so meint Schlick, daß diejenige
Wissenschaft, in der das am meisten gelungen
ist, die Mathematik, sich bei den meisten Menschen
keiner großen Beliebtheit erfreut und durchaus
nicht als besonders leicht zugänglich und bequem
faßlich angesehen wird.
Wir sahen nun freilich, daß mit der Fest-
stellung, daß das ()konomieprinzip als logische
Forderung zu verstehen sei, noch nicht alle
Fragen erledigt sind. Aber auf die beiden
Möglichkeiten, es als Forderung nach außen-
oder innenbestimmter Einfachstheit durchzu-
führen, findet sich bei Schlick kein Hinweis;
seine weiteren Darlegungen zeigen vielmehr, daß
er nur an die erstgenannte Möglichkeit denkt.
Die Eindringlichkeit aber, mit der er hier vor
der irrtümlichen psychologistischen Auffassung des
Ökonomiegesetzes warnt, ist um so weniger über-
flüssig, als selbst gelegentliche Formulierungen
bei IVIach ein solches Mißverständnis nahelegen,
') M.Schlick, Allgemeine Erkcnntnislehre, Berlin 1918.
S. 81 fl.
N. F. XXI. Nr, 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
657
so, wenn es einmal bei ihm heißt: „Die Wissen-
schaft kann daher selbst als eine Minimumaufgabe
angesehen werden, welche darin besteht, mög-
lichst vollständig die Tatsachen mit dem ge-
ringsten Gedankenaufwand darzustellen." ^)
Vor einem anderen Mißverständnis des Öko-
nomieprinzips warnt W. Koehler. -) Einer ver-
breiteten Ansicht entsprechend, muß, so führt er
aus, „die allgemeine Durchführung einer sonst
so bewährten Theorie der Anerkennung wider-
strebender Tatsachen und der Ausbildung ent-
sprechender neuer Gedanken vorgezogen werden,
und zwar der wissenschaftlichen Sparsamkeit zu-
liebe". Diese Forderung, mit einem Minimum
von Gesichtspunkten auszukommen, kann nun, so
führt Koehler weiter aus, mit Recht nur erhoben
werden, wenn es sich um eine weit fortgeschrit-
tene Wissenschaft handelt, deren systematische
Darstellung dem Abschlüsse nahe ist. Bei einer
jungen Wissenschaft aber (es handelt sich im vor-
liegenden Zusammenhange um die Theorien-
bildung in der Tierpsychologie) wäre es verfehlt,
wenn man „arme Anfänge zu endgültigen Prin-
zipien proklamiert, und den Tatsachen schuldig
bleibt, was man in der Theorie spart".
Treffen diese Bemerkungen nicht auch die
D i n g 1 e r sehe Anwendung des Ökonomieprinzips ?
Freilich, mit seiner Unterscheidung der außen-
und innenbestimmten Einfachheit haben sie nichts
zu tun, aber im übrigen erscheint die Sachlage
doch folgendermaßen : Eine so alte Wissenschaft
die Physik auch ist und so viele sichere Erkennt-
nisse sie schon gewonnen hat, so haben doch
neuere experimentelle Feststellungen sich den
herrschenden Theorien durchaus nicht fügen
wollen. Eine neu aufgestellte Theorie, nämlich
die Relativitätstheorie, vermag den Tatsachen ge-
recht zu werden. Nun aber lehnt Dingler diese
Theorie ab, sucht statt dessen die alte Newton-
sche Mechanik, den euklidischen starren Körper
zu retten und zwar unter Berufung auf das Öko-
nomieprinzip. Heißt das nicht, eben jenen fal-
schen Gebrauch vom Ökonomiegesetz machen,
den Koehler mit Recht verurteilt? Man könnte
vielleicht geneigt sein, diese Frage zu bejahen,
und doch hieße es, die Grundgedanken der oben
besprochenen Schrift fundamental mißverstehen,
wenn man so schließen wollte I
Durch die D i n g 1 e r sehen Überlegungen näm -
lieh wird der Physiker in seiner Forschung in
keiner Weise beeinträchtigt, jedenfalls nicht, so-
weit er lediglich experimentiert. Für die Theorien-
bildung aber gilt es, folgendes zu beachten: Es
gibt zwei grundverschiedene Arten von Theorien;
die einen haben lediglich die Aufgabe, einen vor-
gefundenen Tatbestand zu erklären; sie werden
also auch in erster Linie durch diesen Tatbestand
bestimmt sein; sie können überdies zu neuen
') Mach, Mechanik. 5. Aufl., 1904, S. 530. Sperrung
bei Mach.
') W. Koehler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen.
2. Aufl. Berlin 1921. S. 134 f.
konkreten Fragestellungen Veranlassung geben,
d. h. sie sind an der Erfahrung nachprüfbar. Die
zweite Art von Theorien, die sog. „Universal-
hypothesen", wie sie Dingler an anderer
Stelle genannt hat, umfassen aber letzte allge-
meinste Voraussetzungen, die die betreffende
Wissenschaft und damit auch die Tatbestände,
soweit es sich um quantitativ bestimmte Meß-
resultate handelt, erst möglich machen! So
sicher es nun ist, daß diese Theorien zweiter Art
prinzipiell beliebig und natürlich einer Prüfung
durch die Erfahrung auch nicht zugänglich sind,
so ist doch andererseits klar, daß, wenn man ein-
mal in einer Wissenschaft sich für eine bestimmte
Universalhypothese entschieden hat, auch die im
Laufe der Forschung durch die Tatsachen gefor-
derten Theorien sich zu dieser Grundvoraussetzung
nicht in Widerspruch setzen dürfen. Dieses ist
eine und die einzige Einschränkung, welcher die
Theorienbildung bei der wissenschaftlichen For-
schung a priori unterliegt. Der Physiker läßt
sich hierin mit einem Schachspieler vergleichen.
Den vorgefundenen Tatbeständen des Physikers
entspricht die Konstellation der Figuren, die der
Spieler nach dem Zuge des Gegners antrifft; wie
der Physiker nun eine Theorie aufstellen muß, die
den Tatsachen möglichst gut angepaßt ist , so
wird der Spieler einen Zug tun, der den Um-
ständen möglichst gerecht wird; aber wie der
Spieler hier eingeschränkt ist durch die ursprüng-
lich beliebig, aber dann mindestens für die ganze
Dauer des Spieles ein für allemal festgesetzten
Spielregeln, so der Physiker durch die Grund-
voraussetzungen seiner Wissenschaft, die vor aller
Tatsachenforschung gemacht sind und auch mit
keiner Tatsache in Widerspruch geraten können.
Beachten wir nun, daß die Definition des
starren Körpers eine solche allgemeinste Voraus-
setzung ist, welche die Physik erst möglich macht,
und daß Dingler das Ökonomieprinzip lediglich
auf diese Universalhypothese in Anwendung bringt,
dann erkennen wir, daß ein Widerspruch zu
Koehlers Forderung nicht vorliegt, denn diese
besagt, daß die im Laufe der wissenschaftlichen
Forschung notwendig werdenden Theorien wirk-
lich den Tatsachen gerecht werden. Solche Theo-
rien sind aber etwas prinzipiell anderes als Uni-
versalhypothesen.
Man könnte schließlich noch einwenden, daß
in den Dingler sehen Überlegungen vom Öko-
nomiegesetze die Rede sei, ohne daß aber die
Frage, warum dieses denn in der Wissenschaft
überhaupt eine solch große Rolle spielen müsse,
ausreichend erörtert würde. Für diese und son-
stige weitergehende Forderungen muß aber auf
die an anderer Stelle ') gegebenen ausführlichen
Darlegungen Dinglers verwiesen werden.
Walter Scholz, Berlin.
') Insbes. H. Ding 1er, Grundlagen der Physik. Berlin
und Leipzig 1919. 2. Aufl. in Vorbereitung.
— — , Physik und Hypothese. Berlin und Leipzig 1921.
658
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
Kontinuität des Keimplasmas oder Wieder-
herstellung der Keimzelle?')
Wenn die Biologie sich von der materialistischen
Richtung der vergangenen Periode noch nicht los-
zulösen vermocht hat, so lag es daran, daß es an
einem Begriff gefehlt hat, der belebte und un-
belebte Körper in sich zusammenfaßt und auf
gemeinsamer Grundlage mit einander vergleichen
läßt, jder daher ein sicheres Fundament für die
Darstellung der Lebenserscheinungen gewährt.
Wie liegen die Dinge heute? Auf der einen
Seite gilt noch der Begriff der lebenden Materie,
auf der anderen der der Entelechie. Und doch
ist ein solcher Begriff bereits längst geprägt und
auch angewendet worden, ohne daß indessen
seine Bedeutung für die theoretische Biologie er-
kannt worden wäre. Dies ist der Begriff des
materiellen Systems. In der Fassung, die
er 1894 durch den Physiker Heinrich Hertz
erhalten hat, ist er, wie Cohen-Kysper schon
früher dargelegt hat, geeignet, jene Forderungen
zu befriedigen.
Was bedeutet es, wenn ein Lebewesen als ein
bestimmtes materielles System bezeichnet wird?
Zunächst nichts weiter als daß es in gleicher
Weise wie ein Atom oder etwa wie eine Maschine
• aus einer Summe von elementaren Einheiten zu-
sammengesetzt gedacht werden kann, deren Re-
aktionen durch ihre gegenseitige Bedingungen
(Zusammenhänge) bestimmt werden. Aber dann
ist bereits ein bestimmtes Programm für die Be-
handlung der Lebensprobleme aufgestellt: Die
Folgerungen, die sich aus dem Begriff des mate-
riellen Systems ableiten lassen, sind auch für das
belebte System bindend, die allgemeinen Gesetze,
die in den Reaktionen eines jeden materiellen
Systems zum Ausdruck kommen, sind auch für
die Erklärung der Lebensreaktionen anzuwenden
und es sind keine anderen Gesetze allgemeiner
Art für ihre Erklärung zulässig.
Dies kommt zunächst für eine Frage in Be-
tracht, die für die Biologie von grundlegender
Bedeutung ist. Die Auffassung, die sich neuer-
dings immer mehr Bahn bricht, daß ein Lebe-
wesen als ein einheitliches Ganzes zu betrachten
sei, kann mit aller Bestimmtheit entschieden
werden: Jedes materielle System ist un-
teilbar in Hinsicht auf die Reaktionen,
die an seine Zusammensetzung gebun-
den sind. Ein Molekül Chlornatrium ist un-
teilbar in Hinsicht auf seine spezifischen Reaktionen,
eine Uhr in Hinsicht auf ihre Funktion, eine
Eisenstange als 1 lebel betrachtet.
Um es aber zu verstehen, daß ein Lebewesen
gleich einem einzelnen Molekül ein unteilbares
System darstellt, dient der Begriff der Integra-
tion. In der Fassung, die ihm Cohen -Kyspe r
gegeben hat, bedeutet dieser Begriff die Zu-
') Autoreferat eines auf der Hundertjahrfeier der Gesell-
schaft deutscher Naturforscher uud Ärzte gehaltenen Vortrags.
sammensetzung eines materiellen Systems der Art,
daß eine Einheit immer zum Teil einer Einheit
höherer Ordnung wird. Auch hier dient daher
der Begriff des materiellen Systems als Maß der
Erscheinungen: Die Integration des belebten
Systems setzt sich da fort, wo die des unbelebten
Systems aufhört und steigert sich weit über diese
hinaus. Aus dieser relativen Höhe der Integration,
die sich gleichsam in geomettischer Progression
vom Elektron bis zum Plasma und von da über
die Kern Plasmaeinheit zum vielzelligen Organis-
mus steigert, ergibt sich eine weitere bedeutsame
Folgerung. Jedes materielle System, an das eine
bestimmte Reaktion gebunden ist, ist das kleinste
System, das diese Reaktion vollzieht. Die be-
lebten Systeme sind daher, eben infolge ihrer
überragenden Integration, so wie sie uns er-
scheinen, bereits die kleinsten Systeme, an die
die Reaktionen des Lebens gebunden sind. Sie
können daher unmittelbar, so wie sie uns er-
scheinen, den Gesetzen der Mechanik zugeordnet
werden. Die mechanistische Darstellung fällt mit
der phänomenologischen zusammen.
Auch die Entwicklung stellt demnach eine
einheitliche, elementare Reaktion dar. Die mole-
kulartheoretische Behandlung ist zu verlassen, der
Begriff der Erbsubstanz und die Annahme einer
kontinuierlichen Übertragung abzulehnen. An
Stelle der materialistischen Auffassung
gründet sich die Erklärung auf den dyna-
mischen Vorgang, wie er sich darbietet. Das
Ei, das sich zum Huhn entwickelt, ver-
schwindet als das System, das die Ent-
wicklung einleitet und stellt sich erst
am Ende der Entwicklung wieder ein.
Dies ist die Sprache der Tatsachen, und ihre
analytische Behandlung läßt sofort das dynamische
Bild erkennen.
Wie ist es zu verstehen, daß — schematisch
dargestellt — die Entwicklung durch ein gleiches
System beschlossen wird, wie es sie eingeleitet hat ?
Es muß im Verlauf dieser Reaktion ein rück-
läufiger Vorgang einsetzen. An irgendeinem
Punkt der Phasenbahn müssen die Bedingungen
wiederhergestellt werden, an die die Entstehung
der Keimzelle gebunden ist. Auch hier genügt
die erscheinungsmäßige Darstellung. Der rück-
läufige Teil der Reaktion vollzieht sich gleich zu
Beginn der Entwicklung. Die Eifurchung be-
deutet einen Vorgang rückläufiger Diffe-
renzierung und zwar in zweifachem Sinne.
Erstens, eine spätere Phase der Entwicklung
wandelt sich zu einer früheren um; und zweitens,
das Ei zerlegt sich in Einheiten von fortschreitend
geringerer Differenzierung, d. h. von immer ge-
ringerem Gehalt an differenten Teilen. Dies ist
nicht nur in dem Sinne zu verstehen, daß die
Masse des Eies aufgeteilt wird, es findet auch
eine Aufteilung von determinierenden Faktoren
statt, wie dies schon Rabl für die Bildungsstoffe
des Eiplasmas, Prowazek für die Funktions-
fermente des K^rns angenommen hat und wie
N. F. XXI. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
659
es aus der einfachen Tatsache der Differenzierung
hervorgeht.
Danach läßt sich die Grundlinie des dyna-
mischen Ablaufs zeichnen. Das reife Ei, ein Er-
gebnis der Entwicklung, wandelt sich zu einer
Phase um, in der die unmittelbaren Be-
dingungen zur Wiederherstellung des gesamten
Organismus und damit auch der Keimzelle von
neuem gegeben sind. „Der Teil kehrt auf
eine Phase zurück, aus der das Ganze
von neuem entsteht."
Die Ontogenese ist damit als mechanischer
Vorgang auf einen einfachen Ausdruck gebracht
und läßt sich nun den Prinzipien der IVIechanik
zuordnen. Hierzu dient vor allem ein Prinzip,
das in verschiedener Form eint Reihe von For-
schern unabhängig voneinander aufgestellt haben,
um die Besonderheit des Lebens und der Ent-
wicklung zu erklären, das Ausgleichsprinzip. Das
reife Ei, das sich in einem stabilen Zustand be-
findet, wird durch irgendeinen äußeren Einfluß
aus dem Ausgleich gebracht. Die Wiederherstel-
lung des Ausgleiches findet auf dem zulässig
kürzesten Wege statt. Dieser Weg führt zunächst
zu einer Phase zurück, aus der das Ei als Teil
des übergeordneten Ganzen hervorgegangen war
und die die unmittelbaren Bedingungen zur
Wiederherstellung des Ganzen von neuem enthält.
Nicht Kontinuität, sondern Wiederher-
stellung ist demnach der Grundgedanke dieses
Bildes. Mit der Wiederherstellung des gesamten Or-
ganismus wird auch die Keimzelle wiederhergestellt.
Sie kehrt in den gesetzmäßigen Zustand zurück, in
dem sie in die Entwicklung eingetreten war. Es
wird die typische Konstitution des Geschlechtes
wiederhergestellt, die Chromosomen werden auf
die gesetzmäßige haploide Zahl zurückgeführt und
es werden die Determinanten von neuem erzeugt,
die die Differenzierung des neuen Individuums
leiten.
Die Entfaltung der neuen Keimzelle stellt da-
her in gleicher Weise, wie die Entfaltung eines
jeden anderen Teiles eine spezifische Ent-
wicklungsfunktion dar, die in gleicher Weise
an spezifische Bedingungen, eben die Determi-
nanten, gebunden ist. Diese können, wie für
jede andere Entwicklungsfunktion entweder un-
mittelbar vom Ei auf die embryonale Zelle über-
tragen werden — blastogene Determinan-
ten — oder sie werden im Stoffwechsel der Or-
gane und Organanlagen erzeugt — organogene
Determinanten — oder schließlich, sie können
in physikalischen und chemischen äußeren Ein-
flüssen bestehen wie vor allem bei der Pflanze.
Bei dieser, bei der eine spezifische Keimbahn
überhaupt nicht nachzuweisen ist, ist die Wieder-
herstellung der Keimzelle ausschließlich an organo-
gene oder Determinanten des Mediums gebunden.
Es beruht dies auf den allgemeinen Entwicklungs-
bedingungen der Pflanze. Die Pflanze ist, wie
auch vielfach das niedere Tier auf eine Entwick-
lung eingestellt, die nach der Austeilung der
blastogenen Determinanten mit einer über-
schüssigen Erzeugung undeterminierter ent-
wicklungsfähiger Zellen einhergeht, deren Schick-
sal erst durch die spätere Konstellation der inneren
und äußeren Bedingungen bestimmt wird.
Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den
verschiedenen Arten von Determinanten ist in-
dessen nicht anzuerkennen. Eine Determinante
bedeutet (nicht ganz in Übereinstimmung mit
Roux) immer nur eine Bedingung, an die eine
spezifische Reaktion gebunden ist, d. h. eine Re-
aktion, die sich von anderen Reaktionen des
gleichen Systems oder durch die sich ein System
von anderen Systemen unterscheidet. In der Re-
aktion auf den spezifischen Einfluß, in den all-
gemeinen Bedingungen des entwicklungsfähigen
Systems ist das engere Problem der Entwicklung
zu erblicken.
Auch für die historische Entwicklung der Lebe-
wesen ergeben sich nun neue Ausblicke. In der
steten Wiederholung der Ontogenese kommen
immer wieder die Kräfte zur Entfaltung, die die
Systeme ihrem Ausgleich zuführen. Da sich nun
diese Reaktion durch ungeheure Zeiträume in
immer den gleichen dynamischen Grundlinien
wiederholt hat, so müssen jene Kräfte auch auf
die Umgestaltung der Organismen von Einfluß
gewesen sein. Zur Erklärung dieser Kräftewirkung
dient ein neues, von Cohen-Kysper aufgestelltes
Prinzip, das der Einstellung: Ein jedes mate-
rielle System, das innerhalb seiner Ausgleichsbreite
durch die Reaktion auf einen äußeren Einfluß
eine Veränderung seiner Konstruktion erfährt,
strebt derjenigen Konstruktion zu, auf Grund
deren diese Reaktion mit dem geringsten Zwang
vor sich geht.
Nach diesem Satz, der in den Erscheinungen
der Übung und Bahnung unmittelbar zum Aus-
druck kommt, haben beispielsweise die allgemeinen
Fähigkeiten der Reizbarkeit und Bewegung, die
dem Protoplasma eigen sind, zur Entstehung von
Muskeln und Nerven geführt. Waren die Potenzen
zur Erzeugung dieser Organe einmal entstanden,
dann mußten sie, wieder nach den einfachen
Prinzipien der Mechanik überall da zur Ver-
wendung kommen, wo sie dazu dienten, die Kon-
struktion der Systeme ihrem Ausgleich zuzuführen
(Einstellung in weiterem Sinne). So wurden die
belebten Systeme allein aus der Ursache ihrer
inneren Kräfte, die in immer wiederholter onto-
tischer Entwicklung sich auswirkten, zu immer
weiterer Vervollkommnung gebracht, wie es schon
Nägeli vorschwebte, in dem Sinne, als wir auch
eine Maschine als vollkommen bezeichnen, wenn
ihre Bewegung mit einem Minimum von Zwang
vor sich geht und wenn sie um sämtliche Mög-
lichkeiten bereichert ist. Cohen-Kysper.
Studien über denPhototropismus der Pflanzen.
In einer umfangreichen Arbeit berichtet
H. V. Guttenberg über Versuche, die das
66o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
Problem des Phototropismus von der verschie-
densten Seite beleuchten. Seine Versuche er-
streckten sich auf die Keimscheide (Koleoptile)
des Hafers und sollten zunächst die Frage ent-
scheiden, welchen Einfluß die Größe der beleuch-
teten Fläche auf den Eintritt der phototropischen
Krümmung ausübt. Es war ja von vornherein an
zwei Möglichkeiten zu denken: entweder genügt
schon die Belichtung eines kleinen Flächenele-
ments, um den vollen Effekt auszulösen, oder
aber der Erfolg nimmt mit der Größe der be-
leuchteten Fläche zu. Die Experimente lieferten
eine Entscheidung für den zweiten Fall. Die
Methodik war folgende: Avenakoleoptilen wurden
einseitig beleuchtet und zwar in einer Serienfolge
total, in einer Parallelserie aber derart, daß die
eine Längshälfte durch eine vorgesetzte Blende
beschattet war; die Größe der beleuchteten Fläche
war also nur halb so groß. Es ergab sich nun
eine ganz einfache Beziehung: Die halbseitig be-
lichteten Pflänzchen wiesen eine doppelt so
hohe Reizschwelle auf. Infolgedessen wenden
sich antagonistisch beleuchtete, im optischen
Interferenzpunkt aufgestellte Keimlinge, bei denen
das Licht auf der einen Seite hellseitig abgeblen-
det ist, der freien Fläche zu. Diese Reaktion
bleibt aber aus, wenn die Beleuchtungsdauer auf
der halbbeschatteten Seite verdoppelt wird. Da-
raus folgt, daß die pholotropische Erregung der
Größe der beleuchteten Fläche proportional ist.
Diese Konstatierung bildet eine leicht verständ-
liche Erweiterung des bekannten Reizmengen-
gesetzes. In einem zweiten Abschnitt wendet
sich V. Guttenberg der sehr aktuellen Frage
zu, ob die phototropischen Reaktionen durch die
Strahlenrichtung oder durch das im Inneren der
Pflanze hervorgerufene Lichtintensitätsgefälle be-
dingt sind. Im ersteren Falle würde die Licht-
richtung perzipiert, und das Pflanzenorgan krümmt
sich solange, bis es eine ganz bestimmte Orientie-
rung zu den Lichtstrahlen einnimmt, nach der
zweiten Auffassung dagegen wird die Reizreaktion
dadurch ausgelöst, daß auf den opponierten
F"lanken verschiedene Lichtintensität herrscht, und
das Organ krümmt sich nun solange, bis wieder
gleichmäßige Lichtverteilung eintritt. Hierdurch
wird rein sekundär die Einstellung in die Strahlen-
richtung bedingt. Diese Alternative ist in den
letzten Jahren sehr lebhaft umstritten worden.
Die meisten Forscher haben sich für die Inten-
sitätstheorie entschieden, dagegen wird die alte
Strahlenrichtungsiheorie noch von Lundegardh
vertreten, v. Guttenberg bespricht die Litera-
tur sehr eingehend und gelangt zu dem Schluß,
daß in den meisten Experimenten noch das letzte
zwingende Glied fehlt, wobei sich die Wagschale
freilich fast stets nach der Seite der Intensitäts-
theorie neigt; ganz besonders gilt das für be-
stimmte Versuche von Buder, die nur unter
sehr gewaltsamen Hilfsannahmen im Sinne der
Richtungstheorie umgedeutet werden könnten.
V. Guttenberg stellte nun eine Reihe von
eigenen Experimenten an, die durchaus für die
Richtungstheorie sprechen. Haferkeimlinge wur-
den auf dem optischen Indifferenzpunkt von zwei
opponierten Lichtbüscheln aufgestellt, und jeder-
seits wurden die Flanken hälftig verdunkelt, so
daß die eine Hälfte der Koleoptile beschattet
war, die andere dagegen von zwei gegensinnigen
Strahlenbündeln getroffen wurde; nach der Rich-
tungstheorie sollte man Indifferenz erwarten; in
Wirklichkeit krümmten sich die Keimlinge von
der beschatteten Seite weg, also senkrecht zur
Lichtrichtung; nach der Intensitätstheorie läßt
sich das leicht erklären. Auf der einen Hälfte
herrscht Helligkeit, auf der anderen Dunkelheit;
es erscheint eine Reaktion, die gleichmäßige Licht-
verteilung anstrebt. Lundegardh hat diesen
schon früher ausgeführten und von ihm selbst
bestätigten Versuchen gegenüber eingewandt, daß
auf Grund des kreisförmigen Querschnitts der
Haferkoleoptile die Strahlen beiderseits eine Bre-
chung erfahren und zwar derart, daß auf der be-
lichteten Hälfte ein nach innen konvergierendes
Strahlenbündel entsteht; die Reaktion erfolgt —
der Richtungstheorie entsprechend — in der Re-
sultantenrichtung, v. Guttenberg hat diesen
Einwand in dreifacher Weise entkräftet. Zunächst
zeigte er, daß das Reaktionsbild nicht verändert
wird, wenn man die Keimlinge untertaucht. Da
Wasser nahezu denselben Brechungskoeffizienten
besitzt wie Zellsaft, so wird auf diese Weise die
Strahlenbrechung ausgeschaltet. Ferner stellte er
dieselben Versuche mit Sprossen von Coleus an,
die einen quadratischen Stengelquerschnitt auf-
weisen, und zwar wurde die gegensinnige Be-
lichtung so bewerkstelligt, daß die Strahlen senk-
recht zu 2 Längsseiten auftrafen; auch hier kann
keine Linsenwirkung eintreten. Schließlich be-
lichtete V. Guttenberg Coleussprosse mit zwei
Strahlenbündeln schräg von hinten, also von der
abgeblendeten Schattenseite aus. Die Strahlen
bildeten in einem Versuch einen Winkel von 130",
in einem zweiten einen solchen von 170". Inten-
sitätsgefälle und Sirahlenrichtung verlaufen nun
in umgekehrtem Sinne, die Reaktion erfolgt von
der Lichtquelle weg nach der belichteten Hälfte
zu. Lundegardh hat denselben Versuch mit
Hafer angestellt, und ein Teil seiner Experimente
verlief im entgegengesetzten Sinn. Da aber eine
exakte Strahleneinstellung bei der zarten, konisch
auslaufenden Haferspitze viel schwieriger ist als
bei den derben Coleussprossen, so kommt den
Ergebnissen v. Guttenbergs eine größere Be-
weiskraft zu. Zum Schlüsse wird über Versuche
berichtet, in denen der Reizwert schrägen Lichtes
untersucht wurde. Ein besonders dazu kon-
struierter Apparat bot die Möglichkeit, Keimlinge
gleichzeitig mit 2 Strahlenbündeln unter beliebiger
Winkelrichtung zu belichten. In einer ersten
Versuchsfolge erhielt die eine Flanke horizon-
tales, die andere schräges Licht. Auf Grund
physikalischer Überlegungen sollte man erwarten,
daß die Krümmung stets dem horizontalen Lichte
N. F. XXI. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
661
folgt, da bekanntlich die Lichtintensität mit dem
Kosinus des Einfallswinkels abnimmt. Diese Be-
dingung ist aber nur in dem Interwall von 15"
bis 65 " (von der Koleoptilspitze an gerechnet,
Horizontailicht also = 90 ") und dann wieder von
95 " an aufwärts erfüllt. „Bei der Kombination
90 " und 70 " tritt Kompensation ein, die Kom-
bination 90" und 75 ", sowie 90" und 85" er-
geben ein schwaches Überwiegen des schrägen
Lichtes, zwischen 90 " und 80 " krümmen sich
75"/,, der Pflanzen zu 80"." 80" dominiert aber
über 90 ", 70 " ist gleichwertig 90 ", d. h. der
maximale Effekt wird bei 80" erzielt. Dieses an
sich merkwürdige Verhalten findet darin seine
Erklärung, daß für die Perzeption des Lichtreizes
in erster Linie die konisch auslaufende Koleoptil-
spitze in F"rage kommt. „Diese zeigt eine durch-
schnittliche Neigung von 10", wird also stets von
einem um 10 " erhöhten Winkel vom Lichte ge-
troffen." Damit löst sich der Widerspruch ohne
weiteres. Ganz im Einklang damit stehen die
Experimente, bei denen die Koleoptile beiderseits
mit schrägem Licht gereizt wurde und zwar der-
art, daß das Strahlenbündel auf der einen Seite
schräg von unten, auf der anderen unter dem-
selben Winkel schräg von oben kam ; die Keim-
linge wendeten sich stets dem oberen Lichte zu;
wirken verschiedene Winkel von unten und oben,
dann gibt stets der den Ausschlag, der dem Nei-
gungswinkel von 80 " näher liegt. Daß tatsäch-
lich die Form der Koleoptile für das geschilderte
Verhalten verantwortlich zu machen ist, geht
daraus hervor, daß das Reaktionsbild sofort ver-
ändert wird, wenn man die Koleoptilspitze mit
einem Stanniolkäppchen verdunkelt und das Licht
bloß auf die Koleoptilbasis wirken läßt. Nun
wird durch horizontale Belichtung tatsächlich
allenthalben der maximale Effekt erzielt. Diese
Tatsachen zeigen, daß das „Sinusgesetz", das
Fitting zum erstenmal für den Geotropismus
nachgewiesen hat, auch für den Phototropismus
gilt: der Reizerfolg ist proportional dem Sinus
des Ablenkungswinkels. Nun kann man aber
dieses Sinusgesetz auch in anderer Art beweisen.
Man arbeitet bloß mit einem Strahlenbündel,
variiert die Einfallsrichtung und bestimmt die
Präsentationszeit für jede Winkellage. Gilt das
Sinusgesetz, dann muß die Präsentationszeit pro-
portional dem Sinus des Einfallswinkels (wieder
von der Spitze der Pflanze aus gerechnet) ab-
nehmen. Dieser Weg, der beim Geotropismus
zu einer sehr schönen Bestätigung geführt hat,
ist für den Geotropismus zum erstenmal von
Noack beschritten worden. Noack kam aber
zu einem negativen Resultat, weil er den Ein-
fluß der konischen Spitze nicht berücksichtigte;
seine Daten sind richtig, müssen aber auf
80" umgerechnet werden und führen dann
zu demselben Ergebnis, das aus v. Gutten-
bergs Präsentationszeitbestimmungen eindeutig
hervorgeht, daß nämlich zwischen dem Sinus
des Einfallswinkel und der Präsentationszeit um-
gekehrte Proportionalität herrscht, daß also das
Produkt: Sinus des Einfallwinkels X Präsen-
tationszeit konstant ist. Bezeichnet man den Ein-
fallswinkel mit «, die Präsentationszeit mit T und
führt noch die Lichtintensität J ein, dann gelangt
man zu der Formulierung sin a^ X T, X J =
sin «oT., >, J = c. Für c fand v. Guttenberg
einen Wert von ca. 13 Meterkerzensekunden, der
tatsächlich eine sehr große Konstanz aufwies.
Dieses Sinusgesetz ist nun nichts anderes als ein
Spezialfall des bekannten Reizmengengesetzes, ^)
dessen Geltungsbereich also wieder um ein Stück
bereichert ist. Stark.
Die deu 80" 11, Br. erreichenden oder über-
schreitenden Oefiißpflanzen.
Der nördliche Teil von Grönland nebst den
benachbarten Inseln EUesmere- und Peary Land,
der gesamte Franz- Josephs Archipel und ein Teil
von Spitzbergen reichen noch über den 80 " n. Br.
hinaus. Unsere Kenntnisse von der Pflanzenwelt
dieser hocharktischen Gebiete hat M. Rikli in
der Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Ge-
sellschaft in Zürich, Jahrgang 62, zusammengestellt.
Es sind nach Rikli noch 1 12 Blütenpflanzen,
die in jenen hohen Breiten vorkommen. Bis zum
letzten Stück festen Landes sind auch Blüten-
pflanzen anzutreffen. Eine Nordgrenze der Vege-
tation scheint es mithin überhaupt nicht zu geben.
Das ist recht auffällig, wenn man bedenkt, daß
auf dem antarktischen Kontinent keine einzige
höhere Pflanze vorkommt. Ebenso bleiben in
den Hochgebirgen die Blütenpflanzen mehrere
hundert Meter unter den höchsten Erhebungen
zurück. Die oberste Grenze der Blütenpflanzen
{Saiissurea tridactyla Hook) liegt bei 5800 m in
Westtibet, also noch 3000 m unter der Höhe des
Mt. Everest. Die bisher nördlichsten Pflanzen-
funde stammen von der Lockwood-Insel nördlich
Grönland. Hier unter 83*' 24' n. Br. wurden
noch Ccrastiiim alpinuiii, Dryas integrifolia, Pa-
paver radicatuvi, Saxi/raga ofposififolia gesam-
melt und vom Hydefjord (83" 15' n. Br.) wurden
durch A. Lundager Glyceria aiigitsfaia, Poa
abbrcviata, Pofeiitilla piilcJiella, Salix ardica und
Stellaria longipes mitgebracht.
Wer auch noch die übrigen letzten Pioniere
höheren Pflanzenlebens kennen lernen will, mag
die von Rikli aufgestellte reichhaltige Pflanzen-
liste einsehen. Hier sollen nur die wichtigsten
Gattungen genannt werden, welche die meisten
der hocharktischen Pflanzen stellen. Es sind:
Saxifraga (11 Arten), Carcx (9), Poa, Alsine,
Draba, Rammculus, Poteiiiilla (je 4), Equiseiiim,
Glyceria, Lusula, Mclamirimn, Pcdicularis und
Taraxacum (je 3).
Auch auf die allgemeine Verbreitung der hoch-
arktischen Pflanzen kann hier nicht ausführlich
') sin « X J 'St '''S jeder Winkellage entsprechende
Lichtintensität, sin a X J X ^ '''^ ä°S- MR^'^i^eng^"-
662
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 48
eingegangen werden. Erwähnung mögen nur die
sogenannten „durchgehenden" Arten finden , die
auch in niederen Lagen Mitteleuropas auftreten,
allerdings zumeist in veränderter Gestalt, wie z. B.
Cardamine pratensis, Cystvptens fragilis, Des-
champsia caespitosa, Equisetiim arvcnse, Eriopho-
nun angtisfi/olia u. a. Manche Arten hat die
Hocharktis mit den eurasiatischen Hochgebirgen,
besonders mit den Alpen gemeinsam. Doch trifft
es nicht zu, daß die am weitesten nach Norden
vordringenden Arten nun auch in den Hoch-
gebirgen die größten Höhen erreichen. Ein der-
artiger Parallelismus ist nicht nachweisbar. Die
Ursache dafür liegt entweder in den klimatischen
Verschiedenheiten beider Gebiete oder auch in
unvollständigen Wanderungen.
Besonderes Interesse verdienen die leider noch
spärlichen Angaben über die ökologischen Ver-
hältnisse der hocharktischen Pflanzen. Besonders
groß ist die Zahl der Sumpfpflanzen mit 52 Arten
(= 46,5 7o)i die an recht verschiedenen Stellen
vorkommen. Unter den 3 einjährigen Pflanzen
befindet sich auch Androsace septentrionalc, der
bei uns bekanntlich warme und lichte Örtlich-
keiten bevorzugt. Ein gutes Beispiel für das An-
passungsvermögen der Pflanzen ! Holzpflanzen,
meist niedrige Spaliersträucher, werden 6 auf-
gezählt.
Die meisten hocharktischen Arten nehmen
unter dem Einfluß der abnormen Lebensbedin-
gungen eine ganz veränderte Tracht an: der
Wuchs wird spalier-, rasen- oder polsterförmig,
die Blatiflächen werden kleiner, die Blüten ver-
kümmern und die vegetative Vermehrung, z. B.
durch Ableger, Bulbillen gewinnt an Bedeutung.
Nur wenige Arten {Arjiica alpina, Eriopliornvi
Sclicuchzcri, Alopccnrus alpinus u. a.) widerstehen
den äußeren Emflüssen und dringen unverändert
bis zu den höchsten Breiten vor.
Über die Pflanzenvereine des hohen Nordens
ist auch noch nicht allzuviel bekannt. Die vor-
herrschende Formation dürfte die Fjeldformation
in einer trockenen und nassen Fazies sein. Auch
die Grasmoore (Sumpfmark) sind verbreitet. Lyco-
podiuui Sclago, Saxijraga riviilaris, Ramiiiciilus
pygmaeus u. a. schließen sich gelegentlich zu
Pflanzengenossenschaften zusammen, die an die
Schneetälchenflora der Hochgebirge erinnern. Die
arktische Zwergstrauchheide und die Mattenforma-
tion kommt nur in dürftigen Resten vor, ebenso
auch die Strandflora. E. Schalow, Breslau.
Bücherbesprechungen.
Atlas africanus. Belege zur Kulturmorphologie
der afrikanischen Kulturen. Herausgegeben im
Auftrage des Forschungsinstituts für Kultur-
morphologie von Leo Frobenius und
Ritter von Wilm. Lieferung i. u. 2. Mün-
chen 192 1 ff., Ch. Beck.
Das von Leo Frobenius begründete For-
schungsinstitut für Kulturmorphologie zu München
hat sich das schöne Ziel gesetzt, durch systema-
tische Materialsammlurgen und dann durch die
Verarbeitung derselben zu Verbreitungskarten die
Untersuchungen über Kulturkreise und Kultur-
gruppen zu fördern, und damit dem Geheimnis
der Kultur, ihrer Lagerung und Entwicklung über-
haupt auf den Grund zu kommen. Da das Ma-
terial des Instituts vorderhand im wesentlichen
auf Afrika beschränkt ist, ist zunächst einmal die
Arbeit in diesem Erdteil in Angriff genommen,
und aus diesen Arbeiten heraus erwuchs dann
der jetzt im Erscheinen begriffene Atlas africanus.
Dieser Atlas ist in der Weise angelegt, daß in
ihm nach den drei Gesichtspunkten: Kultur und
Volk, Urkulturen und historische Kulturen, und
kulturelle Wesenheiten zahlreiche Kartenbilder mit
kurzem erläuterndem Text vereinigt werden, die
dann, wenn das Werk einmal abgeschlossen ist,
ein zusammenfassendes Bild über die Morphologie
der afrikanischen Kulturen bieten sollen. Die
beiden ersten Hefte geben zunächst einmal eine
Einführung von Leo F"robenius, der in großen
Zügen das Ziel des Werkes darstellt, dann einzelne
Verbreitungskarten über Stoffe der Tracht, Bett
und Haus, Blick und Blut, Gebläsebildungen, die
Bewegung der hamitischen Kultur, über Gewan-
dung, der König als Gott, Schmied und Gesell-
schaft, Speicher zur Nahrung, die süderythräische
Kultur, die syrtische Kultur. Jede einzelne dieser
Verbreitungskarten umfaßt ihrerseits wieder 2 — 10
Einzelkärtchen, in denen wichtige Einzelerschei-
nungen kartographisch festgelegt sind, woraus sich
dann wieder ein Gesamtbild über den in Frage
kommenden Gegenstand ergibt. Jeder dieser
Karten ist ein kurzer begleitender Text beige-
geben, der in alle wesentlichen Punkte einführt.
Bedauerlich bleibt dabei einzig und allein, daß die
Unterlagen zu den einzelnen Karten nicht mit
veröffentlicht werden, so daß vorderhand eine
Nachprüfung der einzelnen Karten nicht möglich
ist. Wohl soll diesem Übelstande bald durch
Veröffentlichung dieser Unterlagen im Zusammen-
hange mit anderen ausführlichen Arbeilen in den
Abhandlungen des Instituts abgeholfen werden.
Aber wird dadurch das Material nicht wiederum
unnütz auseinander gerissen? Auf jeden Fall
zeigt schon die Zusammenstellung der bisher be-
handelten Gegenstände, wie umfangreich und
vielseitig das Werk angelegt ist. So wird es
denn nach seiner Fertigstellung unweigerlich eine
der wertvollsten Studiensammlungen für jeden
Ethnologen bilden — und ebenso unweigerlich
aber auch zu vielen gleichgerichteten Unter-
suchungen, nicht nur über das in dem Atlas ver-
N. F. XXI. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
663
arbeitete Material, sondern auch verwandter Art
anregen. An und für sich haben ja Anthropologie,
Ethnologie und Prähistorie schon seit langem sich
an derartige kartographische Darstellungen als
wertwoUes Hilfsmittel der Forschung gewöhnt.
Mehr oder weniger neu ist jedoch der Gedanke,
nicht nur ein oder mehrere derartiger Karten
sprechen zu lassen, sondern eine ganze Serie.
Auf prähistorischem Gebiet war dieser Gedanke
bereits etwas früher von K o s s i n n a und W i 1 k e
in einigen Arbeiten befolgt worden (vgl. zuletzt
die Arbeit von Wilke, „Die Herkunft der Kelten,
Germanen und Illyrer", Manus 9, 1917, S. i ff.)
und schließlich haben doch ja auch die Arbeiten
der prähistorischen Typenkartenkommission das-
selbe Ziel im Auge gehabt. Trotzdem hatte es
auf diesem Gebiet noch niemand unternommen,
einmal derartig großzügig mit Karten zu arbeiten,
wie es in dem vorliegenden Werke von dem
Münchener Forschungsinstitut aus geschieht —
einfach und allein deshalb, weil einem Privatmann
immer weit eher Grenzen gesetzt sind, als einem
Institut, das ja auch einen Stab von Mitarbeitern
zur Seite hat. Es ist aber vollständig klar, daß
durch ein derartiges Arbeiten mit zahlreichen,
hunderten von Karten auch die Ergebnisse ganz
anders heraustreten, als bei einem Arbeiten mit
nur wenigen Karten. Wir können deshalb an das
Erscheinen des Atlas africanus nur zwei Wünsche
anschließen: einmal den, daß es dem Münchener
Institut trotz der gegenwärtigen schweren Zeit
vergönnt sein möge, nicht nur diesen Atlas zu
vollenden, sondern dereinst auch einen Atlas euro-
paeus und einen Atlas asiaticus in der gleichen
Weise danebenzustellen — andererseits aber auch
den, daß für unsere deutsche Prähistorie dereinst
ein gleiches Unternehmen erstehen möge, zu dem
jetzt schon so vielerlei Anfänge vorliegen, jedoch
nur noch das Institut fehlt, daß diese Anfange
zusammenfaßt, die Weiterarbeit organisiert und
zu einem gleichen Musterbau ausführt, wie ihn
der Atlas africanus für die ethnologische Forschung
bereits darstellt.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Kleinschmidt, O., Die Singvögel der Hei-
mat. 3. Aufl. Ein Bilderatlas mit 120 Seiten
8" und 86 farbigen Tafeln nebst einigen Ab-
bildungen nach Photos und Zeichnungen. 3. Aufl.
Quelle & Meyer 1921. In Halbl. geb. 50 M.
Rasches Durchblättern dieses Werkes würde
seine Vorzüge übersehen lassen. Diese liegen
großenteils in der Gediegenheit und Exaktheit,
mit der einer unserer tüchtigsten Ornithologen
in den kurzen erläuternden Texten und in dem
kurzen Vorwort und Rückblick spricht. Er spricht
vornehmlich zu Anfängern und traf innerhalb des
Rahmens, der nur die „Singvögel", d. h. die
kleineren unter den Passeriformes umfaßt, sehr gut
die Wahl, was er ausführlich bieten, und was er
nur kurz erwähnen müsse. So ist die ausführliche
Hervorhebung der lange übersehenen Weidenmeise
mit vorzüglichem Bild neben dem der Sumpf-
oder Nonnenmeise und manches ähnliche Vor-
gehen des Verf. sehr dankenswert, nicht minder
die kurzen Hinweise auf Unterarten. Diese
Art der Anlage, peinlich genaue Beobachtung,
Tierliebe und ein unangekränkelter Optimismus
in Anbetracht der heutigen Schicksale der Sing-
vögel machen das Buch dem Benutzer wert. Statt
des Seglers zwar sähen wir doch lieber den
Wendehals abgebildet und jenen nur kurz be-
schrieben. Damit wäre dem Anfänger mehr ge-
dient. Hier und da sind bei aller Kürze auch
geschichtliche Betrachtungen versucht. So wird
uns gesagt (S. 46): „Wie bei Nebel- und Raben-
krähe sind bei Nachtigall und Sprosser zwei einst
weit durch verschiedene Wanderwege und durch
die Eiszeitgletscher getrennte Formen desselben
Vogels einander durch späte Ausdehnung ihrer
Brutgebiete näher gerückt." Dagegen hält der
Verf. nichts von der „kindischen" Anschauung,
daß die Unterarten oder Formen beginnende neue
Arten wären. Da geht er in der Kritik wohl
etwas zu weit, doch daß Kritik überhaupt gegen-
über den Schlagworten am Platze ist, so auch
hier, läßt man sich von dem scharfen Beobachter
gern vorhalten. Die Angaben über die Wande-
rung des Girlitzes nimmt er nicht vorbehaltlos an.
Auch die Abbildungen, meist ganzseitige Typen-
bilder, verdienen großes Lob, da sie, wie einst
beim alten Naumann, vom Verf. selbst her-
rühren und somit er für jeden Pinselstrich die
Verantwortung übernimmt. Nicht wenige sind
ganz ausgezeichnet aufgefaßt und stehen auf der
Höhe des Unübertrefflichen. Leider hat über
viele das Reproduktionsverfahren einen etwas
stumpfen Schleier gebreitet; das wäre wohl auch
bei dem hier verwendeten Rasterverfahren in Zu-
kunft vermeidbar, noch besser ist Steindruck. Im
vorliegenden Falle aber bemerkte ich mit F"reude,
daß abends bei gelblichem Lampenlicht die Far-
ben meist voll und rein hervortreten und somit
viele Bilder lebendiger werden. Auch die zwei
Eiertafeln, die einzigen, die immerhin manches
in der Färbung Verfehlte und in der Form (z. B.
Pirol) Verzeichnete enthalten, werden dadurch
wenigstens besser. Übrigens bringt das Buch ein
richtiges Rotkehlchenbild mit der Herzform des
Rot, was man anderwärts, wie im neuen Nau-
mann und im B r e h m , vermißt.
V. Franz, Jena.
Freudenberg, Wilhelm, Geologie von
Mexiko. 232 S. Berlin 1922, Borntraeger.
Geh. (bei Erscheinen) 81 M.
Gleich zahlreichen Werken deutscher Literatur
entspringt die Studie dem Drange des Verf., sich
selbst Überblick über einen Stoß zu verschaffen,
mit dem er Fühlung gewonnen hat. Einjährige
Tätigkeit am geologischen Staatsinstitut von
Mexiko hat hier den Anlaß gegeben, das über
664
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XXI. Nr. 48
den Aufbau des Landes Bekannte systematisch
zusammenzustellen. Eigene Beobachtungen wur-
den natürlich mit hineinverarbeitet.
Die Stoffgliederung ergibt sich fast von selbst:
Einer geographischen Übersicht folgt eine regio-
nalgeologische Beschreibung der einzelnen Pro-
vinzen, alsdann eine historisch • geologische Dar-
stellung der vertretenen Formationen, zum Schluß
ein Eingehen auf den wichtigen vulkanischen
Faktor des Baues und der Entstehung des
Landes, sowie das Vorkommen bedeutsamer
Lagerstätten, unter denen das Petroleum ja Welt-
ruf besitzt. Natürlich kann im letzteren Falle so
eingehend, wie es der Stoff an sich ermöglichte,
die Behandlung nicht sein, um nicht den Gesamt-
rahmen zu sprengen. Statistisches IVIaterial ins-
besondere ist nur bescheiden verwendet worden.
Die einschlägige Literatur ist in umfangreichem
Maße herangezogen worden. Man ist also an
Hand des Buches in der Lage, sich schnell über
bestimmte Fragen zu unterrichten. Kartenskizzen
erleichtern das Zurechtfinden. Ganz hervorragend
schön ist das Titelbild vom Popocatepetl in N-
Ansicht. Edw. Hennig.
Molisch, Hans, Pflanzenphysiologie als
Theorie der Gärtnerei. Vierte, neubear-
beitele Auflage. Mit 150 Abb. im Text. Jena
1921, G. Fischer.
Der Wunsch Kerners, daß Theoretiker und
Praktiker sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen
möchten, und mit dem Molisch sein Buch be-
schließt, ist auf manchen Gebieten der ange-
wandten Botanik bereits erfüllt. Daß auch die
gärtnerische Botanik allmählich diesen Weg geht,
lehrt der große Erfolg des vorliegenden Buches.
Die Gärtner scheinen doch mit der Zeit einzu-
sehen, daß die Wissenschaft nicht nur ein dekora-
tives Beiwerk ihres Gewerbes ist, sondern daß
sie in der Tat auch die gärtnerische Praxis zu
unterstützen und zu fördern vermag. — Nachdem
die vorigen Auflagen an dieser Stelle gewürdigt
worden sind, ist ein näheres Eingehen auf den
Inhalt des Buches, das in den weitesten Kreisen
ja schon bekannt ist, nicht mehr nötig. — Daß
der Verf wiederum die neuesten Forschungs-
ergebnisse berücksichtigt, soweit es angebracht
erschien, ist selbstverständlich. Außer Botanikern
und Gärtnern kann die Molischsche Pflanzenphy-
siologie jedem Gebildeten, der irgendwie gärtne-
rische oder landwirtschaftliche Praxis ausübt, aufs
wärmste empfohlen werden, wenn er seinen Ge-
sichtskreis erweitern und seine Kenntnisse ver-
tiefen will. Wächter.
Till, Alfred, Petrographisches Praktikum
(Anleitung zur makroskopischen Gesteinsbe-
stimmung, mit zahlreichen Übungsaufgaben).
2. Aufl. Wien 1920, Seidel u. Sohn.
Das Werkchen wendet sich an Angehörige
der Nachbarwissenschaften, um ihnen das AUer-
wesentlichste an petrographischen Begriffen zu
vermitteln und bestrebt sich vor allem Anleitung
zu Übungen am Material zu sein, beschränkt sich
aber bewußt auf makroskopische Hilfsmethoden.
Ob es bei so bescheidener Zielsteckung geboten
ist, in die Nomenklatur so weit hineinzuführen,
wie hier geschieht, mag dahingestellt sein. Zwei-
feln kann man wohl gar, ob sich persönliche
Anleitung überhaupt durch gedrucktes Wort er-
setzen läßt. Da eine Neuauflage möglich war,
muß doch wohl ein Bedürfnis dadurch gestillt
werden.
Indem Sedimente mitbehandelt werden, er-
scheint eine erste Gliederung nach Härte, Dichte
usw. als recht wenig glücklich, da Verschieden-
artigstes in solchen Rubriken nebeneinander er-
scheint und eher zu verwirren droht. Zum Glück
ist die Druckanordnung recht geschickt und ver-
hilft zum Zurechtfinden. Auch die Tabellen
können gute Dienste leisten. Einfachste Aufgaben
sollen der aktiven Mitarbeit des Schülers zugute
kommen. Edw. Hennig.
Langenbeck, B. , Physische Erdkunde.
L Die Erde als Ganzes und die Erdoberfläche.
Slg. Göschen Nr. 849. iio S., 26 Abb. Ver-
einigung wissenschaftl. Verl., Berlin-Leipzig 1922.
12 M.
Als erste von 4 Lieferungen behandelt das
Bändchen Morphologie und gesamt - tellurisches
Wesen in sehr ansprechender und bei aller Kürze
den Kern der Dinge und Probleme herausschä-
lender Darstellung. Die Grenze zwischen Wissen
und Hypothese wird nach Möglichkeit beachtet.
Besonders wird vielfach die Darstellung des Erd-
innern, der Wärme-, Dichte- und Schwere -Ver-
hältnisse, wie der Bedeutung der Rotation für die
Gestaltung der Oberfläche begrüßt werden, weil
auf diesen Gebieten zurzeit ein emsiges Ringen
um Einsicht am Werke ist.
Das nächste Heft soll Luft- und Wasserhülle
zum Gegenstande haben. Edw. Hennig.
lulinit: 11. Stadler, Wandernde Fledermäuse. S. 649. S. v. Kobbe, Über Lichtablenkung nahe der Sonne und Perihel-
bewegung. (X Abb.) S. 652. — Einzelberichte: H. Dingler, Neuere Korschungen zum Ökonomieprinzip. S. 654.
Cohen-Kysper, Kontinuität des Keimplasmas oder Wiederherstellung der Keimzelle? S. 658. H. v. Guttenberg,
Studien über den Phototropismus der l'llanzen. S. 659. M. RiUli, Die den 80° n. Br. erreichenden oder überschreiten-
den Gefäßpllanzen. S. 661. — Bücherbesprechungen: L. l'robenius und Ritter von Wilm, Atlas africanus.
S. 662. O. Kleinschmidl, Die Singvögel der Heimat. S. 663. W. Freudenberg, Geologie von Mexiko. S. 663.
H. Molisch, l'flanzenphysiologie als Theorie der Gärtnerei. S. 664. A. Till, Petrographisches Praktikum. S. 664.
B. Langenbeck, Physische Erdkunde. S. 664.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. PStz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. Band.
Sonntag, den 3. Dezember 1922.
Nummer 49.
Die Lager aus tierischen und pflanzlichen Resten im Diluvium
des Elbstromcebietes.
[Nachdruck verboten. 1 Von Edu
Die oberste Bodendecke der norddeutschen
Ebene, das Diluvium, besteht aus losen Gesteins-
trümmern, und selbst der Geschiebelehm besitzt
nur an seltenen Stellen einen steinharten Zusam-
menhang. Trotzdem unterscheidet er sich deut-
lich von den Sanden und Tonen , weil er eine
Schuttmasse bildet, d.h. aus einem Gemenge
von großen, kleinen und kleinsten Gesteinstrüm-
mern besteht, während die Sande und Tone jeder
einzelnen Bank eine übereinstimmende Korngröße
aufweisen. Seiner ganzen Beschaffenheit nach ist
er somit kein echtes Schichtgestein. Dazu kommt,
daß er gegenüber den Sanden und Tonen merk-
lich zurücktritt; und wenn er auch an einigen
Örtlichkeiten eine auffallende Mächtigkeit erreicht,
so fehlt er doch an anderen Stellen vollständig.
Weil also die Schichtgesleine in vielen Strichen
der norddeutschen Ebene bedeutend überwiegen,
ergibt sich, daß bei der Entstehung des Diluviums
große Mengen von strömendem Wasser aufgetreten
sind, die beim Abschmelzen der Eisdecke frei ge-
worden waren.
Der Geschiebelehm besitzt in dem ganzen
Gebiet eine überraschende Übereinstimmung in
seinem Gefüge, und wenn daher die Schicht-
gesteine beim Zerfall des nordischen Schutteises
aus ihm allein entstanden wären, so müßten auch
sie wieder dieselbe Gleichförmigkeit aufweisen.
Dies ist aber durchaus nicht der Fall , es finden
sich vielmehr Bänke eingelagert, deren Gesteins-
trümmer aus dem vordiluvialen Untergrund stam-
men und die daher mit Recht als „wurzellose
Schollen" bezeichnet worden sind. Das Auftreten
dieser fremden Schichten ist also ein Beleg dafür,
daß die diluviale Eisdecke auch ganz reines Wasser
geliefert haben muß, welches die Gesteinstrümmer
des Untergrundes in Bewegung setzte und wieder
fallen ließ. Diese Tatsache führte mich zu dem
Schluß, die diluviale Eisdecke habe aus zweierlei
Bänken bestanden, nämlich sowohl aus solchen
von nordischem Schutteis, als auch aus
solchen von reinem Heimeis. Während jenes
von den skandinavischen Gebirgen heräbgerückt
war, hatte sich dieses an Ort und Stelle aus dem
angehäuften Schnee gebildet. Vielleicht war das
letztere sogar mächtiger und lieferte daher auch
beim Auftauen den Hauptbeitrag für die Ab-
schmelzwässer.
Die Belege für das Auftreten von Firneisbän-
ken und Schutteisbänken in der norddeutschen
Ebene habe ich in zwei Aufsätzen ^) dieser Zeit-
schrift beigebracht, und ich habe diese kurze Ein-
ard Zache.
leitung auch nur deshalb vorangestellt, weil in
dem folgenden Aufsatz die Arbeit des strömen-
den Wassers ganz besonders deutlich hervor-
treten wird, indem nämlich die Sonderung der
tierischen und pflanzlichen Reste an vielen Lager-
stätten vollkommen durchgeführt ist. In den bei-
den Aufsätzen hatte ich schon den Schluß ge-
zogen, daß auch die organischen Einlagerungen
zu den wurzellosen Schollen des Diluviums ge-
rechnet werden müssen, weil sie sich ebenso regel-
mäßig in den Verband der Schichten einfügen,
wie es die Lager aus fremden Gesteinstrümmern
und die chemischen Niederschläge tun.
Die Lagerstätten mit tierischen und pflanz-
lichen Resten sind im norddeutschen Diluvium
weit verbreitet und vielleicht häufiger als die
chemischen Niederschläge sowie die wurzellosen
Schollen; Wahnschaffe ^) widmet ihnen in
seinem Buche einen Raum von 36 Seiten. Aus
dieser F"ülle will ich hier nur folgende F'und-
punkte auswählen: Klinge zwischen Cottbus und
Forst, die Umgegend Berlins (Berlin selbst,
Neukölln, Kohlhasenbrück, Alt-Geltow, Motzen,
Grunewald, Müggelheim, Klein-Eichholz, Glindow,
Phöben), Nennhausen, Rathenow, die Um-
gegend von Beizig und Niemegk, Hundis-
burg, Ülzen, Westerweyhe, Wiechel bei
Unterlüß, Nieder- und O berohe bei Soltau,
Honerdingen, Deutsch Ewern südlich
von Lüneburg, Godenstedt bei Zewen, der
Kuhgrund bei Lauenburg, Tesperhude,
Glinde, Ütersen, Schulau, Ohlsdorf
(diese letzteren fünf bei Hamburg) und endlich
die Insel Sylt. Die Auswahl ist daher so ge-
troffen worden, daß die Örtlichkeiten im Flußnetz
der heutigen Elbe liegen, und es folgt dann aus
der Übersicht weiter, daß die Fundpunkte sich
in der Richtung des Gefälles häufen, wobei man
allerdings in Betracht ziehen muß, daß die Um-
gebung Berlins besonders reich an ihnen sein
wird, weil hier seit alter Zeit der Bedarf an Sand
und Ton eine größere Anzahl von Aufschlüssen
') E, Zache, Die diluviale Eisdecke und die letzte
Krustenbewegung in Norddeutschland. Naturw. Wochenschr.
N. F. 18. Bd., der ganzen Reihe 34. Bd., Nr. 12, S. 161,
1919.
E. Zache, Die chemischen Niederschläge des norddeut-
schen Diluviums. Ebenda 20. Bd. bzw. 36. Bd., Nr. 32,
S, 457, 1921.
^) F. Wahnschaffe, Die Oberflächengeslaltung des
norddeutschen Flachlandes. 3. Aufl. Stuttgart 1909. S. 292
bis 32S.
666
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
hervorgerufen hat als weiter ab von dieser wich-
tigen Verbrauchsstelle.
Die Lagerbestände sind an den einzelnen
Fundpunkten sehr verschieden, und man kann
zunächst zwei Gegensätze feststellen: einmal fin-
den sich Örtlichkeiten, die nur pflanzliche Trüm-
mer aufweisen, und dann andere, die nur tierische
Reste führen. Endlich treten auch solche auf mit
einer IVIischung von beiden. Von den pflanz-
lichen Lagerstätten kann man sagen, daß sie
an der untersten Elbe und auf Sylt ganz rein
auftreten. Das schönste Beispiel dieser Art ist
das Torflager des Damenbades bei Westerland
auf Sylt,') das früher eifrig ausgebeutet wurde,
und unter der Stadt Westerland ist in einer Boh-
rung das Torflager mit lo m nicht durchsunken
worden, so daß es auch das mächtigste von allen
ist. An anderen Stellen sind die pflanzlichen
Trümmer mit Erde dicht gemengt, und in
Klinge und Körbiskrug liegt der Pflanzen-
mull zwischen parallelen dünnen Ton- bzw. Sand-
bänken. Während die Pflanzentrümmer, wenig-
stenz an einigen Lagerstätten, echte Flöze aus
Schwemmtorf bilden, stecken die tierischen
Reste immer locker in den Erdmassen und
treten niemals in dichten Bänken auf.
Dieser große Unterschied in dem Bau der
beiden Lagerstätten muß zurückgeführt werden
auf die Art und Weise, wie die organischen
Reste verschoben wurden. Die Pflanzentrümmer
schwimmen auf dem Wasser, während die
Reste der Tiere, die Knochen, die Zähne und
die Gehäuse der Schnecken, auf der Sohle des
Stromes entlang gerollt werden. Die Pflanzen-
reste können daher erst zur Ruhe kommen, wenn
das Wasser zu fließen aufhört, während die tie-
rischen Trümmer dort liegen bleiben, wo die
Stoßkraft des Wassers versagt. Wenn daher eine
lO m mächtige Schicht aus Pflanzentrümmern
sich vorfindet, so gehört dazu ein großes Hinler-
land, das den Bestand des heutigen Lagers lie-
ferte. Wo dagegen das Pflanzenlager unbedeutend,
ist, fehlt ein solches. Sylt auf der einen Seite
und Klinge bzw. Körbiskrug auf der anderen Seite
sind die dazu gehörigen Beispiele. Aus der An-
häufung der Pflanzentrümmer im unteren Ab-
schnitt des Elbgeländes folgt daher, daß schon
in der Abschmelzzeit der diluvialen Eisdecke ge-
nau wie heute wieder ein großer Wasserstrom
hier sein Ende erreichte, der ein breites Geäst
von Nebenflüssen sammelte. In den beiden an-
geführten Aufsätzen ist von mir nachgewiesen
worden, daß dieser Strom mit seinen Zuflüssen
ein Untercisstrom war, der von dem darüber
ausgespannten Eisgewölbe mit Schmelzwasser
versorgt wurde.
Die Anhäufung der pflanzlichen Trümmer hat
sich offenbar an jeder einzelnen Lagerstätte in
einer besonderen Weise abgespielt. Wo z. B. die
Schwemmtorfschicht sehr rein und daneben noch
sehr mächtig ist, hat der Wassersirom nichts
weiter mitgebracht als die Pflanzentrümmer. Wo
dagegen, wie in Klinge und Körbiskrug, Pflanzen-
und Erdschichten in mehrfacher Wiederholung
abwechseln, sind die beiden zusammengehörigen
Niederschläge zur selben Zeit, d. h. mit einem
Schub, eingetroffen, und die pflanzlichen und
mineralischen Trümmer haben sich erst beim
Niederfallen gesondert, weil die spezifisch schwe-
reren zuerst zu Boden fielen. Deshalb darf man
bei diesem regelmäßigen Schichtenwechsel viel-
leicht an einen durch den Witterungswandel der
Jahreszeiten bedingten Anlaß denken, der sich
beim Abschmelzen des Inlandeises eingestellt hatte.
Damit aber die Pflanzentrümmer sich glatt auf
der Sohle einer iVIulde niederschlagen konnten,
mußte das Wasser in den Boden einsickern und
sich dort als Grundwasser einen Weg suchen.
Dazu war der Untergrund im Unterlauf der Elbe
besonders geeignet, weil z. B. unter der Stadt
Hamburg das Diluvium i8o und mehr Meter
mächtig ist. An manchen Lagerstätten hat sich
Moorerde angehäuft; hier muß man wohl an
einen Schlammstrom denken, bei dem es also an
Wasser fehlte, um eine Sonderung der Gemeng-
teile zu bewirken.
In den aufgeführten Örtlichkeiten handelt es
sich um echte Torfe, die aus den Geweberesten
der höheren Pflanzen, vermischt mit Früchten,
Samen und Blütenstaub, zusammengesetzt sind.
Nicht wunderbar ist es daher, daß sich auch die
Kieselskelette der Süßwasserdiatomeen in
besonderen Lagern angehäuft haben und z. B. bei
Wiechel 20 m Mächtigkeit erreichen. Dabei ist
es auffällig, daß diese Lager sich nur an meh-
reren Örllichkeiten der Lüneburger Heide zwischen
Ülzen und Soltau, d. h. schon oberhalb Hamburgs,
finden. Auch diese Tatsache deutet daher auf
eine Sonderung der Stromirübe durch die Unter-
eisströme hin.
Ihre sichtende Tätigkeit tritt aber noch deut-
licher bei den tierischen Lagerbeständen her-
vor, weil hier auch an vielen Orten eine Über-
einstimmung der organischen Reste mit der
Korngröße der einschüeßenden Bodenschicht fest-
zustellen ist. Die Andeutung einer solchen geht
z.B. aus der Schilderung Hennigs') hervor; hier
heißt es: In der Nähe des Jagdschlosses Grunewald,
in einer Kiesgrube, wo Sande, Grande und ganz
grobe Gerolle häufig und plötzlich wechseln, fanden
sich die Gehäuse der Paludinen in allen Schichten,
wurden jedoch nach oben hin, wo die Korngröße
bedeutend nachläßt, häufiger angetroffen. Aber
selbst in den ganz groben Gerollen lagen gut-
erhallene Schalen. Hennig berichtet weiter:
„Der Weg längs der Ostseite des Grunewaldsees
') W. Wolff, Geologische Beobachtungen auf Sylt nach ') E. Hennig, Ein neuer Fundpunkt von Paludina dilu-
der Dezemberflut 1909. Monatsber. d. deutsch, geolog. Ges. viana. Monalsber. d. deutsch, geolog. Ges. Nr. 12, 1908,
'910, S. 40. S. 342.
N. F. XXL^'Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
667
ist mit diesem Kies beschottert worden, und hier
lagen noch zahlreiche Paludinen. Dies ist ein
Zeichen für die Widerstandsfähigkeit der Gehäuse,
d. h. der gute Erhaltungszustand spricht nicht
gegen sekundäre Lagerung." Auf eine streng
durchgeführte Sichtung deutet das Profil von Alt-
Geltow unweit Werders a. H. hin, wo nur die
kleinen Gehäuse der Valvaten und Bithynien un-
regelmäßig zerstreut in einem pulverförmigen
Niederschlag eingebettet sind. Und von den
Zähnen der großen Säugetiere aus den alten Rix-
dorfer Sandgruben wird berichtet, daß sie sich in
einer 2 m mächtigen Kiesschicht dicht über der
Sohle gefunden haben.
Wo die Sonderung der organischen Reste
nebst den begleitenden Bodenschichten streng
durchgeführt ist, war offenbar ein langer Unter-
eisstrom im Betrieb gewesen, der keine Zuflüsse
aus der Nachbarschaft aufgenommen hatte, die
gröbere Trümmer in seinen Lauf führten, als er
imstande war weiter zu bewegen. Solche Fälle
sind indessen auch sehr häufig, denn in Klinge
hatte man zwei fast vollständige Skelette gefunden,
und zwar stammt das eine von einem Mammut
und das andere von einem Rind. Dieser Um-
stand lehrt, daß der Weg zwischen der heutigen
Fundstelle der großen Knochen und dem Lager-
platz unter dem Eise nur ein sehr kurzer gewesen
sein kann. Auch das Vorkommen der Paludinen
des Grunewaldes bestätigt, daß die Stoßkraft der
Untereisströme sehr veränderlich sein konnte.
Die bisher angeführten Lagerstätten sind in
Aufschlüssen bloßgelegt worden, und daneben
gibt es noch eine große Zahl, die durch Tief-
bohrungen festgestellt wurden. Die letzteren
sind um so wertvoller, weil sie Auskunft geben
über die wechselnde Höhe, in welcher die orga-
nischen Einschlüsse in der diluvialen Decke auf-
treten. Die tiefste Schicht unseres Gebietes ist
die Paludinenbank, die nach den Gehäusen
dieser Schnecke genannt wurde, obwohl man da-
neben noch andere Conchylienreste festgestellt
hat. In Berlin selbst und rings um Berlin ist sie
an vielen Stellen erbohrt worden, und die Ge-
häuse zeigen oft einen so guten Erhaltungszustand,
daß man deswegen auf eine Siedlungsstätte
schließen könnte. In diesen Bohrungen ist die
Paludinenbank 40 m unter der Talsohle der Spree
angetroffen worden. Und in derselben Höhe über
dem IVleeresspiegel findet sie sich auch noch in
einer der Rüdersdorfer Tiefbohrungen. Diesen
tiefsten Fundpunkten stehen indes eine große
Anzahl höhere gegenüber, z. B. der bei P h ö b e n ,')
wo die Paludinenbank unter der Oberfläche des
Haveltales liegt und zwar 25 m über dem Meeres-
spiegel, also bedeutend höher als jene unter dem
Spreetal, weil sie hier erst 10 m unter dem
Meeresspiegel angetroffen wurde. Der Fundpunkt
im Grunewald erhebt sich über die Ebene des
märkischen Seespiegels, und ich habe die Gehäuse
sogar in den hangenden Sauden einer der Glin-
dower Tongruben gesammelt sowie in einer Kies-
grube dicht unter einer dünnen Decke aus Oberem
Geschiebelehm. '^ Der Aufschluß liegt auf der Süd-
böschung der Lebuser Höhe gegenüber von
Fürstenwalde a. S. bei dem, Gute^ Palmnicken un-
gefähr 68 m über dem Meeresspiegel, ^j Die Rix-
dorfer Säugetierreste treten in der Höhe des
Spreetales auf Im tieferen Untergrunde Ham-
burgs endlich sind im Diluvium Einlagerungen von
Meeresconchylien festgestellt worden, die also in
den Eisgewölben durch Meeresströmungen an-
gehäuft worden waren und zwar zu einer Zeit,
als die diluvialen Ablagerungen das Meer noch
nicht so weit zurückgedrängt hatten wie heute.
Was nun die Pflanzenlager und ihre Ver-
teilung in den diluvialen Schichten betrifft, so
lagert das Torflager Sylts auf dem Vorstrand,
und die Tiefbohrungen in der Stadt Westerland
haben die Torflager in derselben Höhe angetroffen.
An der Böschung des rechten Eibufers bei Ham-
burg, die 6 — 7 m hoch ist, ruhen die Pflanzen-
reste in der Ebene des Strandes. Das Motzener,
das Klinger und das Körbiskruger Torflager
wurden in Ziegeleigruben aufgeschlossen, und die
Diatomeenlager der Lüneburger Heide liegen auch
flach, denn bei Wiechel schwankt die Sanddecke
zwischen 1,5 und 3 m Mächtigkeit. Die tierischen
Reste sind daher durch das ganze Diluvium ver-
teilt, während die pflanzlichen allein in den
höheren Lagen angetrofTen werden. Das geht
aus den aufgeführten Beobachtungen hervor und
folgt auch aus der Art und Weise, wie die Pfianzen-
trümmer verschoben wurden; weil das strömende
Wasser sie länger in Bewegung hielt, so konnten
sie sich erst niederschlagen, als die Masse des
Schmelzwassers schon bedeutend abgenommen
und seine Stoßkraft zum großen Teil verloren
hatte. Wenn die tierischen Reste meistens locker
verteilt in den Schichten sitzen, so kommt es
doch auch vor, daß sie an manchen Stellen auf-
fallend zahlreich vorhanden sind, wie dies z. B.
aus einer der Rüdersdorfer Bohrungen -) hervor-
geht. An der betreffenden Stelle heißt es, daß
„der Sand mit massenhaften zum Teil wenig ver-
letzten, weiß- oder blauschaligen Paludina dilu-
viana angefüllt war". Diese Sandbank war 5,5 m
mächtig.
Wenn ich in den tierischen und pflanzlichen
Anhäufungen des Diluviums Anschwemmungen
erblicke, die ich mit den wurzellosen Schollen
auf eine Stufe stelle, so muß ich folgerichtig die
Siedlungen, die vorher die Tiere und Pflan-
zen bewohnten, auf der tertiären Oberfläche unter
der diluvialen Decke suchen. Die aufgefundenen
Reste, namentlich die tierischen, weisen darauf
') Den Nachweis dieser Stelle verdanke ich Herrn Ober-
') F. Soenderop und H. Menzel, Interglaziale palu- ingenieur Bennhold, Fürstenwalde,
dinenführende Ablagerungen von Phöben bei Werder a. H. ^) Erläuterungen der geologischen Spezialkarte von Freu-
Monatsber. d. d. geol. Ges. Nr. 2, 1909, S. 57. ßen 1900, S. 41.
668
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
hin, daß die Siedlungsstellen Wasserbecken waren;
und wenn sich in den Anschwemmungen Samen
und Früchte sowie Blätter von Landpflanzen nebst
Knochen von Landtieren finden, so sind sie vom
Wind und Wasser erst in die Sammelstellen be-
fördert worden. Unter dem Wasser und später
unter dem Eise konnten die organischen Reste
allein ausdauern, und alle Überbleibsel, die auf
dem trocknen Boden lagerten, wurden durch die
Verwitterung zerstört.
Bisher ist mir keine Siedlungsstätte auf dieser
Grenzfläche bekannt geworden, wohl aber habe
ich die Tren nu ngs fläche selbst an einigen
Stellen vorgefunden. Im Sommer 19(4 war eine
solche in einer Ziegeleigrube bei Hansdorf, 10 km
südlich von Sorau, in großer Ausdehnung freigelegt
worden. Man hatte einen diluvialen Kiesrücken
abgeräumt, um zu dem tertiären Ton zu gelangen.
Seme Oberfläche bildete eine ganz glatte wage-
rechte Ebene, in welche breite flache Rinnen,
die kaum auffielen, eingeschnitten waren. Sie
erinnerte mich lebhaft an die Oberfläche des
Rüdersdorfer Muschelkalkes, wie sie am Ausgang
des vorigen Jahrhunderts auf den flach einfallen-
den Schichtflächen am nördlichen Rande sich
darbot, natürlich fehlten auf dem tertiären Ton
die Schrammen. Die Photographie Wahn-
sc ha ff es zwischen S. 80 und 81 hat diese Er-
scheinung aus Rüdersdorf festgehahen. Eine
zweite ausgedehnte Grenzfläche zwischen Diluvium
und Tertiär ist von mir ') nach einer Photographie
wiedergegeben worden. Sie findet sich in dem
Tagebau der Grube Finkenherd südlich von
Frankfurt a. O. Hier stößt die Braunkohle mit
einer Verwerfungskluft gegen weißen tertiären
Quarzsand, und beide Gebirgsglieder werden von
einer wagerechten Ebene begrenzt, auf welcher
als unterstes Glied des Diluviums eine 5 rn mäch-
tige Bank aus Geschiebelehm lagert, der steinhart
ist und eine graue Farbe besitzt.
Die wagerechte und glatte Herrichtung der
Flächen in den beiden Fällen genügt wohl schon
allein, um sie als eine Flutebene ansprechen zu
können. Und es müssen daher hier große Wasser-
massen entlang geflossen sein , die alle Uneben-
heiten der Sohle beseitigten. Bei einer derartigen
Stoßkraft des Wassers, wie sie sich gerade in dem
Fall der Grube Finkenherd offenbart, darf man
wohl schwerlich hoffen, ausgedehnte Siedlungen
auf der Grenzfläche anzutreffen. Die Wasser-
massen, die eine solche Arbeit verrichteten,
strömten über weite Gebiete dahin wie etwa das
Meer zur Zeit der Ebbe und Flut. Ihre Quellen
lagen in der Eisdecke, die selbst flächenhaft und
lückenlos die ganze norddeutsche Ebene über-
spannte. Die Schmelzwässer werden sich in der
ersten Zeit, nachdem das Auftauen eingesetzt
hatte, noch gleichmäßig auf der Oberfläche ver-
') E. Zache, Die subglaziale Abrasionsebene zwischen
dem Braunkohlengcbirgc und dem Moränengebirge in der
Provinz Brandenburg. Brandenburgia. Monalsbl. d. Ges. für
Heimatkunde der Prov. Brandenb. XX. Jahrg., 1911, S. 225.
teilt haben, weil die unterste Lage der Eisdecke
wohl ganz allein aus Heimeis bestand. Sobald
aber erst an vielen Stellen die Decke der Eis-
gewölbe aus- nordischem Schutteis aufgebaut war,
wird dort eine Hemmung in der Zufuhr des
Schmelzwassers eingetreten sein. Auf diesen
Unterschied in dem Bau der Eisgewölbe und die
F"olgen, die sich daraus für die Zusammensetzung
der Niederschläge auf der Sohle der Eisgewölbe
ergaben, habe ich in dem ersten der beiden Auf-
sätze ausdrücklich hingewiesen. Und die glatte
Decke aus Geschiebelehm in der Braunkohlen-
grube Finkenherd und der Kiesrücken über dem
tertiären Ton bei Hansdorf sind Belege dafür, daß
hier die Decke des Eisgewölbes schon aus nor-
dischem Schutteis bestanden hat. Es mag hier
nur kurz angedeutet werden, daß die Beschaffen-
heit der heutigen Decken an beiden Önlichkeiten
auf die Bodenschichten, die das Liegende bil-
den, zurückgeführt werden muß. Die Sande und
die Braunkohlen in Finkenherd waren nämlich
imstande die letzten Reste des Schmelzwassers
aus der nordischen Schutteisdecke zu verschlucken,
so daß der Untereisstrom hier versiegte und der
gesamte Gesteinsschutt des nordischen Eises, ohne
eine Sonderung zu erfahren, sich niederschlug,
während bei Hansdorf der undurchlässige Ton
das letzte Schmelzwasser auf seiner Oberfläche
sammelte, so daß es abfließen mußte, wobei es
die feinen Gesteinstrümmer aus der Schutteisdecke
entführte.
Weil nun die Schmelzwasserströme die Ober-
fläche unter der Eisdecke gründlich abgeräumt
haben, so daß dort schwerlich Siedlungen erhalten
geblieben sind, so bleibt nichts weiter übrig, als
die organischen Anschwemmungen des Diluviums
darauf zu prüfen, ob sich zwischen ihnen minerali-
sche Reste der tertiären Oberfläche feststellen
lassen. Eine solche Stelle, wo dies der Fall ist,
findet sich bei Hundisburg in der Nachbarschaft
von Neuhaldensleben. Wahnschaffe berichtet
S. 308, daß unter einer 0,5 bis 2,5 m mächtigen
Decke aus Geschiebelehm ein 1,5 m mächtiges
Lager aus groben Schottern sich ausbreitet, die
hauptsächlich einheimischen Ursprungs sind, d. h.
Porphyrite und Grauwacken führen und Land- und
Süßwasserschnecken nebst Wirbeltierresten ein-
schließen. Und der Pflanzenmull von Körbiskrug
ruht zwischen farblosen kleinen Quarzkörnchen
tertiären Sandes. In beiden Fällen müssen daher
die organischen Trümmer mit den mineralischen
zusammen verschoben worden sein.
Die Prüfung der Lagerbestände hat nun
ergeben, daß die diluviale Tier- und Pflanzen-
gesellschaft fast völlig mit der heutigen überein-
stimmt, und man kann nur sagen, daß die zeit-
genössische Tiergesellschaft etwas ärmer an Arten
ist als die diluviale. Dies geht z. B. deutlich aus
einer Liste, die H. Menzel') zusammengestellt
') H. Menzel, Klimaänderungen und Binnenmollusken
im nördlichen Deutschland seit der letzten Eiszeit. Zeitschr.
d. d. geol. Ges. 62. Bd., 1910, S. 199.
N. F. XXI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
669
hat, hervor. Im Diluvium lebten nämlich 21 1 Arten
hier, während im Alluvium nur 107 aufgezählt
werden. Von den großen Säugetieren haben sich
die meisten nach dem Abschmelzen des Eises
wieder eingestellt, und es fehlen nur die großen
Dickhäuter, nämlich die beiden Nashörner und
die beiden Elefanten. Die Nashörner und der
eine der Elefanten, das Mammut, sind echte Dilu-
vialtiere, während der andere Elefant, der E. anti-
quus, schon im Pliocän das nördliche Europa be-
wohnte, wie die Funde aus dem Forest bed in
Norfolk zeigen. Er war offenbar ein wärmeliebendes
Tier, wie weiter daraus hervorgeht, daß seine
Trümmer im Diluvium Afrikas festgestellt worden
sind. Er war daher wahrscheinlich schon vor
dem Mammut in Norddeutschland ausgestorben,
so daß seine Oberreste aus einer älteren Zeit
stammen müssen. Sie bilden daher in diesem
Punkte den Übergang zu einer anderen Gruppe
von Diluvialfunden, nämlich von solchen, die noch
älter sind und daher aus tieferen Schichten aus-
gespült worden sind, so daß sie schon vor der
Eisbedeckung in den Sammelbecken der alten
Oberfläche den diluvialen Resten beigemengt
worden waren. Von Pflanzenresten einer älteren
Zeit gehören hierher die Früchte von Dulichium
und die Samen von Brasenia. Namentlich die
letzteren sind durch ihre Härte ausgezeichnet,
weil ihre Samenschale stark verholzt ist , und
außerdem haben sie eine kugelrunde Gestalt.
Diese Ausrüstung sicherte die Samen, so daß sie
gegen das Verderben gut geschützt waren, und
daher ist es kein Wunder, wenn N eh ring in
Klinge tausend Stück von ihnen sammeln konnte.
Die Fundstücke einer älteren Zeit haben somit
eine wiederholte Umbettung erfahren, indem sie
aus einer ursprünglichen Lagerstelle zunächst
durch einen Wasserstrom in die Sammelstelle
unter der späteren Eisdecke geschafft worden
waren und von dort erst zu der heutigen durch
das Schmelzwasser. Die Schwierigkeiten, die sich
bei der Untersuchung und Deutung der Lager-
bestände der organischen Niederschläge ein.stellen
können, werden durch einen Fund aus Klinge
besonders hell beleuchtet. Dort hatte sich eine
Samenart gefunden, die seinerzeit (1890) nicht
bloß die Berliner Botaniker,^) sondern auch die
von außerhalb lebhaft beschäftigte. Ascherson
hatte diesen Fund die Rätselfrucht genannt, und
Nehring taufte die Art Paradoxocarpus carina-
tus. Potonie stellte darauf fest, daß der Bau
des Samens völh'g mit dem der tertiären Gattung
Fulliculites übereinstimmte, und bezeichnete die
zugehörige Pflanze daher F. carinatus. Da fand
Keil hack,-) daß die fraglichen Samen die der
Wasserschere (Stratiotes aloides) seien, so daß
damit ein weiteres Mitglied unserer heutigen
Flora gefunden war, das schon vor der Vereisung
hier gelebt hatte.
Die diluvialen Bänke beherbergen indes neben
diesen eben beschriebenen Funden aus einer äl-
teren Zeit noch Reste, die sicher aus den Braun-
kohlenflözen stammen. Bei Halbe (5 km südlich
von Königs -Wusterhausen) hat Wah n seh äffe ^)
und nicht weit davon, zwischen Groß Besten und
Gräbendorf habe ich in den Wänden der Ziegelei-
gruben Brocken und Staub sowie auch Holzstücke
aus der Braunkohle gefunden; die letzteren waren
zum Teil wie Bachgerölle abgerundet. Solche
Funde lehren, daß die Schmelzwässer auch ge-
legentlich tief in den Untergrund eingedrungen
waren und von dort Trümmer emporgebracht
hatten, die sie unvermischt wieder absetzten. Es
ist daher ein Unterschied zu machen, ob die äl-
teren Trümmer mit den diluvialen gemischt an-
getroffen werden oder ob sie sich rein vorfinden.
In letzterem Falle müssen die Untereisströme
andere Wege eingeschlagen haben als jene, welche
die oberirdischen Sammelstellen der alten Ober-
fläche berührten. Es ist auch möglich, daß die
Braunkohlenflöze an manchen Stellen an die Ober-
fläche unter. dem Eise heranreichten oder daß sie
erst durch die Krustenbewegung an diese alte
Oberfläche herangebracht worden waren, nachdem
sie völlig abgeräumt worden war. Krustenbewe-
gungen spielten gegen das Ende der Eiszeit eine
große Rolle in der norddeutschen Ebene, und
ich habe in den beiden ersten Aufsätzen dafür
schon eine Anzahl Belege beigebracht, die im
folgenden noch um einige vermehrt werden
können.
Die Spuren der Krustenbewegungen
waren seinerzeit gerade auch in Klinge und Körbis-
krug gut zu beobachten. In beiden Profilen fielen
die gebänderten Schichten unter einem spitzen
Winkel gegen den Horizont ein. Dieses Verhalten
tritt besonders in einer Skizze Credners') hervor,
weil dort die pflanzenführenden Schichten an ihrer
oberen Kante von einer wagerechten Linie ab-
geschnitten werden und die hangenden Schichten
horizontal verlaufen. Im Jahre 1911 habe ich in
Körbiskrug vor dem Profil eine ganz ähnliche
Skizze angefertigt. Diese auffällige Abweichung
in der Lagerung zwischen dem Liegenden und
dem Hangenden ist in vielen Profilen der nord-
deutschen Ebene festgestellt worden, und ich habe
in dem ersten Aufsatz einige von ihnen aufgeführt
und erläutert. In der Crednerschen Zeichnung
ist aber außerdem noch die Spur einer zweiten
Störung eingetragen. Und zwar findet sie sich
') Neuere Untersuchungen des diluvialen Torflagers bei
Klinge unweit Koltbus. Nach Veröffentlichungen von H.
Credner, K. Keilhack, A. Nebring, H. Potonie,
F. Wahnschaffe, C. A. Weber und A. Weberbauer.
Naturw. Wochenschr. VIII. Bd., 1893, Nr. 37, S. 393.
-) K. Keilhack, Über Fulliculites. Naturw. Wochen-
schrift XI. Bd., 1S96, Nr. 42, S. 504.
') F. Wahnschaffe, Zur Kritik der Interglazialbildun-
gen in der Umgegend von Berlin. Monatsber. d. d. geolog.
Ges. Nr. 5, 1906, S. 152.
^) H. Credner, Über die Stellung der Klinger Schich-
ten. Berichte über die Verhandlungen der Kgl. sächs. Ges.
der Wissenschaften zu Leipzig. Math.-physik. Klasse. Leip-
zig 1892, S. 3S5.
fi/o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
unter der wagerechten Linie des Profils; sie er-
streckt sich hier nur bis zu einer geringen Tiefe
hinab und hat auch nur eine beschränkte Aus-
dehnung. Die pflanzenführenden Schichten sind
nämlich an dieser Stelle gekröseartig zusammen-
geschoben, während in ihrer Nachbarschaft und
darunter die Schichten völlig ungestört lagern.
Hier sind somit an einer Stelle zwei Stö-
rungen ausgebildet, eine große und eine kleine,
und die letztere ist gerade von besonderer Wich-
tigkeit, weil sie von dem Vorhandensein eines
Eisgewölbes ein klares Zeugnis gibt. Ich
lege daher das Klinger Profil in folgender Weise
aus: die pflanzenführenden Schichten wurden auf
der Sohle eines Eisgewölbes abgelagert; nachdem
der Absatz eine gewisse Mächtigkeit erreicht
hatte, setzte die Krustenbewegung ein und hob
die Sohle empor. Dabei ging natürlich auch das
Eisgewölbe in Trümmer, und einzelne Eisblöcke
bohrten sich in den Grund ein. Nachdem darauf
die Ruhe wieder eingetreten war, bildete sich
abermals ein Untereisstrom, der nun die Sohle
erst wieder einebnen mußte, bevor der Absatz
der hangenden Sande beginnen konnte. Der
Untereisstrom hatte somit nach der Krusten-
bewegung für eine kurze Zeit seine Rolle ver-
tauscht und wird natürlich auch eine Anzahl der
pflanzenführenden Schichten zerstört haben, deren
Trümmer von neuem in den Schmelz wasserstrom
eingereiht wurden und vielleicht unterhalb wieder
zum Stilliegen kamen.
Natürlich wurden damit auch die Spuren der
Störung, die im Liegenden von den herabgestürzten
Eisblöcken erzeugt worden waren, zum größten
Teil entfernt, und nur die, welche tief genug
hinabreichten, blieben erhalten. In Klinge hatte
der Aufschluß nur eine geringe Ausdehnung und
eine schwache Mächtigkeit, so daß man die Linien
des Profils nicht sehr weit verfolgen konnte. Auch
in Körbiskrug war der Stoß mit den pflanzen-
führenden Schichten nur klein; dafür war aber
seinerzeit der Aufschluß hier tiefer, und ich konnte
in meiner Skizze unter den pflanzenführenden
Schichten eine Tonbank einzeichnen, die einen
großen flachen Sattel bildete, der mit den pflanzen-
führenden Schichten parallel lief. Und dieser flache
Sattel ist die untrügliche Spur einer Krusten-
bevvegung. Die Mullschichten von Klinge und
Körbiskrug sind daher vor der Krustenbewegung
abgesetzt worden, und von den Torflagern auf
Sylt berichtet W. Wolff, daß sie sichtlich ge-
staucht sind, denn sie liegen keineswegs horizontal,
sondern stellenweise stark geneigt, so daß auch
sie von der Krustenbewegung betroffen worden
sind.
Von den Braunkohlenhölzern und den Schmit-
zcn aus Braunkohlenbrocken und Braunkohlen-
pulver von Halbe und Gräbendorf ist an dieser
Stelle noch nachzutragen, daß sie sich dort nur
über der wagerechten Flutebene in den han-
genden Sauden vorfinden, so daß hierdurch an-
gedeutet wird, daß die Braunkohlenflöze erst durch
die Krustenbewegung in den Schmelzwasserstrom
hineingehoben worden waren.
In Klinge ist der Einsturz des Eisgewölbes
zweifellos durch die Krustenbewegung hervorge-
rufen worden. Das war aber nicht überall der
Fall. E. Hörn und C. GageP) veröffentlichen
Profile, bei denen die große Störung fehlt und
nur die kleinen unter der wagerechten Linie auf-
treten. Das Torflager von Winterhude bei
Hamburg liegt unter einer 4 — 7 m mächtigen
Sanddecke mit horizontaler Schichtung und setzt
sich aus mehreren Flözen zusammen , die durch
Sandlagen getrennt sind. Von den liegenden
Schichten ist nur die unterste ungestört, während
die darüber liegenden in stärkster Weise gestaucht
sind, so daß die obersten zu liegenden und völlig
überkippten Falten zusammengeschoben worden
sind. Die Störungen hören also mit großer Schärfe
auch hier unter der wagerechten Flutebene auf.
Das Winterhuder Torflager zwingt dazu, eine
neue Gruppe von pflanzenführenden Schichten
aufzustellen, in die man auch das Laue nburger
einreihen muß. (Wahnschaffe S. 80). An
beiden Örtlichkeiten liegen die Torfschichten auf
Geschiebelehm, der hier aus der obersten Lage
einer nordischen Schutteisschicht übrig geblieben
ist. Zur Zeit der Eisbedeckung muß darüber
noch eine Schicht aus reinem Heimeis gelagert
haben, die beim Abschmelzen das letzte Eisge-
wölbe bildete, so daß unter ihm die pflanzen-
führenden Schichten nebst der deckenden Sand-
schicht von dem Untereisstrom angehäuft wurden.
Die Decksande sind in Winterhude völlig frei
von Geschieben — höchstens lagern einige am
Rande — und führen in Lauenburg nur kleine
Steine, die aus der benachbarten Schutteisdecke
ausgespült worden waren. Diese beiden Torf-
lager sind daher die jüngsten, die indem be-
grenzten Gebiet angehäuft wurden.
In Klinge traten in dem hangenden Sande Kiese
und Gerolle auf und zwar solche nordischer und
südlicher Herkunft, die also auf eine Decke aus
Schutteis schließen lassen, die von Norden und
Süden vorgerückt war. Das Auftreten oder
Fehlen von Geschieben in den hangenden Sauden
dieser weit auseinanderliegenden Örtlichkeiten
darf bei der Auslegung nicht vernachlässigt wer-
den, weil man daraus schließen kann, daß sich
nur in den nördlichen Strichen eine mächtige
Decke aus Heimeis als oberste Schicht bis zum
Ende der Eiszeit erhalten hatte, die in den süd-
lichen Gegenden vielleicht gar nicht zur Ausbil-
dung gekommen war. Daher scheint mir diese
Tatsache deutlich für die Abhängigkeit der Eis-
decke von der geographischen Breite zu sprechen.
In Winterhude, wo der künstliche Aufschluß
ziemlich ausgedehnt ist, wurde in dem Mulden-
') E. Hörn, Die geologischen Aufschlüsse des Stadt-
parkes in Winterbude und des Elbtunnels und ihre Bedeutung
für die Geschichte der Hamburger Gegend in postglazialer
Zeit. Monatsber. d. d. geol. Ges. Nr. 3, 1912, S. 130. Dazu
in der Diskussion C. Gagel.
N. F. XXI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
671
tiefsten als Unterlage des Torfes auch Sand fest-
gestellt , so daß bei dem Absatz ein Abzug für
das Schmelzwasser vorhanden war. In Lauenburg
liegt ein natürliches Profil vor, das durch die Ab-
stürze des Eibufers bloßgelegt wurde. Hier zieht
sich der Geschiebelehm in gleichbleibender Mäch-
tigkeit unter der ganzen Mulde hinweg, und da-
runter lagert Sand. Somit muß man annehmen,
daß auch an dieser Stelle ein Durchlaß durch den
Geschiebelehm zum Sand vorhanden sein wird.
Die Mulde aus Geschiebelehm ist hier durch eine
Verwerfungskluft begrenzt, und daher wird ihre
Entstehung wohl mit der Krustenbewegung im
Zusammenhang stehen; daraus kann man wieder
weiter folgern, daß das Torflager erst nach der
Lagerungsstörung entstanden ist; und mithin
wird es auch aus diesem Grunde zu den jüngsten
zählen.
Die Aufschlüsse, welche die Pfianzenlager bloß-
legen, deuten an, daß die Eisgewölbe, besonders
die jüngeren, nur einen bescheidenen Umfang
hatten, und W. Wolff meldet z.B., daß auf Sylt
bei den Tiefbohrungen schon in 8 m Entfernung
von einem erbohrten Torflager der Torf nicht
wieder angetroffen wurde. Sodann hatH. Cred-
ner festgestellt, daß in Klinge die Wanne des
Torflagers in Ostwest 150 — 160 m breit war,
während sie in Nordsüd eine viel beträchtlichere
Ausdehnung besaß. So viel mir bekannt, muß
man wohl die Paludinenbank unter Berlin und
Umgegend als die umfangreichste Lagerstatt an-
sehen, und, weil sie tiefer liegt als die übrigen,
darf man wohl den Schluß ziehen, daß in der
ersten Zeit des Abschmelzens die Eisgewölbe
dauerhafter waren als später. Wenn nun, wie
das Winierhuder Profil unzweifelhaft lehrt, die
Eisgewölbe auch ohne besonderen Anlaß ein-
stürzen konnten, so mußten die Untereisströme
ihr Bett häufig verlegen, und Ansammlungen und
Durchbrüche des Wassers werden ihre Stoßkraft
gelegentlich völlig verwandelt haben, so daß man
sich nicht wundern darf, wenn es Profile gibt,
wo die mineralischen Absätze sehr schnell in der
Korngröße wechseln.
Die Profile von Klinge und Körbiskrug lehren,
daß die Untereisströme auch nach der Krusten-
bewegung die Einebnung wieder aufgenommen
haben, und wenn daher an vielen Stellen der
norddeutschen Ebene eine hügelige Landschaft
auftritt, so konnten sie sich hier nicht entfalten.
Auf eine besondere Ursache für diesen Ausfall
habe ich in dem ersten Aufsatz hingewiesen.
Das Gefüge der diluvialen Schichten bildet
trotz ihrer großen Mannigfaltigkeit ein zusammen-
hängendes Ganzes, und seine Entstehung muß
daher auch auf eine einzige Ursache zurückgeführt
werden, nämlich auf die Arbeit der Untereisströme
in den Eisgewölben. Und sogar die Krusten-
bewegung, die gegen das Ende der Eiszeit ein-
setzte, hat die Untereisströme nicht wesentlich
beeinflußt, weil nämlich die Sprunghöhe der Ver-
werfungen und die Aufwölbung der Schichten
nicht tiefgreifend genug sind. Das geht z. B. klar
aus der Stelle hervor, wo die Spuren der Krusten-
bewegung am deutlichsten in die Erscheinung
treten, nämlich bei Freien walde : Das Oderbruch
ist ein Graben, aber der Höhenunterschied zwischen
der Sohle des Niederoderbruchs und dem benach-
barten höchsten Punkt der Barnimhöhe beträgt
nur 150 m. Die Krustenbewegung hat indes für
den beobachtenden Geologen den Vorteil, daß
ihre Spuren an vielen Stellen den Lauf eines
Untereisstromes besonders deutlich anzeigen, weil
sie die Diskordanz und die wagerechte Flutebene
erzeugt hat.
In dem von mir ausgewählten Abschnitt hängt
die Richtung der Untereisströme, wenigstens in
dem südlichen Randstreifen, zweifellos von dem
gebirgigen Untergrund ab. In Thüringen z. B.
sind deutliche Anzeichen dafür vorhanden, daß
die Untereisströme auf dem festen Gesteinsunter-
grund entlang geflossen sind, weil nämlich das
Diluvium an sehr vielen Ortlichkeiten mit einer
Schotterschicht beginnt, die nur einheimische Ge-
steinstrümmer enthält. Und die Heimat dieser
verfrachteten Gesteinsbrocken an bestimmten
Stellen ist der Thüringer Wald, wie die Por-
phyrite und Porphyre dieses Gebirges lehren, die
auch in den Schottern leicht wieder zu erkennen sind.
Das nordische Schutteis hat den Thüringer Wald
selbst nicht erreicht, doch ist wohl anzunehmen,
daß er von Heimeis bedeckt war, das beim Ab-
schmelzen reines Wasser lieferte für die Verschie-
bung der losen Gesteinstrümmer. Diese sind
dann in den Eisgewölben weit ins Vorland hinein
verlagert worden.
Einzelberichte.
Blühendes Wasser.
Bei der Wasserblüte handelt es sich um
Planktonalgen, die ein recht interessantes Problem
bergen. Die Algen sind dadurch ausgezeichnet,
daß sie spezifisch leichter sind als das Wasser.
Sie steigen daher in völlig ruhigem Wasser
empor und sammeln sich an der Oberfläche,
während sie bei bewegtem Wasser in mehr
oder weniger große Tiefen gelangen. Die große
Mehrzahl dieser Algen gehört zu den blaugrünen
Algen (Cyanophyceen), nur Botryococcos Braunii
ist eine Grünalge (Chlorophycee). — Über die
Ursache des Steigvermögens nun sprach in der
letzten Sitzung des Naturwissenschaftlichen Vereins
in Hamburg Prof. Dr. H. Klebahn von den
Hamburger Botanischen Staatsinslituten. Nach
seiner Untersuchung, über die er schon vor
672
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
28 Jahren am gleichen Ort Mitteilungen gemacht
hat, ist die Ursache des Steigvermögens bei Bo-
tryococcos eine fettähnliche Beschaffenheit und
Fettdurchtränkung der Zellwände, bei den wasser-
blütebildenden Cyanophyceen aber eine Durch-
setzung des Protoplasmas der Zellen mit „Gas-
vakuolen". Molisch hat die Theorie der Gas-
vakuolen bestritten. Er behauptet, daß die frag-
lichen Gebilde aus einer „festweichen" nicht näher
bekannten Substanz bestehen, aber sicher keine
Luft enthalten. Der Vortragende hat sich neuer-
dings mit dem Gegenstande beschäftigt, um die
Einwürfe Molischs zu widerlegen und sichere
Beweise für die Richtigkeit seiner ursprünglichen
Lehre zu bringen. Die Gasvakuolen erscheinen
hell im auffallenden, dunkel im durchfallenden
Lichte, wie winzige Luftbläschen in einem licht-
brechenden Medium. Sie werden, ähnlich wie
Luftbläschen, von gewissen Flüssigkeiten absor-
biert, ertragen aber in der trockenen Alge ein
Erhitzen auf mehr als 200 Grad. Sie verschwinden
momentan bei einem genügend starken auf die
Algenmasse ausgeübten Druck (mindestens etwa
4 Atmosphären), und zwar, wie der Vortragende
annimmt, durch Absorption im umgebenden Proto-
plasma. Dabei verliert die Alge gleichzeitig ihr
Steigvermögen. Einen völlig sicheren Beweis für
den Gasgehalt liefert die Erfahrung, daß bei dem
Druckversuch, der mittels der Zentrifuge oder
mittels einer Gasbombe ausgeführt werden kann,
eine dauernde Volumenverminderung eintritt,
welche der Algenmenge, die der aus Algen und
Wasser bestehende Brei enthält, proportional ist.
Danach läßt sich ermitteln, daß die Gasmenge
ungefähr 0,7 % der Algenmasse ausmacht, was
mit der aus dem spezifischen Gewicht der Alge
berechneten Menge gut übereinstimmt. Der
direkte Nachweis durch Freimachung des in den
Algen enthaltenen Gases wurde nach verschie-
denen Verfahren versucht. Er bereitet aber
wegen der geringen Menge des Gases und wegen
der Möglichkeit zahlreicher Versuchsfehler große
Schwierigkeiten. Auf verschiedene Weise wurde
festgestellt, daß das Gas weder Kohlensäure noch
Sauerstoff noch brennbare Gase in merklichen
Mengen enthält; es muß daher wesentlich aus
Stickstoff bestehen, der sich allerdings, weil es
kein bequemes Reagens auf Stickstoff gibt, nicht
direkt nachweisen läßt. Verschiedene Umstände
lassen darauf schließen, daß die Zellmembranen
und die Vakuolenwände einen hohen Grad von
Festigkeit haben. Dies erklärt die Unbeeinfluß-
barkeit der Gasvakuolen durch das Vakuum der
Luftpumpe, eine Erscheinung, die Molisch als
einen wesentlichen Beweisgrund gegen die Gas-
natur geltend gemacht hatte. Petersen.
Die Vererbung des Heriiiapliroditismus bei
Melandriuni.
Die rote Lichtnelke (Melandrium rubrum) ist
eine diözische Pflanze, bei der indeß dann und
wann vereinzelte zwittrige Individuen beobachtet
werden können. Es handelt sich hierbei aller-
dings nicht um reine Zwitter, vielmehr sind stets
männliche Blüten neben den hermaphroditischen
vorhanden, und diese beiden Blütentypen sind
durch zahlreiche Zwischenstadien miteinander ver-
knüpft , was dafür spricht , daß die Zwitter hier
sekundär aus Männchen hervorgegangen sind. Mit
den Erblichkeitsverhältnissen dieser Zwitter be-
schäftigt sich eine Arbeit von Günther und
Paula Hertwig (Zeitschr. f. ind. Abstl. 28,
1922). Es wurden zunächst 5 Grundversuche an-
gestellt, die zu folgendem Ergebnis führten:
1. $X? gibt in Fl 185 $ + 168 ^.
2. ^ X normales ^ gibt 14 ? + 14 j^* -f- 14 $.
3. normales ? X 5 gibt 263 $ -}- 246 <J -f
3 5-
4. $ aus Fj von Versuch 1 X normales (J gibt
450 2 + 330 c? + 93 5-
5. $ aus F"i von Versuch I X 5 gibt 103 $
+ 5 c? + 73 ^.
Aus 4 und 5 ist zu ersehen, daß sich Weib-
chen , die von Zwittern stammen , ganz anders
verhalten als normale Weibchen. Normale $ X
normale (J geben bloß $ und ^ in gleicher An-
zahl (typisches Verhalten von Melandrium rubrum),
während in Versuch 4 noch dieselbe Zahl Zwitter
hinzutritt. Ferner geben normale ? X 5 ^^st aus-
schließlich 9 und ^ und nur ganz vereinzelte ^
(Versuch 3), während bei den von Zwittern stam-
menden $ das Verhältnis zwischen Männchen und
Zwittern gerade vertauscht ist. Diese Befunde
werden nun im Einklang mit den Goldschmidt -
sehen Auffassungen über Geschlechtsvererbung in
folgender Weise gedeutet: Sowohl Männchen als
auch Weibchen haben beiderlei Geschlechts-
faktoren (M und F), aber, im männlichen Ge-
schlecht, das nach Correns digametisch ist,
d. h. zweierlei Sorten von Keimzellen produziert,
— männchenbestimmende und weibchenbestim-
mende in gleicher Anzahl, — ist der weibliche
Geschlechtsfaktor im heterozygotischen Zustande
vorhanden. Die Konstitutionsformel für die $
lautet also FF MM, für die (J FfMM; FF ist stär-
ker als MM, Ff dagegen schwächer als MM, da-
her resultieren im einen Fall Weibchen , im an-
deren Männchen. Für die Zwitter muß man nun
annehmen, daß die weiblichen Faktoren (sowohl
F, wie auch f) eine Valenzverstärkung erfahren
haben, was durch einen angehängten Index aus-
gedrückt werden soll; wir erhalten also für die $
FiFjMM und für die ^ FJ^MM. F^FjMM ist a
fortiori ein $, F^fjMM nimmt dagegen infolge der
Verschiebung des Gleichgewichts Zwittergestalt
an. In dieser Weise lassen sich die 5 Grund-
versuche in qualitativer Hinsicht wenigstens in
befriedigender Weise erklären. Dies sei hier im
einzelnen durchgeführt.
Versuch i. Gekreuzt werden FifjMM X
FjfjMM (Zwitter X Zwitter).
Eier: FjM, f,M. Pollen: FjM, fjM.
Nach Mendel scher Regel zu erwarten :
N. F. XXI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
673
iFiFjMM (?) + 2FifiMM (§) + i fJ^MM (^).
Beobachtet: 187 ? -|- 168 5^; die Zwitter sind
also in zu geringer Anzahl aufgetreten, die zu er-
wartenden homozygotischen Männchen fehlen; das
eine führen die Verff. darauf zurück, daß nach
Correns die weibchenbestimmenden Pollen-
schläuche in der Konkurrenz überlegen sind, das
andere beruht wohl darauf, daß die Kombination
fifjMM nicht lebensfähig ist, wofür die große An-
zahl tauber Formen geltend gemacht wird.
Versuch 2. Gekreuzt Fif^MM X Ff MM (^ X
norm. (J).
Eier: FjMj, f^M. Pollen: FM. fM.
Zu erwarten: F^FMM + FJMM + Ff^ MM
+ fifMM, F,F MM sind Weibchen, F^f MM schwache
Zwitter, FfjMM Männchen mit schwacher Tendenz
zum Zwitterlum, fjfMM ist wiederum nicht lebens-
fähig; damit stimmt das Ergebnis sehr gut über-
ein; es erscheinen $, ^ und ^ in gleicher An-
zahl (je 14), die Zwitter zeigen ihrem Blütenbau
nach starke Tendenz zur Männlichkeit.
Versuch 3. Gekreuzt FFMM X F^f^MM (nor-
males ? X ^).
Eier: FM. Pollen: F^M, fjM.
Zu erwarten: FF^MM + Ff,M[VI (d.h. ? + <?).
Beobachtet: 263 $ -|- 246 c? + 3 5; das ver-
einzelte Auftreten von 3 Zwittern ist so zu er-
klären, daß durch das Vorhandensein von fj im
männlichen Bastard die Tendenz zum Zwittertum
ein wenig gesteigert ist den normalen Männchen
gegenüber.
Versuch 4. Gekreuzt FjFjMMXFfMM (? aus
Zwitterzucht X (?)•
Eier: FjM. Pollen: FM, fM.
Zu erwarten: FjFMM (?) + FjfMM ($).
Beobachtet: 450$, 330 cj und 93^; es treten
also neben den zu erwartenden $ und ^ auch ^
in großer Anzahl auf; das Fehlen von f, im männ-
lichen Bastard gegenüber den normalen Zwittern
(FjfjMM) bedingt also eine Verschiebung nach
der Männchenseite; genotypisch handelt es sich
um Zwitter mit Unterdrückung der gemischt ge-
schlechtigen Blüten. Das wäre experimentell noch
zu erweisen.
Versuch 5. F^F^MM X FJ^MM ($ aus Zwitter-
punkt X $)■
Eier: F^M. Pollen: F^M, f,M.
Zu erwarten: F,FiMM -f- FJ^MM ($ und §).
Erhalten: 103 $ -f" 5 c? + 73 5. also auch
hier Übereinstimmung, wenn man von dem spora-
dischen Auftreten von ^ absieht. Die zahlreichen
Unstimmigkeiten im Verhältnis von ^ und ^ er-
klären sich leicht, wenn rnan bedenkt, daß cj und
5 durch kontinuierliche Übergänge miteinander
verbunden sind. Sicher spielen auch äußere Fak-
toren (Ernährungsverhältnisse) bei der Verschie-
bung des Gleichgewichts mit. Durch die geschil-
derten Kreuzungen wird die genotypische IVlannig-
faltigkeit von Männchen, Weibchen und Zwittern
noch vermehrt. Es treten 3 Genotypen von $
(FFMM, FFjMM und F^FiMM), 2 Genotypen von
^ (FJjMM, FJMM) und 2 Genotypen von (J
(Ff MM und FfjMM) auf. Durch zahlreiche weitere
Kreuzungen und Analyse der F, Generation konnte
das Vorhandensein dieser Typen tatsächlich er-
wiesen werden. Diese Ergebnisse schließen sich
in schöner Weise an die bekannten Versuche von
Goldschmidt über die Intersexualität bei
Schmetterlingen (I^ymantria) an , durch die die
Hypothese von quantitativen Valenzunterschieden
im Verhältnis der Geschlechtsfaktoren in die Wissen-
schaft eingeführt wurde. Die Verff. weisen darauf
hin, daß man in derselben Weise auch die grund-
legenden Versuche von Correns über die Kreu-
zung von Bryonia alba ^ X B. dioica (J oder $
erklären könnte, durch die zum erstenmal das
heterozygotische Verhallen irn Geschlechtsfaktor
nachgewiesen wurde. Baur und Correns neh-
men hier einen besonderen Faktor für Geschlechts-
trennung an, eine Auffassung, die sich auf dem
hier beschrittenen Wege umgehen läßt. Man
braucht bloß anzunehmen, daß Bryonia alba ho-
mozygotisch ist in den Geschlechtsfaktoren (FFMM)
und daß sich FF und MM das Gleichgewicht
halten; alle Individuen sind demnach Zwitter.
Bei B. dioica ist das (J heterozy gotisch geworden
(Ff MM); F hat an Valenz gewonnen, f dagegen
verloren und zwar derart, daß FF > MM, Ff < MM.
Auf Grund dieser Annahme läßt sich auch die
von Correns verzeichnete Tatsache erklären, daß
bei der Kreuzung von B. alba und B. dioica neben
den reinen Weibchen auch häufig solche mit ein-
zelnen männlichen Blüten entstehen, eine Er-
scheinung, die nach der Corrensschen Auffas-
sung eine besondere Hilfsannahme erfordert. Es
handelt sich hierbei offenbar um die Bastard-
formen, die durch Faktorenkombination hinsicht-
lich ihrer Valenzverhältnisse gerade in der Mitte
zwischen Monözie und Diözie stehen.
Stark.
Neue AtomgewicMsforschnngeu.
Nachdem durch die Methode der Kanalstrahlen-
analyse für viele Elemente nachgewiesen wurde,
daß sie Gemische von chemisch einheitlichen
Atomen mit etwas verschiedenem Gewicht dar-
stellen, sind genaue Atomgewichtsbestimmungen
von großem Interesse geworden. F. W.Ast on^)
fand durch die Massenspektroskopie in Kanal-
strahlen, daß das Element Bor aus einer Haupt-
komponente mit dem Atomgewicht ii,o und
einem Begleiter vom A. G.-) 10,0 besteht. Aus
der Linienintensität der beiden Boratome im
Massenspektrum, berechnet Aston als prak-
tisches A.G. des in der Natur vorkommenden
Bors den Wert 10,75^0,07. Dieser Wert stimmt
aber nicht mit dem auf chemischem Weg er-
mittelten A.G. des Bors ii,o überein, wie er bis
vor kurzem von der internationalen Atomgewichts-
') F. W. Aston, Isotopes. 152. S. Arnold u. Co.,
London 1922.
''} A.G. ^= Atomgewicht.
674
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
kommission anerkannt wurde. Auf Grund einer
Untersuchung von va n Haagen und Smith im
Jahre 1917 mußte das A.G. des Bors auf 10,9
erniedrigt werden. Eine Nachprüfung dieser Kon-
stanten war sehr erwünscht; sie erfolgte von
O. Hönigschmid und L. Birkenbach ^) durch
Analyse des Bortrichlorids. Dieses war auf das
sorgfältigste von A. Stock dargestellt worden,
und es wurden durch Hönigschmid und
Birkenbach 3 in Glaskugeln eingeschmolzene
Präparate von BCI3 analysiert. Es ergab sich im
Mittel für das Atomgewicht des Bors der Wert 10,82,
welcher gut mit dem von Aston nach der Kanal-
strahlenanalyse berechneten Wert übereinstimmt.
Gleichzeitig gelangten auch Gregory P. Baxter
und Scott mit Hilfe der gleichen Methode wie
Hönigschmid für das Mischelement Bor zu
dem A.G. 10,83.
Quecksilber zeigt nach Aston bei der Kanal-
strahlenanalyse Atome von der Masse 197 — 204.
Brönsted und von Hevesy") gelang eine
teilweise Trennung der Quecksilberatome durch
ideale Destillation. Das spezifische Gewicht der
erhaltenen Quecksilberfraklionen ergab sich für
den kondensierten Anteil zu 0,999824 und für
den nachgebliebenen Anteil zu 1,000164, wenn
die Dichte des unverdampften Quecksilbers als
Einheit angenommen wird. Aus den spezifischen
Gewichten dieser beiden Quecksilberfraktionen
berechnet sich für ihre Atomgewichte ein Unter-
schied von 6 Einheiten der zweiten Dezimale.
Brönsted und von Hevesy überließen ihre
Quecksilberfraktionen zu Atomgewichtsbestim-
mungen an Hönigschmid') und seine Mit-
arbeiter Birken bach und St ein heil. Diese
arbeiteten eine Analysenmethode aus, die es ge-
stattete, das gesuchte A. G. mit hinreichender
Schärfe zu fassen , um die erwarteten kleinen
Differenzen mit Sicherheit nachweisen zu können.
Durch Einwirkung von reinem Chlor oder Brom-
dampf auf reinstes Quecksilber im Quarzapparat
wurden HgClg und HgBrj dargestellt, sublimiert
und geschmolzen. „Die beiden HgSalze wurden
nach der Wägung in ammoniakalischer Lösung
mit reinstem Hydrazin reduziert, die klare Lösung,
die nunmehr nur Ammoniumchlorid bzw. -bromid
enthielt, von dem zu einem einzigen Tropfen ver-
einigten Quecksilber quantitativ abgezogen und
in der üblichen Weise analysiert." Es gelang, die
Bestimmungsmethode so zu verfeinern, daß das
ermittelte A.G. des normalen Quecksilbers Hg
= 200,61 in 20 Bestimmungen eine mittlere Ab-
weichung von nur + 0,005 aufwies. Die leichtere
Fraktion von v. Hevesy und Brönsted ergab
als Mittel von 7 Bestimmungen das A. G. Hg
==^200,57+0,004 und die schwerere Fraktion
zeigte als Mittel von 7 Bestimmungen das A.G.
Hg = 200,63 + 0,009. »Diese beiden Werte diffe-
rieren um 6 Einheiten der zweiten Dezimale, wie
sich aus den spez. Gewichten der beiden Isotopen-
gemische berechnen läßt. Damit ist auch durch
direkte Atomgewichtsbestimmungen nachgewiesen,
daß den beiden genannten Forschern die ange-
strebte partielle Trennung der Quecksilberisotope
gelungen ist."
Jod erwies sich nach Aston bei der Kanal-
strahlenanalyse als ein Element mit gleichartigen
Atomen. E. Kohl weiler ^) wollte aber im
Jahre 1920 nach 768 Diffusionen von Joddampf
durch Tonmembrane eine Fraktion Jod von 4,32 g
erhalten haben, die bei der Dampfdichtebestim-
mung nach der Methode von Dumas ein um
0,66 % tieferes Verbindungsgewicht aufwies wie
normales Jod. Wegen der Ungenauigkeit der
Methode von Dumas war aber das positive Er-
gebnis doch als sehr zweifelhaft anzusehen.
K o h 1 w e i 1 e r ■') wiederholte daher seine Versuche
über die fraktionierte Diffusion von Joddampf; er
fing immer während einer halben Minute die zu-
erst ausdiffundierende Jodmenge von 3 mg auf,
welche 131 Membrane durchwandert hatte.
1246 Fraktionen wurden gesammelt und zwar
475 der ersten Obergänge und 771 der Diffusions-
reste. Das elementare Jod der Fraktionen wurde
sodann in Jodion übergeführt und dann wurde
das Verbindungsgewicht mit großer Sorgfalt durch
Fällung mit AgNOg ermittelt. Das Mittel aus
17 Bestimmungen des Verbindungsgewichts von
gewöhnlichem Jod betrug 126,93, wobei die größ-
ten Abweichungen vom Normalwert
126,92 + 0,073 "/j und — 0,079 "„
ausmachten. „Das Mittel aus den 7 Bestimmungen
mit den Anfangsfraktionen beträgt 126,07 und
weicht vom internationalen Wert um — 0,85
= 0,67 "/ß ab. Die 14 Bestimmungen mit den
Endfraktionen nach 17 Minuten ergeben den
Mittelwert 127,18 mit einer Abweichung von
0,26^0,21%,." Demnach müssen im gewöhn-
lichen Jod mindestens noch eine leichtere und
eine schwerere Komponente vorhanden sein, da
Versuchsfehler kaum vorliegen dürften.
Die Ergebnisse von Kohlweilers Diffusions-
versuchen stehen mit den Aston sehen Resul-
taten nicht völlig im Widerspruch, da die Grenze
der Nachweisbarkeit beigemischter Komponenten
mittels Kanalstrahlenanalyse nach Aston bei
ungefähr 5 % üe^t, während die Methode der
fraktionierten Diffusion durch zahlreiche hinter-
einander stehende Membrane bei kurzer Aus-
strömungszeit noch wesentlich geringere Mengen
beigemischter Komponenten nachzuweisen ge-
stattet. Es wären jedoch noch genaueste Atom-
gewichtsbestimmungen von Kohl weilers Jod-
fraktionen durch Hönigschmid erwünscht.
Chlor vom A.G. 35,46 weist bei der Kanal-
strahlenanalyse nach Aston 2 starke Linien bei
') Chem. Zig. S. 8S4, Nr. 117, Bd. 46 (1922).
'•') Zcitschr. f. phys. Chem. 1920. — Naturw. Wochenschr.
XXI, S. 47 (1922).
>) Zehschr. f. pbys. Chem. Bd. 95, S. 95—195 ('92°). —
Nalurw. Wochenschr. XXI, S. 47 (1922) und XIX, S. 706
(1920).
■i) Zeitschr. f. phys. Chem. Bd. C I, S. 218—234 (1922).
N. F. XXI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
675
35 und 37 auf und außerdem 2 sehr schwache
bei 39 und 40. Durch fraktionierte Diffusion
wurden von Lorenz') Chlorkomponenten mit
abweichendem A.G. gewonnen und neuerdings
haben Harkins und Hayes'-) in Amerika bei
ihren im großen Maßstab durchgeführten Ver-
suchen 90 g Chlor vom A.G. 35,494, 9 g Chlor
vom A.G. 35,498 und 5 g Chlor vom A.G. 35,515
gewonnen. E. Gleditsch und B. SamdahP)
bestimmten das A.G. von Chlor aus Apatit, einem
Calciumchlorfluorphosphat. Dieses Mineral stammte
aus primären Gesteinen und es ergab sich zweifel-
los, daß das Chlor im Apatit das gleiche A.G.
wie gewöhnliches Chlor besitzt.
Atomgewichtsbestimmungen von hoher Ge-
nauigkeit sind also nötig, um bei Trennungsver-
suchen von Elementen nachzuweisen, ob wirklich
das untersuchte Element ein Gemisch von che-
misch völlig identischen, aber im Atomgewicht
unterschiedenen Stoffen (= Isotopen) ist. Um
aber die Stellung eines Grundstoffes im periodi-
schen System der Elemente festzulegen und damit
also sein gesamtes chemisches Verhalten zu kenn-
zeichnen, ist das Atomgewicht eines Elementes
nicht in allen Fällen ausreichend. Dagegen be-
stimmt die Ordnungszahl eines Elementes, welche
die Größe der positiv-elektrischen Kernladung des
Atoms angibt, völlig eindeutig die Stellung eines
Grundstoffes im periodischen System. Nun kann
man nach einer wichtigen Entdeckung von Mo-
sel ey im Jahre 191 3 in äußerst einfacher Weise
aus den Linien im Röntgenspektrum eines Ele-
mentes seine Ordnungszahl berechnen. Es genügt
also, die charakteristischen Hochfrequenzlinien
eines Elementes im Röntgenspektrographen zu
bestimmen, um sofort die Ordnungszahl und da-
mit völlig unzweifelhaft die Stellung des unter-
suchten Elementes *) im periodischen System fest-
zulegen.
Besonders bei den chemisch äußerst ähnlichen
seltenen Erdmetallen, die analytisch sehr schwer
völlig zu trennen sind, hat sich die Bestimmung
der Ordnungszahl aus dem Röntgenspektrum für
die richtige Einreihung des betreffenden Elements
in das periodische System sehr wichtig erwiesen.
Neuerdings hat Georges Urbain, ') der erfolg-
reiche Forscher auf dem Gebiet der seltenen Er-
den, die Erdmetalle des skandiumhaltigen Minerals
Thortveitit, eines rhombischen Polysilikates der
Ytteriterden, weitgehend getrennt. Es wurden
reine Skandiumsalze dargestellt und aus den
Ytterbiumfraktionen wurde nach Überwindung
erheblicher Schwierigkeiten Neo- Ytterbium abge-
schieden, das in den Atomgewichtstabellen als
Ytterbium zu finden ist. Ferner wurde nach
') Naturw. Wochenschr. XX, S. 566—567 (192 1).
*) Nature. London 1922.
') Corapt. rend. 1922 nach Nature S. 456, Vol. 109 (1922).
*) Isotope haben das gleiche Röntgenspektrum und die
gleiche Ordnungszahl.
') Journ. Ind. Eng. Chem. S. 662 (1922) nach Chem.
Ztg. S. 787, Nr. 104, Bd. 46 (1922).
vielen Fraktionierungen das Erdmetall Lutetium ')
gewonnen, welches im Jahre 1907 von Urbain
und fast gleichzeitig von Auer von Welsbach
entdeckt wurde; letzterer nannte das neue Ele-
ment Cassiopeium, doch nahm die internationale
Atomgewichtskommission den Namen Lutetium an.
Schließlich isolierte Urbain noch das bisher
kaum bekannte seltene Erdmetall Keltium (Celtium
=• Ct), das er zuerst im Jahre 191 1 beobachtet
hatte. Wie Bunsen die neuen Alkalimetalle mit
dem Spektroskop entdeckte und wie P. und S.
Curie das Element Radium mit dem Elektroskop
aufspürten, so beobachtete Urbain in seinen
F"raktionen die fortschreitende Trennung der Ele-
mente Neo- Ytterbium, Lutetium und Keltium an
der zunehmenden Intensität ihrer Röntgenspektren.
Ob bei dem von Urbain entdeckten Element
Kehium die Reindarstellung soweit gelungen ist,
daß völlig einwandfreie Atomgewichtsbestimmun-
gen möglich wären, ist zweifelhaft. Doch erscheint
dies auch nicht mehr so dringend nötig wie früher,
wo das Keltium wegen fehlender genauer Atom-
gewichtsbestimmung als ein etwas zweifelhaftes
Element galt. Jetzt ist jedoch das Keltium durch
sein Röntgenspektrum von Urbain völlig ein-
deutig als das Element mit der Ordnungszahl 72
festgestellt worden; es steht im periodischen Sy-
stem der Elemente zwischen dem Lutetium (Cas-
siopeium) mit der Ordnungszahl 71 und dem
Tantal mit der Ordnungszahl 73. Die weit-
gehende Trennung der 3 Elemente Neo-Ytterbium,
Lutetium und Keltium ist Urbain nur durch
die Verwendung ihrer Röntgenspektren möglich
gewesen.
Jetzt ist nur noch ein einziges seltenes Erd-
element aufzufinden, nämlich jenes mit der Ord-
nungszahl 61 , das zwischen dem Neodym und
Samariuin steht. Vermutlich werden einmal die
Röntgenlinien dieses unentdeckten Elements in
irgendeiner Fraktion der seltenen Erden auf-
tauchen und da die Wellenlängen des Elementes 61
bereits genau bekannt sind, wird seine Identi-
fikation keine Schwierigkeiten bieten.
K. Kuhn.
Vorgeschichtliche Getreidefunde von der
Steinsburg bei Rönihild, Sachsen-Jleiniugen.
Vor einer Reihe von Jahren habe ich in dieser
Zeitschrift einmal das zusammengestellt, was an
Zerealienfunden vorgeschichtlicher Zeit aus den
thüringisch - sächsischen Ländern bekannt war
(N. F. 13, 1914, S. 294 ff. u. 463 ff.). Bei dieser
Gelegenheit habe ich auch bereits zwei F'unde
von der Steinsburg bei Römhild, einer der impo-
santesten keltischen Befestigungen aus ganz Mittel-
und Süddeutschland, in die Latenezeit (500 v. Chr.
bis um Chr. Geb.) gehörig, behandelt. Zu diesen
zwei P'unden sind inzwischen in derselben Be-
festigung fünf neue hinzugekommen, und außer-
') Nach Lutetia = Paris genannt.
6;6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
dem hat sich durch eine Nachprüfung das Bild
der ersten beiden Funde wesentlich verändert, so
daß ich das Erscheinen einer Abhandlung von
Karl Kade „Vorgeschichtliche Getreidefunde
auf der Steinsburg" (Prähistorische Zeitschrift 13,
1921, S. 83 — 94) benutze, um auf diese Funde
hier noch einmal einzugehen, teils um die alten
Ausführungen in dieser Zeitschrift richtig zu
stellen, teils um die neuen Funde und Forschungs-
ergebnisse weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
I. Der erste dieser Funde ist derselbe, den
ich bereits in dieser Zeitschrift 1914, S. 295 be-
sprochen habe. Der Fund befindet sich heute
mit der Sammlung Kumpel im Museum zu Hild-
burghausen. Bereits bei meiner ersten Beschäfti-
gung mit dem Funde habe ich sofort das von
Kumpel dem Funde zugeschriebene Alter —
Bronzezeit — angezweifelt, und angenommen, daß
der Fund wie die Hauptmasse der Funde von
der Steinsburg in die Latenezeit, d. h. in die Zeit
um 500 V. Chr. bis um Chr. Geb. gehöre. In
demselben Sinne habe ich mich über den Fund
dann noch einmal in meiner Abhandlung „Über
Alter und Herkunft der Kultur des Speltes"
(Korrespondenzblatt der deutschen Gesellsch. für
Anthropologie 46, 191 S, S. 26 ff.) geäußert. In
beiden F'ällen habe ich jedoch die botanische
Bestimmung der Zerealien als zu recht bestehend
angenommen. Inzwischen ist über diesen Fund
nun eine ausführliche Äußerung von Prof. Götze,
dem langjährigen Erforscher der Steinsburg, er-
schienen (Präh. Zeitschr. a. a. O. S. 71), die sich
eingehend mit der archäologischen Seite des
Fundes auseinandersetzt, und dann der Aufsatz von
Kade, der sich mehr mit der botanischen Seite
des Fundes beschäftigt. Beide kommen, um das
zunächst vorwegzunehmen, zu dem Ergebnis, daß
die von mir angenommene Datierung die einzig rich-
tige ist, und geben im übrigen eine geradezu ver-
nichtende Kritik der gesamten Kümpelschen
Arbeit. So stellen sie zunächst einmal die Fund-
angaben klar, die sich bei Kumpel in nicht
weniger als vier verschiedenen Varianten fanden.
Nach den Feststellungen von Götze und Kade
handelt es sich um eine Kohlenschicht im Zeil-
felder Bruch , zwischen dem ersten und zweiten
Walle, in der nach Aussage der Arbeiter von
einer baulichen Anlage nichts zu erkennen ge-
wesen ist. Die weitgehenden Folgerungen, die
Kumpel an die Fundstelle anknüpft, fallen damit
von selbst zusammen. Weiterhin zeigt uns dann
Kade, wie selbst die F"undbestimmungen Kum-
pels als solche z. T. völlig falsch sind, und wie
Kumpel gerade die interessantesten Zerealien-
funde bei seinen Aufsammlungen gar nicht er-
kannt hat. Es ist Kade nämlich gelungen, an
der Fundstelle noch Originalfunde in situ zu ent-
decken, die er dann mit einer eigens zu diesem
Zweck ausgedachten Methode untersucht hat.
Nach diesen Untersuchungen von Kade waren
in dem Funde enthaltend: i. Ackersenf (Sinapis
arvensis). 2. Daneben fanden sich noch kleinere
Fruchtkörnchen, die bislang noch nicht bestimmt
werden konnten. Melde, wie Kade zunächst
vermutet hatte, ist es nicht. 3. Das, was Braun-
gart und Kumpel als Mohn (Papaver somni-
ferum var. antiq.) bestimmt hatte, erwies sich als
Hirse (Panicum miliaceum). Von Mohn dagegen
fand sich sowohl in dem von Kumpel wie auch
in dem von Kade gesammelten Funde keine
Spur. 4. Pferdebohne (Faba vulgaris). 5. Linse
(Ervum Lens). 6. Labkrautfrüchte (Galium),
ebenso wie 7. Roggentrespe (Bromus secalinus)
ein Ackerunkraut. 8. Erbse (Pisum sativum L.).
9. Einkorn (Triticum monococcum). 10. Zwerg-
weizen (Triticum compactum). 11. Emmer (Tri-
ticum dicoccum). 12. Eine Gerstenart (Hordeum),
die sich nicht näher bestimmen läßt. 13. Ob sich
in dem Funde Spelt (Triticum spelta L.) befindet,
bleibt zweifelhaft, da sowohl Kade wie auch
andere Gelehrte, die sich mit dem Funde be-
schäftigt haben, irgendwelche Speltkörner nicht
auffinden konnten. 14. Dazu kommt dann endlich
auch noch ein Apfelkern, den bereits Braun-
gart und Kumpel erkannt hatten. Durch diese
Feststellungen hat der Fund nunmehr ein ganz
anderes Aussehen gewonnen 1
II. Neben diesem „großen" Getreidefunde wur-
den auf der Steinsburg noch mehrere andere ge-
hoben, davon einer wiederum von Kumpel
(vgl. diese Zeitschr. 1914, S. 464). Dieser zweite
Fund befindet sich heute gleichfalls in Hildburg-
hausen. In dem handschriftlichen Katalog Kum-
pels finden sich über ihn die Angaben: Wohn-
grube oberhalb des Zeilfelder Bruches. Von den
mitgefundenen Scherben ist ein Stück mittelalter-
lich, entweder ein Oberflächenfund, oder irgend-
wie durch Unachtsamkeit zu den übrigen hinzu-
gekommen. Die gleichfalls mitgefundenen Ton-
wirtel sind latenezeidich. Der Fund selbst ist
leider noch immer nicht wissenschaftlich unter-
sucht. Immerhin vermochte Kade durch eine
oberflächliche Untersuchung Hirse, Gerste und
mindestens drei Weizensorten festzustellen. Boh-
nen, Erbsen und Linsen fehlen vollständig. —
Die übrigen vier Funde wurden bei den von
Prof Götze geleiteten Ausgrabungen oder wenig-
stens im Zusammenhange damit aufgefunden; sie
werden heute in Römhild bei den Ergebnissen
der Ausgrabungen von Prof. Götze aufbewahrt.
in. Fund, entdeckt an der Strecke 2124 in
der kohlehaltigen Erdmasse einer Wohnstätte, er-
gab an Zerealien: Pferdebohne (Faba vulgaris),
Linse (Ervum Lens), Zwergweizen (Triticum com-
pactum), Einkorn (Triticum monococcum), Emmer
(Triticum dicoccum), eine Gerstenart (Hordeum),
ebenso Ackersenf (Sinapis arvensis) und die klei-
nen kugeligen Körner der noch unbestimmten
Art. Diese Wohnanlage ist durch die darin ge-
fundenen kleinen Hausgeräte und Werkzeuge aus
Eisen, durch Tonwirtel und zahlreiche Scherben
einwandfrei als latenezeitlich bestimmt.
IV. Ein weiterer Fund wurde von Kade selbst
am oberen, steil abfallenden Rande des alten
N. F. XXI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
677
staatlichen Steinbruchs entdeckt. Auch hier war
eine Wohnstätte angeschnitten worden. In der
darüberlagernden kohlehaltigen dunklen Erde lagen
Getreidekörner, von denen aber der schweren Zu-
gänglichkeit der Stelle wegen nur wenige gebor-
gen werden konnten, Sie ließen sich als Weizen,
wohl Triticum dicoccum, und als Linse (Ervum
Lens) bestimmen. Daneben wurde aber auch
noch die Linsenwicke (Ervum Ervilia L.) festge-
stellt.
V. Ein fünfter Fund wurde bei der Erweite-
rung des Ulmenweges 1919 gemacht. Man stieß
hierbei auf Siedlungsanlagen, die von Prof.
Götze untersucht und als spätlatenezeitlich er-
wiesen wurden. Dabei fanden sich auch die
Reste eines durch Feuer zerstörten Getreide-
speichers. In diesem wurden zahlreiche verkohlte
Getreidekörner entdeckt. Nach Kades Bestim-
mung gehört die große Mehrzahl der Körner dem
Emmer (Triticum dicoccum) an, daneben war auch
Zwergweizen (Triticum compactum) ziemhch reich
vertreten, und weniger zahlreich Einkorn (Triti-
cum monococcum). Zahlreicher war auch noch
eine Gerstenart (Hordeum) vertreten. In einigen
Früchten auch Erbse (Pisum sativum), Ackersenf
(Sinapis arvensis) und die kleinen noch nicht be-
stimmten Kügelchen. An Ackerunkräutern fanden
sich daneben (Bromus secalinus), Roggentrespe
und eine andere, noch nicht näher bestimmte
Bromusart.
VL Ein sechster Fund wurde auf Strecke 24/25
entdeckt. Er ergab Zwergweizen (Triticum com-
pactum), eine Gerstenart (Hordeum), Linse (Ervum
Lens) und Erbse (Pisum sativum). Die Fundstelle
ist bislang noch nicht näher untersucht.
VII. Ein siebenter Fund, in einer Wohnstätte
auf Strecke 21/24, ergab Emmer (Triticum dicoc-
cum), Zwergweizen (Triticum compactum), Linse
(Ervum Lens), Pferdebohne (Faba vulgaris), eine
Gerstenart (Hordeum) und die Roggentrespe
(Bromus secalinus). —
Die sieben Funde geben im großen und gan-
zen ein vollkommen einheitliches Bild, wie ein
Blick auf die obenstehende Tabelle zeigen mag,
wenn man dabei berücksichtigt, daß sich die
Lücken in den Funden IV— VII nach erfolgter
Ausgrabung wohl noch schließen werden.
Von allgemeinerem Interesse ist in den Fun-
den zunächst einmal der Nachweis von Senf,
der bisher zwar in drei vorgeschichtlichen Zerealien-
funden aus Mittel- und Nordeuropa vermutet, in
keinem Falle jedoch als sicher erwiesen war. Der
vorliegende Fund bietet für ihn den ersten siche-
ren Nachweis, der natürlich von ganz besonderer
Wichtigkeit ist. Ebenso interessant ist der Nach-
Fund
I.
II.
III.
IV.
V.
VL
VII.
Emmer (Triticum dicoccum)
+
+
+
+
+
+
Zwergweizen (Triticum compac-
tum)
+
+
+
+
+
+
Einkorn (Triticum monococcum)
+
+
+
+
Spelt (Triticum spelta)
?
Gerstenart (Hordeum spec.)
+
+
+
+
+
+
Linse (Ervum Lens)
+
ü
+
+
0
+
+
Linsenwicke (Ervum Ervilia L.)
+
Erbse (Pisum sativum)
+
0
0
+
+
Pferdebohne (Faba vulgaris)
+
0
+
0
+
Ackersenf (Sinapis arvensis)
+
+
+
Hirse (Panicum miliaceum)
+
+
0
0
Kleine Früchtchen (noch unbe-
stimmt)
+
+
+
Roggentrespe (Bromus secalinus)
+
+
+
Apfelkerne
+
-|- bedeutet vorhanden, O nicht vorhanden, freies Feld :
es besteht die Möglichkeit, daß eingehende Untersuchung das
Vorkommen ergibt.
weis der Linsenwicke, die Wittmack in
prähistorischen Funden von Bos-öjük in Phrygien
und in Troja festgestellt hatte, die aber sonst in
vorgeschichtlichen Funden aus Europa völlig fehlte.
Das Vorkommen dieser Pflanze in der latenezeit-
lichen Fundschicht der Steinsburg muß also ge-
radezu überraschen. Weiterhin verdient dann
auch noch der Nachweis von Hirse Beachtung.
Dieselbe Art kommt zwar in dem thüringischen
Gebiet bereits steinzeitlich vor, war jedoch eisen-
zeitlich noch nicht festgestellt. Und zuguterletzt
mag dann noch auf das Vorkommen der Acke r -
u n krau te r hingewiesen werden, über die bisher
nur sehr wenig Beobachtungen vorliegen. Kade
vermutet, daß man bereits damals eine Reinigung
des Getreides vorgenommen habe, denn nur ganz
vereinzelt fand sich ein Same von den Acker-
unkräutern. Auf welche Weise jedoch diese
Reinigung vorgenommen wurde, entzieht sich
freilich noch unserer Kenntnis. Über die anderen
in dem Funde enthaltenen Zerealien habe ich
bereits das Nötige in dieser Zeitschrift 1914,
S. 295 ff. gesagt.
Insgesamt bieten also die Steinsburgfunde auch
für den Botaniker eine wahre Fülle von Beleh-
rungen — und gerade darum müssen wir den
beiden Forschern Götze und Kade für ihre
Beobachtungen besonders danken, vor allem auch
Kade dafür, daß er diese Funde so sorgfältig
studiert und der Wissenschaft durch seine Ab-
handlung zugänglich gemacht hat.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Bücherbesprechungen.
Weckmann, Ornithologisch-photogra- Trotzdem wir in Deutschland eine ganze An-
phische Naturstudien. Velhagen und zahl vorzüglicher Werke haben, in denen photo-
Klasing 1922. Geb. 22 M. graphische Naturstudien der Nachwelt überliefert
678
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
werden, bedeutet dieses Buch eine Bereicherung
der Bücherei jedes Naturfreundes. Jeder, der da
weiß, wie außerordentlich schwer es ist, gute
Aufnahmen von freilebenden Tieren zu machen,
wird die technische Fertigkeit des Verf. anerken-
nen. Das Buch ist mit 78 Abbildungen nach
Originalaufnahmen versehen. Unter ihnen finden
sich IVIeisterstücke wie „Junge Austernfischer im
Dunenkleid". Die Landschaftsaufnahmen zeugen
für das künstlerische Auffassungsvermögen des
Autors. Die Schreibweise ist klar und frisch.
Auch der Fachzoologe findet in den Schilderungen
und Berichten der freilebenden Tierwelt mancher-
lei Anregung. Aus jeder Zeile spricht ein war-
mes Naturgefühl , das sich auf den Leser über-
trägt. Das Buch ist echt deutsch. Wir empfehlen
es allen Naturfreunden auf das wärmste. Die
vorliegende Ausgabe auf Kunstdruckpapier kann
auch, bei dem Tiefstand der heutigen Bücher-
herstellung, als vorzüglich bezeichnet werden. Es
ist erstaunlich, wie der Verlag zu so billigem
Preis derartiges überhaupt bieten kann.
H. v. Lengerken.
Haecker, Valentin, Über umkehrbare Pro-
zesse in der organischen Welt. In:
Schaxels Abhandlungen zur theoretischen Bio-
logie, Heft 15. 39 Seiten. 1922.
Von umkehrbaren Prozessen in der Onto- und
Phylogenese, führt Haecker aus, dürfe gesprochen
werden, wenn lebendes Material vom differen-
zierten Zustand auf irgendwelche Weise auf
den Ausgangspunkt und von ihm wieder auf jenen
differenzierten Zustand gelangen kann. Nur selten
jedoch werde man in der Biologie Entdifferenzie-
rung im Sinne eines Durchlaufens der einzelnen
Differenzierungsphasen in umgekehrter Richtung
erwarten können. Reversion und Redifferenzie-
rung in jenem verallgemeinerten Sinn kommt an-
scheinend z. B. bei manchen Protozoen während
der Vermehrung vor, bei nicht wenigen Restitu-
tionsvorgängen von Metazoen, bei Pigmentepithel-
zellen im Tritonauge, die nach Pigmentaus-
stoßung Retina regenerieren können, bei der
Adventivsprossenbildung von Begonia, während
die Restitution des Kiemendarmes von Clavelina
oder die Adventivsprossenbildung bei abgeschnit-
tenen Cardamine-Blätter eher eine „Jteration" oder
Neubildung von embryonalen Zellen aus zu sein
scheint. Das Wesen mancher derartigen Erschei-
nung, wie der Geschwulstbildung, ist in dieser
Hinsicht immer noch umstritten. Auf phylogene-
tischem Gebiete sprächen D o 1 1 o s Beispiele der
NichtWiederkehr geschwundener Organe oder Or-
gananpassungen und die Seltenheit echter Rück-
schläge gegen die Möglichkeit einer EntSpeziali-
sierung und Restitution des Keimplasmas. Eis-
zeitrelikte haben sich denn auch nicht wieder an
die Ebene anpassen können. Die Zickzackevolu-
tion des Planorbis multiformis dagegen, welche
allerdings wohl innerhalb nicht-erblicher Modifi-
kationen verlief, ähnlich die Wiederkehr des Olm-
auges bei Licht, die Veränderung des Hinterleibes
enlhäuster Paguriden in Richtung auf verwandte
freilebende Formen, vereinzelte wirkliche Spon-
tanatavismen und anderes mehr verlangen die Er-
gründung eines die Widersprüche vereinigenden
Prinzips: reversible Vorgänge sind nach Verf.
die einfachen, bei der Vererbung meist nicht
spaltenden, wie auch Farbenrückschläge der
Pflanzen oder wahrscheinlich mutierende Farben-
und Zeichnungsmuster bei Wirbeltieren, oder doch
die einfach-verursachten, zu denen auch
der Habsburger Prognathismus inferior gehört,
der sich in einigen weiblichen Seitenzweigen ab-
schwächte. Dagegen erscheinen komplex ver-
ursachte Bildungen reversibel; sie sind übrigens
zugleich artlich oder auf Familien begrenzt, oft
adaptativ und mendelnd oder von komplizierter
Vererbungsweise. Bezüglich der Annahme von
Rassenhygienikern, daß pathologische Anlagen
des Keimplasmas irreversibel und somit nicht ab-
schwächbar seien, meint Haecker, sie dürfte
Einschränkungen gestatten. V. Franz, Jena.
Berichte der staatlichen Höhlenkommission.
Vierteljahreshefte für theoretische
und praktische Höhlenkunde. Heraus-
gegeben von der staatlichen Höhlenkommission.
Redigiert von Rudolf Willner und Georg
Kyrie. Jahrg. i 1920, Jahrg. 2 1921. Wien,
Selbstverlag der Kommission.
Bereits früher habe ich in dieser Zeitschrift
einmal darauf hingewiesen, wie die Höhlenfor-
schung in dem Bereich der Länder der ehemaligen
österreichisch- ungarischen Monarchie durch die
Kriegsereignisse und dann weiterhin durch die
Nachwirkungen des Krieges neue Anregungen ge-
funden hat (vgl. diese Zeitschr. 19, 1920, S. 526).
Infolge der außerordentlich großen Not an Kunst-
düngemitteln hat inzwischen Deutschösterreich
ein Gesetz entlassen, das dem Staate die Ge-
winnung phosphorsäurehaltiger Stoffe vorbehält
und Enteignungen vorsieht und eine Höhlen-
dünger Bau- und Betriebsgesellschaft staatlich kon-
zessioniert, die den Ausbau einer Reihe von Höhlen
übernahm und bereits ganz erhebliche Erfolge er-
zielte. Der Staat konnte sich jedoch nicht der
Einsicht verschließen, daß bei diesem Höhlen-
abbau neben der volkswirtschaftlichen Seite auch
wichtige wissenschaftliche Interessen auf dem
Spiele stehen, da die Höhlen im allgemeinen und
die Höhlenabfallprodukte im besonderen wahre
Archive der Erd- und Urgeschichte darstellen.
So wurde denn auch sofort für die Wahrung
dieser wissenschaftlichen Interessen im weit-
gehendsten Maße gesorgt und zu diesem Zwecke
eine staatliche Hohlenkommission gebildet, die
als beratendes Organ dem Fachministerium zur
Seite steht und mit diesem in Fragen des Höhlen-
abbaues ständig Hand in Hand arbeitet. Diese
Höhlenkommission hat sich nun in den vor-
N. F. XXI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
679
liegenden Berichten ein besonderes Publikations-
organ geschaffen, das in erster Linie über die
Arbeiten der Kommission berichten, daneben aber
auch höhlenkundliche Studien in jeder Beziehung
fördern will. Aus dem Inhalt der nunmehr be-
reits im 2. Jahrgang vorliegenden Zeitschrift
notieren wir hier zunächst einmal die allgemeinen
Ausführungen über die Höhlenkommission und
ihre Tätigkeit von Kyrie, einen Bericht über die
erste Vollversammlung der Höhlenkommission in
Wien und dann die Organisationsgrundsätze für
die staatliche Höhlenforschung sowie den Abdruck
des Gesetzes betr. der Gewinnung phosphorsäure-
haltiger Stoffe. Im Vordergrunde der Zeitschrift
steht vorderhand natürlich die Höhlendüngerfrage.
Wichtige Beiträge zu ihrem Studium bieten ein
Bericht von R. Willner über die Gewinnung
von Höhlendünger in Österreich und von O. Reit-
mair über die Ergebnisse von Höhlendünger-
versuchen, und im engsten Zusammenhange damit
stehen dann auch weiterhin die Ausführungen
von R. Willner über Höhleneigentum und über
Höhlenrecht. In zweiter Linie werden Berichte
über die Begehungen und Erschließungen von
Höhlen gesammelt und auch über die Arbeiten
der Kommission selbst referiert. Als besonders
wertvoll in dieser Beziehung notieren wir die
Angaben über die Drachenhöhle bei Mixnitz in
Steiermark, über ihre Erforschung und die aus
ihr geförderten Phosphatmengen. Zu guter Letzt
kommen aber auch allgemeine Fragen bereits zur
Geltung; so ist z. B. eine Anleitung zur Auf-
nahme von Grundrißplänen, Längen- und Quer-
profilen in Höhlen von H. Reisner als besonders
beachtenswert zu nennen, weiterhin Vorschläge
für den Ausbau und die Erschließung von Eis-
höhlen von R. Saar und schließlich auch eine
gehaltvolle Anleitung zum Sammeln von Tieren
und Pflanzen in Höhlen von O. Wettstein, wie
auch ein Bericht über die paläontologischen Er-
gebnisse der Ausgrabungen in der Drachenhöhle
zu Mixnitz von O. Abel und ein vorläufiger Be-
richt über die Höhlenbärenschädel aus derselben
Höhle von O.Antonius.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Hermann Albert Prietze, Natur und Volks-
tum. Eine Anregung zur Erforschung der ge-
setzmäßigen Zusammenhänge innerhalb der
menschlichen Gestalt und innerhalb der mensch-
lichen Gemeinschaften. 93 S. Hannover- Linden
1920, Gebr. Hartmann.
Die in dieser Zeitschrift bereits nach einem
Manuskriptdrucke N. F. 19, 1920, S. 95 ausführ-
lich angezeigte Schrift ist in etwas veränderter
Form inzwischen im Buchhandel erschienen, wo-
rauf wir auch an dieser Stelle gern noch einmal
hinweisen wollen. Hugo Mötefindt.
Anregungen und Antworten.
Nachtrag zu meinea „Bemerkungen über Standorte und
Verbreitung der deutschen Farnkräuter" in Heft 25, 1922,
S. 3i7— 34&-
Mein alter Freund F. W i r t g e n macht mich bezügl. Nr. 3 1 ,
Aspknmn fontanum (S. 343 r. u.), darauf aufmerksam, dafl
ich eine Standortsangabe m Ascherson-Graebner, Sy-
nopsis, 2. AuH., I. Bd., S. 620, Nachträge, übersehen habe;
ein reicher Bestand ist an einer Mauer in Kappel unweit
Marburg gefunden, nach der a. a. O. beifolgenden Notiz aber
auch bald größtenteils, wenn nicht völlig ausgerottet worden.
Das seltene Pflänzchen ist jedenfalls durch eine einzige ver-
wehte Spore dorthin gelangt, und hat wohl eine Reihe von
Jahren ungestört und unter besonders günstigen Umständen
dort wachsen und sich vermehren können.
Zu einer Bemerkung unter Nr. 40, S. 345 r. o., erinnert
W. daran, daß Aconitum napellus in der Eifel doch nicht
nur auf Kalk bzw. Dolomit, sondern abgeschwemmt auch
auf Grauwacke vorkommt. Die Notiz, daß A. n. nicht auf
den Devonschiefer übergehe, stammt aus der Flora der Rhein-
provinz von W. dem Älteren; damals waren jene Fälle
wohl noch nicht bekannt. Die Bestätigung, daß A. n. doch
auch auf anderen Formationen bzw. Gesteins- oder Boden-
arien sich ansiedele (in der Eifel 1), finde ich bei Rosbach,
Flora des Reg. -Bez. Trier, der aber doch die Be v orzugung
der Kalkunterlage hervorhebt. Es dürfte also (vgl.
meine Ausführungen a. a. O. S. 338 und 344 — 345) doch
wohl richtig sein, daß das Aconitum napellus der Eifel eine
kalkholde, freilich nicht kalkstete, morphologisch aber nicht
unterscheidbare Form darstellt; und darauf kam es mir an.
Mit der Überpflanzung von Stöcken unserer Art von kalk-
armem Urgestein auf den Eifelkalk dürfte man voraussicht-
lich wenig Glück haben. Es wäre vielleicht von Interesse,
jene Ansiedlungen des Eifel-Sturmhutes auf kalkarmem Ge-
stein noch nach mehreren Richtungen hin näher zu unter-
suchen: I. ob der Ort der Ansiedlung nicht doch auch merk-
liche Mengen von Kalk enthält, 2. ob die Ansiedlung viel-
leicht durch geringeren Wettbewerb, auf noch wenig bewach-
senem Schwemmland (?) begünstigt wird, usw. Denn, wie
ich schon a. a. O. ausführte, ist der Wettbewerb ein unge-
mein wichtiges Moment in der Besiedlung eines jeden Stand-
ortes.
Zu der Frage der Kalk- und Kieselpflanzen möchte ich
noch folgenden kleinen Beitrag beisteuern: Ich fand i. J. 1914
einen hübschen Bestand von Polentilla rupeslris zwischen den
Bahnstationen Strelau und Slesin , westlich Bromberg. Die
Eisenbahn fährt dort dicht unterhalb des Hanges hin, mit
dem sich die nördliche höher gelegene Fläche gegen die
Netze-Niederung absenkt. Dieser Hang ist größtenteils mit
Mischwald bedeckt und enthält einige Pflanzenarten , die
immerhin nicht zu den häufigen gehören. Von dort hatte ich
einen Stock der Potentilla in meinen Schrebergarten zu Brom-
berg gepflanzt und dort davon Samen geerntet. Von diesen
Samen säte ich im Frühjahr 1922 aus und erhielt eine An-
zahl Pflänzchen, die ich zu zweit in etliche Blumentöpfe über-
pflanzte, deren einen ich mit kalkhaltiger Erde füllte.
Während nun die anderen Pflanzen alle im Juni zur Blüte
kamen und reichlich geblüht haben, sind die beiden im Kalk-
boden gewachsenen kleiner geblieben , zeigen gelblichgrünes
Laub, und verrieten keine Blühwilligkeit, welch letztere Er-
scheinung zweifellos mit der geringeren Ausbildung des Blatt-
grüns zusammenhängt. Da bekanntermaßen Kalk die Auf-
nahme der Eisen- und der Phosphorverbindungen beeinträch-
tigt, begoß ich diesen Topf einigemale mit einer schwachen
EisenlösuDg, gab auch zweimal je I g primär-phosphorsaures
Kali, KH2PO4, in je 50 g Wasser gelöst, darauf. Nun weiß
ich natürlich nicht, wie die Pflanzen sich ohne das verhalten
haben würden. Jedenfalls hat die krältigere der beiden erst
in den letzten Tagen des August eine Blütenknospe, eine ein-
'••g^i S^^^ig'i die sich am 10. September zur Blüte öffnete;
um Mitte September wurden noch zwei winzige Knospen
680
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 49
sichtbar. Die genannte Art ist also jedenfalls dem kalkhalti-
gen Boden nicht angepaßt. Hoffentlich gelingt es, sie weiter
zu halten, vielleicht wird sie sich an den Kalk gewöhnen,
vielleicht auch nicht. Wenn die Art in der Natur auch auf
Kalk vorkommen sollte , so hätten wir dort eben auch eine
besondere, kalkhoide Rasse. Beiläufig noch eins: vor Jahren
sah ich P. rupestris auf Schieferfelsen nahe dem Moseltal,
dort waren die Blüten ganz wesentlich größer als bei den
Bromberger Pflanzen — es scheint sich auch hier um erbliche
Rassenmerkmale zu handeln. Hugo Fischer.
Einige Bemerkungen zum Michelsonversuch. Wie F. L e -
nard in der neuen Ausgabe seiner Abhandlung „Über Äther
und Uräther" (1922, 2. Aufl.) mitteilt, befindet sich in Heidel-
berg die Ausführung des von ihm vorgeschlagenen Michelson-
versuches mit Fixsiernlicht in Vorbereitung. Das Experiment
(dürfte, nachdem ja die Relativitätstheorie die Aufmerksamkeit
weiter Kreise aut das mit ihr in Zusammenhang gebrachte
Gebiet physikalischer Tatsachen und Experimente hingelenkt
hat, allgemein großes Interesse erregen. Sein nach Le nard,
wie auch nach der in dieser Zeitschrift Nr. 2, 1922, vorge-
tragenen Hypothese zu erwartender positiver Ausfall würde
mit einem Schlage die experimentelle, also endgültige Wider-
legung sowohl der Einsteinschen Relativitätslehre, wie auch
der Lorentzschen Kontraktionshypothese und ebenso der
Stokesschen Aberrationstheorie bringen, welche alle negativen
Ausfall erwarten lassen, und er würde zugleich zeigen, daß
die von Huygens, Young und Fresnel begründete und
bis auf die neueste Zeit so glänzend bewährte Undulations-
theorie des Lichts unter gewissen Umständen (wie in dem
vorliegenden Fall der Bewegungen des Äthers) nicht mehr in
strengem Sinne Gültigkeit hat und entsprechend abgeändert
werden muß. Dem Experiment käme also bei positivem Aus-
fall eine große theoretische Bedeutung zu. Es würde, kurz
gesagt, beweisen, daß das von einer irdischen und einer
außerirdischen Lichtquelle aus der gleichen Richtung kom-
mende Licht den irdischen Beobachter mit verschiedener Ge-
schwindigkeit erreicht, was natürlich nach der reinen Wellen-
theorie nicht erklärt werden kann.
P. Lenard erwartet, nach seiner Darstellung in Starks
Jahrb. Bd. 17, Heft 4 und in Astron. Nachr. Bd. 213, Nr. 5107
zu schließen, einen positiven Ausfall nur mit Fixstern- (evtl.
auch Planeten-)Licht, wenn es in der Richtung der Erd-
bewegung verläuft. Es läßt sich jedoch, wie mir scheint,
leicht zeigen, daß auch nach seiner Annahme vom Äther und
Uräther, ebenso wie nach der früher hier vorgebrachten auf
der Trägheit der Lichtwellen sich aufbauenden Hypothese
vor allem mit Licht, das senkrecht zur Richtung der Erd-
bewegung einfällt, also mit dem Lichte eines jeden Himmels-
körpers, sofern es d ie Aberrat io n aufweist, ein posi-
tiver Ausfall zu erwarten steht (verglichen mit dem Lichte
einer in gleicher Richtung befindlichen irdischen Lichtquelle,
welches negativen Ausfall zeigt).') Denn da der Uräther bei
Lenard, soweit die Erklärung der Aberration in Betracht
kommt, die Rolle des absolut ruhenden Äthers von Loren tz
übernimmt und in dem senkrecht zur Richtung der Erdbewe-
gung stehenden Schenkel des Apparats alles so ablaufen soll,
wie es die frühere Auffassung .nach Loren tz erwartete, so
ergibt sich, wie aus der bekannten Berechnung des Michelson-
versuchs hervorgeht, auf alle F'älle eine Zeitdifferenz des außer-
irdischen gegenüber dem irdischen Licht in diesem Schenkel
und deshalb eine Streifenverschiebung, gleichgültig, ob das
außerirdische Licht im anderen parallel zur Richtung der Erd-
bewegung stehenden Schenkel des Apparats die Geschwindig-
keit c relativ zum Erdäther oder zum Uräther hat. Die Rech-
nung zeigt, daß auch in ersterem Falle die Streifenverschiebung
gegenüber irdischem Licht von gleichem Betrag ist, wie er
ursprünglich bei Anstellung des Versuchs mit irdischem Lichte
V*
allein erwartet wurde, nämlich dem Gangunterschiede 1 — ^
entsprechen muß (v ^ Geschwindigkeit der Erde in ihrer
Bahn). Nimmt man jedoch keine seilliche Mitführung des
Lichts durch bewegten Äther an, wie dies P. Lenard tut,
wenn er sagt: ,, senkrecht zur Emissionsrichtung stehende Ge-
schwindigkeitskomponenten der Lichtquanten, herrührend von
ebenso gerichteter Geschwindigkeilskomponente der Lichtquelle,
nehmen wir als dauernd unverändert weiter bestehend an",')
so würde sich im Falle des senkrecht zur Erdbewegung ein-
fallenden Lichts eine Streifenverschiebung ergeben, welche
der transversalen Komponente der Relativbewegung Erde —
Himmelskörper entspricht und zur Messung (oder Schätzung)
derselben dienen könnte (v ist also dann gleich dieser Kom-
ponente). Ein negativer Ausfall auch mit senkrecht zur Erd-
bewegung einfallendem Licht wäre dagegen, wie uns scheint,
nicht ohne weiteres vereinbar mit der Theorie P. Lenards,
die Erklärung der Aberration auf die angegebene Weise er-
fordert auf jeden F'all ein positives Ergebnis. Dagegen wäre
ein negativer Ausfall wohl möglich mit parallel zur Rich-
tung der Erdbewegung einfallendem außerirdischen Licht, was
für seine sofortige Milführung durch den Erdäther in seiner
F^ortpflanzungsrichtung (d. h. fehlende longitudinale Masse nach
unserer Auffassung) sprechen würde. Ob eine solche anzu-
nehmen ist, würde also der Versuch durch positiven oder
negativen Ausfall entscheiden. Um ein negatives Ergebnis
des Veisuchs auch bei senkrecht einfallendem außerirdischen
Licht im Zusammenhang mit allen übrigen Erscheinungen zu
erklären, kann man annehmen, daß entsprechend der Emissions-
vorstellung im Falle des bewegten Spiegels nicht nur der Re-
flexionswinkel gleich dem Einfallswinkel, sondern auch die
Geschwindigkeit des reflektierten Lichts gleich
der Geschwindigkeit des einfallenden gesetzt
wird, beides relativ zum System des Spiegels verstanden (wie
ich dies in einem demnächst in den Astr. Nachr. erscheinen-
den Aufsatz näher ausgeführt habe).'^) Die Frage, ob der
Michelsonversuch auch mit Sonnen-, Mond- und Planetenlicht
positiv ausfallen müßte, ist schwierig zu beantworten, da man
über die besondere Art der Bewegungen des Äthers im
Sonnensystem, und ebenso über Art und Betrag der Milfüh-
rung des Lichts durch bewegten Alher bisher nichts Bestimmtes
weiß. Ein positiver Ausfall des Experiments würde wohl dazu
verhelfen, darüber einiges Genauere zu ermitteln. Die Wahr-
scheinlichkeit besteht jedoch nach unserer Auffassung, daß
auch mit Sonnen- und Planetenlicht (vielleicht sogar Mond-
licht) eine Streifenverschiebung eintritt. K. Vogtherr.
') Siehe Naturw. Wochenschr. 1922, Nr. 2, S. 25, Anmerk.
') Starks Jahrb. Bd. 17, S. 322, Anmerk.
^) Wobei jedoch der Michelsonversuch mit irdischem
Licht in zur Erde und zum Apparat ruhendem .Äther nach
den Gesetzen der alten Undulaiionstheorie vor sich geht (es
sind die Spiegel des Apparats ja nur gegenüber dem außer-
irdischen Licht bewegt, nicht gegenüber dem irdischen). In
diesem Falle müßte sich nach der Methode von Fi zeau oder
Foucault oder einer ähnlichen eine um die Größe der Erd-
bewegung geänderte Geschwindigkeit des parallel zu dieser
einfallenden außerirdischen Lichts ergeben und dieser Effekt
müßte mit genügend verfeinerten Apparaten beobachtbar sein.
Möglicherweise ließe sich auch eine Geschwindigkeitsänderung
irdischen Lichts beim Auftreffen auf künstlich bewegte Spiegel
experimentell prüfen.
Inhalt: Ed. Zache, Die Lager aus tierischen und pflanzlichen Resten im Diluvium des Eibstromgebietes. S. 665. —
Einzelberichte: H. Klebahn, Blühendes Wasser. S. 671. G. und P. Ilertwig, Die Vererbung des Hermaphro-
ditismus bei Melandrium. S. 672. F. W. Aston, Neue Atomgewichtsforschungen. S. 673. K. Kade, Vorgeschicht-
liche Getreidefunde von der Steinsburg bei Römhild, Sachsen-Meiningen. S. 675. — Bücherbesprechungen: Weck-
mann, Ornithologisch-photographische Naturstudien. S. 677. V. Haecker, Über umkehrbare Prozesse in der orga-
nischen Welt. S. 678. R. Willner und G. Kyrie, Berichte der staatlichen Höhlenkommission. S. 678. H. A.
Prietze, Natur und Volkstum. S. 679. — Anregungen und Antworten; „Bemerkungen über Standorte und Verbrei-
tung der deutschen Farnkräuter". S. 679. Einige Bemerkungen zum Michelsonversuch. S. 680.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. PStz'achen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 2i. Band;
ganzen Reibe 37. Band.
Sonntag, den lo. Dezember 1922.
Nummer 50.
Der Klimawechsel als Hauptfaktor der Veränderung
der Organismenwelt.
[Nachdruck verboten.]
Von Prof. N. N. Yakowlev, St. Petersburg.
Mit I Abbildung im Text.
Bei der Betrachtung der Veränderungsgründe
der Organismenwelt werde Ich von der Frage
nach den Aussterbegründen ausgehen, von der
aus ich zu den hier berichteten Ergebnissen ge-
kommen bin.
Das Aussterben ist eine Erscheinung der geo-
logischen Geschichte der Organismen, welche be-
sonders deutlich beim ersten Einblick in dieselbe
in die Augen fällt.
Wer hat nicht von dem Untergange der ihrem
Körperbau nach so absonderlichen und oft so
riesenhaften Reptilien der Jura- und Kreideperioden,
Ichthyosaurier, Plesiosaurier, Dinosaurier und Ptero-
dactyler oder der Flugsaurier gehört?
Oder vom Erlöschen der für die Steinkohlen-
periode so charakteristischen baumartigen Lyco-
podien, der Bärlappgewächse und Schachtelhalme,
Lepidodendren und Calamiten. Die Aussterbe-
erscheinung ist so allgemein, daß die Ausdrücke
„fossile" und „ausgestorbene" Tiere beinahe als
Synonyme gelten.
Was sind denn die Gründe dieser rätselhaften
und majestätischen Erscheinung, welche die Ab-
lösung der einen Welt durch die andere zur Folge
hatte ? Diese Frage erscheint als eine der wesent-
lichsten Fragen der Biologie, doch wird sie auf
verschiedene Weise beantwortet, je nach der An-
sicht der Forscher über die Bedeutung dieser oder
jener Faktoren der organischen Evolution; was
nun die Frage nach der relativen Bedeutung dieser
Faktoren anbetrifft, so gehen bekanntlich die An-
sichten stark auseinander.
Die Entwicklungstheorie der Organismenwelt
oder die Evolutionstheorie in der Form, in wel-
cher sie anfänglich die Aufmerksamkeit Aller auf
sich gelenkt hatte und die Erscheinung der Evo-
lution eines jeden Zweifels enthob, war bekannt-
lich die Theorie von Darwin.
Die Grundidee der Darwinschen Theorie ist
die Auslese auf natürlichem Wege derjenigen
Varietäten, welche für die jeweiligen Tiere und
Pflanzen am nützlichsten erschienen, und die Er-
haltung der begünstigsten Rassen im Kampfe
ums Dasein.
Die Weiterentwicklung der Darwinschen Theo-
rie führt uns natürlicherweise zur Annahme, daß
der Kampf ums Dasein nicht nur zwischen ein-
zelnen Individuen und Arten, sondern auch zwi-
schen größeren Organismengruppen wie bei Gat-
tungen, Ordnungen, Klassen stattfindet.
Man erhält somit ein ähnliches Bild wie in
der Geschichte der Menschheit, wo wir den Kampf
der Stämme und Völker, der Geschlechter und
Klassen beobachten. Das Resultat dieses Kampfes
ist die Degeneration, ja sogar das Aussterben
dieser oder jener Gruppe.
Die Geologie ist ebenfalls eine historische
Wissenschaft, sie ist die Geschichte der Erde und
der Tier- und Pflanzenwelt, welche dieselbe be-
wohnen. Liegt der Grund des Aussterbens der
Tier- und Pflanzengruppen im Kampfe unterein-
ander und im Ersatz der einen Gruppe durch die
andere ?
Die Darwinisten bezweifeln dieses nicht.
N e u m a y r schildert uns folgendes Bild : ^)
„Eine genaue Untersuchung ergibt, daß der Rück-
gang großer blühender Familien in der Regel der
Zeit nach zusammenfällt mit dem Auftreten über-
legener Mitbewerber im Kampfe ums Dasein;
zunächst tritt dies auffallend bei den während
einer Zeit in ihrem Lebenskreise herrschenden
Formen hervor, über deren Lebensbedingungen
wir uns auch überdies meist wenigstens einige
Rechenschaft geben können, während in anderen
Fällen allerdings die Verhältnisse weniger günstig
für eine Erklärung liegen. In den ältesten Zeiten
nehmen die schon früher genannten Trilobiten
die erste Stufe in der Tierwelt ein; ihr Über-
gewicht wird gebrochen mit dem Überhand-
nehmen der Cephalopoden, der gefahrlichsten
und wildesten Räuber, die wir unter den wirbel-
losen Tieren des Meeres überhaupt kennen.
In rascher Folge tritt dann der vollständige
Verfall mit dem Umsichgreifen der Fische auf
der Grenze zwischen Silur und Devon ein. Im
oberen Silur sind die Cephalopoden aus der Fa-
milie der Nautiliden die herrschenden Formen im
Meere, aber auch sie geraten vom Auftreten hoch-
entwickelter Fische an, also seit Schluß der Silur-
formation, in steten Rückgang; außerdem fällt
mit der Verminderung der Nautiliden das Auf-
blühen einer anderen Abteilung der Cephalopoden,
der Ammoniten, zusammen. Die Ammoniten
sind während der jüngeren Phasen der großen
paläozoischen Ära und während der mesozoischen
Zeit in außerordentlicher Entwicklung; erst seit
der Mitte der Kreidezeit tritt eine namhafte Ver-
minderung derselben ein, bis sie ungefähr auf der
Grenze zwischen Kreide und Tertiär erlöschen;
') M.
146.
Neumayr, Die Stämme des Tierreiches. iS
682
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5ü
der Beginn ihres Rückganges fällt zusammen mit
der starken Entwicklung der Knochenfische, der
Teleostier. Und dieses Ereignis bringt auch den
Verfall der Belemnitiden und der schmelzschup-
pigen Fische, der Ganoiden, mit sich, die bis da-
hin alle Meere in iVIenge bevölkert hatten und
nun bis auf wenige Überbleibsel verschwinden.
In ähnlicher Weise wie bei diesen Meerestieren
verhält es sich mit den Bewohnern des festen
Landes. Gegen Ende der paläozoischen Zeit
finden wir hier die Amphibienordnung der Stego-
cephalen als herrschende Gruppe; neben ihr er-
scheinen dann Reptilien und verdrängen sie, so
daß mit Schluß der Triasformation die ersteren
verschwunden sind; dann beginnt die Herrschaft
der Reptilien, welche aber mit dem Überhand-
nehmen der höheren Säugetiere aufhört, und die
gewaltigsten Abteilungen jener sterben aus; ebenso
machen die fliegenden Reptilien, die Pterodactylen,
den Vögeln Platz."
Neben den Darwinschen Faktoren des Kampfes
ums Dasein und der natülichen Zuchtwahl erhebt
sich der unmittelbare Einfluß der äußeren Be-
dingungen und vorwiegend des Klimas.
„Wir leben in einer Zeit, wo die Erde merk-
bare klimatische Verschiedenheiten aufweist, wel-
che zwischen dem sehr kalten polaren Klima und
dem heißen feuchten und trockenen tropischen
schwanken. Dies war nicht immer der Fall; in
einer noch nicht sehr fernliegenden geologischen
Epoche war die Temperatur niedriger als jetzt,
andererseits war das Klima in früheren Zeiten
vorwiegend warm und blieb so im Verlauf langer
geologischer Epochen, und wenn es dann auch
Temperaturschwankungen und klimatische Zonen
gab, so waren die Polargegenden dennoch von
solchen Tieren und Pflanzen bewohnt, die jetzt
nur in frostfreien Gegenden vorkommen. Diese
Temperaturschwankungen äußerten sich darin,
daß lange warme Perioden durch kurze kalte ab-
gelöst wurden. Das kalte Klima trat ein, als die
Kontinente am größten und höchsten waren, also
im Abschlußstadium der Perioden und Aren und
existiert immer zur Zeit intensiver gebirgsbildender
Prozesse oder unmittelbar danach." ')
Uns interessieren die Epochen bedeutender
Veränderungen der klipiatischen Verhältnisse auf
der Erde und dabei die Zeitspanne zwischen der
kambrischen Epoche und der Jetztzeit, von wel-
cher Überreste fossiler Organismen erhalten ge-
blieben sind.
In dieser Zeit treten drei Hauptepochen im
Wechsel der klimatischen Verhältnisse hervor;
die erste und älteste von ihnen liegt auf der
Grenze zwischen unterem und oberen Silur und
ist als Entstehungsepoche der sogenannten kale-
donischen Gebirgsketten bekannt; die zweite —
auf der Grenze der Steinkohlenzeit und der per-
mischen Periode — die Epoche der Entstehung
') Schuchert, Historical Geology. 1915. p. 984— 985.
(Pirson & Schuchert. Text-book of Geology.j
des herzynischen Gebirges — , und endlich die
dritte — auf der Grenze zwischen der meso-
zoischen und kenozoischen Ära — die Epoche
der Bildung der alpinischen Gebirgsketten (nach
Ramsay). Diese drei Epochen, „im Verlaufe
derer sich auf den meisten, wenn nicht auf allen
Kontinenten Gebirgsketten erhoben, werden die
kritischen Perioden der Erdgeschichte genannt.
Die Kontinente erheben sich dann besonders hoch
über den Meeresspiegel, und da das Klima immer
trockener, kühler, ja sogar kalt wird, kann man
annehmen, daß diese Zeit auch für die damals
lebenden Tiere und Pflanzen eine kritische war".^)
Gegen klimatische Veränderungen sind beson-
ders die Pflanzen empfindlich. Zur Zeit der kale-
donischen Faltenbildung gab es noch keine vier-
füßigen Landtiere und auch keine höheren Pflanzen,
sondern es existierten bloß niedere Pflanzen, aller
Wahrscheinlichkeit nach vorwiegend Algen, welche
im fossilen Zustand größtenteils nicht erhalten
geblieben sind. Der lückenhaften Überlieferung
wegen ist es schwer, festzustellen, welche Ver-
änderungen der Pflanzen möglicherweise statt-
gefunden haben. Anders verhält es sich zu Ende
der paläozoischen und mesozoischen Ären, d. h.
im Zusammenhange mit der herzynischen und
alpinischen Faltenbildungen, als eine bedeutende
und leicht nachweisbare Veränderung der Pflanzen-
welt und der vierfüßigen Tiere zweifelsohne vor
sich ging.
Das Klima der Steinkohlenzeit gilt als feucht
und warm. Darauf weisen die reichen Stein-
kohlenablagerungen, die sich an Stellen von
Sümpfen bildeten, hin ; ebenso das Ausbleiben
von Jahresringen im Holze, die sonst im Zusam-
menhange mit den kalten Winterperioden stehen,
die Fülle und die enormen Dimensionen der In-
sekten (Libellen mit % m Flügeispanne).
Diesem Klima entsprach das Übergewicht der
samenlosen Sporenpflanzen einerseits und der vier-
füßigen Amphibien andererseits. Mit dem Über-
gang dieses Klimas in ein trockenes und mög-
licherweise auch kälteres zu Ende der paläozoi-
schen Ära entstanden ungünstige Verhältnisse für
die Existenz der Sporenpflanzen, nicht nur weil
diese im heißen Klima besser gedeihen, wie aus
der Verbreitung ihrer gegenwärtigen Vertreter —
der baumartigen Farne und großer Schachtelhalme
zu ersehen ist, sondern auch weil sie die P'euchtig-
keit zu ihrer Fortpflanzung benötigen. Letztere
geht in abwechselnden geschlechtslosen und ge-
schlechtlichen Generationen vor sich. Die ge-
schlechtliche Generation ist weniger bekannt, als
die ungeschlechtliche; die männlichen Genital-
zellen entstehen auf ihnen in P'orm von Sperma-
tozoiden und für eine Befruchtung der weiblichen
Zellen ist die Vermittlung des Wassers unent-
behrlich, denn nur im Wasser können die Sper-
matozoide sich bewegen und zur weiblichen Zelle
gelangen. Die geschlechtliche Generation hat
') Ibid., p. 979.
N. F. XXI. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
683
das Aussehen kleiner Pflänzchen, die dem Boden
aufliegen und im feuchten Klima leicht vom
Regenwasser benetzt werden können. Das Wasser
ist für die Sporenpflanzen so unentbehrlich, daß
die Botaniker sie oft mit den Amphibien des
Tierreiches vergleichen, deren Existenz ebenso
an das Wassermedium wie das Trockenland ge-
bunden ist.
Die für die oberpaläozoischen Ablagerungen
so charakteristisch gewesenen, außerordentlich
großen baumförmigen Sporenpflanzen, Bärlapp-
gewächse, Schachtelhalme sterben auf der Grenze
des Paläozoikums und des Mesozoikums aus; an
ihrer Statt treten im Mesozoikum anemophyle
Samenpflanzen auf, d. h. solche Pflanzen, die ver-
mittels des Windes befruchtet werden. Zu An-
fang sind es ihrer Organisation nach einfache
Gymnospermen, Zykadophyten und Koniferen,
welche besser als die Sporenpflanzen an das
trockene Klima mit seinen großen Temperatur-
schwankungen angepaßt sind.
In der Kreidezeit, mit dem Anfang der Epoche
der alpinischen Gebirgsbildung, vermindern sich
in ihrer Ausbreitung die Zykadophyten, den, aus
ihnen entstandenen, bedecktsamigen dikotyledonen
Pflanzen Platz machend, welche bedeutende
Schwankungen des Klimas vertragen, wie es auch
aus der geographischen Verbreitung der gegen-
wärtigen Dikotyledonen im Vergleiche zu den
Zykadophyten ersichtlich ist. Man kann im
Voraus erwarten, daß die Pflanzen, welche emp-
findlicher als die Tiere gegenüber den Schwan-
kungen des Klimas sind, schneller sich verändern
müssen, als diese.
In der Tat, im sog. Permokarbon, oder in
dem vom Steinkohlen- zum permischen System
überführenden Ablagerungen, trägt die Flora den
permischen , d. h. eigentlich den späteren Cha-
rakter, während die Fauna noch den Charakter
der Steinkohlenzeit beibehält. Die Flora der
oberen Kreide nähert sich mehr dem ihr folgen-
den Tertiär- als der vorhergehenden unteren
Kreidezeit, während das Tierreich der Epoche
der oberen Kreide seinem Charakter nach meso-
zoisch, nicht aber kenozoisch erscheint.
Man hält es für möglich, ja sogar für durch-
aus glaubwürdig, daß aus den Seichtwasserfischen
die Amphibien hervorgegangen sind, welche dank
der Luftatmung und der Gehgliedmaßen an bloß
feuchten Stellen zu leben vermochten. Die Am-
phibien, deren Aufblühen in die oberpaläozoische
Zeit fällt, verminderten sich daraufhin in ihrer
Zahl, mit dem Übergange des feuchten Klimas
zum trockenen. In der Geschichte der fossilen
Amphibien kann man drei Phasen unterscheiden:
die allerältesten und primitivsten Amphibien ver-
brachten ihr ganzes Leben im Wasser und waren
mit Kiemen versehen. Mit dem Verluste der
Kiemen paßten sie sich daraufhin an das Leben
auf dem Lande im feuchten und warmen Klima
an. Mit dem Übergange dieses Klimas zum
trockenen kälteren und ungünstigen für ihr Leben
auf dem Lande, treten sie ihren Platz den Rep-
tilien ab, welche des Wassermediums sogar in
der Jugend nicht bedürfen und überhaupt ihren
Eigenschaften nach an das Leben im trockenen
Klima angepaßt sind. Nur eine Gruppe der
Stegocephalen, die sog. Labyrinthodonten , ge-
deihen noch in der Trias, sich wieder dem Leben
im Wasser zuwendend, augenscheinlich infolge
des trockenen Klimas, — wobei sie nicht nur
im Süßwasser, sondern auch im salzigen Meer-
wasser lebten — eine, in der Geschichte der
Amphibien einzig dastehende Erscheinung; die
im Meere lebenden Labyrinthodonten sind aus
der Trias in Spitzbergen und Indien bekannt.
Die Reptilien, welche im Mesozoikum die Stelle
der Amphibien einnahmen, sind so mannigfaltig
und zahlreich (11 Ordnungen an Stelle der 4 jetzt
lebenden), daß das Mesozoikum das Zeitalter der
Reptilien genannt wird. Die Eigenschaften, welche
den Reptilien ermöglichten, des Lebens im Wasser
vollständig zu entsagen, sind: die harte Haut, mit
Krallen versehene Finger, innere Befruchtung und
große Eier mit direkter Entwicklung (ohne Meta-
morphose), was sie von dem Entwicklungsstadium
im Wasser befreit.
Die Reptilien waren sowohl auf dem Lande
als auch im Wasser verbreitet und außerdem
nahmen sie in der Luft die Stelle der Vögel ein.
Allein auch die Reptilien waren in ihrer Ver-
breitung infolge ihrer Kaltblütigkeit beschränkt,
und der Klimawechsel in der Periode der alpini-
schen Gebirgsbildung wurde für sie verhängnisvoll.
Sowohl die Säugetiere, als auch die Vögel,
welche beinahe gleichzeitig mit den Reptilien auf
der Erde erschienen, blieben im Mesozoikum so-
zusagen im Schatten, im Hintergrunde, ^) solange
die Lebensbedingungen für die Reptilien günstig
waren, daraufhin aber überstanden sie dank ihrer
Warmblütigkeit den Klimawechsel, traten in den
Vordergrund und verbreiteten sich , die Stelle
der Reptilien einnehmend und entwickelten gleich
den Letzteren eine große Mannigfaltigkeit in der
Anpassungsart an die verschiedenen Lebensbe-
dingungen.
Was die wirbellosen Tiere im Meere anbetrifft,
so kann man bei ihnen schon auf der Grenze
zwischen oberem und unterem Silur eine funda-
mentale Änderung der Fauna bemerken. In diese
Zeit fällt auch der Umschwung in der Entwick-
lung der Trilobiten und die Verminderung der
Zahl ihrer Arten und Gattungen um die Hälfte.
Von den anderen Gruppen des Tierreiches, dessen
Aufblühen dem Silur angehört, wären noch die
ausgestorbenen gestielten und größtenteils fest-
sitzenden Stachelhäuter der Klassen der Cystoidea
Carpoidca und Thecoidca zu erwähnen. Sie alle
haben im unteren Silur ihre größte Verbreitung
*) ebenso, wie auch wahrscheinlich die Dikotyledonen
längere Zeit im Hintergrunde blieben, bis ihnen die Dezimie-
rung der Zykadophyten und der Guikgo'mae im Zusammen-
hange mit dem Klimawechsel in der Epoche der oberen
Kreide die Möglichkeit bot, in den Vordergrund zu treten.
684
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. so
gefunden. Zweifelsohne nehmen ihre Stelle die
Crinoiden ein, welche im oberen Silur und im
Devon am meisten verbreitet sind.
Von den meisten wirbellosen Polypomedusen
muß doch das Aufblühen und der Untergang der
in Kolonien befestigten achsenlosen Axonolipa
im unteren Silur erwähnt werden, nach welcher
Zeit schwimmende und mit einer Achse versehene
Graptolithen {Axoi/opliora) sie ablösen. Schließ-
lich wird die Verbreitung der korallenartigen
Stromatopocoiden (der Gattungen Bcafricea,
CryptopJiragvuis, Gymiwsotoi) durch das untere
Silur begrenzt, während sie später von den Ko-
rallen und echten Stromatoporen abgelöst werden.
Das Dargelegte weist deutlich auf den Zu-
sammenhang zwischen dem Klimawechsel einer-
seits und dem Aussterben und der Entwicklung
neuer Gruppen an Stelle der untergegangenen
andererseits hin. Besonders klar ist dieser Zu-
sammenhang an den Pflanzen und den vierfüßigen
Wirbeltieren zu sehen.
Was ist aber mit der obenerwähnten ver-
lockend-harmonischen Schilderung Neumayrs
von dem Aussterben infolge des Kampfes ums
Dasein anzufangen ?
So hinreißend dieses Bild auch erscheinen mag,
so enstpricht es augenscheinlich doch nicht der
Wirklichkeit. Zu allererst befinden wir uns oft
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Systeme
Poslterliär
Tertiär
Kreide
Jura
Coelenterat
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Devon
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Kambrium
Ordoticiura
Die geologische Verbreitung einiger Gruppen der Organismenwelt.
Der Epoche der hercynischen Gebirgsbildung
entspricht das Aussterben der paläozoischen Cri-
noiden und Seeigel, eine bedeutende Verminde-
rung der Brachiopoden, der Untergang der paläo-
zoischen Korallen Riti;'osa und Tabulata, — alles
Tiergruppen des flachen- Meeres, wo die Einwir-
kung des Klimawechsels besonders schnell sich
zeigte. Dasselbe kann man von den Insekten
sagen, von denen einige Ordnungen in dieser
Epoche ausstarben. Daraufhin entstanden die
Ordnungen Colcoptcra, Ilyjiiciiopfera und andere,
welche sich durch ihre vollständige Metamorphose
bei der individuellen Entwicklung (Stadien der
Larve, der Puppe und des erwachsenen Insekts)
auszeichneten, was als eine Anpassung zum Schutz
gegen die Winterkälte betrachtet wird.
An der oberen Grenze des Mesozoikums ster-
ben die Ammoniten und die Belemniten aus und
es entwickeln sich (aus letzteren) die gegenwärti-
gen Ccphalopoda Dccapuda.
in einer schwierigen Lage etwas bestimmtes in
bezug auf die frilheren geologischen Epochen
auszusagen, da wir nicht imstande sind, die Le-
bensart der damaligen Tiere zu beobachten, be-
sonders in bezug auf die Ernährung der gänzlich
ausgestorbenen Gruppen. Darüber kann man nur
unbestimmte Mutmaßungen äußern, die einander
oft stark widersprechen.
Neumayr nimmt an, daß der Verfall der
Trilobiten als Folge der Entwicklung der Nauti-
liden eintrat. Schachert jedoch stellt diesen
Verfall mit der Entwicklung der Meerestiere im
Devon in Zusammenhang, obgleich der Umschwung
in der Entwicklung der Trilobiten zwischen dem
unteren und oberen Silur stattgefunden hat.
Der Hinweis auf den Verfall der Cephalopoda
Nautiloidea im Zusammenhange mit dem Auf-
treten der Fische, der Untergang der Cephalopoda
Ammonoidea im Zusammenhange mit der star-
ken Entwicklung der neuen Fischgruppe ist für
N. F. XXI. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
685
das Feststellen einer Abhängigkeit dieser wenn
auch zusammenfallender Erscheinungen nicht be-
weiskräftig. Es bleibt gänzlich unbekannt, ob die
betreffenden Fische sich von den Nautiliden und
Ammoniten ernährt haben und sogar ob sie sich
von ihnen genährt haben könnten. Die Schalen
dieser iVIoUusken erreichen eine gehörige Größe
und sind mit Schutzdeckeln versehen, so daß es
den Fischen nicht besonders leicht gewesen sein
mußte, sich von ihnen zu ernähren um so mehr
als die ältesten sog. Panzerfische weichmäulig und
zahnlos waren. Außerdem erwähnt Neumayr
selbst, daß der Verfall der Nautiliden nicht nur
von dem Auftreten der Fische, sondern auch vom
Aufblühen der Ammonoideen begleitet war, —
warum also haben die Fische, welche im Paläo-
zoikum die eine Gruppe der Cephalopoden ver-
nichtet hatten, die andere, nach ihr folgende ver-
wandte Gruppe erst im Mesozoikum verdrängt?
Neumayr nimmt als Grund des endgültigen
Aussterbens der Ammoniten wiederum die Ent-
wicklung der Fische, diesmal der Knochenfische
an. Warum haben diese Fische keinen Verlust
an ihrer Zahl erlitten, nachdem sie alle Ammo-
niten vernichtet hatten ? Es nehmen doch einige
Autoren an, daß das in die gleiche Zeit fallende
Aussterben der Plesiosaurier und Ichthyosaurier
im Zusammenhange mit dem Untergange der
Ammoniten, welche ihre Hauptnahrung ausmach-
ten, vor sich gegangen ist (Koken). Wenn in
diesen Fällen im Kampfe ums Dasein eine Ver-
nichtung der einen Gruppe durch die andere
stattgefunden hat, so könnte man meinen, die
Übergabe der Position der einen zugunsen der
anderen müßte allmählich geschehen sein. Von
den kämpfenden Gruppen würde die eine allmäh-
lich an Zahl zunehmen , die andere an Zahl ab-
nehmen. Indessen sehen wir dies nicht. Die
eine stellt sich an Stelle der anderen, blüht ge-
wöhnlich nach dem Aussterben letzterer auf, sonst
aber erscheint sie sogar erst darnach , den freien
Platz der untergegangenen Gruppe in der Öko-
nomie der Natur einnehmend.
DieiSäugetiere und die Vögel haben nicht die
Reptilien allmählich verdrängt, sondern sie fingen
an sich zu entwickeln, erst nachdem letztere nach
dem Aussterben einer ganzen Reihe ihrer Ord-
nungen plötzlich ihre Verbreitung eingeschränkt
hatten.
Die Korallen des IMesozoikums haben in der
Ökonomie der Natur zweifelsohne die Stelle der
paläozoischen Korallen eingenommen, jedoch ver-
mengten sich diese beiden Gruppen nicht: die
eine stellte sich an die Stelle der anderen nach
deren Aussterben.
Der Untergang eines bedeutenden Teils der
Brachiopoden zum Ende des Paläozoikums ermög-
lichte den Lamellibranchiaten, die einen ähnlichen
Lebenswandel führen und gerade im Mesozoikum
sich zu verbreiten begannen, ihre Stelle in der
Ökonomie der Natur einzunehmen.
Die Nacktsamigen nehmen den Platz der
Sporenpflanzen ein, um ihrerseits wieder den Di-
kotyledonen das Feld zu räumen.
Das Obenerwähnte zusammenfassend, können
wir sagen, daß der Antrieb zur Entwicklung neuer
Organismengruppen die Entstehung freier Stellen
in der ( )konomie der Natur war. Die eine Gruppe
verdrängt nicht die andere, indem sie mit ihr in
Kampf tritt, sondern sie nimmt bloß die von ihr
infolge ungünstiger anorganischer, klimatischer
Lebensbedingungen frei gemachte Stelle ein.
Auf die Bevölkerung vakanter Stellen in der
Ökonomie der Natur als auf einen wesentlichen
Faktor in der Veränderung der Organismenwelt
wurde von Cuenot hingewiesen. Durch die
Einnahme der freien Stellen ist ein Stoß zur Ent-
wicklung gegeben, welche sodann augenscheinlich
ruckweis vor sich gegangen ist.
In der von uns sehr fernliegenden Zeit, sagt
Cuenot, als noch viele freien Plätze vorhanden
waren : Süßwasser, Sümpfe, festes Land, Erdspalten
und Höhlen, Polargegenden, Luft usw., war eine
Entstehung neuer Gruppen möglich; jetzt aber
bleibt der Mutation immer weniger die Möglich-
keit, noch einen freien Raum im Konzerte der
solidarischen Lebewesen, die in der Jetztzeit die
Erde bewohnen, zu finden. Die Evolution hat
nicht aufgehört, schließt Cuenot, sie ist nur stark
verzögert — bis zum Einsetzen einer neuen kri-
tischen Periode in der Erdgeschichte — setzen
wir hinzu, wenn der Untergang der eben lebenden
Organismen die Verbreitung neuer Organismen
und Organismengruppen gestattet und ihnen einen
Stoß zur Entwicklung geben wird.
Im Hinblick auf die Säugetiere und nackt-
samigen Pflanzen wird der Gedanke ausgesprochen,
daß, bevor sie die vorherrschende Stelle einge-
nommen hatten (erstere im Känozoikum, letztere
im Mesozoikum), sie längere Zeit im Hintergrunde
existierten, sich an Orten mit kälterem Klima in
Polargegenden oder auf Plateaus und im Gebirge
aufhaltend. Hier konnte ihre Lage von den Rep-
tilien und Sporenpflanzen, welche an niedrigen
Stellen und im warmen Klima in der Nähe der
Meeresufer lebten, nicht strittig gemacht werden.
Als die Reptilien und Sporenpflanzen in ihrer
Verbreitung infolge des Klimawechsels, erstere
am Ende des Mesozoikums, letztere am Ende des
Paläozoikums, eingeengt wurden, nahmen ihren
Platz die Säuger und die Nacktsamigen ein, wel-
che sich verbreiteten, neue Abzweigungen aus-
sendend, die an die verschiedenen Bedingungen
freigewordener Stellen sich anpaßten. Aus den
einförmigen Säugetieren des IVIesozoikums z. B.
wurden in der Tertiärzeit bald alle die mannig-
faltigen Ordnungen, die gegenwärtig die Säuger
vertreten. Die Übereinstimmung in der Entwick-
lung der Säugetiere und der Nacktsamigen ist in-
sofern von Interesse, als diese ihr zugrundeliegende
Idee von zwei amerikanischen Autoren, unabhängig
voneinander ausgesprochen wurde, obgleich sie
in bezug auf die Säuger schon vor einigen Jahr-
zehnten erwähnt war (Packard), in bezug auf
686
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 50
die Nacktsamigen jedoch erst neulich (Wieland).
Sind viele Gruppen völlig ausgestorben, ohne Epi-
gonen, neue Gruppen, ausgebildet zu haben? Mög-
lich , daß ihrer weniger waren , als bisher an-
genommen wurde.
Wieland weist darauf hin, daß Huxley mit
der ihm eigenen kühnen Einsicht darauf aufmerk-
sam macht, daß beim Betrachten des Tierreiches
in seinem Ganzen die Zahl der ausgestorbenen
Ordnungen verhältnismäßig gering ist; möglicher-
weise sind bloß an 15"/,, von 125 Tierordnungen
jetzt gänzlich ausgestorben. Wieland nimmt
augenscheinlich an, daß dieses noch eher für die
Pflanzen gilt, und Steinmann spricht sogar die
Meinung aus, mit der man wohl schwerlich ein-
verstanden sein kann, ein Aussterben ohne Hinter-
lassung von Nachkommen hätte überhaupt nie
stattgefunden.
Es gab ein solches Aussterben auch. Wir er-
innern z. B. an die Graptoliten, Trilobiten, Ammo-
niten, an die verschiedenen Reptilien, doch öfter
fand das Verschwinden der einen Gruppe infolge
ihrer Umwandlung in eine andere Gruppe statt.
Die Aussterbeepochen waren somit auch Epochen
der Entstehung neuen Lebens, obgleich die Lebe-
wesen nicht immer gleich eine große Verbreitung
fanden. Wir wollen noch die Frage über das
Aussterben unter den Säugetieren, welches in die
Tertiär- und Quaternärzeit fiel, berühren. Os-
born bemerkt, daß im späten Eozän und Oligo-
zän vorwiegend der Untergang von Familien, im
Miozän der Gattungen und im Postpliocän der
Arten stattfand. Diesem könnte man noch
das Aussterben der Ordnungen im unteren
Eozän (Aiiiblypoda , Tacm'odoiifa , Condylarthra)
voranstellen. Aus dieser Aussterbefolge kann
man die allmählichen Abschwächungsphasen des
mehr oder weniger ununterbrochenen Prozesses
ersehen, und man kann diesen Prozeß von der
oberen Kreidezeit an in Zusammenhang bringen
mit den andauernden Veränderungen der physi-
kalisch-geographischen Bedingungen.
Diese Änderungen bestanden in der Vermin-
derung der Meeresfläche und in der teilweise da-
mit, teilweise mit der immer weiter fortschreiten-
den Gebirgsbildung im Zusammenhang stehenden
Änderungen des Klimas. Dasselbe wurde trock-
ner, was eine Vergrößerung der Wiesen- und
Steppenregionen und des Trockenlandes mit der
Entwicklung von Gräsern nach sich zog. Gräser
kommen in Schichten der oberen Kreide vor, je-
doch ihre bedeutende Verbreitung erreichen sie
erst zu Ende des Eozäns. Diese Veränderung
der Bedingungen begünstigte die Entwicklung
schnellfüßiger Grasfresser, Ungulata, mit hohen
Beinen und verlängerten, hypsodonten, Zähnen.
Die öfters schwerfälligen Polydaktyleii mit tuber-
kulären Zähnen starben aus; es nahmen die
Läufer mit verminderter Zahnzahl und seieno-
donten Zähnen überhand. Daraufhin fand unter
den P'ormen mit reduzierter Zahnzahl eine weitere
Auslese statt. Formen, welche konservativer die
primitive Anordnung der Carpal- und Tarsal-
knochen beibehielten, starben gänzlich aus, es
überlebten diejenigen Tiere, bei welchen sich
diese Fußteile modifizierten, ihnen eine größere
Festigkeit beim Tragen des Körpers verleihend.
Es bleibt uns übrig die Frage des Unterganges
der postmiozänen Säugetiere zu berühren. Eigent-
lich kann man diesen als Abschluß des vorher-
gegangenen Prozesses betrachten, ähnlich wie
möglicherweise auch die Eiszeit — das Endglied
der mit der Gebirgsbildung im Zusammenhang
stehenden Klimaveränderung darstellt (Ramsay).
Die Kälte könnte auch nicht der unmittelbare
Grund des Aussterbens gewesen sein, jedenfalls
nicht immer. Die Anpassungsfähigkeit an die
Kälte beweist die Entwicklung des Haarkleides
bei Tieren tropischer Gegenden , wie bei den
Elephanten (Mammut) und beim Rhinozeros. Je-
doch kann die Kälte, gleich anderen Bedräng-
nissen (Dürre, Überschwemmungen), die eine zeit-
weilige Verminderung der Dimensionen der Her-
den nach sich ziehen (nach Osborn), zum Aus-
sterben führen; diese Reduktion aber schwächt
die Widerstandsfähigkeit der Herden im Kampfe
mit den Feinden. Die Verminderung der Indi-
viduenzahl der Rassen geht vor sich auch infolge
der durch die Temperatur hervorgerufenen Hem-
mung der Fortpflanzungsfähigkeit. Die Fort-
pflanzungsperiode, die in den Tropen das ganze
Jahr fortdauert, beschränkt sich in den Polar-
gegenden und Hochgebirgen auf bloß zwei Mo-
nate oder auf noch kürzere Zeit.
Osborn führt für den Untergang der ameri-
kanischen Pferde in der Eiszeit besondere, jedoch
gleichfalls vom Klima nicht zu trennende Gründe
an. Die nach Mexiko emigrierten Pferde konnten,
wie er bemerkt, dank der verschiedenartigen
Lebensbedingungen, die sich ihnen hier boten,
passende physikalische Bedingungen finden. Das
Aussterben geschah seiner Meinung nach infolge
der Epidemien , die durch Insekten , ähnlich der
gegenwärtigen Tsetsefliege in Afrika hervorgerufen
werden. Solchen Epidemien begegnen wir vor-
wiegend in der Zeit feuchter Perioden, oder in
Gegenden mit regnerischem Klima. In Gegen-
den , wo zu gewissen Jahreszeiten Insekten und
Milben sich lebhaft fortpflanzen, können dieselben
sogar unmittelbar verderblich für die Säugetiere
werden.
Resümieren wir alles oben Dargelegte, so kön-
nen wir konstatieren, daß der Hauptfaktor zum
Aussterben in den verschiedenen geologischen
Epochen vorwiegend im Klimawechsel zu suchen
ist. Das Aussterben infolge des darwinschen
Faktors eines direkten Kampfes ums Dasein er-
folgt mit Bestimmtheit nur in speziellen Fällen
und lokal, und fand wahrscheinlich vorwiegend
nach der Verbindung der Kontinente, welche
früher getrennt waren, statt. So waren zur ersten
Hälfte der Tertiärzeit Nord- und Südamerika durch
ein breites Meer, welches die Stelle der jetzt exi-
stierenden Panamalandenge und des großen Teiles
N. F. XXI. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
687
Zentralamerikas einnahm, voneinander getrennt.
In jener Zeit hatten Nord- und Südamerika eine
sich voneinander ganz unabhängig entwickelnde
Fauna. Im Miozän ging die Verschmelzung
beider Kontinente vor sich, im Postpliozän emi-
grierten und vermengten sich die Faunen, was in
Südamerika das Aussterben der früher dort le-
benden Litopternae und Raubtiere nach
sich zog. Erwähnen wir noch die sogenannten
inneren Gründe des Aussterbens, d. h. diejenigen,
welche nicht im äußeren Medium, nicht in den
äußeren Lebensbedingungen des Organismus liegen,
sondern in ihm selbst, in seiner Organisation. Von
der Möglichkeit des Aussterbens infolge solcher
Faktoren wurden ab und zu Andeutungen ge-
macht, obgleich möglicherweise das Beste, was
man darüber aussagen könnte, vor 60 Jahren von
K.-E. von Baer ausgesprochen wurde.
So schreibt Baer unter anderem folgendes;
„Man stößt jetzt nicht selten auf die — als
selbstverständlich hingeworfene Behauptung: wie
die Individuen absterben, so müssen auch die
Arten oder genetischen Reihen von Organismen
derselben Form ihr Ende erreichen. Eine solche
Ansicht ist keineswegs neu." „Auch scheint für
den ersten Augenblick die Analogie so groß zu
sein, daß man leicht glauben könnte, das Ab-
sterben des organischen Individuums mache auch
das Aussterben der Arten wahrscheinlich oder
gar notwendig. Indessen darf man diese Zu-
sammenstellung oder Vergleichung nur ein wenig
mehr ins Auge fassen, um zu erkennen, daß dem
Sterben des Individuums eine innere Notwendig-
keit zugrunde liegt, daß aber für den Untergang
der Arten eine solche weder empirisch nach-
gewiesen, noch theoretisch wahrscheinlich ge-
macht scheint." ^)
„Suchen wir nun nach einer solchen, im
Lebensprozesse selbst liegenden, also rein physio-
logischen Notwendigkeit des Aufhörens in der
Reihenfolge der Generationen, so scheint es mir,
daß die Beweise aus der Erfahrung fehlen und
die Analogie keineswegs groß genug ist, um auf
sie einen Schluß zu gründen." -J
Analogie bedeutet Ähnlichkeit, ist überhaupt
bloß ein Gegenüberstellen, ein Vergleich, nicht
aber ein Beweis, wie es das französiche Sprich-
wort so treffend ausdrückt.
Die Analogie ist hauptsächlich bei populärer
Darstellung von Nutzen, um vermittels der ver-
einfachten Erklärung das klar zu legen, was sonst
wegen der Kompliziertheit der Erscheinungen und
des Mangels an ausreichenden Kenntnissen nicht
') K. E. V. Baer, Über das Aussterben der Tierarten
in physiologischer und nichtpbysiologischer Hinsicht über-
haupt usw. Bulletin de l'academie imperiale des Sciences de
St. Petersbourg. Tome III, 1861, S. 369—370.
-) Ibid. S. 371.
leicht verständlich zu machen wäre. Auch in
wissenschaftlicher Hinsicht hat die Analogie eine
Bedeutung als Heuristik, als ein auf der Intuition
beruhendes Suchen, als Ahnung, dieser oder jener
Verallgemeinerung im Forschen nach der Wahr-
heit; dennoch bedarf dieses Erraten unbedingt
einer Prüfung und eines Beweises, ohne selbst ein
solcher zu sein. Baer weist darauf hin, daß man
unter den jetzt lebenden Haustieren und wilden
Tieren kein Aussterben, welches sich in der Ver-
minderung der Fruchtbarkeit oder der Verminde-
rung des Wuchses äußern könnte, beobachtet.
Dieses wird auch nicht in bezug auf die ausgestor-
benen Gruppen in vergangenen geologischen
Epochen bemerkt; im Gegenteil, es starben mit
besonderer Beständigkeit die Riesen aus, Tiere,
die den Kulminationspunkt im Sinne ihrer Größe
erreicht hatten. Natürlich, wenn man im Auge
behält, daß jede Erscheinung in ihrer Existenz
einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat,
so veranlaßt die Gegenwart dieser drei Phasen
sie mit der Jugend, der Reife und dem Alter im
Leben des Individuums zu vergleichen; jedoch
wäre es seltsam, daraus den Schluß zu ziehen,
daß das Ende unbedingt dem Alter entspräche
und kann man diese Behauptung nicht ernst
nehmen.
Mir scheint, man kann behaupten, daß ich in
dem vorliegenden Aufsatz die Abhängigkeit der
Entwicklung der Organismenwelt von den physi-
kalisch-geographischen (klimatischen) Bedingungen
nicht nur ganz genau, sondern auch noch viel
bestimmter und entschiedener, als es bis dahin
durch andere geschehen ist, dargelegt habe.
Der Zweifel an der Möglichkeit eines gleich-
zeitigen Klimawechsels auf der ganzen Erd-
oberfläche infolge geologischer Vorgänge (siehe
z. B. in den Arbeiten des geologischen Kon-
gresses in Kanada die Schrift von v. Lo-
zinsky) hielt davon ab, dieses früher zu tun.
Indessen scheint eine solche Allgemeinheit in den
physikalisch • geographischen Veränderungen klar
genug hervorgehoben, sogar in den von Schu-
chert in denselben Arbeiten des Kongresses ge-
gebenen Daten über die Ansichten seiner Vor-
gänger (Suess, Lapparent, Chamberlin).
Es wurde mitunter erwähnt, daß der Grund
zum Aussterben nicht die klimatischen Bedingun-
gen gewesen sein könnten, wegen deren allmäh-
lichen Veränderungen. Wenn nun aber Cuviers
Katastrophismus dem Uniformitarianismus Lyells
und von Hoffs Platz gemacht hat, so werden
in letzter Zeit diesem Grenzen gezogen , indem
man zugibt, daß die Veränderungen der Erde
und ihrer physikalisch-geographischen Bedingungen
nicht immer mit gleicher Geschwindigkeit vor
sich gegangen sind.
688
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. so
Anregungen und Antworten.
Bewegungen von Insekten zur Nahrungssuche. Folgende
Beobachtungen am Admiralschmetlerling machte ich in Sep-
tembertagen in einem Obstgarten, in welchem die Schmetter-
linge der genannten Art oft an von Wespen angefressenem
und faulendem Fallobst saugten.
1. Ein am Fallobst saugender Falter, den ein vorbei-
kommender Mensch oder Hund oder eine ihn störende große
Fliege aufscheucht, fliegt fast stets in I — 3 m Höhe auf einen
der Obstbäume und läßt sich dort mit ausgebreiteten Flügeln
auf einem Blatt nieder. Ein diesen Platz spontan verlassen-
der Falter dagegen kommt stets herabgeflattert und nähert
sich im Pendelflug Früchten am Boden. Will mans anders
hören, so scheint er im ersten Falle negativ geotaktisch,
doch kann positive Phototaxis damit verbunden sein; im
zweiten Falle dagegen kann von positiver Geo- und Chemo-
taxis gesprochen werden.
2. Das Aufsuchen einer am Boden liegenden Frucht ge-
schieht meist wesentlich unter sich allmählich herabsenkendem
pendelnden Hin- und Herfliegen über ihr mit allmählich sich
verkleinerndem Ausschlag. Der anlockende Reiz wird der
chemische sein; der Falter nähert sich aber nach Gesagtem
der Keizquelle nicht durch stetes Eindringen in stärker duft-
geschwängertes Gebiet, sondern unt-.r umkehren zu kürzerem
Rückflug nach jedesmaligem Überschreiten des Duftmaximums,
also unter Mitwirkung des Gedächtnisses und zwar unter
kombinierter Verarbeitung von äußeren (chemischen) und kin-
ästhetischen Reizen.
3. Schließlich aber wird die Frucht nicht angeflogen, son-
dern der Faher läßt sich in ihrer Nähe nieder und kriecht
dann zu ihr hin. Gewöhnlich sieht man ihn nach dem Sich-
niederlassen und vor Beginn des Hinkriechens sich durch eine
Wendung genau in die Richtung auf die Reizquelle hin ein-
stellen. Diese Wendung bis zu dem Moment, wo beide
Fühlerenden augenscbeialich in gleichstarkem chemischem Reiz
sind, ist eine chemotaktische Reaktion in Rein-
heit und somit für das Vorkommen von solchen ein so deut-
liches Beispiel, wie man es selten haben kann. — Ich be-
merke, daß Optisches so gut wie sicher nicht mitwirkt, da
die Reizquelle, die faulende Frucht, stets von unauffälliger
brauner Farbe ist, oft zwischen Geäst oder Gesträuch versteckt
liegt und nicht selten nur durch ein kleines, zertretenes Stück
Frucht dargestellt wird, das der menschliche Beobachter kaum
erkennt, und das höchst unauffällig gegenüber anderen opti-
schen Eindrücken am Orte ist.
4. Den auf die Frucht zukriechenden Falter kann ein
Windstoß oder die Notwendigkeit, Äste zu umklettern, aus
der Bahn bringen. Das alsobald darauf erfolgende Sichwieder-
einstellen auf die Frucht hin kann als rein chemotaktisch
erklärt werden, so sehr auch der Eindruck besteht, der Falter
„lasse sich nicht von seinem Ziele abbringen".
5. Das Hinzukriechen auf die Reizquelle erfolgt unter
ständigem Auf- und Niederschlagen der Flügel, und dies bat
zur Folge, daß alle auf der Frucht sitzenden Fliegen vor dem
herannahenden Falter flüchten. Auch nachdem er angelangt
ist und saugt, reagiert er auf jede sich annähernde kleine oder
mittelgroße Fliege durch Flügelschläge, die sie nicht berühren;
nur ziemlich große Fliegen lassen sich nicht vertreiben, son-
dern kriechen so kräftig zwischen den Beinen und dem Rüssel
des Schmetterlings umher, daß dieser selbst weicht. Wahr-
scheinlich ist es wesentlich der optische Eindruck von den
lebhaften Flügelfarben, der die Fliegen vertreibt, und hierin
scheint auch der Nutzen oder die Zweckmäßigkeit der Flügel-
farben der Tagfalter zum Teil — natürlich nicht allein
hierin — zu liegen, denn ähnlich kann es bei anderen Tag-
faltern sein , die beim Blütenbesuch mit Fliegen zu konkur-
rieren haben.
0. Wesentlich anders als den Admiralschmetlerling sah
ich in jenen Tagen vor einem anderen Objekt Fliegen
verschiedener Art reagieren. Stinkmorcheln standen in sandi-
gem Dünengelände und wurden viel von rasch gegen Wind
anfliegenden Fliegen besucht. Inwieweit zieht sie chemischer
Reiz an, inwieweit optischer? Halte ich meine Handfläche
im Sonnenschein 20 cm schräg vor den Pilz, so wird diese
angeflogen. Also die chemisch angelockte Fliege reagiert in
diesem Falle, in Nähe der chemischen Reizquelle angelangt,
auf irgendeinen optischen Reiz, der mit dem von der Reiz-
quelle ausgehenden und vielleicht den Fliegen jener Gegend
im Gedächtnis sitzenden nur entfernte Ähnlichkeit hat.
V. Franz, Jena.
Die Lage der deutschen naturwissenschaftlichen Museen
gestaltet sich von Jahr zu Jahr schwieriger. Durch den Raub
unserer Kolonien, die Absperrung vom Auslande und den
schlechten Stand unserer Währung sind Neuerwerbungen
äußerst erschwert, und die zur Verfügung stehenden Mittel
stehen in keinem Verhältnis zu den geforderten Preisen; das
valutastarke Ausland dagegen ist in der Lage , deutsches
Kulturgut um wenig Geld zu erwerben. Wohin diese Ver-
hältnisse führen, zeigt das Schicksal unserer Zoologischen
Gärten, von denen bereits 3 (Breslau, München und Hannover)
geschlossen werden mußten, und ähnliches droht den natur-
wissenschaftlichen Museen. Sich gegen diese verhängnisvolle
Entwicklung zu wehren, ist Pflicht der Museumsleiter, und ein
Mittel hiezu ist die Gründung einer Vereinigung
der wissenschaftlichen Beamten der deutschen
naturhistorischen Museen. Durch eine derartige Ver-
einigung würde es möglich sein, einen regen Tauschverkehr
der Museen untereinander anzubahnen und gemeinsame Unter-
nehmungen zu ihrem weiteren Ausbau ins Werk zu setzen.
Auch die zielbewußte Heranbildung tüchtiger Präparatoren
und geschulter Sammler könnte von dieser Vereinigung in die
Hand genommen werden, die das berufene Organ für die Ver-
tretung der Standesinteressen der naturwissenschaftlichen
Museumsbeamten sein würde. Es wird deshalb vorgeschlagen,
die Gründung einer solchen Vereinigung möglichst ungesäumt
in die Wege zu leiten. Zustimmende Erklärungen erbittet
Prof. Dr. Fritze -Hannover, Provinzialmuseum.
Gelegentlich eines Geologenkongresses in Brüssel, der sich
den Anschein gab, der 13. internationale zu sein, hatten die
Franko-Belgier natürlich das Bedürfnis, auch dort mit ihren
Kriegsleiden Reklame und sich interessant zu machen. Den
geeignetsten Rahmen dazu gab Loewen ab. Es muß doch
festgenagelt werden, daß bei dieser Gelegenheit auch ein Ver-
treter der ,, Neutralen" (soweit diese nicht unter Protest dem
gesamten Zankspiel ferngeblieben waren), nämlich Lugeon
aus Lausanne seine Ansichten über die ,,barbarie allemande"
vom Stapel ließ. Ich habe in diesen Blättern des öfteren in
anerkennendster Weise seiner großen Verdienste um die Tek-
tonik der Alpen gedacht und habe davon kein Wort auch nur
in Gedanken zurückzunehmen. Um so mehr fühle ich Anlaß,
mein schmerzliches Mitleid darüber zum Ausdruck zu bringen,
daß die Kriegsepidemien noch so unvermindert wüten und nun
auch ein früher so klares Urteil zum Opfer gefordert haben.
Prof. Dr. Edw. Hennig-Tübingen.
Literatur.
Titschak, E. , Beiträge zu einer Monographie der
Kleidermotte Tineola biselliella. Mit 4 Tafeln u. 91 Text-
abbildungen. Leipzig '22, Gebr. Bomträger.
Möller, Prof. Dr. M., Kraftarien und Bewegungsformen.
Mit 72 Abb. Braunschweig '22, Fr. Vieweg & Sohn, loo M.
Kolk witz, Prof. Dr. R., Die Pflanzenwelt der Umgegend
von Berlin. Mit 1 Karte und 12 Textabb. Berlin -Lichler-
felde '22, Naturschutz- Verlag.
lubftlt: N. N. Vakowlev, Der Klimawechsel als Hauptfaklor der Veränderung der Organismenwelt. S. 681. — An-
regungen und Antworten ; Bewegungen von Insekten zur Nahrungssuche. S. 6S8. Die Lage der deutschen natur-
wissenschaftlichen Museen. S. 688. Geologenkongreß in Brüssel. S. 6SS. — Literatur: Liste. S. 688.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Flacher in Jena.
Druck der G. PKtz'icben Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b, H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
der ganzen Reihe 37. band.
Sonntag, den 17. Dezember 1922.
Nummer 51.
Die Beziehungen der afrikanischen Tierwelt zur südasiatischen.
Ein Beitrag zur Geographie der Tiere.
Von Dr. Willi. R. Eckardt, Essen.
(Nachdruck verboten.] ^^
Afrika südlich der Sahara ist bezüglich seiner
Säugetierwelt das formenreichste Tiergebiet der
Erde. Dieser Umstand ist nach Da h P) darauf zu-
rückzuführen, daß trotz aller Einförmigkeit des alten
ungegliederten Kontinents sehr verschiedene Le-
bensbedingungen vorkommen, denn es gibt in Afrika
Regen wald, Savanne, Steppe, Wüste, Gebirge,
zahlreiche und große Binnenseen sowie Flüsse.
„Es fehlt also nichts, was zur Differenzierung der
Formen Anlaß geben konnte. Zudem sind die
Temperaturverhältnisse für das Tierleben äußerst
günstig, da der allergrößte Teil innerhalb der
Wendekreise liegt. Trotzdem würde der Formen-
reichtum nicht ein so gewaltiger sein, wenn Afrika
nicht sehr lange mit dem Hauptfesllandkomplex
der Erde in engem Zusammenhang geblieben
wäre" (Da hl). Wenn dagegen Afrika namentlich
hinsichtlich der Artenzahl der Insekten und Vögel
gegenüber Südasien und Südamerika zurücksteht, so
ist die Ursache darin zu erblicken , daß hier die
Vegetation bei weitem nicht so reichhaltig und
mannigfaltig entwickelt ist, wie in jenen Ländern.
Nur im westlichen Afrika, wo wir ausgebreiteten
Hochwald finden, sind die Bedingungen für eine
reichere Vogel- und Insektenwelt vorhanden. Im
übrigen Afrika begünstigte das Fehlen hoher von
Ozean zu Ozean in latitudinaler Richtung sich
erstreckender Gebirge und überhaupt der IVIangel
sehr hoch gelegener Landschaften von größerer
Ausdehnung sowie vor allem der Zusammenhang
der großen schwach gewellten Gebiete in allen
Teilen des Kontinents zusammen mit dem ziem-
lich gleichmäßigen Klima nach K. Dove*) un-
gemein die Ausbreitung der gleichen Formen-
kreise aus der Großtierwelt über weite Strecken
des Weltteils, ja in einzelnen Fällen sogar über
Gesamtafrika mit Ausnahme der völlig wüsten
Striche. „Die eigenartige Regenverteilung aber,
die wieder die Hauptursache offener Landschaften
ist, diente so ebenfalls zur wesentlichen Verbrei-
tung der ungeheuren IVIenge von Weidetieren der
verschiedensten Art, welche die endlosen Savannen
und Steppen der Hochländer bevölkerten. Wir
finden deshalb die Hauptunterschiede in der Zu-
sammensetzung der Tierwelt innerhalb dieses
großen Erdteils nicht etwa zwischen dem äußer-
sten Süden und den nördlichsten Randgebieten,
sondern vielmehr zwischen dem offenen Lande,
einerlei ob Wüstensteppe oder reiche, ja park-
artige Graslandschaft, und der Zone der geschlos-
senen Urwälder in den äquatorialen Strichen."
Dabei müssen wir aber mit LeoWaibeP) den
Umstand berücksichtigen, daß der Urwald an
Großtieren hinsichtlich Arten- und Individuenzahl
arm, die offenen Landschaften dagegen an diesen
reich sind. Wenn daher Wal lace im Gegensatz
zu den übrigen Gebieten eine westafrikanische
Tierregion aufstellt, so besagt diese Einteilung,
wie M. C. Eng eil'-) treffend bemerkt, nichts
anderes, als daß eben gewisse Tierformen dem
Leben in Waldgegenden, andere dem Leben in
offenen Steppengegenden angepaßt sind. Es
liegen aber der Wallaceschen Einteilung keine
geologisch -genetischen Ursachen zugrunde, und
wenn eine Anzahl Tierformen Westafrikas auf
Indien hinweisen,^) so ist der Grund hiervon darin
zu erblicken, daß diese einst nach Osten hin eine
weitere Verbreitung besessen haben , daß sich
aber, als im Laufe des Pliozäns und Diluviums
die Wälder im Osten sich lichteten, die an den
Schutz der Hylaea angepaßte Tierwelt nach
Westen zurückzog, bzw. nur dort erhalten blieb.
Im allgemeinen trägt die Tierwelt Afrikas ein ost-
festliches Gepräge; sie bildet aber doch den am
eigentümlichsten abgesonderten festländischen
Faunakreis innerhalb des Küstenzugs der Ostfeste.
Denn nie sind in diesen Raum eingezogen Bären,
Wölfe, Hirsche, Marder, Maulwürfe, auch keine
echten Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, Kamele,
ehe der Mensch Tiere dieser Gruppen für seinen
Gebrauch einführte.*) Mit der indischen Welt aber
wird das äthiopische Tiergebiet, wie wir sehen
werden, eng verknüpft, und zwar bezüglich der
höheren Tierwelt durch die menschenähnlichen
Affen, die echten Zibetkatzen, Linsangs, Palmzibet-
katzen, Honigdachse, Elefanten, Nashörner und
Schuppentiere, die Nagetiergattungen Naiiiiosci'u-
') Grundlagen einer ökologischen Tiergeographie. Jena,
1921. S. 67.
*J Wirtschaftsgeographie von Alrika. JeDal9i7, S. 48/49.
') Urwald, Veld, Wüste. Breslau 1921. Vgl. auch:
L. Waibel, Lebensformen und Lebensweise der Tierwelt
im tropischen Afrika. Versuch einer geographischen Betrach-
tungsweise der Tierwelt auf physiologischer Grundlage. Mitt.
d. Geogr. Ges. zu Hamburg Bd. 29, 1913 (Heidelberger
Doktor- Dissertation).
^) Verbreitung und Häufigkeit des Elephanten und Löwen
in Afrika. Petermanns Mitteilungen Erg.-Heft Nr. 171. Gotha
1911.
'^] Vgl. M. Schlosser, Die fossilen Säugetiere Chinas
nebsl einer Odontographie der rezenten Antilopen. Abh. d.
kgl. Bayr. Akad. d. Wissenschaften II. Kl., 22. Bd., I. Abt.
München 1903.
^1 Vgl. Kirchhoff, Pflanzen- und Tierbreitung. Prag,
Wien, Leipzig 1899.
690
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
rus, Golwida und Atlieriira, sowie eine Anzahl
von Vogelfamilien bzw. -gattungen, so z. B. Bart-,
Nashornvögel und Honigsauger.
Treten wir zunächst der Beantwortung der
Fragen näher, warum die genannten Tierfamilien
nicht in das transsaharische Afrika gelangt sind,
und warum andererseits in Afrika so viele Tier-
arten, deren Entstehungsgebiet Asien war, wo sie
indessen ausgestorben sind, heute noch fortleben
und sich, wie die Antilopen daselbst, zu einer
Formenfülle ohnegleichen fortentwickelt haben.
Das Fehlen der Maulwürfe {Talpidnc) erklärt
Lydekker') dadurch, daß diese Tiere nur lang-
sam zu wandern vermögen, und daß sie daher
nicht imstande gewesen sind, innerhalb einer ver-
hältnismäßig kurzen Periode dorthin einzudringen,
d. h. zu der Zeit, als die Verbindung mit anderen
Regionen eine solche war, daß diese Tiere in den
Zwischengebieten hätten leben können. Die echten
IVIaulwürfe fehlen ja bekanntlich auch in Indien !
Sehr wichtig erscheint mir indessen die Tasache,
daß die Maulwürfe der paläarktischen Region in
Äthiopien — und nebenbei bemerkt auch in
Australien — durch Tiere von ähnlicher Lebens-
weise vertreten werden, und zwar durch die Gold-
mulle {OirysocJdon's) und die sogenannten Kap-
mulle {Bafhyergiis), die den klimatischen, eda-
phischen und somit auch den Vegetationsverhält-
nissen Afrikas weit besser angepaßt sind als die
nordischen echten Maulwürfe.-) Dasselbe gilt wohl
auch von den echten Schweinen, die in Afrika
ebenfalls durch besser angepaßte, wenn im all-
gemeinen auch ältere, /-. T. sogar sehr alte Typen,
wie HylocJincrKS, vertreten werden ; und was unser
Wildschwein anlangt, so ist von diesem bemerkens-
wert, daß es auch in die asiatischen Tropen süd-
lich des Himalaya ebensowenig eingedrungen ist
wie nach Zentralafrika, wohin es leicht von Ägypten
her, wo sich die Wildschweine jahraus jahrein in
den Zuckerrohrfeldern auch ohne jeden Wald
wohlfühlen, hätte gelangen können. Es hat sich
eben freiwillig nicht den Tropen angepaßt, son-
dern wird hier von anderen Arten vertreten.
Sehr einfach liegen die Verhältnisse ferner be-
züglich des Kamels, welches aus dem Grunde
nicht nach Südafrika über den feuchtschwülen
Äquatorialgürtcl dringen konnte, weil seine Ver-
breitung überall da aufhört, wo die absolute
Feuchtigkeit im Monatsmittel mehr als 12 mm
beträgt, wie Lehmann nachgewiesen hat.
Die Abwesenheit von Ziegen und Schafen —
mit Ausnahme einer Cafra-hxX. in den Hoch-
ländern Abessiniens und von Hrmifragus in Oman
im südöstlichen Arabien — ist wohl einfach da-
durch zu erklären, daß diese Tiergruppen Berg-
tiere sind, die nur bei verhältnismäßig niedriger
Temperatur von einer Gebirgskette zur anderen
') Die geographische Verbreitung und geologische Ent-
wicklung der Säugetiere. 2. Aufl. Jena 1901. S. 315.
*) Vgl. hierüber: Brehms Tierleben, 4. Aufl., Bd. I,
sowie Hilzheimer, Handbuch der Biologie der Wirbeltiere.
Stuttgart 191 3.
Übergehen können. Spuren einer echten Kälte-
periode fehlen aber im äthiopischen Afrika. Auf
die gleiche Weise, wie bei den Ziegen und Schafen,
erklärt sich wohl auch die Abwesenheit von
Murmeltieren {Ardomys), Zieseln {Spcniiopliüiis),
Backenhörnchen (Tamias), Bibern (Casioridae),
Feldmäusen {Älicrotinac) und Pfeifhasen [Lago-
iiiys), da diese Tiere sämtlich Bewohner hoch-
gelegener oder nördlicher Gegenden sind. Das-
selbe gilt, im allgemeinen wenigstens, auch von
den Bären. Mit Ausnahme des Lippenbären, der
eine besondere Gattung {Aldiirsiis) bildet, gibt
es im eigentlichen Indien keine Bären, wenn auch
eine mit dem Lippenbären verwandte Art in den
Siwalikschichten gefunden wurde. „Unter diesen
Umständen", bemerkt Lydekker, „und mit
Rücksicht auf das Fehlen fossiler Bären in den
Ablagerungen von Pikermi und Persien ist es
durchaus nicht zu verwundern, daß diese Tiere
während der ganzen pliozänen Wanderung nicht
nach Äthiopien eingedrungen sind", auch wenn
sie z. T. Gegenden bewohnen, in denen kein Wald
vorkommt.
Wenn wir nun bedenken, daß doch Südasien,
insbesondere Vorderindien, wahrscheinlich die Ur-
heimat der Flußpferde, Giraffen, Strauße, Anti-
lopen, Menschenaffen und anderer Tiere gewesen
ist, so erscheint die Tatsache auf den ersten Blick
sehr merkwürdig, daß diese Tierwelt in Südasien
z. T. verschwunden ist, wie z. B. Giraffen, Fluß-
pferde, Strauße, während sie sich in Afrika, wohin
sie erst verhältnismäßig spät eingewandert sind,
erhalten haben.') Was die Mehrzahl der in Asien
ausgestorbenen Charaktertiere anlangt, so handelt
es sich um Steppen- bzw. Savannentiere, die den
Urwald meiden. Sie könnten daher heute in
Vorderindien noch ebenso leben wie in Afrika;
Klima und Pflanzenwuchs würden das ohne wei-
teres ermöglichen Wenn die genannten Tiere
in Südasien trotzdem ausgestorben sind, so bleibt
uns hierfür keine andere Annahme übrig, als daß
durch eine Klimaänderung die ursprüngliche
Baumsteppe sich zu einem tropischen Regenwald
verdichtete, dem die der Steppe und Savanne an-
gepaßten Tierformen weichen mußten. Dieses
Ausweichen kann aber in der Hauptsache nur
nord- und westwärts stattgefunden haben. Als
dann gegen die Eiszeit hin von Norden her Tem-
peraturerniedrigung und Sommertrockenheit ein-
trat, die Regenwälder des in Frage kommenden
Gebietes sich also wieder zu Savannen und
Steppen lichteten, mußte wohl infolge der durch
die gewaltigen geotektonischen Vorgänge der
Tertiärzeit hervorgerufenen Klimaverschlechte-
rung am Nordrande des orientalischen Faunen-
reiches die für Savanne und Steppe charakte-
ristischen Tierwelt größtenteils verschwinden,
') Mit Afrika teilt Arabien beute noch den Strauß , die
Paviane, Klippdachse, Schakal, Hyäne, Baisaantilope, Gazellen
u. a. Der Löwe ist dagegen in Arabien ausgerottet und nur
noch in Persien und Nordwestindien auf asiatischem Boden
zu finden.
N. F. XXI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
so daß Indien infolge vorübergehender Urwald-
bedecl<ung nicht als Erhaltungsgebiet für dieselbe
bis auf den heutigen Tag in Frage kam. Was
aber von der Pikermifauna im Norden an Wald-
oder Gebirgstieren während der Waldperiode
nicht den Anschluß gefunden hatte bei der großen
Südwärtsbewegung des Klimas und des Lebens,
das blieb dem transsaharischen Afrika für immer
fern.
Fragen wir nun nach den Gründen der Ände-
rungen des Klimas, so muß man sich von vorn-
herein darüber klar sein, daß bloße Änderungen
in der horizontalen Konfiguration von Festland
und iVIeer allein diese unmöglich hervorrufen
konnten, zumal da sie seit der Mitte der Tertiär-
zeit gar nicht von besonders großem Ausmaße
gewesen sind. Es bleibt uns daher nur die An-
nahme übrig, daß die in Frage kommenden Länder
zur Tertiärzeit eine andere Lage zum Äquator
und Pol hatten und zwar eine sehr wechselnde,
die etwa in dem Sinne vor sich gegangen sein
dürfte, wie sie uns die Weg n ersehe Verschie-
bungshypothese plausibel machen will. Ob diese
Theorie in allen ihren Konsequenzen richtig ist,
soll uns hier nicht weiter kümmern. Nur das sei
gesagt: Wenn sie irgendwo zu Recht besteht,
dann ist das in dem Gebiet von Ostafrika und
Arabien der Fall, wo das Auseinanderreißen der
beiden Festländer durch Einsenkung des Roten
Meeres, des gewaltigsten Teiles der oslafrikanischen
Grabenversenkung, ganz offensichtlich ist.
Das Urwaldklima war aber wohl auch für das
Aussterben des Flußpferdes in Südasien z. T. mit
maßgebend , denn in den meilenweit von einem
bis an beide Ufer herantretenden Baumwuchs be-
schatteten Urwaldströmen findet sich im allge-
meinen nicht das typische Flußpferd, sondern in
der Regel in den offenen Gewässern der Savannen
und Steppen. Auf asiatischem Boden aber lebte
das Flußpferd noch in historischer Zeit, und zwar
im Jordan. Eine eigentlich diluviale Kältewelle
hat Indien nicht betroffen ; eine gewisse Verarmung
der Großtierwelt ist hier in der Hauptsache das
Werk eines Wechsels zwischen einem tropischen
und subtropischen Regenregime und seiner Fol-
gen für den Pflanzenwuchs, d. h. für Regenwald
oder Savanne. Da über Vorderasien zudem der
ozeanische Typus des Subtropenklimas mit Nieder-
schlägen in der kälteren Jahreszeit herrscht, und
die Niederschläge selbst nicht gerade reichlich
sind, so ist es kein Wunder, wenn u. a. auch das
Flußpferd im Laufe des Pleistozäns mit Ausnahme
des Jordantales auf asiatischem Boden schließlich
gänzlich ausstirbt.
Diese Erwägungen führen vor allem aber auch
die Tatsache vor Augen, daß trotz allen Ausbrei-
tungsdranges, welcher für die Organismen „Leben"
im wahren Sinne des Wortes bedeutet, die Tier-
wanderungen z. T. doch einen recht passiven Cha-
rakter haben können. Die durch Änderungen der
Pollage bedingten Wanderungen der Klimazonen
und die dadurch hervorgerufenen Änderungen der
Vegetation bilden den Hauptanstoß für die Be-
wegungen. Finden die zur Wanderung gezwun-
genen Tiere einen ungehinderten Ausweg, der es
ihnen erlaubt den Länderstrichen zu folgen, auf
denen das Klima und seine Wirkungen und mit-
hin auch die Existenzbedingungen für die Tierwelt
die gleichen bleiben, so ist deren Fortbestehen,
wenn kein Konkurrenzkampf, sonstige übermäch-
tige feindliche Agentien, Überspezialisierung die
Arten bedrohen, gesichert, andernfalls geraten sie
in tellurisch bedingte Sackgassen, in denen sie
den Folgen der geänderten Klimawirkungen er-
liegen. Die großen Tierreiche der Erde sind also
nichts anderes als die großen natürlichen Reser-
vate, auf die der moderne Naturschutz einer
geistig und moralisch hochstehenden Mensch-
heit alle Rücksicht noch weit sorgfältiger zu neh-
men hat als bisher. Denn alles, was durch sein
Verschulden vernichtet wird, ist unwiederbringlich
für immer dahin!
Am meisten Kopfzerbrechen hat den Tiergeo-
graphen das Fehlen der Hirsche in Afrika südlich
der Sahara bereitet, während das waldreiche Süd-
asien, von dem Afrika so viele Tiere bezogen
hat, geradezu als die Region der Hirsche bezeichnet
wird. Allerdings sind die südasiatischen Hirsche
auf verhältnismäßig niedriger Entwicklungsstufe
stehen geblieben: es sind ältere, durch die Um-
gestaltung der Naturverhältnisse der Paläarktis
nach Süden abgedrängte Formen. Der Grund
des Fehlens der Hirsche in Äthiopien dürfte darin
zu erblicken sein, daß die nahe verwandten Antilopen,
unter denen sich doch sehr hirschähnliche, wie z. B.
Kudu, Bongo und Wasserbock ') befinden, jene nicht
aufkommen ließen, denn es ist geradezu ein Grund-
satz der Tierverbreitung, daß Tierarten ihr Gebiet
von ähnlich Gearteten rein halten. Treffend sagt
Adolf Fischer, ein scharfer Tierbeobachter in
seinem schönen Buche: „Menschen und Tiere
in Deutsch-Südwest" (Stuttgart und Berlin 1914): ")
„Wie die Oryx die Südkalahari gegen Kuhanti-
lopen sperren, Kudus auf Inseln stehen, die keine
andere Großantilope betritt, Zebras und Wild-
pferde anscheinend nie unter gleichem Himmel
lebten, schwarze und weiße Nashörner keine Ge-
meinschaft pflegen , so ist das eigentliche Anti-
lopenland, Afrika, frei von Hirschen geblieben".
Ad. Fischer ist aus guten Gründen der Ansicht,
daß Kudus und verschiedene Kleinantilopen
(Ducker, Steinbock, Blaubock, Klippspringer)
Spätlinge des Feldes sind und den Nachschub
') Die Mendesantilope [At/äax) , die den losen Wüsten-
sand tritt, erinnert in ihrem Fußbau und sonstigem ganzen
Habitus starli an das über das weiche Scbneefeld des Nordens
dahinschreitende Renntier.
-) Unter den neueren Werken liefern in erster Linie
reichen Stoff für eine ökologische Tiergeographie die folgen-
den: Steinhardt, Vom wehrhaften Riesen und seinem
Reiche. Hamburg 1922. Schomburgk, Bwakukama.
Berlin 1922. J. von Oertzen, In Wildnis und Gefangen-
schaft. Berlin 1913. W. Kuhnert, Im Land meiner Mo-
delle. Leipzig 1918. Bronsart v. Schellendorf, Afri-
kanische Tierwelt i — 5.
692
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
des großen Zuzuges bildeten. „Vielleicht erlebten
sie noch die nachdringenden Hirsche, hielten mit
anderen Antilopen die Nordgrenze des Landes
besetzt, nahmen Wasser und Äsung in Anspruch,
so daß die Neuen keinen Raum fanden, sich nicht
festsetzen konnten, auf den Weitermarsch südwärts
verzichteten." In der Tat erscheint der hier vor-
getragene Gesichtspunkt als der natürlichste, denn
in Südamerika, wo die Antilopen überhaupt fehlen,
haben die Hirsche vom Nordkontinent her in
zahlreichen Arten ihren Weg selbst bis in die
Pampas des äußersten Südens gefunden. Wenn sich
aber in Afrika die Antilopen ebenfalls bis zum äußer-
sten Süden verbreiten konnten, so ist die von
Forschungsreisenden mehrfach vertretene Ansicht,
daß der tropische Regenwald vor nicht langer Zeit
vom Guineabusen bis zur Ostküste ohne Unter-
brechung gereicht habe, nicht richtig, denn Steppen-
tiere vermögen keinen breiten Urwald zu passieren.
Auch aus klimatischen Gründen ist bei der seit
der Pliozänzeit bestehenden Festlandsverschiebung
im Osten Afrikas ein in der Äquatorialzone von
Küste zu Küste sich erstreckender Regen-Urwald
ein Ding der Unmöglichkeit. So konnte denn
die Afrika wahrscheinlich hauptsächlich im Pliozän
zugewanderte artenreiche Huftierwelt sich bis zur
Südspitze des Kontinentes verbreiten und das
Land wurde zu dem an Säugetieren reichsten
der Erde. Der an salzhaltigem Kalk reiche Bo-
den der Steppen mit seinem zumeist sehr üppi-
gem Graswuchs mußte die körperliche Entwick-
lung dieser Tierwelt begünstigen, denn ohne ihn
wäre, wie Passarge') bemerkt, die Extraktion
so enormer Mengen von Kalksalzen zum Aufbau
des Knochengerüstes der Millionen von Großtieren
kaum möglich gewesen. Wir dürfen aber auch
nicht vergessen, daß Südafrika, im Gegensatz zu
den Steppen der Nordhalbkugel, im Winter keine
Niederschläge empfängt, weil es dann im Wir-
kungsbereich des subtropischen Hochdruckgürtels
zu liegen kommt, und somit dem Wild und
Weidevieh ein durch keinerlei Nässe verdorbenes
Futter bietet, vielmehr ein „Heu auf dem Halm",
wie Karl Dove zuerst treffend gesagt hat.
Wir haben jedenfalls in Afrika den typischen
Fall vor uns, daß durch Herstellung einer ein-
stigen engeren Landverbindung mit den Nachbar-
kontinenten im Nordosten die Fauna an Formen-
reichtum zugenommen hat.^)
Ist somit Afrika der Bergeraum für eine Tier-
welt von wesentlich pliozänem Gepräge geworden,
so hat die indomalaiische Fauna am besten den
') Aus dem Ticrleben in der minieren Kalahari. Naturw
Wochenschr. 1905, Nr. 22.
'■') Für Sudamerika das Gegenteil annehmen zu wollen,
wie Kr. Dahl (a. a. O.) tut, ist nicht unbedingt richtig, da
das Aussterben der eigentümlichen südamerikanischen Huftier-
welt und von Riesentieren anderer Art daselbst andere, d. h.
klimatische Ursachen hatte und wohl weniger auf Konkurrenz-
kampf und Bedrohung durch neue zugewanderte Feinde aus der
Raubtierwelt zurückzuführen ist. Vgl. den Aufsatz des Verf.:
,, Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebungcn
und die Tiergeographie". Naturw. Wochenschr. 1922, Nr. 24.
ehemaligen Charakter der europäischen Miozän-
fauna in merkwürdiger Reinheit bewahrt, wenn
auch die Gattungen und Arten naturgemäß andere
geworden sind. Das war aber nach O. AbeP)
nur dadurch möglich, daß sich in diesem Gebiete
die Lebensverhältnisse für die Säugetiere seit der
Miozänzeit nur ganz unbedeutend verändert haben.
In der Tat erinnerte ja auch Europa im Miozän geo-
graphisch stark anlnsulinde. Der miozäne Charakter
der Tierwelt Südasiens ist nach Abel ein Beweis
dafür, daß die hier lebenden Tiere verweich-
lichte Typen sind, die einer durchgreifenden
.Änderung des Klimas und deren Folgen ebenso
zum Opfer fallen würden, wie es mit den mio-
zänen Säugetieren Europas der Fall war. Die
Pikermifauna hat sich unter solchen Umständen
in Afrika bis auf den heutigen Tag in ähnlicher
Weise erhalten, wie es mit der Miozänfauna in
Insulinde der Fall war, nur mit dem Unterschiede,
daß die Gegensätze zwischen der unterpliozänen
Tierwelt Europas und der lebenden Tierwelt der
Massaisteppe noch viel geringer sind als zwischen
der Miozänfauna Europas und der lebenden Fauna
des indomalaiischen Archipels (Abel).
Was den Tapir anlangt, so konnte sich dieser
Vertreter einer veralteten Huftiergruppe in Teilen
von Insulinde ebenso wie in Mittelamerika erhal-
ten, weil ihm in diesen Gegenden moderne
Huftiere, namentlich artiodaktyle und monodaktyle,
nicht zu sehr Konkurrenz machten. In Afrika
würde seine Existenz bei dem ungeheuren Reich-
tum an etwa gleich großen modernen Huftieren
kaum möglich sein.') Vor allem nehmen hier das
Zwergflußpferd und das Okapi hinsichtlich ihres
Aufenthaltsortes und ihrer Lebensweise seine Stelle
ein. Interessant ist aber außer bei den Tapiren
auch die gleiche diskontinuierliche Verbreitung
der unter sich sehr nahe verwandten Entenarten:
Cairiii'i und Asarcoruis, die beide reine Wald-
bewohner sind und nicht übers Meer fliegen. Es
handelt sich in allen diesen Fällen um Relikte
von erdgeschichtlich früh auftretenden Formen."^)
Bezüglich der Säugetiere ist der Formenreich-
tum des indomalaiischen Tiergebietes im all-
gemeinen entschieden etwas geringer als in Afrika
und Südamerika. Der geringere Formenreichtum
hat nach Dahl aber, zum Teil wenigstens, schon
darin seinen Grund, daß die Geländeformen auf
den Sundainseln sehr einförmig sind; fehlen doch
höhere Gebirge und Wüsten auf den Sundainseln
ganz, während sie in Afrika reichlich vorhanden
sind. Sonst sind die Sundainseln, soweit sie noch
ihr ursprüngliches Gesicht zeigen, mit Urwald
oder mit Alang-Alang bedeckt.
In Afrika neigt alles Tierleben mehr zu Steppen-
formen ; der Urwald ist hier mehr als sonst nur
Bergeraum oder Erhaltungsgebiet für primitivere
Formen geworden. Es sei nur an Gorilla und
') Lebensbilder aus der Tierwelt der Vorzeit. Jena 1922,
S. 203/04.
»1 Vgl. Dahl, a. a. O.
') O. Heinroth, Journal f. Ornithologie 1922, S. 241.
N. F. XXI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
693
Schimpansen, an das Okapi, das westafrikanische
Zwergflußpferd, das Merkmale von S//s, Potauio-
chocriis, Eusiis und Babinissa tragende, erst 1904
entdeckte Waldschwein {Hylodioerits inci)icriz-
hagciii TIios.), sowie an Dorcatlicrütm aqtiahcuni,
das Wasserzwergmoschustier, den einzigen Ver-
treter der Traguliden außerhalb Südostasiens, er-
innert, dem eine den indomalaiischen Pracht-
drosseln verwandte Pitta-Art und Halbaffen Ge-
sellschaft leisten und so für eine einst ununter-
brochene Hylaea vom Guineabusen bis Insulinde
sprechen. Aber nicht nur in der Menge der
Antilopen, Giraffen, Büffel, Zebras, der grabenden
Nager, der Zahnarmen tritt uns in Afrika der
Steppen- oder Savannencharakter entgegen, son-
dern hier zeigt sich auch in echt tropischen Ver-
tretern als südasiatischen Reminiszenzen eine ge-
wisse Emanzipation vom Waldleben. So ist der
afrikanische Elefant, obwohl noch mehr „Baum-
fresser" als sein indischer Vetter, doch mehr Tier
der Baumsteppe, und was die Nashörner anlangt,
so unterscheiden sich die afrikanischen in der
Lebensweise in mancher Hinsicht von den indischen.
Es liegt das nach Sokolowsky') an ihrem
Aufenthaltsort in steppenartigen Gegenden, und
zwar sind die asiatischen als Waldtiere als die
ursprünglicheren anzusehen, die sich im allgemei-
nen den Tapiren in ihrem Benehmen anschließen ;
sie besitzen außerdem als Bewohner der Wald-
dickichte einen panzerartig von mächtigen Haut-
decken umhüllten plumperen Körper , der den
Tieren als Widerstand beim Durchbrechen des
Dickichts dient und ihnen das vorweltliche Aus-
sehen verleiht. Die afrikanischen Nashornarten
dagegen besitzen als Steppenbewohner eine wenn
auch dicke, so doch glattere Haut, deren Beschaffen-
') Genossenschaftsleben der Säugetiere. Leipzig 1910,
S. 96/97.
heit ohne weiteres, d. h. nicht erst durch das Vor-
handensein weicher Falten an den Gelenken, wie
es bei den asiatischen Verwandten der Fall ist,
eine ausgiebige Bewegung gestattet. Auch im
Kiefer- und Zahnbau erweisen sich die südasiati-
schen Nashornarten als primitiver. ^)
Betrachtungen wie die vorstehende, auch wenn
sie wie diese nur skizzenhaft oder aphoristisch
sind, dächte ich, zeigten zur Genüge, daß die Bio-
geographie ein notwendiger Bestandteil der Erd-
kunde wie der Biologie ist, der die Wissenschaft
von den Lebewesen überhaupt erst abrundet und
dem allgemeineren Interesse und Verständnis er-
schließt. Sie allein stellt, in ihrer Vollständigkeit
erfaßt, von physiognomischen, ökologischen und
erdgeschichtlichen Gesichtspunkten aus die großen
Zusammenhänge wichtiger allgemeiner Züge her,
deren Fülle, Buntheit und Schönheit einen Haupt-
reiz des naturwissenschaftlichen und erdkundlichen
Studiums ausmacht und mit in allererster Linie
geeignet ist, den Menschen auf einen höheren
Standpunkt der Moral allen Geschöpfen und zuletzt
nicht zum mindesten seinesgleichen gegenüber-
zustellen. Solche Betrachtungen wirken anregend
auf den Natursinn des Menschen und schulen das
kausale biologische Denken, indem sie zum Be-
wußtsein der habituellen Verschiedenheit der eine
Gegend bewohnenden Lebewesen führen und so-
mit einzig und allein auch die wahre Grundlage
für den dringend notwendigen Schutz aller Ver-
treter der Tierwelt abgeben.")
') Vgl. Hilzheimer, a. a. O. S. 611/12.
^) Vgl. zu diesem Aufsatz auch: E.Stromer, Über die
Bedeutung der fossilen Wirbeltiere Afrikas für die Tiergeo-
graphie. Verh. d. deutsch, zool. Ges. 1906, S. 204 ff., Leip-
zig 1906, sowie: Methoden paläogeographischer Forschung,
erläutert an dem Beispiele einstiger Landverbindungen des afrika-
nischen Festlandes. Geogr. Zeitschr. Bd. 26, S. 287 ff., 1920.
[Nachdruck verboten,]
Die Ausbreituug des Menschengeschlechtes.
Von J, Bayer, Wien.
Die Frage, woher der Mensch gekommen ist,
läßt sich naturwissenschaftlich damit beantworten,
daß er zweifellos ein Glied der Säugetierwelt ist
und einen gleichen Entwicklungsgang wie diese
durchgemacht hat. Damit wollen wir uns aber
hier nicht beschäftigen, sondern mit dem Problem
der Ausbreitung des fertigen Genus homo, soweit
sie sich durch reale Unterlagen, also Funde seiner
körperlichen Überreste und manueller Äußerungen,
feststellen läßt.
Unsere erste Fragestellung wird also lauten : In
welchem Gebiete der Erde finden sich die ältesten
Spuren vom Menschen und in welche Zeit fallen sie.
Nach der bisherigen Ansicht wäre die älteste
bekannte Kultur, das Chelleen, fast über die
ganze Erde verbreitet gewesen, denn man hat die
Werkzeuge vom Typus Chelles außer in Europa
auch in Afrika, Asien und Amerika gefunden.
Sonach hätte der älteste bekannte Mensch, der
Neandertaler, schon von dem größten Teile der
Erde Besitz ergriffen und eine Lokalisierung der
Menschwerdung oder wenigstens Kulturentstehung
wäre angesichts dieses ungeheuer ausgedehnten
Verbreitungsgebietes nicht durchzuführen.
Nun habe ich aber im Jahre 1918 zu zeigen
versucht, daß dem tatsächlich nicht so ist, son-
dern daß sich das echte alte Chelleen auf
ein relativ ganz kleines Gebiet der
Erde im äußersten Westen der alten
Welt beschränkt. Ich vertrete seit damals
die Ansicht, daß alle Faustkeilkulturen außer-
halb dieses Gebietes jünger sind und zwar
in dem Maße jünger, als das betreffende
Gebiet von jenem Ausgangspunkte entfernt ist.
Wie das zu verstehen ist, daß dabei die geogra-
phischen Verhältnisse in hohem Maße für die
Ausbreitung ausschlaggebend sind und es sich
nicht um eine reine Mathematik der Entfernung
694
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
handelt, versteht sich von selbst. So ist z. B., da
natürlich in erster Linie Landausbreitung in Be-
tracht kommt, Ostasien früher von diesem Men-
schen betreten worden als Amerika, Nordamerika
früher als Südamerika.
Diese Ansicht habe ich damit begründet, daß
die Funde vom Chelles- Charakter in dem genannten
Gebiete der Erde die geologisch absolut ältesten
sind und sich für die außerhalb dieses Gebietes
gelegenen sowohl geologisch wie typologisch ein
jüngeres Alter erweisen läßt.
Hier nur einige Hinweise: Das Prächelleen
und Chelleen Westeuropas gehört der einzigen
Zwischeneiszeit des Diluviums an, welche fau-
nistisch durch Elephas meridionalis, Rhinoceros
etruscus usw. im älteren, durch Elephas antiquus
und Rhinoceros Merckii im jüngeren Abschnitt
charakterisiert wird.') Nirgends finden sich sonst
so alte Spuren, denn schon das ägyptische „Alt-
paläolithikum" läßt sich höchstens bis in den
älteren Abschnitt der jungquartären Eiszeit (Riß-
und Würmeiszeit Pencks), das syrische nur mehr
in den mittleren oder jüngeren derselben Eiszeit
zurückverlegen und die verwandten amerikanischen
Funde reichen wahrscheinlich nicht viel weiter
als in das Frühalluvium zurück.
Ich habe dieses Pseudo-Altpaläolithikum nach
den von mir bei Askalon untersuchten reichen
und eindeutigen Fundplätzen „Askalonien"
genannt.')
Dieses Askalonien ist, wie aus dem Gesagten
hervorgeht, von größter Wichtigkeit für die Frage
der Ausbreitung der Menschheit, nicht minder
aber auch für die gesamte Kuhurentwicklung.
Es lehrt uns die Dinge nun mit ganz anderen
Augen zu sehen wie bisher, wie ich hier nur
flüchtig der Hauptsache nach andeuten will.
So war es z. B. schon lange aufgefallen , daß
die Geräte des Altpaläolithikums, des Solutreen
und Neolithikums eine gewisse Verwandtschaft
in typologischer und technischer Beziehung zeigen.
Da aber diese Kulturphasen nicht nur zeitlich
weit auseinanderliegen (besonders für den, der
noch an Pencks Darstellung des Eiszeitalters
glaubt), sondern auch durch ganz anders geartete
Kulturen getrennt werden — Aurignacien und
Magdalenien — Azilien — konnte man sich schwer
entschließen, darin mehr als zusammenhangslose
Wiederholungen zu sehen.
Das Askalonien hellt nun die Situation blitz-
artig auf. Es läßt erkennen, daß in gewissen
Gebieten der Erde die altpaläolithische Entwick-
lung ungestört in langsamem Tempo weiterge-
gangen ist. Die ihre europäischen Erscheinungen
trennenden Kulturphasen aber deuten an, daß
wir es im Diluvium nicht allein mit diesem Faust-
*) Nach meiner neuen Einteilung des Eiszeitalters in
zwei Eiszeiten und ein Interglazial, worüber meine Arbeit
„Kritische Gruppierung und Neubenennung der Abschnitte
des Eiszeitalters" im nächsten Mannusheftc Aufschluß gibt.
') Der Kulturvcrlauf im Sleinzeitalter. Zeitschr. f. Eth-
nolog. 1919, S. 171.
keilkulturkreis zu tun haben, sondern daß eine
zweite, bei ihrem Erscheinen von der ersten
unabhängige Rassen- und Kulturgruppe existierte,
deren ursprünglicher Zusammenhang mit der
ersteren , wenn ein solcher überhaupt besteht,
jedenfalls in eine Zeit zurückgeht, wo der Begriff
„Mensch" noch nicht herausgebildet war.
Ich nannte die erste Gruppe nach dem wich-
tigsten Gerät „Faustkeilgruppe", die zweite
nach demselben Gesichtspunkte „Klingen-
gruppe".')
Mit diesen beiden Kulturen haben wir von
nun an zu operieren und wir werden die ganze
altsteinzeitliche Menschheitsgeschichte der Haupt-
sache nach als nichts anderes kennen lernen, als
ein durch die klimatischen Verhältnisse bedingtes
Hin- und Herwogen dieser beiden Rasse- und
Kultursphären und zeitweise Mischungen , auf
welchen der ganze grandiose Aufstieg der Mensch-
heit im Alluvium letzten Endes beruht. -)
Der enge Raum verbietet uns, hier mehr als
eine ganz kurze Skizze zu geben, eine ausführliche
Darstellung ist in Vorbereitung.^)
Um den Verlauf dieses Phänomens zu ver-
stehen, ist es also notwendig, den geologischen
Verlauf, genauer gesagt, klimatologischen Wechsel
während des Diluviums in die Betrachtung ein-
zuschließen, denn nur dieser enthüllt uns die
tieferen Gründe der so gewaltigen Veränderungen
in den Herrschbereichen der beiden Kultur-
gruppen.
Wir werden dabei sehen, daß die Verschie-
bungen der klimatischen Zonen in der Steinzeit
regelmäßig Verschiebungen der Kulturzonen aus-
gelöst haben.
Die ältesten Zeugnisse sicheren Menschentums
liefert die Faustkeilkultur. Nicht, daß sie die
absolut ältere wäre, aber als die Südgruppe war
ihr Schauplatz von den Verheerungen der Eiszeit
verschont und so blieben ihre Spuren erhalten.
Dies ist bekanntlich in Westeuropa der Fall, wo
sie, wie oben erwähnt, bis etwa in die Mitte des
Interglazials zurückreichen.
Inwieweit diese älteste Kultur auch in Nord-
westafrika beheimatet ist, läßt sich mangels ge-
nauerer Erforschung noch nicht sagen.
Jedenfalls hatte diese früheste Menschheits-
schichte eine Verbreitung bis England, gegen
Osten bis an den Rhein und im Süden über
') A. a. O. S. 177; diese Bezeichnung wendet nun er-
freulicherweise auch K. Ulbricht an (s. diese Wochenschr.
Nr. 27, S. 377); leider steht auch er auf dem unrichtigen
Standpunkte der Penckschen Chronologie mit „warmem
Moustericn", w.is u. a. zur Kolge bat, daß seine Schätzuneen
der absoluten Dauer der Kulturstufen viel zu hoch gegriffen
sind.
-) Natürlich fällt mir nicht ein, es für absolut ausge-
schlossen zu halten, daß noch weitere ,,Urkulturgruppen"
existieren.
») Das Buch wird unter dem Titel ,,Der Mensch im Eis-
zeitalter" im Verlage von F. Deuticke, Wien - Leipzig, er-
scheinen.
N. F. XXI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69s
Spanien. Im übrigen Europa ist sie bisher nicht
erwiesen.
Eine weitere Ausbreitung zeigt schon die
nächste Kulturphase, das Acheuleen, indem es
sich bereits bis gegen Osteuropa hin vorschiebt.
Eine ähnliche Verbreitung kommt dem Mousterien
zu, das sich indes keineswegs in einheitlicher Aus-
prägung, sondern vielmehr in stark lokalgefärbter
Entfaltung verfolgen läßt, wenn auch gewisse
Werkzeugformen und der geologisch-päläontolo-
gische Befund die Identifizierung dieses Horizontes
auf weite Strecken hin in unzweifelhaft sicherer
Weise gestatten. Aus der Fauna geht klar her-
vor, daß es einer Eishochstandszeit angehört. Es
ist der erste Vorstoß der jungquartären Eiszeit.
Die Zersetzung des Altpaläolithikums
in Europa.
Erscheint das Chelleen als einheitliche Kultur,
so zeigt das Acheuleen und besonders das Mou-
sterien gewisse fremdartige Züge. Die technische
Tendenz ändert sich zusehends und stellt sich
mehr und mehr auf die (dann im Jungpaläolithi-
kum herrschende) Klingentechnik ein.
Daß diese Entwicklung im Süden, z. B. in
Spanien, später vor sich ging als am Kontinent,
zeigt ebenfalls an, daß wir im Acheuleen und
Mousterien nur Phasen der Mischung der Nord-
und der Südgruppe vor uns haben. Diese Mi-
schung und ihre verschiedene Zeit im Norden
und Süden versteht man sofort, wenn man sich
die Klimaverhältnisse vergegenwärtigt: Während
des Acheuleen verschlechtert sich das Klima, um
im jüngeren Mousterien direkt hocharktisch zu
werden.
Es wurde also die während des Interglazials
in Nord- und Osteuropa lebende faustkeillose
Kultur nach Süden gedrückt und sie vermischte
sich in der Zeit des Anstieges zur Eiszeit, wie ich
das 19 19 darlegte.') Ob hier im Norden ein
Prämousterien oder Präaurignacien vorhanden
war oder beides und zwei Wellen nach Süden
gegangen sind, möchte ich noch dahingestellt
sein lassen, mir kommt es aber wahrscheinlicher
vor, daß der Hauptsache nach nur eine Klingen-
kultur im Spiele ist, denn das Mousterien ist ja
gegenüber Chelleen und Acheuleen keine selb-
ständige Kultur, sondern in allen seinen charak-
teristischen Formen noch ein Glied des Alt-
paläolithikums, wie in bezug auf die (z. T. degene-
rierten) Fäustelformen, den Racloir usw. Erst
was wir dann im Aurignacien vor uns haben, ist
ganz neues Element in reiner Ausprägung, in dem
nur in ganz verschwindendem Maße noch Er-
innerungen an die verdrängte Kultur nachleben
(z. B. Racloirformen im älteren Aurignacien).
Rückblickend ist also über das Altpaläolithi-
kum bezüglich seiner Verbreitung zu sagen, daß
es zuerst in Westeuropa auftritt (Prächelleen) und
sich bis zum Mousterien über den größten Teil
') A. a. O. S. 177.
Europas ausbreitet, hinsichtlich seines Verlaufes,
daß es vom Interglazial bis zur Höhe des ersten
Eisvorstoßes der jungquartären Eiszeit dauert, in
bezug auf seine Entwicklung, daß es seit dem
Acheuleen sichtlich unter dem Einflüsse der nörd-
lichen Kulturgruppe steht, von der aber aus jener
Zeit nichts erhalten ist.^)
Sein ganzer Verlauf wird also von den klima-
tischen Verhältnissen diktiert.
Dort wo die Klingengruppe nicht mehr hin-
zuwirken vermag, in Afrika, scheint aber die
Chelles- Entwicklung normal weitergegangen zu
sein, wenngleich sie sich speziell in Nordafrika
ihren Fernwirkungen nicht ganz zu verschließen
vermochte, wie die Fäustelkulturen Ägyptens,
Syriens usw. mit ihren jungpaläolithischen Be-
gleitformen erkennen lassen.
Diese nachaltpaläolithische Entwicklung außer-
halb Europas haben wir oben als „Askalonien"
kennen gelernt.
Es dauert vom Verschwinden des reinen Alt-
paläolithikums aus Europa bis zum Wieder-
erscheinen seiner Formen im frühen Alluvium,
umfaßt also die ganze jungquartäre Eiszeit. Hier-
her gehören sämtliche diluvialen, bisher für gleich-
altrig mit dem Altpaläolithikum Europas gehal-
tenen Faustkeilkulturen außerhalb Europas.
Somit ist das Askalonien das Mittelglied
zwischen der Makroindustrie des Altpaläolithikums
und frühen Neolithikums, welche beide (ebenso
wie in gewisser Beziehung das Solutreen) einer
und derselben Familie angehören, der Faustkeil-
gruppe.'■)
Das Jungpaläolithikum.
Während sich die reine Chelleskultur beim
Herannahen des Eises allmählich nach Süden ver-
schiebt (Nordwest -Afrika), wohin sie sich schon
während des Interglazials nicht unwesentlich aus-
gedehnt haben dürfte, tritt, offenbar durch den
Moustier- Vorstoß in Bewegung gesetzt, die Klingen-
kultur in der Ausprägung des Aurignacien in
Mittel- und Westeuropa auf den Plan, wo sie
alsbald von Rußland bis zu den Pyrenäen domi-
nierend wird. Ihrer durch die körperliche Be-
schaffenheit ihrer Träger hochgesteckten Entwick-
^) Hier triU die große Differenz in dea .\nschauungcn
zwischen Breuil, O b e rmaier usw. und mir hervor, welche
im Acheuleen und iVIousterien selbständige Kulturen anneh-
men, die alle möglichen Wanderungen durchgemacht hätten
und in verschiedener Fazies aufgetaucht wären (West-, Süd-,
Ost-Acheuleen usw.). Hier also Kulturkreise, bei mir
Randerscheinungen, Kulturzouen.
■-) Die Reihe, Chelleskeil — z. T. Solutreeblattspitzc usw.
— Campignien-Faustkeil , neolithische Lorbeerblattspitze, ist
also als geschlossen anzusehen , ebenso wie andererseits die
von der ältesten Aurignacien-Klinge bis zu den Tardenoisien-
forraen des Vollneolithikums. Die heutigen Endpunkte dieser
Reihen sind Beil und Messer. Gegen diese Interpretation
sprach bisher, wie erwähnt, der lange zeitliche Abstand, wel-
cher zwischen Altpaläolithikum und Neolithikum angenommen
wurde. Nachdem ich nun erweisen konnte, daß es sich nur
um eine Eiszeit handelt, fügt sich alles harmonisch in diesen
Gedankengang.
696
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
lung kommt zugute, daß sich die klimatischen
Verhältnisse in Europa infolge Rückganges der
Vereisung (Aurignac- Schwankung) längere Zeit
beträchtlich besserten. Wir sehen in dieser Zeit
eine hohe Blüte der Stein- und Knochenindustrie
— sicher war auch die Holzindustrie sehr ent-
wickelt — und der Kunst, eine Kultur, die aber
sehr rasch in sich zerfallen wäre, wie später das
Magdalenien, wäre nicht durch eben diese Klima-
besserung eine Nordwärtsbewegung des Faustkeil-
gruppeneinflusses ausgelöst worden, die indes zu
spät einsetzte — nämlich bei bereits sich wieder
verschlechterndem Klima — um sich auf dem
europäischen Kontinent dauernd halten zu können.
Das Resultat dieser kurzen Nordwärtsbewegung
— bei der ich vorläufig die Frage des Weges
offen lasse und ob es Bewegung von Menschen
oder nur von Ideen, Techniken war — ist das
Solutreen.
Das Solutreen — eine Störung des jung-
paläolithischen Entwicklungsganges.
Die Flächenbearbeitung ist eine fremde Tech-
nik in der Klingengruppenentwicklung, welche
bisher mit Steilretusche gearbeitet hat. Nur die
Unterlage, die Klinge ist geblieben. Das Solu-
treen fällt demnach aus dem Rahmen des Jung-
paläolithikums heraus und ist keine normale
Weiterentwicklung des Aurignacien, sondern eine
Mischung südlicher Technik mit nörd-
licher Form.
Sie hält sich — und das ist bezeichnend —
bis knapp zum Maximum des zweiten Vorstoßes
der jungquartären Eiszeit, dann bricht ihre —
aus nun begreiflichen Gründen — unmotiviert
sprunghafte Entwicklung, wie es scheint, plötzlich
ab, und die normale Fortsetzung des Aurignacien,
das Magdalenien, erscheint auf dem Plan.*)
Wäre diese Klimaverschlechterung nicht mehr
eingetreten, so wäre es, wie man mit Sicherheit
annehmen kann, schon vom Solutreen aus zur
neolithischen Entwicklung in Europa gekommen,
so hoch ausgebildet sind bereits in gewissen Ge-
bieten die SolutreFormen, z. B. in Spanien, wo
sie einen direkt neolithischen Eindruck machen.
So blieb es bei einem kurzen Ansätze und es
lebte noch einmal die- alte reine Jägerkultur
(Magdalenien) auf, ^) welche indes ohne Befruch-
tung zum Untergang verurteilt war, weil sie
trotz aller Kunsthöhe zu einseitig auf die Klingen-
technik und auf eine durch die arktische Tierwelt
bedingte Knochenindustrie eingestellt war. Daher
war sie zu Ende, als es mit dieser Tierwelt zu
Ende war.
') In der Übersichtstabelle in: „Spaniens Bedeutung für
die Diluvialchronologie", Mitt. d. Anthrop Ges. Wien LI,
1921, S. 03, habe ich diese Stellung des Solutieen nicht zum
Ausdruck gebracht, da dort nur die Grundformen, Keil und
Klinge, Berücksichtigung fanden.
'') Die Aurignacentwicklung ist in gewissen der Solutre-
entwicklung entrückten Gebieten, besonders nördlich des
SolutrebereicheSi weitergegangen.
Das Capsien als Konsequenz
des Solutrevorstoßes; die Zonen-
bewegungen im Frühalluvium.
Der Rückschlag der Nordgruppe nach Süden
während des letzten Eisvorstoßes war aber so
stark, daß der Einfluß der Klingenkultur bis in
das Mittelmeergebiet vorstieß, wo sich nun eine
Klingenkultur südlicher Fazies, das Capsien, von
Spanien bis Syrien ausbreitete, aus dem sich dann,
wie Breuil zeigte, das Azilieri-Tardenoisien ent-
wickelte.
Es lagern also während des letzten Eisvor-
stoßes 3 große Zonen von Süden nach
Norden: Das Askalonien südlich, des Nord-
randes von Afrika, das Capsien im Mittelmeer-
gebiete und das Magdalenien in Europa selbst.
Daß dem so ist, lehrt auch eine Betrachtung
der kulturellen Erscheinungen der Eisrückgangs-
zeit (Postglazialzeit). Alle 3 Zonen setzen sich
nach Norden in Bewegung und es läßt sich stra-
tigraphisch belegen, daß auf die Magdalenienleute
die Azilien- und zum Schlüsse die Campignien-
menschen gefolgt sind , letztere als Überbringer
der wichtigen Makrolithik des Askalonien.
Aus den Mischungen dieser drei Kulturzonen
entstand dann das Neolithikum, später immer
wieder durch neue Wellen aus Afrika beeinflußt.
So versteht man auch, warum das Bild der neo-
lithischen Entwicklung so unendlich mannig-
faltig ist.
Wirft man einen Blick auf das Ganze, so sieht
man, daß nicht, wie bei Obermaier, eine ver-
wirrende Menge von Kulturen vielfach unmoti-
vierte Züge in alle möglichen Weltrichtungen
machen, sondern daß es sich nur um Bewegungen
zweier Hauptgruppen handelt, deren nördliche
anscheinend die geistig höhere war, während die
entwicklungsfähigere Kulturbasis die südliche be-
saß. Aus ihrer endlichen Verschmelzung im
Frühalluvium entstanden — nachdem wie erwähnt
ein Versuch in der Aurignacschwankung durch
nochmalige Klimaverschlechterung vereitelt wor-
den war — nach einer noch Jahrtausende wäh-
renden Entwicklung die Hochkulturen der Welt-
geschichte.
Über die ursprüngliche Herkunft der beiden
Gruppen wäre zu sagen, daß die Südgruppe an-
scheinend aus Zentralafrika stammt, wo noch
heute die nach Klaatsch dem Neandertaler nahe-
stehenden Westanthropoiden (Gorilla und Schim-
panse) leben, während die Nordgruppe im Laufe
des älteren und mittleren Diluviums aus Ostasien
herübergewandert sein mag, wo derselbe Autor
im Gibbon und verwandten Affen der Aurignac-
rasse nahestehende Anthropoiden sehen will.
Diesen P>agen läßt sich aber m. E. ernstlich erst
näher treten, wenn wir die fremden Erdteile ein-
mal annähernd so genau kennen wie Europa, und
es braucht wohl nicht betont zu werden, daß es
sich bei alledem heute vorerst nur um eine grob-
umrissene Skizze handeln kann, bei der es zu-
N. F. XXI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
697
nächst auch viel weniger auf die Genauigkeit als
auf die dem ganzen Problem zugrunde liegende
Idee ankommt:
Zwei Kreise nähern sich Europa von weit-
entfernten Gebieten der alten Welt (altquartäre
Eiszeit), lagern daselbst eine Zeitlang einander
gegenüber (Interglazial) und kommen schließlich
durch die klimatische Veränderung im Jungquartär
in engere Berührung, wobei sich die nördliche
etwas verschmälert und verlängert haben dürfte,
während sich die südliche rasch nach den freien
Seiten hin ausbreitete. Im Rhythmus der klima-
tischen Erscheinungen wogen diese Zonen eine
Zeitlang hin und her fjungquartäre Eiszeit), um
sich endlich in der frühen Nacheiszeit auf euro-
päischem Boden zu überlagern und zu vermischen.
Darin liegt die überragende Bedeutung Euro-
pas für die Geschichte der Menschheit.
Einzelberichte.
Zur Hodenatrophie.
Verschiedentlich schon wurden die männlichen
Keimdrüsen auf ihren atrophischen Zustand hin
untersucht. Es sei hier neben den bekannten
Arbeiten von Kyrie, Steinach, Tandler
und Groß, Tiedje u. a., die vor allem auf das
Verhältnis der interstitiellen zu den generativen
Zellen Wert legen , an die Untersuchungen von
Leupold erinnert, über deren Ergebnisse ich in
Nr. 28 der Naturw. Wochenschr. 1921 berichtete.
In einer sehr beachtlichen Abhandlung liefert
nun K. Goette einen „Beitrag zur Atrophie des
menschlichen Hodens".*) Leupold stellte eine
Abhängigkeit der Hodengewichte von der Körper-
größe fest, Goette hat nun auch eine Beziehung
zum Lebensalter, zur Krankheitsdauer (in seiner
Arbeit handelt es sich nur um Schädigungen die-
ser Art) und zum Ernährungszustand beobachtet.
Aus seinen Angaben, die sich auf eine histologi-
sche Untersuchung von 140 Hoden aus der Frei-
burger Kriegssammlung und auf Wägungen bei
350 weiteren F'ällen gründen, geht hervor, daß
entsprechend der Dauer der Erkrankung die
Atrophie des Hodens zunimmt und die Gewichts-
zahlen sinken. Diese Veränderungen sind vor
allem bei schlechtem Ernährungszustand zu be-
obachten, sonst sind die Differenzen nicht so auf-
fallend. Das Durchschnittsgewicht des Hodens
steht wohl mit dem Lebensalter in Zusammen-
hang (höchste Gewichtszahlen im dritten Jahrzehnt,
dann keine wesentliche Änderung); der Grad der
Atrophie ist dagegen vom Lebensalter unabhängig.
Während Leupold in Übereinstimmung mit den
oben erwähnten Autoren bei seinen Untersuchun-
gen von der Voraussetzung ausging, daß das Ver-
hältnis der Zwischenzellen zu den generativen
Zellen das Wichtigste sei, mißt Goette dem
mehr oder weniger zahlreichen Vorkommen der
Zwischenzellen nicht diese entscheidende Bedeu-
tung bei. Wohl konnte er in dieser Beziehung
Veränderungen am atrophischen Hoden beobach-
ten. So fand er bei einer „Atrophie ersten
Grades" (Verschwinden der Spermien und Sper-
matiden) die Zwischenzellen , die durch großen
Kern und reichliches Protoplasma an die Stei-
nachschen F-Zellen erinnerten, „oft etwas ver-
mehrt". Bei einer „Atrophie zweiten Grades"
(Verschwinden der Spermiozyten) ist die IMasse
der Zwischenzellen weiter vergrößert. Im „dritten
Stadium der Atrophie" kann „das Zwischengewebe
schließlich mehr Raum einnehmen als die Kanäl-
chen". Trotzdem hält Goette diese Vermehrung
des Zwischengewebes für keine absolute, da dem
Verschwinden des Hodenepithels eine Abnahme
des Hodengewichtes entspricht. Er führt viel-
mehr die relative Vermehrung des Interstitiums
auf eine Verschiebung zurück, die durch die
Schrumpfung der Hodenkanälchen verursacht wird.
Goette meint, die Hodenatrophie sei durch eine
primäre Schädigung des Samenepithels bedingt.
Gustav Zeuner.
Eiu uener Verjüngungsversuch.
Über einen neuen Verjüngungsversuch berichtet
A. Gregory in einer vorläufigen Mitteilung im
„Zentralblatt für Chirurgie". *) Es handelt sich
um eine Altersbekämpfung durch Hodentrans-
plantation. Neuartig und von größter praktischer
Bedeutung ist die Herkunft des Transplantates in
diesem Fall. Der Hoden wurde nämlich einem
an Lungentuberkulose gestorbenen 20jährigen
Manne 5 — 10 Minuten nach dem Tode entnommen
und auf den Senilen übertragen. Der Patient ist
68 Jahre alt, war seit 4 — 5 Jahren arbeitsunfähig,
ermüdete leicht, hatte Atembeschwerden und litt
an Gedächtnisschwäche. Seit 7 Jahren war keine
Erektion, seit 10 Jahren kein Koitus erfolgt. Nach
der Operation fühlte er sich immer frischer und
rüstiger, sein Gang wurde leichter, seine Be-
wegungen rascher. Die Atemnot verging. Der
Patient ermüdet nicht so leicht, fühlt sich kräftig
und lebensfroh und ist „wie umgewandelt". Drei
Wochen nach der Operation erfolgte die erste
Erektion, seither häufig und kräftig. Der Ge-
schlechtstrieb ist normal, „wie vor 20 — 30 Jahren".
Der Versuch wurde Mitte April 1922 ausgeführt,
von einem Nachlassen des Erfolges ist bisher
') Veröffentlichungen aus der Kriegs- und Konstitutions-
pathologie. 2. Bd., Heft 5, 1922, Gustav Fischer.
') A. Gregory, Ein Verjüngungsversuch mit Trans-
plantation von Hoden, die einer Leiche entnommen wurden.
Zentralblatt für Chirurgie. 49. Jahrg., Nr. 36, 1922.
698
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keine Rede. Über die weitere Wirksamkeit des
Transplantates läßt sich natürlich jetzt noch nichts
sagen. Der Transplantationsversuch von Gre-
gory zeigt, daß auch von Leichen entnommene
Hoden „verjüngend" wirken. Sollte das Trans-
plantat dauerhaft sein, so wäre für die Praxis der
Altersbekämpfung ein großer Erfolg errungen.
Gregory schneidet mit Recht die Frage an, ob
sich Hoden von an Lungentuberkulose leidenden
Menschen besonders eignen, da bekanntlich deren
Keimdrüsen inkretorisch besonders wirksam zu
sein scheinen. Ob die Möglichkeit suggestiver
Einflüsse in Gregorys Fall ausgeschaltet oder
verringert worden ist, geht aus der Mitteilung
leider nicht hervor, doch ist meiner Meinung nach
ein so auffallender Erfolg derartigen Einflüssen
auf keinen Fall allein zuzuschreiben, zumal die
Suggestionstherapie niemals Erfolge zeitigte.
Gustav Zeuner.
Über die Mykor)iizaiiii/e der Nadelhölzer.
Obwohl schon seit langer Zeit bekannt ist,
daß unsere Waldbäume fast ausnahmslos in Sym-
biose mit Pilzen leben, so ist es bisher doch noch
in keinem Falle geglückt, die in Frage kommende
Pilzart mit Sicherheit festzustellen. Vermutungs-
weise wurde zwar schon ein Zusammenhang
zwischen Elaphomyces und Kiefer, zwischen den
Gattungen Cortinarius, Russula, Tricholoma und
Tuber und der Eiche angenommen, aber diesen
Mutmaßungen haftet die Unsicherheit an, daß sie
sich bloß darauf gründen, daß sich das Pilzmyzel bis
in den Hyphenfilz der Mykorhizen verfolgen läßt.
Besonders auffällig ist freilich das oft sehr kon-
stante Zusammenauftreten von Boletusarten und
gewissen Hölzern. Schon Woronin hat Boletus
edulis (Steinpilz) und B. scaber (Birkenpilz) als
Mykorhizenbildner angesprochen. Pennington
weist auf die Beziehungen zwischen B. speciosus
und Quercus, Mc. Dougal auf diejenigen zwi-
schen B. scaber fuscus und Betula papyrifera hin.
B. Boudieri lebt nach Ouelet fast ausschließlich
unter Pinus halepensis, B. pictilis nur unter Pinus
strobus. Den prägnantesten Fall stellt wohl, wie
Rom eil kürzlich (Svensk. Bot. Tidskr. 1921) aus-
führte, Boletus elegans dar, der immer nur im
Verband mit der Lärche -erscheint und sie überall
dorthin begleitet, wo sie künstlich eingeführt wird.
Ahnlich verhält sich B. luteus zu Pinus silvestris
und Pinus montana. Dieser Pilz bildet Hexen-
ringe um die Bäume, aber nur soweit, als das
Wurzelsystem reicht, und soweit auch nur tritt er
aus dem Walde heraus. In einem Fall, wo eine
Pilzgruppe 10 m außerhalb des Waldes beobach-
tet wurde, konnte durch Nachgraben festgestellt
werden, daß eine Kieferwurzel bis hierher strich.
Um in solchen Fällen festzustellen, daß es sich
tatsächlich um den gesuchten Mykorhizapilz Iian-
delt, sind zwei Wege möglich ; erstens man iso-
liert Hyphen aus der Mykorhiza und sucht sie
zur Fruchtkörperbildung zu bringen oder aber
man geht von bekannten Pilzen aus und versucht
mit ihnen, Wurzelinfektion hervorzurufen. Den
ersten Weg beschritt M e 1 i n (Svensk. Bot. Tidskr.
192 1) für den Mykorhizapilz der Kiefer und der
Tanne. Es gelang ihm, aus den Wurzeln der
Kiefer drei und aus denen der Tanne einen Pilz
rein zu züchten und mit ihnen wiederum pilzfrei
gezogene Pflanzen zu infizieren, worauf die typi-
schen Erscheinungen der Mykorhiza zutage traten.
Leider blieb eine Fruchtkörperbildung aus, doch
ergaben sich Anhaltspunkte dafür, daß es sich um
Hutpilze handelte. Interessant ist die Beobachtung,
daß diese Pilze Nucleinsäuren als Stickstoffquelle
schätzen. Da solche im Humus nachgewiesen
sind, so könnte in ihrer Aufschließung die Be-
deutung der Symbiose liegen. Dagegen war der
zweite Weg von Erfolg gekrönt (Melin, Svensk.
Bot. Tidskr. 1922), denn hier glückte der Nach-
weis, daß Boletus elegans wirklich der Mykorhiza-
pilz der Lärche ist; steril aufgezogene Lärchen-
pflänzchen wurden mit steril isoliertem Hyphen-
gewebe von Boletus elegans geimpft, und binnen
kurzer Frist lieferten die Wurzeln die charakte-
ristischen Mykorhizabilder : die Wurzelenden sind
von einem dicken Hyphenfilz umschlungen und
im Innern der Wurzeln machen sich die Pilzfäden
sowohl im eigentlichen Zelllumen als auch in
dem Interzellularräumen breit; es resultiert also
die charakteristische Kombination von ektotropher
und endotropher Verpilzung. Versuche, mit Bole-
tus edulis Wurzeln von Kiefern oder Tannen zu
infizieren, schlugen fehl, es handelt sich also offen-
bar um eine ganz ausgeprägte Spezialisierung.
Dagegen glückte die Kombination von Larix und
zweier jener Pilzstämme, die aus Kiefernwurzeln
gezogen waren, während der Tannenpilz zu para-
sitischer Lebensweise überging, also offenbar zu
stark virulent ist. Mutmaßlich liegen hier ganz
ähnliche Verhältnisse vor, wie bei den Rostpilzen,
bei denen man Formen mit starker und solche
mit geringer Spezialisierung feststellen kann. Da-
rüber werden ja, nachdem einmal eine feste Ope-
rationsbasis geschaffen ist, die nächsten Jahre
Aufschluß geben. Es wird sich dann auch zeigen,
inwieweit andere Arten und Gattungen der Hut-
pilze an der Mykorhizabildung beteiligt sind.
P. Stark.
Die Keiudarstelliiiii,' des Ozons.
Obwohl das Ozon seit beinahe einem Jahr-
hundert bekannt und obwohl es in theoretischer und
praktischer Beziehung von gleich großer Wichtig-
keit ist, ist seine Rein darstellung bisher nicht ge-
lungen. Obschon diese Tatsache verständlich ist,
wenn man sich der Schwierigkeiten seiner Dar-
stellung in hoher Konzentration ^) und seiner da-
mit wachsenden Instabilität erinnert, befremdet
') Vgl. z. B. das in Naturw. Wochenschr. N. V. XX,
S. 528 besprochene Rudi von M. Möller, Das Ozon.
(Braunschweig 1921.)
N. F. XXI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
699
es doch, daß sich chemische Experimentierkunst
der vorliegenden Aufgabe noch nicht eingehender
gewidmet hat. Seit seiner Entdeckung nämlich
vermutete man im Ozon nicht nur den Stoff der
Formel O3, sondern glaubte aus den verschieden-
sten Gründen daneben noch andere Modifikationen
des elementaren Sauerstoffs annehmen zu sollen;
so früher das Antozon (jetzt als Hydroperoxyd
erkannt), neuerdings (Harries) die Oxozone.
Einen Entscheid über die wahre Beschaffenheit
des Ozons kann man aber offenbar erst dann
fällen, wenn man diesen Stoff sicher rein dar-
gestellt hat.
Die Reindarstellung des Ozons ist E. Riese n-
feld und G. Schwab^) gelungen. Ausgehend
von der Tatsache, daß das reine Ozon sehr ex-
plosiv ist, nahmen sie die Bereitung in kleinem
Maßstabe vor und benutzten zur Bestimmung der
physikalischen Konstanten die Methoden der Mikro-
analyse. Elektrolytisch gewonnener Sauerstoff
wurde auf das sorgfältigste von Wasserstoff be-
freit und, getrocknet, der Einwirkung eines etwa
8000 Volt gespannten 500frequentigen Wechsel-
stroms unterworfen. Es entsteht ein Sauerstoff-
Ozongemisch von etwa 10—15%. Dieses Ge-
misch wurde durch Kühlung in flüssiger Luft
kondensiert und hierauf der gleichzeitigen Wir-
kung einer Wasserstrahl-, einer Volmer- und
einer Quecksilberdampfstrahlpumpe unterworfen.
Hierbei verdampft der überschüssige Sauerstoff.
Die Forscher erhielten so zunächst eine tiefveil-
gefärbte Flüssigkeit, die eine Lösung von Sauer-
stoff in Ozon ist; hiernach trat eine lichtblaue
Flüssigkeit (Lösung von Ozon in Sauerstoff) auf.
Durch mehrfaches Kondensieren und Abdampfen
des Sauerstoffs gelangte man endlich zu einigen
sehr stark veilgefärbten Tröpfchen, von denen
jeweils 2 — 4 Milligramm in kleine Kapillarkugeln
abgezapft und der Analyse unterworfen wurden.
Die Mikroanalyse der kleinen Mengen Sub-
stanz ergab nun ein Verhältnis von aktivem zu
inaktivem Sauerstoff wie 1:2, d. h. das Molekül
bestand aus O3 -[- O, war also O3, also reines
Ozon. Diese Bestimmung ist mit einem Maxi-
malfehler von 10 % ausgeführt worden und hat,
laut Beleganalysen, recht genaue Werte ergeben.
Es geht daraus zunächst mit Sicherheit hervor,
daß das bei der elektrischen Aktivierung des
Sauerstoffs entstehende Gas Ozon und nichts
anderes sonst ist, andernfalls hätte es sich nicht
auf die beschriebene sehr einfache Weise vom
Sauerstoff trennen lassen. Eine weitere Stütze
für die Reinheit des Ozons war seine Dampf-
dichtebestimmung.
An dem so gewonnenen reinen Ozon ließen
sich nun Beobachtungen machen, die als für das
Ozon kennzeichnend genannt werden müssen.
Auffallend ist zunächst die große Farbintensität
des Stoffes. Der Faden einer hellbrennenden
Glühlampe war durch ein plattgedrücktes Röhr-
') Ber. d. D. ehem. Gesellsch. 55, S. 208S. 1922.
chen mit flüssigem Ozon von nur 0,2 mm Durch-
messer nicht zusehen! In einem Kühlgefäßchen
mit flüssigem Wasserstoff erstarrte das Ozon zu
dunkelveil gefärbten Kristallen. Bei — 112,3"
siedet Ozon. Das alsdann entstehende gasförmige
Ozon ist von allen anderen Gasen durch seine
intensiv blaue F"arbe unterschieden, eine Er-
scheinung, die auf starke Elektronenlockerung
schließen läßt, was andererseits mit der Explosi-
vität des Stoffes in Zusammenhang steht. Dennoch
ist die Unbeständigkeit des reinen Ozons nicht
gar so groß wie man bisher annahm. Während
Warburg durch Rechnung gefunden zu haben
glaubte, daß reines Ozon bei 16" innerhalb
167 Stunden auf die Hälfte zerfallen müsse, ge-
lang es Riesenfeld und Schwab, unter Aus-
schluß auch geringster Mengen katalysierender
Stoffe Präparate zu gewinnen, die erst nach
Wochen zerfallen waren.
Für die sogenannten Oxozone fand sich
nicht der geringste Anhalt. Aus dem Vergleich
der kritischen Daten von Sauerstoff und Ozon
ergibt sich, daß etwa vorhandenes Oxozon bei
der Analyse sich entschieden bemerkbar machen
würde. Dies ist jedoch nicht der Fall.')
Die Arbeit ist ein erstes wohlgelungenes Bei-
spiel dafür, daß die Untersuchung hochexplosiver
Stoffe durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt,
wenn man sie in kleinen Mengen handhabt und
zu ihrer Untersuchung Mikromethoden anwendet,
die in ihrem Ausmaß ungefährlich bleiben.
H. Heller.
Körperkultur.
Über Körperkultur hielt Prof. Rudolf Martin
einen bemerkenswerten Vortrag im Auditorium
Maximum der Universität München, der nun bei
Gustav Fischer in Druck erschienen ist.') Einleitend
zeigte Martin den Gegensatz auf, der zwischen
dem griechischen Erziehungsideal und dem unserer
eigenen Kultur besteht, die auf höchste Entfal-
tung des geistigen Wesens hinstrebt. Die starke
und einseitige Betonung des Geistigen erklärt M.
nur dadurch, daß eine Grundtatsache der Physio-
logie in Vergessenheit geriet oder wenigstens in
den Hintergrund trat, nämlich die Tatsache, daß
eine enge Wechselbeziehung zwischen psychischen
Funktionen und körperlicher Leistungsfähigkeit
besteht. Deshalb gilt es, einen Ausgleich zwischen
geistiger und körperlicher Kultur zu finden und
natürlichen Lebensbedingungen und Lebensformen
wieder näher zu kommen, ohne das aufzugeben,
was mühsam erworben wurde. Die Körper-
übungen haben nicht nur die Wirkung, Masse
und Leistungsfähigkeit unserer Skeletmuskeln zu
vermehren, sondern sie tragen auch bei zur Re-
') Demgemäß sind alle MiUeiluDgen über das Auftreten
von ,,Oxozoniden'' zu bewerten; u. a. in einer Arbeit von
Kuzicka (Helv. Chim. Acta V, 3. 1922).
-) Dr. Rudolf Martin, „Körperkultur". Eine akade-
mische Rede. 40 Seiten. Jena 1922, Gustav Fischer.
700
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
gulierung des Stoffwechsels und der Wärmebildung,
sie beeinflussen das Herz, die Lungen und die
nervösen Zentralorgane, was gewöhnlich voll-
ständig übersehen wird. Man verkennt ferner
vielfach die Wirkungen der Leibesübungen auf
die Ausbildung der Sinnesorgane, auf unsere
Psyche, auf die geistige Frische und Leistungs-
fähigkeit, auf die Stärkung des Willens, die
Hebung der Entschlußkraft und damit die Ent-
wicklung des persönlichen Mutes. Der Nachweis
ist erbracht, daß durch regelmäßige Körper-
übungen die Wachstumsperiode verlängert wird
und daß im Zusammenhang damit neue Entwick-
lungsmöglichkeiten gegeben sind, die — wenn auch
idioplasmatisch vorhanden — ohne Körperübungen
latent bleiben. Die Organe unseres Körpers sind
imstande, sich höherer funktioneller Inanspruch-
nahme anzupassen, d. h. zu wachsen, sich zu ent-
wickeln und ihre Leistung zu vermehren, aller-
dings innerhalb der durch die Erbanlagen ge-
gebenen Grenzen. Das Erbbild des Menschen,
der Idiotypus, kommt jedoch nicht rein zur Aus-
prägung, weil der Körper durch peristatische
Momente, sogenannte Umwelteinflüsse, verändert
wird. Die so veränderte Erbform ist das Er-
scheinungsbild oder der Phänotypus. Vererbt ist
aber auch die Reaktionsnorm auf äußere Ein-
flüsse und damit bis zu einem Grade die mög-
liche Größe der Paravariationen, d. h. der nicht
erblichen Merkmale. Dies gilt auch für den Ein-
fluß körperlicher Übungen auf den Phänotypus
des einzelnen Menschen. Wir können niemals
mehr erreichen, als durch die vererbte Anlage
gegeben ist, aber wo körperliche Minderwertigkeit
nicht angeboren ist, da kann die Leistungsfähig-
keit gehoben, der Körper entwickelt, abgehärtet
und widerstandsfähig gemacht werden.
Es gilt, die bestmögliche Körperbeschaffenheit
möglichst vieler Glieder des Volksganzen zu er-
streben, und zwar durch Ertüchtigung der
Schwachen. Damit wird die körperliche Er-
ziehung auch zu einem volkswirtschaftlichen
Faktor ersten Ranges, es wird damit qualitative
Bevölkerungspolitik getrieben. Würden wir zu-
lassen, daß in unserem Volk die körperlichen
Kräfte zu schwinden beginnen, dann wäre es
außerstande, im wirtschaftlichen Daseinskampf zu
bestehen und es würde so langsam dem Untergang
entgegengehen.
Martin legt auch dar, was in den verschie-
denen Staaten des Auslandes bisher zur körper-
lichen Ertüchtigung der Bevölkerung getan wurde
und er zeigt, was wir in Deutschland in dieser
Hinsicht aufzuweisen haben. Reich und Länder
müssen mehr als bisher die körperliche Erziehung
der Jugend fördern, diesen wichtigen Teil öffent-
licher vorbeugender Gesundheitspflege.
H. Fehlinger.
Torimoore und deren Ausnützung.
Im Mai 1920 veranstaltete der Verband tech-
nischer Vereine Württembergs in Stuttgart die erste
württembergische Technikerwoche, auf der u. a.
Prof. Dr. A. S a u e r über „Geologisches Vorkommen
und Bildungsweise der Torfmoore Württembergs"
sprach, anschließend Oberbaurat E. Ganz über
„Die Ausnützung der Torfmoore", Dr. P. Schick-
ler über „Die Verwertung des Torfes". Der In-
halt dieser Vorträge wurde dann in Tageszeitungen
und Buchform veröffentlicht,^) sie ergänzen sich
gegenseitig vortrefflich und geben, abgesehen von
württembergischen Belangen, einen guten Über-
blick über den gegenwärtigen Stand dieses für
Naturwissenschaft und Volkswirtschaft gleich wich-
tigen Gebiets; wir entnehmen den anregenden
Ausführungen das Nachstehende:
Unter den Kohlengesteinen, Stein-, Braunkohle
und Torf, gehört der letztere zu den Humus-
st offen, als besonders mächtige Ansammlung
derselben. Nach dem geologischen Vorkommen
unterscheidet man Grünlands-, Flach- oder
Niedermoore (Riede), sodann Moos- oder
Hochmoore und dazwischen Übergangs-
oder Zwischen moore. Die ersteren entstehen
in alten Flußläufen, Weihern, Seen, mit nährstoff-
reichem hartem Wasser bedeckten Niederungen,
aus vermodernden Wasserpflanzen — sauren Grä-
sern, Schilf, Rohr, Binsen u. dgl. — mit ebenen
Oberflächen; sie enthalten vielfach mineralische
Zwischenschichten, die den Brennwert des Torfs
herabsetzen. Auf solchem Grünland können sich
mit den Übergängen der Zwischenmoore in
Gegenden mit starken Niederschlägen Moose —
hauptsächhch Sphagnum — ansiedeln, hiernach
Wollgras, Heidel-, Preiselbeere, Rosmarin, Heide
usw.; auf der absterbenden, vermodernden Pflanzen-
decke wuchert die Vegetation namentlich in deren
Mitte dicht, wächst so über die Umgebung hinaus
und wölbt sich oft mehrere Meter nach oben zum
Hochmoor. Derartige Bildungen finden sich aber
auch auf plateauartigen nährstoffarmen, schwer
durchlässigen Hochflächen mit reichen Nieder-
schlägen und niederer mittlerer Jahrestemperatur;
ihr Wasserreichtum tritt randlich und in „Kolken"
inmitten der Moosdecke hervor. Ein Hochmoor-
profil aus Holstein ergab unter der Oberfläche
57"/^ Kohlenstoff, in 2 m Tiefe 62 "/u, in 4 m
Tiefe 64 "l„, was den nach der Tiefe fortschreitenden
Verkohlungsvorgang zahlenmäßig belegt. — Im
Niedermoor besteht die unterste charakteristische
Schicht meist aus Seekreide (Seekalk, • schlick,
Wiesenkalk, Moormergel), wohl hauptsächlich aus
Armleuchtergewächsen abgeschieden. Darüber
folgt brauner Faulschlamm, anscheinend vor-
wiegend aus abgestorbenen Wassertierchen, Ol-
algen und ähnlichem feinem Material zusammen-
gesetzt, das bei trockener Destillation nicht weniger
als 30 "0 ( »Iteer liefert. Unter weiter wachsender
pflanzlicher Vegetation von Chara, Laichkant, See-
rose bilden sich schwimmende Rasen, „Schwing-
') Sauer, Ganz und Schickler, Die Ausnutzung der
Torfmoore, Stuttgart 1920, Verlag K. Wittwer. — Vgl. auch
H. Puchner, Der Torf, Enkes Bibl. f. Chemie und Tech-
nik, 1, Stuttgart 1920.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
701
rasen", an den Ufern „Verlandungspolster"
von Schilfrohr, Hahnenfuß, bis die von außen
nach innen fortschreitende Verlandung beendet
ist und sich die ebene, dem ehemaligen Wasser-
spiegel entsprechende Oberfläche mit Riedgräsern
bedeckt. Bisweilen schließt das Niedermoor mit
einem Erlenbruch oder etwas ähnlichem ab. Bei
rationeller Entwässerung liefern Riede in Fluß-
auen an der Oberfläche einen schwarzen süßen
Humus, der für Wiesen- und Gemüsekulturen un-
gemein günstig ist.
In feuchtem Waldboden, wo die Verwesung
gehemmt ist, entwickelt sich unter der oberfläch-
lichen Waldstreuschicht dicht gelagerter Roh-
humus, Trockentorf, besonders im Buchen-,
Eichen-, Birken- und Nadelwald sowie Erlenbruch,
unter Erika, Preisel-, Heidelbeere, Farnkraut, Seggen,
Azaleen u. dgl. Dieser Humus reagiert bald al-
kalisch — süßer Humus — , bald sauer; ersterer
entsteht auf nährstoffreichem bzw. kalkhaltigem,
der saure Rohhumus auf nährstofiarmem bzw.
kalkfreiem Untergrund.
Bei Torfgewinnung sind alle Anlagen, be-
sonders die Entwässerung, auf einen vollständigen
Abbau des Torfprofiles einzustellen, jedes andere
Verfahren ist mehr oder weniger Raubbau. Beim
Doppelmoor z. B., wo sich ein Hoch- auf einem
Niedermoor ausbreitet, würde man zunächst in
ersterem konservierenden Streutorf und Torfmull
aus dem leichten Moor- und P^asertorf gewinnen,
welche große Mengen Flüssigkeit und Gas (z. B.
Ammoniakgas) aufsaugen können. Fasertorf wird
ferner zur Herstellung von Papier, Pappe, Ge-
spinsten, Verbandstoff usw. verwendet, als Ersatz
für Holz, Kork, Filz u. dgl., als Baustoff, Isolier-
und Schalldämpfungsmittel. Sodann sollte man
bei maschineller Verarbeitung Hoch-, Übergang-
und Niedermoorschicht möglichst gut durch-
mischen, um ein stofflich gleichartiges Material
zu gewinnen, wobei die Faulschlammschicht wegen
ihres erheblichen Ölgehalts bei der Durchmischung
besonders aufmerksam zu behandeln ist. Die lie-
gende Seekreide sollte nicht ausgeräumt werden,
sondern bildet bei zweckmäßiger Entwässerung,
vielleicht mit etwas oberstem Torfabfall gemischt,
die Oberfläche auf dem abgebauten Lager für er-
tragreiche Wiesenkultur. Ein Nachwachsen ab-
gebauter Moormasse findet, wenn überhaupt unter
günstigen Bedingungen, in lOOO Jahren nur um
etwa I m statt. Mehr als hundertjähriger Abbau hat
schon viele Torfmoore ausgebeutet, deren Flächen
teils öde liegen, teils land- oder forstwirtschaftlich
benützt werden; von den schätzungsweise etwa
4.2 Mill. ha Mooroberfläche Deutschlands befinden
sich aber noch etwa 3,5 Mill. ha im Urzustände.
Je nach Bildungsweise, Lagerung und Alter
der Moorschichten, nach chemischer Zusammen-
setzung, Asche-, Wassergehalt und Gewinnungs-
weise des Torfes ist dessen Brennwert außer-
ordentlich verschieden. Er enthält durchschnitt-
lich 58—60% Kohlenstoff, 1,7 "/o verfügbaren und
4.3 •/„ nicht disponiblen Wasserstoff, sowie etwa
34 — Sö^/y Sauerstoff. Im Lager hat er 90— 95 "/q
Wassergehalt, der durch gute Entwässerung des
Moors auf 80 — 85 % herabgesetzt werden kann.
Gewonnener Torf wird auf einen Trockenplatz
gebracht und der Luft ausgesetzt, dann in Haufen
aufgesetzt, eingelagert, und soll schließlich bei
Handgewinnung — „Handstichtorf" — nicht mehr
als 20 — 25 % Feuchtigkeit haben, bei Maschinen-
gewinnung— „Maschinentorf" — 25 — 30%, und
höchstens 10 — 11 % Asche. Über etwa 25 — 30 "/j,
Asche machen den Torf als Brennstoff unverwend-
bar, gute Brennstoffe haben unter 5 %. Der Heiz-
wert von bestem deutschem Reintorf mit 15 — 18%
Wasser ist etwa 5 200 Kalorien, bei Trockentorf
5100 Kai., bei 20"/,, Feuchtigkeitsgehalt etwa
4000 Ka!., bei mittleren und schlechten Torfen
3500—1500 Kai. Da Braunkohle 2500 — 6000 Kai.
und Steinkohle 5500 — 8000 Kai. Heizwert besitzt,
ist Torf von diesen 3 Brennstoffen der mindest-
wertige; er besitzt um so weniger Heizwert, je
nasser er ist, da durch die Verdampfung seines
Wassers ein großer Teil Wärme verloren geht.
Entwässerung der Torflager ist also wirtschaftlich
Vorbedingung für die Torfgewinnung, aber auch
für spätere land- und forstwirtschaftliche Benützung
der Abbaufläche. Zurücklassen von Wasserflächen,
Sümpfen oder Ödungen nach Ausbeute der Moore
ist Raubbau schlimmster Art.
Ein großer Vorzug des Torfes liegt darin, daß
er mit langer, fast rußfreier Flamme ohne wesent-
liche Rauchentwicklung verbrennt und bei meist
sehr geringem Schwefelgehalt kein Anfressen der
Ofen und Apparate durch schweflige Säure be-
fürchten läßt. Er ist deshalb ein schätzens-
werter Behelfsbrennstoff für Hausbrand —
am besten in rostlosen Kachelöfen — , für Dampf-
kesselfeuerungen, Sud- und Braupfannen, in Glas-
hütten, Tonwarenfabriken, Ziegeleien, auch für die
Stahl- und Eisenindustrie — bei industriellen An-
lagen in sog. „Vorfeuerung". Torfbriketts (aus
Grus oder Pulver gepreßt) sind dafür ungünstig.
Als gutes Mischungsverhältnis hat sich i Teil Torf
auf 2 Teile Steinkohle bewährt, in einzelnen Fällen
auch gleiche Teile.
Bei Maschinengewinnung werden große
Rohtorfbrocken zerkleinert, gemischt, geknetet
und geformt, was bei der Verschiedenartigkeit der
einzelnen Schichten im geologischen Moorprofil
von größtem Wert ist (vgl. oben). Der nasse
Torf hält das Wasser infolge seines kolloidalen
Zustandes mit großer Zähigkeit fest und gibt es
auch bei andauerndem Pressedruck von 4 — 500
Atmosphären nur zum geringsten Teil ab. Man
ist deshalb im allgemeinen auf die langwierige
Lufttrocknung angewiesen, die wieder vom
Klima, der Witterung usw. abhängt. Nasser ge-
frorener Torf verliert seinen kolloidalen Zustand
und wird nach Wiederauftauen für die gewöhn-
liche Aufarbeitung unbrauchbar. Da man sonach
nur mit der geringen Zahl von etwa I20 — 140
Gewinnungstagen im Jahr rechnen kann, wurde
versucht, durch teils mechanische, teils chemische
702
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
und gemischte Verfahren die Trocknung abzu-
kürzen (Naßpreß-, Madruckverfahren, Kolloidver-
drängung durch Öle, Salze, Säuren, Osmose -Ver-
fahren, Erhitzen, Naß verkohlung, Ekenberg-, Halden-
verfahren usw.). Die Wirtschaftlichkeit solcher
Methoden war bisher nicht gesichert. Weiter hat
man sich mit Verarbeitung, „Veredelung" des
Torfes befaßt, d. h. mit seiner Verkokung und
Vergasung. Er wird dabei ganz oder teilweise
in einen neuen chemischen oder physikalischen
Zustand überführt, bevor man seine Energie in
Wärme verwandelt, unter Gewinnung wertvoller
Nebenprodukte. Dies entspricht am meisten den
heutigen Grundsätzen wiitschaftlicher Brennstoff-
verwertung, nur lohnt es sich gegenwärtig meist
nicht wegen der ungeheuren Kosten für die dazu
nötigen Anlagen und weil schon der Preis für
unveredelten Torf zu hoch wurde. Torfkoks (aus
aschearmem Torf) kommt daher z. Z. nur für be-
stimmte technische Zwecke in Frage ; er wird bei
der Entgasung, d. h. der trockenen Destillation
gewonnen, hat etwa 6900 Kai. Heizwert, ist dem
Steinkohlenkoks ähnlich und für hüttentechnische
Zwecke brauchbar, die dabei entfallende Asche
eignet sich als Düngemittel. Aus den entwei-
chenden Gasen werden Teeröl, Essigsäure, Methyl-
alkohol gewonnen, die durchschnittliche Ausbeute
an Teer beträgt 4 — 5 "/„, an Brenngas 400 cbm
auf die Tonne, an Kohle 33"/,,, Teerwasser 35"/n
aus lufttrockenem Torf, je nach dem Stickstoff-
gehalt des Moors 1,5 — 2 kg Stickstoff in Form
von Ammoniak aus i cbm Moormasse. Destilla-
tion von Torfteer ergibt leichte Rohöle, Paraffin-
präparate, Kreosotöl, „Blasenkoks" (fast reiner
Kohlenstoff). Aus Teerwasser wird Ammonsulfat,
essigsaurer Kalk und Holzgeist dargestellt.
Bei Ausnützung der Torflager im großen kann
neben Brennstoffgewinnung für den Versand noch
Verwertung an Ort und Stelle zum Betrieb von
Kraft zentralen angezeigt sein, wobei durch-
schnittlich aus I cbm Rohtorf 50 Kilowattstunden
erzielt werden. Die Auricher „Wiesmoorzentrale"
zeigt, daß nach Überwindung großer Schwierig-
keiten eine großzügige erfolgreiche Nutzung aus-
gedehnter Moore durch grol3e Kraftbetriebe mit
Torf als ausschließlichem Brennstoff möglich ist.
Major a. D. Dr. W. Kranz, Stuttgart.
Bücherbesprechungen.
Mönnig, Hermann O., Über Leucochlori-
dium macrostomum (Leucochloridium
paradoxum Carus). Ein Beitrag zur Histologie
der Trematoden. 61 Seiten, 5 Tafeln. 8".
Jena 1922, G. Fischer. 25 M.
Zuweilen findet sich an einem oder beiden
Fühlern der Gemeinen Bernsteinschnecke, Succinea
putris L., ein höchst sonderbarer Schmarotzer.
Man bemerkt eine bis etwa 12 mm lange und
bis 2,5 mm dicke Anschwellung von lebhaft grün,
weiß und rot geringelter oder braun und hell ge-
ringelter Farbe — also nach Mönnig zwei Varie-
täten — und pulsierende Bewegung. Dies „Leuco-
chloridium paradoxum" ist das Sporozystenstadium
eines Saugwurms, der als geschlechtsreifes Tier
im Darmkanal von Singvögeln lebt, die aus dem
auffällig beränderten Schneckenfühler den Para-
siten begierig herausbeißen (Zell er 1874). Die
Fundorte sind nicht häufig. Die erste Mitteilung
stammt aus dem Jahre 18 10, die letzte ausführ-
liche Beschreibung bisher aus dem Jahre 1889.
Die vorliegende Schrift Mönnigs ist eine neue
Spezialuntersuchung. Die histologischen Ergeb-
nisse sind besonders für den von Belang, der ähn-
liche Untersuchungen ausführen wird. Einige all-
gemeinere Beobachtungen können aber auch
Fernerstehende angehen. Die Auftreibung des
Fühlers rührt lediglich her von dem Eindringen
eines „Schlauches" in den Fühler. Der Haupt-
körper der Sporozyste befindet sich nämlich in
der Leber der Schnecke (Carus 181 5) und treibt
Schläuche, welche die aus Eiern im Hauptkörper
entstehenden, zum Freiwerden im Vogeldarm be-
stimmten Zerkarien, die jungen Geschlechtstiere,
enthalten. Schon Zeller bemerkte, daß nach
Herausbeißung eines Schlauches aus einem Fühler
der letztere verheilt und ein neuer Schlauch in
ihm erscheint. Dies dauert nach Mönnig je
nach der Temperatur und Fütterung 10 Tage bis
den Winter über. Infizierte Schnecken suchen
mehr als andere das Licht auf; eine Verletzung
der Augennerven war nicht bemerkbar. War der
Fühler vom Vogel mit abgepickt, so wurde inner-
halb zweier Beobachtungsmonate auch kein Auge
regeneriert. Die Pulsalionsfrequenz erhöht sich bei
starker Belichtung (Sonnenschein) und kommt im
Dunkeln auf Null. Zwei Schläuche einer Schnecke
können verschieden pulsieren. Auch Reizung des
Schneckenfühlers verändert die Pulsation.
V. Franz, Jena.
Pfeffer, W., OsmotischeUntersuchungen.
Studien zur Zellmechanik. Zweite, unveränderte
Auflage. Mit fünf Holzschnitten. Leipzig 1921,
Verlag von Wilhelm Engelmann.
Fr. Czapek, Schüler und Nachfolger Pfef-
fers, hat seinem großen Lehrer ein schönes
Denkmal gesetzt durch die Neuherausgabe des
berühmtesten Werkes unseres größten Pflanzen-
physiologen. In einem Geleitwort zu der vor-
liegenden zweiten Auflage weist Czapek auf
die große Bedeutung der „osmotischen Unter-
suchungen" hin, die „einen der Grundpfeiler der
neueren physikalischen Chemie und allgemeinen
Physiologie bilden", und er drückt den Wunsch
N. F. XXI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
703
aus, „daß die Aufnahme dieser Neuausgabe eine
mögHchst günstige werde, und das Studium der
Zellphysiologie von neuem kräftig fördern möge".
Es ist dem Herausgeber leider nicht vergönnt ge-
wesen, die Freude der Schüler und Verehrer
Pfeffers über das neue alte Buch zu erleben,
denn wenige Wochen nach der Niederschrift sei-
nes Geleitwortes wurde auch Fr. Czapek der
Wissenschaft durch den Tod entrissen. — Dem
Verleger gebührt der Dank aller Pflanzenphysio-
logen, daß er dem Wunsche des Herausgebers
nach einem Neudruck Folge geleistet hat.
Wächter.
Hagen, W. , Unsere Vögel und ihre
Lebensverhältnisse. 60 Seiten 8", 11 Ab-
bildungen nach Lichtbildern von R. Zimmer-
mann. Freiburg i. Br. 1922, Verlag von Theo-
dor Fisher.
Gewissermaßen eine „Allgemeine Ornithologie"
und somit ein Büchlein, das man in der Hand
eines jeden, der die Vogelwelt kennt, bearbeitet
oder genauer kennenlernen will, wünschen muß
als Ergänzung zu anderen Werken, welche mehr
die Artenkenntnis pflegen. Nur die deutsche
Ornis ist der einwandfreien, inhahreichen und zur
forschenden Beobachtung anregenden Darstellung
zugrunde gelegt. V. Franz, Jena.
Koch, A. und Lowartz, C, Leitfaden für
zoologische Bestimmungsübungen
zum Gebrauche an U ni versitäten und
höheren Schulen. Mitteilungen der Preußi-
schen Hauptstelle für den naturwissenschaft-
lichen Unterricht, Heft 6. 122 S. gr. 8" mit
120 Abbildungen im Text. Leipzig 1922,
Quelle & IVIeyer.
Bei der zu geringen zoologischen Artenkennt-
nis, der man in weiten Kreisen aller Bevölkerungs-
schichten und mehr oder weniger auch bei mehr
anatomisch oder allgemeinbiologisch eingestellten
Fachzoologen begegnet, ist die Tendenz des vor-
liegenden, scharf durchgearbeiteten Buches lebhaft
zu begrüßen. Seine Verwendung soll jenem
Mangel abhelfen, indem es in 14 Kursen zur Be-
stimmung der bekanntesten und wichtigsten Ver-
treter der Metazoen anleitet. Vorzugsweise ist
die deutsche Binnenfauna berücksichtigt; Meeres-
und ausländische Landtiere konnten aber nicht
ganz übergangen werden, um den Überblick über
das Tierreich einigermaßen zu vervollständigen.
Das Buch gibt kurze Anleitungen zum Sammeln,
Lebendhalten, Konservieren und zum Bestimmen
nach äußeren Merkmalen, nimmt allerdings auch
oft der Kürze halber Bezug auf andere leicht-
zugängliche Werke, wie namentlich ßrohmers
„Fauna von Deutschland", statt selber die Be-
stimmungstabellen zu geben. In dieser Hinsicht
mag ihm für die Zukunft mehr Selbständigkeit
zu wünschen sein. Als Universitätslehrer wünscht
man dem Buche und der von ihm gepflegten
Methode wohl vor allem Verbreitung an Schulen,
wo zu einem guten biologischen Unterricht dies
mindestens hinzugehört und damit Grundlagen
gelegt werden würden, auf denen später An-
regungen, Erweiterungen und Vertiefungen ge-
deihen. Dann erübrigt sich dieser Unterricht an
den Hochschulen. Hat es an ihm gefehlt, so ist
es nur zu begrüßen, wenn er an der Hochschule
nachgeholt werden kann. Hier verlangen die
Autoren „mindestens 2 Wochenstunden, vor-
ausgesetzt, daß den Praktikanten außerhalb dieser
Kursstunden die Möglichkeit zum selbständigen
Weiterarbeiten unter gelegentlicher Anleitung ge-
geben wird". V. Franz, Jena.
Schall, Dr. med. H., Die Fortpflanzung.
(Die Geschlechtsorgane des Menschen und ihre
Krankheiten.) Mit 4 Dreifarbendruck-Tafeln u.
170 z. T. mehrfarbigen Abbildungen. Stuttgart
1922 , J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung.
Geb. 80 M.
In gemeinverständlicher Weise schildert der
Verf. in dieser seiner neuesten Schrift die Ge-
schlechtsorgane des Menschen und ihre Krank-
heiten. Er versteht es, ein heikles Gebiet so ab-
zuhandeln, daß alle vorhandenen Schwierigkeiten
überwunden werden. Dieses Werk sollte jedem
Studenten, gleichgültig welcher Fakultät er ange-
hört, in die Hand gegeben werden. Eis wird seine
segensreiche Wirkung nicht verfehlen. Auch
Frauen wird das Studium der Schrift von großem
Vorteil sein. Es gibt nur wenige Bücher, die so
volkstümlich geschrieben sind wie das vorliegende
Schalische Werk ohne „populär" im üblen Sinne
zu sein. Ganz besonders muß auf die vorzüg-
lichen, z. T. farbigen Abbildungen hingewiesen
werden, ohne die nun einmal ein naturwissen-
schaftliches Werk nicht auskommen kann. Das
Buch bedeutet eine hervorragende Bereicherung
unserer Aufklärungsschriften über den Bau und
die Funktion des menschlichen Körpers.
H. v. Lengerken.
Haeckel, Ernst, Italien fahrt. Briefe an die
Braut 1859/60. Leipzig 192 1 , Verlag von K.
F. Koehler.
Prof. Heinrich Schmidt, Leiter des
Haeckel-Archivs in Jena, hat der Herausgabe von
Haeckels Jugendbriefen, „Entwicklungsgeschichte
einer Jugend'', nun eine weitere wertvolle Ver-
öffentlichung folgen lassen. Er hat die „Briefe
an die Braut" in einem handlichen Band zusam-
mengestellt. Man braucht weder Haeckel- Anhänger
noch -Gegner zu sein, um diese Briefe eines
schönheitsuchenden, naturbegeisterten, künstlerisch
veranlagten Menschen mit tiefer Anteilnahme zu
lesen. Ein Feuerkopf spricht hier, ein wahrhaft
ideal veranlagter Geist sucht sich den Weg zur
Weltanschauung zu bahnen. Haeckels edles
Menschentum offenbart sich in diesen Briefen in
reinster Form. Dem Buche sind eine Abbildung
Haeckels und seiner Braut Anna Set he, eine
Photographie des Marschendichters Hermann
704
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 51
Allmers, eine Aufnahme Haeckels in Reise- Originaizeichnungen beigegeben. Das Werk wird
ausrüstung sowie einige verkleinerte Tafeln des auch ohne Empfehlung auf weitestes Interesse zu
berühmten Radiolarienwerkes nach Haeckels rechnen haben. H. v. Leno-erken.
Anregungen und Antworten.
Zur Frage nach der Entstehung der Strahlensysteme des
Mondes. In Nr. 37 dieser Zeitschrift referiert Herr Prof.
Riem über einen Versuch Wilsings, die Strahlensysteme
des Mondes zu erklären. Wilsing deutet dieselben als
„Ströme sehr heifler und leichtflüssiger Lava, welche sich über
die damalige stetig gegen das Zentrum des Ausbruchs anstei-
gende Mondoberfläche verbreiten konnten".
Man kann nicht sagen, daß mit dieser Erklärung irgend-
etwas gewonnen ist. Sie ist im Gegenteil noch unwahr-
scheinlicher, als die früheren Erklärungen , die etwa die
Strahlen als vom Krater aus in radiärer Richtung verwehte
Aschenmassen deuten wollten. Wie denkt sich denn Herr
Wilsing die genannte Aufwölbung der Mondoberfläche nach
dem jeweiligen Zentrum des Ausbruches hin? Eine solche
Aufwölbung könnte sich doch, wenn sie überhaupt stattfand,
nur auf die unmittelbar an den Krater anschließenden Partien
der Mondoberfläche erstreckt haben. Und nun vergegenwärtige
man sich das ungeheure Strahlensystem des Tycho, das von
einem keineswegs auffallend riesigen Ringgebirge des Mondes
ausgeht, und sich über fast Y> ^" gesamten Mondoberfläche
erstreckt! Soll diese ganze ungeheure Fläche durch die Erup-
tion des Tycho kegelförmig aufgewölbt gewesen sein? Jeder
der sich nur einen Augenljlick mit diesem Gedanken etwas
näher befaßt, wird zugeben müssen, daß derselbe im höchsten
Grade unwahrscheinlich ist. Er ist außerdem rein hypothe-
tisch und findet auf der Erde, die wir allein zum Vergleich
heranziehen können , nirgends auch nur andeutungsweise Be-
lege.
Aber die UnWahrscheinlichkeiten der Wil sin g sehen
Hypothese sind hiermit noch keineswegs erschöpft. Nach
seiner Auffassung stellen die Strahlen Lavaströme dar, also
in kontinuierlichem Fluß entstandene Bildungen. Derartige,
auf flüssigem Wege entstandene Gebilde haben nun bekannt-
lich stets die Eigentümlichkeit, kontinuierliche Massen oder
Streifen zu bilden. Man müßte also auch bei den Strahlen
der Strahlensysteme diese Kontinuität feststellen können.
Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Eine große .Anzahl
der Strahlen setzt sich , wie eine nähere Untersuchung lehrt,
aus lauter einzelnen Spritzern zusammen, die zum Teil durch
weitere Zwischenräume getrennt sind. Es ist dies geradezu
ein Charakteristikum dieser Strahlen. Zum Beweis vergleiche
man insbesondere das Strahlensystem des Kopernikus,
Tycho und Kepler. Die Struktur der Streifen widerspricht
also direkt den Wilsing sehen Annahmen.
Was endlich die Wilsingsche Auffassung anbetrifft,
die Strahlensysteme seien früher entstanden wie die übrigen
Mondformationen — da sonst das rücksichtslose Hinweggehen
der Streifen über alle Erhöhungen und Vertiefungen der Mond-
oberfläche mit seiner Theorie nicht stimmen würde — so
wird diese ebenfalls durch die schlichtesten Argumente auf
dem Monde selbst widerlegt. Ein Blick bei Vollmond auf
das Ringgebirge Archimedes, dessen dunkles Innere von
mehreren Strahlen des StrahVensystems des nahe gelegenen
Autolycus durchzogen wird, genügt allein um ihre Haltlosig-
keit darzutun. Unzweifelhaft überlagern hier die Strahlen
den Boden des genannten Kraters, sind also jünger wie
dieser. Und derselbe Befund läßt sich am Tycho, dessen
Strahlen so unendlich viele Kinggebirge und Krater durch-
ziehen, bei genauerer Beobachtung erbringen. Mit seiner An-
nahme aber, daß die Krater und Ringgebirge des Mondes
sich gebildet haben sollten, ohne die Mondoberfläche am Ort
ihrer Entstehung im geringsten zu verändern, außer daß sie
bestimmte Bezirke dieser Oberfläche durch gewaltige kreis-
förmige Gebirgsbildungen gewissermaßen ,, einzäunten", dürfte
Wilsing wohl schwerlich irgendwo Glauben finden.
Wie ein Blick durch das Fernrohr lehrt, sind doch diese
,, Krater" durch ganz gewaltige Umwälzungen der Mondober-
fläche entstanden, und daß ihr Inneres von diesen Umwälzun-
gen nicht verschont blieb, beweisen — aufler der Tatsache,
daß das Innere so gut wie aller Krater und Ringgebirge des
Mondes z. T. um Tausende von Metern tiefer liegt als die
anschließende Mondoberfläche — die offenbar mit der Ent-
stehung der Ringbildungen im direkten genetischen Zusam-
menhang stehenden Zentralberge, sowie, von vielen anderen
abgesehen, die oft zahlreichen konzentrischen Gebirgsbildungen
im Innern der Krater — direkt auf der eingesunkenen Ober-
fläche — die, häufig weit ab vom Randgebirge gelegen, doch
dem Zuge der Umwallung folgen. Es heißt meines Erachtens
den Tatsachen Gewalt antun, wenn man hier die Wilsing-
sche Erklärung gutheißen wollte.
So dürfte auch dieser Versuch , die Strahlensysleme
auf vulkanischem Wege zu deuten, als an den Tatsachen
gescheitert zu betrachten sein. Durch vulkanische Vor-
gänge lassen sich eben die Strahlensysteme überhaupt nicht
erklären. Einzig und allein die Aufsturztheorie bietet hier,
wie ich in meinen Arbeiten über diesen Gegenstand (Sirius
1922, Heft 3 u. 9) dargelegt habe, eine erschöpfende und bis
ins einzelste gehende Deutung. Ich glaube in diesen Arbeiten
den Nachweis erbracht zu haben, daß sowohl beim Aufsturz
fester Massen in Flüssigkeitsansammlungen, als auch bei Zer-
trümmerung und Zerspritzung fester und flüssiger Körper
beim Aufsturz Gebilde entstehen, die den Strahlensystemen
des Mondes in allen Stücken, so in dem sehr wichtigen Auf-
treten gesetzmäßig gelagerter, strahlenfreier Sektoren , in der
Zusammensetzung der Strahlen aus einzelnen Spritzern, ihrer
am Krater oder in dessen Nähe breit beginnenden und spitz
verlaufenden Form, ihren charakteristischen Krümmungen und
Überschneidungen , kurz in allem denjenigen Eigenschaften
völlig gleichen, welche die Wilsingsche Theorie — ebenso
wie alle übrigen vulkanischen Theorien — völlig unerklärt
läßt. Gerade die Strahlensysteme, diese Steine des Anstoßes
für die vulkanische Theorie, stellen mit das wichtigste Argu-
ment dar, das die Aufsturztheorie für sich ins Feld führen kann.
Dr. de Beer.
Aufruf. In Blumenau, Santa Catharina, Brasilien, soll
dem Naturforscher Fritz Müller in Gestalt einer Herme
ein einfaches, aber würdiges Denkmal gesetzt werden. Die
Anregung dazu geht von Herrn Jose Boiteux aus. Wahr-
scheinlich sind auch deutsche Naturforscher gern bereit,
einen Geldbeitrag zu diesem Vorhaben zu schenken. Ich bin
erbötig, Beiträge entgegenzunehmen und nach Blumenau zu
übermitteln. Die deutsche Wissenschaft hat Fritz Müller
in der von Alfred Möller veranstalteten Gesamtausgabe
seiner Werke und seiner Briefe ein würdiges literarisches
Denkmal gesetzt, aber der Gedanke, dem verdienten Forscher
auch an der Stätte seiner langjährigen Wirksamkeit ein jeder-
zeit sichtbares Erinnerungszeichen aufzurichten, verdient auch
von deutschen Naturforschern warm gefördert zu werden.
Bielefeld, Zastrowstr. 29. Dr. W. Breitenbach.
Inhalt: Wilh. R. Eckardt, Die Beziehungen der afrikanischen Tierwelt zur südasiatischen. S. 6S9. J. Bayer, Die
Ausbreitung des Menschengeschlechtes. S. 693. — Einzelberichte: K. Goette, Zur Ilodenatrophie. S. 697. A.Gre-
gory, Ein neuer Verjüngungsversuch. S. 697. E. .Melin, Über die Mykorhizapilze der Nadelhölzer. S. 698. E. Rie-
senfeld und G. Seh wab , Die Reindarstellung des Ozons. S. 698. R.Martin, Körperkultur, S. 699. Sauer, Ganz,
Schick l er, Torfmoore und deren Ausnützung. S. 700. — Bücherbesprechungen: O. H. Mönnig, Über Leucochlori
dium macroslomum. S. 702. W. Pfeffer, Osmotische Untersuchungen. S. 702. W. Ilagen, Unsere Vögel und ihre
Lebensverhältnisse. S. 703. A. Koch und C. Lowartz, Leitfaden für zoologische Bestiramungsübungen zum Gebrauche
an Universitäten und höheren Schulen. S. 703. H. Schall, Die Fortpflanzung. S. 703. E. llaeckel, Italienfahrt.
S. 703. — Anregungen und Antworten: Zur Frage nach der Entstehung der Strahlensysteme des Mondes. S. 701
Aufruf. S. 704.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätr'ichen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 21. Band;
ganzen Reihe 37. Ba:
Sonntag, den 24. Dezember 1922.
Nummer 5ä.
Die Naturwissenschaftliche Wochenschrift wird das Jahr 1923 nicht erleben; sie
stellt mit der heutigen Nummer ihr Erscheinen ein. Damit verschwindet eine Zeitschrift aus dem
deutschen Schrifttum, die sich seit 37 Jahren die Verbreitung naturwissenschaftlicher Bildung hat
angelegen sein lassen. Schweren Herzens haben sich Verleger und Herausgeber zu diesem Schritte
entschlossen. Er war unvermeidlich. Die ungeheuerlich gestiegenen Herstellungskosten, die Un-
möglichkeit, den Bezugspreis auch nur in angenähertem Verhältnis dazu zu erhöhen, legten dem
Verlage ein Opfer auf, das er sich im Hinblick auf die ungewisse Zukunft unserer gesamten Wirt-
schaft nicht entschließen konnte, noch weiter zu bringen. Daß er es so lange dargebracht hat und
der Wochenschrift bis zuletzt eine so vorzügliche Ausstattung gab, sei dem Herausgeber in diesem
Augenblicke gestattet rühmend und dankend anzuerkennen.
So nehmen wir Abschied von dem Kreise unserer Leser und IVIitarbeiter mit dem Ausdruck
herzlichen Dankes für ihr Interesse und ihre Hilfe und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft
unseres Vaterlandes!
Die Verlagsbuchhandlung
Gustav Fischer.
Der Herausgeber
Dr. Hugo IVIiehe.
Zur Wünschelrutenfrage.
Von Dr. Fritz VTiegers.
[Nachdruck vcrboleu] Mit 3 Abbild
Die Wünschelrute ist uralt. Jakob Grimm
hat sie schon im Nibelungenlied, im Titurel des
Wolfram von Eschenbach und bei Konrad von
Würzburg nachgewiesen, aber ihr Gebrauch geht
wohl noch über das ii. und I2. Jahrhundert
hinaus; denn der Name (wunsciligerta) deutet auf
altgermanischen Ursprung; wahrscheinlich ist sie
auf die germanischen Götter zurückzuführen. Im
Mittelalter diente die Wünschelrute hauptsächlich
zum Schatzsuchen oder zum Auffinden von Erz-
gängen; vorübergehend wurde sie von den Berg-
leuten „amtlich" gebraucht. In unserem Jahr-
hundert ist sie seit 1902 zum Auffinden von
Wasser, später auch von Erzen, Kohle, Petroleum
und Salzlagerstätten angewendet worden.
Der Glaube an die Wünschelrute war wohl
stets geteilt; während der eine auf sie schwor,
hielt sie der andere für Lug und Trug. Schon
Paracelsus (1493 — 1541) und Georg Agri-
cola, der „Vater des Bergbaus" (1494 — 1555),
lehnten sie ab. Auch heute noch tobt der Streit
des „Für und Wider", aber im Gegensatz zu frü-
heren Jahrhunderten bemüht man sich heute um
wissenschaftliche Erklärungen des Rutenproblems.
In einem kürzlich erschienenen Schriftchen des
Grafen Karl von Klinckowstroem^) sind
') Graf Karl v. KÜDckowstroem : Die Wünschelrute als
wissenschaftliches Problem. Stuttgart, Verlag von Konrad
Wittwer, 1922. 40 Seiten. 3 Abb.
ungen im Text.
die neueren Untersuchungen übersichtlich zu-
sammengestellt.
Die Bewegung der Wünschelrute geschieht in
der Hand des Rutengängers durch eine unwill-
kürliche und unbewußt bleibende Muskeltätigkeit
oder wie der berühmte Seh weizer Geologe A. H e i m
sich 1903 ausdrückte: Die Wünschelrute ist der
Fühlhebel einer nervösen Erregung des Körpers.
Als Ursachen dieser nervösen Erregung werden
von den Rutengängern meist physikalische Ein-
wirkungen gewisser Substanzen, wie Wasser, Kohle,
Salz angesehen; während die Gegner der Wünschel-
rute nur psychische Faktoren oder unbewußte
Beobachtung von Bodenmerkmalen, Pflanzenwuchs
u. a. gelten lassen wollen. Im ersteren Fall würde
der Rutenausschlag als reflektorischer Vorgang,
im anderen als sogenannte ideomotorische Be-
wegung aufzufassen sein (Naturw. Wochenschr.
1918, S. 313).
Die hypothetische physikalische Reizursache
der Rutenreaktion ist der umstrittenste Punkt des
Problems; von einigen Physikern wurde sie völlig
in Abrede gestellt (vgl. Naturw. Wochenschr. 1906,
Nr. 48), andere haben sie experimental zu be-
stimmen versucht. Der Göttinger Physiker
Dr. Ambron n stellte fest, daß an gewissen
Stellen, wo Erzgänge zutage streichen oder Ver-
werfungsspalten ausgehen, plötzliche Änderungen
der radioaktiven Zustandsgrößen stattfinden
und daß die Wünschelrute an genau denselben
"job
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXt. Nr. 52
Stellen Ausschläge gäbe, woraus er auf einen Zu-
sammenhang zwischen geologischen Besonder-
heiten (Störungszonen), Wünschelrutenausschlägen
und charakteristischen Schwankungen der radio-
aktiven Zustandsgrößen schließt. Damit ist aller-
dings noch nicht bewiesen, daß Rutenausschlag
und radioaktive Strahlung tatsächlich im ursäch-
lichen Zusammenhang stehen.
Neuerdings haben die beiden Physiker Ha-
sch ek -Wien und Herzfeld - München M Ver-
suche über den Kinfluß plötzlich wirksam wer-
dender statischer elektrischer und magne-
tischer Felder auf den Rutengänger angestellt,
für die sich als Versuchsobjekt der Chefgeologe
der Geologischen Reichsanstalt in Wien IBergiat
Dr. Waagen zur Verfügung stellte. Als Ergeb-
nis wurde festgestellt, daß die Annahme einer
Strahlung irgendwelcher Art als unmittelbare
Ursache des Rutenausschlages nicht berechtigt
ist; auch die Einwirkung magnetischer F"elder
kommt nicht in Betracht, wohl aber diejenige
elektrostatischer P^ eider. Dabei spürt der
Rutengänger nicht den Erdstrom an sich, sondern
die Deformationen im elektrischen Felde,
in dem er sich befindet. Die beiden Physiker
betonen, daß sie ihre Untersuchungen nur als
einen ersten Versuch einer physikalischen Theorie
det Wünschelrute ansehen. Als solcher ist er
sicher zu begrüßen, wie jeder ernste Versuch, der
zur Klärung der Wünschelrutenfrage unternommen
wird. Allerdings stehen die Ergebnisse dieser
Versuche, die anscheinend nur im Laboratorium
stattgefunden haben, und daher vielleicht nur
einen theoretischen Wert haben, in starkem Gegen-
satz zu den praktischen Untersuchungen, die die
Preußische Geologische Landesanstalt -) im De-
zember 1920 im Gelände mit drei Rutengängern
angestellt hat.
Diese Untersuchungen bewegten sich nach
einer ganz anderen Richtung als die oben ge-
nannten ; sie sollten nicht die Ursachen des Ruten-
ausschlages feststellen, sondern nur die praktischen
Erfolge. Sie fanden daher in geologisch einfach
gebauten (lebieten statt, deren geologischer Auf-
bau durch die Kartierung genau festgelegt war.
Die Versuche sollten bereits im Sommer 1920
stattfinden, sie mußten aber mehrfach hinaus-
geschoben werden, weil die Rutengänger unerfüll-
bare Honorarforderungen und der Internationale
Verein der Wünschelrutenforscher unerfüllbare
Bedingungen stellten. Als endlich der Termin
auf den 8. Dezember festgelegt ward, zu dem
sich 5 Rutengänger verpflichtet hatten, sagten im
letzten Augenblick auch diese fünf ab. Dieser
Widerstand dtx Rutengänger gegen eine objek-
tive Prüfung macht denn doch einen recht eigen-
artigen Eindruck. Es gelang schließlich noch
drei andere Rutengänger zu gewinnen, die vier
') „Naturwisseaschaflcn" 1921, Hc-ft 51.
-j Zur Wünschclrutenfrage. I. Die mit Rutengängern im
Dezember 1920 angestellten Versuche der Preußischen Geolo-
gischen l.andesanstall. Berlin 1921. 20 Seiten, 5 Textfiguren.
Tage in der Umgend von Magdeburg und einen
Tag in der Provinz Hannover herumgeführt wurden.
Von den Ergebnissen dieser gemeinsamen Be-
gehungen seien im folgenden drei geschildert:
üie Streclten^ auf denen die iVunschef '
rufe der /?utengängep A. B u C Hohle
an seigre, stnd ourc/i — ^ tvo Sie Salz
angab, durch — bezeichnet
^A Kohle u. 3alz kommen m dem
Gebiet in IVahrhe/t nicht tvr.
Zivischen den Ansagen von
A,B u C bestehen die
größten Unterschiede
1. Auf dem Meßtischblatte Neuhaldensleben
liegt zwischen Nordgermersleben und Groß-Rott-
mersleben das in Abb. i wiedergegebene Wege-
dreieck. Der geologische Untergrund besteht aus
Kulmgrauwacken (das sind Gesteine, die unter
den produktiven Karbonschichten liegen) und rot-
liegenden Porphyriten, die beide älter sind als
die Zechsteinsalze. Beide Gesteine treten teils
frei zutage, teils liegen sie unter einer ganz
dünnen Decke von Löß. Es fehlt demnach in
dieser Gegend jede Spur von Steinkohle,
Braunkohle, Kali- und Steinsalz usw. Den
3 Rutengängern wurde die Aufgabe gestellt: „In
dem Wegedreieck Gr.-Rottmersleben — Kl.-Rott-
mersleben ist die Verbreitung von Kalisalz und
Braunkohle festzustellen und abzugrenzen." Folge-
richtig hätte keiner der drei Rutengänger auch
nur einen einzigen Ausschlag erhalten dürfen, da
von den genannten Bodenschätzen nichts vor-
handen ist; tatsächlich erzielten aber alle drei
recht erhebliche Ausschläge (siehe Abb. i), und
zwar stellte Herr A. hauptsächlich Kalisalz fest,
dann aber auch Braunkohle und Petroleum. Herr
B. bekam im Westen Ausschläge auf Kohle, im
Osten auf Salz und bei Herrn C. war es um-
gekehrt.
Dieses Ergebnis muß doch jeden vorurteils-
freien Menschen nachdenklich machen. In einer
Gegend, in der weder Kohle noch Salz vorhanden
ist, wird der Nachweis von beiden von den drei
Rutengängern gefordert. Vermutlich durch Ein-
wirkung der Suggestion erhalten darauf alle Drei
Ausschläge, aber wiederum bezeichnenderweise
decken sich die Ausschlagsstellen nicht, sondern
jeder erhält vom anderen abweichende Ergebnisse.
2. Auf dem Blatte Wolmirstedt verläuft die
große Ohretalbruchspalte, an der der östliche Teil
des Gebietes eingesunken ist, so daß heute die
viel jüngeren Trias- und Zechsteinschichten neben
den ältereren Kulmschichten liegen. Östlich der
Ohre ist daher an vielen Stellen Stein- und Kali-
N. R XXI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
707
salz erbohrt, während es westlich derselben fehlt, wackenuntergrunde die Wasserbewegung ausge-
da die Zechsteinschichten längst von den Grau- sprochen West-Ost, wie in diesem Sommer zahl-
wackenschichten abgetragen sind. reiche und sehr gewissenhafte Untersuchungen
r & e
,4;., ' ^ 9 t M- i
Die Aufgabe lautete : „Es ist i. das Vorhanden-
sein von Kalisalzen auf dem Wege von Groß-
Ammensleben nach Bleiche — Samswegen; 2. das
Auftreten von etwa vorhandenen Verwerfungen
und ihre Richtung; 3. etwa sich findendes arte-
sisches Wasser festzustellen.
Nach dem geologischen Bau des Gebietes
hätte keiner der drei Rutengänger zwischen Groß-
Ammensleben und der Ohre einen Salzausschlag
der Rute bekommen dürfen; es erfolgte aber ge-
rade das Gegenteil : solange die drei Rutengänger
sich auf der salzfreien Grauwacke bewegten, er-
hielten sie kräftige Ausschläge auf Salz, besonders
Herr B., der auch 16 Ölreaktionen hatte. In etwa
1 1 von 88 Fällen fielen die Angaben der Herren
A. und C. annähernd zusammen. Über dem
tatsächlich vorhandenen Salzgebirge
aber erhielt keiner der drei Herren
einen Ausschlag. Verwerfungsspalten wurden
des Kanalbauamtes in Magdeburg ergeben haben.
— Die Rutenergebnisse dieses Tages waren also
ebenfalls negativ.
3. Auf dem Blatte Staßfurt steigt in der Mitte,
in der Linie Marbe, Staßfurt, Rathmannsdorf, das
Salzgebirge bis dicht unter die Oberfläche empor,
nur noch von einer dünnen Schicht Diluvium be-
deckt. ( östlich und westlich von diesem Sattel
aber sinkt das Salz schnell bis 800 m in die Tiefe,
überlagert von den Schichten des Buntsandsteins
und Muschelkalkes. Zwischen NeuStaßfurt und
Löderburg erstreckt sich eine Braunkohlenmulde,
in deren südlichem Teil ein bis 1 5 m mächtiges
Braunkohlenflöz abgebaut wird. Die Aufgabe
lautete; „Vom Punkt 80,7 NO Staßfurt ausgehend
ist zu suchen : Steinsalz, Kalisalz, Braunkohle mit
Angabe der Tiefe und bei den Kalisalzen mit An-
gabe der Streichrichtung, bei der Braunkohle auch
Angabe der Mächtigkeit des Flözes."
^u^ den n d e Wu 5 he/Pu der Hutenaon^e^ '^ und B ^a^lne che >iu
£ine Be^iehan^ ^um 3aUhoröf 15t mohf erkennba/y^wiscJ^en A l
zeifff'e, 5 nd dun h dan^este/ >
größten Unterschiede
auf dem ganzen Wege angegeben, aber die große
Abbruchzone der Grauwacke kam dabei nicht
zum Ausdruck. Auch Wasser wurde angesagt
und zwar mit der Behauptung, es bewege sich
im Ohretal von Ost nach West; das trifft zwar
zu für das artesische Wasser, das von der Letz-
linger Heide herunter kommt und dem Ohretal
unterirdisch zufließt. Die artesischen Brunnen
gehen aber, von wenigen Ausnahmen in Neu-
haldensleben abgesehen, nicht über das Ohretal
hinüber, mit anderen Worten, die Ost-West-Be-
wegung des unterirdischen Wassers hört mit der
Ohretalspalte auf Umgekehrt ist auf dem Grau-
Zur Verfügung standen zwei Rutengänger, A.
und B.; letzterer fiel jedoch für den ersten Teil
des Versuchs aus, da der Weg an einer Stark-
stromleitung entlang führte, die ihn — im Gegen-
satz zu Herrn A. — störend beeinflußte. Herr A.
hörte infolge von Ermüdung bzw. Blasenbildung
an den Händen früher auf. Die Arbeiten beider
Herren sind daher nur für eine kurze Strecke des
Weges vergleichbar.
Herr A. erhielt im Anfange auf 450 m Länge
dauernd Kohlenausschläge, obwohl dort keine
Kohle vorhanden ist, sondern unter etwa 33 m
Diluvium sofort der Buntsandstein folgt. Auf der
7oH
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5ä
weiteren Strecke erhielt er, sowohl über dem
Salzstocke wie über dem Buntsandstein, Salz-
ausschläge, die durch größere salzfreie Zonen
unterbrochen waren. Außerdem gab er eine
Reihe von Verwerfungen an, die in den Gruben-
aufschlüssen keine Bestätigung finden, also falsch
sind.
Herr B. bekam über dem Salzstock einen
größeren Salzausschlag, ebenso aber auch west-
lich davon über der Braunkohlenmulde, jedoch
keinen Kohlenausschlag, obwohl der Weg an
einem Bohrloch vorüberführte, in dem von 38,82
bis 44,65 Braunkohle erbohrt worden war (am
südlichen Wetterschacht der Grube).
Die Ergebnisse der beiden Rutengänger stim-
men also auch hier nicht mit der Wirklichkeit
überein, obwohl der Gegensatz nicht ganz so kraß
ist, wie in den ersten beiden Fällen. Es ist da-
her begreiflich, daß der Ausfall dieser Unter-
suchungen den Anhängern der Wünschelrute
keine Freude macht. Graf Klinckowstroem
geht mit wenigen Worten über sie hinweg und
möchte sie mit den äußeren ungünstigen Um-
ständen der Dezemberwitterung entschuldigen.
Am bezeichnendsten für die IVIentalität der ein-
gefleischten Wünschelrutenanhänger ist die Äuße-
rung des Münchener Arztes Dr. A. Aigner,
des Vorsitzenden des Verbandes zur Klärung der
Wünschelrutenfrage, der nach seinem Vortrag am
6. Februar 1920 vor dem Kollegium der Geolo-
gischen Landesanstalt diese zur gemeinsamen
Arbeit mit dem Verband aufforderte. Dr. Aigner
äußerte sich mir gegenüber im Frühjahr 1921:
„Verloren habt Ihr auf alle Fälle; entweder Ihr
hättet direkt verloren, so aber bestreiten wir Euch
den Erfolg, weil Ihr bei schlechtem Wetter unsere
Leute überanstrengt habt." Daraus geht doch
zur Genüge hervor, daß die Mitarbeit der Geo-
logen nur gewünscht wurde, weil man sich einen
Erfolg von ihnen im Sinne der Wünschelrute ver-
sprach. An dem schlechten Wetter sind nicht die
Geologen schuld gewesen — beim guten Wetter
im Sommer hatten die Rutengänger sich den
Versuchen entzogen — und den drei Herren A.,
B. und C. war das Wetter doch nicht zu schlecht,
denn sie haben keine Einwendungen dagegen ge-
macht, sondern im Gegenteil ausdrücklich gesagt,
daß es sie nicht störe. Ich habe bisher auch nie
gehört, daß sich die Berufstätigkeit der Ruten-
gänger nach der Jahreszeit richtet.
Wenn dem Verbände zur Aufklärung der
Wünschelrutenfrage aber tatsächlich an einer
Klärung lag, wie Dr. Aigner 1920 versicherte,
dann — so sollte man meinen — hätten nach
dem eklatanten Mißerfolge im Dezember 1920
sämtliche in den Tageszeitungen sich regelmäßig
anpreisenden Rutengänger es als eine Forderung
der Berufsehre ansehen müssen, sich im folgenden
Sommer in corpore der Geologischen Landes-
anstalt zu gemeinsamen Versuchen zur Verfügung
zu stellen. Nicht einer ist gekommen. Die
Herren wollen anscheinend ernstlich gar keine
Aufklärung, weil sie sie fürchten.
Die geschilderten Ergebnisse lassen aber auch
hier die oben erwähnten physikalischen Versuche
im Laboratorium in anderem Lichte erscheinen.
Welchen Zweck können solche Versuche im
kleinen haben angesichts derartiger Mißerfolge
im großen? Meines Erachtens ist die Basis der
Frage hier ein wenig verschoben und es erinnert
sehr an die bekannte Streitfrage mittelalterlicher
Gelehrter, ob das Gewicht eines toten Fisches
von dem eines lebenden verschieden sei. Bände
wurden zur Lösung dieser Frage geschrieben, aber
niemand kam auf den Gedanken, die P'ische nach-
zuwiegen. Genau so mit der Wünschelrute ! Ehe
man an die Erforschung ihrer radioaktiven, elek-
trischen oder magnetischen Ursachen herangeht,
muß doch zweifelsfrei festgestellt werden, ob die
Rute bzw. ihr Träger irgendwelche Beziehungen zu
unterirdischen Stoffen hat. Die Dezemberversuche
beweisen das Gegenteil. Ehe also nicht bei
neuen gemeinsamen Begehungen unumstößlich
nachgewiesen ist, daß die Rute Erze, Kohlen,
Salz und Wasser richtig, d. h. in Übereinstimmung
mit den geologischen Befunden anzeigt, sind sämt-
liche Bemühungen zur Klärung einer Frage nutz-
los, die unfraglich gar keine Frage ist.
Zuwachs und 41ter der oberschwäbischen Hochmoore.
Von Karl Bertsch in Ravensburg.
Mit I Kartenskizze.
[Nachdruck verhoten.l
Zu den merkwürdigsten Bildungen der süd-
deutschen Pflanzenwelt gehören die Hochmoore,
welche durch die eigenartige Ausbildung von
düstern, schwarzen Wäldern zwergiger Bergkiefern
(Pinus montana) oft bestimmend auf das Land-
schaftsbild einwirken, besonders im Gebiet der
Jungmoränen des ehemaligen Rheingletschers.
Doch heutzutage sinkt ihre Bedeutung rasch.
Moor um Moor verfällt der Torfnutzung, und bald
wird von der alten Herrlichkeit wenig übrig ge-
blieben sein.
Darum gilt es, ihren eigenartigen Aufbau zu
untersuchen, bevor das letzte derselben zerstört
ist. Von besonderem Wert scheint es mir zu
sein, die Zuwachsverhältnisse genauer festzulegen.
Der rundblättrige Sonnentau (Drosera rotundifolia)
bietet hierzu ein günstiges Objekt, denn er zeigt
einen nach den einzelnen Jahren gegliederten,
stockwerkartigen Aufbau seiner Sprosse, der dann
besonders deutlich hervortritt, wenn die Pflanze
in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren die
Blütenstengel ausgebildet hat. Die Pflanzen wer-
N. F. XXI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
709
den sorgfällig ausgehoben und der Abstand zwi-
schen der Einfügungsstelle des letztjährigen und
des heurigen Blütenschaftes gemessen. Um ver-
gleichbare Zahlen zu erhalten, wurde eine größere
Anzahl von Messungen ausgeführt und zur Unter-
suchung nur gleiche ökologische Örtlichkeiten
gewählt: voll ausgebildetes Hochmoor mit buschig
verkrüppelten Bergkiefernbeständen, in denen die
Torfmoose der Cymbifolium - Gruppe , vor allem
Sphagnum medium, die vorherrschenden Moos-
arten bildeten. Im Wurzbacher Ried ergaben
sich beisp.ielsweise folgende Zahlen: 3 3,5 3,5
3,5 4 4 4 4 4,5 4,5 4,5 5 5 5,5 5,5
5,5 6 6 6 6 6 6 7 7 7 7,5 8 8 9
9 9 9 9 9 9 9,5 10 11,5 12 15 15 mm.
Die erhaltenen Werte schwanken also innerhalb
gewisser Grenzen, je nachdem die Sonnentau-
pflänzchen auf dem Rücken oder an den Seiten
der Bulten oder in den Lücken zwischen den-
selben gewachsen sind, und ihr Durchschnitt gibt
das durchschnittliche Emporwachsen der Moor-
oberfläche an.
Leider waren viele der besuchten Moore von
der Kultur so verändert, daß nichts mehr zu
machen war: Tannried bei Waldsee, Dornachried
bei Wolpertswende, Burgermoos und Lanquanzer-
moos bei Kißlegg, Rotmoos und Riedmüllermoos
bei Isny, Eisenhammermoos und Gründelmoos
bei Eisenharz. Trotzdem gelang es, in einigen
Mooren günstige Ergebnisse zu erzielen, die einen
Überblick über die Zuwachsverhältnisse ermög-
lichen : Federseeried (Durchschnitt aus 50 Messun-
gen): 7,0 mm, Wurzacher Ried (Durchschnitt aus
41 Messungen): 7,2 mm, Reichermoos (Durch-
schnitt aus II Messungen): 12,4 mm, Rötmoos
bei Wolfegg (Durchschnitt aus 31 Messungen):
14,2 mm, Gründienried bei Kißlegg (Durchschnitt
aus 49 Messungen): 14,7 mm, Hasenmoos bei
Eisenharz (Durchschnitt aus 29 Messungen):
18,6 mm.
Ein Blick auf das beigefügte Kärtchen zeigt,
daß diese Werte gegen das Gebirge zu ansteigen,
ganz entsprechend den zunehmenden Nieder-
schlagsmengen.
An Stellen, an denen das Hochmoor in eine
nasse Sphagnum-Schlenke und weiterhin in offenes
Wasser, Weiher oder See, übergeht , wo also die
Torfmoose weniger von den Niederschlägen ab-
hängig sind und wo Arten herrschen, welche
auch nährstoffreicheres Wasser nicht scheuen , ist
der Zuwachs ein höherer, aber auch ein gleich-
mäßigerer. Ich fand am Holzmühleweiher bei
Immenried 17,6 mm, am Argensee bei Gebraz-
hofen 22,5 mm, am Metzisweiler Weiher bei
Wolfegg 22,8 mm, am Brunnenweiher bei Ein-
türnen 24,4 mm.
Am Hochmoorrand, der gegen ein trockeneres
Flachmoor oder gegen gewöhnliche Sumpfwiesen
ausläuft, wird der Zuwachs geringer. Das Gründlen-
ried, das im zentralen Teil mit buschigen Berg-
kiefern einen Zuwachs von 14,7 mm aufweist,
zeigt an seinem Ostrand auf der Außenseite des
Bestandes baumartiger Spirken nur noch 13,2 mm.
Diese Zahlen reizten zu dem Versuch, das
Alter der Moore zu berechnen. Da infolge der
antiseptischen Wirkung der Torfmoose die Fäulnis-
bakterien ihre zersetzende Wirkung nicht aus-
üben können, bleibt die gesamte Stoffmenge im
Hochmoor erhalten. Darum muß die Bestimmung
des Trockengewichts die nötigen Unterlagen zur
Berechnung liefern.
Als erstes Beispiel wählen wir das durch seine
Pfahlbauten bekannte Federseeried, das eine Hoch-
moordecke von 2 m über die prähistorischen
Bauten geschichtet hat. Wir berechnen das
Trockengewicht des Hochmoortorfs über einer
Grundfläche von i qdm und denken die ganze
Torfsäule in Glieder von je i cdm zerlegt. Die
Übersicht über den Zuwachs in den
oberschwäbischen Hochmoorenj/^'-
,^.«.. A - äußere Jung-Endmoräne
.....^... J - innere
Halbjahrs-lsobyet^H'
(April bis September,|'
in Millimeter).
500
{ ^7,2 mm
'iSOO
• \
14,7 mm\ ,"800
Trockengewichtszahlen dieser Glieder bilden eine
arithmetische Reihe, deren Anfangsglied rund
12 g, deren Endglied lOO g und deren Glieder-
zahl 20 beträgt. Das gesamte Trockengewicht
der Torfschichte ergibt somit 1120 g. Jährlich
wächst nun die Torfmoosdecke um 7,0 mm in
die Höhe, das Trockengewicht nimmt um 0,397 S
zu, und das Alter der ganzen Torfschichte beträgt
2821 Jahre. Der Untergang des Pfahlbaudorfs muß
sich ums Jahr 900 v. Chr. ereignet haben, und unsere
Prähistoriker, welche die Siedlung auf 2200 — 1800
V. Chr. ansetzen, rechnen 900 Jahre zu hoch.
Im Reichermoos wurde die über den Wasser-
spiegel des ehemaligen Sees hinausgewachsene
Torfmasse zu 8 m bestimmt. Wenn wir auch
hier für das i. und 20. Glied dieselben Trocken-
gewichtszahlen einsetzen, erhalten wir für das
710
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5:
80. Glied ein Trockengewicht von 378 g. Das
gesamte Trockengewicht beträgt also 15,6 kg.
Das Reichermoos wächst aber jährlich um 12,4 mm
in die Höhe, sein Trockengewicht nimmt um
0,704 g zu, und zur Bildung des Moores bedurfte
es eines Zeitraums von 22159 Jahren.
Im Wurzacher Ried hat der Torf ein wenig
nördlich vom Schwindelsee eine Mächtigkeit von
8,3 m. Da unter dieser Stelle der mineralische
Untergrund bei 646 m liegt und einerseits bis
gegen den Moorrand hinaus stetig ansteigt und
andererseits gegen den Abfluß hin stetig fällt, der
heutige Abfluß aber an den Hochmoorrand hinaus-
gedrängt worden ist, so daß er die Sphagnum-
Fläche in weitem Bogen umfließen muß, bis er
den Hochmoorrand endlich bei 647 m verlassen
kann, so dürfen wir die bezeichnete Moorschichte
ganz dem Hochmoortorf zurechnen. Unter Be-
nutzung der vorigen Zahlen erhalten wir für das
83. Glied den Wert von 392 g, für das ganze
Trockengewicht 16,766 kg. An der gleichen
Stelle aber wächst das Hochmoor jährlich um
7,2 mm, was einem Trockengewicht von 0,408 g
entspricht, und das Alter des Hochmoors berechnet
sich auf 41093 Jahre.
Beide Hochmoore sind von den Moränen der
Würmeiszeit abgedämmt worden, das Wurzacher
Ried von der äußeren, das Reichermoos von der
inneren Jung Endmoräne. Mit der Altersbestim-
mung der Moore erhalten wir also zugleich das
Alter der abdämmenden Moränen. Dieses beträgt
für die äußere Jung-Endmoräne rund 40000 Jahre,
für die innere rund 20000, Zahlen, die mit den
Schätzungen Pencks recht gut übereinstimmen.
In Oberschwaben gibt es indes auch Hoch-
moore von ganz jugendlichem Alter. So sah ich
im Riedmüllermoos einen Aufschluß, der auf
einer Länge von rund 300 m bei horizontal ver-
laufendem Kiesuntergrund nur eine 80 cm dicke
Hochmoorschichte zeigte, ohne Ausbildung von
Faulschlamm- und Flachmoorbildungen. Nach
den Einschlüssen der untersten Schichte war das
Hochmoor aus einem Fichtenwald hervorgegangen.
Wenn wir den Zuwachs des benachbarten Hasen-
mooses und die bisher gebrauchten Trocken-
gewichtszahlen in die Berechnung einsetzen, er-
halten wir für seine Bildung einen Zeitraum von
213 Jahren. Die Vermoorung des Fichtenwaldes
hat sich also im Anfang des 18. Jahrhunderts
vollzogen.
Einzelberichte.
Vom Nördlinger Ries.
Eines der interessantesten Probleme der Geo-
logie Europas, ja der ganzen Erde ist die Deu-
tung der verworrenen Lagerungsverhältnisse im
Nördlinger Ries und seiner Umgebung. Aber
auch die Pflanzenkunde und die Vor- und Früh-
geschichte dieses Landstrichs bieten ungewöhn-
lich viel Eigenartiges, ebenso wie die landschaft-
lichen und kulturellen Reize über das gewöhnliche
Maß hinausgehen. Ist doch z. B. die alte Reichs-
stadt Nördlingen mit ihren malerischen Straßen,
Bauten und wohlerhaltenen mittelalterlichen Be-
festigungen geradezu ein Schmuckstück echt
deutscher Baukunst. Es bleibt das Verdienst des
jetzigen i. Bürgermeisters von Nördlingen, Dr.
Otto Mainer sowie der Vereine für Volksbil-
dung in Stuttgart und Nördlingen, dies und vieles
andere auf der Rieser Heimatwoche vom
22. — 31. Juli 1922 in das rechte Licht gerückt
und weiteren Kreisen zugänglich gemacht zu
haben. Zahlreiche heimatliche Ansprachen, ge-
meinverständlich-wissenschaftliche Vorträge und
Exkursionsführungen erläuterten die Verhältnisse,
und das gesamte Material liegt nunmehr in einem
stattlichen Band, dem „Ries er Heimat buch"
vor, ') dem wir aus den einzelnen Gebieten der
Naturwissenschaft auszugsweise folgendes ent-
nehmen :
') Herausgejr. v. d. GescUsch. f. Volksbildung Nörd-
lingen. C. H. Becksche Vcrlagsbucbh. O. Beck. München
1922, mit 446 S., 4 Taf., I Fundkarle u. zahlreichen Textfig.
Eingeleitet wurden die Vorträge durch den
von Walter Kranz über den „geologischen
Aufbau und Werdegang des Nördlinger
Rieses"') mit anschließender Exkursionsführung
in einen Teil des weiten Beckens, das fast kreis-
rund mit 21 bzw. 24 km Durchmesser in die
umgebende Juratafel der schwäbisch - fränkischen
Alb eingesenkt ist. Schon in der Umgebung der
Wanne erkennt der Geologe zahllose Abweichun-
gen vom gewohnten, nur wenig gestörten Bau
der Alblandschaft, auf dem „Vorries" liegen in
wechselnder Entfernung bis zu 24 km vom Becken-
rand ortsfremde Massen älterer Gesteine des
Grundgebirges und namentlich vom Mesozoikum,
sehr wahrscheinlich alle aus dem Untergrund des
Rieses selbst stammend, sowie als Vertreter echt
vulkanischer Gesteine viele Vorkommen von
Suevit. -') In der weiten Senke sind die Lage-
rungsverhältnisse dieser gleichen Gesteine womög-
lich noch verwickelter, jeder neue Autschluß fast
bringt unberechenbare Überraschungen. Und
schließlich weisen Kalk-, Schlick- sowie Braun-
kohlenablagerungen mit Überresten einer Süß-
wasserfauna und deutlichen Spuren heißer sprudeln-
der Mineralquellen, daß ein großer See den Ries-
kessel einst ausfüllte. Die geologische Geschichte
des Gebiets läßt sich nun seit der Zeit des Grund-
') a. a. O. S. 25— 6S, mit I Taf., 9 Textlig, u. Sl Litc-
raturanmerkungen.
-) Krüher Trachyt oder Liparit genannt, von A. Sauer
und seinen Schülern als ein bisher nur dem schwäbisch-frän-
kischen Riesgebiet eigentümliches Gestein erkannt.
N. F. XXI. Nr. 5:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
gebirges, des „vindeiicischen" Landes, durch das
Mesozoikum bis zur katastrophalen Entstehung
des Beckens im jüngeren Tertiär ziemlich klar
verfolgen, auch die Ergebnisse dieser letzten Re-
volution der Erdrinde sind in zahlreichen geolo-
gischen Profilen erforscht. ') Über Ursache und
Verlauf der obermiozänen Katastrophe selbst wur-
den aber seit der Zeit des Altmeisters IVIathias
Flurl, der 1805 als erster die vulkanische Natur
des Rieses erkannte, die verschiedensten Ansichten
geäußert.') Während z.B. Deffner (1870) und
Koken (bis 1902) hypothetischen „alten Ries-
gletschern" einen wesentlichen Einfluß auf den
Bau der Gegend zuschrieben, während Schaf-
häutl (1849) nach chemischen und Quenstedt
wie C. Regelmann nach tektonischen Ursachen
suchten, bestätigten alle anderen Riesgeologen
den Vulkanismus als maßgebend bei der Ent-
stehung der Gegend. Aber auch hierin gingen
die Anschauungen wieder z. T. stark auseinander.
V. Gümbel glaubte Tufferuptionen und wahr-
scheinlich auch im Mittelpunkte des Beckens einen
Tuffvulkan zu erkennen, der nach dem Ausbruch
in die Tiefe versank und den Kessel mit seinem
See entstehen ließ: , .Riesvulkan theorie".
Branca und E. Fraas stellten bei Beginn des
20. Jahrhunderts die „Riesbergtheorie" auf, wo-
nach ein Lakkolith zunächst einen gewaltigen
„Granitpfropfen" nahezu senkrecht emporgetrieben
habe, dessen wirr zerbrochene Schollen unter
„Mitwirkung einer großen Kontaktexplosion" durch
schnelle Bergstürze und langsames Abgleiten auf
das Vorries „überschoben" worden seien; später
hätte sich dann das gehobene Gebiet wieder ge-
senkt und den Rieskessel gebildet, möglicherweise
wären auch außerhalb der Wanne kleine Auf
Pressungen, „Miniaturriese" entstanden, von wel-
chen die weitest entfernten ortsfremden Massen
abgerutscht sein sollten. In Anlehnung an
E. Sueß erklärte schließlich W. Kranz seit
1908 die Entstehung des Riesgebiets ohne „Vul-
kan", „Berg" oder Miniaturriese" durch eine ge-
waltige Wasserdampfexplosion, eine riesige vul-
kanische „Fladdermine" (Trichtersprengung) im
oberen Grundgebirge, übertrug damit Erfahrungen
der Sprengtechnik auf den Vulkanismus und stellte
1911 durch Sprengversuch an einem Riesmodell
aus Beton, Sand, Lehm und Zement mit errech-
neter Schwarzpulverladung die Form des Ries-
kessels, Überschiebungen und Aufstreuungen an
seinen Rändern, radiale, konzentrische und andere
Spalten experimentell dar.-')") Zwei von Reuter
1911/12 geologisch angeleitete Tiefbohrungen bei
Nördlingen und Ottingen stimmten mit dieser
„Sprengtheorie" überein, die Bohrung an der
Marienhöhe bei Nördlingen erwies zudem, daß
') Vgl. Darstellung und Lileraturangaben im Rieser
Heimatbuch.
■■ä) Jahresber. u. Mitt. Oberrhein. Geol. Ver. N. F. U, I,
1912, S. 54—65.
■') Vgl. Darstellung und Literaturangaben im Rieser
Heimatbuch.
hier ein zusammenhängender „Granitpfropfen" im
Sinne der Riesbergtheorie nicht vorhanden ist.
Zurzeit lautet das Feldgeschrei: Hie Riesberg- —
Hie Sprengtheorie!
Nach der gewaltigen Katastrophe, welche den
Kessel und die Trümmermassen schuf, folgten die
Suevitexplosionen, sodann Gasaushauchungen, die
Füllung des Beckens durch den großen Ries-See
und dessen Trockenlegung noch im Obermiozän.
Als neue Bildungen entstanden im Diluvium Löß,
Lößlehm, Schwarzerde und feiner Ouarzsand,
z. T. in mächtigen Lagern, unter allmählichem
Einschneiden der Flüsse und Bäche in die ehe-
malige tertiäre Landoberfläche und in das Becken.
Vorwiegend lehmige Alluvionen, Sumpf- und
Moorbildungen sind die jüngsten Zeugen der Erd-
geschichte des Gebiets, dessen Vulkanismus in
Erdbeben nachklingt. ')
Eine Nachwirkung der Vorzeit erkennen wir
ferner in der Pflanzenwelt, wie Hermann
F r i c k h i n g e r in seinem Vortrag „Über die
Pflanzenkunde des Rieses" trefflich er-
läutert. ■-) Je nach den geologischen Verhältnissen
und den dadurch bedingten verschiedenen Boden-
arten läßt sich hier z. B. eine Flora der trockenen
Tonkalkheide auf bewaldeten Höhen im Becken
und an seinen Rändern erkennen, eine Flora der
alluvialen Wiesen und Bachränder, der Jurabuchen-
wald , durch Erosion der Vorzeit bedingter Mul-
den-, Schlucht- und Felsenwald, eine Flora des
schweren Tonbodens im Westries, des Quarz-
sandbodens östlich der Wörnitz und im Schwalb-
tal, sowie Nachzügler der Eiszeit (je eine /ri's,
I'idiciiliiris, l'irciiiid. Sdlix). Außer diesen
Nachwirkungen der verschiedenartigen Ausnützung
des Bodens durch die Pflanzen wird diese durch
„Das Klima des Rieses" beeinflußt, über
welches uns Ernst Frickhinger unterrichtet.^)
Nach elfjährigen Beobachtungen seit 1910 beträgt
der mittlere Barometerstand der 435,6 m ü. M.
gelegenen Wetterwarte Nördlingen 723,4 mm, die
mittlere Jahrestemperatur 8,3" C, der Nieder-
schlagsdurchschnitt 597,2 mm (ohne Berücksichti-
gung der trockenen Jahre 1920 und 1921 —
638,2 mm). Am häufigsten ist Westwind, Ge-
witter teilen sich oft am Riesrand und umgehen
den Kessel auf 2 Seiten , nur ein geringer Teil
und dann meist schwere Gewitter ziehen durch
die Wanne hindurch. Im ganzen ist das Klima
gesund unf für Ackerbau sehr günstig.
Ernst Frickhinger hielt ferner einen
Vortrag über „Die Vor- und Frühgeschichte
des Rieses",^) Oscar Paret hatte tags zuvor
eine vorgeschichtliche Exkursion auf den württem-
bergischen Rand der Senke geführt. ^) Danach
') Vgl. Darstellung und Literaturangaben im Kieser
Heimatbuch.
^) Rieser Heimatbuch S. 08 — 84.
^) Ebenda S. 85—88. Vgl. auch A. Bechtle, Das
Klima des Rieses und seiner Umgebung. Nördlingen 1907.
*) Rieser Heimatbuch S. 88—146, mit I Taf., 2 Textfig.
und I Fundkarte.
■'') „Goldberg und Ipf", a. a. U. S. 146 — 154.
712
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 52
beginnt die Besiedlungsgeschichte des Gebiets
mit dem jüngeren Paläolithikum, dessen sämtliche
Stufen in den Ofnethöhlen bei Hohlheim vor-
handen sind; weitere Zeugen dieser Zeit wurden
im Hohlenstein bei Edernheim und am Kauferts-
berg bei Lierheim gefunden. In der Ofnet haben
wir den ersten Fall von Rassenmischung: Rund-,
Langkopfform und Mischung beider, die Birnform
der Schädel der Pfahlbauern, deren Vorfahren wir
in den Ofnetleuten erblicken können. Aus den
Niederungen der Eger und Wörnitz ist kein vor-
geschichtlicher Fund bekannt, während das übrige
Ries durch das ganze Neolithikum hindurch stark
besiedelt war. Zahlreiche Fundpunkte geben da-
von Zeugnis, darunter wieder Ofnet, Hohlenstein
und Kaufertsberg ; auf dem Goldberg fanden sich
Befestigungen und in Schwarzerde eine Siedlung
aus dieser jüngeren Steinzeit, mit der Keramik
der „Tulpenbecher" (Beutelstil) und Gefäßen im
Körbchenstiel („Rössener Kultur"), im übrigen
finden wir ein Ineinanderfließen der „Band"- und
„Schnur- Keramik" (Gefäße mit Bandmustern und
mit Eindrücken von Schnüren verziert). Beim
Hohlenstein deuten die Fundumstände auf Men-
schenfresserei hin. Aus der reinen Kupferzeit
fand sich im Ries bis jetzt lediglich ein Kupfer-
beil mit 3 Goldringen bei Wechingen, dagegen
sind aus der Bronze- und älteren Eisenzeit wieder
zahlreiche Funde bekannt, die u. a. von der Kultur
in der Hallstatt-, Latene-, Römer-, Alemannen-
und Merovingerperiode zeugen. Während der
ersten Eisen (Hallstatt-)zeit war der Sprudelkalk-
felsen des Goldbergs abermals besiedelt und stark
befestigt, gleichzeitig trug auch der hohe Ipf eine
umwehrte Siedlung (ca.900 — 500 v.Chr.). F'rick-
hinger rechnet die Zeit von 2000— 1200 v.Chr.
zur Bronzeperiode der Riesgegend, ca. 6000 — 2000
v. Chr. zum Neolithikum, die Ofnetschädel (Mas
d'Azilstufe des jüngeren Paläolithikum) etwa
10000 V. Chr.; eine Erstbesiedlung des Rieses
müßten wir dann noch etwa 10 — 200GO Jahre
zurückverlegen, was aber um so unsicherer wird,
je weiter wir zurückgehen. Die Besiedlung und
z. T. hohe Kultur seit der älteren Steinzeit muß
ein Vorhandensein von Sumpf und Urwald in
größerer Ausdehnung innerhalb des Rieses wohl
ausschließen.
Mit eingehenden statistischen Nachweisen er-
läuterte sodann Friedrich Zahn in seinem Vor-
trag über „Die volkswirtschaftliche Be-
deutung des Rieses"') den maßgebenden
Einfluß des Bodens auf die Volkswirtschaft, die
entsprechend der außergewöhnlichen Fruchtbar-
keit namentlich der Lehmdecke westlich der
Wörnitz im Ackerbau gipfelt. Deutlich hebt
sich die etwas geringere Ertragfähigkeit des
Quarzsandbodens östlich der Wörnitz und der
Kalkränder des Beckens ab, im ganzen ist das
Gebiet aber durch seinen fruchtbaren Boden, die
nicht allzu reichlichen Niederschläge und die aus-
gezeichnete Belichtung zum Überschußgebiet, zur
„zweiten Kornkammer Bayerns" geworden, beson-
ders begünstigt für Getreidebau und Hackfrüchte,
weniger für Wiesenkultur und Obstbau. Von
sonstigen Bodenschätzen ist der vulkanische Suevit-
tuff als Baustein und in Form von „Trass" als
hydraulischer Mörtelbildner seit langem in Ge-
brauch, der Trass könnte aber noch in größerem
Umfang als bisher ausgewertet werden. Ob die
Braunkohlenlager im Riesbecken Förderung der
Volkswirtschaft versprechen, ist mehr als fraglich,
ebenso wie der neuerdings versuchte Abbau von
Eisenerzen. Dagegen sind die natürlichen und
kulturellen Reize der Landschaft und die geologi-
schen Eigentümlichkeiten entwicklungsfähige
Werte für den Fremdenverkehr; namentlich der
Naturwissenschaftler wird hier reichste Anregung
finden.
Major a. D. Dr. W. Kranz, Stuttgart.
Zur Wüiischelruteufrage.
Im trockenen Sommer 1921 hatte ich aus-
giebige Gelegenheit, über die Wünschelrutenfrage
vom praktischen Standpunkt eingehende Beob-
achtungen zu machen.') Mehrere württember-
gische Gemeinden versuchten damals, auf Grund
von Rutenansagen Wasser zu erschließen. Da ich
in den betreffenden Gebieten nicht nur die geo-
logischen Verhältnisse bei meinen amtlichen Auf-
nahmen im Maßstab 1:25000 kennen gelernt
hatte, sondern auch die Aufschlüsse genau ver-
folgte, welche die Gemeinden auf den Rat der
Rutengänger ausführen ließen, und da ich großen-
teils auch die Gedanken der Rutenleute nach
deren eigenen Aussagen und nach Beobachtungen
von Augenzeugen in Erfahrung bringen konnte,
dürften meine tatsächlichen Feststellungen die
breite Öffentlichkeit interessieren, wenn sie sich
auch nicht verallgemeinern lassen.
Ich halte es für zweifellos, daß bei sorgfältiger
Ausschaltung suggestiver iVIomente der ehrlich
von seiner Kunst überzeugte und psychisch dazu
geeignete Wünschelmann — Damen einbegriffen
— irgendwelche Reaktionen empfangt und durch
seine Nerven und Muskeln mit seinem Instrument,
der Holz- oder Metallrute, einer Art Pendel (?) usw.
sichtbar macht.-') Aber die vielen falschen Deu-
tungen dieser Reaktionen lassen die einsei-
tige Verwendung des Phänomens, selbst in der
Person der besten und erfahrensten Medien, vom
praktischen Standpunkt als nahezu wertlos er-
scheinen. Dazu kommt, daß sich nicht bloß phä-
nomenale, sondern auch recht minderwertige Me-
dien und außerdem Schwindler dieser Kunst be-
fleißigen, so daß oft nur der Psychiater die Spreu
') a.a.O. S. 205 — 258, mil 4 graphischen Darstellungen.
') W. Kranz, Zur Klärung der Wünschelrutenfrage,
Zeitschr. f. prakt. Geologie, 29. Jahrg. 1921, Heft 11 und
30. Jahrg. ig22, H. 3 u. 4, ü Textfig. ; Zur Wünschelruten-
fragc, Stuttgarter Neues Tagebl.att Nr. 381 vom 19. S. 1922.
''] Vgl. K. Scheminsky, Moderne Probleme der Elektro
biologie, Naturw. Wochenschr. 1922, Nr. 40, besonders S. 545.
N. F. XXI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
713
vom Weizen zu scheiden vermag, und zunächst
einmal der Anatom des Untergrundes, der Geo-
loge, über die Möglichkeit ihrer Angaben
Auskunft erteilen muß, wenn der Auftraggeber
nicht von vornherein viel Geld und Zeit für Erd-
arbeiten übrig hat. Vorläufig sind wir noch nicht
so weit, in den allermeisten Fällen arbeiten mehr
oder minder begabte Rutengänger neben Schwind-
lern allein, und das nutzlos auf den Rat von
Rutengängern bei Erdarbeiten, Bohrungen usw.
hinausgeworfene Geld beläuft sich in die Hundert-
tausende. Dem entsprechen meine Erfahrungen
1921. Ich beobachtete 7 Einzelfälle, an denen
5 Gemeinden und eine Wasserversorgungsgruppe,
sowie 10 Rutengänger beteiligt waren. Namen
werden nicht genannt, um dem an sich schon
heftigen Streit der Meinungen die persönliche
Spitze zu nehmen, die Beteiligten können aber
aus meinen eingehenden und mit Skizzen be-
legten Darstellungen ihren Einzelfall unschwer
erkennen. In fast allen Fällen konnte ich an
Hand der Aufgrabungen und in Verbindung mit
den amtlichen geologischen Aufnahmeergebnissen
entweder gänzliche Unkenntnis oder Verkennung
der natürlichen Verhältnisse des Untergiundes
feststellen. So muteten die Rutengänger meist
Linien und angeblich besonders ergiebige Schnitt-
punkte solcher Linien, in Erwartung der bei
ihnen so beliebten „Wasseradern" an Stellen, wo
allenfalls breitere Flächen (Schichten usw.) von
Grundwasser in Frage kamen. In 2 Fällen fand
sich in den angegebenen Tiefen überhaupt nichts,
was auf die gewünschelten Linien oder dergleichen
hätte hinweisen können, in anderen sind die Auf-
grabungen nicht bis zu den entscheidenden Tiefen
vorgedrungen. Einer der Rutengänger, der große
Kenntnisse und Erfahrungen auf geologischem
Gebiet besitzt, war natürlich von solchen Vor-
stellungen unbeeinflußt, dafür, fiel aber seine
Rutenkunst wohl durchweg irrtümlicher geolo-
gischer Voraussetzung und Beurteilung der Auf-
schlüsse zum Opfer, wie der Vergleich seiner An-
sagen mit den tatsächlichen Ergebnissen der Auf-
grabungen zeigt. Besonders charakteristisch war
das Bestreben mehrerer Rutenleute, mit dem
F"ortschritt der Aufschlüsse die Reaktionen der
Rute zu überprüfen und ihre Ansagen zu korri-
gieren: Wenn die vorausgesagten Tiefen unergie-
big blieben, dann sollte einige Meter tiefer ein
besseres Ergebnis eintreten, und wenn das eben-
falls ausblieb, dann müßte man noch weiter ab-
teufen oder an nahe benachbarten Stellen neue
Aufschlüsse beginnen. Teilweise geschah das,
aber die hohen Kosten schreckten schließlich auch
die gläubigsten Auftraggeber von weiteren Ver-
suchen ab, so daß die Partie wissenschaftlich
remis blieb. Auf Bruchteile genaue Zahlenangaben
einzelner Rutengänger über die Ergiebigkeit an
Wasser konnten den Laien verblüffen, für den Geo-
logen war ihre Unmöglichkeit meist schon aus
der Zahlengröße der Voraussage erkennbar.
Autosuggestion hat zweifellos in der Mehr-
zahl dieser Fälle eine große Rolle gespielt. Wo
tatsächlich Wasser unter dem gewünschelten
Punkt erschlossen wurde, hätte man es nach den
geologischen Verhältnissen in ähnlicher Menge
auf breiterer Fläche auch in der Nachbarschaft
aufschließen können, so daß es der Wünschelrute
nicht bedurft hätte. Meist war das Wasser auch
entgegen den Rutenansagen in ungenügender
Menge vorhanden oder von unbrauchbarer Be-
schaffenheit; in einem F'alle hätte es genügt,
seine Erschließung schädigte aber eine unter-
halb gelegene Quellfassung des Auftraggebers
selbst und die seitlich oberhalb gelegene Fassung
einer Nachbargemeinde durch Wasserentziehung.
Im übrigen war der praktische Wert aller
dieser Rutenansagen (1921) gleich Null.
Insgesamt haben die nutzlosen Grabarbeiten, wel-
che auf diese Rutenausschläge hin ausgeführt*
wurden, etwa goooo M. gekostet, eingerechnet
ungefähr 2900 M. Gebühren für die Rutengänger.
Nach solchen Erfahrungen stehe ich einer prak-
tischen Verwendung der Wünschelrute zur Er-
schließung von Bodenschätzen irgendwelcher Art
mit stärksten Zweifeln gegenüber. Grund für
die Versager mag sein, daß das Nervensystem
des Menschen, das ja nach allen bisherigen Fest-
stellungen eine ausschlaggebende Rolle beim
Wünschelrutenproblem spielt, auf viele äußere
Einflüsse reagiert, nicht nur auf solche aus dem
Untergrund. Derartige Fehlerquellen stehen aber
einem praktischen Wert der Rute zum mindesten
im Wege. Doch wird es noch mancher ein-
gehenden Beobachtung und Aufzeichnung von
Tatsachen bedürfen, bis die Frage vollkommen
geklärt werden kann.
Von ganz anderem Standpunkt aus faßt Graf
Carl V. Klinkowstroem die Sache an, wenn
er auch in den Berührungspunkten zu fast den
gleichen Ergebnissen kommt.') Nach kurzen
Angaben über die Rute selbst und ihre Geschichte
gibt er eine kleine Auswahl gut verbürgter und
kontrollierter Wünschelruten er folge wieder, die
eine klare Beurteilung gestatten und höchstens
dem billigen Einwurf des „Zufalls" Raum bieten.
Statistiken dagegen, wie sie Rutengänger zuweilen
veröffentlichen, oder Anerkennungsschreiben der
Auftraggeber erklärt er mit Recht für wissen-
schaftlich wertlos. Der Rutengänger hat es
seiner Ansicht nach den Fachleuten zu über-
lassen, Schlüsse aus den Reaktionen zu ziehen,
er hält die Deutung der Rutenausschläge über-
haupt für einen der schwächsten Punkte im Pro-
blem. Mißerfolge wird „außer dem etwa ge-
schäftlich interessierten Rutengänger selbst nie-
mand leugnen wollen. Denn der menschliche
Organismus ist keine automatisch registrierende
Maschine, sondern allen möglichen Störungen und
Fehlerquellen, namentlich psychischer Art, zu-
') Graf Carl v. Klinkowstroem, Die Wünschelrute
als wissenschaftliches Problem ; mit Anhang: Geophysikalische
Aufschlußmelhoden. Verlag K. Wittwer, Stuttgart 1922.
40 S., 3 Textfig.
714
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 5:
gänglich"; auch die bekanntesten Rutengänger ha-
ben Mißerfolge. „Wunsch, Erwartung, Wille sind
allein schon imstande, die typische Wünschel-
rutenreaktion hervorzurufen, und der Suggestion
wie der Autosuggestion als Fehlerquellen sind
hierbei Tür und Tor geöffnet." Auch bei den
neueren Erklärungsversuchen des Problems durch
Schwankungen elektrischer Erdströme, Radio-
aktivität, Änderungen des Gravitations- , elektro-
statischen, magnetischen und elektromagnetischen
Stellung von Radikalen, die in der Tat wertvolle
Beiträge zur Erkenntnis der chemischen „Valenz"
geliefert haben, ist seitdem mehrfach gelungen.
Wir erinnern an das freie Rhodan ') und das
Ammonium.-') Einen weiteren aufschlußreichen
Beitrag zur vorliegenden Frage bringt nunmehr
W. Schlenk in Gemeinschaft mit H. IVIark,^)
denen die Darstellung des Pentaphenyläthyls,
eines in struktureller Hinsicht nahen Verwandten
des Triphenylmethyls, gelang.
•■'\
C,,H,— C.
+
C„H..-C— C.
-C-QH-,
QH.,^ i
C^H-,— C-C-
C„H.,
in
QH-/
Feldes, des als Ursache suggestiver Fehlschlüsse
besonders wichtigen Reaktionsablaufs im Nerven-
system, durch Deformation im elektrischen Feld
bedarf es nach v. Klinkowstroem noch weiterer
Klärung. Schon die Tatsache, daß es sich bei der
Rutengabe „um Eigenschaften handelt, die sonst
nur bei Neurotikern beobachtet werden, legt die
Frage nahe, ob die Veranlagung des Rutengängers
etwa überhaupt als eine mehr oder weniger krank-
hafte anzusehen ist", oft „gepaart mit hysterischen
Einschlägen", wenn sich das auch nicht verallge-
meinern läßt. Jedenfalls kann auch über die
praktische Verwendbarkeit der Wünschelrute erst
langjährige Zusammenarbeit von Geologen mit
erfahrenen und zuverlässigen Rutengängern end-
gültig Klarheit schaffen.
Besonders anzuerkennen ist, daß dieser gründ-
liche Kenner der Wünschelrutenliteratur dann in
diesem Zusammenhang auf die „volkswirtschaft-
lich bedeutsamen geophysikalischen Auf-
schlußmethoden" hinweist, die in Deutsch-
land ausgebildet wurden und „geeignet erscheinen,
mit weit größerer Sicherheit als der
Rutengänger die Schürftätigkeit des Geologen
und Bergmanns in wirksamster Weise zu unter-
stützen": Magnetische und Schwerkraftmessungen,
elektrische Methoden, Beobachtung elastischer,
durch Explosionen erzeugter Wellen und Messung
der Verteilung radioaktiver Stoffe und Strahlungen.
Major a. D. Dr. ,W. Kranz, Stuttgart.
Freies PentapheiijiJithjl , eiu Beitrag zur
Kenntnis der Natur der eheniischen Valenz.
Seit der Entdeckung des Triphenylmethyls
durch Gomberg, die zum ersten Male die
Existenz dreiwertigen Kohlenstoffs bewies,
hat sich die Experimentalchemie mit besonderem
Nachdruck der Erforschung sogenannter „Radikale"
gewidmet. Liegt es doch im Wesen des Radi-
kals, also eines zunächst rein gedanklich ge-
wonnenen Bruchstücks von größeren Molekülen,
daß es in irgendeiner Weise die „Bindung" mit
dem Molekülrest erkennen lassen muß. Die Dar-
Die Darstellung des neuen Stoffes geschah
analog der des Triphenylmethyls, indem man
aus Benzophenonchlorid und Triphenylmethyl-
natrium das Octaphenylpropan (III) dar-
stellte, das erwartungsgemäß in Fentaphenyläthyl
(II) und Triphenylmethyl (I) dissoziierte, ein Re-
aktionsverlauf, der oben formuliert ist. Das der-
art entstehende Fentaphenyläthyl stellt in festem
Zustande schöne schwach metallisch schimmernde,
goldgelbe Kristallschuppen dar, die in Benzol
und Äther löslich sind. Die Farbe dieser Lö-
sungen ist ein reines lichtes Rot: die Absorption
erstreckt sich, laut Abbildung des Absorptions-
spektrums im Original, von 680 bis 545, mit
Ausnahme eines ausgeprägten Bandes bei 650.
Schüttelt man die Lösungen an der Luft, so ent-
färben sie sich. Das bedeutet, daß der an sich
ja ungesättigte Stoff oxydiert wird. Da ferner
die Entfärbung endgültig ist und nicht, wie
bei Lösungen von Triphenylmethyl wiederkehrt,
so muß der neue Stoff in Lösung völlig m o n o -
molekular, also wirklich als reines freies Radi-
kal vorhanden sein. (Beim Triphenylmethyl
nimmt man bekanntlich Gleichgewichte in Lösung
an. Ref.) Die Molekulargewichtsbestimmung be-
stätigte diesen Schluß durchaus. Des weiteren
addiert der Kohlenwasserstoff äußerst leicht Chlor,
wobei sich Pentaphenylchloräthan bildet, aus dem
sich mit Silberpulver das Chlor entfernen und
das Radikal zurückgewinnen läßt. Endlich wirkt
der Stoff auch auf Natriumamalgam ein dergestalt,
daß sich Pentaphenyläthylnatri um bildet. Alle
diese L'msctzungen sind nur möglich, wenn es
sich wirklich um das vermutete Radikal handelt.
Selbstverständlich erfordert die Darstellung den
sorgfältigsten Ausschluß von Luft, Kohlendioxyd
und Wasser. Die bekannte elegante Methodik
Schlenks hat hier einen neuen großen Erfolg
zu verzeichnen.
Man hat also im Fentaphenyläthyl ein neues
') Vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. XIX, S. 138. 1920.
-) Vgl. Naturw. Wochenschr. N. K. XXl, S. 14 und
54. 1922.
■') Ber. d. U. Chcin. Gesellscli. 55, S. 22S5. 1922.
N. F. XXI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
715
Beispiel dafür, daß chemische Radikale mit „freien
Valenzen" unter gewissen Vorsichtsmaßregeln
stabil sind. Über die allgemeine Bedeutung dieser
Tatsache spricht sich Seh lenk etwa wie folgt
aus. Man nimmt heute in der Regel an, daß die
Verknüpfung zweier Atome durch linear gerich-
tete Affinitätskräfte bewirkt wird, die, von beiden
Atomen ausgehend, einander das Gleichgewicht
halten. Dem physikalischen Grundsatz actio = re-
actio entsprechend nimmt „gefühlsmäßig" wohl
die Mehrzahl der Chemiker an, daß hierbei von
beiden Liganden je die gleichen Affinitäts-
beträge ausgehen. Der Gedanke, daß etwa die
starke Affinitätswirkung des einen Atoms eine
schwächere des anderen kompensieren könne,
ist hiermit offenbar nicht vereinbar. Dennoch
zwingt er sich bei der Betrachtung der am Penta-
phenyläthyl beobachteten Erscheinungen auf.
Während nämlich das Triphenylmethyl (I) in
Lösung, wie oben erwähnt, nur zum Teil in
monomolekularer Form, also als wirklich isoliert
bestehendes Radikal, vorhanden, zum anderen
aber zum Duplum, dem Hexaphenyläthan, zu-
sammengetreten ist, befindet sich das Pentaphenyl-
äthyl, wie beschrieben, in Lösung völlig als
Radikal, ohne daß Assoziation nachweisbar wäre.
Nun kann offenbar der neue Stoff als ein Derivat
des Triphenylmethyls aufgefaßt werden derart,
daß man sich im Triphenylmethyl einen Phenyl
rest durch den Tryphenylmethylrest ersetzt denkt:
^ — C
C-.
In beiden Fällen bleibt also im Sinne der her-
kömmlichen Auffassung, wie sie auch in den
Formeln zum Ausdruck kommt, eine Valenz
des Kohlenstoffs ungesättigt, „frei". Käme nun
in einer solchen der vier Kohlenstoffvalenzen
immer der für das C - Atom kennzeichnende
gleiche Affinitätsbetrag zur Wirkung, so müßte
das Verhalten der beiden Radikale in Lösung
gleichartig sein. Statt dessen treten, wie wieder-
holt sei, die kleineren Radikale des Triphenyl-
methyls leicht und zu einem ansehnlichen Be-
trage zum gesättigten Hexaphenyläthan zusammen,
die Pentaphenyläthylreste aber bleiben monomole-
kular nebeneinander bestehen! In dieselbe Rich-
tung weist das ziemlich unbeständige Verhalten
des Pentaphenylchloräthans, das sich (s. o.) leicht
zu dem neuen Radikal zurückbilden läßt, während
andererseits das Triphenylchlormethan eine recht
stabile Verbindung darstellt. „Diese Tatsachen
zwingen zu dem Schluß, daß bei einer C — C-Bin-
dung die beiden Atome in bezug auf die Beteili-
gung ihrer bindenden Energie nicht gleichmäßig
beansprucht sein müssen."
Nun handelt es sich nach der Auffassung, die
insbesondere die heutigen Physiker im Anschluß
an Bohr und Rutherford entwickelt haben,
sowohl im Falle des neuen Radikals wie seiner
konstitutionellen Muttersubstanz um eine freie,
ungesättigte Valenz, d. h. um den quantitativ ein-
deutig bestimmten Betrag der elektrostatischen
Ladung eines Elektrons. Die Erfahrung zeigt
aber, daß die nach der modernen Theorie zu er-
wartende Kraftäußerung ganz und gar nicht die
gleiche ist. Und so wie in dem hier näher
beschriebenen Falle liegen die Verhältnisse in
„unzählig" vielen anderen. Schlenk kommt
daher zu der sehr bemerkenswerten und aus dem
Munde eines so vorsichtigen und erfahrungsreichen
Forschers doppelt bedeutungsvollen Folgerung,
„daß in dem modernen Bestreben der heutigen
Physik, unsere chemischen Bindungen in mög-
lichst einfacher Weise durch altbekannte physi-
kalische Kräfte zu erklären, zunächst eben nur
eine Seite des Gegenstandes getroffen ist, wäh-
rend die andere Seite, d. h. alle sonst noch mit-
spielenden F'aktoren, als eben heute quantitativ
noch nicht formulierbar zu sehr außer acht ge-
lassen werden."
Der Berichterstatter hat mehrfach ähnlicher
Auffassung Ausdruck gegeben ') und aus dem
Empfinden heraus, dem Schlenk nun sehr ent-
schiedene Worte gibt, die mehr oder minder auf
Rechnung aufgebauten Formulierungen der Phy-
siker in einer früheren zusammenfassenden Dar-
stellung ") über das Wesen der chemischen Valenz
geflissentlich nicht berücksichtigt. Schlenk geht
in seiner Ablehnung der einseitig physikalischen
Spekulationen sogar soweit, insbesondere die in
manchen Kreisen sehr überschätzten Vorstellungen
W. Kossels als für den Chemiker „unbefrie-
digend" zu bezeichnen, weil sie „die zweite Seite
der Natur des Impulses zur Bildung einer chemi-
schen Bindung, die chemische Verwandtschaft, zu
sehr außer acht lassen." H. Heller.
Notiz über eiue dauerhafte Silbervitamin-
verbindiiug.
Einen bemerkenswerten Befund gibt in einer
vorläufigen Mitteilung A. Seidel 1 bekannt.^) Der
Verf. schüttelte Bolus während i Stunde mit fil-
trierter Brauhefe, wusch und trocknete den Bolus
und fand diesen alsdann beträchtlich aktiv. Der
Bolus hatte also das in der Hefe enthaltene „Vi-
tamin" gebunden. Mit gesättigter Bariumhydr-
oxydlösung ließ sich das Vitamin dem Bolus ent-
ziehen. Wurde nun das Filtrat schwefelsauer
gemacht und durch aufeinanderfolgende Behand-
lung mit Bleiazetat und Schwefelwasserstoff eine
weiße Ausscheidung von Nichtvitaminsubstanz be-
wirkt, so lieferte das Filtrat hiervon beim Ein-
') Vgl. z. B. Naturw. Wochenschr. N, F. XXI, S. 383. 1922.
-) „Die chemische Valenz in heutiger Auffassung" v. Ref.,
Naturw. Wochenschr. N. F. XVIIl, S 273. 1919.
^) United States Public Health Reports 36, S. 665. 1921.
7i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 52
dampfen im Vakuum ein trocknes Produkt,
das seine antineuritischen Eigenschaften unbe-
grenzt behielt. Aus diesem Extrakt von R o h -
vitamin ließ sich mit Silbernitrat eine in Wasser
schwerlösliche Silberverbindung fällen, die nach
dem Trocknen noch völlig antineuritisch wirkte!
Der Silbergehalt betrug rund 55 ",'0. Aus 300 g
aktiviertem Bolus wurden so 0,7 g der hochwer-
tigen Silbervitaminverbindung erhalten.
Sollte sich die (aus Amerika stammende) Nach-
richt bestätigen lassen, so läge hier die Möglich-
keit einer näheren Erforschung der noch ganz
rätselhaften „Vitamine" vor. H. Heller.
Pikrocrociu, ein Glukosid des Safrans.
Die unter dem Namen „Safran" wohlbekannten
Narben von Crocus sativus sind trotz ihrer schon
altbekannten Anwendung chemisch noch nicht
erforscht in dem Sinne, daß man aus den natür-
lichen Sorten dieses Präparates seine charakte-
ristischen Bestandteile rein isoliert hätte. Das
ist um so auffallender, als gerade der Safran wie
kaum eine andere Droge Verfälschungen ausge-
setzt ist. Sowohl dem Pharmakologen wie dem
Nahrungsmittelchemiker kommt darum eine Ar-
beit von E. Winterstein und J. Teleczky')
entgegen, die als die erste einer Reihe systema-
tischer Untersuchungen über den Safran die Iso-
lierung wenigstens eines kennzeichnenden Bestand-
teils jenes Gewürzes beschreibt.
Im Jahre 1884 gewann Kayser durch Ather-
extraktion des Safrans eine bei 75 '^ schmelzende
Substanz, die er als einheitlich ansah und mit
dem Namen Pikrocrocin belegte. In der vor-
liegenden Arbeit wird die Reindarstellung des
Stoffes und ein Hinweis auf seine Konstitution
mitgeteilt. Als Ausgangsmaterial diente Safran
Aquila, aus dem allein der Stoff bisher kristalli-
nisch erhalten wurde. Die Extraktion mit Äther
des vorbereiteten Materials ergab eine sirupöse,
teils kristallinische Masse, die nach entsprechender
Umlösung einen Brei von etwa 3 mm langen
glänzenden Kristallen lieferte. Die Ausbeute hier-
von betrug 3,6"/^.
Die harten Kristalle des im reinen Zustand
fast farblosen Pikrocrocins schmelzen bei 154 bis
155", sind in Wasser und Alkohol löslich und
drehen die Ebene des polarisierten Lichts um
— 50,3 ". Zu bemerkenswertem Ergebnis führte
die Behandlung des Stoffes mit heißen Säuren
oder Laugen. Hierbei spaltet sich das Pikrocrocin
in einen Zucker (zu etwa 50 %) und in ein äußerst
stark nach Safran duftendes hellgelbes Öl. Dieses
optisch inaktive ' )1 reagierte sauer, ließ sich durch
Destillation reinigen und als einheitlicher Stoff
kennzeichnen. Weitere Einblicke in seine Struk-
tur waren bisher nicht möglich, doch steht fest,
daß es sich um ein Keton, wahrscheinlich um ein
zyklisches Kcton handelt. Da das Öl so stark
nach Safran duftet, daß der Duft noch lange an-
haftet und dem Beobachter die Tränen in die
Augen trieb, so dürfte es sich hier um den eigent-
lichen Duftstoff des Safrans handeln. Mit dem
Safran färbst off, dem Crocin, hat er nichts ge-
mein. (Was nahelag, dennoch hervorgehoben zu
werden verdient im Hinblick auf einen groben
Irrtum Hennings, der in seiner Monographie
„Der Geruch" [Leipzig 19 16] Duft und Farbe des
Safrans dem gleichen Stoff zuschreibt, woraus
dann weittragende Folgerungen gezogen werden. H.)
H. Heller.
Der Gerbstoff der einheimischen Eichen.
In einer früheren Mitteilung hatten K.Freuden-
b e r g und H. Wa 1 p u s k i einige Angaben über die
Zusammensetzung des Gerbstoffes der Edelkastanie
gemacht.') Im Verlauf der Untersuchung stellte
sich nun heraus, daß die Blätter der einhei-
mischen Eiche den gleichen Gerbstoff in weit
bequemer zugänglicher Form enthalten. Damit
ergab sich ein neuer Weg zur Gewinnung und
Untersuchung des reinen Gerbstoffes, über den
soeben eine kurze Beschreibung erschien, die
Freudenberg in Gemeinschaft mit E. Vol-
brecht veröffentlicht.-)
Zur Untersuchung gelangten frische Blätter
von Quercus pedunculata, nachdem sich gezeigt
hatte, daß nur die unverwelkten Blätter ein ge-
eignetes Ausgangsmaterial darstellen. Die Blätter
wurden abgekocht und der Extrakt mit Bleiessig
gefällt. Der Gerbstoff erscheint alsdann in Form
seiner Bleiverbindung, die leicht zu dem freien
Gerbstoff zersetzt werden kann. Mittels Essig-
äther konnte beigemengte freie Ellagsäure ent-
fernt werden. Es hinterblieb der Gerbstoff, be-
gleitet von seinen eigenen Kondensationsprodukten.
Diese überwiegen in der Rinde weitaus; deshalb
ist die Rinde kein geeignetes Ausgangsmaterial,
wie schon Feist gefunden hat. Da der Gerb-
stoff in keiner Weise in verschiedene Bestand-
teile zu zerlegen war, so konnte er als rein an-
gesehen werden. Er stellt ein amorphes, rotgelbes
Pulver dar, das in Wasser, Alkohol und Azeton
leicht löslich ist. Die Analyse ergab einen Gehalt
von 50 "/o Kohlen- und 4"/,, Wasserstoff. Der
Stoff dreht polarisiertes Licht um 35" nach links
und stellt eine starke Säure dar. Die Spaltung
mit verdünnter Säure lieferte etwa 5"/,, Glu-
kose, die also im Eichengerbstoff gebunden ist.
Verdünnte Alkalien spalten etwa 25",, Ellag-
säure, einen ständigen Bestandteil der Gerb-
stoffe im allgemeinen, ab. Schließlich hinterblieb
eine noch immer saure amorphe Masse, der die
Entdecker den Namen Quere ussäure beilegen.
Der Eichengerbstoff ist das Glukosid der Ouercus-
säure, die mit Ellagsäure zu einem sogenannten
Depsid verestert ist.
') Helvetica Chimicu Acta 5, S. 370. 1922.
') Ber. d. D. Chem. Gesellsch. 54, S. 1698. 1921.
2) Ebenda 55, S. 2420. 1922.
N. "F. XXI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
717
Die Quercussäure ist an sich schon gerbstoff-
artig, aber optisch inaktiv und bisher in keiner
Weise in Spahstücke zu zerlegen gewesen. Ihr
Molekulargewicht beträgt etwa 800, während sich
das des Gerbstoffes zu etwa 1 100 berechnen ließ.
Der Gerbstoff ließ sich auf noch eine andere
Weise isolieren. Unter bestimmten Bedingungen
gedeiht auf den Extrakten der Pilz Aspergillus
niger. Dieser erzeugt Tan nase, die ihrerseits
den Abbau des Moleküls auf fermentativem Wege
bedingt, wobei, was wichtig ist, die Quercussäure
nicht verändert wird. Des weiteren konnte ge-
funden werden, daß die Fruchtbecher-Gallen
von Quercus pudunculata denselben Gerbstoff wie
die Blätter enthalten. Demgemäß setzte man
diesen ergiebigen Rohstoff der Einwirkung des
Pilzes bei beschränktem Luftzutritt aus, was nichts
anderes als eine Nachahmung eines technischen
Prozesses ((ialläpfelfermentation) ist. Man gelangte
auf solche Art zu größeren Mengen Quercussäure,
so daß deren Strukturerforschung in Angriff ge-
nommen werden kann. H. Heller.
Über einige Produkte der unvoUstiindigen
Verbrennung.
K.A.Hof mann und E. Will veröffentlichen
einige Beiträge zur Kenntnis des Abbaus von
Kohlenstoffverbindungen durch die Oxydation
mittels Luftsauerstoff. ^) Zu ihren Versuchen ver-
wendeten sie das an sich bekannte Prinzip der
umgekehrten Flamme. Dadurch, daß Luft
in einer Dampfsphäre des brennbaren Stoffes
brennt, ist ein Unterschuß des zu völliger Ver-
brennung notwendigen Sauerstoffes vorhanden,
so daß der Verbrennungsvorgang zwangläufig
unvollständig verläuft. Die Dämpfe des brenn-
baren Stoffes nebst den Produkten ihrer unvoll-
ständigen Verbrennung wurden alsdann durch
einen Kühler geführt. Hier kondensierten sich
Dämpfe und schwerflüchtige Anteile, und nur die
gasförmigen Anteile entwichen. Man leitete sie
durch eine Reihe von Absorptionsgefäßen und
bestimmte aus den darin nachweisbaren. Um-
setzungsprodukten Art und Menge der Verbren-
nungsprodukte. ^)
Das Ergebnis war auffallend : in den meisten
Fällen und in der Hauptsache bildet sich bei un-
vollständiger Verbrennung Azethylen, sodann
Blausäure. So wurden aus je 100 g der durch
die Luftflamme zersetzten Kohlenstoffverbindung
an Azethylen in g erhalten: aus Benzol 5 g,
Phenol 4,4 g, Anthracen 1,6 g, Urteer aus Stein-
kohlen der Zeche Matth. Stinnes 4 g, Chinon i g,
Hexan 2 g. Die Bildung des Azethylens ist in
der Mehrzahl der Fälle wohl thermischer Natur.
Deshalb zeigen Benzol, Phenol und Urteer so
hohe Ausbeuten. Zum Teil aber liegt sicherlich
') Berichte d. Deutsch. Cham. Gesellschaft 55, S. 322S,
1922.
^) Genaue Beschreibung und Illustration der Apparatur
im Original.
oxydativer Abbau vor, wie aus der immerhin
großen Menge Azethylens aus Hexan hervorgeht.
Über die gebildeten Mengen an Blausäure
liegen folgende Zahlen vor: auf je lOO g ent-
standen aus Anilin 3 g, Carbazol bis zu 1,5 g.
Da die Blausäure sehr reaktionsfähig und der
Oxydation besonders leicht zugänglich ist, so sind
die gefundenen Mengen bemerkenswert groß. Es
dürfte sich hier gleichfalls um thermischen und
oxydativen Abbau handeln.
Die hier mitgeteilten Befunde sind, wenn sie
auch noch nicht abschließend genannt werden
können, in mehrfacher Hinsicht wichtig. Theo-
retisch insofern, als man mit ihrer Hilfe vielleicht
den Weg erkennen kann, über den die Verbren-
nung zu den letzten Endprodukten Wasser,
Kohlendi- und monoxyd führt. Dann aber ist
bei genauer Kenntnis der Produkte der unvoll-
kommenen Verbrennung eine Verlustrechnung bei
Verpuffungsmotoren möglich. Endlich aber geht
eines der Hauptaugenmerke der heutigen Feue-
rungstechnik dahin, minderwertige Kohlen durch
unvollständige Verbrennung in Generatoren usw.
in höherwertige Gase und Teere überzuführen.
Für alle diese Zwecke liefern die vorstehenden
Daten erste wertvolle Fingerzeige.
H. Heller.
Rohrzucker in Fingerhutblüten.
Sowohl in den Nektarien tropischer wie ein-
heimischer Pflanzen ist Rohrzucker, zum Teil in
wohlausgebildeten Kristallen, nachgewiesen wor-
den. Daß zu solchen Pflanzen auch der Fingerhut
zählt, war bisher nicht bekannt. Nunmehr ist der
Nachweis hierfür Edm. O. v. Lippmann ge-
lungen. ') Während eines ungewöhnhch heißen
Sommers wurde im Vorgarten eines Thüringer
Wohnhauses beobachtet, daß in den Vormittags-
stunden aus den überhängenden Blütenstauden
einiger kräftiger Fingerhutpflanzen einzelne Nektar-
tropfen auf die Pflasterung des Gartenweges fielen.
Unmittelbar nach dem Auftropfen erstarrten die
Tröpfchen zu einer völlig festen Masse. Schon
einmaliges Umkristallisieren genügte, um sie als
Rohrzucker zu identifizieren. Es waren harte,
glänzende süß schmeckende Kristalle vom Schmelz-
punkt 162". Das Drehungsvermögen der Lösung
(c = 9,5) betrug «p = -|-66,6. Die Lösung lie-
ferte eine Fällung von Strontiumbisaccharat und
ließ sich zu einer Lösung invertieren, die nach
Drehung und Reduktionsvermögen eine solche
gemeinen Invertzuckers war. Der Nachweis des
Rohrzuckers dürfte damit geliefert sein.
H. Heller.
Rotverschiebung und Michelsonscher Versuch.
In der Julinummer des Observatory berichtete
St. John über die neueren Messungen zu den
') Berichte d. Deutsch. Chem. Gesellschaft 55, S. 3038,
^{
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 52
Nachweisen der Relativitätstheorie, der Rotver-
schiebung und dem Michelsonschen Versuch. Er
weist zunächst darauf hin, daß es ganz unstatt-
haft ist, sich auf wenige ausgesuchte Linien be-
schränken zu wollen , so daß die bisherigen Mes-
sungen keineswegs als einwandfrei zu betrachten
sind. Auf dem Mt. Wilson werden gegenwärtig
Messungen an einer großen Anzahl von Linien
vom roten bis zum violetten Ende des Spektrums
vorgenommen, die verschiedenen Elementen an-
gehören und von verschiedener Intensität sind.
Bisher läßt sich als einziger endgültiger Schluß
nur aussagen, daß die Unterschiede zwischen den
Wellenlängen der Sonnen- und der Laboratoriums-
linien nicht auf eine einzige Ursache zurückgeführt
werden können. Erst sehr umfangreiche Messun-
gen und Studien über das Verhalten der Linien
am Sonnenrand, in der Mitte und der künstlichen
Linien werden es ermöglichen , den äußerst ver-
wickelten Komplex verschiedener Ursachen zu
entwirren.
Von dem bekannten Experiment von Michel-
son und Morley wird mitgeteilt, daß es zu-
nächst noch nicht i "/„ der berechneten Bewegung
der Erde durch den Äther ergab. Die Wieder-
holung 1905 wurde an der freien Luft angestellt,
200 Fuß über dem Meere; sie zeigte eine Ver-
schiebung der Interferenzfransen größer als die
Beobachtungsfehler waren. Die damaligen Er-
gebnisse wurden aber nicht veröffentlicht, da man
störende äußere Einflüsse annahm. Zurzeit wer-
den die Versuche auf dem Mt. Wilson wiederholt,
man findet den Betrag von '/in der relativen Be-
wegung, aber merkwürdigerweise überlagert von
einem Betrage von der doppelten Größe der
vorausberechnetet! Periode. Man nahm an, daß
hier vielleicht magnetische Einflüsse von Wirkung
sein könnten, und die Versuche wurden mit
magnetfreien Instrumenten wiederholt, mit dem
gleichen F>gebhis. Bei dieser Lage der Dinge
kann zurzeit überhaupt von keinem Ergebnis der
Versuche geredet werden. Riem.
Lichterscheiuuugen.
Eigentümliche Lichterscheinungen wurden in
Westdeutschland um den I. Februar an mehreren
Stellen beobachtet. Dazu berichtet der Leiter
der La Piatastern warte, Prof. Hartmann, daß
diese offenbar auf den gewaltigen Ausbruch eines
bis dahin unbekannten Vulkans in Chile, am
13. — 19. Dezember 1921 zurückzuführen seien.
Noch in no km Entfernung vom Vulkan fielen
wallnußgroße Brocken nieder, und Staubmassen
bedeckten den Boden. Die Wolke kam in La
Plata am 17. Dezember an, das sind 1400 km Ent-
fernung, so daß sich eine Geschwindigkeit von
4 Sekundenmetern ergibt. Das würde in der
gleichen Richtung verlängert in der Tat Ende
Januar in Westdeutschland ergeben. Es wäre
dies eine Wiederholung der Erscheinungen nach
dem Ausbruch des Krakatau im Jahre 1883, der
damals bekanntlich die mehrere Jahre lang sicht-
baren leuchtenden Nachtwolken im Gefolge hatte.
Riem.
Böcherbesprechungen.
Kayser, Emmanuel, Abriß der allgemeinen
und stratigraphischenGeologie. 3. Aufl.
Enke-Stuttgart 1922.
Das Kaysersche Lehrbuch und der gekürzte
„Abriß" sind viel zu bekannt, um bei Ankündigung
einer Neuauflage einer Gesamtcharakterisierung
zu bedürfen. Daß auch der Umfang des Abrisses
bedrohlich wächst, wurde schon bei der 2. Aufl.
betont, ist aber in der Tat kaum vermeidbar.
Findet doch wirklich nahezu die Gesamtliteratur
von einiger Bedeutung in diesen Werken K a y s e r s
ein Echo. Ein „Nachtrag" referiert sogar ge-
wissenhaft über einige interessantere Neuerschei-
nungen. Die sorgfältig bessernde und aus-
gleichende Hand des unermüdlichen Verf. ist
überall zu spüren. Edw. Hennig.
Schmidt, C. W., Die Herstellung ein-
facher mikroskopischer Präparate
aus dem Tierreich. „Biologische Arbeit",
Heft 12. 55 Seiten 8", 39 Abbildungen im
Text. Freiburg i. Br., Verlag von Theodor
Fisher.
Das Büchlein ist mit dem vom Autor bekann-
ten didaktischen Geschick beschrieben und be-
handelt außer der mikroskopischen Lebendunter-
suchung von Tieren das, was auf Anfänger ge-
wöhnlich eine große Anziehungskraft ausübt: die
Herstellung mikroskopischer Totalpräparate von
ganzen Tieren und von Teilen solcher. Einer
allgemeinen Darstellung der mikroskopischen Tech-
nik, soweit sie für den vorliegenden Zweck er-
forderlich ist, folgen Anleitungen, mit den einzel-
nen Tierklassen zu arbeiten. Wer nach diesem
Buch privatim studiert, wird Kenntni.sse sammeln,
deren Besitz ihn zu tieferem Studium befähigen
wird. V. Franz, Jena.
Das Tierreich. Zweite Auflage. III, 1. Repti-
lien, von Franz Werner. VI, 2. Krebse,
Spinnentiere, Tausendfüße, Weichtiere, Moos-
tierchen, Armfüßer, Stachelhäuter und Mantel-
tiere. Sammlung Göschen, 1922.
Daß auch diese beiden Göschenbändchen
ebenso wie die unlängst hier angeführten „Fische"
in zweiter Auflage vorliegen, ist ein Zeichen, daß
nicht wenige Wissensdurstige auch in diesen
kleinen Quellen Belehrung und Gelegenheit zum
N. F. XXI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
;i9
Nachschlagen suchen. Wer könnte das tadeln;
denn dem geringen Kostenpunkt entspricht nicht
etwa geringe Qualität, höchstens daß die Abbil-
dungen etwas spärlich und zum Teil von be-
scheidener Ausführung, gleichwohl teilweise sehr
klar erläuternd sind. Der Text ist jedenfalls
genau, inhaltreich und gut. In den „Wirbellosen"
allerdings kann er wegen der überwältigenden
Fülle des Stoffes sich nicht über das in einem
guten Lehrbuch Gebotene erheben. Anders bei
den „Reptilien", die ein erster Fachmann dieses
Gebietes schrieb. Selbst wer den Brehmband
des gleichen Autors, Franz Werner, zur Hand
hat, findet in dem Göschenbändchen Ergänzungen
dazu. V. Franz, Jena.
Müller, F. W., Bau und Entwicklung des
menschlichen Körpers. Mit 32 farbigen
Tafeln und Textfiguren. 216 Seiten in zwei
Bänden. Stuttgart 1914, K. G. Lutz' Verlag.
Die beiden vorliegenden Bände bilden einen
Teil eines Werkes mit dem Titel „Der Mensch.
Bau, Leben und Hygiene des menschlichen Kör-
pers", das als 31. Band der „Schriften des Deut-
schen Lehrervereins für Naturkunde" erscheint.
Es ist also ein für den Laien bestimmtes Buch.
Demgemäß ist die Form eine durchaus gemein-
verständliche, obwohl man sagen kann, daß die
ganze Anatomie lückenlos dargestellt ist. Der
Verf. ist ein Fachmann der Anatomie. Darum
braucht kaum noch gesagt zu werden, daß die
Darstellung fehlerfrei ist. Die lateinischen Be-
zeichnungen sind durchweg vermieden, die Ver-
deutschung überall gut gelungen. Die Textabbil-
dungen sind instruktiv, die farbigen Tafeln ver-
mögen selbst verwöhnten Ansprüchen gerecht zu
werden. So wird das Buch seine Aufgabe sehr
gut erfüllen können, den deutschen Lehrern eine
sehr gründliche Handhabe für ihr Anatomiestudium
zu geben. Aber auch sonst möge es allen emp-
fohlen sein, die sich über den Bau und die Ent-
wicklung ihres Körpers unterrichten wollen.
Huebschmann, Leipzig.
Miehe, Prof. Dr. H., Zellenlehre und Ana-
tomie der Pflanzen. Mit 79 Abbildungen.
Durchgesehener Neudruck. Verlag wissensch.
Verleger, Berlin und Leipzig 1921, Sammlung
Goeschen.
In leicht faßlichem und flüssigem Stil werden
die wichtigsten Tatsachen der Zellen- und Gewebe-
lehre behandelt und durch gute Abbildungen er-
läutert. Wächter.
Anregungen und Antworten.
W. Peter-Buenos Aires beanstandet in Nr. 39, S. 535
der Naturw. Wochenschr. den von mir in Nr. 24, S. 335 auf-
gestellten Satz, daß unter den Nachkommen einer Kreuzung
zwischen rezessiver Stammform und dominierender Mutante
die RR -Kinder (die reinen Stammformen) gegenüber den
DR-Kindern (den heterozygoten Mutantenformen) in rapider
Weise zunehmen; das Zahlenverhältnis der Nachlsommen der
Stammform und der Mutante bleibe vielmehr während aller
Generationen konstant. Er glaubt meine abweichende Auf-
fassung auf einen Rechenfehler zurückführen zu müssen. Die
Differenz beruht jedoch nicht auf einem Rechenfehler, sondern
auf einem Mißverständnis. Mein Satz bezieht sich , wie ich
übrigens klar ausgesprochen habe, auf die Nachkommenschaft,
welche aus einer Kreuzung zwischen Mutante und Stamm-
form hervorgeht, während W. Pete r das Zahlenverhältnis von
Mutantenformen und Stammformen in der ganzen Population
im Auge hat. Beides ist scharf auseinanderzuhalten. Inner-
halb der Nachkommenschaft der beiden gekreuzten Formen
ändert sich von Generation zu Generation das Zahlenverhält-
nis von Mutantenformen und Stammformen nach der von mir
angegebenen Formel. Die ersteren treten den letzteren gegen-
über immer mehr zurück. In der ganzen Population bleibt
dagegen das betreffende Zahlenverhältnis unverändert. Zwi-
schen beiden Sätzen findet kein Widerspruch statt. Die Ver-
hältnisse in einem Teilvorkommen können andere sein als in
dem ganzen Vorkommen. Das läßt für die in Rede stehen-
den Verhältnisse gerade das von W. l'eter mitgeteilte Sche-
ma deutlich erkennen. Aus der von W. Peter S. 199 ge-
brauchten Wendung, „daß die Nachkommen der Stammform
und der Mutante während aller Generationen immer in dem-
selben Zahlenverhältnis zueinander bleiben", schloß ich , daß
er von der Nachkommenschaft aus der Kreuzung spreche und
die frühere Platesche Auffassung vertrete, nach welcher in
dieser Nachkommenschaft jenes Zahlenverhältnis konstant sein
sollte. Auch das war ein Mißverständnis.
Die Nachtsheimsche Auffassung (Naturw. Wochenschr.
1921, Nr. 45 und 1922, Nr. 17), daß sich eine dominierende
Mutante in dem von ihm angenommenen Falle auch ohne
Selektionswert durchsetzen könne, ist, soweit die Mendel-
schen Gesetze gelten, von beiden Gesichtspunkten aus, mögen
wir nun die Verhältnisse innerhalb der Nachkommenschaft
aus einer Kreuzung von dominierender Mutante und rezessiver
Stammform oder die Verhältnisse innerhalb der ganzen Popu-
lation in Betracht ziehen, nicht haltbar. Wäre die frühere
Platesche Auffassung, daß in der betreffenden Nachkommen-
schaft aus der Kreuzung die Stammformen und die Mutanten-
formen immer in gleicher Anzahl vertreten seien und daß sich
infolgedessen in der Gesamtpopulation das Zahlenverhältnis
allmählich zugunsten der Mutantenformen verschiebe und
schließlich eine Verbindung zwischen Mutantenformen anzu-
nehmen sei, richtig gewesen, so hätte man wohl auf eine
eventuelle Verdrängung der Stammformen durch die Mutanten-
formen schließen können. Vermehren sich dagegen in der
Nachkommenschaft aus der Kreuzung die Stammformen nach
der von mir aufgestellten Formel, so ist hier eine Verdrängung
derselben durch die Mutantenformen völlig ausgeschlossen ;
außerhalb derselben, in dem übrigen Teil der Gesamtpopula-
tion, kann sie aber auch nicht stattfinden, da hier überhaupt
keine Mutantenformen auftreten. Dieselbe Unmöglichkeit er-
gibt sich von dem von W. Peter geltend gemachten Ge-
sichtspunkt aus, daß in der Gesamtpopulation das Zahlen-
verhältnis von Mutantenformen und Stammformen konstant
ist. Denn wenn dann aucTi, wie es in einem unbesetzten
Gebiete der Fall ist, die Population zunimmt, so bleibt doch
immer eine Verbindung von Mutantenformen mit Mutanten-
formen gleich unwahrscheinlich.
Obgleich es wünschenswert ist, daß diese Verhältnisse
völlig klargestellt, bzw. durch die erwähnten Mißverständnisse
nicht verdunkelt werden, würde ich doch auf deren Erörterung
hier nicht zurückgekommen sein, wenn ich nicht zugleich her-
vorheben möchte, daß die Tatsachen, von welchen Nachts-
heim bei seinen Ausführungen ausgeht, in der Tat auf einen
Weg hinweisen, auf dem man schließlich doch zu der Über-
zeugung gelangt, daß ein Siebdurchsetzen einer Mutante auch
ohne Selektionswert derselben möglich ist. Nur hat Nachts-
heim, wie mir scheint, diesen Weg nicht weit genug verfolgt.
720
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XXI. Nr. 52
Den Ausführungen Nachtsheims lagen die Beobach-
tungen Zelenys zugrunde, dafl die Rückbildung der Augen
bei Drosophila sich schrittweise vollzieht, in dem hier das
zurückgebildete „Bandauge" durch eine weitere Mutation in
das ,, Ultra-Bandauge" (eine noch stärkere Rückbildung) über-
geht. Zweifellos sollte nach der Auffassung Nachtsheims
die Dominanz der Mutante durch eine wiederholte Mutation
unterstützt werden. Das muß der nur zum Teil berechtigten
Kritik \V. Peters in Nr. 39 der Naturw. Wochenschr. ent-
gegengehalten werden. Doch kann die blofie Wiederholung
einzelner, an verschiedenen Orten auftretender Mutationen
nichts helfen. Sie werden, wie sie einzeln auftreten, auch
unfehlbar einzeln eliminiert. Selbst die Verkuppelung der
Augenlosigkeit einer im dunklen Höhlenraum sich einstellen-
den Mutante mit einer Eigenschaft von Selektionswert, etwa
einer erhöhten Leistungsfähigkeit der Antennen, kann an die-
sem negativen Resultat im wesentlichen nichts ändern. Ein
Organisationsvorteil schützt immer nur bestimmten Gefahren-
komple.\en gegenüber; in den anderen kämpft die Mutante
mit den Nichtmutanten auf gleichem Fuße. Darum unterliegt
sie der Wahrscheinlichkeit nach, weil sie hier als einzelnes
Individuum einer Überzahl von Nichtmutanten ohne den be-
sonderen Schutz gegenübersteht. Die Hauptgefahren, welche
sie bei der Entwicklung zu bestehen hat, liegen dabei gerade
auf dem ersten Stück des Weges, wo die Organisationsvorteile
des erwachsenen Tieres , wie die Leistungsfähigkeit der An-
tennen, noch keine Rolle spielen, da sie noch nicht ausge-
bildet sind.
Eine andere Gestalt gewinnen die Dinge, wenn man die
Nach tsheim sehen Gedanken mit der de Vri es sehen Mu-
tationslehre verbindet. Nach de Vries treten in der Muta-
tionsperiode einer Art in derselben Aussaat mehr oder weniger
zahlreiche gleiche Mutanten auf. So betrug bei der Oenothera
Lamarckiana der Mulationskoeffizient der Mutante Oenothera
gigas 0,01 "/o> '^^' Mutante rubrinervis 0,1 "/(, , der Mutante
Oenothera oblonga l "/o- Doch kann nach de Vries der
Mutationskoeffizient noch viel höher steigen. Bei Plantago
lanceolata ramosa soll er 50%, bei der Wh it eschen To-
mate sogar 100 "/o erreichen. Dazu kommt, daß in der
Mutationsperiode für die Kreuzung von Mutante und Mutterart
die Mend eischen Gesetze nicht gelten. Die Nachkommen
sind hier schon in der ersten Generation (F,) dimorph ; sie
treten einseitig in der Form der Mutterart und der Mutante
auf. Das Zablenverhältnis, in welchem beide erscheinen (die
„Erbzahl") ist bei Oenothera Lamarckiana verschieden je nach
der gekreuzten Mutante. Bei der Mutante Oenothera rubri-
nervis betrug die ,, Erbzahl" 74 "/(,, bei der Mutante Oenothera
gigas loo»/„.
Ahnlich verhält es sich auch bei Drosophila, da bei einer
Kreuzung der bandäugigen Mutante mit der normaläugigen
Mutterart ebenfalls die erste Generation (Fj) dimorph ist und
in ihr die normaläugigen und bandäugigen Formen zugleich
auftreten. Diese Verhältnisse hat Nachtsheim jedenfalls
im Auge, wenn er davon spricht, daß ein Mutant mit Selek-
tionswert sich erhalten und ausbreiten könne ,,auch wenn er
nicht über die Stammform dominant wäre". Bei Geltung
der Mendelschen Gesetze würde das absolut unmöglich
sein, da bei einer Rückkreuzung der rezessiven Mutante mit
der dominanten Mutterart nach Mendel nur DD- und DR-
Formen erscheinen, die Mutante im Phänotyp daher dauernd
verschwunden bleibt.
Aber auch die größte „Erbzahl" kann allein die Erhal-
tung und Ausbreitung einer Mutante mit Selektionswert nicht
sichern. Denn in den Gefahrenzonen, in welchen ihr Orga-
nisationsvorleil nicht in Betracht kommt, würde sie immer
noch gcgenübei den Nichtrautanten in der Minderzahl sein.
Anders ist es jedoch, wenn sich die hohe Erbzahl einer Mu-
tante mit einem hohen Mutationskoeffizienten derselben ver-
bindet. Dann wird die Mutante, mag sie einen Selektions-
wert haben oder indifferent sein, die Stammform gleichsam
verschlingen. Sie muß dieselbe, wenn sie nur überhaupt er-
haltungsfähig ist, in kürzester Zeit verdrängen.
Damit stimmen nun, wie ich in einem im Biologischen
Zentralblatt veröffentlichten Artikel : Wie können sich Mutanten
bei freier Kreuzung durchsetzen? seiner Zeit gezeigt habe
(Bd. XXX, Nr. 18), eigentümliche Erscheinungen in der geo-
logischen Aufeinanderfolge der Typen in bemerken^erter
Weise überein. So treten bei den Goniatiten plötzlich ganz
neue Gattungen in der Basis des Oberdevons und ebenso
wieder in der oberen Etage desselben auf. Nur eine einzige
Gattung Brancoceras steigt ferner unverändert aus dem Ober-
devon in das Karbon auf. Sonst findet man im Karbon
gleichzeitig überall ganz neue Genera. Derselben Erscheinung
des plötzlichen Wechsels der Gattungen begegnen wie bei
den Ammoniten der Trias (Moislsowics). Am meisten fallt
sie jedoch im unteren Jura auf. Es stellen sich hier an der
Basis plötzlich Ammoniten aus der Gattung Psiloceras ein.
Diese verschwinden aber schon in der nächsten Zone voll-
ständig. Die Gattung Schlotheimia (A. angulatus) gelangt zur
Alleinherrschaft, um in der weiter nach oben folgenden Zone
ebenso schnell und vollständig von den eigentümlichen Arie-
titen verdrängt zu werden. Der Wechsel ist dabei so durch-
greifend, daß nie eine dieser Formen aus einer Zone in die
andere aufsteigt und erfolgt, was das Seltsamste ist, in allen
uns bekannt gewordenen Gegenden in gleicher Weise. Es
setzen z. B. die Zonen mit Psiloceras, Schlotheimia und den
Arietiten gleich scharf ab im Jura Deutschlands, Frankreichs
und Englands, auf Timor und Rotti in Hinterindien, in Japan,
Me.xiko, Peru, Chile, Argentinien — kurz überall, wo wir
überhaupt den unteren Lias antreffen. Wir können die Er-
scheinung daher, soweit die Beobachtung reicht, nicht auf
Einwanderung zurückführen. In unserer Auffassung der Ent-
wicklung würde sie eine Erklärung finden. Die Entstehung
komplizierter adaptiver Einrichtungen wäre dann freilich, da
der Einfluß der natürlichen Zuchtwahl ausgeschaltet sein
würde, nur bei bestimmt gerichteten Mutationen denkbar. So
viele bestimmt gerichtete Varietäten vir kennen, fehlt
es uns zwar, wie auch Nachtsheim hervorhebt, in der
Gegenwart an bestimmt gerichteten Mutationen. Wir haben
nur Andeutungen von solchen. H. de V'ries schließt aus
dem Namen von Scabiosa atropurpurea nana purpurea, daß
hier die Farbennuanzierung in zwei aufeinanderfolgenden
Schritten erfolgt ist. Das ist aber nur eine Vermutung. Eine
erste bestimmt gerichtete Mutation haben wir jedoch in dem
Übergang der bandäugigen Mutante von Drosophila zur ultra-
bandäugigen. Sie läßt sich noch mechanisch auffassen. Es
handelt sich bei ihr um den Abbau eines adaptiven Organs.
Er kann erfolgen, indem die Hemmung des Ablaufes eines
chemischen Prozesses immer mehr in Wegfall kommt. Ganz
anderer Art müßten jedenfalls die bestimmt gerichteten Jluta-
tioncn bei dem Aufbau eines komplizierten adaptiven Organs
sein. Doch kann darauf hier nicht näher eingegangen werden.
Kranich feld.
Inhalt: Fr. Wiegers, Zur Wünschelrutenfrage. (3 Abb.) S. 705. K. Bertsch, Zuwachs und Alter der oberschwäbischen
Hochmoore. (l Abb.) S. 708. — Einzelbeiicbte: W. Kranz, Vom Nördlinger Ries. S. 710. W. Kranz, Zur
Wünschelrutenfrage. S. 712. W. Schlenk und 11. Mark , Freies Pentaphenyläthyl, ein Beitrag zur Kenntnis der Natur der
chemischen Valenz. S.714. A. Seidell, Notiz über eine dauerhafte Silbervitaminverbindung. S.715. E. Winterstein
und J. Teleczky, Pikrocrocin, ein Glukosid des Safrans. S. 716. K. Freudenberg und E. Volbrecht, Der
Gerbstoff der einheimischen Eichen. S. 716. K. A. Hof mann und E. Will, Über einige Produkte der unvollstän-
digen Verbrennung. S. 717. f:dm. ( >. v. Lippmann, Rohrzucker in Fingerhutblüten. S. 717. St. John, Rotver-
schiebung und Michelsonscher Versuch. S. 717. Hartmann, Lichterscheinungen. S. 7 iS. — Bücherbesprechungen:
E. Kayser, Abriß der allgemeinen und straligraphischen Geologie. S. 71S. C. W. Schmidt, Die Herstellung ein-
facher mikroskopischer Präparate aus dem Tierreich. S. 718. Fr. Werner, Das Tierreich. S. 71S. F. W. Müller,
Bau und Entwicklung des menschlichen Körpers. S. 719. H. Miehe, Zellenlehre und Anatomie der Pflanzen. S. 719.
— Anregungen und Antworten: Zahlenverhältnis der Nachkommen der Stammform und der Mutante. S. 719.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
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